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German Pages 371 [372] Year 2021
Daniel Schuch Transformationen der Zeugenschaft
buchenwald und mittelbau-dora forschungen und reflexionen band1
Daniel Schuch Transformationen der Zeugenschaft Von David P. Boders frühen Audiointerviews zur Wiederbefragung als Holocaust Testimony
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung und großzügiger Förderung der Stiftung Zeitlehren (Karlsruhe) und der Axel Springer Stiftung (Berlin).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Zugl. Dissertation: Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2020 Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagbild: Foto der Karkomi Holocaust Exhibition, Illinois Holocaust Museum, Skokie, IL . Drahttonrekorder als Leihgabe der Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology. Foto: Daniel Schuch (Juni 2017), Nutzung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Museums. ISBN (Print) 978-3-8353-5016-8 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4732-8
5 Inhalt
Vorwort von Jens-Christian Wagner Einleitung .
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Konjunkturen von Zeugenschaft des Holocaust . . . . . . . . . Stand der Forschung und Quellengrundlage der Arbeit . . . . . Erinnerungsinterviews als Zeugnis, Quelle und Artefakt . . . . Von den Grenzen der Sprache zur »Botschaft der Überlebenden« Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I David P. Boders Interviewprojekt mit Displaced Persons: Konflikthafte Zeugenschaft im Wandel 1. Boders Erkenntnisinteressen, Ziele und Methodik . . . . . . . . . . Anstelle von Gräuelbildern aus den befreiten Konzentrationslagern: »In their own voices« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Displaced People of Europe«: Boders Expedition im Sommer und Herbst 1946 . . . . . . . . . . Audiointerviews als Forschungsmaterial: Sprache, Persönlichkeit und Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Erzählen, um die »Katastrophe« zu begreifen: Jüdische Überlebende befragt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Das, was mit mir passiert ist, ist einem jeden Juden passiert« (Izrael Unikowski) . . . . . . . . . . . . »Es ist unmöglich zu beschreiben« (Janina Binder) . . . . . . . . . . . . »Wir wussten nichts von kein Auschwitz« (Adolf Heisler) . . . . . . . . . »Wir wurden selbstverständlich stark geschlagen« (Gert Silberbard) . . . . »Später hat man erst gewusst, was das eigentlich ist« (Jürgen Bassfreund) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Boders ambivalente wissenschaftliche Verortung und Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Verwissenschaftlichung der Katastrophe: Boders Disaster Studies . Paradoxer Wendepunkt 1961: (k)ein Auftakt zur »Ära des Zeugen« »Wiederentdeckt«: Von antiquierten Drahtspulen zu digitalen Voices of the Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 II Wiederbefragt im Zeitalter der Zeugenschaft 1. Holocaust Testimony als Genre: Methodik und Ziele der institutionellen Video-Produktion . . . . 228 Moralische Lektionen der USC Shoah Foundation . . . . . . . . . Erziehung zur Toleranz im Jewish Holocaust Centre . . . . . . . . Von »moral lessons« zu »primary sources«: Das Boder-Projekt am United States Holocaust Memorial Museum Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Wiedererzählen: Zwischen moralischen Erwartungshaltungen und Eigensinn der Überlebenden . . . . . . 257 »I cannot give advice« (Jack Unikoski, geb. Unikowski). . . . . . . . . »I don’t want to consider myself a victim« (Janine Oberrotman, geb. Binder) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »You can’t hate the rest of your life« (Alan Kalish, geb. Heisler) . . . . . »I really don’t know how to answer that« (Gert Silver, geb. Silberbard) . »I still cannot understand it here today« (Jack Bass, geb. Bassfreund) . . Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schluss: Zeugenschaft des Holocaust jenseits moralischer Sinngebungen .
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Anhang Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
Dank .
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7 Vorwort zur neuen Reihe »Forschungen und Reflexionen« »Gedenken braucht Wissen«, ist ein Leitmotto der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Ihr Ziel ist es, ein reflexives Geschichtsbewusstsein und historisches Urteilsvermögen in der Gesellschaft zu stärken. Das setzt historisches Wissen voraus, das ständig erweitert und neu erarbeitet werden muss. Denn mit der Gegenwart ändern sich auch die Fragen an die Geschichte ständig. Und wir wollen dazu beitragen, die Erfahrungen der Vergangenheit für die Zukunft fruchtbar werden zu lassen. Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora betreibt eigene anwendungsbezogene Forschung und unterstützt universitäre wie auch außeruniversitäre Forschungen zum Nationalsozialismus und seinen Folgen in Europa und der Welt. Im Mittelpunkt steht – abgeleitet aus der Geschichte Buchenwalds und Mittelbau-Doras – die Geschichte der Konzentrationslager, der sowjetischen Speziallager und der NS-Zwangsarbeit. Aber auch übergeordnete Fragestellungen nach der Ausgrenzungs-, Verfolgungs- und Mordpolitik im Nationalsozialismus und ihren Folgen wie auch ihrer Repräsentation in Medien und Öffentlichkeit nach 1945 stehen im Fokus. Um das erworbene Wissen in die Öffentlichkeit zu tragen und zugleich wissenschaftliche und geschichtskulturelle Diskurse aufzunehmen oder anzustoßen, möchte die Stiftung ihre Publikationstätigkeit in Zukunft verstärken. Dazu soll die neue Reihe »Forschungen und Reflexionen« einen Beitrag leisten. Ihr erster Band ist die vorliegende Monographie von Daniel Schuch, die auf seiner Dissertation über den Wandel von Zeugenschaft des Holocaust basiert. Forschungsgrundlage sind die unmittelbar nach dem Krieg entstandenen Audiointerviews des Psychologen David P. Boder mit jüdischen Überlebenden des Holocaust und der Konzentrationslager. Diese frühen Interviews werden mit späteren Befragungen derselben Personen verglichen, um Transformationsprozesse der Zeugenschaft und veränderte gesellschaftliche Erwartungshaltungen aufzuzeigen. Die Studie liefert einen wichtigen Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Zeugenschaft sowie einer kritischen Reflexion auf unseren Umgang mit Zeitzeugen des Holocaust und deren audio-visuell überlieferten Berichten. Eng arbeitet die Stiftung mit Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zusammen, insbesondere mit der Friedrich-SchillerUniversität Jena, deren Lehrstuhl »Geschichte in Medien und Öffentlichkeit« mit der Stiftungsleitung verknüpft ist. Ganz bewusst startet die neue wissenschaftliche Buchreihe der Stiftung deshalb mit einer in Jena entstandenen Dissertation. Es soll damit auch das Wirken des langjährigen, im vergangenen Jahr in den Ruhestand getretenen Lehrstuhlinhabers und Stiftungsdirektors
8 Prof. Dr. Volkhard Knigge gewürdigt werden, der die Studie von Daniel Schuch als Erstgutachter betreute. Weitere Bände der neuen Reihe sind bereits in Arbeit. Band 2 (»Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik«) wird – in enger Kooperation mit der Gedenkstätte Sachsenhausen – als Tagungsband neue Forschungen zur Geschichte der sowjetischen Speziallager vorstellen. Kollektiven Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen im internationalen Vergleich wird sich Band 3 (»Organisiertes Gedächtnis«) widmen. Es wird damit deutlich, welche Formate die neue Reihe abdeckt: wissenschaftliche Monographien, vor allem herausragende Qualifikationsarbeiten, sowie Tagungs- und Sammelbände, die neue Forschungsergebnisse präsentieren und zum wissenschaftlichen Diskurs anregen sollen. Die wissenschaftliche Reihe ergänzt die ebenfalls neue Reihe »Berichte und Dokumente«. Sie wird Erinnerungsberichte von KZ-Überlebenden, Tagebücher, schriftliche Dokumente und andere historische Quellen vorstellen. Ich wünsche der neuen Reihe »Forschungen und Reflexionen« viele Leserinnen und Leser und eine wohlwollende Aufnahme in der wissenschaftlichen Zunft. Weimar, Oktober 2021 Jens-Christian Wagner
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Inzwischen erleben wir eine Globalisierung, ja, eine Inflation des Holocaust. Der Holocaust-Überlebende, der Auschwitz aus lebendiger Erfahrung kennt, beobachtet das alles aus der ihm zugewiesenen Ecke. Er schweigt oder gibt der Spielberg-Stiftung Interviews, er empfängt die ihm mit fünfzigjähriger Verspätung zugesprochene Entschädigung, der Prominentere hält hier und dort eine Rede. Und er stellt sich die Frage: Was hinterläßt er, was für ein geistiges Erbe? Hat er das menschliche Wissen mit seiner Leidensgeschichte bereichert? Oder nur Zeugnis abgelegt von der unvorstellbaren Erniedrigung des Menschen, in der keine Lehre steckt und die man besser möglichst rasch vergißt? Imre Kertész, Die exilierte Sprache (2000)
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11 Einleitung Konjunkturen von Zeugenschaft des Holocaust Zeugenschaft der Opfer von Nationalsozialismus und Holocaust unterliegt einem umfassenden gesellschaftlichen Wandel seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Früheste Zeugenberichte brechen mit unseren heutigen Seh- und Hörgewohnheiten sowie mit den Erwartungen an Erinnerungsinterviews mit Überlebenden des Holocaust. Die österreichische Historikerin Maria EckerAngerer hat ihre erste Hörerfahrung einer Audioaufnahme beschrieben, die der Psychologe David P. Boder (1886-1961) im Sommer 1946 im Nachkriegseuropa angefertigt hatte: During a trip to the archives of the Holocaust Museum in Washington DC in March 2004, I had the opportunity to listen to one interview which was conducted by psychologist David Boder in 1946. This experience was an eye-opener (or rather ear-opener), and continues to have an impact on my own reception of oral and audiovisual Holocaust testimonies. Up to that point, all survivors I had encountered (on T V, in exhibits, or as interviewees) were old, and they were remembering and telling an often-coherent story about their experiences a lifetime ago. Here I was listening for the first time to the voice of an 18-year-old boy talking about his recent experiences in the concentration camps, struggling to find words to describe the horrific events.1 Die Historikerin ist Expertin im Umgang mit Überlebendenberichten und betonte in ihrer erinnernden Reflexion, dass dieses frühe Audiointerview sie als Hörerin aufgrund der grundlegenden Andersartigkeit zum Staunen brachte.2 Boders Audiointerviews sind der Ausgangspunkt dieser Arbeit, um sich mit den frühesten mündlich überlieferten Zeugenberichten von NS -Opfern als Kontrast zu heutigen Zeitzeugnissen auseinanderzusetzen. Der aus dem dama1 Maria Ecker: Verbalising the Holocaust. Oral/Audiovisual Testimonies of Holocaust Survivors in the United States, in: How the Holocaust Looks Now. International Perspectives, hg. von Claus-Christian W. Szejnmann und Martin L. Davies, New York 2007, S. 41-49, hier S. 44-45. Bei der von ihr beschriebenen Audioaufnahme handelt es sich um das Interview von Boder mit dem 18-jährigen, aus der Tschechoslowakei stammenden Juden Adolf Heisler vom 27. August 1946 in Genf. Zur Analyse des Interviews siehe Kapitel I.2. 2 Diesen Höreindruck kann ich nur vehement bestätigen. Seit der ersten Begegnung mit den frühen Audioaufnahmen von David P. Boder hat sich meine Vorstellung von Opferberichten und (früher) Zeugenschaft des Holocaust grundlegend verändert. Ein von Axel Doßmann im Sommersemester 2015 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführtes Seminar bildete den Auftakt für meine Auseinandersetzung mit Boders Interviews.
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ligen russischen Zarenreich (heute Lettland) stammende Psychologe war im Sommer 1946 aus den USA ins Nachkriegseuropa gereist und interviewte dort in diversen Lagern für Displaced Persons (DP s) und weiteren Notunterkünften insgesamt 129 Personen, hauptsächlich jüdische Überlebende der NS -Konzentrationslager. Mit seinem Drahttonrekorder zeichnete er die Stimmen und Geschichten seiner Interviewpartner im Audioformat auf und transkribierte und übersetzte einen Teil der Interviews im Nachgang in den USA . Zudem veröffentlichte er bis zu seinem Tod im Dezember 1961 einige wissenschaftliche Auswertungen der Interviews, insbesondere über die traumatischen Auswirkungen der beispiellosen Extremerfahrungen auf seine Interviewpartner. Diese Audioaufnahmen von Boder stammen aus einer Zeit, in der Begriffe für den NS -Massenmord an den Juden Europas noch nicht etabliert waren – die historischen Ereignisse klassifizierte der Forscher als eine »man made catastrophe«3 mit weltweiten Auswirkungen. In der frühen Nachkriegszeit wurden die Stimmen der Opfer kaum gehört und erfuhren nur wenig gesellschaftliche Anerkennung, was sein Projekt so besonders macht. Seine Interviews fertigte Boder Jahrzehnte vor dem »Zeitalter der Zeugenschaft«4 an, wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Shoshana Felman das Ende des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts aufgrund der Fülle von gesammelten Überlebendenberichten bezeichnet hat. In jenem Zeitraum wurden einige der 1946 von Boder befragten Personen erneut interviewt, diesmal in der expliziten Rolle als Überlebende des Holocaust.5 In den 1990er Jahren war es insbesondere die vom Filmproduzenten 3 David P. Boder: The Impact of Catastrophe. I. Assessment and Evaluation, in: The Journal of Psychology 38, 1954, S. 3-50, hier S. 3, H. i.O. 4 Vgl. Shoshana Felman: Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah, in: »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, hg. von Ulrich Baer, Frankfurt am Main 2000, S. 173-193; Shoshana Felman: Education and Crisis, Or the Vicissitudes of Teaching, in: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, hg. von Shoshana Felman und Dori Laub, New York 1992, S. 1-56, hier S. 5. 5 Im Nachgang des NS -Massenmords an den Juden wurden verschiedene Begriffe verwendet, um die von den Tätern euphemistisch als »Endlösung der Judenfrage« bezeichneten Verbrechen zu beschreiben. Bereits während des Zweiten Weltkriegs bezeichneten die Betroffenen ihre Verfolgung und Ermordung mit dem jiddischen Begriff khurbn (Zerstörung), in der frühen Nachkriegszeit wurde oftmals der hebräische Begriff Shoah verwendet. Seit Ende der 1950er Jahre fand ebenso der Begriff holocaust Verwendung, der sich seit der Berichterstattung über den Eichmann-Prozess 1961 als Synonym für den Massenmord an den Juden etablierte. Im Wissen um die zahlreichen Begriffsdebatten schließe ich mich im Folgenden dem pragmatischen Urteil der amerikanischen Historikerin Deborah Lipstadt an, die darauf hingewiesen hat, dass der Holocaust-Begriff heute weltweit als Synonym für den organisierten NS -Massenmord an den Juden etabliert und anerkannt ist, und dies jenseits seiner ursprünglichen Wortbedeutung als religiöses Brandopfer an Gott, vgl. Deborah E. Lipstadt: Holocaust. An American understanding, New Brunswick, New Jersey 2016, S. 12.
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Steven Spielberg gegründete Survivors of the Shoah Visual History Foundation, die einige der von Boder Befragten unabhängig voneinander erneut interviewt hatte. Von 2002 bis 2006 wurden vom United States Holocaust Memorial Museum (USHMM ) im Rahmen eines Oral-History-Projekts auf Grundlage einer weltweiten Suche nach ehemaligen Interviewpartnern von Boder insgesamt elf Personen erneut befragt. Den Wandel von Zeugenschaft untersuche ich in dieser Studie anhand der mehrfachen Befragungen von fünf jüdischen Überlebenden, die 1946 von Boder in Europa und 50 bis 60 Jahre später in den USA und in Australien wiederbefragt worden sind. Bei meiner Auswahl an Interviewpartnern handelt sich um Jack Unikoski (geb. Izrael Unikowski), Janine Oberrotman (geb. Janina Binder), Alan Kalish (geb. Adolf Heisler), Gert Silver (geb. Gert Silberbard) und Jack Bass (geb. Jürgen Bassfreund). Wie unterscheiden sich die historischen Kontexte dieser mehrfachen Befragungen und inwiefern haben sich Konzepte einer Zeugenschaft des Holocaust in diesem Zeitraum verändert? Boders Interviews entstanden in einer Zeit, in der es zwar zahlreiche Initiativen zur Sammlung von Zeugnissen der NS -Verbrechen gab, die öffentliche Aufmerksamkeit für die Perspektive der Opfer sowie die Anerkennung der Geschichten als Quellen in der etablierten Geschichtswissenschaft jedoch sehr gering waren.6 Doch war die Nachkriegszeit keineswegs durch ein Schweigen der NS -Opfer geprägt.7 Insbesondere die jüdischen Historischen Kommissionen im Europa der 1940er und 50er Jahre dokumentierten zahlreiche schriftliche Opferzeugnisse.8 In der Strafverfolgung 6 Vgl. Annette Weinke: Zeugenschaft von NS -Opfern nach 1945, in: Buchenwald: Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945. Begleitband zur Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald, hg. von Volkhard Knigge, Michael Löffelsender, Ricola-Gunnar Lüttgenau und Harry Stein, Göttingen 2016, S. 271-277, hier S. 272-275; Hanno Loewy: Zweideutige Zeugen. Die Wiederkehr der Opfer als Überlebende, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, hg. von Martin Sabrow und Norbert Frei, Göttingen 2012, S. 354-372; Constantin Goschler: Erinnerte Geschichte: Stimmen der Opfer, in: Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, hg. von Frank Bösch und Constantin Goschler, Frankfurt am Main 2009, S. 130-155. 7 Vgl. Hans-Christian Jasch, Stephan Lehnstaedt (Hg.): Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung / Crimes Uncovered. The First Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung / Exhibition catalogue, Berlin 2019; David Cesarani: Challenging the »Myth of Silence«. Postwar Responses to the Destruction of European Jewry, in: After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, hg. von David Cesarani und Eric J. Sundquist, Hoboken 2011, S. 15-38. 8 Vgl. Laura Jockusch: Chroniclers of Catastrophe. History Writing as a Jewish Response to Persecution Before and After the Holocaust, in: Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics and Achievements, hg. von David Bankir und Dan Michman, Jerusalem 2008, S. 135-166. Vgl. ausführlich: Laura Jockusch: Collect and record! Jewish Holocaust documentation in early postwar Europe, Oxford 2012.
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der Alliierten spielten die Zeugenaussagen von jüdischen Opfern der NS -Verbrechen zunächst eine nur untergeordnete Rolle. In den Nürnberger Prozessen von 1945 bis 1949 wurde der NS -Massenmord an den Juden zwar thematisiert, aber dies hatte kaum gesellschaftliche Aufmerksamkeit zur Folge.9 Erst der mediale Auftritt von jüdischen Opferzeugen im Gerichtsprozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem gilt als Auftakt zur öffentlichen Anerkennung von Holocaust-Überlebenden aufgrund ihrer neuen gesellschaftlichen Funktion als »moralische Zeugen«.10 Die französische Historikerin Annette Wieviorka hat den Eichmann-Prozess daher kritisch als einen Auftakt zur »Ära des Zeugen«11 bezeichnet, die seit Ende der 1970er Jahre insbesondere durch die Sammlung von Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust geprägt worden ist. Gleichzeitig zur Etablierung der medialen Figur des Zeugen begannen auch Debatten über den »Tod der Zeitzeugen« – dieses Diktum hat ebenfalls bereits seit Ende der 1970er Jahre Konjunktur und wird in der Öffentlichkeit seither periodisch neu diskutiert.12 Dem realen Ableben der letzten Zeitgenossen wurde und wird ein erheblicher Einfluss auf die Interpretation des Nationalsozialismus im Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte zugesprochen.13 Die videographierte Aufzeichnung der Erzählungen von Holocaust-Überlebenden hat maßgeblich zur weltweiten Anerkennung der NS -Opfer und ihrer Erzählungen als Zeugnisse des Holocaust beigetragen. Im deutschsprachigen 9 Zur Bedeutung der juridischen Zeugenschaft des Holocaust vgl. Dagi Knellessen: »Because I know how important it is, not only to me but to the whole world«. Über die juridische Zeugenschaft von NS -Verfolgten, in: Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS -Verfolgten, hg. von Dagi Knellessen und Ralf Possekel, Berlin 2015 (Bildungsarbeit mit Zeugnissen Bd. 1), S. 284-292; Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse, München 2015, S. 47-52; Laura Jockusch: Justice at Nuremberg? Jewish Responses to Nazi War-Crime Trials in Allied-Occupied Germany, in: Jewish Social Studies 19, 2012, S. 107-147. Exemplarisch zur Bedeutung jüdischer Zeugenschaft in Nürnberg vgl. Abraham Sutzkever: In Sodom. Avrom Sutzkever in Deutschland, Herausgegeben, eingeleitet, kommentiert und gestaltet von Arndt Beck, Leipzig 2020. 10 Vgl. Carolyn J. Dean: The Moral Witness. Trials and Testimony after Genocide, Ithaca 2019, S. 91-131; Annette Wieviorka: Die Entstehung des Zeugen, in: Hannah Arendt revisited. »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, hg. von Gary Smith, Frankfurt am Main 2000 (Edition Suhrkamp), S. 136-159. 11 Vgl. Annette Wieviorka: The Era of the Witness, Ithaca 2006. 12 Vgl. Jan Taubitz: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft, Göttingen 2016, S. 10-15. 13 Vgl. Dorothee Wierling: Zeitgeschichte ohne Zeitzeugen: vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis – drei Geschichten und zwölf Thesen, in: BIOS 21, 2008, S. 28-36; Alexander von Plato: Geschichte ohne Zeitzeugen? Einige Fragen zur »Erfahrung« im Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte, in: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, hg. von Michael Elm und Gottfried Kößler, Frankfurt am Main 2007, S. 141-156; Norbert Frei: Abschied von der Zeitgenossenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte, in: WerkstattGeschichte 20, 1998, S. 69-83.
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Raum dominiert eine Typisierung der Personen, welche die NS -Gewaltgeschichte erlebt und erlitten haben, als Zeitzeugen, deren Ursprung auf die Folgen von NS und Holocaust datiert wird.14 Wie die Historikerin Susanne Urban angemerkt hat, ist der Zeitzeugen-Begriff allerdings inadäquat, da er auf die bezeugende Person und nicht auf den Inhalt der Erinnerung verweist und zudem der thematische Bezugspunkt nicht benannt wird, womit die Bezeichnung auf eine entgrenzte Vielfalt an historischen Ereignissen verweisen kann.15 Dem spezifisch deutschen Konzept des Zeitzeugen stehen im Englischen die Begriffe witness (Zeuge) und survivor (Überlebender) gegenüber, die unterschiedliche Aspekte betonen: Der Begriff witness betont eher die Funktion der Person und rekurriert auf das vorhandene Wissen, die Bezeichnung als survivor betont hingegen eher eine (positive) Identität.16 Die aufgezeichneten Erzählungen dieser Personen werden als Survivor Testimony oder Holocaust Testimony bezeichnet. Der amerikanische Psychologe Henry Greenspan hat betont, dass diese Interviews mit Überlebenden allerdings nur eine spezifische Form der Überlieferung darstellen, und hat daher für den umfassenderen Begriff der »survivors’ accounts« plädiert.17 Zu beachten ist grundlegend, dass Zeugenschaft als Prozess zu verstehen ist und die öffentliche Figur des Zeugen nur in Wechselwirkung mit der Wertschätzung der Zeugenberichte entstehen konnte, wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Sara Horowitz ausgeführt hat: »To testify: from testis (witness) and fie (make). The act of testifying, then, constitutes the making of the witness. Much as the witness produces testimony, testimony produces the witness.«18 Um die Kategorisierung und Bedeutung der Erzählungen von NS -Opfern als Zeugnisse des Holocaust begreifend zu historisieren, muss der Aufschwung der Aufzeichnung von Erinnerungsinterviews seit Ende der 1970er Jahre in den Blick genommen werden, der vielfach als Memory-Boom beschrieben worden ist.19 Als einer der 14 Vgl. Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012. 15 Zur Entgrenzung und Universalisierung der Figur des Zeitzeugen vgl. Susanne Urban: Zeugnis ablegen. Narrative zwischen Bericht, Dokumentation und künstlerischer Gestaltung, in: Zeugnisformen. Berichte, künstlerische Werke und Erzählungen von NS -Verfolgten, hg. von Dagi Knellessen und Ralf Possekel, Berlin 2015, S. 22-42, hier S. 23; Inge Marszolek; Stefan Mörchen: Von der Mediatisierung zur Musealisierung. Transformationen der Figur des Zeitzeugen, in: WerkstattGeschichte 62, 2012, S. 7-17, hier S. 8-9. 16 Zur historischen Genese der Figur des jüdischen Überlebenden vgl. Alina Bothe; Markus Nesselrodt: Survivor: Towards a Conceptual History, in: Leo Baeck Institute Year Book 61, 2016, S. 57-82. 17 Vgl. Henry Greenspan: Survivors’ Accounts, in: The Oxford Handbook of Holocaust Studies, hg. von Peter Francis Hayes, Oxford 2012, S. 414-427. 18 Sara R. Horowitz: Rethinking Holocaust Testimony. The Making and Unmaking of the Witness, in: Cardozo Studies in Law and Literature 4, 1992, S. 45-68, hier S. 51. 19 Vgl. Jay Winter: Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den »MemoryBoom« in der zeithistorischen Forschung, in: WerkstattGeschichte 30, 2001, S. 5-16.
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entscheidenden Gründe für den Boom zu diesem Zeitpunkt gilt die Etablierung der Oral History als wissenschaftliche Methode und Quelle der Geschichtswissenschaft in den USA .20 Der entsprechende Begriff wurde bereits in den 1940er Jahren geprägt, als Disziplin der Sozialgeschichte etablierte sich Oral History allerdings erst ab den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten.21 Bei dieser mündlich erfragten Geschichte dienen Erinnerungsinterviews als historische Quelle, was eine Perspektive jenseits offizieller historischer Überlieferungen ermöglichen soll.22 Der Begriff hat indes eine doppelte Bedeutung, wie die Historikerin Dorothee Wierling betont hat: Oral History bezeichnet sowohl einen bestimmten Quellentypus als auch eine Technik der Auswertung, die sich an Methoden der qualitativen Sozialforschung orientiert. Seit Ende der 1960er Jahre wurden Forschungsinterviews gezielt eingesetzt, um eine herrschaftskritische Erfahrungsgeschichte abzubilden. Untersucht werden seither die Erfahrungen von historischen Subjekten, womit Alltagsgeschichten und das Geschichtsbewusstsein der Akteure in den Fokus treten.23 Der Aufschwung der gesellschaftlichen Bedeutung von mündlichen Zeugenberichten kann somit insbesondere anhand der Entwicklungen in den USA nachvollzogen werden, wohin viele der Überlebenden aus Europa nach 1945 emigrierten und bereits in der frühen Nachkriegszeit mit einem Gedenken an die Ermordeten begannen.24 Der Umfang der gezielten Sammlungen von Überlebendenberichten ist allerdings nicht leicht zu bestimmen. Maria EckerAngerer hat 69 verschiedene Projekte in den USA seit 1945 aufgezählt, die in unterschiedlichem Umfang insgesamt mehrere Zehntausende Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt haben.25 Der Historiker Jan Taubitz benennt hingegen ganze 125 Initiativen, die in den USA seit 1945 über 80.000 Interviews 20 Vgl. Dorothee Wierling: Oral History, in: Aufriss der Historischen Wissenschaften. Band 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, hg. von Michael Maurer, Stuttgart 2003, S. 81-151, hier S. 81. 21 Vgl. Lutz Niethammer: Oral History in USA . Zur Entwicklung und Problematik diachroner Befragungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 18, 1978, S. 457-501. 22 Vgl. Wierling, Oral History, S. 81. 23 Vgl. Ebd., S. 83-85. 24 Vgl. Hasia Diner: No Generation of Silence. American Jews and the Holocaust in the Post-War Years, in: Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS -Massenmordes an den Juden / Before the Holocaust had Its Name, Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, hg. von Regina Fritz, Éva Kovács und Béla Rásky, Wien 2016 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (V W I )), S. 135-147; Dorothy Rabinowitz: New Lives. Survivors of the Holocaust living in America, New York 1977. 25 Ecker benennt 40.000 Interviews, wobei sie die Aufnahmen, die Boder als amerikanischer Interviewer in Europa geführt hat, in diese Kalkulation einbezieht. Allerdings beruhen Eckers Berechnungen maßgeblich auf Angaben der Historikerin Joan Ringelheim aus dem Jahr 1992, weshalb die heutige Menge der gesammelten Interviews insgesamt noch deutlich höher einzuschätzen ist, vgl. Ecker, Verbalising the Holocaust, S. 42-43.
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aufgezeichnet haben.26 Die überwältigende Mehrheit der Interviews entstand zwischen 1979 und 1999. Dies war, so Taubitz, auch der Zeitraum, »in dem die Holocaust-Erinnerung in den Vereinigten Staaten maßgeblich transformiert wurde und in das Zentrum der US -amerikanischen Erinnerungskultur rückte.«27 Die Ausstrahlung der vierteiligen Miniserie Holocaust auf dem amerikanischen Fernsehsender NBC im April 1978 gilt dahingehend als Beginn der öffentlichen Aufmerksamkeit für den NS -Massenmord an den Juden und als Ausgangpunkt für einen Wandel der Geschichtskultur in der westlichen Welt.28 Als Ausdruck dieser gewandelten Geschichtskultur kann auch die Einrichtung der President’s Commission on the Holocaust betrachtet werden, die Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten im November 1978 beschloss und auf deren Grundlage in den Folgejahren das USHMM in Washington, D. C., entstanden ist.29 Zudem wurde im Jahr 1979 in den USA ein Interviewprojekt gegründet, dass die Aufzeichnung der Befragung von Opfern des Holocaust als Video Testimonies grundlegend prägte: Der Psychologe Dori Laub, die T V-Journalistin Laurel Vlock und der Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman gründeten in New Haven das Holocaust Survivors Film Project, deren Videosammlung in den 1980er Jahren an die Yale University angegliedert wurde.30 Bedeutsam waren in dieser Hinsicht insbesondere auch technische Entwicklungen, denn ab Mitte der 1970er Jahre standen erstmals portable Videorekorder und Videokameras zur Verfügung, die es überhaupt erst ermöglichten, kostengünstige Filmaufnahmen anzufertigen.31 Mit einem Umfang von etwa 4.400 Videos ist die Institution heute 26 Vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 53. 27 Ebd. S. 53. Ausführlich siehe Peter Novick: The Holocaust in American life, Boston, New York 2000. 28 Vgl. Jeffrey Shandler: While America watches. Televising the Holocaust, New York 1999, S. 155-178. 29 Über den Beginn der Konzeption des USHMM als nationalem Holocaust-Museum der USA seit 1978 sowie über die gesellschaftlichen Träger in der Gründungsphase vgl. Matthias Haß: Gestaltetes Gedenken. Yad Vashem, das U. S. Holocaust Memorial Museum und die Stiftung Topographie des Terrors, Frankfurt am Main, New York 2002, S. 272-304. Ausführlich zur Entstehungsgeschichte siehe Edward T. Linenthal: Preserving Memory. The Struggle to create America’s Holocaust Museum, New York 2001. 30 Die Bezeichnung »Interview« für die Videoaufnahmen wurde von den Beteiligten allerdings explizit abgelehnt, da im Mittelpunkt der Zeuge mit seiner Geschichte stehen sollte, dem es zuzuhören gelte, vgl. Joanne Weiner Rudof: Das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies: Denjenigen, die da waren, zuhören und von ihnen lernen, in: »Ich bin die Stimme der sechs Millionen.« Das Videoarchiv im Ort der Information, hg. von Daniel Baranowski, Berlin 2009, S. 57-71, hier S. 60-61. 31 Vgl. Judith Keilbach: Mikrofon, Videotape, Datenbank. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Zeitzeugen, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, hg. von Martin Sabrow und Norbert Frei, Göttingen 2012, S. 281-299, hier S. 295.
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unter dem Namen Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (FVA ) als internationaler Vorreiter der Aufnahme von videographierten Interviews bekannt.32 Das Jahr 1979 kann als eine Zäsur hinsichtlich der Konjunkturen der Zeugenschaft des Holocaust verstanden werden – der Historiker Frank Bösch interpretiert das Jahr gar als den Auftakt zu einer globalen Zeitenwende.33 In den USA etablierten sich in den Folgejahren zahlreiche weitere Institutionen, die sich auf die Produktion von videographierten Erinnerungsinterviews mit Holocaust-Überlebenden spezialisiert haben. Bereits vor der Eröffnung der Dauerausstellung des USHMM im Jahr 1993 wurden durch das Department of Oral History (DOH ) des Museums seit 1989 zahlreiche Interviews mit Überlebenden angefertigt und archiviert. Ein Jahr nach der Eröffnung des USHMM in der amerikanischen Hauptstadt hatte der Filmemacher Spielberg 1994 in Los Angeles die USC Shoah Foundation (SF ) als private Stiftung gegründet, deren Visual History Archive (VHA ) mit einem Umfang von etwa 55.000 Aufnahmen als die weltweit größte Sammlung von Videointerviews gilt.34 Verstärkt in den letzten 30 Jahren wurden weltweit Zehntausende Interviews mit Holocaust-Überlebenden in verschiedensten Institutionen aufgezeichnet und (digital) archiviert.35 In welchem Verhältnis stehen die ersten Tonbandaufnahmen von David Boder im Vergleich zu den zahlreichen Videoaufnahmen nach dem TestimonyBoom seit Ende der 1970er Jahre? Hartman, der 1979 eine der zentralen Figuren innerhalb der Graswurzelbewegung zur Aufzeichnung von Videointerviews am FVA war, hat die Interviews von Boder in eine Kontinuität der Sammlung von mündlichen Zeugnissen des Holocaust eingeordnet: Zeugenschaft von Überlebenden des Holocaust in Form systematisch gesammelter mündlicher Dokumente geht zurück auf David Boders Inter32 Vgl. Rudof, Fortunoff Video Archive, S. 57-58; Geoffrey Hartman: Learning from Survivors. The Yale Testimony Project, in: Holocaust and Genocide Studies 9, 1995, S. 192-207, hier S. 201. 33 Bosch betont dahingehend auch explizit die Bedeutung der T V-Serie Holocaust, vgl. Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019, S. 363-396. 34 Ausführlich zur Bedeutung der Videoarchive des FVA , des USHMM und des V H A , vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 89-126; Noah Shenker: Reframing Holocaust Testimony, Bloomington, Indianapolis 2015, S. 19-150. 35 Zur Bedeutung der digitalen Archivierung vgl. Verena Lucia Nägel: Zeugnis – Artefakt – Digitalisat. Zur Bedeutung der Entstehungs- und Aufbereitungsprozesse von Oral History-Interviews, in: Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, hg. von Anne Eusterschulte, Sonja Knopp und Sebastian Schulze, Weilerswist 2016, S. 347-368; Judith Keilbach: Collecting, Indexing and Digitizing Survivor Accounts. Holocaust Testimonies in the Digital Age, in: Holocaust Intersections. Genocide and Visual Culture at the New Millennium, hg. von Axel Bangert, Libby Saxton und Robert S. C. Gordon, Leeds 2013, S. 46-63.
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views in Displaced Person Camps kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.36 Diese Retrospektive sollte allerdings nicht dazu verleiten, die Entwicklungen und Konjunkturen der Zeugenschaft von Boders frühen Audioaufnahmen in den DP-Camps bis zu den großen Sammlungen von Videointerviews seit Ende der 1970er Jahre auszublenden. Vielmehr sind Kontinuitäten und Brüche innerhalb der Konzeptionen einer Zeugenschaft des Holocaust aufzuzeigen. Wie Gerda Klingenböck betont hat, müssen bei der Produktion von Interviews mit NS -Opfern nicht nur unterschiedliche Phasen, sondern auch veränderte Ziele bei der Befragung beachtet werden.37
Stand der Forschung und Quellengrundlage der Arbeit Um verschiedene Phasen, Erwartungshaltungen und Zielstellungen der Produktion von Interviews mit Holocaust-Überlebenden zu untersuchen, bietet sich der Fokus auf die Interviewsammlung von David Boder und die Wiederbefragung seiner einstigen Interviewpartner an. Meine Studie knüpft an die Forschungen des israelischen Literaturwissenschaftlers Alan Rosen an, der bereits 2011 die Frage aufgeworfen hat: »Inwiefern bedeutet eine Auseinandersetzung mit Boders Projekt eine Neufassung der Geschichte der Holocaustzeugnisse?«38 Ein gesteigertes Interesse an den Interviews von Boder ist erst seit Ende der 1990er Jahre zu konstatieren. 1998 publizierte der amerikanische Historiker Donald N. Niewyk eine Auswahl von 34 stark edierten Transkripten von Boder.39 Mit seiner Bezeichnung der Interviews als »Early Narratives of Holocaust Survial«, so der Untertitel des Buches, machte Niewyk Boders Interviews zwar kurz vor der Jahrtausendwende erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, interpretierte die Erzählungen allerdings zugleich stark verkürzt.40 Zu36 Geoffrey Hartman: Videointerviews zum Holocaust. Gedanken zu zentralen Dokumenten des 20. Jahrhunderts, in: »Ich bin die Stimme der sechs Millionen.« Das Videoarchiv im Ort der Information, hg. von Daniel Baranowski, Berlin 2009, S. 1526, hier S. 15. 37 Vgl. Gerda Klingenböck: »Stimmen aus der Vergangenheit«. Interviews von Überlebenden des Nationalsozialismus in systematischen Sammlungen von 1945 bis heute, in: »Ich bin die Stimme der sechs Millionen.« Das Videoarchiv im Ort der Information, hg. von Daniel Baranowski, Berlin 2009, S. 27-40, hier S. 27. 38 Alan Rosen: Nachwort, in: David P. Boder: Die Toten habe ich nicht befragt. Deutsche Erstausgabe, hg. von Julia Faisst, Alan Rosen und Werner Sollors, Heidelberg 2011, S. 345-368, hier 366. 39 Vgl. Donald L. Niewyk: Fresh Wounds. Early Narratives of Holocaust Survival, Chapel Hill, London 1998. 40 Der deutsch-amerikanische Historiker Jürgen Matthäus hat indes überzeugend aufgezeigt, dass Niewyk die Transkripte von Boder mit seiner Edition stark verzerrt und verfälscht hat, vgl. Jürgen Matthäus: Displacing Memory. The Transformations of an
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dem wurde im Auftrag der Paul V. Galvin Library (GL) in Chicago seit Ende der 1990er Jahre eine Website unter dem Titel »Voices of the Holocaust« programmiert, auf der seit dem Jahr 2000 die Interviewtranskripte und in den Folgejahren auch die digitalisierten Audioaufnahmen von Boder virtuell zur Verfügung gestellt worden sind.41 Boders Interviews werden seither stärker rezipiert, auch und gerade weil sie als die frühesten Zeugnisse des Holocaust präsentiert worden sind. Rosen, der sich im Jahr 2005 erstmals ausführlich mit Boders Interviews auseinandersetzte, hat seither eine Vielzahl an Publikationen vorgelegt.42 Insbesondere seine umfangreiche Monografie The Wonder of their Voices. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder ist hervorzuheben.43 An dieses Grundlagenwerk kann die vorliegende Arbeit in vielen Punkten anknüpfen und zugleich neue Akzente setzen. Seit Mitte der 2000er Jahre ist Boders Interviewprojekt in der Forschung sowie einer interessierten Öffentlichkeit durchaus bekannt, die Übersetzung seiner 1949 erschienenen Monografie I Did Not Interview the Dead44 ins Französische (2006) sowie ins Deutsche (2011) bestätigen diese Einschätzung.45 Insgesamt gibt es aber noch immer nur wenige Publikationen über das Interviewprojekt des Forschers. Vorhanden ist bisher lediglich eine kleine Auswahl an Studien von Psychologen, Literaturwissenschaftlern und Historikern, die sich entweder Aspekten von Boders Forschungen über Trauma46 oder ausge-
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Early Interview, in: Approaching an Auschwitz Survivor. Holocaust Testimony and its Transformations, hg. von Jürgen Matthäus, New York 2009, S. 49-72. Auf der Homepage sind seit dem Jahr 2009 insgesamt 123 Interviews von Boder abrufbar. Der letzte Relaunch der Website fand im März 2021 statt, siehe Voices of the Holocaust, UR L : https://voices.library.iit.edu/; letzter Zugriff am 13.07.2021; Axel Doßmann: Stimmen auf Draht, digitalisiert. Das modernisierte online-Archiv »Voices of the Holocaust«, in: D. P. Boder 1946. Fragen an Displaced Persons 1946 und heute, 29.04.2021, UR L : https://www.dp-boder-1946.uni-jena.de/stimmen; letzter Zugriff am 13.07.2021. Siehe das Kapitel »Evidence of Trauma: English as Perplexity in David Boder’s Topical Autobiographies«, in: Alan Rosen: Sounds of Defiance. The Holocaust, Multilingualism, and the Problem of English, Lincoln, London 2005, S. 21-33. Vgl. Alan Rosen: The Wonder of their Voices. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder, Oxford 2010. Für eine ausführliche Rezension siehe Simone Gigliotti: The Voice As a Human Document. Listening to Holocaust Survivors in Postwar Europe, in: Yad Vashem Studies 40, 2012, S. 217-235. David P. Boder: I Did Not Interview the Dead, Urbana 1949. Vgl. David P. Boder: Die Toten habe ich nicht befragt. Deutsche Erstausgabe, hg. von Julia Faisst, Alan Rosen und Werner Sollors, Heidelberg 2011; David P. Boder: Je n’ai pas interrogé les morts. Traduit de l’anglais (de l’allemand et du yiddish) par PierreEmmanuel Dauzat, Préfacet d’Alan Rosen, Postface et notes de Florent Brayard, Paris 2006. Vgl. Stefania Zezza: In Their Own Voices, in: Trauma and Memory 4, 2016, S. 90-118; Beate Müller: Translating Trauma: David Boder’s 1946 Interviews with Holocaust Survivors, in: Translation and Literature 23, 2014, S. 257-271.
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wählter Interviews gewidmet haben.47 Positiv hervorzuheben sind neuere Studien, die sich quellenkritisch mit Boders Interviewprojekt und seiner Methodik auseinandergesetzt haben.48 Einerseits ist Boder eine wohlbekannte Figur, seine Befragungen von 1946 gelten als »well-known audio interviews«.49 Obwohl sein Interviewprojekt mittlerweile als »legendär«50 klassifiziert wird, gilt der Psychologe andererseits oftmals noch immer als ein amerikanischer Außenseiter im Bereich der frühen Erforschung der NS -Verbrechen und eine Einbettung in dieses Forschungsfeld blieb bisher weitgehend aus.51 Dies verdeutlicht die Ambivalenz der akademischen Anerkennung von Boders Interviews und der damit verbundenen Forschung. In Abgrenzung zu dieser Einschätzung zielt meine Arbeit darauf ab, Boder als einen der Pioniere einer humanwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS -Verbrechen an den Juden zu begreifen. Die Bedeutung seiner Forschung wird im Kontext der ersten Versuche eines Verstehens und Begreifens des Massenmords an den Juden dargestellt und innerhalb der Phase einer frühen Zeugenschaft, Dokumentation und Erforschung verortet, die bereits mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs begonnen hatte.52 Die historische Ge47 Vgl. Maria Ecker: »Ich habe erst viel später erfahren, dass das Mengele war…«. Falsche Erinnerungen in mündlichen Zeugnissen von Holocaust-Überlebenden, in: Die »Wahrheit« der Erinnerung. Jüdische Lebensgeschichten, hg. von Eleonore Lappin und Albert Lichtblau, Innsbruck 2008, S. 35-45; Uwe Schellinger: Sklavenarbeit in Offenburg: Der Weg des K Z -Häftlings Marko Moskowitz, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden 84, 2004, S. 383-394. 48 Vgl. Axel Doßmann: Auf der Suche nach der verlorenen Materialität. Recherchen zu David P. Boders Interviews mit Displaced Persons im Sommer 1946, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 31, 2020, S. 121-127; Julia Bernstein: The Art of Testimony: David Boder and his Archive of Holocaust Survivors’ Audio-Interviews, in: East European Jewish Affairs 48, 2018, S. 354-371; Simone Gigliotti: The Train Journey. Transit, Captivity, and Witnessing in the Holocaust, New York 2009. 49 Dagi Knellessen; Ralf Possekel: Introduction, in: From Testimony to Story. Video Interviews about Nazi Crimes: Perspectives and Experiences in Four Countries, hg. von Dagi Knellessen und Ralf Possekel, Berlin 2015 (Education with testimonies), S. 13-23, hier S. 14. 50 Vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 56 ff. 51 Vgl. Daniel Schuch, Pionierforschungen zum Holocaust, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (2020), S. 115; Jasch/Lehnstaedt, Verfolgen und Aufklären; Boaz Cohen: Holocaust Testimonies and Historical Writing. Debates, Innovations, and Problems in the Early Postwar Period, in: Yad Vashem Studies 45, 2017, S. 159-183; Regina Fritz; Éva Kovács; Béla Rásky: Der NS -Massenmord an den Juden. Perspektiven und Fragen der frühen Aufarbeitung, in: Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS -Massenmordes an den Juden/Before the Holocaust had Its Name, Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, hg. von Regina Fritz, Éva Kovács und Béla Rásky, Wien 2016 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (V W I )), S. 7-19. 52 Seit 1939 begannen die Betroffenen mit ersten Dokumentationen der Zerstörung der jüdischen Gemeinden und des beginnenden NS -Massenmords an den Juden, vgl.
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genüberstellung der Interviews von Boder mit späteren Aufnahmen aus den Sammlungen etablierter Institutionen wie des USHMM und der USC Shoah Foundation ermöglicht es, Aussagen über die veränderte Funktion der Zeugenschaft des Holocaust zu treffen. In der vergleichenden Forschung über Zeugenberichte des Holocaust wurden bis zur Jahrtausendwende allerdings hauptsächlich Interviews aus der Zeit nach 1979 berücksichtigt. Zeugenberichte aus der frühen Nachkriegszeit wurden durch die Geschichtswissenschaft bis in die 1980er fast vollständig ignoriert und finden erst seit den letzten 20 Jahren stärkere Beachtung. Die Studien von Jockusch über die Historischen Kommissionen in Europa sowie die Publikationen von Rosen über Boders Interviews wertet der israelische Historiker Dan Michman daher als Pionierforschungen auf diesem Gebiet.53 Bereits zu Beginn der 2010er Jahre hatte Jockusch einen verstärkten Vergleich von frühen mit späteren Zeugenberichten eingefordert, der es ermöglicht, die öffentlichen Debatten über NS -Opfer und die Bedeutung von Zeugenberichten für historische Narrative tiefgreifender zu analysieren.54 Wie Rosen ausgeführt hat, können die Interviews von Boder als zentrale Quellen für eine solche Historisierung der Zeugenschaft verwendet werden.55 In der aktuellen Forschungsdebatte über Zeugenschaft des Holocaust wird besonders der Vergleich von mehrfachen Interviews mit denselben Personen fokussiert, woran ich mit meiner Arbeit anschließe.56 Noah Shenker hat 2015 mit seiner Studie Reframing Holocaust Testimony erstmals veränderte institutio-
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Miriam Schulz: Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees, Berlin 2016. Dan Michman: Handeln und Erfahrung: Bewältigungsstrategien im Kontext jüdischer Geschichte, in: Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, hg. von Frank Bajohr und Andrea Löw, Frankfurt am Main 2015, S. 255-277, hier S. 260. Vgl. Laura Jockusch: »Jeder überlebende Jude ist ein Stück Geschichte.« Zur Entwicklung jüdischer Zeugenschaft vor und nach dem Holocaust, in: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, hg. von Martin Sabrow und Norbert Frei, Göttingen 2012, S. 113144, hier S. 144. Vgl. Rosen, Voices, S. ix. Vgl. Mandy Stieber, Tagungsbericht: Bearing Witness More Than Once. How Institutions, Media and Time Shape Shoah Survivors’ Testimonies, 14.03.2016-16.03.2016 Berlin, in: H-Soz-Kult, 21.11.2016, UR L : www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6829; letzter Zugriff am 14.07.2021; Katarina Bader: Das Unerzählbare erzählbar machen? Verarbeitungsprozesse im Bericht eines Auschwitzüberlebenden, in: Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis, hg. von Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene und Stefan Pfänder, Bielefeld 2015, S. 203-226; Dies., Jureks Erben. Vom Weiterleben nach dem Überleben, 2. Auflage, Köln 2010; Dori Laub, Johanna Bodenstab: Wiederbefragt. Erneute Begegnung mit Holocaust-Überlebenden nach 25 Jahren, in: Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, hg. von Alexander von Plato, Almut Leh und Christoph Thonfeld, Wien 2008, S. 389-401; Henry Greenspan: The Awakening of Memory. Survivor Testimony in the First Years after the Holocaust, and Today, Washington, D. C., 2000.
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nelle Interessen als Rahmung von Video-Interviews detailliert untersucht.57 Jan Taubitz widmete sich einer »Historisierung der Institutionalisierung und Medialisierung«58 von Erinnerungsinterviews im Zeitraum von 1946 bis zu den 2000er Jahren, woran meine Studie ebenfalls anknüpfen kann.59 Die Auswirkungen der detailliert beschriebenen veränderten Interviewmethoden und Organisationskulturen der unterschiedlichen Institutionen auf konkrete Interviews wurden von Taubitz allerdings nicht analysiert. Exakt an diesen Forschungslücken setzt die vorliegende Studie an. Eine Verknüpfung der Analyse von veränderten Interviewmethoden, Zielen und Zwecken der Aufzeichnung von Interviews mit Holocaust-Überlebenden wird mit einer Detailanalyse einzelner Interviews verbunden. Die israelische Historikerin Sharon Kangisser Cohen hat auf Grundlage eines Vergleichs der Befragungen von acht ehemaligen Interviewpartnern von Boder durch das USHMM eine erste komparative Analyse vorgelegt.60 Die Autorin fokussierte den Wandel der Erinnerungen der Interviewten aufgrund der vergangenen Lebenszeit sowie veränderter Identitätskonstruktionen der Befragten.61 Allerdings arbeitete sie ausschließlich mit Boders nachträglich übersetzten englischen Transkriptionen und nicht mit den Audioaufnahmen: Damit blieben erste Transformationen der Interviews unbeachtet. Die spektakuläre Projektgeschichte des USHMM wurde von ihr ebenso wenig rekonstruiert, und auch die veränderten Interviewmethoden der befragenden Institution fanden in der Analyse kaum Erwähnung. Durch die erstmalige Auswertung der Akten zur Projektgeschichte am USHMM sowie durch Expertengespräche mit den beteiligten Wissenschaftlerinnen kann meine Studie dieses faszinierende Projekt am USHMM rekonstruieren und in die Analyse der Interviews einbeziehen.62 Durch Recherchen in den Datenbanken des VHA und des USHMM ließen sich zudem noch weitere Interviews finden, die in den 1990er und 2000er Jahren mit meiner Auswahl ehemaliger Interviewpartner von Boder geführt worden sind. Neben der erneuten Befragung dieser Personen durch das USHMM und die SF wurden diese ebenfalls in Australien durch das Jewish Holocaust Centre (JHC ) in Melbourne sowie vereinzelt durch Journalisten in den USA befragt. Die zentrale Quellengrundlage der vorliegenden Arbeit bilden die 57 Vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 1-18. 58 Taubitz, Holocaust Oral History, S. 22. 59 Auf knappen sechs Seiten widmet sich Taubitz unter der Zwischenüberschrift »Die Nachkriegszeit: David P. Boder in Europa« auch schlaglichtartig den Interviews von 1946, vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 56-61. 60 Sharon Kangisser Cohen: Testimony and Time. Holocaust Survivors Remember, Jerusalem 2014, S. 69-108. 61 Vgl. ebd., S. 232. 62 United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D. C., Institutional Archives, Oral History Collection, Boder Project Search History Parts 1 & 2, and Working Group Notes, 2003-2005.
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Aufzeichnungen der mehrfachen Interviews der fünf jüdischen Überlebenden, die im Zeitraum von 1946 bis 2006 drei- bis viermal interviewt worden sind. Die Analyse der frühen Audioaufnahmen aus dem Jahr 1946 basiert auf Digitalisaten der von Boder im Original auf Magnettonband aufgezeichneten deutschsprachigen63 Interviews, die ich erstmals ausführlich in ihrem Originalwortlaut interpretiere. Boders englischsprachige Transkripte aus den 1950er Jahren bilden eine weitere Analyseebene, um erste Prozesse der Interpretation und Transformation vom Audio zum Text aufzuzeigen. Auf Grundlage der David Pablo Boder Papers an der University of California, Los Angeles, (UCL A )64 sowie der in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem65 vorhandenen Quellenbestände zu Boder rekonstruiere ich zudem die Erkenntnisinteressen und Forschungsziele des Psychologen. Der Großteil seiner digitalisierten Audiointerviews ist über die Website Voices of the Holocaust online zugänglich.66 Um die Re-Kontextualisierung von Boders Aufnahmen im virtuellen Raum zu untersuchen, wird zudem das Archivmaterial zur Projektgeschichte der Website analysiert.67 Erstmalig wurden dafür die Voices of the Holocaust Project Papers im Universitätsarchiv des IIT Chicago ausgewertet.68 Anhand dieses Quellenkorpus kann die Rezeptionsgeschichte von Boders Interviewarchiv sowie die Interpretation und Umdeutung der Audioaufnahmen von äußerst heterogenen Befragungen von DP s zu den vermeintlich ersten OralHistory-Interviews mit Holocaust-Überlebenden nachgezeichnet werden. Die späteren Interviews mit Unikoski, Oberrotman, Kalish, Silver und Bass, die in den 1990er und 2000er Jahren in den USA und in Australien auf Englisch geführt und auf Video aufgezeichnet wurden, sind im Falle der USC Shoah Foundation als Digitalisate in deren Visual History Archive (VHA ) zugänglich.69 Das USHMM hat die Sammlung an Videointerviews in seiner di63 Eine Ausnahme bildet Boders Interview mit Izrael Unikowski auf Jiddisch und Deutsch, von dem für diese Arbeit durch die Hilfe von Sandra Franz erstmals ein auf dem Jiddischen O-Ton basierendes deutschsprachiges Transkript angefertigt wurde. 64 Bisher hat sich insbesondere Alan Rosen intensiv mit diesem umfangreichen Nachlass beschäftigt. Die Boder Papers befinden sich in der Charles E. Young Research Library an der UCL A und umfassen 38 Boxen mit einer reichhaltigen Sammlung an Notizen, Memoranden, Manuskripten, Transkripten, Briefwechseln sowie Ton- und Filmaufnahmen, siehe Online Archive of California, Finding Aid for the David Pablo Boder Papers, 1938-1957 LSC .1238, UR L : https://oac.cdlib.org/findaid/ark:/13030/kt0b69 p84q/entire_text/; letzter Zugriff am 14.07.2021. 65 Yad Vashem Archives Jerusalem, Prof. David Boder Testimonies Collection, O.36. 66 Vgl. Paul V. Galvin Library, Voices of the Holocaust, UR L : https://voices.library.iit. edu/; letzter Zugriff am 14.07.2021. 67 Ausführlich zur Bedeutung einer digitalen Quellenkritik vgl. Alina Bothe: Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum. Eine Quellenkritik, Berlin, Boston 2019. 68 Illinois Institute of Technology, Paul V. Galvin Library, Chicago, University Archives and Special Collections, Voices of the Holocaust Project papers, 1998-2005, ID 025.04.04. 69 Das V H A ist nur über einen passwortgesicherten Zugang an ausgewählten
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gitalen Sammlung der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und die Interviews des »Oral History Project with David Boder Interviewees« online gebündelt katalogisiert.70 Außerdem sind ausgewählte Videointerviews des JHC über die Website des USHMM abrufbar. Die mehrfachen Befragungen derselben Personen über einen Zeitraum von bis zu 60 Jahren an veränderten Orten durch unterschiedliche Interviewer und im Auftrag von verschiedenen Institutionen dienen als Grundlage für eine vergleichende historische Analyse über den Wandel der Zwecke der Interviews. Die Beschränkung auf die Auswahl von fünf Personen macht zudem die Erarbeitung von intensiven Interviewanalysen als Fallstudien möglich, bei der ebenso die Biographien der Befragten in den Blick genommen werden. Zeitlich erstreckt sich der Untersuchungszeitraum der Arbeit von 1945 bis zum Jahr 2006, räumlich umfasst er Boders Aufnahmeorte in Europa sowie die USA und Australien als Orte der Emigration, an denen Boders ehemalige Interviewpartner erneut befragt worden sind. Die forschungsleitenden Fragen der Arbeit zielen auf den Wandel von Inhalt und Form der Erzählungen sowie auf Transformationsprozesse der Konzeptionen von Zeugenschaft ab: Wie veränderten sich die mehrfachen Erzählungen über den NS -Massenmord an den Juden von Boders Audioaufnahmen aus dem Jahr 1946 im Vergleich zu den späteren Videoaufzeichnungen aus den 1990er und 2000er Jahren mit denselben Personen? Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu analysieren, wird weiterhin danach gefragt, von welchen Erlebnissen die Interviewten jeweils berichteten und wie die Erfahrungen gedeutet wurden. Welchen Einfluss hatten die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Ziele der Interviewer und der beteiligten Institutionen bei der Produktion dieser Erinnerungsinterviews hinsichtlich einer Deutung und Sinnstiftung der Erfahrungen? Zu welchem Zweck wurden die Interviews zu unterschiedlichen Zeiten aufgezeichnet und welcher Nutzen wurde ihnen zugeschrieben?
Erinnerungsinterviews als Zeugnis, Quelle und Artefakt Die mündlichen Erzählungen, die in dieser Arbeit analysiert werden, sind allesamt als Interviews angefertigt worden, weshalb ein Blick auf die Bedeutung dieser Methode und die Form der Überlieferung nötig ist. Können die audiovisuellen Zeugenberichte als ein eigenständiges Genre verstanden werden? Der Germanist und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat die schriftnen zugänglich. Der Autor dieser Arbeit hat den Zugriff über die Freie Universität Berlin genutzt, vgl. Das Visual History Archive an der Freien Universität Berlin, UR L : https://www.vha.fu-berlin.de/; letzter Zugriff am 14.07.2021. 70 Vgl. United States Holocaust Memorial Museum, Oral History Project with David Boder Interviewees, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn44522; letzter Zugriff am 14.07.2021.
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lichen Memoiren von Überlebenden als Literaturgattung mit spezifischen Merkmalen klassifiziert: Ich möchte sie mangels eines besseren Ausdrucks, ›Überlebendenmemoiren‹ nennen: es sind autobiographische Aufzeichnungen, und in ihrem Zentrum steht die Tatsache, daß ihre Verfasserinnen oder Verfasser Opfer von extremer Gewalt geworden sind. Sie sind, auch dort, wo dies nicht thematisiert wird, dennoch insgesamt Ausdruck einer Leides-, Schmerz- und Überwältigungserfahrung, und – das ist nun das Besondere – sie werden darum gelesen, mehr noch: es wird ihnen aus diesem Grunde eine Deutungsautorität zugesprochen.71 Neben anderen mündlichen Überlieferungen von Überlebenden wie etwa öffentlichen Reden verstehe ich die mündlichen Berichte als eine spezifische Form der audio-visuellen Zeugenschaft, welche die Erzählungen aufgrund der Methodik und Zielstellung geformt hat. Da es sich um mündliche Erzählungen über erinnerte Erfahrungen handelt, definiere ich die Aufnahmen zunächst allgemein als Erinnerungsinterviews. Wie die Historikerin Anke te Heesen ausgeführt hat, gibt es zwar zahlreiche Einzelbetrachtungen über das Interview, jedoch noch keine ausführliche Forschungsarbeit über die Wissensgeschichte des spezifischen Frage-Antwort-Komplexes.72 Das französische Wort entrevue (Zusammenkunft), auf das der englische Ausdruck interview zurückgeht, bezeichnete zunächst eine bestimmte journalistische Darstellungsform. Seinen Ursprung hat das Interview im Pressewesen und in der Berichterstattung über sensationelle Gerichtsverfahren, die Mitte des 18. Jahrhunderts in englischen Tageszeitungen publik wurden.73 Um 1835 wurden in amerikanischen Tageszeitungen erstmals journalistische Interviews abgedruckt, die durch die Wiedergabe von direkten Zitaten auf Grundlage dieser Frage-AntwortMethode gekennzeichnet waren. Die wortgetreue Aufzeichnung von Zeugenaussagen aus dem Gerichtssaal war demnach der Ursprung des modernen Interviews, dessen Verwendung in der Presse ausgeweitet wurde. Als methodische Befragungstechnik ist das Forschungsinterview einer der Grundpfeiler der sich zeitgleich im 19. Jahrhundert entwickelnden Sozial- und Humanwissenschaften und fester Bestandteil der empirischen Sozialforschung, der Psychologie sowie der Ethnologie.74 Die Bedeutung der Befragung hat sich also von einer rein journalistischen Darstellungsform zu einer wissenschaftlichen Methode als bestimmte Form der Wissensproduktion gewandelt.
71 Jan Philipp Reemtsma: Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36, 1997, S. 20-39, hier S. 21, H. i.O. 72 Vgl. Anke te Heesen: Naturgeschichte des Interviews, in: Merkur 67, 2013, S. 317-328. 73 Vgl. Nils Gunnar Nielsson: The Origin of the Interview, in: Journalism Quarterly 48, 1971, S. 706-713. 74 Vgl. Heesen, Interview, S. 320.
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Der Ursprung des Interviews in der journalistischen Berichterstattung über Gerichtsprozesse verweist zugleich auf die Bedeutung der Aussagen eines Interviews als Zeugnis.75 Eine grundlegende und prägnante Definition des Zeugnisbegriffs formulierte der Philosoph und Frühaufklärer Hermann Samuel Reimarus: »Ein Zeugniß ist der Bericht eines andern von seiner Erfahrung.«76 Die Erfahrung des Subjekts steht somit im Zentrum des Zeugnisbegriffs, der aus der Tradition der Sphären des Rechts und der Religion stammt. Das Zeugnis vor Gericht in Form einer Aussage verweist auf einen unmittelbaren Wahrheitsanspruch: So hat die Zeugenaussage einen besonderen Status im System der Justiz als Beweismittel. In der postmodernen Erkenntnistheorie gibt es allerdings einen grundsätzlichen Disput über die Beweiskraft und den Wahrheitsgehalt von Zeugnissen. Zu beachten ist in diesem Kontext der Zusammenhang zwischen Erfahrung, Wissen und Moral. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel unterscheidet in dieser Debatte scharf zwischen den Begriffen Zeugenschaft und Zeugnis: Ersterer gehöre zur Sphäre des Rechts und bezeichne die Anklage bei der Zeugenschaft vor Gericht, die zuvorderst eine Beweisfunktion besitze. Dieser »Logik der Evidenz«77 setzt Weigel einen »Gestus des Bezeugens«78 entgegen: Das Zeugnis sei als Erinnerungsrede über je singuläre Erfahrungen im Sinne einer Klage jenseits von Fakt und Fiktion angesiedelt. Durch diese dichotome Gegenüberstellung wird der epistemologische Gehalt des Zeugnisses grundlegend in Frage gestellt, was Weigel wiederum der Geschichtswissenschaft im Umgang mit Zeugnissen vorwirft.79 Ein Zeugnis sei demnach nicht nutzbar, um Erkenntnisse über die Vergangenheit zu erlangen, da der fundamentale Unterschied, der auf der Differenz zwischen Zeugenschaft (Sphäre des Rechts) und Zeugnis (Sphäre der Gerechtigkeit) eine notwendige Unterscheidung zwischen Wahrheit im Gegensatz zum Glauben zur Folge haben müsse. Dieser starren Dichotomie folge ich in der Verwendung der Begriffe Zeugnis und Zeugenschaft explizit nicht. In Anwendung auf die in dieser Arbeit 75 Auf die Bedeutung von juridischer Zeugenschaft des Holocaust wird in dieser Arbeit nur rudimentär verwiesen, siehe dazu exemplarisch Samuel Miner: Tagungsbericht. Juridical Testimonies after 1945 – Expectations, Contexts and Comparisons, 08.04.2019-09.04.2019 Leipzig, in: H-Soz-Kult, 1.7.2019, UR L : www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-8343, letzter Zugriff am 14.07.2021. 76 Reimarus zit. nach Oliver R. Scholz: »Zeuge; Zeugnis«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 12: W-Z, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel 2004, S. 1317-1324, hier S. 1320. 77 Sigrid Weigel: Zeugnis und Zeugenschaft, Klage und Anklage. Die Geste des Bezeugens in der Differenz von »Identity politics«, juristischem und historiographischem Diskurs, in: Zeugnis und Zeugenschaft, hg. von Rüdiger Zill, Berlin 2000, S. 111-135, hier S. 116. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 119.
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untersuchten Erinnerungsinterviews verstehe ich unter dem Begriff des Zeugnisses einen mündlichen Bericht, der auf Erfahrungen der Erzählenden beruht. Der Begriff der Zeugenschaft wird dazu nicht in Kontrast gesetzt, sondern als ein umkämpftes Konzept verstanden, das zwischen Wissensproduktion und moralischen Botschaften changiert. Die beschriebene Kontroverse über Epistemologie und Ethik der Zeugenschaft wird folglich nicht einseitig aufgelöst, sondern historisiert. Untersucht wird der Sinn und Zweck der Zeugenschaft zu unterschiedlichen Zeiten: Werden Erinnerungsinterviews als Wissensquellen verstanden, oder besteht ihr Nutzen in der Vermittlung von moralischen Botschaften? In der Debatte über den Quellenwert von Zeugnissen können idealtypisch zwei gegensätzliche Positionen unterschieden werden: Die erste Position, die anhand der Ausführungen von Weigel deutlich wurde, negiert den Charakter des Zeugnisses als Wissensquelle und stellt dadurch den Zusammenhang zwischen Erzählung und historischer Erfahrung grundsätzlich in Frage.80 Die Möglichkeit der Überlieferung von historischem Wissen mittels Zeugenschaft wird somit nahezu verworfen und das Zeugnis als »ethische Geste« definiert.81 Die entgegengesetzte zweite Position beruht hingegen auf einer positivistischen Argumentation: Die Zeugnisse von Überlebenden werden als unmittelbarer Zugriff auf die Erfahrung der Vergangenheit interpretiert.82 Die geschichtswissenschaftliche Verwendung von Erinnerungsinterviews als Quellen des Holocaust muss indes ebenso kritisch betrachtet werden. In diesem Bereich haben 80 Insbesondere der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat anhand einer äußerst fragwürdigen Auslegung der Schriften von Primo Levi das Diktum einer »Aporie der Zeugenschaft« geprägt, vgl. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III ), Frankfurt am Main 2013. Für eine umfängliche Kritik an den Thesen von Agamben zur Zeugenschaft siehe das Kapitel »Theory and Testimony« in: Thomas Trezise: Witnessing Witnessing. On the Reception of Holocaust Survivor Testimony, New York 2013, S. 122-158. 81 Die deutsche Philosophin Sibylle Schmidt hat mit ihren Forschungen zur Zeugenschaft eine Synthese dieser Dichotomien erarbeitet, die auf dem Begriff des Vertrauens basiert, vgl. Sibylle Schmidt: Wissensquelle oder ethisch-politische Figur? Zur Synthese zweier Forschungsdiskurse über Zeugenschaft, in: Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, hg. von Sibylle Schmidt, Sybille Krämer und Ramon Voges, Bielefeld, Berlin 2011, S. 47-66; ausführlich siehe Sibylle Schmidt: Ethik und Episteme der Zeugenschaft, Konstanz 2015. 82 Über den Quellenwert von lebensgeschichtlichen Interviews – wobei unklar bleibt, ob ein Zeitzeugengespräch oder eine Videoaufnahme gemeint ist – schreibt etwa der Historiker Friedhelm Boll verklärend: »Die Unmittelbarkeit der Begegnung, die Vermittlung von Geschichte über das Nacherleben eines persönlichen Schicksals und die damit verbundene Emotionalität sind unschätzbare Vorteile dieser Arbeit mit Zeitzeugen.« Friedhelm Boll: Zeitzeugenschaft als historische Quelle, in: AugenZeugen. Fotos, Filme und Zeitzeugenberichte in der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Hintergrund und Kontext, hg. von Rainer Schulze, Celle 2007, S. 103131, hier S. 116.
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insbesondere Saul Friedländer und Christopher Browning in den 1990er und 2000er Jahren Maßstäbe gesetzt. Friedländer verfolgte mit seinem epochalen, zweiteiligen Werk über Nazideutschland und die Juden den methodischen Ansatz einer »integrierten Geschichtsschreibung«.83 Neben den insbesondere von Raul Hilberg in seiner Studie The Destruction of the European Jews verwendeten schriftlichen Quellen der NS -Täter webte Friedländer Erfahrungsberichte der Opfer in seine Darstellung ein und erweiterte dadurch die historische Perspektive.84 Insbesondere an seinem Buch The Years of Extermination wurde allerdings kritisiert, dass Friedländer die Stimmen der Opfer in seiner hauptsächlich auf schriftlichen Quellen basierenden historischen Darstellung regelrecht inszeniere, um eine melodramatische Erzählung zu generieren.85 Browning verfasste wiederum eine Monografie, die es in der Konsequenz der postmodernen philosophischen Debatten über die Epistemologie von Zeugnissen eigentlich gar nicht geben dürfte. Im Jahr 2010 publizierte er eine Fallstudie über das Zwangsarbeitslager für Juden Starachowice, die aufgrund des Fehlens jeglicher schriftlicher Täterquellen ausschließlich auf Nachkriegsinterviews mit Überlebenden des Lagers basiert.86 Bereits 2003 hatte sich Browning intensiv mit Erinnerungsinterviews als historischen Quellen auseinandergesetzt und eine umfassende Typologie des Begriffes Survivor Testimony entworfen. Browning unterscheidet im Wesentlichen zwei gegensätzliche Herangehensweisen im Umgang mit Zeugnissen. Der Großteil der von ihm besprochenen Ansätze hat die Gemeinsamkeit, dass er die Auswirkungen des Holocaust auf die Überlebenden fokussiert: Formen der Erinnerung und Erzählung sowie die Auseinandersetzung der Opfer mit der persönlichen Verarbeitung der Erfahrungen stehen dabei im Zentrum dieser Forschungsperspektive, nicht aber die historischen Ereignisse selbst.87 All jene Forschungen würden demnach die »Authentizität« der Erzählungen untersuchen, der faktischen Akkuratheit der Aussagen hingegen wenig Wert beimessen. Gegen all diese Positionen grenzt er seine eigene Herangehensweise ab. Brownings methodischer Zugriff besteht somit in der Sammlung und vergleichenden Aus83 Zum Begriff und Konzept der integrierten Geschichte vgl. Saul Friedländer: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2013, S. 7-27. 84 Gallas hat darauf hingewiesen, dass bereits in den frühesten Forschungen des polnisch-amerikanischen Historikers Philip Friedman eine Verknüpfung von Täter- und Opferperspektive vorgenommen wurde, vgl. Elisabeth Gallas: Zwei ungleiche Väter. Raul Hilberg, Philip Friedman und die frühe Holocaustforschung, in: Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie, hg. von René Schlott 2019, S. 91-114, hier S. 112. 85 Vgl. Amos Goldberg: The Victim’s Voice and Melodramatic Aesthetics in History, in: History and Theory 48, 2009, S. 220-237. 86 Vgl. Christopher Browning: Remembering Survival. Inside a Nazi Slave-Labor Camp, New York 2010, S. 3. 87 Vgl. Christopher R. Browning: Collected Memories. Holocaust History and Postwar Testimony, Madison 2003, S. 38.
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wertung von verschiedenen Erinnerungsinterviews, um diese als Quellen und historische Beweise benutzen zu können: »My methodology […] is to accumulate a sufficient critical mass of testimonies that can be tested against one another.«88 Indem er die Erzählungen der Erinnerungsinterviews wie Zeugenaussagen vor Gericht behandelt, verhält sich Browning wie ein Richter, der ein Urteil fällen will. Die faktische Akkuratheit der Aussagen über die vergangenen Ereignisse innerhalb des Lagers soll überprüft werden.89 Die spezifische Darstellungsform der Aussagen im Kontext von Erinnerungsinterviews und die daraus resultierende situative und dialogische Deutung der erinnerten Erfahrungen haben für Browning hingegen keine Relevanz, worin die Grenzen eines solchen positivistischen Zugriffs auf Interviewzeugnisse als Quellen begründet liegen. Das historische Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit liegt hingegen nicht in der Rekonstruktion eines bestimmten Orts oder spezifischer Ereignisse des NS -Massenmords auf Grundlage von Erinnerungsinterviews. Ebenso ist es nicht das Ziel, im Vergleich der Erzählungen zu überprüfen, ob die Erinnerungen wahr oder falsch sind. Allerdings verstehe ich die Erzählungen ebenso wenig als ethische Gesten. Vielmehr liegt mein Erkenntnisinteresse in der Analyse des Zusammenhangs zwischen der erinnerten Erfahrung historischer Ereignisse und deren Ausdruck. Wie der britische Historiker Mark Roseman aufgezeigt hat, lässt sich durch die Analyse von Widersprüchen im mehrfachen Erzählen aufklären, inwiefern veränderte Betonungen von Handlungsmotiven die Darstellung verändern können. Dazu ist der Abgleich mit verfügbaren schriftlichen Quellen unabdingbar, und dies sollte keineswegs als (ethischer) Widerspruch missverstanden werden: Es geht nicht darum, die grundsätzliche Wahrheit des Zeugnisses zu leugnen. Im Gegenteil, erst durch die Gegenüberstellung von Erinnerungen und anderen Quellen werden wir den Prozeß des Erinnerns und Vergessens verstehen.90
88 Browning, Remembering Survival, S. 8. 89 Vgl. Daniel Fulda: Ein unmögliches Buch? Christopher Brownings Remembering Survival und die »Aporie von Auschwitz«, in: Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, hg. von Norbert Frei und Wulf Kansteiner, Göttingen 2013 (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts – Band 11), S. 126-150, hier S. 136-137. 90 Mark Roseman: Erinnern und Überleben. Wahrheit und Widerspruch im Zeugnis einer Holocaust-Überlebenden, in: BIOS 11, 1998, S. 263-279, hier S. 278. Siehe ausführlich Mark Roseman: The past in hiding, London 2000. Zu diesem Zwecke wurden für die Interviewanalysen in dieser Arbeit auch alle zur Verfügung stehenden Unterlagen über die Befragten in den Arolsen Archives gesichtet, siehe Arolsen Archives, International Center on Nazi Persecution, Bad Arolsen, ITS Digital Archive, UR L : https://collections.arolsen-archives.org/archive/; letzter Zugriff am 14.07.2021.
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Folglich frage ich, aus welchen Gründen sich die Erzählungen in mehrfachen Interviews derselben Person verändern. Die Einflüsse der sozialen Interaktionspraxen während der Befragung sowie die veränderten Zwecke der aufgezeichneten Interviews stehen dabei im Fokus. Meine Analyse richtet den Blick auf die sozialen Strukturen, welche die Erzählungen der Überlebenden geformt haben. Ganz im Gegensatz zur Typisierung von Browning wird jedoch keineswegs einer »Authentizität« der Aussagen nachgespürt. Wie der deutsche Soziologe Harald Welzer betont hat, sind Erinnerungsinterviews durch die sozialen Entstehungsprozesse so grundlegend geformt, dass die Vorstellung von einer authentischen Erinnerung grundlegend abzulehnen ist. Da Erinnerungen multiplen Prozessen der soziokulturellen Formung unterliegen, hat Welzer dafür plädiert, die aufgezeichneten Interviews als Artefakte zu begreifen.91 Als Wissensquelle sind sie daher zuvorderst verwendbar, um Erkenntnisse über die Interpretation der Vergangenheitsmodulation in der Gegenwart der Aufzeichnung zu erlangen. Einblicke erlauben sie laut Welzer weniger in die erfahrene Vergangenheit, als vielmehr in das Geschichtsbewusstsein der Befragten zum Zeitpunkt des Interviews.92 Der Psychologe und Literaturwissenschaftler Arnulf Deppermann hat in Bezug auf Forschungsinterviews betont, dass diese als soziale Interaktionspraxis zu begreifen sind.93 Durch diese sozialkonstruktivistische Perspektive verändert sich auch der Blick auf die Formung der Erinnerungen, wie der Psychologe Brian Schiff betont hat: »Constructionists are concerned with contextual factors that configure memory and story.«94 Die Bedeutung von sozialen Kontexten für die Formung von Erinnerungsinterviews hat der amerikanische Literaturwissenschaftler James E. Young bereits 1988 in seiner richtungsweisenden Studie Writing and Rewriting the Holocaust beschrieben. Videographierte Interviews sind als eine »Kombination aus der Geschichte des Überlebenden, dem Erzählen dieser Geschichte und der audiovisuellen Aufzeichnung des Zeugnisses«95 zu verstehen. Ein unmittelbarer Zugriff auf erinnerte Erfahrungen ist daher nicht möglich:
91 Harald Welzer: Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: BIOS 13, 2000, S. 51-63, hier S. 56. 92 Die Konsequenz ist für Welzer jedoch rein negativ an einem verfehlten Wahrheitsanspruch der Erinnerung orientiert: »Erinnerungserzählungen sind Medien der Erinnerung an Erinnerungen, und ich hoffe, gezeigt zu haben, daß es nahezu unmöglich ist, zu sagen, ob an wahre oder falsche.« Welzer, Artefakt, S. 63. 93 Vgl. Arnulf Deppermann: Das Forschungsinterview als soziale Interaktionspraxis, in: Qualitative Forschung. Analysen und Diskussionen – 10 Jahre Berliner Methodentreffen, hg. von Günter Mey und Katja Mruck, Wiesbaden 2014, S. 133-149, hier S. 134. 94 Brian Schiff: Telling it in Time. Interpreting Consistency and Change in the Life Stories of Holocaust Survivors, in: International Journal of Aging and Human Development 60, 2005, S. 189-212, hier S. 191. 95 James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation, Frankfurt am Main 1997, S. 245.
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Denn das Zeugnis vermittelt nicht Erfahrungen; es vermittelt lediglich das besondere Verständnis dieser Erfahrungen, das nur ein Überlebender haben kann, das Verständnis eines Menschen, der die Ereignisse nicht bloß am eigenen Leibe erlebt, sondern sie, während sie sich ereigneten, zugleich interpretiert hat. Dieses Verständnis bekommt dann besonderen Wert für unser Verständnis, dafür, wie wir heute die Ereignisse in ihrem Kontext verstehen und wie aus damaliger Sicht eines das andere nach sich zog. Diese spezifische Erinnerung an die Ereignisse stirbt mit den Überlebenden aus, und das ist der Grund, weshalb diese Zeugnisse und ihre Interpretationen für uns so kostbar sind und wir sie aufzeichnen und bewahren müssen.96 Die Erzählungen der Interviewten sind immer bereits deutende Darstellungen der Erinnerungen. Überliefert wird kein Abbild der Vergangenheit, sondern eine Dokumentation des Bezeugens als ort- und zeitgebundener sozialer Prozess. Die aufgezeichneten Erinnerungsinterviews basieren auf mehrfachen Vermittlungs- und Transformationsprozessen, wobei zu unterscheiden ist zwischen erstens dem historischen Ereignis, zweitens dem Erlebnis als subjektiver Erfahrung, drittens der Erinnerung als Repräsentation im autobiographischen Gedächtnis, viertens der Erzählung als sprachlicher Gestaltung und fünftens dem Erzählprozess als sozialer Interaktion mit einem spezifischen Interviewer.97 Mit der Archivierung, Digitalisierung und virtuellen Indexierung dieser Zeugnisse verändert sich ihr Charakter erneut.98 Um die Entstehungskontexte und den Rahmen von Erinnerungsinterviews quellenkritisch zu analysieren, sind somit ebenso die jeweiligen Entstehungsbedingungen zu rekonstruieren. Die Methodik der Interviewführung sowie die verschiedenen Ziele und Erkenntnisinteressen der Interviewproduktion müssen dafür untersucht werden. Nicht nur die Figur des Zeugen, sondern ebenso das, was Rosen die »Geschichte der Holocaustzeugnisse«99 genannt hat, steht hiernach im Fokus meiner Arbeit. Insbesondere die Fragen der Interviewer sind in der Analyse von elementarer Bedeutung, wie Franka Maubach angemerkt hat: Wenn wir also das Zeitzeugnis nach 1945 wirklich umfassend und systematisch historisieren wollen, müssen wir dessen Produzenten ebenso in den Blick nehmen wie die Prozeduren des Fragens, wir müssen die Methoden
96 Young, Beschreiben, S. 265. 97 Vgl. Deppermann, Interaktionspraxis, S. 135. 98 Vgl. Susan, Hogervorst: The Era of the User. Testimonies in the Digital Age, in: Rethinking History 24, 2020, S. 169-183; Alina Bothe: Das digitale Zeugnis: Erinnerung an die Shoah in den digitalen Medien, in: Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen, hg. von Ansgar Nünning, Trier 2012, S. 241-259. 99 Rosen, Nachwort, in: Boder, Die Toten, S. 366.
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transparent machen und die höchst unterschiedlichen Settings der Erinnerung ausleuchten.100 Bezüglich jener Prozeduren des Fragens hat Deppermann ausgeführt, dass es sich im Dialog des Interviews um eine »gemeinsame Herstellung von Sinn«101 handelt. Daher ist die Dialogizität der Interviews zu beachten, oder, wie es der Historiker Lutz Niethammer formuliert hat: »Die Antworten stellen Fragen.«102 Die Fragen der Interviewer müssen ebenso wie die Antworten der Befragten in den Blick genommen werden, um die gemeinsame Sinnbildung zu verstehen. Zu beachten ist allerdings ebenso, dass es sich bei der Form des Erinnerungsinterviews nicht um einen klassischen Dialog handelt. Es herrscht vielmehr eine starke Asymmetrie der Interaktionsbeteiligten. Der Interviewer hat ein einseitiges, extensives Fragerecht und damit auch das Recht, die Themen zu steuern. Die interviewte Person besitzt hingegen zwar ein monologisches Rederecht, doch hat sie gleichzeitig die Pflicht, sich mit dem vom Interviewer vorgegebenen Themen zu befassen und sollte idealtypisch keine eigenen Fragen stellen. Die auf individuellen Erfahrungen basierenden Erzählungen verbalisieren die Interviewten zudem in je spezifischen Aufnahmesituationen an verschiedenen Orten. Der bedeutsame Begriff der Erfahrung ist dahingehend als Grenze der oben skizzierten sozialkonstruktivistischen Perspektive zu begreifen. Wenn ausschließlich der soziale Konstruktionscharakter biographischer Erzählungen in den Blick genommen wird und folglich die Form der Erzählung als rein performativer Akt imaginiert wird, bleibt in postmoderner Manier vom Subjekt und seiner Erfahrung nicht mehr viel übrig.103 Um die Bedeutung des Erlebens der historischen Subjekte ernst zu nehmen, werden die individuellen Biographien der konkreten Personen daher in die Analyse miteinbezogen: »Only by taking account of the rich and diverse contexts in which survivors find themselves, before, during, and after the Holocaust, can we understand their stories.«104 Die biographischen Bedeutungen der Erfahrungen unterliegen demnach ebenso Wandlungsprozessen. Durch den Fokus der Analyse auf diese Deutungsprozesse der Erfahrungen wird die Form des Erinnerungsinterviews als Artefakt ernst genommen, und zugleich fungiert es als Quelle, um Erkenntnisse über das Geschichtsbewusstsein der Akteure zu generieren. 100 Franka Maubach: Freie Erinnerung und mitlaufende Quellenkritik. Zur Ambivalenz der Interviewmethoden in der westdeutschen Oral History um 1980, in: BIOS 26, 2013, S. 29-52, hier S. 31. 101 Deppermann, Soziale Interaktionspraxis, S. 137. 102 Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in: »Wir kriegen jetzt andere Zeiten.« Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, hg. von Lutz Niethammer und Alexander von Plato, Berlin 1985, S. 392-445, hier S. 396. 103 Vgl. Schiff, Time, S. 192. 104 Ebd. S. 191.
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Die historische Analyse der frühen Audioaufzeichnungen von David Boder aus dem Jahr 1946 in der Gegenüberstellung zu den späteren Videointerviews mit denselben Personen in den 1990er und 2000er Jahren ermöglicht es, die sozialen Kontexte der Nachkriegszeit in den DP-Camps, die veränderten gesellschaftlichen Debatten über den Holocaust sowie den gewandelten Sinn und Zweck der Interviews um die Jahrtausendwende kritisch zu analysieren und dadurch besser zu verstehen. Mittels der diachron-komparativen Analyse von verschiedenen Erinnerungsinterviews derselben Personen lassen sich Aussagen über die Bedeutung der individuellen Erinnerung sowie der gesellschaftlichen Bedeutung des Holocaust über einen Zeitraum von über einem halben Jahrhundert treffen. Der Begriff des Wiedererzählens wird dahingehend als Analysekategorie verwendet, um verschiedene Formen und Funktionen von »wiederholten mündlichen Präsentationen einer selbsterlebten Episode durch denselben Sprecher«105 zu untersuchen. In der Reflexion auf mehrfache Gespräche mit denselben HolocaustÜberlebenden hat Henry Greenspan den Begriff des recounting in Abgrenzung zum passiven Konzept des giving testimony oder bearing witness – im Deutschen: Zeugnis ablegen – entwickelt, der für den historischen Vergleich der mehrfachen Interviews dieser Arbeit den methodischen Rahmen bildet.106 Wie Greenspan ausgeführt hat, kann recounting sowohl als Substantiv als auch als Verb verstanden werden. Als Substantiv bezeichnet es eine Erzählung als abgeschlossenes Produkt, das in Archiven aufzufinden ist: Quantitativ kann danach gefragt werden wann, wo und wie oft von derselben Person erzählt wurde. Verstanden als Verb, liegt der Fokus hingegen auf dem Prozesscharakter des Wiedererzählens: Approaching recounting as a verb, by contrast, means to focus on the process of retelling. How do survivors find words and forms for their memories? What motivates their attempts to do so? In what ways do survivors’ listeners (and survivors’ perceptions of their listeners) impact what survivors relay? What is the impact on retelling of literary precedents or survivors’ wider life histories?107 Recounting betont daher nicht nur den Dialogcharakter von Interviews, sondern setzt ebenfalls den Fokus auf den Prozess der (wiederholten) Erzählung, also auf das retelling der Erinnerungen. Das Verhalten der Gesprächspartner während der mehrfachen Interviews kann erheblichen Einfluss auf den Inhalt der Erzählungen haben.108 Erinnerungen unterliegen zudem diversen weiteren 105 Elke Schumann; Elisabeth Gülich; Gabriele Lucius-Hoene; Stefan Pfänder: Wiedererzählen. Eine Einleitung, in: Wiedererzählen. Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis, hg. von Elke Schumann, Elisabeth Gülich, Gabriele LuciusHoene und Stefan Pfänder, Bielefeld 2015, S. 9-30, hier S. 10. 106 Vgl. Henry Greenspan: On Listening to Holocaust Survivors. Beyond Testimony, Second Edition, Revised and Expanded, St. Paul 2010, S. 3. 107 Greenspan, Survivors’ Accounts, S. 414. 108 Vgl. Schumann et al., Einleitung, S. 14.
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Einflussfaktoren: Erfahrungen, die bei vorherigen Erzählungen gemacht wurden, wirken sich auf das erneute Erzählen aus, ebenso können Erzählungen von Dritten und öffentliche Diskurse in die Geschichte der Befragten einfließen. Vergangene Erfahrungen werden in der je aktuellen Erzählsituation neu interpretiert und damit auch unterschiedlich gewichtet erzählt.109 Durch die Analyse des Wiedererzählens lassen sich somit Aussagen über Kontinuität und Wandel der erinnernden Erzählungen treffen. Die Darstellung von Unterschieden in mehrfachen Interviews mit denselben Überlebenden will jedoch keineswegs den Wert der Interviews als historische Quellen in Abrede stellen. Unterschiede in den Erzählungen bieten vielmehr die Möglichkeit, Gründe für verschiedene Erzählversionen von Erlebnissen zu ergründen, die oftmals als tiefe Einschnitte in der jeweiligen Biographie erlebt wurden.110 Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Wiedererzählen sind, so die These dieser Arbeit, sowohl durch Prozesse der sozialen Re-Interpretation der Erinnerungen bedingt als auch durch die Praktiken der Institutionen geprägt, die verschiedene Zwecke und Ziele mit ihren Befragungen verfolgten. Anlass und Absicht des Wiedererzählens wirken sich folglich auf Inhalt und Form der Darstellung aus. Beim Wiedererzählen handelt es sich zudem um einen Prozess, der auf soziale Akzeptanz und Selbstachtung des erzählenden Subjekts ausgerichtet ist. Es besteht ein Anspruch, die Erinnerungen kohärent und möglichst plausibel zu gestalten. Für den Interviewer und das spätere Publikum ist dies wiederum die Grundlage, um die Erzählung überhaupt verstehen zu können.111 Die Analyse der Erinnerungsinterviews muss demnach die jeweiligen Erzählkontexte wie Sprache, Lokalität, Zeit und die konkreten Interviewer mit einbeziehen.112 Die Befragenden haben spezifische Erkenntnisinteressen oder verfolgen bereits bei den Interviews einen pädagogischen Imperativ. Die Befragten haben hingegen selbst diverse eigene Interessen für das Erzählen, die den Fragen und Erwartungshaltungen teilweise konträr gegenüberstehen. Dies kann mit Alf Lüdke als »Eigensinn« begriffen werden, den es in den Interaktionen während der Interviews stets zu beachten gilt.113 109 Vgl. Brian Schiff; Heather Skillingstead; Olivia Archibald; Alex Arasim; Jenny Peterson: Consistency and Change in the Repeated Narratives of Holocaust Survivors, in: Narrative Inquiry 16, 2006, S. 349-377. 110 Vgl. Elke Schumann; Gabriele Lucius-Hoene: Wiedererzählen als Möglichkeit, anders zu erzählen? Die wiederholte Rekonstruktion einer belastenden Kindheitsepisode: eine vergleichende Analyse, in: Narrative Bewältigung von Trauma und Verlust, hg. von Carl Eduard Scheidt, Gabriele Lucius-Hoene, Anja Stukenbrok, und Elisabeth Waller, Stuttgart 2015, S. 99-108. 111 Vgl. Schumann et al., Einleitung, S. 18. 112 Siehe Hannah Pollin-Galay: Ecologies of Witnessing: Language, Place, and Holocaust Testimony 2018. 113 Alf Lüdtke: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015, S. 124 ff. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Eigensinn-Konzepts siehe Thomas Lindenberger: Eigen-Sinn,
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Auf Grundlage der genannten Faktoren analysiere ich folglich die sozialen Prozesse, welche die mehrfachen Befragungen von 1946 bis in die 2000er Jahre geprägt haben. Den Kern der Arbeit bildet die Analyse der mehrfachen Erinnerungsinterviews und die damit verbundenen Prozesse von Kontinuität und Wandel im Wiedererzählen. Die öffentliche Rolle dieser Personen hat sich von sozial unerwünschten Heimatlosen zu anerkannten Holocaust-Überlebenden verändert. Doch wie vollzog sich dieser historische Wandel und wie kann man ihn methodisch-theoretisch begreifen?
Von den Grenzen der Sprache zur »Botschaft der Überlebenden« Die heutige Erwartungshaltung, dass Holocaust-Überlebende universell gültige moralische Botschaften an die Zuhörenden vermitteln könnten und sollten, muss als historisch gewachsen verstanden werden. Ein Blick auf die Genese der Zeugenschaft verdeutlicht dies. Im Juni 1944 war der französische Schriftsteller Robert Antelme aufgrund seiner Aktivitäten in der Résistance von den Nationalsozialisten verhaftet und anschließend ins Deutsche Reich deportiert worden. Er überlebte seine Inhaftierung in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald nur knapp, und bereits kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich im Mai 1945 versuchte er, passende Worte für seine ungeheuerlichen Erfahrungen zu finden. In seinem 1947 publizierten Roman Das Menschengeschlecht beschreibt Antelme, wie ihm und den anderen Opfern der Lager jedoch die Sprache versagte, als sie nach passenden Worten für ihre K Z -Erfahrung suchten: Wir wollten sprechen, endlich angehört werden. Man sagte uns, unser physischer Zustand allein sei schon beredt genug. Aber wir kamen gerade zurück, wir brachten unsere Erinnerung mit, unsere noch ganz lebendige Erfahrung, und wir verspürten ein irrsinniges Verlangen, sie so auszusprechen, wie sie war. Und doch schien es uns vom ersten Tag an unmöglich, die uns bewußt gewordene Kluft zwischen der Sprache, über die wir verfügten, und jener Erfahrung, die wir größtenteils immer noch am eigenen Leib verspürten, auszufüllen.114 Antelme benannte eine tiefe Kluft zwischen den erinnerten leiblichen Erfahrungen und der ihm zur Verfügung stehenden Sprache, die in Grenzen der Ausdrucksfähigkeit resultierte: »[W]as wir zu sagen hatten, begann uns nun
schaft und kein Widerstand, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 02.09.2014, UR L : http://docupedia.de/zg/Lindenberger_eigensinn_v1_de_2014, Versionen: 1.0 1.0; letzter Zugriff am 14.07.2021. 114 Robert Antelme: Das Menschengeschlecht. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé, Frankfurt am Main 2001, S. 7.
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selber unvorstellbar zu werden.«115 Zurück in der vertrauten Heimat, erschienen die Erlebnisse aus dem entronnenen K Z kaum mitteilbar zu sein. Über die Grenzen der Sprache und eine Krise des Erzählens hatte der deutsch-jüdische Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren reflektiert. Seine These lautete, dass die Fähigkeit, Erfahrungen mitzuteilen, grundsätzlich verloren gegangen sei: »Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.«116 Diese denkwürdigen Zeilen verfasste Benjamin, der nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 von Berlin nach Paris emigriert war, 1936 im französischen Exil. Drei Jahre vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges durch die Nationalsozialisten beschrieb Benjamin in seinem Essay Der Erzähler ausführlich die Ursachen des Bruchs mit der Erfahrung, die er für die Krise des Erzählens verantwortlich machte. Bereits im Jahr seiner Flucht hatte er den kurzen Text Erfahrung und Armut verfasst, den er mit einer Erinnerung aus seinen Berliner Kindheitstagen einleitete. Seine Erinnerung behandelte die oft wiederholten weisen Worte der Alten, dass der Junge erst Erfahrungen machen müsse, bevor er mitreden dürfe: Man wußte auch genau, was Erfahrung war: immer hatten die älteren Leute sie an die jüngeren weitergegeben. In Kürze, mit der Autorität des Alters, in Sprichwörtern; weitschweifig mit Redseligkeit, in Geschichten; manchmal als Erzählung aus fremden Ländern, am Kamin, vor Söhnen und Enkeln. – Wo ist das alles hin? Wer trifft noch auf Leute, die rechtschaffen etwas erzählen können? Wo kommen von Sterbenden heute noch so haltbare Worte, die wie ein Ring von Geschlecht zu Geschlecht wandern?117 Die Weitergabe der Erfahrungen von den Alten an die Jungen beschrieb Benjamin als eine Selbstverständlichkeit. Durch die Erzählung sei ein Band zwischen den Generationen entstanden, und den Verlust des Vermögens, Erfahrungen auszutauschen, bezeichnete der Autor als »Erfahrungsarmut«, welche er mit dem Schock des Ersten Weltkrieges verknüpfte: Nein, soviel ist klar. Die Erfahrung ist im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das nicht so merkwürdig wie das scheint.
115 Ebd., H. i.O. 116 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold, Frankfurt am Main 2007, S. 103-128, hier S. 105. 117 Walter Benjamin: Erfahrung und Armut, in: Ders., Gesammelte Werke II , Frankfurt am Main 2011, S. 472-476, hier S. 472.
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Konnte man nicht die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem Felde? Nicht reicher, ärmer an mitteilbarer Erfahrung.118 Die Genealogie sei demnach insbesondere durch den ungeheuerlichen Charakter des Weltkrieges zerbrochen, da die kaum nachvollziehbaren Erlebnisse nicht mehr mitteilbar waren. Eine sinnvolle Erzählung dieser Erlebnisse erschien Benjamin geradezu unmöglich. In den Reflexionen von Antelme und anderen Überlebenden der NS -Konzentrationslager scheint sich dieser Aspekt der Krise des Erzählens zu manifestieren.119 Primo Levi etwa, der das K Z Auschwitz überlebte und seine Erlebnisse in mehreren Büchern verarbeitete, fragte in seiner 1986 erstveröffentlichten Monografie Die Untergegangenen und die Geretteten: »Sind wir, die wir überlebt haben, imstande gewesen, unsere Erfahrung zu verstehen und verständlich zu machen?«120 Dieses Verstehen und Verständlichmachen der eigenen Verfolgungserfahrungen war das Ziel vieler Überlebender, insbesondere weil ihnen die kaum überbrückbare Kluft zwischen den extremen Gewalterfahrungen und den Grenzen der Sprache schmerzlich bewusst war. Ein »Denken nach Auschwitz«, müsse diesen Bruch mit der Erfahrung sowie den NS -Massenmord an den Juden in Gänze als Bruch mit der Zivilisation reflektieren, so Dan Diner in seinem Grundlagentext über den »Zivilisationsbruch«.121 Insbesondere die politische Theoretikerin Hannah Arendt, die von den Nazis als Jüdin verfolgt und 1941 in die USA geflohen war, hatte in ihrer frühen Auseinandersetzung mit den deutschen Konzentrationslagern über diesen Bruch reflektiert. Die Beispiellosigkeit der NS -Verbrechen begründete sie allerdings weder mit der Dimension des Massenmords an den Juden noch mit der Bösartigkeit der Täter: Viel eher ist es der ideologische Unsinn, die Mechanisierung der Vernichtung und die sorgfältige und kalkulierte Errichtung einer Welt, in der nur noch gestorben wurde, in der es keinen, aber auch gar keinen Sinn mehr gab.122 118 Ebd., S. 472-473. 119 Der Ausgangspunkt dieser Reflexionen über Benjamins Theorem der Erfahrungslosigkeit basiert insbesondere auf den anregenden Diskussionen des Workshops »Gegenwärtige Vergangenheiten. Über den Zusammenhang von Theorie und Erfahrung«, der vom 22. bis 23. November 2016 am Dubnow-Institut Leipzig stattfand. 120 Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, München 2015, S. 33. 121 Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988. Siehe dazu auch die für diese Arbeit bedeutsamen umfangreichen Debatten über die Grenzen der Repräsentierbarkeit: Saul Friedländer (Hg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the Final Solution, Cambridge 1996; Hanno Loewy (Hg.): Holocaust: die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek bei Hamburg 1992. 122 Hannah Arendt: Die vollendete Sinnlosigkeit, in: Dies., Nach Auschwitz. Essays
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Die systematische Verfolgung und Ermordung der Juden hatte demnach keinen Nutzen, das antisemitische Vernichtungsprojekt der Nazis war vielmehr Selbstzweck und lasse sich kaum rational begreifen: Arendt bezeichnete dies mit dem Terminus der vollendeten Sinnlosigkeit. Aus dieser Zweck- und Sinnlosigkeit der Vernichtung folge eine fundamentale Krise der (sprachlichen) Repräsentation, so der Historiker Volkhard Knigge: »Diese Sinnlosigkeit muß jede Form der Repräsentation der Shoa, will sie den Anspruch erheben, angemessen zu sein, zeichnen. Zeichnet sie die Repräsentation aber, zerbricht diese in sich.«123 Die in der Sinnlosigkeit und Irrationalität des Holocaust begründeten Grenzen der Repräsentation sind allerdings nicht zu verwechseln mit dem Topos einer prinzipiellen Undarstellbarkeit.124 Basierend auf der Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Trauma und der These eines prinzipiellen »Verstummens«125 der Überlebenden, hat sich die hauptsächlich von der Sprach- und Literaturwissenschaft geprägte, jedoch auch in der Geschichtswissenschaft geführte Debatte über die Grenzen der Darstellbarkeit seit den 1990er Jahren grundsätzlich verschoben. Nicht mehr die Frage, ob der Holocaust überhaupt repräsentierbar sei, wird seither diskutiert, sondern vielmehr, welche Formen der Darstellung es gibt.126 Das Diktum der Undarstellbarkeit des Holocaust übersehe, so Sigrid Weigel, »die unablässige Rede über den Holocaust und die ungeheure Beredsamkeit der verschiedensten Erinnerungsformen.«127 Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der von Januar 1944
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und Kommentare, hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann, 2. Auflage, Berlin 2014, S. 26-27, hier S. 30. Volkhard Knigge: An den Rändern der Vorstellbarkeit – Gedächtniskunst und Shoa, in: WerkstattGeschichte 23, 1999, S. 93-100, hier S. 96. Mit Adorno gesprochen besteht demnach ein Zwang, dialektisch und zugleich undialektisch zu denken, siehe Gerhard Scheit: Nach Weltuntergang. Kritische Theorie als »Nötigung, dialektisch zugleich und undialektisch zu denken«, in: Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen, hg. von Falko Schmieder, München 2011, S. 45-59. Vgl. Christina Pfestroff: Anamnese der Amnesie. Jean-François Lyotard und der Topos der Undarstellbarkeit in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion, in: Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, hg. von Susanne Düwell, Paderborn 2002 (Studien zu Judentum und Christentum), S. 229-244. Am vehementesten wurde die These eines durch Trauma bedingten Verstummens durch den Psychoanalytiker Dori Laub vertreten, vgl. Dori Laub: An Event Without a Witness: Truth, Testimony and Survival, in: Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, hg. von Shoshana Felman und Dori Laub, New York 1992, S. 75-92. Für einen umfassenden Überblick zur Verschiebung der Debatte siehe Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser, Köln 2001. Sigrid Weigel: Telescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur, in: Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung, hg. von Gertrud Koch, Köln 1999 (Beiträge zur Geschichtskultur), S. 255-279, hier S. 274.
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bis zum 11. April 1945 im K Z Buchenwald gefangen war, polemisierte in seiner autobiographischen Schrift Schreiben oder Leben dezidiert gegen den Topos des Unsagbaren: Das Unsagbare, mit dem man uns ständig in den Ohren liegen wird, ist nur ein Alibi. Oder ein Zeichen von Faulheit. Man kann immer alles sagen, die Sprache enthält alles. […] Aber kann man auch alles hören, sich alles vorstellen? Wird man es können? Werden sie die Geduld, die Leidenschaft, das Mitgefühl und die Strenge aufbringen, die dazu nötig sind?128 Die Unsagbarkeit sei demnach nur ein Alibi derjenigen, die gar nicht zuhören wollen. Semprún verschob die Perspektive und wendete den Blick von den vermeintlich verstummten Opfern auf die unwilligen Zuhörer. In diese Kerbe schlägt auch die Germanistin Mona Körte, die den Topos der Nichtdarstellbarkeit vehement verwirft, da er die Erzählungen der Opfer regelrecht ausblende.129 Kennzeichnend sei insbesondere für die frühesten (literarischen) Zeugnisse des Holocaust eine Spannung zwischen dem Drang, das Erlebte zu verstehen, und der Sinnlosigkeit der Erfahrungen. Dieser »Schmerzpunkt der Unintegrierbarkeit«130 ist allerdings kein Argument für das mystifizierende Theorem der Undarstellbarkeit. Es handelt sich bei den frühen Texten schließlich nachgerade um Darstellungsversuche, wenn auch paradoxe, die zwischen der Welt der Lager und der Gegenwart changieren. Die Publizistin Carolin Emcke hat diesen Gedanken aufgegriffen und in Rekurs auf die Ausführungen des französischen Philosophen Georges DidiHuberman ein »Plädoyer für das Erzählen trotz allem«131 formuliert. Die von ihr als Dogma bezeichnete Formulierung des Unbeschreiblichen lehnt sie grundsätzlich ab und stellt stattdessen die Schwierigkeiten der Zeugenschaft dar:
128 Jorge Semprun: Schreiben oder Leben, Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Zweite Auflage, Frankfurt am Main 1995, S. 22-23. 129 Vgl. Mona Körte: Zeugnisliteratur. Autobiographische Berichte aus den Konzentrationslagern, in: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band I, Die Organisation des Terrors, hg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, München 2005 (Der Ort des Terrors), S. 328-344, hier S. 332. 130 Mona Körte: Literarische Zeugenschaft der Shoah – Frühe Prosa über den Genozid, in: Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust, hg. von Bettina Bannasch und Hans-Joachim Hahn, Göttingen 2018 (Poetik, Exegese und Narrative / Poetics, Exegesis and Narrative), S. 29-49, hier S. 32. 131 Carolin Emcke: »Weil es sagbar ist«. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit, in: Dies., Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit, Essays, Frankfurt am Main 2015, S. 13-110, hier S. 21. Zur Bedeutung der Diskussion um (fotografische) Zeugenschaft und Repräsentation des Holocaust, vgl.: Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem. Aus dem Französischen von Peter Geimer, München 2007.
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Das Erzählen trotz allem kann nur gelingen, wenn es mit keinem naiven Anspruch auf Vollständigkeit oder Einstimmigkeit einhergeht. Diese Erzählungen werden Irrtümer enthalten, auch Rätsel. Erzählte Erfahrung, individuell oder kollektiv, wird sich verdichten und womöglich stimmiger werden, als es war, sie wird sich verzetteln und womöglich brüchiger werden, sie wird nicht immer linear oder gar abgeschlossen daherkommen.132 Die spanische Germanistin Marisa Siguan hat dementsprechend auf die »Produktivität von Sprachkrisen«133 hingewiesen. Das Dilemma um die Grenzen der Sprache und die Frage nach der (Un-)Darstellbarkeit wird von ihr nicht negiert, sondern der Fokus auf das Sprechen und Schreiben trotz allem, auf die notwendig brüchigen und teilweise rätselhaften Darstellungen gesetzt. Die Erkenntnis, dass es eine Vielzahl von Darstellungsformen von NS -Opfern über ihre Erlebnisse während der Zeit ihrer Verfolgung gibt, löst jedoch nicht das Problem der Krise des Erzählens. Benjamins These des Erfahrungsverlusts war keineswegs nur an die Ereignisse des Ersten Weltkriegs gebunden, sondern erhebt den Anspruch, einen Prozess zu beschreiben, der aufs Engste mit dem grundsätzlichen Niedergang der Weisheit in der Kunst des Erzählens verbunden ist.134 Benjamin, der zum engen Umfeld der Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule zählt, hat zwar keine Theorie des Erzählens entworfen, allerdings finden sich in seinem umfangreichen Werk zahlreiche Fragmente über die Funktion des Erzählens in der Literatur und der Geschichte, die für die folgende Arbeit von Relevanz sind.135 Der Ursprung des Erzählens liegt nach Benjamin in der Präsentation einer Geschichte, die der Erzähler nicht schriftlich fixiert, sondern im Gedächtnis bewahrt hat.136 Das Erzählen wird also der mündlichen Überlieferung zugeordnet, und im Zentrum der Betrachtungen steht der Zusammenhang zwischen Erfahrung und Erkenntnis.137 Eine Erzählung sei demnach niemals nur Selbstzweck: Sie führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel – in jedem Falle ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß.138 132 Emcke, Sagbar, S. 105. 133 Marisa Siguan: Schreiben an den Grenzen der Sprache. Studien zu Améry, Kertész, Semprún, Schalamow, Herta Müller und Aub, Berlin 2014, S. 44. 134 Vgl. Wolfgang Bock: Vom Blickwispern der Dinge. Sprache, Erinnerung und Ästhetik bei Walter Benjamin, Würzburg 2010, S. 13-15. 135 Vgl. Sven Kramer: Narrativität und Ethik: Walter Benjamin, in: Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, hg. von Karen Joisten, Berlin 2007, S. 135-150, hier S. 135. 136 Vgl. Benjamin, Der Erzähler, S. 107. 137 Vgl. Bock, Blickwispern, S. 109-123. 138 Benjamin, Der Erzähler, S. 106.
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Um die Verbindung zwischen Erfahrung und Wissen zu erörtern, stellte Benjamin den Märchenerzähler als den ersten wahren Erzähler vor. Das Märchen enthält stets eine Moral von der Geschicht’, die aus der Not helfen und Rat geben soll.139 Sowohl fremde als auch eigene Erfahrungen bearbeite der Erzähler in seiner mündlich präsentierten Erinnerungsrede, um einen Ratschlag formulieren zu können. Die Kunst des Erzählens bestehe somit in der Interpretation der Vergangenheit, um dem Zuhörer sinnvolle Ratschläge zu erteilen: So betrachtet geht der Erzähler unter die Lehrer und Weisen ein. Er weiß Rat – nicht wie das Sprichwort: für manche Fälle, sondern wie der Weise: für viele. Denn es ist ihm gegeben, auf ein ganzes Leben zurückzugreifen.140 Die Weisheit des Alters, das Zurückblicken auf ein Leben voller Erfahrungen, ist geradezu die Voraussetzung für das Erzählen. Die Funktion des Erzählers ist in dieser Vorstellung mit der eines Lehrers verknüpft, denn die Zuhörenden sollen belehrt werden und aus der interpretierten Erfahrung lernen. In Benjamins Interpretation ist die Figur des weisen Erzählers im Zeitalter der Erfahrungsarmut allerdings verkümmert und ohne die Autorität der Weisheit nicht mehr fähig, Ratschläge oder eine Moral zu vermitteln. Daraus hat der Literaturwissenschaftler Sven Kramer geschlussfolgert: »Das präskriptive Ratgeben durch eine Autorität, der der Status der Weisheit zugeschrieben wird, ist endgültig vorbei.«141 Doch muss Benjamins These von der Erfahrungsarmut nicht historisiert werden, gibt es wirklich keine ratgebenden Erzähler mehr? Inwiefern sind diese sprachphilosophischen Ausführungen für die Erzählungen von Überlebenden des Holocaust relevant, die in diesem Buch untersucht werden? Eine der forschungsleitenden Thesen lautet, dass die Figur des weisen Erzählers, der von Benjamin seit dem proklamierten Erfahrungsverlust als beschädigt und ratlos beschrieben wurde, in der Rolle des HolocaustÜberlebenden und seiner Erzählungen als Zeugnissen des Holocaust wiederauflebt. Die entscheidende Frage lautet, welcher Zusammenhang zwischen der Erfahrung von extremem Leid mit einer bedeutsamen Mitteilung über die Welt besteht, die Zeugnissen des Holocaust zugesprochen wird. Basierend auf der Grundannahme, dass Leid nicht geadelt werden sollte und prinzipiell nicht besser oder gar moralisch stärker macht, steht die Frage nach dem Nutzen der Mitteilung von Leiderfahrungen im Raum.142 Wenn man die Konzentrationslager mit Ruth Klüger als »die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen«143 begreift, müssen Sinn und Zweck demnach nachträglich hinzutreten, denn das Ziel, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, kann keineswegs aus dem Bericht über K Z s abgeleitet werden. 139 140 141 142 143
Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 128. Vgl. Kramer, Narrativität und Ethik, S. 140. Vgl. Reemtsma, Überlebendenmemoiren, S. 22. Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Hamburg 2005, S. 91.
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Von einer solchen Erwartungshaltung an die Überlebendenberichte hinsichtlich Sinn und Nutzen zeugt besonders eindringlich ein Beispiel aus Deutschland. Die Journalisten und Filmemacher Christa Spannbauer und Thomas Gonschior interviewten im Jahr 2011 fünf weltberühmte Überlebende des K Z Auschwitz und entwarfen daraus kurze biographische Portraits. Esther Bejarano, Éva Pusztai, Yehuda Bacon und Greta Klingsberg wurden nach ihren K Z -Erfahrungen befragt, und in einer anschließenden Publikation formulierten die Herausgeber des Buches ein deutliches Ziel. Eine universelle »Botschaft der Überlebenden von Auschwitz«, so der Untertitel des Buches, sollte an die Leser vermittelt werden: In ihren Erfahrungen verdichten sich grundlegende Fragen des Menschseins: Was können die Überlebenden uns heute lehren über die Widerstandskraft des Menschen, seinen unzerstörbaren Überlebensmut und Lebenswillen, seine Würde, die er selbst unter unwürdigsten Bedingungen nicht preisgibt, seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Mitmenschlichkeit unter schwierigsten Voraussetzungen? Dieses Wissen für uns und nachfolgende Generationen zu bewahren, ist die Absicht dieses Buches.144 Diese Interpretation der Leidenserfahrungen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch Spannbauer und Gonschior als sinnvolle Geschichten, aus denen etwas Wertvolles über das Menschsein gelernt werden könne, basiert indes auf den Theorien des österreichischen Psychotherapeuten Viktor E. Frankl. Dieser hatte ebenfalls das K Z Auschwitz überlebt und betonte nach seiner Befreiung, dass das erfahrene Leid einen tiefen Sinn hätte, den es zu erkennen gälte.145 In der Konsequenz der beiden Autoren steht ein vereinheitlichter, versöhnlicher Rat der Überlebenden an die Leserschaft: »Ihre Botschaft ist klar: Liebe statt Hass, Versöhnung statt Verbitterung, Widerstand statt Resignation.«146 144 Christa Spannbauer; Thomas Gonschior: Einleitung. Auf den Spuren der Menschlichkeit, in: Dies., Mut zum Leben. Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz, Bonn 2019, S. 8-13, hier S. 9. 145 Frankl überlebte das Ghetto in Theresienstadt, sowie das K Z Auschwitz und weitere Lager von 1942 bis 1945. Bereits im Jahr seiner Befreiung verfasste er einen Bericht über seine K Z -Erfahrungen, vgl. Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, 19. Auflage, München 2000. Daran anknüpfend entwickelte Frankl seine »Existenzanalyse« sowie die sogenannte Logotherapie: »Das Weltbild der Existenzanalyse und Logotherapie ist gekennzeichnet durch die Überzeugung, dass alles Sein und Leben einen bedingungslosen Sinn birgt, den es unter keinen Umständen verliert. Selbst der ›tragischen Trias‹ – Leid, Schuld und Tod – kann durch angemessene Einstellung zu unabänderlichem noch Sinn abgerungen werden.« Karlheinz Biller; Maria de Lourdes Stiegeler: Wörterbuch der Logotherapie und Existenzanalyse von Viktor Emil Frankl, Wien, Köln, Weimar 2008, S. 11. 146 Spannbauer, Gonschior, Menschlichkeit, S. 13.
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Die Erzählungen der Überlebenden werden weiterhin als Rückblicke »mit der Weisheit des Alters«147 vorgestellt, was stark an Benjamins Figur des Erzählers erinnert, der aufgrund seiner Altersweisheit stets einen passenden Rat für den Zuhörer parat hat. Die Erfahrungen des Holocaust gelten in dieser Vorstellung gar als ein Wegweiser in eine bessere Zukunft. Zudem bestehe aufgrund des nahen Todes der gealterten Überlebenden eine enorme Dringlichkeit, die weisen Worte der Alten weiterzugeben, analog zu dem von Benjamin beschriebenen Ring, den der Sterbende an die junge Generation weiterreicht. Der Imagination einer uniformen Botschaft von Toleranz, Liebe und Versöhnung als universeller Lehre aus dem Holocaust könnte man wiederum die Kritik von Klüger entgegensetzen – die Schriftstellerin und Auschwitz-Überlebende widersetzte sich in ihrer autobiographischen Schrift weiter leben exakt solcherlei Sinngebungen des Holocaust: Ich hake ein, bemerke, vielleicht härter als nötig, was erwarte man denn, Auschwitz sei keine Lehranstalt für irgendetwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz. Von den K Z s kam nichts Gutes, und ausgerechnet sittliche Läuterung erwarte er?148 Doch welchen Sinn hätte es, Positionen der Auschwitz-Überlebenden Ruth Klüger über die Nutzlosigkeit der K Z -Erfahrung gegen Aussagen des Auschwitz-Überlebenden Viktor Frankl über die Sinnhaftigkeit der K Z -Erfahrungen auszuspielen?149 Zielführender erscheint es mir, die Imagination eines monolithischen Kollektivs der Überlebenden als sinnstiftende Zeitzeugen und deren Erzählungen als versöhnliche Lebensratgeber historisierend zu hinterfragen. Diese Zuschreibungen stellen keine historische Konstante dar, sondern müssen vielmehr als Ausdruck einer gewandelten Geschichtskultur verstanden werden. Die nachträgliche Sinngebung der Massenvernichtung und der Erzählungen von Überlebenden ist kein kurioser Einzelfall, sondern Ausdruck von unreflektierter (deutscher) Erinnerungskultur.150 Grundlage ist die von Reemtsma benannte Deutungsautorität von Überlebendenberichten, die zugleich als historisch gewachsen reflektiert werden muss.151 Zudem sind diese Zuschreibungen 147 Ebd., S. 9. 148 Klüger, weiter leben, S. 91. 149 Zudem ist zu beachten, dass individuelle Sinngebungen von persönlichen Leiderfahrung und die verallgemeinernde Sinngebung durch Dritte nicht identisch sind. 150 Für eine Kritik an der opferzentrierten deutschen Erinnerungskultur siehe Ulrike Jureit; Christian Schneider: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Bonn 2010. Für eine aktuelle kritische Bestandaufnahme siehe Max Czollek: Versöhnungstheater. Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur, in: Bundeszentrale für politische Bildung (11.05.2021), UR L : https://www.bpb.de/geschichte/ zeitgeschichte/juedischesleben/332617/versoehnungstheater-anmerkungen-zur-deutschen-erinnerungskultur; letzter Zugriff am 13.07.2021. 151 Vgl. Andree Michaelis: Die Autorität und Authentizität der Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Ein Beitrag zur Diskursgeschichte der Figur des Zeugen, in:
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an Überlebende keineswegs auf Deutschland beschränkt, es handelt es sich vielmehr um ein globales Phänomen, was an einer vielzitierten Aussage des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Geoffrey Hartman deutlich wird. Hartman hat die Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden als eine »Literatur der Weisheit«152 bezeichnet, was einerseits große Anerkennung ausdrückt und anderseits hohe Erwartungen weckt. Aus den einstigen Opfern des NS -Massenmords, deren Erzählungen in der Nachkriegszeit kaum jemand hören wollte, sind innerhalb der vergangenen 75 Jahre anerkannte Holocaust-Überlebende geworden, deren Erzählungen weltweit zu Tausenden gesammelt worden sind. Wie Christopher Browning angemerkt hat, sind diese Erzählungen als reichhaltige Quellen zu betrachten, jedoch muss ebenso über unsere Erwartungen reflektiert werden: »We must be grateful for the testimonies of those who survived and are willing to speak, but we have no right to expect from them tales of edification and redemption.«153 Berichte von Überlebenden sind in den wenigsten Fällen erbaulich, und eine Wiedergutmachung kann von ihnen nicht erwartet werden. Welches »geistige Erbe«, um mit Imre Kertész zu fragen, wird mit der Sammlung dieser Zeugnisse also hinterlassen?154 Und wie ist ein Lernen aus dieser »unannehmbaren Geschichte« möglich?155
Aufbau der Arbeit Im ersten Teil der Arbeit werden Ziele, Methoden und Erkenntnisinteressen von David Boders Interviewprojekt im Wandel von 1945 bis zur Jahrtausendwende rekonstruiert. Das seit Ende des Zweiten Weltkriegs geplante Vorhaben der Aufzeichnung von Audiointerviews mit Opfern des Zweiten Weltkriegs wird als Forschungsprojekt mit psychologischen, anthropologischen und ethnologischen Erkenntnisinteressen vorgestellt. Boders »Expedition« ins Nachkriegseuropa von Juli bis Oktober 1946 wird als Feldforschung interpretiert, deren Ziel die Dokumentation und anschließende wissenschaftliche Auswertung der Erzählungen war. Die DP-Interviews von 1946 bildeten dahingehend die Grundlage für seine späteren Forschungen über Traumata und den Grundstein für ein Begreifen der geschilderten Erlebnisse als »world catastrophe.« Auf
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Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis, hg. von Sibylle Schmidt, Sybille Krämer und Ramon Voges, Bielefeld, Berlin 2011, S. 265-284. Hartman, zitiert nach Körte, Zeugnisliteratur, S. 329. Browning: Collected Memories, S. 85. Imre Kertész: Die exilierte Sprache, in: Ders., Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt am Main 2004, S. 206-221, S. 220. Vgl. Volkhard Knigge: »Das radikal Böse ist das, was nicht hätte passieren dürfen.« Unannehmbare Geschichte begreifen, in: Ders., Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, hg. von Axel Doßmann im Auftrag der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen 2020, S. 122-134.
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Grundlage der Ausführungen über Boders Methodik und den wissenschaftlichen Zweck der Audioaufnahmen von 1946 wird im zweiten Kapitel eine exemplarische Interpretation der Interviews mit meiner Auswahl jener fünf jüdischen Überlebenden vorgenommen, die in den 1990er und 2000er Jahren erneut befragt worden sind. Die detaillierten Analysen der Interviews von Izrael Unikowski, Janina Binder, Adolf Heisler, Gert Silberbard und Jürgen Bassfreund verdeutlichen, dass Boders Ziel der Wissensproduktion über die Auswirkungen der »Katastrophe« in Europa oftmals im Widerspruch zur Agenda der Befragten stand: Diese versuchten selbst noch zu verstehen, was ihnen geschehen war, und suchten nach einem Ausdruck für die Erfahrung der kollektiven Verfolgung als Juden. In der Analyse der Audioaufnahmen wird deutlich, dass es sich bei den frühen Interviews um konflikthafte Interaktionen handelt. Sowohl Boders Perplexität über die ihm kaum verständlichen Erfahrungen als auch das Ringen um Worte der Befragten drückt sich in bisweilen verstörenden Dialogen der Interviews aus. Ein Abgleich mit Boders nachträglichen Transkripten der Interviews verdeutlicht zudem, dass es sich um prozesshafte Interpretationen dieser beispiellosen Erfahrungen handelte. Doch wie repräsentativ ist Boders Interviewprojekt für die Debatte über frühe Zeugenschaft und erste Forschungen über NS -Massenmord an den Juden Europas? Im dritten Kapitel tritt die Kontextualisierung von Boder innerhalb der Pionierforschungen zum Holocaust in einen Dialog mit der Rezeptionsgeschichte seiner Interviews von den 1940er Jahren bis zur Jahrtausendwende. Mittels eines transnationalen Vergleichs werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowohl zwischen Boders Audioaufnahmen und den schriftlichen Interviewprotokollen der Historischen Kommissionen in Europa seit 1939 als auch mit der frühen amerikanischen K Z - und Katastrophenforschung der 1940er und 1950er Jahre herausgestellt. Als sozialwissenschaftlicher Pionier wird Boder innerhalb des interdisziplinären Feldes der Disaster Studies in den USA verortet. Hinsichtlich der späteren Rezeption seiner DP-Interviews wird das Jahr 1961 als ambivalenter Paradigmenwechsel erörtert: Das Jahr, in dem die Figur des Zeugen durch den Eichmann-Prozess international ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit rückte, ist zugleich das Todesjahr von Boder. Die umfangreichen Bemühungen um die Verbreitung seiner Interviews fanden damit ein jähes Ende. Nachdem seine Audioaufnahmen bis in die späten 1990er Jahre nahezu vergessen und aufgrund der antiquierten Technik nicht mehr abspielbar waren, erlebten sie Ende der 1990er Jahre ein digitales Comeback: Anhand der Rekonstruktion der Projektgeschichte der Voices of the Holocaust-Website zeige ich auf, wie Boders komplexe DP-Interviews nachträglich in die allerersten Zeugnisse des Holocaust verwandelt wurden. Die veränderten Ziele und Zwecke der Produktion von Interviews mit Holocaust-Überlebenden im »Zeitalter der Zeugenschaft« (Felman) werden im zweiten Teil der Arbeit analysiert. Basierend auf meiner Auswahl der fünf Interviewpartner von Boder, die nach 50 bis 60 Jahren erneut von der SF, dem
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JHC und dem USHMM befragt worden sind, werden zunächst Methodik und
Ziele der institutionellen Video-Produktion analysiert. Die späteren Interviews haben als Holocaust Testimonies unterschiedliche Funktionen und dienen als moralische Lektionen, als Beweise gegen Holocaustleugnung aber auch als erfahrungsgeschichtliche Quellen. Im letzten Kapitel wird schließlich aufgezeigt, inwiefern diese veränderten Konzepte der Zeugenschaft in einem Konflikt zwischen den Erwartungshaltungen der Institutionen und dem Eigensinn der Erzählenden stehen. Anhand einer vergleichenden Analyse der erneuten Interviews von Jack Unikoski (geb. Unikowski), Janine Oberrotman (geb. Binder), Alan Kalish (geb. Heisler), Gert Silver (geb. Silberbard) und Jack Bass (geb. Bassfreund) zeige ich Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Wiedererzählen auf. Die Interviewten interpretieren ihre Erfahrungen in den veränderten Befragungskontexten neu und verweigern sich teilweise den Zielen und Erwartungen der unterschiedlichen Institutionen. Diese Transformationsprozesse von der frühen konflikthaften Kommunikation in Boders Audiointerviews von 1946 zu den Wiederbefragungen in den 1990er und 2000er Jahren in der Funktion als Holocaust Testimony mit moralischen Botschaften werden zum Schluss der Arbeit als eine Sinngebung des Holocaust problematisiert.
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48 I David P. Boders Interviewprojekt mit Displaced Persons: Konflikthafte Zeugenschaft im Wandel 1. Boders Erkenntnisinteressen, Ziele und Methodik Am Nachmittag des 27. August 1946 zeichnete der lettisch-amerikanische Psychologe David P. Boder in Genf ein Interview mit der aus Polen stammenden jüdischen Waise Abraham Kimmelmann auf. Der Forscher beschrieb das Aufeinandertreffen mit dem jungen Mann, den er nachträglich mit dem Pseudonym Abe Mohnblum benannte, rückblickend aus dem Jahr 1949 folgendermaßen: Abe Mohnblum is today eighteen years of age. Nearly one-fourth of his life has been spent in concentration camps. […] At the age of thirteen Abe fell into the clutches of the Nazis. At fourteen this child was asking himself, out of bitter personal experience and sheer bewilderment, ›What is man?‹1 Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung hielt sich der Interviewer seit zwei Tagen in einer Genfer Schule auf und hatte zuvor bereits andere K Z -Überlebende befragt. Kimmelmann hatte außergewöhnlich viel zu berichten – Boder teilte das Interview auf insgesamt drei Sitzungen auf, die Tonaufnahme von 1946 umfasste eine Dauer von insgesamt viereinhalb Stunden. Direkt in der ersten Minute der Aufzeichnung ereignete sich ein aufschlussreicher Dialog in deutscher Sprache. Der Befragte sah sich genötigt, seinem Interview eine kritische Einleitung voranzustellen und den Psychologen über die Grenzen der sprachlichen Kommunikation zu belehren: Boder: Also [2 Sek.] nun, wollen Sie mir, eh, Sie sagten, Sie wollen eine kleine Einleitung machen. Kimmelmann: Ja. Boder: Nu/ Kimmelmann: Ja. Ich sage es deshalb, weil ich weiß, worum es da eigentlich geht. [1 Sek.] Sie [1 Sek.] sind daher nicht gekommen, nur um sich zu beschäftigen mit [2 Sek.]/ mit dem, was wir heute eigentlich tuen wolln, nur/ um ein bisschen einzugehen in unsere Vergangenheit, nicht wahr? Boder: Ja, natürlich! Kimmelmann: Ja, also [2 Sek.] wenn ich/ [1 Sek.] und hauptsächlich vom Krieg? Boder: Ja. Kimmelmann: Ja, ja, da möchte ich Ihnen sagen/ Sie haben vorhin betont, als wir beim Essen waren [1 Sek], dass Ihnen [1 Sek] schon einige Jungens 1 Boder, Dead, S. 95.
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von den [1 Sek] Lagern erzählt haben [1 Sek] und auf verschiedene Weise. Und zwar einer hat erzählt, dass/ dass es ihm ziemlich gut war, der andere hat erzählt, dass es ihm sehr schlecht war und trotzdem haben sie beide die Wahrheit gesagt. Boder: Ja. Kimmelmann: Da müssen Sie sich im Klar/ klar sein, dass die Burschen nicht nur glauben, dass sie die Wahrheit gesagt haben [1 Sek.], sondern dass/ dass sie sind unmöglich im Stande/ sie sind nicht im Stande, alles zu erzählen, wie es war. Boder: Ja. Kimmelmann: Denn bisher, wenn wir in die Geschichte einsehen oder wenn man ein Buch schreibt über etwas, so sagt man, man schreibt immer mehr, als es war. Und grade in diesem Falle ist es grade umgekehrt. Man kann niemals so viel erzählen und so die Sachen herstellen, wie es in Wirklichkeit war. Boder: Na ja, sehen Sie, darum rede ich mit Vielen. Kimmelmann: Eben. Boder: Verstehen Sie, darum will ich, dass viele die Sache erzählen sollen, dann kann man von jedem ein bissel, das ganze Bild, ein Mosaik zusammenstellen, sehen Sie. Nun verstehen Sie den Zweck, warum ich zweihundert Spulen von diesen ganzen Reden sammeln will, weil keiner das Ganze erzählen kann. Verstehen Sie? Also erzählen Sie mir mit vielen Einzelheiten, brauchen sich nicht zu sputen, wir haben genug Draht und genug Zeit, sehen Sie. Ich höre besser weniger Leute, die viel erzählen, denn viele Leute, die wenig erzählen. Also wo waren Sie, wenn der Krieg anfing, und was hat Ihnen passiert? Und erzählen Sie mir, wo möglich, Tag für Tag, Woche für Woche, was vorgegangen ist.2 Der Dialog zwischen Boder und Kimmelmann gibt einen ersten Einblick in den sozialen Kontext des Interviews im Sommer 1946. Der Interviewte betonte in seinen mündlichen Ausführungen, dass man die Vergangenheit niemals so erzählen könne, wie sie sich wirklich ereignet habe – insbesondere die Erlebnisse in den Konzentrationslagern seien nachträglich kaum darstellbar. Wie Kimmelmann betonte, komme es vor, dass die Erinnerungen von zwei Personen an ein und dasselbe K Z zwei völlig verschiedene Geschichten ergeben würden, und doch seien beide Erzählungen wahr. Ein genaues Abbild der Vergangen2 Transkription des Autors anhand der digitalisierten Audioaufnahme des Interviews mit Abraham Kimmelmann, vgl. David P. Boder Interviews Abraham Kimmelmann, August 27, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/ kimmelmannA; letzter Zugriff am 04.08.2021. Eine erstmalige deutsche Transkription des unvollständig überlieferten Interviews mit »grammatikalischen Verbesserungen« findet sich ebenfalls in der deutschen Übersetzung von Boders Monografie, vgl. Abe Mohnbluhm, Was ist ein Mensch?, in: Boder, Die Toten, S. 125-237.
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heit sei im Erzählen schlichtweg nicht möglich: »Man kann niemals so viel erzählen und so die Sachen herstellen, wie es in Wirklichkeit war.«3 Der Versuch einer erzählenden Rekonstruktion der Realität des Lagers sei demnach nahezu unmöglich. Der Befragte reflektierte eindrücklich über die Grenzen der sprachlichen Darstellbarkeit und die Multiperspektivität der verschiedenen Betroffenen. Sein Hinweis auf die notwendige Unvollständigkeit der Erzählungen motiviert den 60-jährigen Professor wiederum dazu, etwas über das Konzept seines Interviewprojektes auszuführen. Boder gibt an, er habe genau aus diesem Grund, dass eine einzige Person niemals die gesamte Geschichte erzählen könne, ganze 200 Drahtspulen im Gepäck und wolle daher möglichst ausführliche Interviews mit verschiedenen Personen mit seinem Aufnahmegerät aufzeichnen. Die vielen einzelnen Befragungen würden dann »das ganze Bild« als eine Art Mosaik aus Erfahrungsberichten ergeben. Der Interviewer benannte an dieser Stelle nicht konkret die Geschichte der NS Konzentrationslager oder den NS -Massenmord an den Juden, sondern bezeichnete die entsprechenden Ereignisse in Anlehnung an die Formulierung seines Interviewpartners nur vage als »das Ganze« und »die Sache«. Der Zweite Weltkrieg bildete eindeutig den Ausgangspunkt der Ereignisse, die der Psychologe möglichst detailliert von seinem Interviewpartner erzählt bekommen wollte. Doch den kritischen Einspruch über die grundsätzlichen Grenzen der Mitteilbarkeit von dessen Erfahrungen schien Boder nicht verstehen zu können. Anhand eines weiteren Interviewausschnitts wird ersichtlich, dass für die Befragten kaum passende Worte oder Deutungsmuster für die von den Nazis organisierte Ermordung der eigenen Familienmitglieder zur Verfügung standen. Knapp einen Monat vor dem Interview mit Kimmelmann in Genf hatte Boder am 30. Juli 1946 den 21-jährigen polnischen Juden Adam Krakowski in Paris interviewt. Die Aufnahme von Krakowski war das sechste Interview in der Sammlung von Boder, erst einen Tag zuvor hatte der Psychologe in Paris mit seinen Aufzeichnungen begonnen. Die Sprache des nur etwa 30-minütigen Interviews ist ebenfalls Deutsch. Krakowski, der während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich deportiert worden war, kam bereits nach wenigen Sekunden in lakonischem Ton und ohne jegliche Gefühlsregung in seiner Stimme auf die Ermordung seiner gesamten Familie zu sprechen: Boder: Ehm, ehm, wie alt sind Sie, Mr. Krakowski? Krakowski: Einundzwanzig Jahre. Boder: Sie sind einundzwanzig Jahre und Sie sind geboren in Lodsch? Krakowski: In Lodsch. Boder: Sagen Sie mal, was waren Ihre Eltern? Krakowski: Mein Vater hat gearbeitet im Geschäft von Textilwaren. 3 Kimmelmann, Boder 1946. In seinem grammatikalisch leicht falschen Deutsch, das auf seine Muttersprache Polnisch zurückzuführen ist, benutzt Kimmelmann die Formulierung »herstellen« anstatt darstellen.
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Boder: Er hat gearbeitet in einem Geschäft, er hat nicht sein eigenes Geschäft gehabt? Krakowski: Nein. Boder: Nein. Und eh, haben Sie, eh, Brüder und Schwestern? Krakowski: Ja, ich hab jetzt in Paris noch einen Bruder. Boder: Sie haben in Paris noch einen Bruder. Krakowski: Ja. Boder: Ist er mit Ihnen von Polen gekommen? Krakowski: Nein, der war/ der ist schon zwanzig Jahre in Frankreich. Boder: Der war schon zwanzig Jahre in Frankreich. Krakowski: Die Familie in Polen ist/ alle/ sind alle tot. Boder: Wieso wissen Sie das? Krakowski: Sie waren im Lager. Boder: Aha. Krakowski: Vernichtungslager/ Boder: /Vernichtungslager, was ist das? Krakowski: Hm, Krematorium (und so weiter?), Gaskammern. Boder: Aha. Eh, wo waren diese Lager? Krakowski: In Polen, in Bełżec. Boder: Wo? Krakowski: In Bełżec. Boder: Bełżec? Krakowski: Ja, neben Lublin. Boder: Neben Lublin.4 Boders einleitende Frage nach Krakowskis Eltern führte den jungen Mann direkt zu der Erzählung ihrer Ermordung. Er gab an, dass er sich sicher sei, dass seine gesamte Familie tot sei, da sie in einem Lager, explizit in einem Vernichtungslager, waren. Boders plötzliche Nachfrage »Vernichtungslager, was ist das?« kann als Ausdruck seines Erstaunens sowie als Bedürfnis des Verstehenwollens interpretiert werden. Zwar kannte der Interviewer den in den USA geläufigen Begriff concentration camp, doch von Vernichtungslagern, zumal einem spezifischen Ort namens Bełżec schien er noch nie zuvor gehört zu haben.5 Dem Befragten hingegen war zunächst keine weitere Erklärung möglich, 4 Transkription des Autors auf Grundlage der digitalisierten Audioaufnahme sowie des überarbeiteten Transkripts von Dagmar Platt, vgl. David P. Boder Interviews Adam Krakowski, July 30, 1946, Paris, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/ krakowskiA; letzter Zugriff 04.08.2021. Im Folgenden: Krakowski, Boder 1946. 5 Die Begriffe extermination camp oder camp of annihilation wurden in der Presse der Westalliierten erstmals gegen Ende des Zweiten Weltkrieges benutzt. Es wurde allerdings vermutet, dass es sich um sowjetische Gräuelpropaganda handeln könnte. Nachdem in Polen etwa die Überreste des Lagers in Majdanek bei Lublin von sowjetischen Truppen entdeckt worden waren, schrieb das amerikanische Life Magazine im August 1944 von massenhaften Ermordungen von Juden mittels Giftgas in »murder vans« und
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oder sie schien ihm gar nicht notwendig zu sein: Wer von den Nazis zu diesem Ort gebracht worden war, der hatte keine Überlebenschance mehr, die Ermordung durch Giftgas und das Verbrennen der Leichen waren die unabwendbare Folge.6 Das Mosaik aus Erfahrungsberichten – in den Worten von Browning könnte man auch von »collected memories«7 sprechen –, das Boder anhand der Erzählungen der Interviewten zusammenzusetzen versuchte, ergab Stück für Stück das Bild eines Massenmords von noch nie dagewesenem Ausmaß. Die Bedeutung dieser Ereignisse versuchte der Forscher mit dem Begriff der Katastrophe zu beschreiben, dessen Kern die Erzählungen über die NS -Konzentrations- und Vernichtungslager bildeten. Doch diese Deutung formulierte Boder erst nachträglich, sie war nicht der Ausgangspunkt, sondern vielmehr das Resultat der Auswertung der Interviews. Am Anfang stand zunächst das Ziel des Chicagoer Psychologen, mittels einer Art Feldforschung in Europa Einblicke in eine ihm fremde Welt zu erlangen, die er zu begreifen versuchte. Um die Erkenntnisinteressen von Boder bei der Produktion und Interpretation der Interviews zu verstehen, ist es daher notwendig, zunächst einen Überblick zu den Ursprüngen des Interviewprojekts im Frühjahr 1945 sowie zu Boders wissenschaftlichem Hintergrund als Psychologe und seinen Forschungen über Sprache und Trauma zu geben.
Anstelle von Gräuelbildern aus den befreiten Konzentrationslagern: »In their own voices« Im Frühjahr 1945 reiste die amerikanische Fotoreporterin Margaret BourkeWhite als Kriegsberichterstatterin mit der 3. US -Armee unter der Führung von General George S. Patton durch das zusammenbrechende Deutsche Reich. Mit der Entdeckung zahlreicher Konzentrations- und Zwangsarbeitslager im April 1945 änderte sich für die Soldaten sowie für die Reporterin das Bild des Krieges schlagartig: Hätten wir nur ein Lager unter einem einzigen Verrückten gefunden, hätten wir es noch für einen Fall von Wahnsinn halten können. Aber nach einem
beschrieb das Lager als »extermination camp«. Beide Begriffe wurden in Anführungszeichen gesetzt, die auf das Misstrauen der amerikanischen Presse hinweisen, vgl. Dan Stone: The Liberation of the Camps. The End of the Holocaust and its Aftermath, New Haven 2015, S. 68-69. 6 Im weiteren Verlauf des Interviews diskutierten Boder und Krakowski mehrfach über die Bedeutung der Vernichtungslager, und der Befragte berichtete ausführlicher von seinem Wissen, etwa über die Gaskammern in Treblinka. 7 Vgl. Browning, Collected Memories, S. 39.
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bestimmten Stadium des Vormarsches unserer Truppen tauchten diese Lager allmählich überall auf.8 Am 4. April hatten amerikanische Einheiten in Ohrdruf Hunderte von halbverbrannten Leichen entdeckt – die auf dem Rückzug befindliche SS hatte die Gefangenen in dem Außenlager des K Z Buchenwald ermordet und zurückgelassen.9 Im Zuge des weiteren Vormarsches nach Weimar erreichte die 3. Armee von Patton am 11. April das Hauptlager in Buchenwald. Die Fotoreporterin Bourke-White war kurz nach der Befreiung am 13. April im Lager und konnte angesichts der aufgestapelten Leichen im Hof des dortigen Krematoriums ihren Augen kaum trauen: Dieser Apriltag in Weimar hatte etwas Unwirkliches, ich fühlte etwas, woran ich mich hartnäckig festklammerte. Ich sagte mir ständig vor, ich würde erst an das unbeschreiblich grässliche Bild in dem Hof vor mir glauben, wenn ich meine eigenen Photos zu sehen bekäme. Die Kamera zu bedienen, war fast eine Erleichterung, es entstand dann eine schwache Barriere zwischen mir und dem bleichen Entsetzen, das ich vor mir hatte.10 Für das Life Magazine schoss Bourke-White zahlreiche Fotos, die anschließend in großformatigen Reportagen abgedruckt wurden.11 Wie ihrem Zitat zu entnehmen ist, hatte der Anblick des jüngst befreiten Konzentrationslagers und insbesondere der zahlreichen Leichen die pure Fassungslosigkeit zur Folge. Ihre Fotos dienten als Dokumentation und Beweis dieser für sie unbeschreiblichen Realität.12 Zurückzuführen sind diese fotografischen Zeugnisse auch auf die Initiative des Oberbefehlshabers der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (SHA EF ), Dwight D. Eisenhower. In seiner Funktion als General of the Army besichtigte Eisenhower am 12. April 1945 Ohrdruf und einen Tag später das befreite Lager in Buchenwald. Nachdem er selbst Augenzeuge geworden war, ließ er weitere Fotos und Filme als Beweismaterial der dort sichtbaren Verbrechen anfertigen und wandte sich zugleich an die amerikanische Presse, um zu verdeutlichen, dass es sich bei den Angaben über die Masse an Ermordeten in den von den US -Soldaten befreiten Lagern keineswegs um 8 Margaret Bourke-White: Deutschland, April 1945. Geschrieben und photographiert von Margaret Bourke-White, Mit einer Einleitung von Klaus Scholder, München 1979, S. 92. 9 Vgl. Stone, Liberation, S. 66. 10 Bourke-White, Deutschland, S. 90. 11 Margaret Bourke-White: »Dear fatherland, rest quietly.« A report on the collapse of Hitler’s »Thousand years«, Written and photographed by Margaret Bourke-White, New York 1946, S. xiii. 12 Wie Volkhard Knigge betont hat, wurden die Leichenstapel im Hof des Krematoriums von Buchenwald in den Tagen und Wochen nach der Befreiung von den ehemaligen Häftlingen mehrfach rekonstruiert, um die Wirklichkeit des Lagers vorstellbar zu machen und diese zu erinnern, vgl. Knigge, Vorstellbarkeit, S. 94.
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Gräuelpropaganda handeln würde. Eisenhower wies die amerikanischen Truppen in der Region zugleich an, die befreiten Lager in Ohrdruf und Buchenwald zu besichtigen, um ihnen zu verdeutlichen, gegen welchen bestialischen Feind sie hier kämpfen würden.13 Das befreite K Z Buchenwald besichtigte und fotografierte in diesen Tagen Mitte April ebenfalls die Fotojournalistin und Kriegsreporterin Lee Miller. Sie veröffentlichte ihre Bilder in einer Reportage über das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa für das amerikanische Modemagazin Vogue. Darin charakterisierte sie die besiegten Feinde mit unerbittlichen Worten: »Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?«14 Aufgrund ihrer Erlebnisse in den befreiten Konzentrationslagern Buchenwald und Dachau zweifelte Miller an der Humanität der Deutschen, und ihr Hass auf die Täter drückte sich genau wie bei ihrer Kollegin Bourke-White auch in ihren Fotoreportagen aus.15 Die Besiegten waren unterdessen dazu gezwungen worden, sich ebenfalls dem Anblick der Leichen im befreiten K Z Buchenwald auszusetzen: Es war General Pattons Idee, dass die Bewohner Weimars, einige Tausende jeden Alters und Geschlechts, die von den Brutalitäten der Konzentrationslager noch nie etwas gehört hatten, dem Lager einen Besuch abstatten sollten, das so viele Tausende Menschen beherbergte und begrub, von dem aber nie jemand etwas gewusst hatte, obwohl es in bequemer Luftlinie vom Zuhause dieser abgehärteten Rucksackträger lag.16 Die deutsche Zivilbevölkerung, die unisono behauptete, nichts von den K Z s gewusst zu haben, sollte durch die Besichtigung mit den Ausmaßen des Massenmords in der unmittelbaren Nachbarschaft zur Stadt Weimar konfrontiert werden. Die beiden Fotojournalistinnen schossen auch von diesen Ereignissen Fotos und dokumentierten die Zeugenschaft der Soldaten und deutschen Zivilisten. Die Befreiungsbilder dienten der Dokumentation und waren zugleich Beweise und Grundlage für eine Anklage der von den Deutschen begangenen Verbrechen. Das Medium der Fotografie sollte als unwiderlegbarer Beweis dienen – auch in Hinblick auf zukünftige juristische Verfahren gegen die Verantwortlichen der Verbrechen.17 Als Bezeichnung für die Schreckensbilder aus den befreiten Lagern setzte sich im amerikanischen Sprachraum der Begriff 13 Vgl. Stone, Liberation, S. 67. 14 Lee Miller: Krieg. Mit den Alliierten in Europa 1944-1945, Reportagen und Fotos, Hg. von Antony Penrose, Aus dem Englischen von Andreas Hahn und Norbert Hofmann, Berlin 2013, S. 206. 15 Vgl. Klaus Bittermann: Berichte aus einer fremden Welt, in: Miller, Krieg, S. 258. 16 Miller, Krieg, S. 202. 17 Vgl. Tobias Ebbrecht-Hartmann: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld, Berlin 2011, S. 100-101.
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Atrocity Pictures (Gräuelbilder) durch. Wie der Historiker Habbo Knoch angemerkt hat, handelte es sich dabei um einen unspezifischen Begriff aus der Kriegssprache, der beweist, dass es noch keine »spezifische Wahrnehmung der Verbrechensstätten gab, die sie mit einem systematischen Mordprogramm in Verbindung gebracht hätte.«18 Zum Zwecke der Aufklärung der Amerikaner über die Verbrechen der Deutschen waren bereits vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 die zahlreichen Aufnahmen von Massengräbern und unzähligen Leichen als Beweise in amerikanischen Zeitungen abgedruckt sowie in Kinos vorgeführt worden. Die Westalliierten hatten zwar bereits seit 1942 die massenhafte Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern des NS Regimes, von Juden und den Bürgern der besetzten Staaten schriftlich dokumentiert, und die Verbrechen waren auch von den Regierungen öffentlich verdammt worden. Doch selbst die Berichterstattung über das von sowjetischen Truppen entdeckte Lager in Majdanek seit Ende 1944 oder über die Befreiung des K Z Auschwitz seit Januar 1945 hatte zu keinen entscheidenden Konsequenzen in der Wahrnehmung der von den Deutschen begangenen Verbrechen geführt.19 Erst die Fotos und Filme der amerikanischen Reporter von den befreiten Lagern im Deutschen Reich wirkten auf eine breite Öffentlichkeit in den USA und hatten einen Perspektivenwechsel hinsichtlich der Bedeutung der K Z s zur Folge.20 Der Anblick der Masse an Ermordeten sowie der halbtoten Überlebenden hatte sowohl den Kriegsberichterstattern in Europa als auch dem amerikanischen Publikum die Sprache verschlagen. Die Fotografien wurden in der Weltöffentlichkeit zu breit rezipierten bildlichen »Zeugnissen des Unvorstellbaren«.21 Den Stellenwert dieser Gräuelbilder und den Aufruf von Eisenhower an die amerikanische Presse benannte der Psychologe David Boder im Jahr 1949 als den entscheidenden Grund für die Idee zu seiner Forschungsreise ins Nachkriegseuropa im Jahr 1945: A few days before the surrender of Germany, General Dwight D. Eisenhower, then Supreme Commander of the Allied Forces, sent out a call to American newspaper editors which may be paraphrased as ›Come and see for yourselves.‹ Eisenhower, preoccupied as he must have been with unprecedented responsibilities, found time to reflect upon the significance of preserving for posterity the impressions and emotions aroused by the sight of 18 Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001, S. 125. 19 Vgl. Knoch, Bild, S. 115-122. 20 Vgl. Shandler, America, S. 5-22. 21 Ebbrecht-Hartmann, Geschichtsbilder, S. 101. In der Folgezeit entwickelten sich viele dieser Fotos wiederum zu »Ikonen der Vernichtung«, vgl. Cornelia Brink: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998.
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thousands of victims dead or dying in the liberated concentration camps in Germany.22 Einige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa habe Boder nach dem Lesen von Eisenhowers Aufruf in Chicago demnach den Entschluss gefasst, nach Europa zu reisen. Als beispiellos bezeichnet er an dieser Stelle nicht die NS -Verbrechen in den K Z s, sondern vielmehr die Verantwortung von Eisenhower, der erkannt habe, dass die Eindrücke und Emotionen der Tausenden Opfer aus den befreiten Konzentrationslagern für die Nachwelt bewahrt werden müssten. Entgegen den bereits zahlreich vorhandenen Bildern und Filmen lag das Augenmerk von Boder jedoch nicht auf dem Anblick, sondern auf den Stimmen und Geschichten der Opfer: I could not have helped observing that while untold thousands of feet of film had been collected to preserve the visual events of war, practically nothing had been preserved for that other perceptual avenue, the hearing.23 Der nachträglich von Boder benannte Anlass für ein Interviewprojekt in Europa erklärte jedoch nur dürftig seine genaue Motivation und seine konkreten Ziele. Die exakte Lektüre einer früheren Version seiner Angabe über den Aufruf von Eisenhower offenbart, dass Boder seine Geschichte innerhalb weniger Jahre verändert hatte. Im Gegensatz zu seiner Formulierung aus dem Jahr 1949, dass er seinen Entschluss bereits einige Tage vor Kriegsende gefasst hatte, schrieb Boder 1947: A few days after the surrender of Germany, General Eisenhower, then Supreme Commander of the Allied Forces, sent out a call to the editors of American newspapers which may be summarized in five words, ›Come and see for yourself.‹24 In seinem Text aus dem Jahr 1947 – dem ersten Artikel nach seiner Rückkehr in die USA – gab Boder zu verstehen, dass sich Eisenhower erst nach der Kapitulation der Wehrmacht an die amerikanische Presse gewandet hatte und er demnach erst nach dem 8. Mai 1945 mit der Konzeption seines Interviewprojektes begonnen hatte. Um das Ziel seiner Interviews zu erläutern, zitierte Boder im selben Artikel wenige Zeilen später aus einem Memorandum, das er auf den 30. April 1945 datierte:
22 Boder, Dead, S. xi. 23 Ebd., S. xii. 24 David P. Boder: The Displaced People of Europe. Preliminary notes on a psychological and anthropological study, in: Illinois Tech Engineer 12, 1947, S. 18-21, hier S. 18, H. d. Verf. Im Nachlass von Boder befindet sich ein Nachdruck des Artikels mit veränderten Seitenzahlenangaben (S. 2-7), der im Folgenden zitiert wird, vgl. David Pablo Boder Papers, Box 24, H. d.Verf.
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For psychological as well as historical reasons, it appears of utmost importance that the impressions still alive in the memory of displaced persons of their sufferings in concentration camps and during their subsequent wanderings, be recorded directly not only in their own language but in their own voices.25 Wie konnte Boder bereits Ende April eine Projektskizze formuliert haben, wo er doch in diesem Artikel angegeben hatte, dass er erst um den 8. Mai mit der Konzeption seines Interviewprojekts begonnen hatte? Diese widersprüchlichen Aussagen über den Anlass seines Projekts machen deutlich, dass es für eine exakte Rekonstruktion der Motive, Ziele und Methoden seiner Interviews nötig ist, seine Aufzeichnungen vor Projektbeginn auszuwerten. Die Verwendung des Begriffes »displaced persons« im Artikel von 1947 sowie der Hinweis auf die Wanderschaft dieser Personengruppe legen zudem nahe, dass es sich bei dem zitierten Memorandum um einen Text aus der Zeit nach Kriegsende handelte, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Eine erste schriftlich überlieferte Version des Memorandums von Boder geht auf den 1. Mai 1945 zurück. Darin fasste der Psychologe in einem dreiseitigen Schreiben, das an einen Marshall Field adressiert war, sechs wesentliche Punkte über sein geplantes Interviewprojekt zusammen: Erstens verwies Boder auf das Vorhandensein von neusten technischen Gerätschaften, die es ermöglichten, Sprache auf Tonband aufzuzeichnen: »I refer to the magnetic wire recorder, developed by the Research Foundation of Illinois Institute of Technology.«26 Mit der Betonung dieser neuesten Technik, die an seinem Forschungsinstitut in Chicago entwickelt worden war, präsentierte sich Boder als wissenschaftlicher Experte. Das entsprechende Aufnahmegerät hatte der amerikanische Elektroingenieur Marvin Camras (1916-1995) erst kurz zuvor in Chicago am Armour Institute of Technology27 erfunden und im Juni 1944 patentieren lassen. Als Vorläufer des Tonbandgerätes funktionierte der Drahttonrekorder über ein magnetisches Aufzeichnungsverfahren. Der Tonträger war ein feiner metallener Draht, der auf Spulen aufgewickelt wurde.28 Mit dieser Technik sei es möglich, die Erzählungen der Opfer aus Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie aus den Gebieten, die noch von der Armee befreit werden würden, in ihren eigenen Stimmen und ihren eigenen Sprachen aufzuzeichnen, so Boder im zweiten Punkt des Memorandums. Dies sei sowohl aus psychologischen sowie aus historischen Gründen von entscheidender Be25 Boder, Displaced People, S. 18. 26 David P. Boder, Memorandum (01.05.1945), in: David Pablo Boder Papers, Box 1. 27 Das Armour Institute of Technology fusionierte 1940 mit dem Lewis Institute, an dem Boder angestellt war, zum Illinois Institute of Technology, vgl.: History of the Illinois Tech, UR L : https://www.iit.edu/about/history; Letzter Zugriff am 04.08.2021. 28 Zur Bedeutung der Technik als Medium der Aufnahme von Interviews vgl. Keilbach, Mikrofon, S. 285.
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deutung. Die Menge der betroffenen Sprachen mache es drittens unmöglich, diese Aufgabe allein durch bisher übliche journalistische Praktiken zu bewerkstelligen: It seems impossible that there are enough newspaper correspondence knowing the language of the Russian, Polish, Jewish, Latvian, Lithuanian, Mongol, Dutch, Flemish, and even German sufferers of concentration camps that their stories would be recorded for contemporaries as well as posterity with sufficient detail and precision by the usual method of interview.29 Die Vielzahl der Sprachen der Opfer, die Boder aufzählte, verdeutlichten bereits, dass er sich der gewaltigen Dimensionen der NS -Verbrechen bewusst war und daher eine neue Methode entwickelt werden sollte. Die klassische journalistische Interviewmethode mit Papier und Bleistift, mittels derer von bisherigen Kriegsreportern Geschichten notiert worden waren, erschien Boder antiquiert. Daher führte er aus: »These people are entitled to their own Ernie Pyle and since that appears practically impossible, the exact recording of their tales seems the nearest and most feasible alternative.«30 Seine Referenz war der damals berühmte amerikanische Journalist und Kriegsreporter Ernie Pyle, der die Leserschaft in Zeitungsberichten und Büchern mit spektakulären Kriegsgeschichten über die Tapferkeit der US -Soldaten sowie über Intrigen und Spionage unterhalten hatte.31 Pyle galt als der journalistische Augenzeuge an der Front für das Publikum in den USA .32 In direkter Analogie zur Bedeutung der Kriegsreportagen von Pyle über die heroischen Schlachten der US -Armee wollte Boder die Geschichten der Opfer publik machen. Die neue Technik des Drahttonrekorders war somit von zentraler Bedeutung, um die Stimmen und die verschiedenen Sprachen der Opfer im Original aufzunehmen. Im vierten Punkt seines Memorandums gab Boder zu verstehen, dass er nicht nur an den Geschichten der Opfer interessiert war, sondern eine noch weitaus umfassendere Vorstellung der Auswahl seiner Interviewpartner hatte. Als Ziel der Interviewsammlung gab er an: »to collect the personal experience stories of a representative of (a) the victims of the atrocities, (b) the perpetrators and (c) the bystanders.«33 Hier wird erneut deutlich, dass die medial verbreiteten Atrocity Pictures aus den befreiten Konzentrationslagern der Ausgangspunkt für Boders Projekt waren. Es ist zu erkennen, dass der Forscher durch Interviews mit den drei benannten Gruppen ein repräsentatives Sample erstellen wollte. Dieser Punkt wirkt aus heutiger Perspektive besonders vorausschauend: Jahrzehnte bevor der Historiker und Politikwissenschaftler Raul Hilberg 29 30 31 32
Boder, Memorandum (01.05.1945). Ebd. Vgl. Ernie Pyle: Brave men, New York 1944. Vgl. James Tobin: Ernie Pyle’s war. America’s eyewitness to World War II , New York 2006. 33 Boder, Memorandum (01.05.1945).
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mit der Trias »Perpetrators, Victims, Bystanders«34 die drei wesentlichen Gruppen von Akteuren35 der NS -Gewaltverbrechen in der Forschung etablierte, benannte Boder diese unterschiedlichen Perspektiven, um die in den K Z s verübten Gewalttaten besser zu verstehen. Die dritte Gruppe der bystanders definiert Boder an anderer Stelle als »adult Germans who lived near the concentration camps.«36 Damit verwies er auf deren Verstrickungen in die Verbrechen, die in der deutschen Übersetzung als Zuschauer zumeist verloren geht.37 Bei seinen geplanten Aufnahmen handele es sich, so der fünfte und letzte Punkt, um »invaluable material of utmost authenticity for the future«.38 Die geplanten Interviews präsentierte er als äußerst wertvolles Material, das als Grundlage zur Aufklärung in Form von Radiosendungen, für Zeitungsartikel oder Bücher verwendet werden könne. Zuletzt verwies Boder noch auf den Faktor der Dringlichkeit seiner Aufnahmen: »The important factor in this project is the urgency of immediate action. We must count with failure of human memory and fading of emotions due to time.«39 Der Psychologe betonte, dass er möglichst schnell mit seinen Interviews beginnen müsse, um die Erinnerungen und Emotionen der Befragten in ihrer vermeintlichen Unmittelbarkeit aufzeichnen zu können. Dieser letzte Punkt muss insbesondere als Aufruf an seine potenziellen Sponsoren verstanden werden – Boder wollte so schnell wie möglich nach Europa aufbrechen, um mit der Aufzeichnung der Interviews beginnen zu können. Allerdings dauerte es noch über ein Jahr, bis er die Finanzierung und die nötigen Einreisegenehmigungen erhielt. In diesem Zeitraum veränderten sich auch die Ziele seines Projektes in einigen Punkten. Seinen umfassenden Plan der Sammlung von Interviews mit Tätern, Opfern und »Zuschauern« verwarf er in folgenden Entwürfen seiner Projektskizzen, die Perspektive der Opfer wurde hingegen zentraler. In einem Brief an die jüdische Hilfsorganisation B’nai B’rith (hebräisch für Söhne des Bundes) betonte Boder im Juli 1945 besonders die jüdische Dimension seines Projektes:
34 Vgl. Raul Hilberg: Perpetrators, Victims, Bystanders. The Jewish Catastrophe 19331945, New York 1992. 35 Vgl. Alf Lüdke: Akteure: Täter, Opfer, Zuschauer, in: Gewalt: Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. von Christian Gudehus und Michaela Christ 2013, S. 177-183. 36 David P. Boder, Brief an Maurice Bisgyer (27.07.1945), in: David Pablo Boder Papers, Box 1. 37 Auch dies ist eine faszinierende Ähnlichkeit von Boders Begriff des bystander im Vergleich zu Hilberg, dessen Definition der Gruppe komplexer ist, als es der passive Begriff des Zuschauers vermuten lässt, vgl. Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt am Main 1996, S. 11. 38 Boder, Memorandum (01.05.1945). 39 Ebd.
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[I]t is the mission of the Jewish scientists and representative Jewish organizations to tackle the problem so that the opportunity for the collection of this undisputable historical evidence be not missed.40 Ziel seiner bevorstehenden Forschungsreise sei es, in Europa historische Beweise zu sammeln, zudem betont der Forscher in seinem Brief, dass dadurch der Kampf gegen den Antisemitismus gestärkt werden könne. Diese Betonung des (anti)jüdischen Charakters der NS -Verbrechen und der Bedeutung seiner Forschung für das Judentum ist zunächst auf die Ziele und Tätigkeitsfelder der jüdischen Hilfsorganisation zurückzuführen, bei welcher Boder mit diesem Brief um finanzielle Unterstützung für sein Projekt bat. Die Organisation B’nai B’rith war 1848 in New York als Loge nach dem Prinzip der Freimaurer mit dem Ziel gegründet worden, »das Judentum in der Welt durch Erziehung, Bildung und soziale Fürsorge zu stärken, es als Gemeinschaft zu fördern sowie den Antisemitismus zu bekämpfen«.41 Für die jüdischen Opfer der NS -Verbrechen organisierte die Institution in den 1940er Jahren zudem vielfältige Unterstützung, weswegen Boder auf eine Förderung seines Projekts hoffte.42 Deutlich wird an der Betonung der jüdischen Perspektive jedoch auch, dass der Forscher die Bedeutung der antisemitische Spezifik der NS -Verbrechen bereits im Frühjahr 1945 erkannt hatte. Dafür spricht ebenfalls, dass Boders Verwandte in Europa direkt von der Judenverfolgung betroffen waren. Sein Cousin Manni Falk etwa hatte sich im November 1944 aus Paris nach Chicago an Boder gewendet und berichtet, dass seine Frau von den Deutschen im Juli 1942 deportiert worden war. Falk resümierte in seinem Brief resigniert: »We have no hope to see her back.«43 Neben dieser familiären Verbundenheit mit der Judenverfolgung in seiner alten Heimat in Europa hatte sich Boder auch bereits während des Zweiten Weltkriegs wissenschaftlich mit der Nazi-Ideologie auseinandergesetzt. 1942 hatte er einen Artikel im Chicago Jewish Forum über den Rassismus und Antisemitismus von NS -Psychologen publiziert.44 In derselben Ausgabe der Zeitschrift erschien ebenfalls ein Artikel über die Lage der Juden im besetzten Polen, der explizit über Massentötungen von Juden durch Giftgas berichtete.45 Es ist nicht exakt zu klären, wie umfangreich Boders Wissen über den Massenmord in Europa vor dem Beginn seiner Inter40 Boder, Brief an Bisgyer. 41 Andreas Reinke: B’nai B’rith, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 1: A-CI , hg. von Dan Diner, Darmstadt 2011, S. 365-369, hier S. 365. 42 Als eine der weltweit größten jüdischen Hilfsorganisationen nahm B’nai B’rith zudem an den Vorbereitungen zur Gründung der Vereinten Nationen 1945 in San Francisco teil, vgl. Ebd., S. 369. 43 Manni Falk, Brief an Boder (16.11.1944), in: David Pablo Boder Papers, Box 24. 44 Boder setzte sich in diesem Artikel hauptsächlich mit der pseudowissenschaftlichen Begründung der NS -Rassenideologie auseinander, vgl. David P. Boder: Nazi Science, in: Chicago Jewish Forum 1, 1942, S. 23-29. 45 Vgl. J. P. Junosza: Jews in Poland, in: Chicago Jewish Forum 1, 1942, S. 51-53.
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viewaufzeichnungen war, aber er hatte zumindest grundlegende Informationen über die massenhafte Verfolgung und Ermordung der Juden aus der amerikanischen Presse der Kriegsjahre sowie aus dem exemplarisch genannten wissenschaftlichen Artikel.46 Die Angaben zu seinen angestrebten Interviewpartnern variierte Boder allerdings je nachdem, an wen er sich als potenziellen Unterstützer wandte. In einem Brief an den Stellvertreter des amerikanischen Außenministeriums vom Juli 1945 charakterisiert der Forscher die Zielgruppe für seine Interviews etwa völlig unspezifisch als Kriegsopfer: »The basic aim is to obtain several hundred verbatim records of people in one way or another affected by the war in Europe.«47 Die angegebene Menge von mehreren hundert Interviews lässt zudem darauf schließen, dass er zu diesem Zeitpunkt der Planung viele kurze Interviews aufzeichnen wollte. Im Brief an Bisgyer vom Juli 1945 gab Boder auch eine angestrebte Dauer der Interviews von nur etwa 15 Minuten an. Sowohl seine Angaben über die Dauer der Interviews als auch die Benennung von verschiedenen Gruppen wie Kriegsvertriebenen, ehemaligen Gefangenen aus K Z s oder allgemein Kriegsopfern beweisen, dass seine Konzeption in der Planungsphase noch sehr offen war. Noch im Mai 1946, also nur zwei Monate vor Beginn seiner Interviews, benannte Boder seine angestrebten Interviewpartner allgemein als »war sufferers in Europe«.48 Durch diese Rekonstruktion der Planungsphase von Boders Interviewprojekt von Mai 1945 bis Juni 1945 wird deutlich, dass zu dieser Zeit weder die angestrebte Zielgruppe an Interviewpartnern noch die Ziele der Interviews eindeutig festgeschrieben waren. Der Fokus der bevorstehenden Aufnahmen lag allerdings eindeutig auf den Stimmen und Geschichten von Opfern der noch nicht genau klassifizierten Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges.
»Displaced People of Europe«: Boders Expedition im Sommer und Herbst 1946 Im Sommer 1946 konnte die Forschungsreise nach aufwendigen Vorbereitungen endlich beginnen. Ende Juli 1946 überquerte Boder den Atlantik und bezog am Samstag, den 27. Juli, im Grand Hotel de Paris seine erste Unterkunft
46 Zur Diskussion um das Wissen über die Ermordung der Juden in den USA vgl. David S. Wyman: The United States, in: The world reacts to the Holocaust, hg. von David S. Wyman, Baltimore 1996, S. 693-748; Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers »Endlösung«, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1981, S. 85-127. 47 David P. Boder, Brief an Archibald McLeish (11.07.1945), in: David Pablo Boder Papers, Box 1. 48 David P. Boder, Memorandum on the recording and study of verbatim reports of war sufferers in Europe (21.05.1946), in: David Pablo Boder Papers, Box 1.
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Abb. 1: David Boder mit Drahttonrekorder während seiner Forschungsreise im Jahr 1946 durch Europa. Fotograf unbekannt.
in Frankreich.49 Am 29. Juli begann er mit der Anfertigung seiner Interviews, und in den folgenden zwei Monaten zeichnete er bis zum 4. Oktober 1946 insgesamt 129 Audiointerviews in vier verschiedenen Ländern Europas auf. Seine zehnwöchige Reise führte ihn an insgesamt 18 verschiedene Orte in Frankreich, der Schweiz, in Italien und der amerikanischen Besatzungszone im besiegten Deutschland. Mit seinem Drahttonrekorder zeichnete er auf 200 Spulen, die je etwa 38 Minuten Aufnahmekapazität besaßen, mehr als 90 Stunden Tondokumente auf (vgl. Abb. 1). Seine Interviewpartner fand Boder im Sommer und Herbst 1946 in diversen Sammellagern, in Waisenhäusern, Hotels, Schulen und auch in einer Synagoge. Die Sammlung an Interviews ist insgesamt durch eine große Diversität geprägt. Das Alter seiner Interviewpartner variierte stark: Der Großteil der Interviewten war unter vierzig, ganze 30 Prozent sogar unter 30 Jahren, und bei etwa 20 Personen handelte es sich um Teenager. Die Altersspanne reichte von der 13-jährigen Esther Freilich bis zum 78-jährigen Abraham Schrameck. Etwa zwei Drittel seiner Interviewpartner waren männlich, nur etwa ein Drittel weiblich. Zudem versammelte sich aufgrund von Boders Anliegen, die Interviews nicht 49 Alan Rosen hat darauf hingewiesen, dass Boders diesbezügliche Angaben nicht kohärent sind. Seine Ankunft in Paris war vermutlich Samstag, der 27. Juli, und der Beginn der Interviews der darauffolgende Montag, vgl. Rosen, Voices, S. 55.
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nur in den eigenen Worten, sondern ebenfalls in der eigenen Sprache der Interviewten aufzuzeichnen, eine Fülle an Sprachen in den Tonaufzeichnungen. Dies lag im Erkenntnisinteresse von Boder begründet, der die Auswirkungen der beschriebenen Erlebnisse möglichst genau in der Analyse des sprachlichen Ausdrucks ergründen wollte.50 Boders Tonaufnahmen umfassten insgesamt neun verschiedene Sprachen, wobei in vielen Gesprächen mehr als eine von ihnen gesprochen wurde: Insgesamt wurde in 71 Interviews Deutsch, in 32 Jiddisch, in 22 Russisch, in 15 Englisch, in acht Französisch, in sieben Polnisch, in fünf Spanisch, in drei Litauisch und in einem Lettisch gesprochen. Boder beherrschte sieben dieser neun Sprachen – bei Interviews auf Polnisch sprach er zumeist selbst Russisch und für die französischsprachigen Konversationen griff der Forscher auf Dolmetscher vor Ort zurück.51 Boders Interviews sind daher als polyglotte Quellen zu bezeichnen. Sie wurden in verschiedenen Sprachen aufgenommen, die allerdings nicht immer die Muttersprache der Interviewten war. Dies wirkte sich auch auf die Möglichkeiten des verbalen Ausdrucks aus, wie die spätere Analyse ausgewählter Interviews noch zeigen wird. Aus ethnologischem und anthropologischem Interesse zeichnete Boder auch Gesänge, Gedichtrezitationen sowie Mitschnitte von Gottesdiensten auf. Die Interviewten bezeichnete der Forscher, nachdem er in Europa angekommen war, nicht mehr allgemein als Kriegsleidende, sondern mit einer Kategorie, die im Nachkriegseuropa allgegenwärtig war: Displaced Persons. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass der Großteil seiner Interviews in Lagern für Displaced Persons (DP-Camps) stattfand. Der amerikanische Begriff Displaced Person lässt sich mit den Wörtern Heimatlose, Flüchtlinge oder Vertriebene nur ungenau ins Deutsche übersetzen – eine erste Klassifikation hatte das SHA EF noch zu Kriegszeiten am 18. November 1944 bekanntgegeben, die DP s als Zivilpersonen definierte, die sich aufgrund des Zweiten Weltkrieges außerhalb Ihres Staatsgebietes aufhielten und auf Hilfe bei der Heimkehr oder Auswanderung angewiesen waren.52 Als Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa handelte es sich bei der Mehrheit der DP s um ehemalige Zwangsarbeiter aus Osteuropa, Kriegsgefangene und Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager – deutsche Heimatvertriebene galten hingegen explizit nicht als DP s.53
50 Wie der Sprachwissenschaftler Gunter Senft ausgeführt hat, ist dies insbesondere vermittels sprachlicher Interaktion möglich, vgl. Gunter Senft: Zur Bedeutung der Sprache für die Feldforschung, in: Methoden und Techniken der Feldforschung, hg. von Bettina Beer, Berlin 2003, S. 55-70, hier S. 67-68. 51 Vgl. Müller, Translating Trauma, S. 259. 52 Vgl. Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 16. 53 Vgl. Angelika Königseder; Juliane Wetzel: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DP s (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt am Main 2004, S. 7.
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Der Kern des DP-Problems war ein rechtliches und betraf neben der Heimatlosigkeit insbesondere die fehlende Staatsangehörigkeit dieser Personengruppe. Die Aporie des historisch neuen Phänomens der Staatenlosigkeit innerhalb einer staatlich strukturierten Welt hatte die politische Theoretikerin Hannah Arendt, die nach 1933 aus Deutschland in die USA geflohen war, im Dezember 1944 in ihrem Artikel Die Entrechteten und Entwürdigten auf den Punkt gebracht: »Die eigentliche Schwierigkeit des Flüchtlings- und Staatenlosenproblems liegt darin, daß es innerhalb einer alten nationalstaatlichen Organisation der Völker schlechthin unlösbar ist.«54 Wenn diese neue Kategorie von Flüchtlingen keinem Staat zugehörig war, wer sollte dann ihre Rechte schützen? Durch die Staatenlosigkeit offenbarte sich ein eklatanter Widerspruch zwischen dem partikularen Konzept des Völkerrechts und der universalistischen Vorstellung der Menschenrechte.55 Die Debatte über die Garantie von Menschenrechten hatte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die folgende Flüchtlingskrise insbesondere in den USA erheblich verschärft.56 Nach Kriegsende merkte Arendt als kritische Beobachterin an, dass der terminologische Wandel vom einstigen Begriff der Staatenlosen zur Klassifizierung als Displaced Persons de jure eine Verschlechterung für diese entrechteten Personen bedeutete: Die Nachkriegsbezeichnung ›displaced persons‹ wurde bereits während des Krieges ausdrücklich zu dem Zwecke erfunden, um die Staatenlosigkeit ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Solche Nichtanerkennung von Staatenlosigkeit heißt immer Repatriierung, Rückverweisung in ein ›Heimatland‹, das entweder den Repatriierten nicht haben und als Staatsbürger nicht anerkennen will oder umgekehrt ihn nur allzu dringend zurückwünscht, weil er Flüchtling ist.57 An erster Stelle, so Arendts Kritik, stehe also nicht der Schutz dieser Personen durch die Alliierten, sondern die Forderung nach der Rückkehr in ihre Heimatländer. Dies offenbarte ein weiteres Paradox. Die nichtjüdischen osteuropäischen DP s aus Polen oder den baltischen Staaten, deren Heimatländer sich nach Kriegsende in sozialistische Regimes verwandelt hatten, verstanden sich als Angehörige von Nationalitäten im Exil. Für die jüdischen DP s hingegen, 54 Hannah Arendt: Die Entrechteten und die Entwürdigten, in: Dies., Nach Auschwitz, Essays & Kommentare, hg. von Eike Geisel und Klaus Bittermann, 2. Auflage, Berlin 2014, S. 172. 55 Vgl. Annette Weinke: Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, S. 109-116. 56 Vgl. Mark Philip Bradley: The World Reimagined. Americans and Human Rights in the Twentieth Century, New York 2016, S. 41-69. 57 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, Ungekürzte Taschembuchausg., 12. Aufl., München 2008, S. 579, H. i.O.
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die im Gegenteil das Ende des Exils und die Anerkennung als eigenständige Nation anstrebten, bedeutete die Staatenlosigkeit in vielen Fällen sogar einen Schutz vor der befürchteten Repatriierung.58 Die meisten Juden fühlten sich den Staaten, aus denen sie während des Zweiten Weltkrieges verschleppt worden waren, national nicht zugehörig, und etliche von ihnen waren zudem in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgrund von antisemitischen Pogromen aus ihren Heimatländern geflohen.59 Daher ist der zeitgenössische Begriff der Displaced Persons zentral für das Verständnis von Boders Interviews im frühen Nachkriegseuropa. Bereits kurz nach seiner Rückkehr in die USA hielt Boder am 4. November 1946 einen Vortrag im City Club of Chicago unter dem Titel »The Displaced Persons of Europe«, um über seine in Europa gesammelten Interviews zu berichten.60 Ein Jahr später veröffentlichte der Psychologe seinen ersten Artikel über seine Forschungsreise und kündigte darin eine psychologische und anthropologische Studie auf Grundlage der Interviews an. Wie er ausführte, solle seine erste Publikation allerdings nicht als wissenschaftliche Auswertung der Audioaufzeichnungen, sondern eher als Reisebericht verstanden werden: »The following lines, therefore, should be taken as a travelogue, as a set of notes on the personal impressions gained from about one hundred twenty hours of listening«.61 Seine Reise nach Europa benannte Boder im Sinne einer ethnologischen Feldforschung in diesem Artikel mehrfach als Expedition.62 Als zentrale Merkmale von Feldforschungen gelten zum einen das Erheben von Daten in der Lebenswelt der Untersuchten – in diesem Falle innerhalb der DPCamps – zum anderen ein induktives Vorgehen, also das Schließen vom Besonderen auf das Allgemeine. Anhand der Beobachtungen von Einzelfällen sollen allgemeingültige Theorien abgeleitet werden.63 In Boders Bericht über seine Expedition nach Europa zeichnete der Forscher anhand der Kategorie der DP s das Bild einer noch nie dagewesenen humanitären Katastrophe:
58 Vgl. Atina Grossmann: Who Guarantees Individual Rights? Jews and Human Rights Debates after World War II , in: Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, hg. von Norbert Frei und Annette Weinke, Göttingen 2013 (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts – Band 15), S. 42-52, hier S. 44-45. 59 Vgl. Jan T. Gross: Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Berlin 2012, S. 105112; Anna Cichopek: The Cracow Pogrom of August 1945. A Narrative Reconstruction, in: Contested Memories. Poles and Jews during the Holocaust and its Aftermath, hg. von Joshua D. Zimmerman, New Brunswick 2003, S. 221-238. 60 Zur Ankündigung des Vortrags vgl.: The City Club Bulletin, Sept. 1946, in: David Pablo Boder Papers, Box 1. 61 Boder, Displaced People, S. 3. 62 Vgl. ebd. S. 2 und S. 3. 63 Vgl. Bettina Beer: Einleitung: Feldforschungsmethoden, in: Methoden und Techniken der Feldforschung, hg. von Bettina Beer, Berlin 2003, S. 9-31, hier S. 11-12.
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»All together there are at present nearly a million people (not counting displaced Germans) who have been forcibly uprooted by the war and roam foreign lands in search of a place they can call their own.«64 Erneut wird deutlich, wie zentral die Kategorie der DP s als umherstreifende Staatenlose für ein Verständnis der Interviewsammlung von 1946 ist. Bei den DP s handele es sich laut Boder um »a mass of humanity catastrophically submerged into a state of unprecedented suffering«.65 Das Leid der Betroffenen galt Boder in dieser Bezeichnung demnach als beispiellos.66 Die Masse der DP s unterschätzte der Forscher mit seiner Angabe von knapp einer Million Menschen allerdings massiv, denn bereits 1945 befanden sich alleine auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen Deutschlands etwa sechseinhalb bis sieben Millionen Menschen, die als DP s klassifiziert wurden.67 Wie Boder in seinem Reisebericht von 1947 angab, war es allerdings auch nicht sein Ziel, ein umfassendes und repräsentatives Bild der Situation der DP s zu zeichnen: It was not the purpose of the expedition to gain a comprehensive picture of the whole problem of the DP ’s (sic). The project was intended as a psychological and anthropological study by means of a specific tool, the wire recorder, of the rank and file of DP ’s (sic). Therefore, any additional knowledge of the general problems was gained incidentally without any inquiry into the statistics of the phenomena.68 Die Sammlung einer breiten Masse an Erzählungen der DP s, die er mittels der neuen Technik des Drahttonrekorders aufgezeichnet hatte, besaß für den Forscher oberste Priorität bei der Erarbeitung einer wissenschaftlichen Studie. Umfangreiches Wissen über die Probleme der DP s hatte er demnach nur beiläufig im Prozess der Interviews gewonnen. Ein Zusammenhang zwischen den Opfern aus den befreiten Konzentrationslagern, die Boder bereits im Mai 1945 als seine anvisierten Interviewpartner benannt hatte, und der Gruppe der DP s schien ihm jedoch vorhanden zu sein. Zu Beginn der Interviews fragte der Forscher, noch bevor er seinen Rekorder eingeschaltet hatte, nach den Erfahrungen seiner Interviewpartner in den Konzentrationslagern:
64 Boder, Displaced People, S. 7. 65 Ebd. 66 Über die Bedeutung des Begriffes unprecedented für die NS -Verbrechen hat kurze Zeit später auch Hannah Arendt in einem Artikel über die Erforschung der K Z s reflektiert, in dem sie Robert H. Jackson als Chefankläger der Nürnberger Prozesse zitierte, der den Begriff nicht eindeutig genug verwendet hätte, vgl. Hannah Arendt: Social Science Techniques and the Study of Concentration Camps, in: Jewish Social Studies 12, 1950, S. 49-64, hier S. 65. 67 Vgl. Königseder, Wetzel, Lebensmut, S. 7. 68 Boder, Displaced People, S. 3
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My procedure was usually thus (sic). I would start: ›We know very little in America about the things that happened to you people who were in concentration camps. If you want to help us out, by contributing information about the fate of the displaced person, tell us your personal story. Tell us what is your name, how old you are, and where you were and what happened when the war started.‹69 In dieser Einstiegsfrage zeigte sich eine Verknüpfung zwischen K Z s, dem Zweiten Weltkrieg und der aktuellen Situation seiner Interviewpartner als DP s. Der in den Audioaufzeichnungen der Interviews übliche Stimulus war hingegen auf den Krieg beschränkt und thematisierte nur selten die K Z s als Einführung. So begann Boder sein Interview am 30. Juli 1946 mit dem jüdischen Franzosen Malfis Marson in Paris etwa mit folgender Einstiegsfrage: »Äh, wollen Sie mir bitte erzählen für unsere amerikanische Freunde/ äh/ wie/ was Sie getan haben during the/ den Krieg und die deutsche Okkupation.«70 Boder führte dieses Interview mit seinem französischsprachigen Interviewpartner durch die Mithilfe eines Übersetzers in einem Sprachenmix aus Deutsch und Englisch. Sein Stimulus verwies eindeutig auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges als Ausgangspunkt der Befragung. Auch die 34-jährige jüdische Polin Bertha Goldwasser fragte Boder bei seinem Interview am 4. August in Paris direkt zu Beginn der Aufzeichnung nach dem Kriegsbeginn: »Also sagen Sie mal, Frau Goldwasser, wo waren Sie, wenn der Krieg hat angefangen?«71 Als Ausgangspunkt und Rahmen für Boders Interviews ist eindeutig der Zweite Weltkrieg zu verstehen. Doch da die Befragten zumeist nach nur wenigen Minuten auf ihre Erfahrungen in Ghettos und Konzentrationslagern zu sprechen kamen, erschlossen sich dem Interviewer im Prozess der Interviewsammlung die Zusammenhänge zwischen dem Krieg sowie der Verfolgung und massenhaften Ermordung der Juden immer deutlicher. Die starke Bedeutung der jüdischen Perspektive für sein Forschungsprojekt lässt sich ebenso dadurch veranschaulichen, dass Boder durch die Unterstützung von jüdischen Hilfsorganisationen in Europa zu seinen Interviewpartnern in den DP-Camps gelangte, wie er im Nachgang betonte: I am particularly thankful for the cooperation of the voluntary agencies in Europe such as the ORT, the OSE , and the JDC in contacting the interviewees in the DP camps and shelter houses of France, Switzerland, and Italy. 69 Ebd. 70 David P. Boder Interviews Malfis Marson, July 30, 1946, Paris, France, UR L : https:// voices.library.iit.edu/interview/marsonM; letzter Zugriff am 04.08.2021. 71 David P. Boder Interviews Bertha Goldwasser, August 4, 1946, Paris, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/goldwasserB; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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The help of Dr. Myer Cohn and Sydney (Bill) Morrell of UNR R A in Germany made possible a most fascinating series of recorded interviews among DP ’s (sic) of all creeds and nations then congregated in the American Zone.72 Boder benannte in diesem kurzen Textabschnitt mehrere zentrale Institutionen und Akteure, die sein Interviewprojekt entscheidend geprägt hatten. Zunächst die philanthropische Institution Organisation, Reconstruction, Training (ORT ), die 1880 in St. Petersburg als »Gesellschaft [zur Förderung] der handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufe unter den Juden in Russland«73 gegründet worden war. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die ORT verstärkt jüdische Flüchtlinge durch berufsbildende Kurse unterstützt ,und es sind vielfach ORT-Schulen, an denen Boder seine Interviewpartner fand.74 Das französische Kinderhilfswerk Œuvre de Secours aux Enfants (OSE), das 1912 ebenfalls in St. Petersburg gegründet wurde, war eine zweite zentrale Organisation für Boders Projekt. Das OSE betrieb nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich und der Schweiz zahlreiche Waisenhäuser für jüdische Kinder, von denen die meisten Opfer der NS -Verfolgung waren.75 Auch in diesen jüdischen Waisenhäusern fand Boder zahlreiche Interviewpartner. Die dritte von Boder benannte Institution war das American Jewish Joint Distribution Commitee (JDC ). Die in New York gegründete Hilfsorganisation war seit dem Ersten Weltkrieg insbesondere in Europa tätig und entwickelte sich in der Folgezeit zur weltweit größten jüdischen humanitären Organisation.76 Nach dem Zweiten Weltkrieg unterstützte das JDC insbesondere überlebende Juden in den DP-Camps mit lebensnotwendigen Gütern.77 Unterstellt war das JDC als nichtmilitärische Hilfsorganisation der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNR R A ). Dabei handelte 72 Boder, Dead, S. xii. 73 Alexander Ivanov: ORT, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 4, Ly-Po, hg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar 2013, S. 444-449, hier S. 444. 74 Boder führte in wenigen Fällen auch Interviews mit dem Personal dieser jüdischen Bildungsinstitutionen, etwa in Genf, wo seit April 1944 eine ORT-Schule existierte, so der Leiter der Organisation Joseph Freinhoffer und die Sekretärin Frau Borgmann im Interview mit Boder am 28.08.1946, vgl. David P. Boder Interviews Joseph Freinhoffer and [first name unknown] Borgman, August 28, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https:// voices.library.iit.edu/interview/borgman_freinhofferJ; letzter Zugriff am 04.08.2021. 75 Vgl. Michèle Becquemin: Une institution juive dans la République, l’Œuvre de Secours aux Enfants. Pour une histoire du service social et de la protection de l’enfance, Paris 2013, S. 80-134. 76 Vgl. Gennady Estraikh: Joint Distribution Committee, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2: Co-Ha, hg. von Dan Diner, Darmstadt 2012, S. 211214, hier S. 211. 77 Zur Bedeutung des JDC nach dem 2. W K speziell in Frankreich vgl. Laura Hobson Faura: Towards Consensus? American Jewish Organizations in France after the Shoah, in: American Responses to the Holocaust. Transatlantic Perspectives, hg. von Hans Krabbendam und Derek Rubin, Frankfurt am Main 2017, S. 79-96.
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es sich um eine internationale Hilfsorganisation, die im November 1943 auf Initiative der USA , der Sowjetunion, Großbritanniens und Chinas als Vorläuferorganisation der späteren UNO gegründet worden war. Die Hauptaufgabe der UNR R A bestand um 1946 in der Unterstützung des SHA EF in den DPCamps, insbesondere bei der Repatriierung der DP s.78 Bei den beiden von Boder im obigen Zitat benannten Personen handelte es sich um Myer Cohen, der 1946 der Leiter von DP-Operationen der UNR R A in Deutschland war, und Sydney Morell, welcher in der Funktion als Public Relation Director für die UNR R A arbeitete.79 In seinem Artikel aus dem Jahr 1947 verwies Boder auf die Diversität der Befragten in den DP-Camps und betonte zudem, dass die Geschichte der Konzentrationslager von elementarer Bedeutung für sein Verständnis der DP s war: »From material that was supplied to me by the UNR R A , and the data gradually pieced together from the interview material, the concentration camp picture was as follows.«80 Boder fuhr mit einer historisierenden Beschreibung über die K Z s und insbesondere die Juden als Opfergruppe fort und führte danach aus, dass man die DP s in unterschiedliche Gruppen einteilen könne. Bei den ersten beiden von ihm beschriebenen Gruppen handelte es sich wieder um jüdische DP s. In der ersten Gruppe, die er mit »The Pied Piper«81 überschrieb, bezog sich Boder auf sein Interview mit der jüdischen Polin Lena Küchler vom 8. September 1946.82 Die Bezeichnung als Rattenfängerin war allerdings nicht negativ konnotiert, sondern rekurrierte auf eine Geschichte über Küchler, der es gelungen war, etliche jüdische Kinder aus Polen nach Frankreich zu schmuggeln, um sie mithilfe von jüdischen Hilfsorganisationen nach Palästina zu bringen.83 Als zweite Gruppe benannte Boder »Buchenwald Children«, also jene knapp 900 Kinder und Jugendliche, die von den Amerikanern im befreiten K Z Buchenwald am 11. April 1945 aufgefunden und von denen anschließend viele im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen in die Schweiz und nach Frankreich gebracht worden waren. Boder verwies an dieser Stelle zwar nicht explizit darauf, 78 Zur kurzen Geschichte der UNR R A als Vorläuferorganisation der UNO vgl. Jessica Reinisch: Internationalism in Relief: The Birth (and Death) of UNR R A , in: Past & Present 210, 2011, S. 258-289. 79 Vgl. William I. Hitchcock: The Bitter Road to Freedom: A New History of the Liberation of Europe, New York 2008, S. 242. 80 Boder, Displaced People, S. 3. 81 Ebd., S. 5. 82 Vgl. David P. Boder Interviews Lena Kuechler, September 8, 1946, Bellevue, France, UR L : http://voices.iit.edu/audio.php?doc=kuechlerL; letzter Zugriff am 04.08.2021. 83 Zur Rettungsaktion von Küchler vgl. Boaz Cohen: Survivor Caregivers and Child Survivors: Rebuilding Lives and the Home in the Postwar Period, in: Holocaust and Genocide Studies 32, 2018, S. 49-65, hier S. 50. Zur Bedeutung von Küchler in Israel siehe Yad Vashem, Holocaust Hero: Lena Küchler-Silberman, UR L : https://www. yadvashem.org/articles/general/kichler-silberman.html; letzter Zugriff am 15.03.2021.
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dass es sich hauptsächlich um jüdische Kinder handelte, jedoch thematisierte er wieder die beteiligten jüdischen Hilfsorganisationen, »charity organizations such as the ORT and the OSE «.84 Erst nachdem Boder diese beiden Gruppen von jüdischen DP s vorgestellt hatte, kam er auf eine Kategorie zu sprechen, die er als DP s mit christlichem Glauben benannte: According to latest reports, there are in the American Zone about 500,000 DP ’s (sic) of whom only about 125,000 are Jews. The rest are Letts, Latvians, Estonians, Balkans, and Poles. There are also a few thousand Mennonites who came from the Russian Ukraine.85 Wie Boder anmerkte, handelte es sich bei der Masse der DP s um Staatenlose aus Osteuropa, von denen der Großteil nichtjüdisch war. Die Mehrheit von Boders Interviewpartnern waren allerdings Juden. Nur 21 Personen seiner insgesamt 129 Interviewpartner, also rund 16 Prozent, waren Nichtjuden. Seine Interviewsammlung ist demnach keineswegs als eine repräsentative Auswahl an DP s zu verstehen. Die jüdische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs stand in seiner Auswahl eindeutig im Vordergrund. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass die vergleichsweise kleine Gruppe der jüdischen DP s große Unterstützung durch die benannten internationalen jüdischen Hilfsorganisationen erhielt, denen der Forscher explizit gedankt hatte. Als Eigenbezeichnung hatte die Gruppe der jüdischen DP s den hebräischen Begriff She’erit Haplejta (Der Rest der Geretteten) gewählt. In dieser religiösen Interpretation des eigenen Überlebens im Gegensatz zu der Masse der Ermordeten wurden die DP-Camps auch als Wartesaal gedeutet, in hoffnungsvoller Perspektive auf eine bevorstehende Emigration, insbesondere nach Palästina als Ort der Gründung eines eigenen jüdischen Staates.86 Ganz im Gegensatz zu dieser hoffnungsvollen Perspektive der Rettung stand allerdings die Außenwahrnehmung der DP s als Masse von ungewollten Flüchtlingen und störenden heimatlosen Ausländern, insbesondere in den Alliierten Besatzungszonen des besiegten Deutschen Reichs.87 Auch um diesem negativen Bild entgegenzuwirken, wollte Boder die Leidensgeschichten der DP s sammeln und in der amerikanischen Öffentlichkeit publik machen. Welch negatives Bild über die Grup84 Boder, Displaced People, S. 6. 85 Ebd. 86 Zum Begriff des Wartesaals siehe Königseder, Wetzel, Lebensmut, S. 8; Ausführlich zu jüdischen DP s als Akteure siehe das Kapitel »Der gerettete und rettende Rest. Jüdische Displaced Persons in der amerikanischen Besatzungszone«, in: Atina Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland, Göttingen 2012, S. 214-293. 87 Vgl. Atina Grossmann: Opfer, Störenfriede und Überlebende. Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung jüdischer Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland, in: Gedächtnis und Geschlecht. Deutungsmuster in Darstellungen des nationalsozialistischen Genozids, hg. von Insa Eschebach, Sigrid Jacobeit und Silke Wenk, Frankfurt am Main 2002, S. 297-326.
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pe der DP s auch in Amerika noch bis in die späten 1940er vorherrschte, wird beispielsweise daran deutlich, dass Boder in der Einleitung seines 1949 erschienenen Buches betonte, dass jene DP s kein Abschaum, sondern Hilfsbedürftige aus allen Schichten der Gesellschaft seien: What they want most is a return to the simple requirements of cultured living. […] We must learn to understand that the DP ’s (sic), in spite of their depredations, are not riff-raff, not the scum of humanity, not the poor devils who suffer because they don’t know their rights, not idlers who think ›that the world owes them a living,‹ but people composed of all classes of society, comprising farmers, industrial workers, teachers, lawyers, artists, and the like, who have been dislocated by a world catastrophe.88 Im Sinne einer Rückkehr der DP s zum kultivierten Leben setzte sich Boder auch politisch für die Gruppe ein. In einer national ausgestrahlten Radiodebatte im März 1948 unter dem Titel »Should we Close the Gates to Displaced Persons?« argumentiert er etwa dezidiert für die Aufnahme der DP s aus Europa in die USA .89 Noch während Boder im Sommer und Herbst 1946 in Europa seine Interviews aufzeichnete, wandelten sich seine Methode und das Verständnis der Erzählungen der Befragten grundlegend. Der Ablauf der Interviewführung variierte während der Zeitspanne von Ende Juli bis Anfang Oktober 1946 ganz erheblich. Begründet lag dies auch in der Spezifik seines Projekts als qualitativer Feldforschung, die durch die Prinzipien der Beweglichkeit, Offenheit und von gegenseitigem Lernen geprägt ist.90 Diese Offenheit lässt sich am Wandel der von Boder verwendeten Methoden deutlich nachvollziehen. Nachträglich gab der Forscher an, dass er »non-directive interviews« geführt habe – dabei handelte es sich um eine zeitgenössisch offene Interviewtechnik, die von dem amerikanischen Psychologen Carl Rogers entwickelt worden war.91 Boder war sich sicher, dass diese Form der Interviewführung mit so wenig Intervention wie möglich besonders gut für seine spätere psychologische Auswertung der Aufnahmen geeignet sei. Auf die genauere Bedeutung seiner angestrebten Forschung und die theoretischen Grundlagen der Auswertung der DP-Interviews wird im Folgenden noch ausführlich eingegangen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass er sich nicht strikt an seine ursprünglich geplante Methodik hielt und im Laufe des Interviewprojektes realisierte, dass Interventionen und Nachfragen seinerseits nötig waren. Er entwickelte daher eine Hybridform von Interviewmethoden, die er als »semi-non-directive« bezeichnete.92 88 Boder, Displaced People, S. 7. 89 David P. Boder, Should we Close the Gates to Displaced Persons? (30.03.1948), in: David Pablo Boder Papers, Box 16. 90 Roland Girtler: Methoden der Feldforschung, Wien, Köln, Weimar 2001, S. 55. 91 Vgl. Rosen, Voices, S. 175. 92 Vgl. ebd.
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In seinen späteren Transkriptionen der Interviews gab der Forscher an, dass er, nachdem er etwa die Hälfte der ihm zur Verfügung stehenden 200 Spulen aufgebraucht hatte, von der Aufzeichnung von möglichst umfassenden Erzählungen seiner Interviewpartner zur Fokussierung auf »high points of their experiences«93 gewechselt habe. Zwar stellte er auch bereits in frühen Interviews seiner Sammlung oftmals Fragen nach dem jeweils besten und dem schlimmsten Moment der erinnerten Erfahrungen seiner Interviewpartner, die am Ende der autobiographischen Erzählungen nochmals Höhe- beziehungsweise Tiefpunkte verdichten sollten. In späteren Interviews ab September 1946 erfragte der Interviewer allerdings teilweise nur noch spezifische Erinnerungen über bestimmte Lager oder Ghettos und wich damit von seiner ursprünglich intendierten Methode ab.94 Dieser Wechsel zu Fragen nach ausführlichen episodischen Angaben der Interviewten war daher Boders flexiblem Gebrauch von Interviewmethoden im Prozess der Sammlung geschuldet und wirkte sich maßgeblich auf die unterschiedlichen Interviews aus.95 Einen weiteren Wandel seiner Interviewmethoden stellte etwa auch der Einsatz eines Persönlichkeitstests dar, den der Psychologe nur in den frühesten Interviews benutzte. Den sogenannten Thematischen Apperzeptionstest (TAT ), ein projektives Verfahren der Psychologie, das ähnlich wie der Rohrschachtest auf der Interpretation von Bildern basiert, verwendete Boder nur wenige Male.96 Bereits nach acht Interviews stellte Boder die Verwendung des Tests wieder ein, was darauf hinweist, dass sich diese psychologische Methode im Prozess der Interviewaufnahmen als nicht funktional erwiesen hatte.97 Wie deutlich aufgezeigt wurde, hatte sich das Konzept von Boders Interviewprojekt nach der Planungsphase in den USA seit Mai 1945 auch in der Praxis der Expedition nach Europa von Juli bis Oktober 1946 erheblich gewandelt. Im Prozess der Interviews variierte Boder mehrfach seine Interviewpraktiken, was durch die Orientierung an Methoden der Feldforschung erläutert wurde. Aus seiner anfänglich noch unspezifischen Kategorisierung der Interviewpartner als Kriegsleidende wurden in Europa Displaced Persons, wobei die Erfahrungen von jüdischen Opfern im Fokus standen. Maßgeblich ergab sich dieser Fokus aufgrund der Bedeutung der zahlreichen jüdischen Hilfsorganisationen, mit deren Hilfe Boder zu seinen Interviewpartnern gelangte. Die auf Draht93 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 16, S. 3161. 94 Auch dies bestätigt die Nähe von Boders Methodik zur Feldforschung, in der das Sample im Feld erweitert wird, vgl. Girtler, Feldforschung, S. 56. 95 Dies betont auch die Historikerin Gigliotti in ihrer Reflexion über die von ihr verwendeten Boder-Interviews. Vgl. Gigliotti, Train Journey, S. 145 ff. 96 Zur Bedeutung des TAT vgl. Wilhelm Josef Revers: Der thematische Apperzeptionstest [TAT]. Handbuch zur Verwendung des TAT in der psychologischen Persönlichkeitsdiagnostik, dritte, erweiterte Auflage, Bern, Stuttgart, Wien 1973. 97 In der Analyse des Interviews mit Izrael Unikowski wird in Kapitel I .2 ausführlicher auf die Bedeutung des TAT eingegangen.
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spulen aufgezeichneten Interviews wollte der Psychologe nach seiner Rückkehr in die USA publik machen und schließlich als Grundlage für eine psychologische und anthropologische Studie nutzen.
Audiointerviews als Forschungsmaterial: Sprache, Persönlichkeit und Trauma Um die Funktion von Boders Interviewsammlung in den DP-Camps als Forschungsprojekt besser zu verstehen, ist es notwendig, seine Methodik und wissenschaftlichen Ziele als Psychologe in den Blick zu nehmen und daher zunächst seinen biographischen und wissenschaftlichen Werdegang zu skizzieren. Boder wurde am 9. November 1886 im russischen Libau in eine jüdische Familie geboren.98 Seine Eltern Berl und Betya Michelson gaben ihm den Geburtsnamen Aron Mendel Michelson, seinen späteren Namen David P. Boder nahm er erst Jahrzehnte später in der Emigration an. Die heute auf lettischem Staatsgebiet befindliche Hafenstadt Liepāja war damals Teil des russischen Zarenreiches und hatte eine wachsende jüdische Gemeinde, der die Michelsons angehörten. Aufgrund dieser geographischen und nationalen Besonderheit seiner Herkunftsstadt gehörten Deutsch, Jiddisch und Russisch zu den gesprochenen Sprachen in Boders Kindheit und Jugend. Sein Studium führte ihn um das Jahr 1906 für ein Semester vom russischen in das deutsche Kaiserreich. Der internationalen Sogwirkung des Psychologen Wilhelm Wundt konnte sich auch der junge Boder nicht entziehen.99 Mit der Gründung des weltweit ersten psychologischen Laboratoriums in Leipzig im Jahr 1879 hatte Wundt die Experimentalpsychologie institutionalisiert – sein 1875 ins Leben gerufener Lehrstuhl für Psychologie gilt als wichtigster Faktor hinsichtlich der Etablierung der Psychologie als empirischer Wissenschaft.100 Zudem hatte Wundt mit seiner Völkerpsychologie entscheidende Impulse für die Entstehung der Ethnologie geliefert.101 Inspiriert durch seine Erfahrungen in Leipzig, setzte Boder sein Studium der Psychologie anschließend von 1907 bis 1912 am Psychoneurologischen Labor von Wladimir Michailowitsch Bechterew in St. Petersburg fort.102 Bechterew setzte als Schüler von Wundt ebenfalls auf die empirische Methode des Experiments. Die 98 Die ausführlichen biographischen Angaben über Boder sind das Verdienst von Alan Rosen, vgl. Rosen, Voices, S. 25-49. 99 Vgl. Markus Bernhard Galliker; Margot Klein; Sibylle Rykart: Meilensteine der Psychologie. Die Geschichte der Psychologie nach Personen, Werk und Wirkung, Stuttgart 2007, S. 196-209. 100 Vgl. Friedrich Doucet: Geschichte der Psychologie. Von den vorchristlichen Philosophen bis zu den Seelenärzten des 20. Jahrhunderts, Bindlach 1971, S. 174. 101 Vgl. Uwe Wolfradt: Ethnologie und Psychologie. Die Leipziger Schule der Völkerpsychologie, Berlin 2011, S. 24-33. 102 Vgl. Rosen, Voices, S. 28 ff.
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Verhaltensweisen von Probanden wurden in seinem Labor exakt beobachtet und protokolliert, womit er die sogenannte Objektive Psychologie begründete.103 Die Expertise in experimenteller Psychologie verband beide Professoren als Mentoren von Boder, und dies prägte schließlich seine spätere Methodik entscheidend. Im Jahr 1919 floh Boder vor dem russischen Bürgerkrieg, wechselte seinen Namen und emigrierte nach Mexiko.104 Auf Grundlage seiner psychologischen Ausbildung war er an der Universität in Mexiko-Stadt in der Lehre tätig und publizierte einige Artikel auf Spanisch. Mitte der 1920er Jahre wanderte Boder schließlich in die USA aus. In Chicago erlangte er seinen verspäteten universitären Abschluss im Fachbereich Psychologie: 1927, im Alter von 41 Jahren, reichte er seine Master Thesis mit dem Titel The Adjective-Verb Quotient: A Contribution to the Psychology of Language am dortigen Lewis Institute ein.105 Seine Abschlussarbeit leistete einen wichtigen Beitrag zur Psychologie der Sprache, Boder untersuchte darin das Verhältnis der sprachlichen Nutzung von Adjektiven und Verben in schriftlichen Texten, um in deren Analyse Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der Autoren zu ziehen. Quellengrundlage für seine Analyse bildeten Rechtstexte und fiktionale sowie wissenschaftliche Schriften, die er quantitativ auswertete.106 Boder berief sich unter anderem auf die Forschungen des deutschen Psychologen und Pädagogen Adolf Busemann. Jener hatte den sogenannten Aktionsquotienten definiert, der das Verhältnis der Zahl der verwendeten Verben und Adjektive in einem Text nutzt, um Aussagen über die Eigenschaften der Deskription zu fällen. Diese Methode findet auch heute noch Anwendung in der quantitativen Linguistik, teilweise explizit unter Verweis auf die Studie von Boder.107 Seinen Doktortitel erlange Boder 1927 an der Northwestern University, und seit 1929 war er Professor im Fachbereich Psychology am Lewis College, dem späteren Illinois Institute of Technology. Öffentliche Bekanntheit in den USA erlange Boder insbesondere als Gründer des weltweit ersten Psychologie-Museums in Chicago im Jahr 1937. Anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung im darauffolgenden Jahr referierte der Forscher in einem Radiointerview ausführlich zur Geschichte der experimen103 Bechterew stand allerdings zeitlebens im Schatten seines russischen Kollegen Pawlow und von dessen Experimenten über Konditionierung, vgl. Galliker et al., Meilensteine der Psychologie, S. 217-220, hier. S. 219. 104 Vgl. Bernstein, Art of Testimony, S. 355-356. 105 Aufgrund zahlreicher Anfragen von Kollegen veröffentlichte er seine Studie 13 Jahre nach der Niederschrift als Abschlussarbeit in einer Fachzeitschrift, vgl. David P. Boder: The Adjective-Verb Quotient. A Contribution to the Psychology of Language, in: Psychological Record 22, 1940, S. 310-343. 106 Vgl. Boder, Adjective-Verb Quotient, S. 328. 107 Zur Methode unter explizitem Verweis auf Boders Text vgl. Vivien Altmann; Gabriel Altmann: Anleitung zu quantitativen Textanalysen. Methoden und Anwendungen, Lüdenscheid 2008, S. 104-107.
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tellen Psychologie und deren Bedeutung für sein Museum: »It is the purpose of the Psychological Museum of Chicago to present in dramatic and comprehensive form the procedures of psychological experimentation to the public at large.«108 Psychologische Experimente sollten demnach im Museum einer breiten Öffentlichkeit verständlich erklärt werden. Boders Bedeutung in der psychologischen Fachwelt und seine Versuche, auch ein Publikum jenseits der Wissenschaft anzusprechen, standen allerdings teilweise im Widerspruch zu seiner öffentlichen Wahrnehmung. Das Time Magazine widmete der Publikation seiner Masterarbeit in einer Fachzeitschrift im Jahr 1940 immerhin knapp zwei Seiten, spöttelte darin jedoch: Psychologists, who breathe statistics as a salamander breathes fire, love to count things. They count and classify words to determine what books children should read, what children’s classics should be rewritten, how intelligent grown up readers are. Last week a Chicago psychologist came up with a word-counting formula for measuring not readers but writers. Goateed, Russian-born Dr. David Pablo Boder, head of the psychology department at Lewis Institute (a technical school) and director of its Psychological Museum, called his formula the Adjective-Verb Quotient.109 Boder wurde hier als spitzbärtiger Statistikfetischist dargestellt, und eine Passage weiter im Artikel wurde ein hartes Urteil über wissenschaftliche Publikationen wie seine Masterarbeit gefällt. Der Forscher markierte diese Stelle in seiner Ausgabe des Magazins mit rotem Buntstift: »Scientists have no consideration for their readers.«110 Boders psychologische Studie über den Zusammenhang von Adjektiven und Verben mit der menschlichen Psyche war eindeutig zu komplex für eine breite Leserschaft in den USA . Angesprochen fühlten sich die Leser im zweiten Jahr des Weltkriegs eher von den zahlreichen publizierten Kriegsreportagen. In derselben Ausgabe des Time Magazine unterhielt man diese in der Rubrik World War mit spektakulären Kriegsgeschichten aus Europa. Unter dem Titel »Survivors from Flanders« wurde etwa über das Schicksal der britischen Soldaten in der Schlacht von Dünkirchen berichtet, die nur wenige Wochen zuvor im Mai und Juni 1940 vor der anrückenden Wehrmacht nach Großbritannien hatten fliehen müssen. Jene Soldaten wurden im Artikel als »[b]owed, bloody, some shell-shocked but all glad to be alive«111 beschrieben. Die Reportage muss im Kontext der Kriegsgeschichten von Ernie Pyle betrachtet werden, die zu jener Zeit massenhaft in den USA verbreitet waren und auf die der Psychologe daher auch in seinen späteren Memoranden über das Interviewprojekt in Europa von 1946 verwies. 108 David P. Boder, On the history of experimental psychology (Manuskript, 1938), in: David Pablo Boder Papers, Box 28. 109 Vgl. Time Magazine, 10. Juni 1940, S. 56-57. 110 Ebd., S. 57. 111 Ebd., S. 27.
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Die scheinbar kuriosen Forschungen von Boder über den Zusammenhang von Adjektiven und Verben aus den 1930er Jahren und die Geschichten über traumatisierte alliierte Soldaten während des Zweiten Weltkrieges hatten allerdings mehr miteinander zu tun, als auf den ersten Blick anzunehmen wäre. Boders späteres Interesse an den Geschichten der DP s in Europa hing direkt mit seinen experimentellen Forschungen über Sprache und Persönlichkeit sowie seinem Engagement gegen die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs zusammen. Die vernichtende Kritik des Forschers am Rassismus und Antisemitismus der Psychologie im Nationalsozialismus in seinem Artikel über Nazi Science aus dem Jahr 1942 bestätigt dies.112 Zudem arbeitete Boder während des Krieges eng mit der US -Armee zusammen. Durch seine Funktion als psychologischer Berater des Kriegstrainingsprogramms am IIT war er sogar aktiv in den Krieg involviert. Dabei unterstützte er die Streitkräfte etwa durch seine Publikation über Morsezeichen.113 Im Jahr 1943 verkündete Boder nicht ohne Stolz: »[I]t is gratifying to state, that a number of Army psychologists received their fundamental psychological training at the I. I.T. psychology laboratories«.114 Der im oben zitierten Artikel verwendete Begriff des shell-shock – im Deutschen Kriegsneurose – verwies zudem auf eine weitere Verbindungslinie von Boders Forschung zu den Kriegsleidenden. Der Begriff der Kriegsneurose wurde erstmals während des Ersten Weltkrieges benutzt und gehört zur Entstehungsgeschichte der Traumaforschung.115 Der Traumabegriff wiederum sollte für Boder noch eine entscheidende Analysekategorie seiner DP-Interviews werden. Die Auswirkungen von Krieg und Lagerhaft auf die menschliche Psyche und Persönlichkeit wollte er mit seiner Expertise zur Sprache mit dem seit Frühjahr 1945 geplanten Interviewprojekt kombinieren. Um Boders Interesse an den persönlichen Geschichten der DP s besser zu verstehen, ist daher ein kurzer Exkurs zur Geschichte der Traumatheorie nötig. In der Medizingeschichte bezeichnete der Begriff des Traumas zunächst allgemein eine Wunde oder Verletzung. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde zum Substantiv Trauma auch ein Adjektiv gebildet – traumatisch waren demnach die Folgen von seelischen Erschütterungen.116 Durch die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse entstand schließlich ein komplexerer Trauma112 Vgl. Boder, Nazi Science. 113 Vgl. David P. Boder, IIT Morse Code Training Forms. A Method of Learning by Anticipated Recognition (1943), in: David Pablo Boder Papers, Box 25. 114 David P. Boder, Psychology and the war effort (1943), in: David Pablo Boder Papers, Box 25. 115 Wolfgang U. Eckart: Kriegsgewalt und Psychotrauma im Ersten Weltkrieg, in: Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung, hg. von Günter H. Seidler und Wolfgang U. Eckart, Gießen 2005 (Reihe Psyche und Gesellschaft), S. 85-105. 116 Vgl. Heinz Schott: Das psychische Trauma in medizinhistorischer Perspektive – von Paracelsus zu Freud, in: Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer
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begriff, dessen Grundlage der Psychoanalytiker Werner Bohleber folgendermaßen zusammengefasst hat: Beim Trauma handelt es sich um ein Konzept, das ein äußeres Ereignis, oder, allgemeiner gesprochen, Einwirkungen der Außenwelt mit ihren spezifischen Folgen für die innere psychische Realität verknüpft.117 Diese Verbindung von Innen und Außen, also der Psyche und der Umwelt, hatte eine dreifache konzeptionelle Differenzierung der Traumatheorie zur Folge: Zu unterscheiden sind erstens das äußere Ereignis, also der »Prozess der Traumatisierung«118, zweitens der traumatische Zustand des Ichs und drittens die bleibenden pathologischen Veränderungen. Als gesellschaftlich bedeutsames Ereignis hatte insbesondere der Erste Weltkrieg der Entwicklung der Traumaforschung wesentlichen Vorschub geleistet.119 Freud hatte nach dem Ersten Weltkrieg die »psychoökonomische Traumatheorie« entwickelt, wobei er an seine früheren Studien zur Hysterie von 1895 anknüpfte, in denen er eine erste Theorie zum Trauma entworfen hatte.120 Nach 1919 bestimmte die Erforschung der sogenannten Kriegsneurosen die Traumatheorie. Die durch den Ersten Weltkrieg verursachten »traumatischen Neurosen« und deren pathologische Auswirkungen standen im Fokus (nicht nur) der frühen psychoanalytischen Traumaforschung.121 Freuds Theorie basierte im Wesentlichen auf der Annahme der Erregung des Ichs und einem daraus folgenden pathologischen Angstzustand. Die Trieb- sowie die Traumatheorie von Freud ergänzten sich dabei gegenseitig, und so führte er in seiner zentralen Schrift zum Trauma Hemmung, Symptom und Angst von 1926 aus: Wenn die Angst die Reaktion des Ichs auf die Gefahr ist, so liegt es nahe, die traumatische Neurose, welche sich so häufig an überstandene Lebensgefahr anschließt, als direkte Folge der Lebens- oder Todesangst mit Beiseitesetzung der Abhängigkeiten des Ichs und der Kastration aufzufassen. Das ist auch von den meisten Beobachtern der traumatischen Neurosen des letzten Krieges geschehen, und es ist triumphierend verkündet worden, nun sei der Beweis erbracht, daß eine Gefährdung des Selbsterhaltungstriebes eine Neu-
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historischen Traumaforschung, hg. von Günter H. Seidler und Wolfgang U. Eckart, Gießen 2005 (Reihe Psyche und Gesellschaft), S. 41-55, hier hier S. 41. Werner Bohleber: Die Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: Handbuch der Psychotraumatologie, hg. von Günter H. Seidler, Stuttgart 2011, S. 107-117, hier S. 107. Ebd. Als mögliche traumatisierende äußere Reize wurden allerdings auch bereits vor dem 1. W K die Erfindung von Eisenbahnen und die Folgen von deren Unfällen unter dem Begriff des railway-spine diskutiert, vgl. Esther Fischer-Homberger: Zur Medizingeschichte des Traumas, in: Gesnerus 56, 1999, S. 260-294, hier S. 265 ff. Vgl. Bohleber, Traumatheorie, S. 107. Vgl. Werner Bohleber: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, in: PSYCHE 54, 2000, S. 797-839, hier S. 800 ff.
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rose erzeugen könne ohne jede Beteiligung der Sexualität und ohne Rücksicht auf die komplizierten Annahmen der Psychoanalyse.122 Eine traumatische Situation könne demnach sowohl durch innere übermäßige Triebregungen als auch durch äußere, reale Erlebnisse entstehen. Die komplexe Beziehung zwischen Innen und Außen, konkret also dem benannten psychoanalytischen Konzept der Kastrationsangst in Relation zu äußeren Erlebnissen wie dem des Krieges, legte Freud allerdings nie genau fest. In der Folge rückten die traumatischen Ursachen in der Theoriediskussion immer weiter an den Rand und wurden erst ab den 1950ern wieder in der Forschung aufgegriffen.123 Umso bemerkenswerter war daher Boders psychologischer Ansatz. Er wollte ganz explizit die Ursachen, also den Prozess der Traumatisierung des Individuums untersuchen. Die äußeren Faktoren der Traumatisierung und die Folgen für die Persönlichkeit standen bei seiner Forschung im Fokus. Ausdruck fanden diese Auswirkungen auf die Persönlichkeit in der Sprache. Die Audioaufzeichnungen dienten dahingehend als Forschungsgrundlage, um genau diesen sprachlichen Ausdruck der Traumatisierung empirisch zu untersuchen. In einem Manuskript aus dem Jahr 1948, das Boder an das renommierte journalistische Magazin The New Yorker schickte, betont er die spezifisch psychologische Bedeutung seiner aufgezeichneten Interviews: The value of my material lays not in the description of the general facts, but in the way how the events have struck the individual and his personal feelings, experiences and attitudes under the load of unprecedented suffering.124 Nicht die Beschreibung von allgemeinen Fakten in Form der Sammlung von historischem Beweismaterial war somit sein Anliegen, sondern die Analyse der Auswirkungen des beispiellosen Leids auf die Psyche der Individuen. Seine Interviewsammlung muss daher als Forschungsprojekt verstanden werden, das bereits vor Interviewbeginn spezifische psychologische Erkenntnisinteressen verfolgte und dessen Auswertung ihn bis zum Ende seines Lebens beschäftigte. Die nun folgende Darstellung und Analyse seiner Forschungsschwerpunkte und Methodik basierten hauptsächlich auf seinen Publikationen nach Abschluss der Interviews. Wenngleich dies einen zeitlichen Vorgriff bedeutet, ermöglicht die Analyse von Boders Publikationen aus den Jahren nach 1946 ein besseres Verständnis davon, wie bedeutsam die sozialwissenschaftlichen Methoden und seine theoretischen Grundannahmen bereits während der Aufnahmen in den DP-Camps waren. Die Erarbeitung einer psychologischen und anthropologischen Studie, die Boder bereits ein Jahr nach seiner Rückkehr aus 122 Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, Hamburg 2010, S. 50. 123 Vgl. Bohleber, Entwicklung der Traumatheorie, S. 802. 124 David P. Boder, Manuskript: The Blow of Certainty (09.03.1948), in: David Pablo Boder Papers, Box 23.
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Europa auf Grundlage seiner Audiointerviews angekündigt hatte, verfolgte der Forscher in den folgenden Jahren nach seinen Interviews zielstrebig. Er erarbeitete bis 1948 ein umfassendes Manuskript, das den Arbeitstitel The D. P. Story trug.125 In dessen Prolog legte er auch sein Forschungsverfahren dar. Psychologen und Anthropologen hätten bereits eine Reihe von Methoden entwickelt, um »personal histories« auszuwerten, doch die bisherige Methodik sei für sein aufgezeichnetes Material nicht ausreichend. Daher sehe er sich dazu gezwungen, neue Techniken der Beurteilung der menschlichen Erfahrungen sowie neue Begriffe zu entwickeln: In the study of our wire-recorded tales, which for scientific purposes may be labeled ›topical autobiographies‹, we found ourselves in need of a schedule or inventory which could be applied to each individual report. We have compiled a list of injuries, harrasments (sic), anxieties and heartaches reported by survivors and have conceptualized them under the term of trauma. With these data we expect to devise a formula of computing a traumatic index for each of our biographees (sic).126 Obwohl Boder zunächst keine konkreten Personen und Methoden benannte, lassen sich über seine verwendeten Begriffe Rückschlüsse auf seine theoretischen Bezugspunkte erschließen. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Bezeichnung seiner Interviewpartner als »survivors« dazu diente, die Erfahrungsebene und die extremen Gewalterfahrungen der Interviewten zu betonen: Jene Personen hatten die Qualen überlebt, im Gegensatz zu den etlichen Ermordeten, die er nicht mehr befragen konnte. Die Erzählungen der Befragten bezeichnete Boder als »topical autobiographies« was auf den Psychologen Gordon Allport und seine Ausführungen über personal documents verweist. Die häufigste Form eines personal document, so Allport in einer Studie aus dem Jahr 1942, sei die Autobiographie. Diese unterteilte er wiederum in drei Subkategorien: If it is long and many-sided we may speak of a comprehensive autobiography; if it is short and specialized in content, of a topical autobiography; if it is not strictly in the author’s own words, but none the less a piece of direct reporting, of an edited autobiography.127 Die Analyse von personal documents nach Allport gehörte zur Blütezeit der Verwendung von human documents in der Soziologie zwischen 1920 und
125 Vgl. David P. Boder, The D. P. Story. A Series of Tales of Displaced Persons – Wire Recorded, Translated, and Interpreted (Manuskript 1948), in: Yad Vashem Archives, Prof. David Boder Testimonies Collection, O.36, File 1, Item Number 4186768. 126 Ebd., S. 29, H. i.O. 127 Gordon Allport: The Use of Personal Documents in Psychological Science, New York 1942, S. 76, H. i. O.
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1940.128 Boders Methodik muss daher innerhalb der Chicagoer Schule verortet werden, die sich auf die Methoden der Soziologie, Psychologie und Anthropologie auswirkte. Die Verwendung von Interviews als Forschungsgrundlage war von Boders Stichwortgeber Allport ebenfalls klar benannt worden. Ob sich die Form des Interviews dazu eigne, empirische Daten aufzuzeichnen, hinge folglich davon ab, ob es sich um wortgetreue Aufzeichnungen handele: Another borderland in the field of personal documents is reached in the vast domain of interviewing. Suppose the interviewer makes notes on the subject’s statements, can we consider the product a personal document or not? The criterion seems to be whether the subject’s own words are accurately and completely (or almost completely) recorded. Sound-recording is becoming more and more widely used.129 Boders präferierte Technik der Audioaufnahme der Interviews war also dezidiert methodisch begründet. Dass er die Stimmen der DP s wortwörtlich aufzeichnete, war die Grundlage dafür, sie als personal documents psychologisch auswerten zu können. Die wortwörtliche Aufzeichnung der verschiedenen Interviewsprachen sollte es ihm ermöglichen, Studien über den Zusammenhang von Sprache, Persönlichkeit und Trauma anzufertigen.130 Im Jahr 1949 konnte Boder nach langer Suche nach einem Verlag schließlich sein überarbeitetes und stark gekürztes Manuskript der D. P. Story unter dem Titel I Did Not Interview the Dead als Monografie veröffentlichen.131 Im Vorwort des Buches gab er als Ziel seiner Forschungsreise die wissenschaftliche Auswertung der Interviews an, wie er dies auch bereits in seinem Artikel von 1947 formuliert hatte: It was not the purpose of the expedition to gain a comprehensive picture of the whole problem of the DP ’s (sic). The intention was to gather personal reports in the form of wire recordings for future psychological and anthropological study.132
128 Vgl. Kenneth Plummer: Documents of Life 2. An Invitation to a Critical Humanism, London, Thousand Oaks, New Delhi 2001, S. 111 ff. 129 Allport, Personal Documents, S. 90. 130 Allerdings fertigte Boder seine Transkriptionen für ein englischsprachiges Publikum an, was wiederum zu Problemen in Bezug auf die Analyse der Original-Sprache der Interviews führte, vgl. Müller, Translating Trauma; Rosen, Sounds of defiance, S. 2133. 131 Streichen musste er unter anderem eine ausführliche Interpretation des Interviews mit Anna Kovitzka. Vgl. David P. Boder, The Tale of Anna Kovitzka. A Logico-Systematic Analysis or an Essay in Experimental Reading (Manuskript 1948), in: David Pablo Boder Papers, Box 6. Zu Boders Interpretationsmethode des Interviews vgl. Bernstein, Art of Testimony, S. 362-366. 132 Boder, Dead, S. xiv.
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Um seine gesammelten Interviews als thematische Autobiographien auswerten zu können, hatte Boder zudem einen Index erarbeitet, in welchem der Begriff des Traumas eine zentrale Bedeutung hatte: Psychologists and anthropologists have suggested a variety of methods for the analysis of personal histories such as those appearing in this book. Study of the wire-recorded narratives has led to the devising of an index by means of which each narrative may be assessed as to the category and number of experiences bound to have a traumatizing effect upon the victim. Called The Traumatic Index, it is given here in abridged form.133 Der in seiner Monografie aufgeführte Traumatic Index, bestehend aus 12 Kategorien, sollte die Grundlage für die Analyse der Interviews sein.134 Die Komplexität der psychologischen Auswertung der Interviews war Boder durchaus bewusst, und so wandte sich der Psychologe in der Einleitung seines Buches direkt an seine Leserschaft: The reader should find no difficulty in discovering in the narrative, specific instances of the types of traumas listed in the preceding index. To evaluate each of these traumas and to weigh their impact on the personality is an exacting task for which, perhaps, only the professional social scientist is qualified.135 Damit wird zugleich deutlich, dass Boder mit der Publikation von I Did Not Interview the Dead einen Spagat zwischen der wissenschaftlichen Fachwelt und einer möglichst breiten Leserschaft gewagt hatte. Als theoretischen Ansatz zu den Auswirkungen von Traumata führte Boder einen neuen Begriff ein, den er Dekulturation nannte. Diesen hatte er in Anlehnung an das Konzept der Akkulturation nach John Dollard entwickelt. Dollard hatte als Sozialwissenschaftler in einem interdisziplinären Ansatz Theorien und Methoden aus der Soziologie, Psychologie und Anthropologie kombiniert, um den Prozess der Eingliederung von Individuen in Gruppen zu analysieren.136 In seiner Studie Criteria for the Life History aus dem Jahr 1935 hatte Dollard anhand der Auswertung von Autobiographien diesbezüglich seine Theorie der Akkulturation entworfen.137 Boders Begriff der Dekulturation bezeichnete den absoluten Gegensatz zu Dollards Konzept der kulturellen Integration: »Many of the following recorded personal documents give precisely this picture in reverse – the gradual cut133 Ebd., S. xviii, H. i.O. 134 Es handelte sich dabei um eine gekürzte Version des im Manuskript der D. P. Story als »Traumatic Inventory« bezeichneten Inventars mit 35 Kategorien. 135 Boder, Dead, S. xix. 136 Vgl. Plummer, Documents, S. 112. 137 Vgl. John Dollard: Criteria for the Life History. With Analysis of Six Notable Documents, New Haven 1935.
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ting down of a human being to fit into concentration and annihilation camps.«138 Aufgrund der beispiellosen Verbrechen der Nazis sah sich Boder dazu gezwungen, neue Begriffe und Methoden für seine Analyse der Interviews zu finden. Die Dekulturation war damit Ausdruck dafür, dass sich für Boder mit den Nazi-Lagern ein Niedergang der Kultur ausdrückte. Dies äußerte sich auch darin, dass der Forscher den Begriff der Katastrophe als Metapher für die Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges benutzte.139 Mit seinem Artikel The Impact of Catastrophe aus dem Jahr 1954 knüpfte Boder an seine bisherigen Grundlagen für die Analyse der DP-Interviews an und entwickelte seine Traumatheorie weiter. In der Einleitung der psychologischen Studie beschrieb er den Gegenstand seiner Forschung: »It deals with the content analyses and traumatic evaluation of wire recorded interviews from a collection obtained in displaced persons camps and shelter houses of Europe during the summer of 1946.«140 In der komplexen Studie benutzte Boder die empirische Methode der Inhaltsanalyse, um zehn Interviews, von denen sieben bereits in seiner Monografie abgedruckt worden waren, auszuwerten. Im Gegensatz zu seinem Buch von 1949, wo er alle Interviews unter der allgemeinen Kategorie der DP s vereint hatte, unterschied Boder in dieser späteren Analyse zwei Gruppen voneinander: »We designate them accordingly as the Friendly Eastern Refugee group (FER ) and the Concentration Camp group (K Z ).141 In seinem Sample bestand die FER-Gruppe aus »five individuals of Christian faith, all escapees from Russia, or Russian-occupied territory.«142 Diese Gruppe von nichtjüdischen DP s aus dem Herrschaftsbereich der Sowjetunion zeichne sich durch spezifische Flucht- und Vertreibungserfahrungen aus und unterscheide sich nach Boder erheblich von der K Z -Gruppe. Diese bestand aus fünf jüdischen Personen, wobei Boder in der Definition der Personen als Juden explizit auf die antisemitische Bedeutung der Nürnberger Gesetze verwies. Vier der fünf Personen der K Z -Gruppe hatten mehrere Jahre in Konzentrationslagern verbracht, eine Person hatte Zwangsarbeit außerhalb von Lagern leisten müssen. Zur methodischen Auswertung diente zum einen das Traumatic Inventory: Diese ausführlichere Version des traumatischen Indexes von 1949 hatte er basierend auf seinem Manuskript der D. P. Story auf 46 Kategorien erweitert, um 138 Boder, Dead, S. xix. 139 Wie Rosen angemerkt hat, rekurriert auch dieser Begriff auf Gordon Allport und seine Studie Personality Under Social Catastrophe aus dem Jahr 1941, in der Allport die Auswirkungen der nationalsozialistischen Revolution in Deutschland mittels autobiographischer Schriften von Emigranten untersucht hatte: »Allport’s revolution was Boder’s Holocaust.« Rosen, Voices, S. 183. 140 Boder, Catastrophe, S. 3. 141 Ebd., S. 4. 142 Ebd., S. 5.
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möglichst jegliche Form der Traumatisierung zuordnen zu können. Zusätzlich nutzte er eine Skala von »traumatischen Werten«.143 Boder differenzierte dabei zwischen »personal trauma« und »milieu trauma«, was wiederum auf die beiden zu unterscheidenden Gruppen verwies. Die K Z -Gruppe weise eher Dekulturation durch persönliches Trauma auf, die FER-Gruppe hingegen ein durch ihr Milieu verursachtes Trauma.144 Die nicht selbst im K Z internierten Interviewpartner ordnete der Psychologe damit einer anderen Kategorie von Dekulturation zu, da sie nicht direkt, sondern indirekt betroffen waren. Der Begriff des bystander, den Boder bereits in seinem ersten Memorandum im Mai 1945 verwendet hatte, bekam damit eine weitere Bedeutung. Die jüdischen Opfer der Konzentrationslager hatten andere und hinsichtlich des Prozesses der Traumatisierung wesentlich schlimmere Erlebnisse durchlitten als jene, die dieser Art von Verbrechen nur als Dritte beigewohnt hatten.145 Mit seiner ausführlichen Version des Traumatic Inventory versuchte Boder möglichst jeden Aspekt der erzählten Erfahrungen zu codieren. Sein Traumabegriff zielte auf den Effekt der »depersonalization«, den der elfte Punkt seines Inventars benannte, also einen Prozess der Entmenschlichung.146 Den massiven Angriff auf die Persönlichkeit, den Boder 1949 erstmals mit dem Begriff der Dekulturation beschrieben hatte, differenziert er in seinem Artikel von 1954 weiter aus. Er verweist darauf, dass es ihm keineswegs nur um eine Analyse des K Z -Systems ging, sondern Dekulturation als universelles Konzept auf alle Formen einer kulturell beschädigten Umwelt anwendbar sei: A deculturated environment such as a concentration camp, slums, lock-ups of police stations, bombed-out cities or any makeshift installation in substitution of standard conditions and attributes of existence.147 Die Analyse des Prozesses der Dekulturation der Persönlichkeit und die soziale Desintegration seien damit auch für andere Sozialwissenschaften anschlussfähig.148 Dekulturation meine nach Boder folglich nicht die physische Unterwerfung unter eine a-kulturelle Umwelt, sondern vielmehr die intellektuelle und affektive Akzeptanz einer dekulturalisierten Existenz durch die Individuen.149 Diese Einpassung in eine dekulturierte Umwelt lasse sich in den Interviews analysieren und auswerten, etwa wenn bestimmte Faktoren 143 144 145 146 147 148
Vgl. ebd., S. 4. Vgl. ebd., S. 35. Vgl. Rosen, Voices, S. 197 ff. Vgl. Boder, Catastrophe, S. 44. Ebd., S. 35. Dieser Aspekt war sicherlich auch einer der Gründe, warum der Soziologe Ervin Goffman Boders Interviews 1961 für seine Analyse totaler Institutionen verwendete, vgl. Erving Goffman: Asylums. Essays on the social situation of mental patients and other inmates, New York 1961. 149 Boder, Catastrophe, S. 35.
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wie extreme Gewalt in den Erzählungen als natürlich akzeptiert würden. Das Konzept der Dekulturation bezeichnete Boder weiterhin als eine wichtige Diagnose, die aufgrund der Menge von 12 Millionen DP s in Europa äußerst gesellschaftsrelevant sei – die dringliche Aufgabe sei die »reculturation of personality«.150 Die Traumatisierten sollten also wieder Teil der Kultur und der Gesellschaft werden. Wie genau dies möglich sei, führte Boder allerdings nicht aus. Deutlich wird an dieser Stelle die anthropologische Dimension seines Projekts: Die NS -Verbrechen stellten als »man-made catastrophe« einen noch nie zuvor dagewesenen Bruch im Verhältnis des Menschen zur Kultur dar. Die Menge der aufgezeichneten Interviews hatte allerdings zur Folge, dass Boder in den folgenden Jahren nach seinem Interviewprojekt in Europa mehr mit der Transkription und Übersetzung als mit seiner intendierten psychologischen Auswertung der Aufnahmen beschäftigt war.151 Dies lag zum Teil auch an seiner sehr aufwendigen Transkriptionsmethode. Boder hörte sich jeweils eine Spule der Originalaufnahme an und zeichnete dann Satz für Satz seine englische Übersetzung mittels eines weiteren Drahttonrekorders auf. Diese Übersetzung tippten dann seine Mitarbeiter ab.152 Sein Vorhaben, die Interviews auch in ihren Originalsprachen zu transkribieren, konnte er hingegen nie in die Tat umsetzen. und auch seine konkreten Pläne, noch weitere Artikel über die linguistischen Aspekte der Erzählungen, »theoretical and generalized methodological considerations«153 sowie einen Vergleich der DP-Interviews mit Aufnahmen von Flutopfern zu publizieren, konnte er nie realisieren.154 Von 1950 bis 1957 veröffentlichte er im Eigenverlag insgesamt 16 Bände mit 70 englischsprachigen Transkripten, im letzten Band von 1957 waren zudem eine Verschlagwortung sowie ein ausführlicher psychologischer Apparat, inklusive Traumatic Inventory, abgedruckt.155 Das Ziel der Erarbeitung eines umfassenden traumatologischen Lexikons, das Boder in den 1950er Jahren als interdiszi150 Ebd., H. i.O. 151 Zu beachten ist, dass Boder keineswegs alleine daran arbeitete. Seine Studierenden halfen ihm bei der wissenschaftlichen Auswertung der Interviews und mehrere von ihnen verfassten ihre Abschlussarbeiten über die DP-Interviews. Seine Frau Dora, der das Buch von 1949 gewidmet war, unterstütze ihn ebenfalls stark. Zudem war es Boders Kollege Bernhard Wolf (selbst ein Holocaust-Überlebender), der wichtige Hilfe in der Übersetzung und Kontextualisierung der Erzählungen leistete, vgl. Rosen, Voices, S. 47 ff. 152 Vgl. A Note on Wire Recording, in: David P. Boder: The D. P. story, Yad Vashem Archives. 153 Boder, Catastrophe, S. 3. 154 In der Einleitung seines Artikels von 1954 hatte Boder eine vergleichende Analyse mit Audioaufnahmen von Überlebenden einer Flut angekündigt, die er 1951 in Kansas City angefertigt hatte. Dies sollte einen Vergleich von »nature-made disaster« und »man-made catastrophy« ermöglichen, vgl. ebd. 155 Vgl. David P. Boder, Traumatic Inventory for the Assessment and Evaluation of Interviews with Displaced Persons, in: Ders.,Topical Autobiographies of Displaced
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plinäres Projekt konzipierte, konnte der Forscher jedoch nie realisieren.156 Boders Ausführungen zum Trauma blieben insgesamt fragmentarisch.
Zwischenfazit Deutlich wurde anhand der Ausführungen in diesem Kapitel, dass der Psychologe David Boder spezifische Erkenntnisinteressen verfolgte, als er im Frühjahr 1945 beschloss, ins Nachkriegseuropa zu reisen um Interviews mit Kriegsleidenden zu führen. Die DP-Camps und deren Bewohner dienten ihm als Grundlage für seine Feldforschung, die Reise verstand er explizit als eine Expedition. Von dem ersten Memorandum im Mai 1945 bis zu den letzten Transkriptionen der Interviews im Jahr 1957 veränderten sich die Methoden und Ziele des Interviewprojekts mehrfach. Insbesondere aufgrund seiner jüdischeuropäischen Herkunft hatte er ein besonderes Interesse an den NS -Verbrechen gegen die Juden. Wie anhand seiner wissenschaftlichen Herkunft aus der experimentellen Psychologie aufgezeigt wurde, kombinierte der Sozialwissenschaftler in seinem Interviewprojekt – ganz im Sinne der Chicago School – verschiedene Methoden und Theorien der Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Ethnologie miteinander. Sowohl vor Ort in Europa als auch während der späteren Übersetzung, Transkription und Auswertung der Audiointerviews in den USA . Die Interviewsammlung aus dem Sommer und Herbst 1946 diente letztlich als Datensammlung, um Erkenntnisse über die traumatischen Auswirkungen der als Katastrophe begriffenen Ereignisse zu generieren.
2. Erzählen, um die »Katastrophe« zu begreifen: Jüdische Überlebende befragt Anhand einer detaillierten Analyse von fünf Interviews aus der Sammlung von David Boder wird im folgenden Kapitel den Fragen nachgegangen, was seine Interviewpartner 1946 erzählten und inwieweit sich das Erkenntnisinteresse und die Interviewmethoden des Forschers auf die Darstellungen ausgewirkt haben. Wie im vorausgegangenen Kapitel ausgeführt, zeichnete Boder die Audiointerviews als Datensammlung aud, um sie im Nachgang seiner Forschungsreise sozial- und humanwissenschaftlich auszuwerten. Das grundlegende Anliegen war demnach die Sammlung von mündlichen Berichten über die von ihm als »Katastrophe« bezeichneten Ereignisse während des Zweiten WeltPeople. Recorded Verbatim in Displaced Persons Camps with a Psychological and Anthropological Analysis, Bd. 16, Los Angeles 1957, S. 3141-3161. 156 Zum Plan von Boder, ein solches Lexikon zu erstellen, vgl. David P. Boder, Memorandum: The Traumatological Lexicon. A cross-disciplinary project (1955), in: David Pablo Boder Papers, Box 14.
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kriegs. Im Speziellen lag sein Forschungsinteresse auf den Auswirkungen von Extremerfahrungen auf die Persönlichkeit seiner Interviewpartner. Mit einem Fokus auf den Kommunikationsprozessen wird aufgezeigt, welchen sprachlichen Ausdruck die Befragten für ihre Erfahrungen fanden und wie sie diese interpretierten. Das Erzählen der Interviewten diente vornehmlich dem Zweck, die Erlebnisse mitzuteilen und begreifbar zu machen. Bei allen fünf Befragten handelte es sich um jüdische Überlebende. Der NS -Massenmord an den Juden bildete für sie demnach den Kern der Katastrophe, die sie Boder begreiflich machen wollten. Dabei handelte es sich um einen dialogischen Prozess, der nicht immer gelang. Charakteristisch sind die durch zahlreiche Konflikte geprägten Kommunikationsversuche. Die Interviewanalyse findet auf zwei Ebenen statt und setzt verschiedene Zeitschichten miteinander ins Verhältnis: Bei den Ausführungen über Boders Traumatheorie der Dekulturation im vorangegangenen Kapitel handelte es sich um eine Beschreibung der seitens des Forschers durchgeführten Auswertungen und Deutungen der Interviews nach 1946. Die Analyse wird daher sowohl auf der Ebene der dialogischen Gesprächssituation, die in den überlieferten Audioaufnahmen festgehalten worden ist, als auch auf der textlichen Ebene auf Grundlage von Boders späteren übersetzten Transkripten sowie seinen wissenschaftlichen Publikationen vorgenommen. Dadurch ist es möglich, den Prozess von der konflikthaften Kommunikation während der Interviews 1946 bis zur späteren Deutung der Erzählungen in Boders Forschung als Produktion von Wissen über die Katastrophe des NS -Massenmords an den Juden darzustellen.
»Das, was mit mir passiert ist, ist einem jeden Juden passiert« (Izrael Unikowski) Am Freitag, dem 2. August 1946, interviewte David P. Boder den 20-jährigen polnischen Juden Izrael Unikowski im französischen Fontenay-aux-Roses, einem südwestlichen Vorort von Paris.157 Untergebracht war der junge Mann zu dieser Zeit im Château de Boucicaut, einem Kinderheim der jüdischen 157 Zur digitalisierten Audioaufzeichnung des Interviews vgl. David P. Boder Interviews Israel Unikowski; August 2, 1946; Fontenay-aux-Roses, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/unikowskiI; letzter Zugriff am 16.07.2021. Das übersetzte Transkript des Interviews publizierte Boder unter dem Titel »Mr. Israel Unikowski«, vgl. Boder: Topical Autobiographies, Bd. 10, S. 1784-1849. Bei Boder wurde Unikowskis Vorname als »Israel« angegeben. In einer späteren schriftlichen Befragung seitens der USC Shoah Foundation im sog. Pre-Interview Questionaire (PIQ ) gab er als gebürtigen Vornamen »Izrael« an, was ich im Folgenden übernehme, vgl. USC Shoah Foundation: Pre-Interview Questionaire, 42633 Jack Unikowski. Ich danke Marthta Stroud von der USC Shoah Foundation für diese internen Unterlagen.
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Hilfsorganisation OSE . Dort lebten etwa 60 Kinder und Jugendliche, 45 davon waren am 11. April 1945 im K Z Buchenwald befreit und anschließend mit einem Hilfstransport nach Frankreich gebracht worden.158 Erst vier Tage zuvor war Boder nach seiner Überfahrt aus den USA in Frankreich angekommen und hatte seither bereits 15 Interviews aufgenommen. Die Aufzeichnung von Unikowski war die einzige an diesem Tag und das letzte von insgesamt fünf Interviews im Kinderheim, bevor der Forscher am nächsten Tag nach Paris zurückkehrte, um dort seine Arbeit fortzuführen. Das fast zweistündige Audiointerview mit Unikowski, in dem ein Sprachenmix aus Jiddisch, Deutsch und Englisch gesprochen wurde, enthielt diverse Erzählungen der Verfolgungserfahrungen des jungen Mannes aus Polen, die im Folgenden zusammengefasst werden: Zu Beginn der Aufnahme machte Unikowski knappe Angaben zu seiner Kindheit. Der Interviewte gab gegenüber Boder an, dass er 1928 im polnischen Kalisz geboren worden war. Seine Mutter starb, als Unikowski etwa drei Jahre alt war, und sein Vater übergab ihn 1935 zusammen mit seinem älteren Bruder Iser Unikowski an das örtliche jüdische Kinderheim für Jungen. Der Interviewte berichtete von der kollektiven Flucht der Bewohner des Kinderheimes zur etwa 100 Kilometer entfernten Stadt Łódź im September 1939 als Folge des Überfalls der Wehrmacht auf Polen. Erzählungen über die Lebensbedingungen im geschlossenen Ghetto Litzmannstadt, dem zweitgrößten Ghetto in Polen nach jenem in Warschau, bildeten den Großteil des gesamten Interviews.159 Ausführlich sprach Unikowski über seine Erfahrungen mit Chaim Rumkowski, der als Vorsitzender des Judenrates das Leben im Ghetto maßgeblich beeinflusst hatte. Nach der Schilderung der Räumung des Ghettos im August 1944 berichtete Unikowski über seine Deportation zum K Z Auschwitz-Birkenau, einem kurzen Aufenthalt in dessen Außenlager Budy und von der folgenden Deportation ins K Z Buchenwald im Januar 1945. Die Erzählungen über Buchenwald handelten von seinem Überlebenskampf im Block 66 – dem sogenannten Kinderblock –, dem mehrfachen Verstecken, um den zahlreichen Deportationen zu entgehen, sowie von seiner Befreiung durch die US -Armee am 11. April 1945. Den Schluss seiner strikt chronologisch strukturierten Geschichte bildeten Unikowskis Angaben über den Zugtransport im Juni 1945, der ihn aus dem befreiten Lager nach 158 Die Auskunft über die sogenannten Buchenwaldkinder gibt Boder zu Beginn der ersten Aufzeichnung in dem französischen Kinderheim im Interview mit Mendel Herskowitz, vgl. Boder, Topical Autobiographies, Bd. 9, S. 1632. Zum Audiointerview mit Herskowitz siehe David P. Boder Interviews Mendel Herskovitz; July 31, 1946; Fontenay-aux-Roses, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/hersko vitzM; letzter Zugriff am 16.07.2021. 159 Die Wehrmacht war am 8. September 1939 in Łódź einmarschiert und hatte am 12. Februar 1940 damit begonnen, die örtlichen Juden in der nun Lodsch genannten Stadt in das Ghetto Litzmannstadt zu zwingen, vgl. Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006, S. 87.
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Frankreich führte, sowie Angaben über seine dortige Ausbildung zum Zahntechniker im Kinderheim von Fontenaux-aux-Roses, wo Boder ihn interviewte. Der Rest des Interviews war geprägt von spezifischen Nachfragen des Interviewers. Zunächst erfragte der Psychologe den besten sowie den schrecklichsten Moment von Unikowskis Erfahrungen. Diese Nachfragen nach Höhe- und Tiefpunkten stellte Boder während der meisten Interviews gegen Ende der Aufnahmen. Unmittelbar danach folgten Fragen nach Gedichten und Liedern, die im Lager kursierten, woraufhin Unikowski verschiedene Lieder sang. Zum Schluss der Audioaufzeichnung führte der Psychologe noch einen Persönlichkeitstest mit Unikowski durch, auf dessen Bedeutung am Ende der Interviewanalyse genauer eingegangen wird. Zentrales Merkmal des gesamten Interviews war der kontinuierliche Konflikt zwischen Unikowski als Erzähler und dem Interviewer Boder bezüglich der Perspektive der Darstellung. Der charakteristischste Satz des Interviews lautete: »Das, was mit mir passiert ist, ist einem jeden Juden passiert.« Unikowski beharrte konstant darauf, dass er nicht nur über seine eigenen Erinnerungen sprechen könne, da die beschriebenen Erlebnisse eine kollektive Erfahrung beträfen. Bevor das Interview überhaupt beginnen konnte, hatte Boder den jungen Mann aus Polen erst einmal von seiner Interviewmethode überzeugen müssen, die auf einer freien Erzählung persönlicher Erfahrungen basierte. Die Audioaufzeichnung wurde eingeleitet mit folgendem wortwörtlich160 zitierten Dialog: Boder: August second 1946, Château Boucicaut near Paris, of the organization of OSE . Eh/ this is Izrael Us/Unikowski. Boder: Wie alt sind sie? Unikowski: Ikh bin akhtsn. [Ich bin achtzehn] Boder: Eighteen years old, who ehm should prefer to speak from a previously prepared, written story of his life. But he was convinced that we insist exclusively upon verbal reports without notes or memoranda. Eh/ he is rather reluctant to do it, but he was convinced, by Dr. Reich and myself, at least to try. He said that’s the first time in his life. Well, we don’t think that his life, in spite of all his experiences, precludes to do anything for the first time. Boder: Also, Izrael, sagen Sie mir bitte Ihren vollen Namen und wie alt sind Sie?
160 Um den Sprachenmix zu verdeutlichen, wird an dieser Stelle der genaue Wortlaut zitiert und die deutsche Übersetzung ist in eckigen Klammern eingefügt. Alle folgenden Zitate aus dem Interview mit Unikowski, soweit nicht anders grkennzeichnet, basieren auf der erstmaligen Transkription des Jiddischen Originals (in Y IVO Umschrift) sowie der deutschen Übersetzung aus dem Jiddischen von Sandra Franz.
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Unikowski: Izrael Unikowski, geboirn in Kalisz, in poiln, nayntsn akht un tsvantsik [Izrael Unikowski, geboren in Kalisz, in Polen, neunzehn achtundzwanzig] Boder: Neunzehn achtundzwanzig. So wie alt sind Sie jetzt? Unikowski: Ikh bin akhtsn un a halb yor [Ich bin achtzehn und ein halbes Jahr] Boder: Achtzehneinhalb Jahre. Sie sind geboren in Kalisz in Polen. Unikowski: Yo [Ja].161 Drei Aspekte sind gleich in der ersten Minute des Interviews auffällig und erklärungsbedürftig: Der Sprachenmix aus Englisch, Deutsch und Jiddisch, Boders Ausführungen zur Interviewmethode und Unikowskis Altersangabe. Zunächst zur Sprache des Interviews: Boder begann seine Einführung auf Englisch und wechselte danach ins Deutsche, um Unikowski zu befragen. Dieser sprach wiederum durchgängig in seiner Muttersprache Jiddisch. Im gesamten Interview wechselte Boder zwischen deutscher und jiddischer Sprache, auch englische Einschübe kennzeichneten seine Fragen. Weiterhin wurde Boders Methodik gleich in der ersten Minute des Interviews von ihm selbst thematisiert. Unikowski hatte zuvor schriftliche autobiographische Aufzeichnungen angefertigt, die er eigentlich vorlesen wollte. Begründet wurde dies von Boder mit Unikowskis Angabe, dass dieser zum ersten Mal in seinem Leben interviewt würde. Wahrscheinlich ist auch, dass sich Unikowski mit seinen Aufzeichnungen explizit auf das Interview vorbereitet hatte – vor ihm waren bereits drei andere Personen im französischen Kinderheim von dem Psychologen befragt worden. Boder und der Leiter des Kinderheimes Dr. Reich hatten Unikowski daher erst überzeugen müssen, frei zu sprechen, denn das Interview basiere »exclusively upon verbal reports without notes or memoranda.« Das freie Sprechen war für Boder schließlich die Voraussetzung, um die wortgetreue Sprache als personal document im Audioformat aufzeichnen zu können. Der dritte Aspekt im zitierten Ausschnitt betrifft die Altersangabe von Unikowski, die erklärungsbedürftig ist. Mit dem heutigen Wissensstand über seine Biographie wird deutlich, dass der Interviewte gegenüber Boder ein falsches Alter nannte. Auf Boders Frage gab er an, im Jahr 1928 geboren und demnach achtzehneinhalb Jahre alt zu sein. Sein Geburtsjahr war allerdings 1926, der Befragte war zum Zeitpunkt des Interviews somit bereits 20 Jahre alt.162 Der Grund für diese falsche Angabe gegenüber Boder verweist auf den historischen Kontext der Aufnahmesituation. Unikowski war erst ein Jahr zuvor mit einem Kindertransport aus dem befreiten Lager in Buchenwald nach Frankreich ge-
161 Unikowski, Boder 1946. 162 Zur späteren schriftlichen Angabe seines Geburtsdatums vgl. USC Shoah Foundation, PIQ Unikowski, S. 2.
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kommen.163 Als Geburtsdatum war auf der Transportliste statt seines Geburtstages am 08.01.1926 der 09.02.1928 angegeben.164 Unikowski hatte sich demnach im Juni 1945 um zwei Jahre verjüngt, um bei der Hilfsaktion für die befreiten »Buchenwaldkinder« berücksichtigt zu werden, deren Altersbeschränkung von der die Transporte organisierenden Hilfsorganisation UNR R A auf 18 Jahre festgelegt worden war. Ein Jahr später lebte Unikowski im französischen Kinderheim noch immer unter diesem veränderten Geburtsdatum. Die strikte Chronologie der folgenden Erzählung von Unikowski ist besonders auffällig. Die Verschriftlichung seiner Erinnerungen vor dem Interview mit Boder war bei der anschließenden mündlichen Erzählung als erste Strukturierung seiner Verfolgungserfahrung eine enorme Hilfe. Er benannte Jahreszahlen, macht teilweise sogar genaue Datumsangaben der Ereignisse. Dabei orientierte er sich an jüdischen Feiertagen wie Pessach, Jom Kippur oder Rosh Hashana.165 Diese zeitliche Orientierung am jüdischen Kalender ist ein Anzeichen dafür, dass die jüdischen Traditionen auch im Ghetto fortgeführt wurden, und verweist zugleich auf die Bedeutung der streng religiösen Ausbildung von Unikowski im Kinderheim von Kalisz bis 1939.166 Sehr ausführlich berichtete Unikowski vom Alltag im Ghetto Litzmannstadt, in dem er von 1940 bis zur Räumung im August 1944 und der folgenden Deportation nach Auschwitz zu leben gezwungen worden war. Innerhalb dieser Erzählungen war besonders die Darstellung von Mordechai Chaim Rumkowski zentral für Unikowskis Interpretation seiner Erfahrungen. Rumkowski war im Oktober 1939 von den Nazis zum Vorsitzenden des Judenrates bestimmt worden und behielt diese Stellung bis zum Ende des Ghettos im Jahr 1944.167 Gleich zu Beginn des Interviews wurde Rumkowski erstmals thematisiert. Die erste Begegnung mit ihm war bereits im September 1939, als sich Unikowski zusammen mit den anderen Waisenkindern nach der Flucht aus Kalisz mit einem Schreiben an die 163 Auf der Transportliste vom 8. Juni 1945 sind insgesamt 426 Waisen verzeichnet. Neben Unikowski befand sich auch Elie Wiesel auf diesem Transport von Buchenwald zu einem Erholungsheim im französischen Écouis. Die Liste ist abgedruckt im Appendix bei: Judith Hemmendinger; Robert Krell: The children of Buchenwald. Child survivors of the Holocaust and their post-war lives, Jerusalem, New York 2000, S. 179 ff. 164 Vgl. ebd. S. 186. 165 Bei der Interpretation solcher Zeitangaben ist auch die gewählte Sprache von bedeutender Rolle, siehe Alan Rosen: The Languages of Time. Translating Calendar Dates in Holocaust Diaries, in: Holocaust and Genocide Studies 26, 2012, S. 276-293. 166 Als seine religiöse Identität vor dem Zweiten Weltkrieg gab er später den Chassidismus an, vgl. USC Shoah Foundation, PIQ Unikowski, S. 4. 167 Ausführlich zu Rumkowski vgl. Monika Polit: Mordechaj Chaim Rumkowski – Wahrheit und Legende. »Meine jüdische Seele fürchtet den Tag des Gerichts nicht«, Aus dem Polnischen von Heidemarie Petersen, Jürgen Hensel und Małgorzata Sparenberg, Osnabrück 2017.
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Verwaltung der jüdischen Gemeinde in Łódź gewandt hatte – Rumkowski war zu diesem Zeitpunkt der Direktor des jüdischen Kinderheims auf der Pomorska-Straße in Łódź und so führte Unikowski aus: Unikowski: Wir haben einen Zettel übergeben, dass wir die Gemeinde von Łódź bitten, auf uns Acht zu geben. Der alte Mann war der spätere Präsident Rumkoswki. Er hat uns gestoppt, hat die Petition gelesen und uns geantwortet: ›Kinderlein, ich kann euch gar nicht helfen.‹ Er hat uns in ein Zimmer geführt. Die Kommoden waren umgedreht, ein Durcheinander. Und er gab uns den Zettel zurück. ›Bei mir könnt ihr nicht bleiben. Ihr werdet an Hunger sterben.‹ Wir haben den Zettel in seiner Hand gelassen und sind hinuntergegangen. Unten/ Boder: Was für ein Zettel? Unikowski: Wir haben einen Zettel der Gemeinde aus Kalisz gehabt. Boder: Mh. Unikowski: Ähm/ dass man uns in Łódź aufnehmen soll. Boder: Ja. Unikowski: Heruntergehend hat er uns den Zettel die Treppe hinuntergeworfen und wir sind zurückgekehrt. Die Kinder haben uns nach allem gefragt, und wir haben gesagt/ haben gesagt, dass es sehr schlecht ist. Und so haben wir ein paar Stunden gewartet. Gegen fünf Uhr ist Rumkoswki erschienen. Herein ins Zimmer [Lärm im Hintergrund] ›Wer hier ist aus Kalisz?‹ Wir sind aufgestanden und da sagt er: ›Kinderlein, ihr müsst euch nicht sorgen. Ihr werdet zu Essen und zu Trinken bekommen.‹ Und er hat gesagt, dass wir bleiben können. So sind wir in die Pomorska 19 gekommen.168 Der »spätere Präsident Rumkoswki«, wie Unikowski ihn charakterisierte, habe ihn und die anderen Kinder zwar anfangs schroff abgelehnt, sie aber dann schließlich doch aufgenommen. Nach der Abriegelung des Ghettos, die zum 1. Mai 1940 stattgefunden hatte, sei Rumkowski der Garant für Ordnung im Ghetto gewesen, da er Diebstähle, etwa von Essen, rigoros unterbunden hätte. Zudem habe er in seiner Funktion als Judenältester den Kindern weiterhin einen geschützten Raum innerhalb des Ghettos garantiert, was Unikowski ebenfalls anerkennend betonte. Im folgenden Dialog verstand Boder allerdings kaum die Bedeutung der Position von Rumkowski innerhalb des Ghettos und so entstand ein widersprüchlicher Dialog, in dem Unikowski versuchte, Boder aufzuklären: Unikowski: Schlecht behandelt hat er uns nicht, kann man nicht sagen. Besser als im Ghetto. Boder: Wer? Unikowski: Rumkowski, der Präsident. 168 Unikowski, Boder 1946.
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Boder: Oh. Der/ Rumkowski war der Jude vom Judenrat? Unikowski: Ja, er ist der Präsident des Łódźer Ghettos geworden. Boder: Oh. Rumkowski wurde der Präsident/ Unikowski: Ja. Boder: Vom ganzen Łódźer Ghetto/ Unikowski: Ghetto. Nicht nur der Präsident. Man kann sagen, er war ein Kaiser. Boder: Mh. Unikowski: Er hat eine Polizei unter sich gehabt. Boder: Jüdische Po/ Unikowski: Jüdische Polizei. Ein Gefängnis, Krankenhaus, Schulen. Sein Wort war eine Diktatur. Sein Wort ist gewesen wie/ Boder: Wie schreibt man seinen Namen? Unikowski: Rumkowski, Chaim. Boder: [langsam, offenbar dabei schreibend] Chaim Rum/ kowski Unikowski: Rumkowski. Boder: Gut. Na? Weiter? Unikowski: Uns hat er gut behandelt. Aber (die Stadt?) war schrecklich. Man kann sagen, dass von hundert Prozent des Ghettos ihn siebenundneunzig Prozent gehasst haben. Ein paar Mal hat man Anschläge auf sein Leben gemacht. Man wollte ihn umbringen. Boder: Auf wen? Unikowski: Auf Rumkowski. Boder: Ja. Unikowski: Aber er hatte die deutsche Macht mit sich.169 Unikowski versuchte mehrfach, auf die besondere Stellung von Rumkowski innerhalb des Ghettos hinzuweisen, und schließlich wurde auch dem Interviewer bewusst, dass Rumkowski eine bedeutende Person war, daher seine Nachfragen und das Notieren seines genauen Namens. Mit der Angabe von Unikowski, dass »siebenundneunzig Prozent« des Ghettos Rumkowski gehasst hätten, verdeutlichte der Interviewte die durchgehend negative Beurteilung von dessen Person. Rumkowski wurde in seiner Funktion des Judenrats als Kollaborateur und Autokrat charakterisiert. Unikowski benannte ihn auf Jiddisch als »prezes«, also Präsident ,und danach als »Kaiser«. Letztere Bezeichnung rekurrierte auf den ironischen Spottnamen »König Chaim« aus der Zeit des Ghettos.170 Unter ihm hätte eine Diktatur geherrscht, da er eine eigene jüdische Polizei und die Macht der Deutschen auf seiner Seite gehabt hätte – 169 Ebd. 170 Rumkowski hatte innerhalb des Ghettos viele Spottnamen und wurde etwa auch »khaim grozny« (Chaim der Schreckliche) genannt, vgl. Wolf Moskovich: Imagery and Stylistic features of the Yiddish Discourse during the Holocaust Period, in: »Zerstörer des Schweigens«. Formen künstlerischer Erinnerung an die
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durch die Erzählung von Unikowski entstand bisweilen der Eindruck, dass Rumkowski als alleiniger Machthaber innerhalb des Ghettos wahrgenommen wurde.171 In der Wahrnehmung von Unikowski und der absoluten Mehrheit der Bewohner des Ghettos in Łódź war Rumkowski demnach ein jüdischer Autokrat.172 Als Unikowski auf Versuche der Ermordung von Rumkowski durch Ghettobewohner zu sprechen kam, reagierte Boder überrascht mit der spontanen Frage »Auf wen?«. Damit offenbart er, dass er noch immer nicht verstanden hatte, was Unikowski ihm mitzuteilen versuchte. Sein Interviewpartner betonte daraufhin erneut die Gründe für die durchgehende Verachtung für Rumkowski und benannte die Verantwortung des Judenrates für die Zusammenstellung der Deportationslisten: Unikowski: Das Schlimmste am Ghetto waren die Aussiedlungen. Boder: Ja. Unikowski: Sie waren 1942. Sie begannen tausende und tausende Menschen wegzuschicken. Boder: Wie/ Unikowski: Wohin hat man nicht gewusst. Boder: Wie wurden sie ausgewählt? Unikowski: Wie wurden sie ausgewählt? Das ist die Frage. Das ist mit Sicherheit die größte Schuld Rumkowskis. Boder: Ja? Unikowski: Man hat kranke, schwache und alte Menschen genommen. Boder: Ja? Unikowski: Menschen, die nicht laufen konnten. Boder: Nun? Unikowski: Juden wollten nicht glauben, dass Leute in ihren sicheren Tod gehen.173 Die schlimmsten Erinnerungen an das Ghetto verband Unikowski mit dem, was er als »Aussiedlungen« bezeichnete, wobei er wiederum die Schuld des Julistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa, hg. von Frank Grüner und Felicitas Fischer von Weikersthal, Köln 2006, S. 175-184, hier S. 178. 171 Den deutschen Leiter des Ghettos Hans Biebow (1902-1947) erwähnte Unikowski hingegen nur an wenigen Stellen im Interview. Boder wiederum transkribierte seinen Namen später fälschlich als Hans »Bubov« bzw. »Bukov«, vgl. Boder, Topical Autobiographies, Bd. 10, S. 1810-1811. 172 Benjamin Murmelstein, ehemaliger Judenältester im Ghetto Theresienstadt, hat im Interview mit Claude Lanzmann 1975 darauf hingewiesen, dass die Spottbezeichnung als »König Chaim« von Rumkowski selbst gewählt worden sei und er damit ganz bewusst auf die Absurdität seiner Position als »Judenältester« hinweisen wollte, siehe Claude Lanzmann: Der Letzte der Ungerechten. Übersetzung: Petra Metelko, Reinbek bei Hamburg 2017, S. 31 ff. 173 Unikowski, Boder 1946.
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denältesten betonte. Da Rumkowski für die Auswahl der entsprechenden Personen auf den Deportationslisten verantwortlich war, lastete Unikowski ihm die Schuld dieser Verbrechen an und gab damit das Stimmungsbild des Ghettos wieder.174 Besonders aufschlussreich in diesem Abschnitt ist Unikowskis Angabe, dass die Juden im Ghetto noch Hoffnung hätten, dass sie nicht ermordet würden. Tausende seien deportiert worden, doch niemand wusste, wohin: »Juden wollten nicht glauben, dass Leute in ihren sicheren Tod gehen.« Die Hoffnung bestand also darin, dass die Personen lediglich in andere Ghettos oder ähnliche Orte transportiert werden würden. Diese Hoffnung war angesichts der von ihm beschriebenen Auswahl von Kranken, Schwachen und Alten – also Menschen, deren Arbeitskraft nicht weiter ausgebeutet werden konnte – allerdings aussichtslos. Den Vorgang der Deportationen benannte Unikowski auf Jiddisch durchgängig als »oysziedlungen«, also mit einem Wort, das am verschleiernden Täterbegriff der Aussiedlung orientiert ist. Die Begriffe »Aussiedlung«, »Umsiedlung« oder »Evakuierung« benutzten die NS -Täter ganz bewusst als Euphemismen, um die tödlichen Deportationen zu verschleiern. Aus Mangel an eigenen Begriffen für die tödlichen Vorgänge waren die Täterbegriffe im jiddischen Sprachgebrauch der Ghettos weitestgehend übernommen worden.175 Auch Boder verwendete im Gespräch mit Unikowski die eingeführte euphemistische Bezeichnung und wollte noch weitere Details über die »oysziedlung« erzählt bekommen. In einem Sprachenmix aus Englisch und Jiddisch begann der Interviewer seine Nachfrage: Boder: Talk a bissl more about the oyszidlung. Vos iz gevesen? Me iz gekumen un me hat gezogt vos? [Rede ein bisschen mehr über die Aussiedlungen. Was ist passiert? Man ist gekommen und hat was gesagt?]176 Unikowski versuchte Boder den Vorgang der Deportationen daraufhin noch genauer zu erklären: Unikowski: Sie sind gekommen/ haben einen Zettel geschickt/ Boder: Nun.
174 Die perfide Politik der Nazis einer vermeintlichen jüdischen Selbstverwaltung hatte genau dies zum Ziel gehabt. Die Verantwortung, über Leben und Tod zu entscheiden, war den Judenräten unter Todesandrohung aufgezwungen worden, doch für die Bewohner im Ghetto erschien der Judenälteste als Verantwortlicher, vgl. Dan Diner: Jenseits des Vorstellbaren – der »Judenrat« als Situation, in: »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Getto in Łódź 1940-1944. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums, Frankfurt am Main, 30. März bis 10. Juni 1990, hg. von Hanno Loewy, Frankfurt am Main 1990, S. 32-40. 175 Vgl. Moskovich, Yiddish Discourse, S. 177. 176 Unikowski, Boder 1946.
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Unikowski: Zu der und der Familie. An diesem und diesem Tag müsst ihr euch bei dem Zentralgefängnis auf der und der Straße melden. Und wenn die Person sich eingefunden hat/ Boder: Hm. Unikowski: Nun, wurde sie fortgeschickt. Wie das Fortschicken abgelaufen ist, erkläre ich dir später. Boder: Ja, ja. Unikowski: Aber wenn man sich nicht eingefunden hat, hatte Rumkowski eine gute [unverständlich] Lösung: Man hat einen Boten mit einem Zettel zu dem Geschäft geschickt, in dem derjenige sein Essen erhalten hat/ Boder: Ja? Unikowski: ›Diese und jene Person wird kein Brot mehr bekommen.‹ Boder: Hm. Unikowski: Und die Person hat gar nichts mehr zu essen bekommen. Absolut gar nichts. Und damit war die Person zum Tode verurteilt. Boder: Hm.177 Auf die Deportationen selbst ging Unikowski zunächst nicht weiter ein, er gab an, später darauf zurückzukommen. Stattdessen betonte er erneut die Verantwortung von Rumkowski, denn dieser habe nicht nur die Personen auf die Deportationslisten setzen lassen, sondern ebenfalls dafür gesorgt, dass sie innerhalb des Ghettos keine Lebensmittelrationen mehr bekamen, falls sie sich seinem Befehl entzogen. Damit sei der Judenälteste für den sicheren Tod der entsprechenden Personen verantwortlich gewesen. Als schlimmstes Ereignis beschrieb Unikowski anschließend ausführlich die Ankündigung der Deportation von Kindern aus dem Ghetto, die er zunächst auf Anfang August 1942 datierte: Unikowski: Aber all das ist noch nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste ist passiert im achten Monat 1942. Das war die Sperre. Boder: Ja? Unikowski: Es war an/an einem Tag/ man hat mit nichts gerechnet. Wir sind zur Arbeit gegangen/ Standen da draußen Plakate: ›Von morgen an auf unbestimmte Zeit ist es verboten, im Ghetto auf der Straße zu gehen.‹ Jeder hat verstanden, was passiert. Einen Tag später kamen die Deutschen ins Ghetto hinein. Die Aussiedlung war für Kinder. Rumkowski hat eine Rede gehalten, die schändlichste Rede, die es im Ghetto gab. Boder: Die Aussiedlung war für Kinder? Unikowski: Für Kinder. Boder: Nun? Unikowski: Auf dem/auf dem Platz für die (Feuerwehr?) hat er eine Rede gehalten. Die Rede begann er mit den Worten: ›Mutter, bring mir dein 177 Ebd.
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Opfer!‹ Dann hat er an das Wissen der Mütter appelliert, dass die Mütter kommen und ihre Kinder bringen sollen. Boder: Das hat er gesagt? Unikowski: Das hat er gesagt. Boder: Warum hat er das gesagt? Unikowski: Weil/ warum? Er hat das so gesagt. Boder: Ja? Unikowski: ›Das Ghetto wird nicht überleben.‹ Boder: Wird nicht überleben. Unikowski: Nein. ›So soll wenigstens ein kleiner Teil überleben.‹ Boder: Ja. Unikowski: Und wer soll überleben? Selbstverständlich seine Menschen. Diejenigen, die seine Beschützer waren. Boder: Ja. Unikowski: Und/ und er hat eingeredet auf die Mütter, dass sie/ ihre Kinder abgeben sollen. Boder: Hat er das gesagt: ›Bringt eure/‹ Unikowski: ›Mutter, bring dein Opfer!‹ Selbstverständlich ist ein Geschrei losgebrochen, ein Geweine. ›Wahnsinniger, komm runter von der Plattform!‹ haben Menschen geschrien.178 Unikowski hatte im Ghetto Zwangsarbeit für die Deutschen leisten müssen und berichtete, dass er auf dem Weg zur Arbeit Plakate mit der Bekanntmachung einer Ausgangssperre gesehen hatte. Er gab an, dass alle im Ghetto sofort verstanden hätten, was dies bedeuten würde. Die befürchteten »Aussiedlungen« begannen schließlich einen Tag später mit dem Eindringen der Deutschen in das Ghetto und den ersten Verhaftungen von Kindern. Aufgrund von Boders Nachfrage bezüglich der Kinder versuchte Unikowski mittels der zentralen Sätze aus der Rede von Rumkowski das Ereignis verständlicher zu machen. Rumkowski habe die Mütter dazu aufgefordert, ihre Kinder zu opfern, und er zitierte ihn mehrfach auf Jiddisch: »Muter, bring dayn korbm!« Auch auf diese Angabe reagiert der Psychologe kritisch fragend, da er es nicht zu begreifen schien: »Das hat er gesagt? […] Warum hat er das gesagt?« Unikowski versuchte daraufhin, die Argumentation von Rumkowski darzustellen, die darauf beruhte, dass das Ghetto nicht überleben würde und er mit der Opferung der Kinder wenigstens einen kleinen Teil der Bewohner hätte retten wollen. Während Boder angesichts dieser Schilderungen über die Ermordung von Kindern noch immer fassungslos zu sein schien, fällte Unikowski wieder ein klares moralisches Urteil: Rumkowski hätte nur sich und die Seinen retten wollen. Das Erstaunliche an Unikowskis Charakterisierung von Rumkowski ist insgesamt allerdings gar nicht seine negative Bewertung, schließlich war er als 178 Unikowski, Boder 1946.
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Minderjähriger selbst von der Deportation der Kinder betroffen gewesen. Zudem entsprach sie ganz dem Bild der Zeit. Die Judenräte waren nach dem Krieg durchweg als jüdische Kollaborateure moralisch, teils auch juristisch verurteilt worden.179 Außergewöhnlich waren vielmehr die Stellen in Unikowskis Erzählung, an denen dieses eindeutig negative Urteil nicht zutraf und er damit der zeitgenössischen negativen Beurteilung widersprach. Unikowskis anfängliches Abwägen und die Anerkennung für Rumkowskis Hilfe für die Kinder, die auf seiner spezifischen Erfahrung als Waise im Ghetto beruhte, ermöglichten es ihm insgesamt, ein differenziertes Urteil zu fällen. Seine Darstellung des Judenältesten beruhte auf der Deutung seiner Erfahrungen im Ghetto, und sein moralisches Urteil entstand im Wissen um die Debatten aus der Zeit des Ghettos sowie im Dialog mit dem Psychologen, der von all diesen Ereignissen zum ersten Mal hörte und sie augenscheinlich nicht begreifen konnte. Auf den Aspekt der Schuldfrage ging Boder auch nicht weiter ein, er verstand den Ablauf der Ereignisse im Ghetto noch immer nicht und stellte weitere Verständnisfragen. Daraufhin wiederholte Unikowski noch einmal: Rumkowski habe seine Rede am gleichen Tag gehalten, als die Plakate mit der Ankündigung der Ausgangssperre aufgehängt worden seien. Um dieses bedeutende Ereignis genauer zu datieren, orientierte sich Unikwoski wieder am jüdischen Kalender: »Ganz genau erinnere ich mich nicht. Ungefähr zehn Tage vor Rosh Hashona.«180 Dieser Feiertag fiel 1942 auf den 12. und 13. September. Seine Angabe, dass das beschriebene Ereignis etwa zehn Tage davor stattgefunden hatte, war damit sehr nah am Datum des 4. September, dem Tag, an dem Rumkowskis bis heute berüchtigte Rede stattfand.181 Während des Interviews im August 1946 erschloss sich Unikowskis Erzählung über Rumkowski für Boder scheinbar gar nicht. Als der Psychologe das Interview wiederum 10 Jahre später in den USA transkribierte, interpretierte er Rumkowskis Worte äußerst stark. Das von Unikowski auf Jiddisch wiedergegebenen Zitat »muter, bring dayn korbm«, auf Deutsch »Mutter, bring dein Opfer« übersetzte Boder mit »Mother, bring your burned offering«.182 Boders Übersetzung deutet das Gesagte nachträglich stark religiös: In leicht abgewandelter Schreibweise ist »burnt offering« die übliche Übersetzung des im Tanach auf Hebräisch als »korban olah« bezeichneten Brandopfers an Gott. Ein Synonym für diese englische Übersetzung des Brandopfers ist der heute gebräuch-
179 Vgl. Dan Michman: Judenrat, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2: Co-Ha, hg. von Dan Diner, Darmstadt 2012, S. 236-242, hier S. 240. 180 Unikowski, Boder 1946. 181 Zur deutschen Übersetzung der ursprünglich Jiddischen Rede vgl.: Mordechai Chaim Rumkowski: »Vor euch steht ein vernichteter Jude!« Übersetzung der Rede vom 4.9.1942, in: Loewy, Arbeit, S. 233-234. 182 Boder, Topical Autobiographies, S. 1807, S. 1808.
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liche Begriff des Holocaust.183 Die Deportation der Kinder aus dem Ghetto wurde damit von Boder im Jahr 1956 – nicht jedoch von Unikowski im Interview von 1946 – im Sinne eines religiösen Opfers an Gott interpretiert und mit der Verbindung zur Verbrennung bereits mit dem Resultat, nämlich den ihm bekannten Verbrennungsöfen in den Lagern, zusammengebracht. Den Begriff »holocaust« wiederum benutzte Boder auch explizit in anderen Transkripten, wie etwa in der Übersetzung des Interviews mit der jüdischen Polin Hadasah Marcus vom 13. September 1946. Marcus hatte davon berichtet, wie sie sich im April 1943 innerhalb des Warschauer Ghettos in einem Bunker versteckt hatte. Als sie von den Nazis entdeckt und anschließend deportiert worden war, beschrieb sie dieses Ereignis auf Jiddisch metaphorisch mit den Worten »groyse feyer«, auf Deutsch großes Feuer. Boder übersetzte dies in seiner Transkription nachträglich interpretierend mit »great holocaust« und verwies damit noch expliziter auf den Prozess der Vernichtung von Juden aus dem Ghetto: Mar.: … there was a great holocaust. They took all the shops away. Everything /was/ liquidated. Q-n: What does it mean, a holocaust? Mar: That there was … nobody could save himself … Q-n: Hm.184 Simone Gigliotti hat die These aufgestellt, dass dies ein Beleg dafür sei, dass der Begriff des Holocaust bereits sehr früh in den Interviews von Boder als Beschreibung der NS -Verbrechen benutzt worden sei.185 Es ist jedoch zu beachten, dass nicht Marcus selbst im Interview, sondern Boder den Begriff holocaust nachträglich in seiner Übersetzung aus dem Jahr 1956 benutzte. Boders Interpretationen der ihm geschilderten Ereignisse fanden demnach auf verschiedenen zeitlichen Ebenen statt. Zum einen in der Interaktion während der Interviews und zum anderen in der nachträglichen Transkription und Übersetzung als eine weitere Deutungsebene. Im Interview mit Unikowski wird besonders die Spannung zwischen Boders psychologischen Forschungsinteressen und der situativen Deutung der NS Verbrechen deutlich. Nur wenige Minuten nach der geschilderten Geschichte über die Deportation der Kinder aus dem Ghetto, der sich Unikowski mittels Flucht und Versteck entziehen konnte, wollte der Interviewte in seiner Erzählung wieder auf den Ablauf der Deportationen zurückkommen. Boder hatte zwischenzeitlich allerdings das Interview unterbrechen müssen, um eine neue 183 Baruch J. Schwartz: Burnt Offering, in: The Oxford Dictionary of the Jewish Religion. 2. edition, hg. von Adele Berlin, Oxford, New York 2011, S. 154. 184 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 14, S. 2705, H. i.O. Zum jiddischen Audio des Interviews vgl. David P. Boder Interviews Hadassah Marcus, September 13, 1946, Hénonville, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/marcusH; letzter Zugriff am 04.08.2021. 185 Vgl. Gigliotti, Train Journey, S. 143.
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Spule in seinen Rekorder einzulegen, und Unikowski wollte zu Beginn der neuen Spule ausführlicher über die »anordnunges«, die Jiddische Form des deutschen Wortes Anordnung, berichten. Dieser Ausschnitt ist erneut besonders stark durch Boders Sprachenmix zwischen Deutsch und Jiddisch gekennzeichnet und kann auch als Ausdruck fundmentaler inhaltlicher Verständigungsschwierigkeiten interpretiert werden: Boder: This is Spool 18. Continuation of Spool 17. August 2nd. The interview of Izrael Unikowski at Château Boucicaut. Ehm/ simply a continuation of his interview. Boder: Also, ir zeyt (gewesen?) dort oifm besoylem. Nu? [Also, Ihr seid dort auf dem Friedhof gewesen. Nun?] Unikowski: In a por teg dernokhdem hot sikh [opgeshtelt?] di oyszidlung. [Ein paar Tage danach wurde die Aussiedlung eingestellt.] Boder: Ja? Unikowski: Es iz khoshev zu dermonen in geto di anordnungenes fun di politsey. [Es ist wichtig, die Anordnungen der Polizei im Ghetto zu erwähnen.] Boder: Stop. Wollen wir das (herübergehen?). Erzählen Sie was hat zu Ihnen passiert nachher. Lassen Sie die allgemeinen Geschichten. Unikowski: Ikh meyn ober oikh az di algemeyne geshikhtes vikhtiker zenen vi maynen. [Ich meine aber auch, dass die allgemeinen Geschichten wichtiger sind als meine.] Boder: Ja, aber das hat man beschrieben, ich will Ihre Geschichte. Wollen wir das besprechen? Es war sehr gut bisher. Nicht wahr? Also was hat Ihnen passiert? Sie sind zurückgekommen. Sie werden aufschreiben ein gutes Buch one Tag. Nu? Unikowski: Dos vos iz mit mir pasirt pasirt mit yedem eyniken yidn. [Das, was mit mir passiert ist, ist einem jeden Juden passiert.]186 Boder unterbrach seinen Interviewpartner in diesem Dialog, was sehr schroff wirkt und eigentlich sogar im Widerspruch zu seiner präferierten offenen Interviewführung steht. Die Interviewmethodik und Boders Forschungsinteresse sind allerdings auch die Erklärung für diesen Eingriff in die Erzählung von Unikowski. Boder gab an, dass er keine »allgemeinen Geschichten« hören wolle, sondern nur das, was Unikowski selbst erlebt habe. Für seine geplante psychologische Studie wolle er ausschließlich persönliche Erfahrungsberichte aufzeichnen. Um seine Position zu betonen, ergänzte der Psychologe, dass die Erfahrungen von anderen bereits beschrieben worden seien. Bemerkenswert an diesem Dialog ist die Tatsache, dass der junge Unikowski dem fast 60-jährigen Psychologieprofessor offen widersprach und ihn belehrte: Das, was Unikowski angetan wurde, könne nicht als individuelles Erlebnis geschildert werden, es 186 Unikowski, Boder 1946.
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müsse innerhalb der Verfolgung der Juden verortet werden. Damit betont Unikowski die kollektive Dimension des Leids und die Unmöglichkeit, seine Erinnerungen als individuelle Erfahrung darzustellen.187 Seine eigenen Erfahrungen erschienen Unikowski aufgrund der unfassbaren Masse der Ermordeten sogar als unwichtig, er wollte stattdessen die Geschichte derer, die ermordet wurden, erzählen und somit in deren Namen Zeugnis ablegen. Exakt durch diesen Konflikt offenbarte sich ein Paradox von Boders gesamtem Interviewprojekt: Der Psychologe war mit dem Ziel nach Europa gereist, individuelle Erzählungen über die Erfahrung von extremen Gewalterfahrungen aufzuzeichnen. In seinem Artikel von 1947 über den Zustand der DP s in Europa machte er deutlich, dass er zusätzliches Wissen über die (Vor-)Geschichte der DP s – und somit auch über die NS -Verbrechen – erst im Prozess der Interviews erlangte: »[A]ny additional knowledge of the general problems was gained incidentally without any inquiry into the statistics of the phenomena.«188 Obwohl es nicht Boders ursprüngliches Anliegen war, zeichnete er en passent auch Zeugnisse über den NS -Massenmord an den Juden auf. Sein Interviewpartner Unikowski machte mehrfach deutlich, dass die jüdische Katastrophe, also die von ihm als organisierte, massenhafte Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa beschriebenen Verbrechen, nicht als individuelle Erlebnisse zu begreifen wären. Sein Bedürfnis, »allgemeine Geschichten« zu erzählen, also Ereignisse, die nicht nur ihn, sondern die Masse seiner Leidensgenossen betrafen, lässt sich auch besonders deutlich in der Darstellung seiner Befreiung im K Z Buchenwald am 11. April 1945 feststellen. Im Frühjahr 1945 hatte es innerhalb des Lagers verschiedenste Gerüchte über anrückende Truppen der Alliierten sowie über die Absichten der SS , alle Gefangenen des Lagers zu ermorden, gegeben. Unikowski befand sich zu diesem Zeitpunkt im sogenannten Kleinen Lager am nördlichen Rand des K Zs und war damit weitgehend von Informationsquellen ausgeschlossen.189 Nur durch 187 Zur Bedeutung des Unterschieds in der Betonung des Individuums oder des Kollektivs in Interviews mit Überlebenden vgl. Dalia Ofer: The Community and the Individual: The Different Narratives of Early and Late Testimonies and Their Significance for Historians, in: Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics and Achievements, hg. von David Bankir und Dan Michman, Jerusalem 2008, S. 519-535. 188 Boder, Displaced People, S. 3. 189 Das Kleine Lager war Ende 1942 als Quarantänelager errichtet und mit Stacheldraht vom Hauptlager abgegrenzt worden. Im Frühjahr 1945 hatte es sich aufgrund der zahlreichen »Evakuierungstransporte« aus dem Osten in einen Sterbeort verwandelt, vgl. Michael Löffelsender: Das K Z Buchenwald 1937 bis 1945, Erfurt 2020, S. 102105; Gedenkstätte Buchenwald (Hg.): Konzentrationslager Buchenwald 1937-1945. Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, 8. Auflage, Göttingen 2011, S. 224-226; Katrin Greiser: »Sie starben allein und ruhig, ohne zu schreien oder jemand zu rufen«: Das »Kleine Lager« im Konzentrationslager Buchenwald, in: Dachauer Hefte 14, 1998, S. 102-124.
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den Schutz des damals 19-Jährigen im sogenannten Kinderblock war er den Deportationen und Todesmärschen der letzten Wochen entgangen.190 Seine Todesangst drückte sich auch in einer Erzählung darüber aus, dass er gehört hatte, dass das gesamte Lagergelände vermint gewesen sei und er demnach befürchtete, zusammen mit den anderen Gefangenen noch im letzten Moment in die Luft gesprengt zu werden. Direkt im Anschluss an diese Angabe setzte Unikowski zu einer Erzählung über die Ereignisse der Befreiung des Lagers an, in der sich seine Worte regelrecht überschlugen: Unikowski: Das erinnert mich daran als/ ja, bisschen später. Weil als wir das Schießen gehört haben, in einer Sekunde/ an die Deutsch/ die ganze/ überall Boder: Hm. Unikowski: Von/ von den Türmen von der SS , die Wachtürme dort waren bereits leer. Nach etwa einer halben Stunde gingen wir nach draußen. Wir haben Draht niedergerissen und ein jeder hat sich eine Büchse geschnappt und lief dorthin. Boder: Wer hat sich die Büchsen geschnappt? Die Juden? Unikowski: Juden! Christen, Russen, Polen, alle, die in Buchenwald waren. Wir haben uns Büchsen geschnappt/ wir/ weil die Türme der SS ausgestorben waren. Boder: Und die SS ist weggelaufen? Unikowski: Liefen davon. Wir haben angefangen sie zu jagen, zu schnappen, sie zurückzubringen, sie zu schlagen.191 Unikowski brach seine Erzählung mehrfach ab und setzte neu an, um davon zu berichten, dass er eines Tages Schüsse im K Z Buchenwald gehört habe. Eine halbe Stunde danach sei er aus seiner Baracke getreten, hätte den Draht, mit dem das Kleine Lager umzäunt war, niedergerissen, sich ein Gewehr genommen und sei in die Richtung der nun unbesetzten Wachtürme gelaufen. Auf Boders perplexe Nachfrage, ob sich die Juden bewaffnet hätten, erzählte Unikowski, dass er und das gesamte Lager, in seinen Worten »alle, die in Buchenwald waren«, an der Verfolgung der flüchtenden SS -Wachmannschaften beteiligt gewesen waren. Danach seien sie gemeinsam den eintreffenden amerikanischen Soldaten entgegengeschritten.192 Zu seiner großen Freude sei einer 190 Über den Kinderblock 66 und die Rettungsaktion von Kindern und Jugendlichen durch das Internationale Lagerkomitee Buchenwald siehe Kenneth Waltzer: History and Memory. Children and Youth at Buchenwald and Bergen-Belsen, in: Das soziale Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden. Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive, hg. von Janine Doerry, Thomas Kubetzky und Katja Seybold, Göttingen 2014, S. 214-231, hier 225 ff. 191 Unikowski, Boder 1946. 192 Zur Endphase des K Z Buchenwald kurz vor der Befreiung und zu dem Verhältnis des bewaffneten Aufstands im Lager und der Befreiung von außen durch die
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der ersten Panzer mit einem amerikanischen Juden besetzt gewesen, was er glücklich kommentierte: »Die Freude, das kann man gar nicht schildern.«193 Unikowski berichtete in diesem Abschnitt eindeutig eine kollektive Geschichte und beschränkt sich nicht, wie es Boder zuvor mehrfach eingefordert hatte, auf seine eigenen Erlebnisse. In der ersten Person Plural erzählte er davon, was sich in den Stunden der Befreiung ereignet habe: Es wurde geschossen, die SS -Wachmannschaften waren geflohen, wurden gejagt und teilweise gefangen und erst danach trafen die amerikanischen Soldaten der 3. Armee von Patton in Buchenwald ein. In seine Erzählung über die Befreiung fügte er anschließend noch die Geschichte über einen Telefonanruf im Lager ein, bei der es sich eindeutig um eine Erinnerung vom Hörensagen handelte: Unikowski: Wie/ wie wir befreit wurden. Nun ja, eine halbe Stunde, nachdem wir befreit wurden, gab es einen Telefonanruf für den Lagerältesten. Boder: Ein Häftling? Unikowski: Ein Deutscher. Und es kam in das Büro der SS . Der Lagerkommandant, der SS -Mann drüben im Lager, hat den Lagerführer angerufen, dass er das Lager hochjagen soll, sprengen, darum die Minen. Boder: Ja. Unikowski: Nur war es schon zu spät. Boder: Mh. Unikowski: Der Block/ der Lagerkommandant war schon weg, der Lagerführer. Und ein Häftling hat schon das Telefon beantwortet. Boder: Ja. Unikowski: Und er hat von Weimar aus gesprochen/ das ist acht Kilometer von Buchenwald/ Hochjagen das Lager. Der Häftling antwortet ›Ja, ist alles in bester Ordnung,‹ aber er muss nach Buchenwald kommen. Boder: Ja. Unikowski: Gekommen ist er nicht, warum weiß ich nicht. Vielleicht hat er auf dem Weg verstanden, dass die Deutschen weglaufen/ Boder: Der Häftling hat gesagt, er soll kommen? Unikowski: Dass er kommen soll. Boder: Ja.194 Diese Geschichte konnte Unikowski nur von Dritten gehört haben, denn er selbst hatte den Anruf in Buchenwald nicht entgegengenommen. Obwohl es sich nicht um einen Augenzeugenbericht, sondern eher um ein Gerücht handelte, besitzt diese Geschichte einen unschätzbaren Quellenwert. Raul Hilberg Armee vgl. Löffelsender, K Z Buchenwald, S. 115-120; Philipp Neumann-Thein: Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos, hg. von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und MittelbauDora, Göttingen 2014, S. 59-65. 193 Ebd. 194 Unikowski, Boder 1946.
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hat auf den Informationswert von Gerüchten aus der Zeit der Lager hingewiesen: Wenn ein Gerücht über ein Ereignis in Berichten oder Tagebüchern erwähnt wird, muss man im Auge behalten, dass sich das Ereignis möglicherweise nicht in der geschilderten Weise zugetragen hat oder im Extremfall sogar völlig frei erfunden ist. Doch das Gerücht als solches ist immer eine Tatsache.195 Es existieren keine schriftlichen Quellen die den von Unikowski geschilderten Anruf am 11. April 1945 in Buchenwald, oder das Vorhandensein von Minen auf dem Lagergelände bestätigen könnten.196 Der Lagerkommandant Hermann Pister, der im April 1945 noch Tausende Häftlinge auf Todesmärsche Richtung Osten gezwungen hatte, befahl den höheren SS -Rängen sogar explizit, dass Buchenwald ohne Gefechte an die Alliierten übergeben werden sollte.197 Für die Gefangenen in Buchenwald, die von diesen Plänen zum Großteil nichts wussten, erschien ein finales Massaker und die kollektive Ermordung sehr viel wahrscheinlicher als das Überleben. Es kann angenommen werden, dass Unikowski dem Gerücht über die geplante Sprengung Glauben schenkte. Es diente für ihn als Beleg dafür, wie knapp er und die anderen dem Tod entgangen waren. Boder hingegen, der seine Interviewmethode und -ziele aufgrund der unglaublichen Erzählungen von Unikowski scheinbar völlig vergessen hatte, stellte in diesem Abschnitt lediglich ungläubige Verständnisfragen. Gegen Ende des Interviews kam er sogar erneut auf die Befreiung von Buchenwald zurück. Unikowskis Erzählungen über amerikanische Truppen sowie den Sturm der Gefangenen auf das Lagertor hatten sich dem Interviewer noch immer nicht erschlossen, daher wollte er dieses Detail klären und fragte in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Jiddisch: Boder: Erzählt’s mir, das ist es, was ich brauch. Was ist passiert? (When?) sind die SS men weggegangen? Bevor die Amerikaner sind gekumen? Unikowski: A halbe sho frier. [Eine halbe Stunde früher]198 195 Raul Hilberg: Die Quellen des Holocaust. Entschlüsseln und Interpretieren, Frankfurt am Main 2009, S. 191. 196 Dies bestätigte auch Harry Stein als langjähriger Historiker in der Gedenkstätte Buchenwald. Das Gerücht der Sprengung des Lagers taucht jedoch auch in weiteren Interviews aus der Sammlung von Boder, etwa bei Adolf Heisler, auf. Auch in schriftlichen Zeugnissen wird auf den Anruf rekurriert, der auf einem Geheimbefehl Himmlers beruht habe, siehe Rolf Weinstock: »Das wahre Gesicht Hitler-Deutschlands«, Singen Hohentwiel 1948, S. 173 ff. Ich danke Alexander Walther für diesen Hinweis. 197 Vgl. Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 234-235. 198 Unikowski, Boder 1946.
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Boder betonte an dieser Stelle, dass er die exakte Reihenfolge der Ereignisse erzählt bekommen wolle. Das psychologische Interesse des Forschers an der Aufzeichnung von personal documents war an dieser Stelle überlagert von seiner Neugier und dem Drang, die historischen Ereignisse zu verstehen. Weiterhin war seine Nachfrage durch einen Sprachenmix geprägt, der eine sonderbare Grammatik zur Folge hatte. Seine eigene englische Übersetzung im Transkript, das er zehn Jahre später veröffentlichte, las sich dahingehend wiederum sehr viel flüssiger: »Tell me this. This is what I want. What happened then? When did the SS men leave? Before the Americans arrived?«199 Unikowskis Antwort, enthielt in der Übersetzung wiederum eine falsche englische Grammatik: »A (sic) half an hour before.«200 Boders nicht exakte und damit nahezu verfälschende Übersetzung, die sich auch anhand von diversen anderen Transkriptionen nachvollziehen lässt, stand somit ebenfalls im Widerspruch zu seinem Anliegen einer nachträglichen Analyse von Traumata anhand von wortwörtlich aufgezeichneten Erzählungen.201 Boders Interviewpraxis war demnach keineswegs stringent. Er wechselte innerhalb des gesamten Interviews zwischen der Rolle des forschenden Psychologen, der die Interviews zum Zwecke der späteren Analyse aufzeichnete, und einem wissbegierigen Zuhörer mit situativen Erkenntnisinteressen an konkreten Ereignissen, die ihm zum Teil völlig unverständlich waren. Zum Schluss der Aufzeichnung dominierte erneut Boders Rolle als Psychologe, und es vollzog sich ein Bruch der bis dahin eher dialogischen Interaktion. Nicht mehr die Geschichte von Unikowski, sondern Punkte, die für den Forscher von Bedeutung waren, wurden von Boder thematisiert. So erfragte er zunächst Gedichte und Lieder aus den Lagern, woraufhin Unikowski einige davon rezitierte und vorsang.202 Nach Boders Dank für das gelungene Interview gab es einen erneuten Bruch innerhalb des Interviews. Der Psychologe zückte plötzlich einen Stapel Bilder und fragte seinen Interviewpartner, was er darauf zu erkennen glaube: Boder: Also, hier ist ein Bild. Das ist ein Bild und ihr sollt mir sagen, woran euch dieses Bild erinnert. Woran erinnert es euch? Dies ist 9GF. 9GF [leise]. Nun? Alles, was euch in den Sinn kommt. Woran erinnert es euch? [2 Sek.] Nun? 199 Boder, Topical Autobiographies, S. 1836. 200 Ebd. 201 Zur Problematik von Boders Übersetzungen im Kontext seiner Traumaforschung vgl. Müller, Translating Trauma. 202 Unter anderem sang Unikowski das berühmte jiddische Lied »Es brennt«. Das anthropologische Interesse an Liedern als Ausdruck der Kultur der Lager ist auch für die heutige Holocaust-Forschung bedeutsam, vgl: Shirli Gilbert: Buried Monuments. Yiddish Songs and Holocaust Memory, in: History Workshop Journal 66, 2008, S. 107-128.
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Bei dem Bild, das Boder Unikowski präsentierte, handelte es sich um eine Tafel des thematischen Apperzeptionstests (TAT ), eines Persönlichkeitstests, der auf der Interpretation von verschiedenen Bildtafeln mit Zeichnungen basiert. In der Befragung von Unikowski verwendete der Psychologe diesen Test zum letzten Mal im Zuge seiner Interviews. Insgesamt kam der Test nur an drei Tagen zum Einsatz und wird hier deshalb als ein Merkmal der frühen Phase des Interviewprozesses von Boder näher vorgestellt. Drei Tage zuvor hatte Boder das Verfahren im Interview mit Raisel Roset in Paris am Ende der Aufnahme folgendermaßen eingeführt: Boder: Eh, gibt’s/ Sie wollen mir einen Gefallen tun? [2 Sek.] Ich bin eh Professor und ich studier a bissl diese Sachen. Sehen Sie dieses Bild? Was denken Sie ist [dies?] Bild?203 Boders Erklärung, dass er Professor sei und »diese Sachen« ein bisschen studieren würde, verwies auf den psychologischen Charakter der Interviews und das Ziel der wissenschaftlichen Auswertung der Aufnahmen. Er versuchte zugleich, etwaige Vorbehalte zu zerstreuen, und relativierte seine Rolle als Psychologe und die Bedeutung des Persönlichkeitstestes. Auf die Funktion und Bedeutung des Tests ging er nicht weiter ein. In seiner ins Englische übersetzten Transkription aus dem Jahr 1953 befand sich dahingehend eine aufschlussreiche Anmerkung an dieser Stelle: Note: During the first few interviews an exploratory attempt was made to give the TAT. This was given up because it was time consuming, and did not directly fit into the plans of the project. – D. P.B.204 Aus seiner relativierenden mündlichen Formulierung »ich studier a bissl« war unterdessen vereindeutigend »I am making a study of these things« geworden. Die Integration des TAT in die Interviews bezeichnete Boder rückblickend als einen erforschenden Ansatz, den er im Laufe der Interviews aufgegeben habe, da er zu zeitintensiv war und nicht direkt in die Pläne des Projektes gepasst hätte. Die Anwendung und Durchführung des Testverfahrens nach dessen Erfinder Henry Murray war in der Tat äußerst komplex und zeitaufwendig. Insgesamt standen 20 Schwarz-Weiß-Zeichnungen zur Auswahl, und die Aufgabe des Probanden bestand darin, zu jedem vorgelegten Bild eine Geschichte zu erzählen, die möglichst dramatisch sein sollte.205 Eigentlich waren dafür zwei Sitzungen an zwei verschiedenen Tagen vorgesehen. Nach der zweiten Sitzung sollte ein ergänzendes Interview geführt werden, um daraufhin die 203 Überarbeitete Transkription des Autors auf Grundlage der Audioaufnahme und der Transkription aus dem Jiddischen von Rifka Schiller für Voices of the Holocaust, vgl. David P. Boder Interviews Raisel Roset, July 30, 1946, Paris, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/rosetR; letzter Zugriff am 04.08.2021. 204 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 6, S. 1079. 205 Vgl. Revers, TAT, S. 41.
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Erzählungen auszuwerten und mögliche Diagnosen von Psychopathologien wie Neurosen, Hysterie, Schizophrenie oder Depressionen zu erstellen. Ebenso sollte es der projektive Test ermöglichen, anhand der erzählten Geschichten die »Beziehung der Persönlichkeit zur Kultur«206 zu untersuchen. Diese Erkenntnisinteressen passten exakt zu Boders späterem Traumakonzept der Dekulturation, jedoch konnte der Interviewer den aufwendigen Persönlichkeitstest in den ständig wechselnden Aufnahmeorten und innerhalb der kurzen ihm zur Verfügung stehenden Zeit nicht ordnungsgemäß durchführen. Boder versuchte, das Testverfahren für sein Interviewprojekt daher zu modifizieren, was in der Anwendung im Interview mit Unikowski besonders deutlich wurde. Nachdem der Psychologe seinem Interviewpartner die erste Bildtafel vorgelegt hatte, forderte er ihn auf, zu erzählen, an was ihn dieses Bild erinnere. Den eigentlich vorgegebenen Stimulus verkürzte Boder stark beziehungsweise wandelte ihn für sein Projekt ab: Unikowski sollte alles erzählen, woran ihn das Bild erinnere, und so versuchte er, einen Zusammenhang zwischen den Bildern und Unikowskis Erinnerungen an seine Ghetto- und K Z Erfahrungen herzustellen. Unikowski hatte allerdings Bedenken und zögerte anfänglich, daher explizierte Boder noch einmal: Unikowski: Ich bin wirklich kein Experte für solche Sachen. Boder: Aber nun, nur die Geschichte. An welche Geschichte erinnert es euch?207 Das erste Bild, das Boder Unikowski zeigte, hat die Bezeichnung 9GF 208, wie er in der Aufnahme, leise ins Mikrofon sprechend, ergänzte. Über die Nummerierung lässt sich auch die Abbildung auf der Tafel rekonstruieren, die den beschreibenden Titel »A woman standing behind a tree looking at another woman, who seems to be running on a beach«209 trägt. Durch Boders Aufforderung animiert, begann Unikowski mit einer interpretierenden Beschreibung des Bildes, die er tatsächlich dramatisch beendete, wie es laut Test vorgesehen war: »[D]as Mädchen oder die Geliebte oder die Schwester hat Sorge um sei-
206 Ebd., S. 28. 207 Unikowski, Boder 1946. 208 Die Kürzel G und F stehen für girls und females – Boder verwendete in diesem Falle also fälschlicherweise ein Bild, das explizit für die Befragung von Mädchen beziehungsweise Frauen vorgesehen war. Der thematische Aufforderungscharakter dieser Tafel betrifft die »Gefühlsbeziehung zu gleichaltrigen weiblichen Personen, insbesondere Schwesternbeziehung«, Udo Rauchfleisch: Der thematische Apperzeptionstest (TAT ) in Diagnostik und Therapie. Eine psychoanalytische Interpretationsmethode, Stuttgart 1989, S. 21. 209 Zu einem Abbildungsverzeichnis des TAT siehe Detailed Procedure of Thematic Apperception test, UR L : https://www.psychestudy.com/general/personality/de tailed-procedure-thematic-procedure-test; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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nen (Seelen?) Frieden.«210 Boder zeigte danach noch drei weitere Bilder.211 Unikowskis Geschichten waren jeweils äußerst knapp – Boder ließ ihm auch kaum Zeit zum Nachdenken und Antworten – und endeten wieder mit einem Verweis auf die Seele der abgebildeten Personen. Unikowskis Beschreibung der Abbildung 12M, auf der ein auf einer Couch liegender Mann sowie ein anderer ,älterer Mann, der seine Hand in geringer Entfernung über das Gesicht des Liegenden hält, zu sehen sind, gestaltete sich folgendermaßen: Unikowski: Das sieht aus wie ein Kranker/ Boder: Ja? Unikowski: Und er hat eine Vorstellung gehabt. Boder: Mmh. Unikowski: In der er im Traum oder im Wachsein/ ein schwer Kranker/ das jemand kommt, um seine Seele fortzunehmen.212 Aus der Sorge um den Seelenfrieden war innerhalb kürzester Zeit die Angst geworden, dass jemand die Seele der Person »fortnehmen« würde. In Boders nachträglicher Übersetzung wurde daraus wiederum sehr viel dramatischer ein Ausdruck von Todesangst: »[T]his girl or a beloved one or a sister is fearing for his life.«213 Boders Übersetzung war sehr stark interpretierend und vereindeutigend. Er verstärkte damit den Eindruck von traumatischen Auswirkungen in der Erzählung, und dies widersprach erneut seinem Konzept der wortwörtlichen Transkription und Übersetzung. Nach vier Bildern endete das Interview schließlich abrupt. Es scheint eine technische Störung gegeben zu haben, in der Aufnahme waren Unikowskis Ausführungen nur noch undeutlich und extrem leise zu hören, bis das Aufnahmegerät schließlich ausgeschaltet wurde. In Hinblick auf das gesamte Interview mit Unikowski bleibt der Eindruck, dass dem Forscher in der Aufnahmesituation 1946 selbst noch nicht klar war, welche Art von Geschichten er eigentlich aufzeichnen wollte. Boder wechselte mehrfach zwischen der Rolle des professionellen psychologischen Interviewers und der des fassungslosen und wissbegierigen Zuhörers. Der narrative Teil des Interviews war geprägt durch Unikowskis beeindruckend klar strukturierte Erzählungen, die öfters durch Boders Verständnisnachfragen unterbrochen wurden. Einen Nachtrag bildete die Anwendung des TAT, durch den Boders Rolle als forschender Psychologe wieder deutlich wurde. Dieses Nebeneinander der verschiedenen Erkenntnisinteressen zeugt davon, dass der Psychologe aufgrund der unglaublichen Geschichten oftmals überwältigt war. Man kann Boder förmlich bei seiner Suchbewegung zuhören: Der Interviewer versuchte, 210 Unikowski, Boder 1946. 211 Der Interviewer sprang in der Anwendung des Tests bei Unikowski zwischen den beiden Serien der Bildtafeln hin und her, was eine weitere Abwandlung des Verfahrens ist. 212 Unikowski, Boder 1946. 213 Boder, Topical Autobiographies, S. 1848.
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fragend das Erzählte zu verstehen. Es waren die detaillierten Berichte von Unikowski über seine Erfahrungen im Ghetto Litzmannstadt, über die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald, die dazu führten, dass Boder von seinen ursprünglich formulierten Zielen und Methoden teilweise abwich. Seine Erkenntnisinteressen als Psychologe waren daher während des Interviews nur bedingt erkennbar. Sein eigener Sprachenmix sowie seine teilweise verfälschenden nachträglichen Transkriptionen und Übersetzungen widersprachen seinem Anliegen der Analyse von Traumata anhand von wortwörtlichen Aufzeichnungen. Besonders anschaulich wurde dies anhand der Widersprüche zwischen Boders theoretischem Anspruch, personal documents aufzuzeichnen, und seiner Interviewpraxis. Während der Aufnahme wollte er teilweise möglichst umfassende chronologische Rekonstruktionen der Ereignisse erzählt bekommen, um die Erfahrungen und deren Auswirkungen verstehen zu können. Die Erzählung von Unikowski befand sich insgesamt in einem Spannungsverhältnis zwischen seinen persönlichen Erinnerungen und Berichten über den historischen Kontext, die nicht nur auf seinen eigenen Erfahrungen beruhten. Zwar hatte er seine Geschichte auf Grundlage seiner verschriftlichten Erinnerungen chronologisch strukturiert, doch war er während der mündlichen Erzählung insbesondere an einem Gesamtbild und der Deutung der Ereignisse interessiert. Dies hatte, wie etwa am Beispiel der Gerüchte über die Sprengung des Lagers in Buchenwald aufgezeigt wurde, zur Folge, dass auch Geschichten vom Hörensagen tradiert wurden. Unikowski bezeugte mit seinen Erzählungen ausführlich den Alltag im Ghetto Litzmannstadt und sein moralisches Urteil über den Judenältesten Rumkowski ist zudem als Teil einer frühen Debatte über jüdische Mitschuld und Kollaboration zu verstehen. Eng verwoben waren seine Erinnerungen ebenfalls mit nachträglichem Wissen seit der Befreiung, mit Gerüchten und seinen eigenen Deutungen zur Zeit des Interviews, das immerhin ein Jahr nach seiner Befreiung aus Buchenwald in Frankreich stattfand. Der junge Mann aus Polen betonte mit den Schilderungen von allgemeinen Geschichten zudem, dass sein eigenes Schicksal nur im größeren Kontext der NS -Verfolgung und dem Massenmord an den Juden insgesamt zu verstehen war.
»Es ist unmöglich zu beschreiben« (Janina Binder) Nach der Aufnahme von Izrael Unikowski in dem Kinderheim in der Nähe von Paris führte Boder seine Forschungsreise in einem Heim für erwachsene jüdische DP s in der französischen Hauptstadt fort. Am Sonntag, dem 4. August 1946, interviewte der Forscher dort die 21-jährige jüdische Polin Janina Binder.214 Mit einer Dauer von nur knapp 30 Minuten ist das Interview auffäl214 In Boders Transkription wird sie als Janine Binder benannt, vgl. The Story of Janine Binder, in: Boder, Topical Autobiographies, Bd. 6, S. 1033-1063. In der
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lig kurz, was auf die Besonderheit der Aufnahmesituation zurückzuführen ist. Nur zwei Tage nach dem Interview mit Unikowski hatte Boder seine Aufnahmetechnik verändert und wollte zu diesem Zeitpunkt möglichst viele kürzere Erzählungen anstatt wenige längere aufzeichnen. Systematisch verwendete er diese Methode der Interviewführung erst, nachdem er etwa die Hälfte seiner 200 Spulen verbraucht hatte. Daran wird deutlich, dass der Forscher mit verschiedenen Aufnahmetechniken experimentierte und sich sein Interviewprojekt in einem stetigen Prozess des Wandels befand. An diesem Sonntag in Paris zeichnete Boder insgesamt fünf Interviews auf, Binders Aufnahme war die vierte. Alle Interviews des Tages waren höchstens eine halbe Stunde lang und passten damit auf jeweils eine seiner Drahtspulen, die ein Fassungsvermögen von etwa 38 Minuten hatten. Die Bewohner der Unterkunft in der Rue Guy-Patin215 beschrieb Boder in der Einleitung des ersten Interviews vor Ort mit der aus der Tschechoslowakei stammenden Jüdin Jola Gross folgendermaßen: There are mostly elderly or grown up people, who have been in various concentration camps and are now waiting for… to go either to Palestine or to the United States. Most of them cannot work, they are not French citizens and have no opportunity to do some work.216 Boder betonte in diesem nachträglichen Kommentar zum Interview mit Gross gleich zweimal, dass die Bewohner der Pariser Unterkunft keinerlei Möglichkeit hatten, einer Arbeit nachzugehen. Ganz im Gegensatz dazu war es Boders Interviewpartnerin Janina Binder allerdings gelungen, eine Anstellung zu finden. Zum Zeitpunkt des Interviews war sie vermutlich – wie auch ihre polnische Zimmernachbarin Bella Zgnilek – für eine jüdische Hilfsorganisation tätig.217 Jene Bella war direkt vor Janina Binder interviewt worden, und am zeichnung kann man jedoch deutlich hören, dass sich die junge Frau als Janina Binder vorstellt. In einem persönlichen Treffen des Autors mit der heute unter dem Namen Janine Oberrotman in den USA lebenden Frau bestätigte diese, dass ihr damaliger Rufname Janina war, vgl. Expertengespräch des Autors mit Janine Oberrotman (geb. Binder) in Lincolnwood bei Chicago am 13. Juni 2017. 215 Das Heim befand sich auf der Rue Guy-Patin Nummer 9 in Paris. Boder gab in allen Interviews an diesem Ort allerdings fälschlich »Rue de Patin« an. 216 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 12, S. 2223. 217 Die Polin Bella Zgnilek hatte aufgrund ihrer Englischkenntnisse in der Unterkunft in Paris eine Anstellung beim JDC gefunden. Binder arbeitete im Sommer 1946 ebenfalls für eine Hilfsorganisation, konnte sich auf Nachfrage des Autors allerdings nicht mehr erinnern, für welche. Die Historikerin Malena Chinski hat Beweise dafür gefunden, dass Binder nach dem Interview mit Boder für die in der Rue GuyPatin 9 in Paris tätige Historische Kommission um Michal Borwicz und Joseph Wulf tätig war, vgl. Malena Chinski: A New Address for Holocaust Research: Michel Borwicz and Joseph Wulf in Paris, 1947-1951, in: Places, Spaces, and Voids in the Holocaust, hg. von Natalia Aleksiun und Hana Kubátová, Göttingen 2021, S. 189217, hier 193.
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Ende ihrer Aufnahme fragte der Psychologe die junge Frau, ob sie »ihre Freundin«, die bereits vor der Tür wartete, hereinbitten könne: David Boder: And so that is what you are at present doing. All right, Bella, thank you very much. Can you ask your girl friend to come in? Bella Zgnilek: I will. David Boder: Was she with you in the same place all the time? Bella Zgnilek: No, no. She hasn’t been in a camp. David Boder: No. Where was she? Bella Zgnilek: Sorry, I can’t tell you. I don’t know. We know each other since [for] two weeks. David Boder: All right. Will you ask her to come in? Bella Zgnilek: Yes, I sure will.218 Die beiden jungen Frauen aus Polen, die sich ein Zimmer teilten, hatten in den vergangenen zwei Wochen anscheinend kaum über ihre Erlebnisse während des Krieges gesprochen. Im Gegensatz zu Unikowski hatte Binder keinerlei Notizen ihrer Erinnerungen vorbereitet und sich – zumindest mit ihrer Zimmernachbarin – noch nicht über ihre Erfahrungen ausgetauscht. Zu Beginn der Audioaufnahme stellte Boder einführende Fragen nach dem Namen und nach den Familienangehörigen seiner Interviewpartnerin. Geboren wurde Janina Binder 1925 in Lwów, das sich zu dieser Zeit im Südosten des polnischen Staatsgebietes befand und heute unter dem Namen Lwiw zum ukrainischem Staat gehört. Über ihre Familie gab Binder die Auskunft, dass sie das einzige Kind in einer wohlhabenden, assimilierten Familie, bestehend aus ihren Eltern, Großeltern und einigen Tanten und Onkeln, war. Obwohl ihre Muttersprache Polnisch war, wurde im Interview durchgehend Deutsch gesprochen, auch wenn es Binder hörbar schwerfiel, sich darin gut auszudrücken.219 Inhaltlich kann man das Interview grob in drei Teile gliedern: erstens verschiedene Erzählungen von Binder über das besetzte Lwów ab 1941 und das Leben im Ghetto mit ihrer Familie. Dieser längste Teil der Erzählung enthielt Angaben über zu verrichtende Zwangsarbeit, die Massaker im und Deportationen aus dem Ghetto sowie Beschreibungen von Verstecken. Der zweite Teil des Interviews bestand aus Erzählungen über Binders Flucht aus dem Ghetto mittels falscher Papiere und ihre Zeit im polnischen Umland der Stadt bis zu ihrer Verhaftung im Jahr 1943. Der dritte Teil von Binders Erzählung handelte von ihrer Deportation als vermeintlich christliche Polin zur Zwangsarbeit in einen Vorort von Stuttgart, wo sie 1945 von französischen Soldaten befreit wurde.220 Einen Nachtrag bildeten Boders Fragen nach Liedern und zum bes218 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 14, S. 2590. 219 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Boder seine Interviewpartnerin gebeten hatte, auf Deutsch zu sprechen, da der Forscher selbst kaum Polnisch sprechen oder verstehen konnte, vgl. Rosen, Voices, S. 216. 220 Französische Truppen hatten Stuttgart am 21. April 1945 besetzt, am 8. Juli wurde die
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ten und zum schlimmsten Moment ihrer Erlebnisse, wie es ebenfalls bereits im Interview mit Unikowski der Fall war. Im Gegensatz zu Unikowski war Binder allerdings nicht bereit, für Boder zu singen. Die Erzählung war insgesamt kaum chronologisch geordnet, oftmals fehlten Angaben zu Jahreszahlen oder Monaten. Das Interview mit Binder kann als früher Versuch des Verstehens und Erzählens ihrer eigenen Erlebnisse interpretiert werden, der an vielen Stellen scheiterte, weil die Befragte noch keine passende Form für ihre Erinnerungen gefunden hatte, was sie auch mehrfach betonte: »Es ist unmöglich zu beschreiben.« Die Grenzen der Kommunikation zeigten sich einerseits an Binders Erzählstil, der durch viele Sprünge innerhalb der erzählten Zeit geprägt war. Andererseits betonte Binder auch mehrfach, dass es ihr extrem schwer fiel, einen Ausdruck für ihre Erinnerungen zu finden, was wiederum dadurch beeinflusst war, dass Boder das Interview mit der jungen Polin auf Deutsch führte. All diese Faktoren führten dazu, dass die Erzählung von Binder stellenweise unverständlich blieb. Direkt zu Beginn der Audioaufnahme zeigten sich erstmals auffällige zeitliche Sprünge in der Erzählung von Binder. Auf Boders Frage nach dem Einmarsch der Deutschen in ihre Heimatstadt antwortete Binder mit einer knappen Rekapitulation der historischen Ereignisse: Boder: Also. Nun und äh dann sind die Deutschen nach Lem/ Sie sagten, sie lebten in Lemberg, nicht wahr? Binder: Ja Boder: Ja. Also erzählen Sie mir, was war dann, wenn die Deutschen nach Lemberg gekommen sind? Binder: Ähm (unverständlich). Die Deutschen sind im/ nach Lemberg gekommen im Jahre äh 1943. Das war furchtbar. Die haben ähm am ersten Tage haben sie die Menschen aus der äh Straße gefangen genommen.221 Den Einmarsch der Deutschen datierte sie auf das Jahr 1943 – die Nazis hatten Lwów allerdings bereits im November 1941 besetzt. Binder gab an dieser Stelle eine falsche Jahreszahl an, wie in der weiteren Analyse ihrer Erzählung noch aufgezeigt und erklärt wird. Kurz darauf ergänzte sie, dass später ein Ghetto gebaut worden sei und sie und ihre Familie gezwungen wurden, darin zu leben. Zunächst ist der historische Kontext in der polnischen Region von Binders Heimat zu beachten, um diese Angabe zu verstehen. Boders allgemeine Ausgangsfrage nach dem Einmarsch der Deutschen hatte den deutsch-sowjetiStadt den Amerikanern übergeben, vgl. Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 2009, S. 971-972. 221 Transkription des Autors anhand der digitalisierten Audioaufnahme des Interviews, vgl. David P. Boder Interviews Janine Binder, August 4, 1946, Paris, France, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/binderJ; letzter Zugriff am 04.08.2021. Im Folgenden: Binder, Boder 1946.
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schen Nichtangriffspakt aus dem Jahr 1939 und dessen Konsequenzen für den Kriegsverlauf nicht bedacht. Am 17. September 1939 hatte die Rote Armee Lwów besetzt, und die Stadt war in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert worden. Am 22. Juni 1941 begann die Wehrmacht ihren Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, und am 30. Juni desselben Jahres wurde Lwów von den Deutschen erobert und fungierte fortan unter dem deutschen Namen Lemberg als Hauptstadt des Distrikts Galizien.222 Dass die Verhaftungen auf offener Straße, von denen Binder berichtete, nicht irgendwelchen Menschen, sondern vornehmlich Juden galten, ergänzte sie auf Nachfrage von Boder. Diese Ereignisse benannte sie als »furchtbar« – das eindrückliche Adjektiv benutzte sie im gesamten Interview auffallend oft für alle Erinnerungen an extreme Gewalt. Dass sie dafür insgesamt neun Mal das gleiche Wort verwendete, scheint in erster Linie auf ihre mangelnden Deutschkenntnisse zurückzuführen zu sein. Es vergegenwärtigt aber ebenso ihre sehr lebhafte Erinnerung an die Todesangst und kann daher auch als Ausdruck ihrer fortwährenden emotionalen Betroffenheit gedeutet werden. Jedoch erfährt man in ihrer Erzählung keine Details über die nur kurz angesprochenen Verhaftungen. Mit dem heutigen Wissen um die Massenmorde in Lemberg im Sommer 1941 wird diese Episode verständlicher. Direkt nach dem Einmarsch der Nazis hatte die Wehrmacht die Bevölkerung zum Pogrom gegen die jüdischen Einwohner der Stadt aufgehetzt, Hunderte wurden auf offener Straße ermordet.223 Binder verblieb nicht lange bei ihren Erinnerungen an diese Pogrome. Das Sprechtempo sowie die erzählte Zeit beschleunigten sich anschließend enorm. Innerhalb von etwa einer halben Minute zählte sie die verschiedenen Stationen ihrer Verfolgung auf: Vom Leben im »arischen Bezirk« der Stadt zum erzwungenen Umzug ins Ghetto bis zur Verhaftung ihres Vaters und seiner Internierung in einem Zwangsarbeitslager. Boder versuchte daraufhin, regulierend einzugreifen, um eine detaillierte und chronologisch strukturierte Erzählung aufzeichnen zu können, und forderte sie auf, zunächst das Leben im Ghetto zu beschreiben: Boder: Also warte mal. Das war in zweiundvierzig. Wollen wir nicht so schnell gehen. Und dann haben Sie/ Binder: In dreiundvierzig. Boder: In dreiundvierzig. Und da haben Sie im Ghetto gelebt. Beschreiben Sie mir, wie haben Sie im Ghetto gelebt? Wie war es? Binder: Ach das war äh/ Das ist wirklich sehr schwer zu beschreiben. 222 Vgl. Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 198 ff. 223 Vgl. Grzegorz Rossoliński-Liebe: Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941. Zum aktuellen Stand der Forschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 22, 2013, S. 207-243.
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Boder: Ja also probieren Sie es. Binder: Es ist unmöglich zu beschreiben. Wir haben überhaupt kein Essen gehabt, nicht? Und wir durften nicht äh das Ghetto verlassen und etwas essen irgendwo zu kaufen, nicht?224 Boder verfiel an dieser Stelle ins Duzen, kehrte dann aber wieder zum förmlichen Sie zurück und bat seine Interviewpartnerin um eine Beschreibung des Ghettos. Binder benannte erneut das Jahr 1943, diesmal als Zeitangabe der Verhaftung ihres Vaters. Jenes Jahr also, das sie auch als Jahreszahl bei der Erzählung über den Einmarsch der Deutschen angegeben hatte. Die geforderte Beschreibung des Lebens im Ghetto wies sie zunächst als »wirklich schwer« und dann noch stärker als »unmöglich« zurück. Durch Boders Insistieren gelang ihr schließlich doch eine Erzählung, die sich allerdings besonders aufgrund der Interviewsprache als schwierig erwies. Auf die Frage, was das Ghetto eigentlich gewesen sei, antwortete sie in gebrochenem Deutsch: Binder: Ein sehr kleiner Stadtteil war begrenzt, nicht? Und die/ Boder: Womit war er begrenzt? Binder: Mit einem äh mit einem/ hier schwer zu sagen, weil ich nicht gut Deutsch spreche. Boder: Dann sprechen Sie Jiddisch. Binder: Mit einem (unverständlich), nicht? Boder: Mit Draht? Binder: Nein nicht mit Draht, sondern mit äh/ Boder: Mit äh mit einem Zaun? Binder: Ja. Mit einem Zaun.225 Binder fehlten die passenden Worte, sie konnte sich im Deutschen nicht gut ausdrücken, was sie auch explizit betonte. Eine auffällige Besonderheit ihrer deutschen Grammatik stellt die häufige Verwendung der Partikel »nicht« dar, die ihre Aussagen zu relativieren scheint. Boder antwortete auf ihre Kommunikationsschwierigkeiten im Deutschen mit dem Vorschlag, dass sie doch Jiddisch sprechen solle, was sie wiederum ignorierte und weiter nach den passenden deutschen Worten suchte. Der Interviewer nahm offensichtlich an, dass Binder als polnische Jüdin Jiddisch sprechen könne, wie auch Unikowski oder andere von ihm befragte polnische Juden. Jedoch spielte die iiddische Sprache in Binders assimilierter Familie überhaupt keine Rolle, ihre Muttersprache war 224 Binder, Boder 1946. 225 Ebd. Am. 8. November 1941 hatten die Deutschen einen Teil der Stadt zum »Jüdischen Wohnbezirk« erklärt. Das Ghetto in Lemberg war zwar umzäunt, es handelte sich jedoch um ein offenes Ghetto, das mit Arbeitserlaubnissen verlassen werden durfte, vgl. Dieter Pohl: Ghettos, in: Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9, hg. von Wolfgang Benz und Barbara Distel, München 2009, S. 161-191.
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Polnisch, und Deutsch hatte sie vor dem Krieg in der Schule und durch die private Lektüre von deutscher Literatur gelernt.226 Boder war in diesem Interview insgesamt sehr dominant und griff an vielen Stellen grob in die Erzählung von Binder ein. Als seine Interviewpartnerin von Verhaftungen innerhalb des Ghettos Lemberg berichtete, benutzt sie den Täterbegriff »Aktionen«, den Boder zunächst übernahm, aber anschließend auf einer Erklärung der damit verbundenen Vorgänge insistierte: Boder: Und erzählen Sie, wie waren die Aktionen? Was war das? Was haben Sie dann getan? Binder: Das waren äh/ in Aktionen nehm/ nahmen teil äh die Deutschen. Boder: Ja. Binder: Deutsche Miliz. Boder: Ja. Binder: Und äh das heißt Gestapo und äh die Ukrainer, nicht? Boder: Ja. Binder: Waren noch furchtbarer.227 Binder beschrieb die Verhaftungen im Ghetto und benannte die Gestapo sowie Ukrainer als Täter, wobei sie Letztere als »noch furchtbarer« als die Nazis charakterisierte. Bereits zu Beginn des Interviews hatte sie betont, dass jene den Deutschen »sehr geholfen« hatten, und hatte damit auf den Aspekt der Kollaboration verwiesen. Boder ging auf dieses Detail allerdings überhaupt nicht ein, und so blieb unklar, ob sie auf eigene Erfahrungen mit Ukrainern rekurrierte.228 Binder beendete den Absatz über die »Aktionen« mit der Information: »[A]lle Juden hat man damals nach Bełżec deportiert«.229 Diesen polnischen Ortsnamen schien Boder nicht richtig verstanden zu haben und verwechselt ihn zunächst mit dem ihm bereits bekannten Bergen-Belsen: Boder: Nach Belsen? Binder: Bełżec. Boder: Bielsetz? Wo war Bielsetz? Binder: Bełżec das war äh einfach/ das heißt 150 Kilometer glaube ich von hier, von Lemberg entfernt, nicht? 226 An einer anderen Stelle im Interview fragte Boder sie, ob sie eine Schulbildung genossen habe, was sie sehr energisch bejahte und ergänzte, dass sie das Gymnasium besucht hatte. 227 Binder, Boder 1946. 228 Die Organisation Ukrainische Nationalisten sowie Angehörige der aus ihr hervorgegangenen Miliz waren maßgeblich an den Pogromen im Sommer 1941 sowie an der weiteren Verfolgung von Juden in Lemberg beteiligt, vgl. Dieter Pohl: Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden, in: Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche?, hg. von Gerhard Paul, Göttingen 2002, S. 205-224. 229 Binder, Boder 1946.
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Boder: Ja. Binder: Und das war bei/ äh das war die Lager, wo man alle Juden äh gebracht hat, nicht? Das waren die/ man wusste nicht das Ort. Man wusste nicht gen/ äh nicht genau das man/ weil äh niemand kehrte zurück.230 Aufgrund der Nachfragen versuchte Binder den Ort Bełżec zu charakterisieren und verwies auf das spärlich vorhandene Wissen: Bekannt war lediglich, dass es sich um einen etwa 150 Kilometer entfernten Ort handelte, zu dem die in Lemberg verhafteten Juden deportiert worden waren. Ertaunlicherweise hatte Boder nur fünf Tage zuvor einen Dialog mit Adam Krakowski in Paris, der sich nahezu identisch anhörte: Boder: Aha. Wohin hat man sie geschickt? Krakowski: Nach Bełżec. Boder: Nach Belsen? Krakowski: Bełżec. Boder: Bełżec, wo ist das? Krakowski: Ich glaube, es ist hundert siebzig Kilometer von Lublin, zwischen Lublin und Lemberg.231 Auch hier verwechselte Boder Bełżec zunächst mit »Belsen«. Das von britischen Truppen im April 1945 befreite K Z Bergen-Belsen war bereits kurz nach dem Krieg zum Symbol für den NS -Massenmord an den Juden geworden und wirkte sich scheinbar auch auf Boders Verständnis der Erzählungen aus.232 Es zeigt sich also zweierlei: Erstens scheint Boders Frage nach dem Ort Bełżec auch methodisch intendiert gewesen zu sein, um die Informationen von Krakowski im Interview mit Binder überprüfen zu können. Zweitens, und das ist der entscheidende Punkt für das Interview mit Binder, gab die Befragte an, dass niemand von dort zurückkehrte. Binder hatte begriffen, dass die Deportierten dort ermordet wurden. Über genaue Details zu Bełżec als erstem Tötungsort der sogenannten Aktion Reinhardt konnte sie zur Zeit des Interviews noch nicht Bescheid wissen. Doch sie lieferte eine frühe Dimensionierung der Folgen von Deportationen aus dem Ghetto, die in ihrer Interpretation auf eine massenhafte Ermordung der Juden aus ihrer Heimatstadt hindeutete.233
230 Ebd. 231 Krakowski, Boder 1946. 232 Vgl. Tony Kushner: From »This Belsen Business« to »Shoah Business«: History, Memory and Heritage, 1945-2005, in: Holocaust Studies 12, 2006, S. 189-216, hier 193. 233 Im März 1942 hatten die Deutschen in Bełżec mit der systematischen Ermordung mittels Giftgas begonnen, bis Anfang April 1942 wurden etwa 15.000 Juden, die aus Lemberg deportiert worden waren, getötet, vgl. Christine Kulke: Lwów, in: Ghettos in German occupied Eastern Europe, hg. von Martin Dean, Bloomington 2012 (Encyclopedia of camps and ghettos, 1933 – 1945), S. 802-805, hier S. 803; Yitzak Arad:
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Binder thematisierte auch andere Techniken des Massenmordes, die sie direkt mit Bełżec in Verbindung brachte. Der Vernichtungskrieg der Nazis war im Generalgouvernement, speziell in Lemberg, insbesondere durch Massenerschießungen geprägt, von denen Binder ebenfalls berichtete. Sie gab an, dass es 1942 eine »Aktion« für alte Menschen gegeben hatte und ihr Großvater aufgrund dessen im Ghetto verhaftet und erschossen worden war. Aufgrund einer Nachfrage von Boder berichtete Binder ausführlich über den Ablauf der Verhaftungen und die Ermordungen: Boder: Wo hat man das getan? Binder: Das hat man getan/ das war die kleine Kirche, nicht? Boder: Ja. Binder: Neben äh der Brücke, wo man das getan hat. Die hat man furchtbar geschlagen und da war äh ein Berg neben Lemberg, nicht? Boder: Ja. Binder: Da hat man die gleich alle aufgereiht auf dem Platz, nicht. Dann hat man sie nicht nach Bełżec gebracht, sondern dort äh an der Stelle umgebracht, nicht. Das war furchtbar, mein/ mein Großvater war damals (2 Sek.) (unverständlich). Boder: Ihr Großvater wurde damals erschossen? Binder: Ja. Boder: Und was haben die mit den Leichen getan? Binder: Die hat man äh in die/ Da hatten/ Das war äh manchmal so, dass einer von denen das Grab für den Anderen graben, nicht? Boder: Ja. Und äh haben Sie vielleicht Ihren Großvater gefunden? Binder: [Lacht] Nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Das war/ das war ge/ geb/ geb/ begrenzt mit dem ähm Draht, nicht. Das war überhaupt verboten diese, diese, diese Stelle (unverständlich). Boder: Und da sind Sie sich sicher, dass Ihrem Großvater/ Binder: Ja, weil er nicht zurückkam. Er ist gerade in diese Richtung gegangen, wo man die Menschen gefangen hat, nicht? Und dann ist er darauf nicht zurückgekommen. Und dann hat gesehen, dass die Autos mit den nackten, alten Menschen/ das hat mir mein äh Onkel gesehen mit seinen eigenen Augen. Boder: Das die/ die Autos? Binder: Die Autos mit nackten Menschen darin und nachher mit dem ähm Maschinengewehr drauf und mit dem/ und mit dem Soldaten.234 Die Aussage von Binder, dass ihr Großvater zusammen mit den anderen verhafteten Juden nicht erst nach Bełżec deportiert, sondern »an der Stelle um»Operation Reinhard«: Extermintation Camps of Belzec, Sobibor and Treblinka, in: Yad Vashem Studies 16, 1985, S. 205-239, hier S. 220. 234 Binder, Boder 1946.
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gebracht« worden war, verdeutlichte ihr Wissen über die verschiedenen Formen des Massenmords.235 Boder hingegen schien an ihren Angaben zu zweifeln und fragte, ob sie ihren Großvater nach den Massenerschießungen wiedergefunden habe. Diese ungläubige Nachfrage muss ihr völlig absurd vorgekommen sein, und so lachte sie als erste Reaktion darauf hörbar auf. Sie belehrte den Interviewer anschließend über die begrenzten Möglichkeiten des Wissenserwerbs und die mangelnde Bewegungsfreiheit im Ghetto. An den Ort der Massenerschießungen konnte sie nicht gelangen. Zugleich verwies Binder auf die Augenzeugenschaft ihres Onkels. Dieser habe Autos, die mit »nackten, alten Menschen« beladen waren, gesehen, was Boder schließlich als Erklärung und Beweis genügte. Im Anschluss an diesen Dialog folgten kurze Erzählungen von Binder, in denen sie davon berichtete, wie sie sich jenseits der Ghettobegrenzung versteckte, um den stetigen Deportationen zu entgehen. Da sie gültige Papiere zum Arbeiten außerhalb des offenen Ghettos gehabt hatte, war es ihr möglich gewesen, sich eine Woche lang bei einer christlichen Polin zu verstecken. Wie Binder schilderte, musste sie nach einer Woche das Versteck bei der polnischen Helferin verlassen, da es ihren Eltern nicht weiter möglich war, für das Versteck zu bezahlen. Die polnische Helferin habe ihr beim Verlassen des Verstecks allerdings noch eine Kopie der Geburtsurkunde ihrer eigenen Tochter ausgehändigt. Diese Form von Hilfe durch Nicht-Juden wird in den Interviews von Boder insgesamt selten thematisiert, der Psychologe fragte daher explizit nach dem Motiv der polnischen Helferin. Binder gab an, dass die christliche Polin ihr mit der Kopie der Geburtsurkunde ohne Eigeninteresse geholfen habe, mehr erfuhr man über die Motive der Helferin in diesem kurzen Dialog allerdings nicht.236 Mittels der Geburtsurkunde war es Binder schließlich möglich, unter einer nichtjüdischen Identität unterzutauchen. Als ihr Vater 1943 in das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska verschleppt und dort ermordet wurde, hatte ihre Mutter hellsichtig erkannt, dass die einzige Überlebenschance für die Tochter die Flucht aus dem Ghetto sei: Binder: Und nun waren/ war ich und meine Mutter im Ghetto, nicht? Boder: Ja. Binder: Äh dann äh/ meine Mutter hat gesagt, dass ich/ dass ich die Stadt verlassen muss. Andernfalls werde ich auch umgebracht, nicht. Da hat sie mir äh diese/ dieses Papier hatte ich noch, diese äh (unverständlich). 235 Damit ist ihr Interview auch eines der wenigen frühen Zeugnisse über den Holocaust durch Kugeln in Osteuropa, siehe Sue Vice: »Beyond words«. Representing the »Holocaust by bullets«, in: Holocaust Studies 25, 2019, S. 88-100. 236 Zur Bedeutung und zu den komplexen Motiven der Hilfe für verfolgte Juden durch die polnische Bevölkerung vgl. Witold Medykowski: Modes of Survival, Techniques of Hiding, and Relations with the Local Population. The Polish Case, in: Hiding, Sheltering, and Borrowing Identities. Avenues of Rescue during the Holocaust, hg. von Dan Michman 2017, S. 45-56.
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Boder: Dass sie ein arisches Kind, ja? Binder: Ja. Und äh wo ich eine Tante ähm die auf die/ auf die der arisch/ -schen Papieren lebte, nicht? Boder: Ja. Binder: In der Stadt. Da sagte mir meine Mutter ›Geh zu deiner Tante vielleicht wird äh sie dir helfen.‹ So habe ich auch getan.237 Da Lemberg kein geschlossenes Ghetto war, konnte sich Binder der Masse an Zwangsarbeitern anschließen, die das Ghetto mit Arbeitserlaubnis noch verlassen durften. Sie versteckte sich zunächst bei einer Tante. Diese schickte sie auf einen Bauernhof, wo sie bei einem nicht näher benannten Onkel unterkam, der dort ebenfalls unter falscher Identität lebte. Auf dem Land wurde sie jedoch unter dem Verdacht, dass sie Jüdin sei, verhaftet und verhört. Ihre falsche Identität wurde in der Folge zwar nicht enttarnt, aber als vermeintlich christliche Polin wurde sie anschließend zur Zwangsarbeit nach Stuttgart deportiert. In den anschließenden Minuten der Audioaufnahme erschlossen sich mehrere Zusammenhänge der Erzählung von Binder. Aufgrund einer Nachfrage von Boder gab die Interviewte in abgehackten Sätzen und mit zitternder Stimme an, dass sie noch im Umland von Lemberg erfahren hatte, dass alle verbliebenen Bewohner des Ghettos erschossen worden waren.238 Zudem habe ihre Tante zu dieser Zeit Suizid begangen. All dies ereignete sich im Jahr 1943. Nahezu ihre gesamte Familie wurde in diesem Jahr ermordet oder in den Tod getrieben, sie selbst verhaftet, verhört und zur Zwangsarbeit deportiert. Dies könnte, um auf den Beginn des Interviews zurückzukommen, ein plausibler Grund dafür sein, warum ihre Erzählung gerade mit der Jahreszahl 1943 begonnen hatte. Ihre eigene Verfolgung und die Ermordung ihrer Familie kulminierten in diesem entscheidenden Jahr. Diese These wird auch durch eine zusammenfassende Nachfrage von Boder am Ende des Interviews nach dem schlimmsten Moment der Erfahrungen bestätigt: Boder: Ja äh ich möchte wissen, von dieser ganzen Gefangenschaftszeit äh welche war die schlimmste Moment, was Sie sagen würden? Binder: Das schlechteste Moment, das war beim ähm/ das eine Moment, dass ich/ ich war äh in dem Dorf, nicht? Und die wussten, dass/ dass äh meine Mutter umgebracht wird, nicht? Und dass ich ihr überhaupt nicht helfen kann. Und das war das Schlimmste und das Zweite/ die zweite Periode war damals in/ wo ich im Gefängnis war und wo ich nicht wusste, was sie mit mir machen, nicht.239 237 Binder, Boder 1946. 238 Im Januar 1943 wurden 10.000 Juden durch Massenerschießungen hingerichtet, im Juni desselben Jahres lösten die Deutschen das Ghetto auf und funktionierten es in ein »Judenlager« um. Die verbliebenen 12.000 Juden wurden anschließend ebenfalls ermordet, Vgl. Kulke, Lwów, S. 803. 239 Binder, Boder 1946.
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Die Bedeutung der Ereignisse des Jahres 1943 werden hier besonders deutlich in Binders Erzählung über die Verzweiflung und Ohnmachtserfahrung während ihrer Zeit unter falschen Papieren auf dem Land und der anschließenden Verhaftung. Auf Boders Frage nach dem »besten Moment« erzählte sie kurz über ihre Befreiung in Stuttgart. Als sie gerade eine Erzählung über einen französischen Soldaten begann, endete die Spule abrupt, die Geschichte ihrer Befreiung ist in der Audioaufnahme nicht mehr überliefert. Im Jahr 1953 fertigte Boder eine englische Übeesetzung des Interviews an und seine nachträglichen Bearbeitungen und Kommentierungen im Transkript sind besonders aufschlussreich hinsichtlich der Interpretation der Erzählung von Binder. Die meisten Kommentare des Psychologen betreffen die Sprache und Emotionalität von Binder, die Boder direkt im englischen Transkript einfügte, etwa an der Stelle, wo seine Interviewpartnerin über eine Verkleinerung des Ghetto Lemberg berichtet hatte: Question: Oh, the ghetto was made smaller? Janine: Yes, yes. /blocks, telescoping words/ And so we didn’t know where to go at all, no? Question: Yes. Janine: We couldn’t at all remain in the ghetto because … /her speech is hesitant and telescoping – she speaks in volleys, starting the next word before the first one is finished/. Question: Nu. Janine: Because we did not work, and this district was only for people who worked, no?, for the ones who worked. But meanwhile my father did not work /tears in her voice/ and his ›paper‹ was not good, and once he was taken to the lager.240 In der Audioaufnahme kann man hören, wie sich Binders Stimme an dieser Stelle überschlägt, Boder benannte dies nachträglich als volleys, also Salven von Wörtern, die seine Interviewpartnerin teleskopartig ineinanderschiebe. Des Weiteren vermerkte er mehrfach ihr Schluchzen, an dieser Stelle mit »tears in her voice«.241 Seine eigenen Gesprächsanteile sind wie üblich in seinen Transkriptionen nur mit »Question« gekennzeichnet. Dies relativierte seinen eigenen Einfluss auf die dialogische Erzählung und ließ ihn als scheinbar neutralen Forscher in den Hintergrund treten. Janina Binder hingegen wurde nur mit ihrem Vornamen angegeben – im Interview selbst hatte Boder sie gesiezt, war aber an manchen Stellen ins Du gewechselt. Deutlich wird dadurch, welche Rolle das Geschlecht der Interviewpartner spielte. Im Interview mit Unikowski, der angegeben hatte, erst 18 Jahre alt zu sein, war der Altersunterschied zum fast 60-jährigen Professor kaum zu merken, 240 Boder, Topical Autobiographies, S. 1051-1052. 241 Ebd. S. 1052.
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Boder hatte ihn durchgehend gesiezt. Unikowski hatte sich gegen Boders teilweise harsche Nachfragen und Unterbrechungen auch besser behaupten können als Binder, deren Interview durch ihre Verunsicherung und ihr Weinen geprägt war, was Boder mit seinen Kommentaren auch nachträglich betonte. Dies ist auch als Anzeichen dafür zu verstehen, dass Boder sie als junges Mädchen wahrgenommen und nicht als gleichwertige Gesprächspartnerin ernst genommen hatte. Dieses Ungleichgewicht prägte das Interview insgesamt entscheidend. Der Dialog fand, wie bei den meisten der Interviews von Boder mit jüngeren Frauen, nicht auf Augenhöhe statt. Boder zeigte gegenüber Binder erstaunlich wenig Empathie angesichts der starken Emotionalität seiner Interviewpartnerin. Dies könnte allerdings auch methodisch begründet gewesen sein. Im Gegensatz zu der freien Erzählung bei Unikowski führte Boder mit Binder eher eine strikte Befragung durch und verblieb damit in der Position des scheinbar neutralen Forschers, der keinerlei Emotionen zuließ. Anhand eines weiteren Kommentars aus Boders späterer Transkription wird deutlich, dass der Psychologe das Interview im Nachhinein als exemplarischen Beleg dafür nutzte, den größeren historischen Kontext der beschriebenen Verbrechen zu erklären. In einem Abschnitt, in dem Binder über die Ermordung ihres Vaters im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska sprach, benannte sie, ähnlich wie bereits bei der Schilderung der Ermordung ihres Großvaters, wieder den Onkel als Zeugen dieser Tat. Der Psychologe kommentierte dies nachträglich ausführlich: Janine: And he was killed. I know that from my uncle who was a physician in that lager, no? So he notified me. /Note: One learns about the higher educational and social status of the D. P.’s (sic) in distress with mixed feelings. Should it be that the fact that the victim belongs to the reader or listener’s (sic) own social class makes the situation more vivid. After all, the attitude that the sufferers were a kind of unfortunate rabble is not eradicated entirely from the minds of the distant bystanders. However, the crux of the matter is that we associate greater financial well-being with a higher educational status, with greater experience and possession of means to defend oneself from arbitrary treatment by police and military power. The presence of people of higher social strata among the victims simply emphasizes that we deal not just with a »war is war« situation, but with a plan full of mass destruction of human beings, of catastrophic dimensions and impact./242 Boders Kommentar enthielt gleich mehrere Aspekte, die es ermöglichen, anhand des Interviews von Binder Rückschlüsse auf das gesamte Interviewprojekt und die Interpretationen der NS -Verbrechen durch den Psychologen zu ziehen. Zunächst betrifft dies Erkenntnisse über das soziale Milieu der 242 Boder, Topical Autobiographies, Bd. 6, S. 1053.
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Opfer. Binders Familie gehörte der oberen Mittelschicht an, ihr Vater war Unternehmer mit einer eigenen Firma, der Onkel war Arzt. Boder betonte daher, dass die Gruppe der DP s – verstanden als Folgeerscheinung der NS Verbrechen – nicht nur aus Armen und Mittellosen bestand, weil alle sozialen Schichten betroffen waren. Darüber hinaus gab Boder an, dass selbst Privilegierte keine größere Überlebenschance in den Ghettos oder Lagern hatten. Seine Schlussfolgerung war, dass es sich bei den Verbrechen, die während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis begangen wurden, nicht um eine klassische Kriegssituation handelte, in der Geld das Gröbste verhindern könnte. In seinem interpretierenden Kommentar aus dem Jahr 1953 benannte Boder vielmehr einen gezielten »plan full of mass destruction of human beings, of catastrophic dimensions and impact«. Er klassifizierte die von Binder beschriebenen Tötungen somit als gezielte Massenvernichtung mit katastrophalen Auswirkungen und bestätigte damit, dass er sich der noch nie dagewesenen Dimension des Massenmords bewusst war. Die beschriebenen Ereignisse gingen weit über die Existenz von bisher dagewesenen Kriegsverbrechen hinaus. Obwohl Boder diese Neu- und Andersartigkeit betonte, griff er gerade nicht auf den von Raphael Lemkin Mitte der 1940er Jahre geprägten Rechtsbegriff des Genozid zurück.243 Er bezeichnete den Massenmord als vielmehr mit dem bereits mehrfach benannten Begriff der Katastrophe. Wie auch in seinem ein Jahr nach diesem Kommentar verfassten sozialwissenschaftlichen Artikel The Impact of Catastrophe deutlich wird, hatte Boder als Forscher eindeutig die Perspektive eines Psychologen und operierte daher nicht mit Begriffen aus dem Bereich der Rechtswissenschaften. Im Gegensatz zu Boders nachträglicher Interpretation des Interviews war die Interviewführung des Psychologen einer der entscheidenden Gründe, warum die Erzählung von Binder stellenweise unverständlich blieb. Aufgrund der zahlreichen Unterbrechungen durch Boder gelang der stark emotionalen jungen Frau kaum eine umfassende Erzählung innerhalb der knappen halben Stunde Aufnahmezeit. Das Interview zeugt damit insbesondere von den Schwierigkeiten der Interviewführung des Forschers. Für eine empathische Unterstützung seiner Interviewpartnerin im Ringen um die Verbalisierung ihrer Erinnerungen schien wenig Platz zu sein. Die starke Emotionalität von Binder und ihre Fokussierung auf das für sie entscheidende Jahr 1943, in dem der Großteil ihrer Familie ermordet worden war, wurden als Versuch der Interpretation dieser Extremerfahrungen gedeutet, die für Binder zum Zeitpunkt des Interviews noch kaum kommunizierbar waren. Im Erzählen versuchte Binder die Erlebnisse, die sie durchgängig durch das 243 Zur Geschichte und Bedeutung des Genozid-Begriffs als (rechtliche) Klassifizierung für den Massenmord an den Juden siehe Weinke, Gewalt, S. 116-126; Anson Rabinbach: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid, Göttingen 2009, S. 53-72.
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eindrückliche Adjektiv »furchtbar« charakterisierte, zu begreifen und in ihrer Biographie zu integrieren. Die großen Schwierigkeiten der Verbalisierung ihrer Erinnerungen basierten auch auf den Grenzen der Sprache, die sich in ihrem Falle als Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit in der fremden deutschen Sprache manifestierten. Allerdings ist auch nicht zu vernachlässigen, dass Binder in ihrem kurzen Interview mit ihren Angaben über die Deportation der Juden aus dem Ghetto Lemberg zum Tötungsort Bełżec oder den Massenerschießungen im Ghetto, denen ihr eigener Großvater zum Opfer fiel, deutliche Beschreibungen und eine Dimensionierung des Massenmordes an den Juden leistete. Ihre Angaben gingen weit über den bisherigen Wissensstand des Interviewers hinaus und führten für Boder zu einem umfassenderen Begreifen der planmäßigen Organisation des Massenmords in Polen. Dies spiegelte sich teilweise in den nachträglichen Interpretationen der Erzählung durch den Forscher. Gerade die Grenzen der Kommunikation verwiesen auf den Kern ihrer Verfolgungserfahrung, die in rational nachvollziehbaren Erzählungen kaum mitteilbar war.
»Wir wussten nichts von kein Auschwitz« (Adolf Heisler) Am Dienstag, dem 27. August 1946, interviewte Boder den 19-jährigen in der Tschechoslowakei geborenen Juden Adolf Heisler in Genf.244 In den knapp drei Wochen nach dem Interview mit Janina Binder hatte der Psychologe weitere Aufnahmen an verschiedenen Orten in Paris angefertigt und einen Tag zuvor seine Forschungsreise in der Schweiz fortgesetzt. Zusammen mit anderen Überlebenden aus dem K Z Buchenwald lebte Heisler in einem Kinderheim in Genf, das Interview fand jedoch in einer Schule der Hilfsorganisation ORT statt, wo der junge Mann eine Ausbildung zum Mechaniker begonnen hatte.245 Das Interview mit Heisler war das zweite von insgesamt vier an diesem Tag, und die nur knapp 40-minütige Aufnahme wurde durchgängig auf Deutsch geführt, obwohl dies hörbar nicht die Muttersprache des Befragten war. Geboren wurde Heisler am 18. Mai 1927 in Tschynadijowo. Die kleine Ortschaft im Osten der damaligen Tschechoslowakei befindet sich in einer Region, die heute auf ukrainischem Staatsgebiet liegt, mit den Begriffen 244 Bei Boder wird er als »Adolph Heisler« benannt, vgl.: The story of Mr. Adolph Heisler, in: Boder, Topical Autobiographies, Bd. 12, S. 2186-2222. Sein Familienname wird in verschiedenen Quellen auch als »Heizler« angegeben, sein Vorname jedoch immer in der Schreibweise »Adolf«. Da er in allen späteren Interviews als Familiennamen »Heisler« angibt, wird diese Schreibweise hier übernommen. 245 Die ORT-Schule in Genf bestand seit April 1944, so der Leiter der Organisation Joseph Freinhoffer und die Sekretärin Frau Borgmann im Interview mit Boder am 28.08.1946, vgl. David P. Boder Interviews Joseph Freinhoffer and [first name unknown] Borgman, August 28, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/borgman_freinhofferJ; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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Karpatenukraine oder Transkarpartien bezeichnet wird und im November 1938 Ungarn zugesprochen worden war.246 Seine Familie war Teil der jüdischen Minderheit in der Region, und seine Eltern besaßen eine große Landwirtschaft sowie ein Holzunternehmen. Heisler war der älteste von insgesamt drei Söhnen und lebte in ländlicher Abgeschiedenheit. Bis zum Einmarsch der Deutschen im Mai 1944 hatte er kaum Informationen über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, geschweige denn über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Zu Beginn der Audioaufnahme berichtete Heisler unmittelbar von seiner Verhaftung und Verschleppung in das Ghetto Munkács im Mai 1944 und seiner anschließenden Deportation zum K Z Auschwitz. Seine Erfahrungen in Auschwitz bildeten den Kern der kurzen Erzählung und dienten als Referenzpunkt für alle anderen Angaben. Thematisch konzentrierte sich seine Erzählung auf die Zwangsarbeit, die er im Außenlager Jawischowitz im Bergwerk Brzeszcze-Jawischowitz bis zur Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz leisten musste. Er berichtet von einem anschließenden Gewaltmarsch und seiner Deportation zum K Z Buchenwald im Januar 1945 sowie einem anschließenden Transport zur Zwangsarbeit in der Nähe des Zwangsarbeitslagers Ohrdruf in Thüringen. In einem Stollen der unterirdischen Luftmunitionsanstalt Crawinkel musste er erneut schwere Arbeit unter Tage leisten. Den Schluss des Interviews bildet Heislers Erzählung über seine Erkrankung zwei Wochen vor der Befreiung. Mit einem Krankentransport wurde er zuerst nach Ohrdruf und Anfang April zurück zum K Z Buchenwald gebracht, wo er am 11. April von Amerikanern befreit wurde. Die Audioaufnahme endet abrupt mit Heislers Angabe, dass er sich nach der Befreiung für einen Transport in die Schweiz gemeldet habe. Das Interview mit Heisler ist insgesamt durch diverse Kommunikationsprobleme geprägt. Im Vergleich zur Aufnahme der vorherig besprochenen Interviewpartnerin Janina Binder konnte sich Heisler im Deutschen zwar besser ausdrücken – was auch an seinen Kenntnissen der jiddischen Sprache lag –, jedoch ist das gesamte Interview durch diverse sprachliche Eigenheiten wie falsche Verwendung der deutschen Grammatik seitens Heislers gekennzeichnet. Auch Boder spricht in dieser Aufnahme vergleichsweise schlechtes Deutsch, was das Hörverständnis an vielen Stellen erschwert. Doch die Schwierigkeiten der Kommunikation basierten nicht ausschließlich auf den begrenzten Ausdrucksfähigkeiten von Heisler, sondern vielmehr auf dem Inhalt der verbalisierten Erinnerungen. Seine Verhaftung im Frühjahr 1944 beschrieb Heisler als plötzlich und völlig unerwartet, die erinnerte Verschleppung zum K Z Auschwitz überwältigte den jungen Mann, was sich auch in seiner Erzählung gegenüber Boder widerspiegelt. Heisler und die anderen Juden aus seiner 246 Vgl. Yeshayahu A. Jelinek: The Carpathian diaspora. The Jews of Subcarpathian Rus’ and Mukachevo, New York 2007, S. 227 ff.
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Heimatstadt hatten bis zu ihrer Ankunft keinerlei Wissen über das Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen, was er prägnant zusammenfasste: »Wir wussten nichts von kein Auschwitz.« Seine gesamte Erzählung kann als Versuch verstanden werden, die Konfrontation mit diesem Ort nachträglich zu begreifen. Die Darstellung seiner eigenen Erfahrungen verband er mit der Perspektive der kollektiven Verfolgung der Juden, um die Ereignisse zu kontextualisieren. Boder akzeptierte in diesem Interview die erzählende Verbindung von Erinnerungen an individuelle Erlebnisse mit generellen Informationen über die Verfolgung der Juden, was auf einen Wandel der Interviewmethode verweist. Zu Beginn der Audioaufzeichnung begann Boder wie üblich mit einer knappen informativen Zusammenfassung über die verwendete Spule sowie das Datum der Aufnahme, um mit Fragen nach biographischen Angaben zu seinem Interviewpartner fortzufahren: Boder: This is Spool 81. Geneva, August 27th, 1946. The interview is with Abraham (sic) Heisler, eighteen years old, from a Czech territory, that presumably has become Russian now. He carries a tattoo number A four, four, seven, zero. Boder: Also, Herr Eisle/ Heisler, wollen Sie uns nochmal sagen Ihren ganzen Namen und wo sind Sie geboren? Sprechen Sie laut, langsam und ziemlich laut, nun? Heisler: Also. Mein Namen ist Adolf Heisler/ Boder: Ja. Heisler: Und ich komme aus Tschechoslowakei, aus Karpatho-Russland. Achtzehn Jahre bin ich alt und bin deportiert worden später nach Auschwitz.247 Der Interviewer benannte Adolf Heisler zunächst fälschlich als Abraham, was darauf zurückzuführen ist, dass die Genfer ORT-Schule jener Ort war, an dem Boder im Anschluss sein mehrstündiges Interview mit Abraham Kimmelmann führte, mit dem er bereits in Kontakt getreten war. Auffällig an Heislers ersten Worten ist zunächst sein grammatikalisch falsches Deutsch – der in der Tschechoslowakei geborene junge Mann war kein deutscher Muttersprachler und redete durchgängig in einem Sprachenmix aus Deutsch mit jiddischen Einschüben. Sein inhaltlicher Einstieg in die Erzählung ist ebenfalls beachtenswert. Heisler kam unmittelbar auf seine Deportation nach Auschwitz zu sprechen, die er in den ersten Sätzen der Aufzeichnung neben seiner Herkunft und seinem Alter als wesentliches Charakteristikum seiner biographischen Angaben 247 Transkription des Autors auf Grundlage der Version von Dagmar Platt für die »Voices of the Holocaust«-Website sowie der deutschsprachigen Audioaufnahme, vgl. David P. Boder Interviews Adolph Heisler, August 27, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/heislerA; letzter Zugriff am 04.08.2021. Im Folgenden: Heisler, Boder 1946.
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benannte. Einfluss darauf hatte sicherlich auch die Einführung des Psychologen, der direkt im ersten Satz der Audioaufzeichnung die tätowierte Häftlingsnummer seines Interviewpartners thematisierte, die Heisler zwangsweise im K Z Auschwitz erhalten hatte.248 Boder versuchte die Erzählung anschließend mit seiner üblichen Einstiegsfrage nach den Geschehnissen seit Kriegsbeginn zu strukturieren, doch dies gelang ihm kaum, da Heisler nach wenigen Angaben über seine Verhaftung und Ghettoisierung sofort wieder über Auschwitz sprechen wollte: Boder: Ja. Also erzählen Sie mir, wo waren Sie und was ist Ihnen passiert, wenn der Krieg angefangen hat. Heisler: Wenn der Krieg angefangen hat, hat man uns genommen in ein Ghetto und da hat man uns sehr mies behandelt. Und nach dem Ghetto/ in dem Ghetto waren wir ein Monat und nach einem Monat hat man uns deportiert mit dem Zug nach Auschwitz. Boder: Also warten Sie mal. Ich will diese ganze Geschichte wissen. Das ist doch nicht so schnell gegangen. Also wie hat man bekannt gemacht/ wie hat man/ Wer waren Ihre Eltern? Was war Ihr Vater und Ihre Mutter?249 Die Konfrontation mit dem Krieg und mit die Auschwitz schienen für Heisler unmittelbar zusammenzuhängen, denn er gab an, innerhalb nur eines Monats nach seiner Gefangennahme in das K Z deportiert worden zu sein. Für ihn hatte der Zweite Weltkrieg allerdings auch nicht im Jahr 1939, sondern erst im Frühjahr 1944 begonnen, als die Deutschen mit der Ghettoisierung der Juden in seiner Region begonnen hatten. Die Besonderheit seiner Verfolgungserfahrung hängt fest mit seinem Geburtsort zusammen. Da die Region Transkarpatien seit Ende 1938 zum ungarischen Staatsgebiet gehörte, wurden er und seine Familie nicht bereits 1942 zusammen mit dem Großteil der slowakischen Juden deportiert, sondern erst 1944 nach der deutschen Besetzung von Ungarn, die am 19. März 1944 begonnen hatte.250 Durch Boders Stimulus wurde daher, wie auch bereits am Interview von Binder aufgezeigt, ein wichtiger Teil der Vorgeschichte ausgeblendet. Heisler fasste seine Erinnerung an das Ghetto, das er zunächst nicht näher benannte oder beschriebt sehr knapp mit der Beschreibung »da hat man uns sehr mies behandelt« zusammen. Danach wollte er direkt wieder auf das für ihn zentrale Thema Auschwitz zu sprechen kom248 Heisler spricht im Verlauf des Interviews zwar an, dass er in Auschwitz tätowiert wurde, Boder stellt dazu jedoch keinerlei Fragen. Der Forscher schien an der Tätowierung also kein weiteres Interesse zu haben, sondern hatte sie als Gesprächseinstieg thematisiert. In seinem späteren englischen Transkript vermerkte Boder, dass er das Dreieck in Heislers Tattoo mit dem Buchstaben A verwechselt hatte, vgl. Boder, Topical Autobiographies, Bd. 12, S. 2187. 249 Heisler, Boder 1946. 250 Vgl. Randolph L. Braham: The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, Condensed Edition, Detroit 2000, S. 117 ff.
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men. Weiterhin ist auffällig, dass Heisler seine Erzählung von der ersten Person Singular zum Plural veränderte. Aus »[ich] bin deportiert worden« wurde »hat man uns deportiert«. Direkt zu Beginn des Interviews wechselte er also von seiner eigenen Perspektive zu einer Geschichte über die kollektive Verfolgung. Obwohl dies gänzlich im Gegensatz zu Boders Anliegen stand, reagierte der Psychologe nicht wie bei Unikowski mit der expliziten Betonung, dass sein Interviewpartner nur von seinen eigenen Erfahrungen erzählen solle. Vielmehr führte der Interviewer aus: »Ich will diese ganze Geschichte wissen.« Damit betonte Boder im Gegenteil sogar, dass er eine detaillierte Erzählung von Heisler erwarte und sein Interviewpartner die Ereignisse seit Kriegsbeginn rekonstruieren solle. Folglich setzte Boder neu an und fragte zunächst nach der Familie seines Interviewpartners, um chronologisch vor die Zeit des Kriegsausbruchs zurückzukehren. Nachdem Heisler knappe Angaben zu seinen Familienmitgliedern gemacht hatte, nannte er erstmals auch den Namen seiner Heimatstadt. Boder erfragte daraufhin, wie Heisler die Besetzung durch die Deutschen erlebt habe, und Heisler antwortete mit einer metaphorischen Beschreibung: »[E]s ist auf einmal schwarz geworden vor den Juden ihre Augen.« Dadurch drückte er den Schock und die Verzweiflung angesichts des Einmarsches der deutschen Soldaten aus. Heisler beschrieb, wie alle Juden seines Heimatortes verhaftet und anschließend mit Autos in ein Ghetto transportiert wurden. Diese Information greift Boder auf, um weitere Fragen über das Ghetto zu stellen: Boder: Ja. Wo/ wo war das Ghetto? Wie hat man das Ghetto gemacht? Heisler: Das Mukachevo Ghetto. Das waren große Barracken von einer Ziegelfabrik. Dort waren große Barracken von Holz, die voll waren mit Ziegel, die man dort gelagert. Und es war sehr (unverständlich). konnte es nicht aushalten, denn es waren schrecklich viele Menschen. In einer Baracke wohnten dreitausend Mann, da war kein Platz und schrecklich viele Menschen und/ Boder: Männer und Frauen und Kinder alles zusammen? Heisler: Alles zusammen. Die Familien waren/ dort waren noch die Familien zusammen.251 Boder wollte wissen, wo genau sich das Ghetto befand, sein spezifisches Interesse ist der Prozess der Ghettoisierung: »Wie hat man das Ghetto gemacht?« Heisler antwortete, dass er in das »Mukachevo Ghetto« verschleppt worden sei, wo er in einer völlig überfüllten Baracke interniert wurde. Die Stadt Munkács befand sich nur etwa zehn Kilometer von seinem Heimatort entfernt und war der Dreh- und Angelpunkt der Deportationen von Juden aus
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seiner Provinz.252 Auf Boders Nachfrage betonte Heisler, dass Familien dort noch nicht getrennt wurden, doch viele Informationen über seinen dortigen knapp vierwöchigen Aufenthalt erzählte er nicht, obwohl Boder abermals explizit betonte, dass er an allen Details interessiert sei. Heisler wollte hingegen wieder über Auschwitz sprechen und erzählte, dass eines Tages die Ausweispapiere der Bewohner des Ghettos von den Deutschen mittels eines Täuschungsmanövers eingesammelt und anschließend verbrannt wurden. Danach folgte die Deportation: Heisler: Und am andern Tag Morgen hat man nicht gelasst aus die Baracken/ man hat gesehn hineinkommen ein Haufen Wagonen und man hat hineingestopft voll Menschen die Wagonen zu hundert Mann in ein Wagon ohne Essen, ohne Allem und man hat uns transportiert/ wir wurden transportiert, aber wohin, hat niemand gewusst. Wir fahren/ wir fahren zwei Wochen auf dem Zug. Und dann sind wir reingekommen nach Auschwitz. Wir wussten nicht/ Boder: Ja, noch? Heisler: Wir wussten nichts von kein Auschwitz/ (von kein Nichts?) Weil wir haben gesehen die Menschen mit die angezogene Häftlingskleider, aber wir haben nicht gewusst, was das bedeutet. Dann sind wir (gewahr geworden?) die ganzen Geschichten.253 Heislers Schilderung der Deportation war äußerst knapp – von der Angabe über das Verbrennen der Ausweispapiere über das Einrollen der Züge im Ghetto und das »Hineinstopfen« von Menschen bis zur Ankunft in Auschwitz vergehen nur wenige Sekunden in der Aufnahme.254 Besonders deutlich wird an dieser Stelle, wie gering das Wissen von Heisler im Frühjahr 1944 über den Prozess der Deportationen und über die Verfolgung und Ermordung der Juden in ganz Europa gewesen war. Zudem betonte er mit der Verwendung der Pronomen »wir« und »uns« erneut deutlich, dass es sich um eine kollektive Erfahrung handelte und niemand im Zug wusste, was als Nächstes passieren würde. 252 Am 12. April 1944 war auf Initiative von Adolf Eichmann die Ghettoisierung der Juden in der Region beschlossen worden. Am 18. April 1944 verkündeten Plakate in Munkács die Errichtung von drei Gebieten für die Ghettos in der Stadt, vgl. Raz Segal: Munkács, in: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945. Vol. II : Ghettos in German-Occupied Eastern Europe, hg. von Geoffrey P. Megargee und Joseph R. White, Bloomington 2018, S. 355-357. 253 Heisler, Boder 1946. 254 Im absoluten Gegensatz zu Heislers Erzählung, dass einhundert Menschen in einen Wagon gepfercht wurden, lesen sich wiederum die beschönigenden Beschreibungen der ungarischen Täter. In einem Bericht vom 21. Mai 1944 wurden die Deportationen aus Munkács beschrieben als »carried out in a highly ordered fashion, without any interruptions whatsoever«, zitiert nach: Zoltán Vági; László Csősz; Gábor Kádár: The Holocaust in Hungary. Evolution of a genocide, Lanham 2013, S. 108.
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Der Soziologe und Historiker Michael Pollak hat darauf hingewiesen, dass sich die sprachliche Verwendung von Personalpronomen »als sehr genaue Indikatoren für Realitätsbeherrschung und -bewältigung erwiesen [haben]«.255 Die Verwendung des »wir« verweist auf die Identifikation von Heisler mit der Gruppe der Deportierten und drückt deren kollektive Ohnmacht aus. Das fehlende Wissen über den Prozess der Deportation und die ungewisse Zukunft sowie die daraus resultierende Ohnmacht und der erzwungene Kontrollverlust betrafen demnach nicht nur Heisler, sondern alle Personen, die zusammen mit ihm in die Wagons gepfercht wurden. Die Erzählung von Heisler ist nahezu repräsentativ für die Verfolgungserfahrung von Juden in der ungarischen Provinz. Nur wenige Informationen über den Kriegsverlauf, die Judenverfolgung und konkrete Orte des Massenmords waren zu jener Gruppe vorgedrungen. Die Ankunft im K Z Auschwitz war auch deshalb ein Schock, sowohl für die Juden aus der Provinz als auch für jene aus der ungarischen Hauptstadt. Der ungarische Schriftsteller Imre Kertész beschreibt in seinem Roman eines Schicksallosen den Blick aus dem Deportationszug bei der Ankunft im K Z Auschwitz im April 1944 aus der Perspektive eines 15-jährigen jüdischen Jungen aus Budapest namens György Köves. Kertész drückt die völlige Unkenntnis seines Protagonisten über Auschwitz im Roman deutlich aus, und seine Darstellung weist starke Parallelen zu der Erzählung von Heisler auf. Im Roman fragen andere Deportierte, ob der am Fenster stehende Köves ein Ortsschild bei der Einfahrt des Zuges erkennen könne, und dieser antwortet: Das konnte ich, und zwar gleich zwei Wörter, im Frühlicht, an der schmalen, unserer Fahrtrichtung entgegengesetzten Seite des Gebäudes, auf dem obersten Teil der Wand: ›Auschwitz-Birkenau‹ – stand dort, in der spitzen, schnörkeligen Schrift der Deutschen, verbunden durch ihren doppelt gewellten Bindestrich. Aber was mich betrifft, so versuchte ich vergeblich, in meinen Geographie-Kenntnissen nachzuforschen, und auch andere haben sich nicht als kundiger erwiesen.256 Ganz ähnlich wie der ungarische Junge Köves im Roman von Kertész gab auch Adolf Heisler in seinem Interview mit Boder an, dass er und die anderen nicht wussten, wohin sie überhaupt deportiert worden waren. Selbst nach der Ankunft im K Z Auschwitz sei ihnen nicht klar gewesen, an welchem Ort sie sich befanden und was dies zu bedeuten hatte. Heisler führte aus: »Und dann sind wir reingekommen nach Auschwitz. Wir wussten nicht/«257 Boder hakt an dieser Stelle nach, und sein fragendes »Ja, noch« zielt darauf ab, dass Heisler bis 255 Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von K Z -Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit, 2. Auflage, Wien, Münster 2016, S. 155. 256 Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christian Viragh, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 87. 257 Heisler, Boder 1946.
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zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1944 noch nichts über Auschwitz wusste, er dementsprechend aber nun im Sommer 1946 über sein Wissen und seine Erfahrung in Auschwitz erzählen solle. Das fehlende Wissen und die Fassungslosigkeit sind bei Heisler wiederum die des Kollektivs: »Wir wussten nichts von kein Auschwitz.«258 Heisler verwendete in der gesamten Beschreibung das Personalpronomen »wir«, so auch in der Angabe, dass die ersten Personen, die die Deportierten nach ihrer Ankunft in Auschwitz erblickten, Häftlingskleidung trugen, was sie ebenso wenig verstanden wie die naiv sprechende Romanfigur von Kertész: »Ich war ziemlich überrascht, denn schließlich sah ich zum erstenmal in meinem Leben – zumindest aus solcher Nähe – echte Sträflinge, im gestreiften Anzug, mit dem kahlgeschorenen Kopf, der runden Mütze der Straftäter.«259 Die Bedeutung des Konzentrations- und Vernichtungslagers, der besonderen Kleidung und Vorgänge erschloss sich Heisler und den anderen an der Rampe in Birkenau eingefahrenen Juden erst nachträglich. In der Beschreibung der Ankunft in Auschwitz verwendete Heisler erstmals die vage Umschreibung »die ganzen Geschichten« für die Ermordung der Juden. Diese Formulierung ähnelte Boders vorheriger Angabe, dass er »diese ganze Geschichte« hören wolle. Der Psychologe übersetzt wiederum in seiner Transkription aus dem Jahr 1956 diesen Absatz mit »We did not know about Auschwitz, about extermina-…«.260 Ob Heisler wirklich zu der Ergänzung »extermination« ansetzte, wie es Boder verschriftlichte, kann aufgrund der schlechten Qualität der Audioaufnahme nicht abschließend geklärt werden, doch es ist eher unwahrscheinlich. Das Wort »Vernichtung« taucht an keiner einzigen Stelle in Heislers Erzählung auf und scheint daher eher Boders nachträgliche Deutung zu sein.261 Boder war in diesem Abschnitt des Interviews zunächst an ausführlicheren Informationen über den Transport interessiert, bevor es mit der Beschreibung von Auschwitz weitergehen sollte. Daher stellte er noch weitere Detailfragen über die Deportation und die Zustände im Inneren der Wagons: Boder: Okay. Also, wollen wir ein bissl zurückgehen. Man hat Sie auf, eh, hinein gesetzt in die Wagonen. Heisler: Ja. 258 Die falsche deutsche Grammatik ist auf die jiddische doppelte Verneinung zurückzuführen. 259 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 89. 260 Boder, Topical Autobiographies, S. 2192. 261 In der deutschen Transkription des Interviews von Dagmar Platt für Voices of the Holocaust taucht an dieser Stelle des Texts ebenfalls das Fragment »von der Vernich…« für Vernichtung auf. Wie bereits im Satz davor (»Wir wussten nichts von kein Auschwitz«) scheint Heisler erneut die jiddische doppelte Verneinung zu benutzen und betonte mit dem Nachtrag »von kein Nichts«, so die Transkription und Deutung des Autors, lediglich nochmals das fehlende Wissen über die Bedeutung des Ortes.
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Boder: Was für Wagons waren das? Heisler: Das waren die Lastwagonen für die Vieh. Boder: Ja. Heisler: Nicht der Personenwagonen. Und es war sehr gestopft ohne Wasser, man hat kein Wasser nicht zu gegeben, kein Essen war gar nichts, weil von zu Hause hat man doch schon kein Essen mehr [unverständlich], wir waren doch schon vier Wochen in dem Ghetto/ ist alles ausgegangen. Boder: Nun. Und wie viele Personen waren in einem Wagon? Heisler: Waren wir hundert Mann in einem Wagon. Boder: Waren dort Stühle, waren dort Bänke/ Heisler: Nein, nein, das war kein/ die Decken hat man zugenommen, alles hat man zugenommen, gelegen auf die hohle Bretter. Boder: Waren Ihre Mutter und Vater mit Ihnen? Heisler: Ja, dort noch im Wagon auch, aber/ Boder: Und die zwei Brüder? Heisler: Auch, alles waren wir noch zusammen. Nur in Auschwitz/ wie wir sind angekommen, hat man uns [verteilt?] alle.262 Neben genauen Angaben über die Art der Zugwagons und die Menge an Menschen darin wollte Boder ebenfalls wissen, ob es Bänke oder Stühle darin gegeben hätte, was zunächst wie eine völlig deplatzierte Frage wirkt, da Heisler bereits angegeben hatte, dass es sich um völlig überfüllte Viehwagons handelte. Sein Interviewpartner kehrte schließlich wieder zu der Erzählung über die Ankunft in Auschwitz zurück, doch Boder wollte noch weitere, spezifische Informationen von seinem Interviewpartner erfahren und sprach erneut die Deportationen an: Boder: Ah/ Ein Moment/ also hat man Sie reingeschoben in die Wagonen. War dort eine Toilette? Heisler: Nichts, nichts. Boder: So wie hat man das getan, wenn man hat gehen zur, eh, zum, eh, zum WC oder/ Heisler: [unverständlich] wir hatten einige Töpfe, hatten wir. Boder: Ja? Heisler: In die Töpfe Toilette gemacht und dann ausgeschüttet. Boder: Ausgeschüttet wo? Heisler: Hinaus aus dem Wagon.263 Boder wusste bereits aus vielen vorherigen Erzählungen über Deportationen, dass es weder Bänke noch Toiletten im Inneren der entsprechenden Züge gab. Seine spezifischen Fragen können also nicht auf mangelndes Wissen zurückgeführt werden. Vielmehr waren diese Nachfragen gezielt platziert. Der Psycho262 Heisler, Boder 1946. 263 Ebd.
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loge sammelte detaillierte Erzählungen zu bestimmten Themen, die ihm besonders aufschlussreich über den Prozess der Traumatisierung erschienen. Explizit die Zustände im Inneren der Deportationszüge, die durch Enge, Gewalt, Nacktheit und die desaströsen hygienischen Bedingungen geprägt waren, hatten sein Forschungsinteresse geweckt. In dem von Boder nachträglich erstellten Traumatic Inventory wurden unter Punkt sieben, der mit Transportation überschrieben ist, folgende Gründe für eine Dekulturation explizit aufgelistet: »No toilet facilities in locked cars where men, women, and children were locked in together.«264 Die Historikerin Simone Gigliotti hat aufgezeigt, dass diese Episoden als »stories of transport shame«265 klassifiziert werden können und die Zustände während der Deportationen als ein entscheidender Teil der Erfahrungen des Holocaust zu verstehen sind. Im oben zitierten Abschnitt äußerte sich diese Scham auch in Boders Scheu, das Thema der fehlenden Toiletten überhaupt anzusprechen – er setzte mehrfach zu der entsprechenden Frage an. Heisler beschrieb daraufhin das Gedränge im dunklen, geschlossenen Wagon sowie die wenigen Möglichkeiten des Toilettenganges in der Menschenmenge. Seine erneute Angabe, dass die Deportation ganze zwei Wochen gedauert habe, führte bei Boder schließlich zu einer erstaunten Reaktion, die er auch in seiner späteren Transkription vermerkte: Q-n: Nu. And so, how long did the journey last? Heis: Two weeks. Q-n: /with surprise:/ Two weeks? Heis: Yes.266 Boders Staunen führt allerdings nicht dazu, diese unwahrscheinliche Angabe über die Dauer des Transportes anzuzweifeln. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass die Deportation zwei Tage und nicht zwei Wochen gedauert hatte und dass Heisler, dessen Muttersprache nicht Deutsch war, die Wörter Tag und Woche miteinander verwechselt hatte.267 Heislers Angabe einer zweiwöchigen Fahrt bewegte Boder im Anschluss daran, Fragen nach der Verpflegung zu 264 265 266 267
Boder, Catastrophe, S. 47. Gigliotti, Train Journey, S. 145. Boder, Topical Autobiographies, S. 2193. Die Deportationen aus dem Ghetto Munkács nach Auschwitz hatten am 11. Mai 1944 begonnen, und bis zum 23. Mai wurden von dort über 20.000 Juden nach Auschwitz deportiert, vgl. Raz, Muncács, S. 355. In den beiden späteren Interviews von Heisler gibt er an, dass seine Deportation nach Auschwitz zwei Tage und nicht zwei Wochen dauerte, was verdeutlicht, wie wichtig ein quellenkritischer Umgang mit den Aussagen der Interviewten für eine Interpretation ist. Gigliotti wiederum lässt den Quellenwert von Heislers Angabe völlig außer Acht und realisiert, ebenso wenig wie Boder, nicht, dass Heislers Angabe einer zweiwöchigen Fahrt nicht stimmig war, vgl. Gigliotti, Train Journey, S. 150.
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stellen und danach, was man innerhalb dieser langen Zeit im Inneren des Viehwagons getan habe: Boder: Ja, nun. Eh sind sie alle nach eh/ was haben die Menschen den ganzen Tag im Wagon getan? Heisler: Gar nichts. Wir haben uns gesessen/gesetzt und Einer hat gesagt, (das passiert?), und Einer hat gesagt, ›Das wird sein.‹ Wir haben absolut nichts gewusst und wir waren ganz verdreht, wir waren schon abnormal von die ganzen Geschichten, was ist vorgegangen.268 Wieder bestätigte Heisler, dass niemand wusste, wohin die Gruppe deportiert werden würde, und er benutzte erneut die Redewendung »die ganzen Geschichten« als Umschreibung für die unmenschliche Behandlung, die ihn und die Anderen im Zug »abnormal« gemacht hätten. Die Ankunft in Auschwitz sollte Heisler durch Aufforderung von Boder ebenfalls in allen Einzelheiten beschreiben: Boder: Aha. Nun und so sind Sie angekommen wohin? Heisler: In Auschwitz. Boder: Nun erzählen Sie, wie der Zug ist angekommen, was hat denn passiert? Also was hat dort passiert? Heisler: Also wir sind dort angekommen/ [Störgeräusch] Wir sind dort angekommen nach Auschwitz. Es ist gestanden dort ein SS -Sturmführer und der hat ausgewählt die älteren Menschen und die Kinder in eine Seite und die Arbeitsfähigen, die (unverständlich) sehr gut arbeitsfähig haben sie gestellt in die andere Seite. Die Anderen, wohin man hat geführt, hat man niemals nicht gewusst. Nur die andern Tag haben wir gesehen die große Flamme mitm Roch von Krematorium, was man hat sie gewärmt. Und wir sind gegangen in Baracken.269 Die Bedeutung der Auswahl zur Arbeit sei für die Ankommenden erst nachträglich begreifbar geworden, als die Flammen und der von ihm auf Jiddisch benannte Rauch aus einem der Verbrennungsöfen sichtbar wurde. Erst dadurch wurde Heisler bewusst, dass »die Anderen« ermordet und verbrannt worden waren. In diesem Abschnitt ergänzte Heisler aufgrund einer Nachfrage von Boder schließlich eine wichtige Information, die er bis dahin noch nicht erzählt hatte. Er eröffnete Boder, dass sein Vater gar nicht mit der restlichen Familie deportiert worden war: Boder: Also was hat passiert zu Ihrer Familie, wenn sie kommen nach Auschwitz? Heisler: Zu meiner Familie hat passiert das/ dass mein Bruder und ich sind wir gestanden in einer Seite und die Übrigen sind gestanden/ 268 Heisler, Boder 1946. 269 Ebd.
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Boder: Wer waren die Übrigen? Heisler: Die Mutter/ und der Vater war nicht da, weil der Vater hat man damals zugenommen zum äh Dienst, zum militärischen Dienst, noch zu Hause. Boder: Ja. Heisler: Und die Mutter mit dem kleinen Bruder ist ge/ ist geg/ hat man weggenommen in die andere Seite zu/ mit die nicht Arbeitsfähigen.270 Heisler fiel es hörbar schwer, über die Trennung von seiner Mutter und seinem kleinen Bruder an der Rampe in Auschwitz-Birkenau zu reden, er setzte mehrfach dazu an. Boder hingegen wollte mehr über den Verbleib des Vaters von Heisler erfahren: Boder: Also das habe ich nicht gewusst. Ihr Vater ist dann nicht mit/ wo hat man Ihren Vater genommen zum militärischen Dienst. War Ihr Vater mit Ihnen im Ghetto dort? Heisler: Nein. Boder: Nein, also wo war er? War er in der ungarischen Armee? Heisler: Ja/ Boder: In die tschechische Armee? Heisler: Er war in die tschechische Armee und dann hat man eingerufen diese äh festen Menschen, was sind gut arbeitsfähig/ hinauf in/ zu graben/ Schützen zu graben Boder: Ja. Heisler: Und dort hat er geblieben. Und wir sind in Ghetto/ waren in Ghetto. Boder: Aha. Und Sie haben ihn nicht/ er hat Sie nicht gesehen, bevor Sie weggefahren sind. Heisler: Nein. Boder: Ja und Sie haben nichts von ihm gehört. Heisler: Nein.271 Aufgrund der Nachfragen von Boder wird deutlich, dass der Vater von Adolf Heisler gar nicht zusammen mit der Familie verhaftet und deportiert worden war. Heisler benannte einen militärischen Dienst, zu dem sein Vater noch vor der Verschleppung der restlichen Familie eingezogen worden war. Es handelte sich dabei um keinen klassischen Militärdienst, da Juden in Ungarn aus ideologischen Motiven vom Militär ausgeschlossen worden waren. Jüdische und vermeintlich politisch nicht zuverlässige Männer waren seit Mai 1939 vielmehr zu einem militärischen Zwangsarbeitsdienst kommandiert worden.272 Die spe270 Ebd. 271 Ebd. 272 Zur Spezifik des Zwangsarbeitsdienstes für Juden in Ungarn siehe Braham, Genocide, S. 37 ff.
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ziellen Arbeitsbataillone waren der ungarischen Armee unterstellt, und die von Heisler angesprochene Tätigkeit des Aushebens von Schützengräben deutet darauf hin, dass er zumindest eine Ahnung davon hatte, dass es sich um eine besondere Art von Militärdienst handelte.273 Nach dieser Ergänzung über den Verbleib des Vaters kehrte Heisler mit seiner Erzählung nach Auschwitz zurück. Er berichtete, wie er von seiner Mutter und dem jüngsten der beiden Brüder direkt nach der Ankunft in AuschwitzBirkenau getrennt wurde, und gab weiterhin an, dass er im Stammlager von Auschwitz nach drei Tagen ebenfalls von seinem anderen Bruder getrennt wurde. Der Grund dafür war, dass er in das etwa acht Kilometer entfernte Bergwerk Andreasschächte bei Brzeszcze-Jawischowitz transportiert wurde und dort unter Tage körperlich besonders harte Zwangsarbeit leisten musste.274 Die Schilderungen der katastrophalen Lebensbedingungen in der Mine bildeten den Großteil der folgenden Erzählung über das Außenlager von Auschwitz. Boder fragte in diesem Abschnitt mehrmals explizit nach der Behandlung der Zwangsarbeiter – bemerkenswerterweise nicht nach der individuellen Behandlung von Heisler, sondern von allen – woraufhin Heisler betonte, dass alle stark geschlagen wurden: Boder: Wer hat Ihnen gezeigt, wie zu arbeiten? Heisler: Ja, das war überall ein polnischer Zivilist, ein Vorarbeiter. Boder: Ja. Waren die gut zu Ihnen? Heisler: Ja, sie waren noch halbe wie die Deutschen selbst. Boder: Warum? Heisler: Sie haben noch viel ärger behandelt uns wie die Deutschen selbst. Sie haben ein/ gemacht/ Anzeigen gemacht, sie haben geschlagen und es war schrecklich, wie die Polen haben behandelt uns/ Boder: Hm. Heisler: /in die Kohlengrube. Boder: Hm. Heisler: Und sie haben totgeschlagen die Menschen, die Häftlinge. Boder: Hat man nicht einmal probiert zurückzuschlagen? Heisler: Ja, wer hat gehabt Kraft. Wir waren doch ganz abgeplagt alles verhungert von dem Liter Suppe mit zwei hundert Gramm Brot, das wir
273 Weitere Aufgabenbereiche der Zwangsarbeit für das Militär war der Straßenbau, aber auch die lebensgefährliche Räumung von Minenfeldern, vgl. ebd. 274 Zur Zwangsarbeit im Bergbau und dem K Z -Außenlager Jawischowitz vgl. Adrianna Harazim: Bergbau nahe Auschwitz. Der Einsatz von Konzentrationslagerhäftlingen auf oberschlesischen Zechen, in: Zwangsarbeit im Bergwerk. Der Arbeitseinsatz im Kohlenbergbau des Deutschen Reiches und der besetzten Gebiete im Ersten und Zweiten Weltkrieg, hg. von Klaus Tenfelde und Hans-Christoph Seidel, Essen 2005 (Veröffentlichungen des Instituts für Soziale Bewegungen), S. 411-432.
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haben bekommen, und wir haben in der Kohlengrube gearbeitet [unverständlich], kein [unverständlich] mehr zurückzuschlagen.275 Wie Heisler ausführte, ging die unmittelbare Gewalt gegen ihn und die anderen Zwangsarbeiter von polnischen Vorarbeitern aus. Die K Z -Häftlinge aus Auschwitz waren in diesem Außenlager also weniger dem Sadismus der LagerSS als vielmehr der Willkür der polnischen Zivilisten ausgesetzt, denn innerhalb der Zeche herrschte eine strenge Hierarchie, auf deren unterster Stufe die K Z -Häftlinge standen.276 Boders Formulierung der Frage nach Gegenwehr und Widerstand wirkt aus heutiger Sicht erneut sehr ungewöhnlich. Im Gegensatz zu seiner vorherigen nur scheinbar naiven Frage nach Toiletten in den Deportationszügen scheint seine Frage nach Gegenwehr allerdings eher affektiv und nicht methodisch begründet zu sein. Heisler reagierte leicht abwehrend und rechtfertigend, dass die Zwangsarbeiter schlichtweg zu schwach waren, um sich zu wehren. Kurz darauf entwickelte sich aufgrund einer Nachfrage von Boder über die Dauer der Zwangsarbeit in der Kohlengrube ein Dialog, der mit einem derben Witz des Interviewers endet: Boder: Und wie lange waren Sie in Auschwitz? Heisler: Zwei Jahre. Boder: Haben Sie die ganze Zeit in den Kohlengruben gearbeitet? Heisler: Ja. Boder: Als Kohlenarbeiter. Heisler: Ja. Boder: Sind Sie jetzt ein guter Kohlenarbeiter, nicht? Heisler: Ja, ziemlich ein Guter (lacht).277 Boder scheint seine scherzhafte Anmerkung, dass Heisler nach zwei Jahren Zwangsarbeit in der Miene nun ein »guter Kohlenarbeiter« sei, im Affekt getätigt zu haben, denn es ergibt sich daraus kein Erkenntnisgewinn wie etwa aus seinen Fragen nach Toiletten in den Deportationszügen. Heisler war allerdings keineswegs empört, sondern greift den derben Scherz leicht lachend auf. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass Boder unbewusst an den Lagerhumor anknüpfte, der stark durch Selbstironie und Sarkasmus geprägt war.278 In den Ghettos und Lagern war eine der zentralen Funktionen von Humor die 275 Heisler, Boder 1946. 276 Harazim führt aus, dass neben den einheimischen Stammarbeitern auch »dienstverpflichtete Polen« sowie seit Ende 1943 auch »Ostarbeiter« zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Insgesamt mussten 2.296 K Z -Häftlinge im Bergwerk des K Z -Außenlagers Jawischowitz arbeiten, vgl. Harazim, Bergbau, S. 421-426. 277 Heisler, Boder 1946. 278 Zum Sarkasmus und Zynismus der Lagersprache sowie zum Lagerhumor vgl. Nicole Warmbold: Lagersprache. Zur Sprache der Opfer in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau, Buchenwald, Bremen 2008, S. 262 ff.; Steve Lipman: Laughter in Hell. The Use of Humor during the Holocaust, Northvale 1991.
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Verwendung als Abwehrmechanismus im Überlebenskampf.279 Ebenfalls zu beachten ist in diesem Dialog Heislers Angabe der Dauer seines Aufenthaltes im Bergwerk. Er gab an, dass er zwei Jahre in den Kohlegruben gearbeitet hatte, was offensichtlich nicht stimmen konnte, da er im Juni 1944 aus seiner Heimat nach Auschwitz deportiert worden war und die Deutschen den Lagerkomplex samt des Außenlagers Jawischowitz aufgrund der anrückenden Roten Armee am 17. Januar 1945 räumten.280 Heisler arbeitete demnach knapp über ein halbes Jahr in den Kohlegruben, doch es muss ihm aufgrund der extrem harten körperlichen Arbeit sehr viel länger vorgekommen sein. Boder bemerkte diesen Widerspruch in der zeitlichen Angabe allerdings nicht und fuhr mit dem Interview fort. Anschließend erzählte Heisler noch ausführlicher von der Unterbringung der Zwangsarbeiter, der völlig mangelhaften Verpflegung und dem Alltag zwischen Mine und Baracke bis zum Ende des Jahres 1944. Er gab an, dass das Bergwerk im Dezember 1944 geräumt wurde und die Häftlinge aus Auschwitz zurück zum Stammlager getrieben wurden. Die anschließende Auflösung des K Z Auschwitz beschrieb er als ein absolutes Chaos. Die erinnerte Unordnung übertrug sich auch auf seine Erzählung, die bruchstückhaft wurde. Heisler hatte damit begonnen, vom Todesmarsch Richtung Westen durch den Schnee zu sprechen, und Boder bat ihn darum, nicht so schnell zu sprechen: Boder: Langsam, ja? Heisler: Und wir waren nicht gut angezogen und wir haben aber gemusst sehr schnell gehen, weil sie haben Angst gehabt vor die Russen, dass die Russen werden uns erwischen. Boder: Nun? Heisler: Und wir haben gewusst wir haben/ Boder: Warum haben sie nicht gewollt die Russen sollen die Häftlinge zu nehmen? Heisler: Warum? Weils/ warum sollen sie [unverständlich], sie haben doch Angst gehabt, weil/ das wir dann das erzählen die ganze Geschichten, und zwar, dass die ganze Welt weiß, dass wir [unverständlich] die ganze Geschichten […].281 Boder fragte nach dem Sinn des Gewaltmarsches und warum die Deutschen nicht wollten, dass die Gefangenen in die Hände der Russen fallen sollten. Heisler gab als Grund die Angst der Deutschen an, und seine folgende Erklärung ist besonders aufschlussreich. Da ihm kein passender Begriff für die Verbrechen der Nazis zur Verfügung stand, verwendet er wieder die allgemeine 279 Vgl. Chaya Ostrower: Es hielt uns am Leben. Humor im Holocaust, Wiesbaden 2018, S. 43-82. 280 Vgl. Harazim, Bergbau, S. 424. 281 Heisler, Boder 1946.
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Umschreibung »die ganze Geschichten« und führte aus, dass er sich selbst und die anderen Überlebenden von Auschwitz als Augenzeugen und lebende Beweise begriff. Heisler reflektierte demnach über die Rolle und universelle Aufgabe als Zeuge der NS -Verbrechen: Aufgrund der Erfahrungen derjenigen, die am Leben geblieben waren, sei es möglich, »die ganze Welt« darüber aufzuklären. Nach dieser aufschlussreichen Interpretation sprach Heisler über seine Ankunft im K Z Buchenwald, wo er am 22. Januar 1945 als Neuzugang registriert wurde.282 Kurz nach seiner Ankunft in Buchenwald wurde er direkt zu einem Arbeitskommando weitertransportiert: Boder: Wieder von Buchenwald? Heisler: Von Buchenwald, in Deutschland war das/ das war in Thüringen. Boder: Ja. Heisler: Crawinkel. Boder: Hm. Heisler: Und wir sind angekommen in ein Lager. Also das war noch viel ärger wie die Kohlengruben. Boder: Ja? Heisler: Das war ein Lager in (unverständlich) und dort waren Magazine von Munition und im Keller haben wir gewohnt unter die Erde in Bunkern. In ein Wald. Boder: Nun? Heisler: Und dort war das/ das Behandeln noch viel ärger wie überall.283 Heisler führte aus, dass er zu einem unterirdischen Lager in Crawinkel transportiert wurde, das voller Munition war. und er unter der Erde im Wald leben musste. Bei dem Lager, das Heisler als Bunker beschreibt, handelte es sich um die Munitionsanstalt Crawinkel, die unter dem Codenamen Olga zum »Sondervorhaben SIII « gehörte.284 In diesem Außenlager von Buchenwald mussten Zwangsarbeiter in einem Stollen, ähnlich dem des K Z Mittelbau-Dora, Waffen und Munition herstellen.285 Der Aufenthalt in dieser unterirdischen Waffenfabrik sei neben der extrem harten Arbeit besonders wegen der fehlenden Hygiene unerträglich gewesen, wie er eindringlich beschrieb: »[D]ie Läuse haben uns aufge282 Vgl. Listenmaterial Buchenwald, Neuzugänge vom 22. Januar 1945 von K L Auschwitz 1.1.5.1 / 5285631/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 283 Heisler, Boder 1946. 284 Vgl. Wolf Cramer: Kreis Gotha, in: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Thüringen, hg. von Ursula KrauseSchmitt und Heinz Koch, Frankfurt am Main 2003, S. 82-107, hier S. 96 ff. 285 Auf der Deportationsliste vom 26. Januar 1945 von Buchenwald zum Außenlager Ohrdruf, auf der auch Heislers Name vermerkt ist, wurde demnach »Transport SIII « vermerkt, vgl. Listenmaterial Buchenwald / Überstellungen zum Kdo. Ohrdruf 1.1.5.1 / 5320488/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
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gessen im Ganzen.«286 Heisler erkrankte aufgrund des Befalls mit Läusen zwei Wochen vor seiner Befreiung, und die Erzählung dieser letzten zwei Wochen ist mit immerhin sechs Minuten der insgesamt 38-minütigen Aufnahme vergleichsweise ausführlich und wirft einige Fragen auf, weshalb eine Feinanalyse dieser Episode des Interviews sinnvoll erscheint. Heisler sprach zunächst darüber, dass er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr arbeiten musste, sondern von einem Arzt auf die Krankenstation verlegt worden war: Heisler: Und hat er [der Arzt, Anm. DS]/ hat er mich dann geschont, weil ich war doch noch jung/ ich war damals siebzehn Jahre alt und hat er mich gegeben ins Spital/ das/ in Revier. Dort war ich acht Tage. Da hat man mich geschickt dann auf ein Transport, was man soll schicken auf, hm, Krematorium. Boder: Wo waren die Krematorien denn? Heisler: Dort war in neben/ acht Kilometer weiter von dort war auch ein Lager, ein großes Lager/ Ohrdruf. Und dort haben sie gehabt auch ein Krematorium hergerichtet.287 Heisler gab an, dass er nach acht Tagen auf einen erneuten Transport geschickt werden sollte, der seine Ermordung vorsah, was er durch den Begriff des Krematoriums umschrieb. Das Krankenrevier befand sich zu diesem Zeitpunkt im sogenannten Nordlager, am Rande der Stadt Ohrdruf, die Heisler auch namentlich benannte.288 Auf Boders Frage nach dem genauen Ort der Krematorien antwortete Heisler mit der Angabe, dass es in Ohrdruf ein großes Lager gegeben hätte, wo auch »ein Krematorium hergerichtet« worden sei. Boder schien weder den Ablauf der Ereignisse noch die Zusammenhänge zu verstehen. Das Wort Krematorium assoziierte er – vermutlich aufgrund der bereits gehörten Erzählungen über Auschwitz – sofort mit Gaskammern, und so fragte er danach: Boder: Haben sie dort die Leute vergast? Heisler: Nein, sie haben sie nur getötet, ausge/ es waren alles so Halbtote. Haben sie sie totgeschlagen mit Gewehr oder was sonst und eh/ aber das war unser Glück, dass die Amerikaner sind schon/ Boder: Also wo waren Sie, wenn die Amerikaner sind gekommen? Heisler: Wir waren da in diesem/ in diesem Lager, wo man hat uns weggeführt zum [unverständlich], zum Vergasen. Und wir/ Boder: Was heißt das Lager? Welches Lager war das? Heisler: Das war in Ohrdruf. Nachdem/ Wie ich krank war, hat man doch mich weggeführt von da. Boder: Wohin?289 286 287 288 289
Heisler, Boder 1946. Ebd. Vgl. Cramer, Gotha, S. 98. Heisler, Boder 1946.
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Der Interviewer scheint der Geschichte überhaupt nicht mehr folgen zu können, und so ist der Dialog zwischen Boder und Heisler wieder durch diverse Missverständnisse gekennzeichnet. Boders Frage nach der Ermordung durch Giftgas verneinte Heisler und führte aus, dass die völlig erschöpften und kranken Zwangsarbeiter, die er als »Halbtote« benannte, mit Gewehren und anderen Werkzeugen erschlagen wurden. Obwohl Heisler Boders Frage nach der Ermordung durch Giftgas bereits verneint hatte, verwendete er anschließend selbst die Formulierung »zum Vergasen«, was in diesem Dialog allerdings eher als eine Verwechslung des Wortes zu begreifen ist – Heisler versuchte dem Interviewer in seinem brüchigen Deutsch verständlich zu machen, dass er in Ohrdruf beinahe ermordet worden wäre. Heisler beschrieb, wie er aufgrund der anrückenden amerikanischen Soldaten nur knapp der Ermordung entgangen war, und rekurrierte damit auf ein besonders dramatisches Erlebnis in seiner Erinnerung. Doch Boder schien diesen Zusammenhang und Heislers Geschichte überhaupt nicht zu verstehen, was sich in seiner erneuten Frage nach dem Ort des Geschehens widerspiegelte: »Welches Lager war das?« Sein Interviewpartner wiederholte daher erneut, dass er von Crawinkel in das acht Kilometer entfernte Lager nach Ohrdruf transportiert worden war: Heisler: Acht Kilometer weiter war da ein Lager, wo die Leute sollen/ war ein Krematorium. Die Leute waren/ die dort hinkamen, waren viele krank, weil/ es war schrecklich dort. Boder: Ja. Heisler: Die hat man getötet und verbrannt. Boder: Nun? Heisler: Und wie wir sind gekommen schon, das war schon der letzte Transport. Sie haben nicht mehr Zeit gehabt, dass/ dafür. Sie waren schon mit sich selbst zu tun, weil die Amerikaner haben sich schon genähert dazu. Boder: Ja. Heisler: Und [unverständlich] gelegen wieder acht Tage. Und es hat geheißen, dass wir bleiben werden/ ob man wird das Lager schießen/ die ganzen Leute werden aufschießen oder man wird explodieren das Lager, oder was immer. Boder: Hm. Heisler: Und zum Glück hat man uns genommen/ man hat uns, eh, transportiert nach Buchenwald von dort. Boder: Zurück nach Buchenwald?290 Heisler betonte abermals seine Angst, in Ohrdruf ermordet und verbrannt zu werden. Mit seiner Formulierung »es hat geheißen« machte er zudem deutlich, 290 Ebd.
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dass in den letzten acht Tagen, die er in Ohrdruf verbrachte, zahlreiche Gerüchte über ein finales Massaker an den Gefangenen kursierten. Der Interviewte thematisierte die Befürchtung, dass alle erschossen oder das Lager gesprengt werde könnte – in den Erzählungen von Unikowski über die Endphase des K Z Buchenwald waren diese Gerüchte ebenfalls zentrales Thema gewesen. Anschließend beschrieb Heisler den Umstand, dass er weder in Ohrdruf ermordet noch auf einen kräftezehrenden Fußmarsch zurück nach Buchenwald gezwungen wurde, und wechselte plötzlich zurück in die erste Person Singular: Heisler: Es war aber ein besonderes Glück mit mir, dass/ ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war, die ganze Geschichte, weil die/ alle hat man transportiert mit die Wagon/ mit zu Fuß/ Boder: Ja. Heisler: Und ich habe mir gesagt, es waren dort nur kranke Menschen, ›Ich gehe nicht mehr zu Fuß, sollen sie mich hier töten‹.291 Heisler konnte selbst nicht begreifen, warum ausgerechnet er nicht getötet worden war, und gab an, dass er eigentlich gar nicht mehr an sein Überleben geglaubt hatte. Doch zu seiner Verwunderung wurde er zusammen mit einigen anderen Kranken mit einem Bus zurück zum K Z Buchenwald transportiert. Dieses scheinbar unverhoffte individuelle Glück, dessen Grund er nicht verstehen konnte, beruhte auf einem Befehl von Heinrich Himmler an die SS : In seiner Funktion als Reichsführer SS hatte Himmler befohlen, die in Deutschland verbliebenen Juden auf »Evakuierungsmärschen« in Richtung des K Z Theresienstadt zu treiben.292 Um sie dort als lebendigen Faustpfand für Verhandlungen mit den Alliierten benutzen zu können, hatte die NS -Führung paradoxerweise ein Interesse daran, die noch lebenden Juden zu schützen, was sich für den völlig geschwächten Heisler in dem unverhofft rettenden Bustransport niederschlug. Mit den Vorbereitungen für die Räumung von Ohrdruf war seit dem 2. April 1945 begonnen worden, um die Gefangenen auf einen Fußmarsch nach Buchenwald zu schicken. Schwache, Kranke sowie Häftlinge, die als »Politische« und »Kriminelle« klassifiziert worden waren, wurden von der SS größtenteils auf dem Appellplatz erschossen und anschließend notdürftig verbrannt.293 An dieser Stelle erschließt sich auch, was Heisler mit seiner Formulierung meinte, dass in Ohrdruf ein »Krematorium hergerichtet« worden war: Der Befragte rekurrierte auf die von der SS improvisierte Verbrennung von etlichen Leichen in offenem Feuer auf dem Appellplatz. Als die Soldaten der 3. US -Armee das verlassene Zwangsarbeitslager am 5. April 1945 erreichten, 291 Heisler, Boder 1946. 292 Vgl. Katrin Greiser: Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen 2008, S. 55 ff. 293 Vgl. Cramer, Gotha, S. 98.
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stießen sie nur noch auf verkohlte menschliche Überreste.294 Die Masse der Leichen, die General Patton in Ohrdruf entdeckte, war schließlich auch einer der entscheidenden Gründe für den Aufruf von General Eisenhower im Frühjahr 1945 an amerikanische Journalisten gewesen, dem Boder laut eigener Angabe mit seinem Interviewprojekt gefolgt war.295 Mit Adolf Heisler saß also einer der wenigen Überlebenden aus Ohrdruf vor dem Mikrofon des Forschers. Doch in der chaotischen Interviewsituation scheint Boder diesen Zusammenhang nicht hergestellt zu haben. Anschließend berichtete Heisler von seiner Rückkehr zum K Z Buchenwald ,und seine Darstellung enthält ein wichtiges Detail: Er sei nach seiner Ankunft in Buchenwald »in Quarantäne gekommen«. Als Quarantänelager fungierte in Buchenwald ein mit Stacheldraht abgetrennter Bereich am nördlichen Rand des K Z s, und demnach befand sich Heisler kurz vor der Befreiung, genau wie Izrael Unikowski, im Kleinen Lager. Ab diesem Zeitpunkt ähneln sich die Geschichten der beiden Gefangenen auch sehr deutlich. Heisler berichtete ebenso wie bereits Unikowski von den zahlreichen Todesmärschen aus Buchenwald und von weiteren Gerüchten über eine Sprengung des Lagers durch die SS . Boder stellte auch hier Fragen, die auf seinen Versuch einer Rekonstruktion der Ereignisse hinweisen, besonders jene vom Tag der Befreiung am 11. April 1945. Wieder wollte Boder ganz exakt wissen, wann die SS -Wachmannschaften das Lager verlassen hatten. Daraufhin erzählte auch Heisler das bereits von Unikowski thematisierte Gerücht über einen Anruf in Buchenwald aus Weimar mit dem Befehl zur Sprengung des Lagers: Heisler: Am Mittwoch hat man gehört eine große Schießerei und um zehn haben wir gehört den Feindalarm, der kam an, weil da kam ein amerikanischer Tank. Sie sind zurückgefahren und um elf Uhr haben wir gehört die Flieger. Und um halb vier sind wir befreit worden von die Amerikaner, das waren die ersten Amerikaner. Die ganzen Deutschen haben verlassen das ganze Lager. Boder: Und wann haben die Deutschen das Lager verlassen? Heisler: Sie haben es verlassen um ein Uhr Nachmittag. Boder: Und was haben sie gesagt? Heisler: Nichts, man hat nur gesehen von die/ laufen sie weg [unverständlich]. Es war so. Wir haben nachher be/ gewusst/ gehört, dass der von Weimar, hat der Lagerkommandant, eh, telefoniert, dass man soll sprengen die Lager – eine Stunde nach die Befreiung. Er hat noch nicht gewusst damals, dass das Lager ist befreit worden. Es war um halb fünf. Hat ihm der Lagerälteste – das war ein Häftling – geantwortet: ›Ja, ja, das man 294 Vgl. Blatman, Todesmärsche, S. 236 ff. 295 Wie im ersten Kapitel erläutert, waren der Anblick der zahlreichen Leichen und die Atrocity Pictures aus Ohrdruf, Buchenwald und Dachau einer der entscheidenden Gründe für die veränderte Interpretation der K Z s durch die Amerikaner gewesen.
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wird zersprengen die Köpfe.‹ Also, wenn wir eine Stunde sind wir noch nicht befreit und alle, eh, hätten sie gesprengt das Lager. Boder: Was hat er ihm geantwortet? Heisler: Dass, eh, dass er telefonieren könnt zum Herrgott und nicht zu uns hier.296 Heisler beschrieb die Situation der Befreiung im Gegensatz zu Unikowski nicht als eine kollektive bewaffnete Selbstbefreiung, sondern als ein Warten im Kleinen Lager auf amerikanische Soldaten und Panzer. In Heislers Version der Geschichte über das vermeintliche Telefongespräch des Lagerkommandanten mit dem Befehl zur Sprengung von Buchenwald wird nochmals deutlich, wie wirkmächtig Gerüchte im Lager auch nach der Befreiung waren. Heisler gab zuerst an, dass er von dem Anruf gewusst hätte, korrigierte sich dann aber selbst, dass er nur davon gehört habe. Diese Geschichte vom Hörensagen schien sich nach der Befreiung im gesamten Lager herumgesprochen zu haben ,und es überrascht nicht, dass Unikowski und Heisler, die beide im Kleinen Lager interniert waren, sie sehr ähnlich erzählten. Nachdem Heisler von der Befreiung berichtet hatte, berichtete er noch äußerst knapp davon, wie er in die Schweiz gelangt war: Boder: Nach der Befreiung haben Sie Flecktyphus bekommen? Heisler: Ja. Boder: Ja. Heisler: Und dort bin ich gelegen vier Wochen krank. Und dann habe ich gehört von dem Transport in die Schweiz und hab’ ich mich auch gemeldet dafür zu fahren in die Schweiz.297 Dieser Transport stellt eine weitere Gemeinsamkeit der beiden in Buchenwald befreiten Jugendlichen dar. Heisler hatte sich, wie auch Unikowski, freiwillig für einen der Hilfstransporte gemeldet.298 Auf einer Liste vom August 1945 ist sein Name unter der Gruppierung der »Buchenwaldkinder«, die in die Schweiz transportiert worden waren, notiert, allerdings mit dem Geburtsdatum des 18. Mai 1928.299 Demnach hatte sich auch Heisler ein Jahr jünger gemacht, um an der Hilfsaktion teilnehmen zu können. Aufgrund dieser Vorgeschichte hatte er zu Beginn des Interviews mit Boder angegeben, dass er erst 18 und nicht bereits 19 Jahre alt sei. Nach seinen knappen Ausführungen über den Transport in die Schweiz endete das Interview schlagartig. Die Drahtspule war nach 296 Heisler, Boder 1946. 297 Ebd. 298 Im Juni 1945 hatte es verschiedene Hilfstransporte für die in Buchenwald befreiten Kinder und Jugendlichen gegeben, einer davon führte in die Schweiz, vgl. Madeleine Lerf: Buchenwaldkinder – eine Schweizer Hilfsaktion. Humanitäres Engagement, politisches Kalkül und individuelle Erfahrung, Zürich 2010. 299 Vgl. Erfassung von befreiten ehemaligen Verfolgten an unterschiedlichen Orten, 3.1.1.3 / 78776727/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen.
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knapp 38 Minuten Aufzeichnung zu Ende, und der Interviewer begann mit Heisler keine neue, da er an diesem Tag noch zwei weitere junge Männer befragen wollte – Gert Silberbard und Abraham Kimmelmann. Boder hielt demnach vorerst an seiner veränderten Methodik fest, möglichst viele kürzere Erzählungen aufzuzeichnen, weshalb weitere Informationen über Heislers Geschichte nicht aufgezeichnet worden sind. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das Interview mit Adolf Heisler als Ausdruck fundamentaler Kommunikationsprobleme verstanden werden kann. Noch viel stärker als im vorangegangenen Interview von Boder mit Janina Binder scheint der Psychologe die erinnerten Erfahrungen seines Gegenübers schlichtweg kaum begreifen zu können. Paradoxerweise schien Boder, der knapp einen Monat zuvor mit seiner Interviewsammlung begonnen hatte und zu diesem Zeitpunkt bereits fast 70 Interviews geführt hatte, die ihm geschilderten Erlebnisse nicht besser, sondern immer schlechter zu verstehen. Der Forscher reagierte auf dieses Phänomen mit einer veränderten Interviewmethode in der Befragung von Heisler. Durch die Praxis der Aufzeichnung mehrerer kurzer Erzählungen wollte Boder sein Sample vergrößern, um mehr Vergleichspunkte zu sammeln. Wie der Forscher in seinem Interview mit Kimmelmann am selben Tag ausdrückte, wollte er durch die Sammlung vieler Erzählungen »das ganze Bild, ein Mosaik zusammenstellen«.300 Die spezifischen Nachfragen des Interviewers, die zunächst naiv oder provokativ wirkten, konnten durch Boders Forscherperspektive erklärt werden. Der Psychologe hatte ein gesteigertes Interesse an bestimmten Geschichten, wie etwa über die Deportationen und die damit verbundenen fehlenden hygienischen Einrichtungen. Diese beispielhaften Erzählungen sammelte er als Material für die spätere Analyse der Auswirkungen dieser Zustände auf die Psyche der Befragten. Hinzu kam, dass Boder im Interview mit Heisler bereits gehörte Informationen, etwa über den Ablauf der Ereignisse der Befreiung des K Z Buchenwald, überprüfte. Zwar ermahnte der Interviewer Heisler eingangs, dass er seine »ganze Geschichte« wissen wolle, jedoch bestand er im Gegensatz zum Interview mit Unikowski nicht mehr darauf, dass sein Gegenüber nur über eigene Erfahrungen berichtete. Dies hatte zur Folge, dass die gesamte Erzählung von Heisler durch eine Verbindung von Erinnerungen an individuell Erlebtes, Geschichten vom Hörensagen und generellen Informationen über die kollektive Verfolgung der Juden geprägt war. Heisler verknüpfte die Darstellung seiner eigenen Erfahrungen mit der Geschichte der Juden aus seiner Heimat in Transkarpatien, die 1944 vom Prozess der Ghettoisierung und Deportation überwältigt worden waren. Noch im April 1944 wussten er und seine Leidensgenossen kaum etwas über die kollektive Verfolgung und Ermordung der Juden in ganz Europa. Der Name Auschwitz hatte für ihn bis zu seiner Ankunft im Lager keinerlei Bedeutung, und noch in der Situation des Interviews im Jahr 1946 300 Boder, Die Toten, S. 127.
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hatte der Befragte diverse Schwierigkeiten, das Erlebte zu begreifen oder gar zu kommunizieren.
»Wir wurden selbstverständlich stark geschlagen« (Gert Silberbard) Im direkten Anschluss an die Aufnahme von Adolf Heisler führte Boder am Dienstag, dem 27. August 1946, ein Interview mit dem 17-jährigen aus Deutschland stammenden Juden Gert Silberbard.301 Der junge Mann war ebenfalls einer der jugendlichen Buchenwald-Überlebenden, die eine Ausbildung an der ORT-Schule in Genf absolvierten und lebte im städtischen Kinderheim Hôme de la Forêt (vgl. Abb. 2). Das knapp 50-minütige Interview wurde auf Deutsch geführt und enthielt, ganz im Gegensatz zu der vorangegangenen Erzählung von Heilser, ausführliche biographische Angaben zu Silberbards Jugend vor dem Krieg. Geboren wurde Gert Silberbard am 30. August 1928 in Berlin. Er wuchs in einer säkular jüdischen Familie auf, die neben seinen Eltern aus einer jüngeren Schwester und einem jüngeren Bruder bestand, der allerdings bereits 1938 an Diphtherie verstorben war. Sein Vater besaß ein Bekleidungsgeschäft in Berlin, die Familie gehörte zur oberen Mittelschicht. Den Beginn der Audioaufnahme bildete Silberbards Erzählung über das Novemberpogrom im Jahr 1938 in Berlin und den darauffolgenden erzwungenen Verkauf des Geschäfts seines Vaters. Danach gab es einen zeitlichen Sprung in seiner Erzählung zur Deportation der Familie nach Auschwitz im Februar 1943, woraufhin Silberbard aufgrund einer Nachfrage von Boder nach der Zeit von 1938 bis 1943 weitere biographische Details über sein Leben in Berlin, die Schließung seines jüdischen Gymnasiums im Jahr 1941 und seine anschließende kurze Anstellung in einer Apotheke ergänzte. Nachdem der Interviewte über die Zwangsarbeit seines Vaters in Berlin berichtet hatte, erzählte er über seine eigene Zwangsarbeit im K Z Auschwitz ab 1943. Dort musste er zunächst in den Buna-Werken in Monowitz (Auschwitz III ) und danach im Außenlager Bobrek für Siemens arbeiten. Seine Berichte aus dem Lagerkomplex in Auschwitz, hauptsächlich die Beschreibungen der harten Arbeit, nahmen etwa die Hälfte der gesamten Aufzeichnung ein. Silberbard gab weiterhin an, im Januar 1945 auf einen Todesmarsch nach Buchenwald gezwungen 301 Das Interview mit Silberbard ist eines derjenigen, die Boder nicht transkribiert hatte. Zur Audioaufnahme und der Transkription von Stefan Meuser vgl. David P. Boder Interviews Gert Silberbart, August 27, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https:// voices.library.iit.edu/interview/silberbartG; letzter Zugriff am 04.08.2021. Der Nachname wurde von Meuser dort fälschlich als »Silberbart« angegeben. Boder selbst hatte den Nachnamen in der Audioaufzeichnung zunächst unkorrekt als »Silverberg« ausgesprochen. Der Geburtsname ist allerdings Gert Silberbard. Die folgenden Zitate des Interviews basieren auf einer vom Autor auf Grundlage des Audios überarbeiteten Version des Transkripts von Meuser. Im Folgenden: Silberbard, Boder 1946.
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Abb. 2: Gert Silberbard (vordere Reihe sitzend links) zusammen mit anderen »Buchenwaldkindern« im Schweizer Kinderheim Hôme de la Forêt (1945/1946). Boder interviewte Silberbard am 27. August 1946 in Genf. Fotograf unbekannt.
worden zu sein, und erzählte vom anschließenden Zugtransport und seiner Ankunft im Lager. Die Schilderung der chaotischen Zustände im Kleinen Lager und seiner Verlegung in das Hauptlager von Buchenwald endeten mit Angaben über sein Versteck in der Kanalisation als Überlebensstrategie. Das Interview beinhaltet zudem Angaben über seine Nachkriegsgeschichte, seinen Transport in die Schweiz und seine Zukunftsplanungen. Die Erzählung von Silberbard ist insgesamt durch einen auffällig nüchternen Tonfall des Befragten gekennzeichnet. Nahezu emotionslos beschrieb der 17-jährige jüdische Deutsche seine Gewalterfahrungen in den K Z s in Auschwitz und Buchenwald und verwendete dabei mehrfach Begriffe der Täter, um Praktiken, wie Bestrafungen oder Ermordungen, zu beschreiben. Diese Darstellung führte im Verlauf des Interviews zu aufschlussreichen Streitgesprächen zwischen Silberbard und Boder, da der Interviewer nicht verstehen konnte, warum sein Interviewpartner die extreme Gewalt durchgehend als »selbstverständlich« bezeichnete und in seiner deutenden Darstellung damit normalisierte. Wie Silberbards Sprachgebrauch deutlich macht, war die Interpretation seiner Lagererfahrung im Interview mit Boder ein Jahr nach seiner Befreiung in Buchenwald demnach noch immer stark von der Logik des K Z s geprägt, die der Interviewer nicht nachvollziehen konnte und in Frage stellte.
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Eine erste Besonderheit des Interviews mit Silberbard wird gleich zu Beginn der Audioaufzeichnung deutlich. Das Gespräch begann nach technischen Instruktionen von Boder mit einer leichten Abwandlung des üblichen Stimulus: Boder: Also, Gert, sagen Sie uns nochmal, was ist Ihr voller Name, wie alt sind/ Silberbard: Gert Silberbard. Boder: Ja. Silberbard: Gert Silberbard und ich werde in dieser Woche 18 Jahre alt. Boder: Sie werden in dieser Woche 18 Jahre alt. Also erzählen Sie, Gert, wann hat es angefangen Ihnen schlecht zu gehen? Denn in Deutschland ist es ja auch bevor dem Kriege schlecht gegangen.302 Bereits vor Beginn der Aufzeichnung hatte sich Boder mit Silberbard unterhalten, und daher fordert der Interviewer sein Gegenüber nach dem Einschalten seines Rekorders dazu auf, nochmals seinen Namen und sein Alter zu nennen. Bei den bisherigen Interviews war aufgefallen, dass die Einstiegsfrage des Psychologen nach den Erlebnissen seiner Interviewpartner seit Kriegsbeginn beziehungsweise dem Einmarsch der Deutschen zentrale historische Kontexte und Erfahrungen ausgeblendet hatte. Dies lag auch daran, dass der Einmarsch der Wehrmacht im sowjetisch besetzten Teil von Polen wie bei Binder oder auf ungarischem Staatsgebiet wie bei Heisler zu völlig unterschiedlichen Zeiten begonnen hatte. Bei seinem Interviewpartner aus Deutschland reflektierte Boder hingegen, dass es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen hatte »schlecht zu gehen«, wie er sich ausdrückte. Silberbard griff Boders Frage zu Beginn des Interviews sofort auf und lieferte einen eloquenten Bericht: Silberbard: Ja, ja, selbstverständlich, aber bis zu dem Jahre 1938, bis zu der Erschießung dieses Raths in Frank/ in Frankreich haben wir noch nicht so viel von diesem ganzen Hitler-Regime gespürt. Selbstverständlich etwas, aber es war nicht so viel. Und als dann dieser Pogrom begann am 8. November, war ich/ da wurden die ganzen jüdischen Geschäfte und Fabriken geschlossen, die Juden mussten die/ ihre Judensterne tragen. Und das fiel natürlich sofort auf und die Hitlerjugend und diese ganzen/ einfach Nazis, die machten sich das zunutze und es kam nicht selten vor, dass wir angepöbelt wurden auf der Straße.303 Der junge Mann gab an, dass das Leben in Deutschland noch bis 1938 erträglich gewesen sei, dass aber dieses Jahr einen entscheidenden Einschnitt bedeutet habe. Er sprach allerdings nicht nur über sich selbst, sondern in der ersten beziehungsweise dritten Person Plural über ein Kollektiv, das seine Familie 302 Silberbard, Boder 1946. 303 Ebd.
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beziehungsweise die Juden in Deutschland als Gesamtheit bezeichnete. Silberbard benannte zuerst ein Pogrom, dessen Beginn er auf den 8. November datierte. Damit wird deutlich, dass weder die Begriffe Reichspogromnacht oder Kristallnacht noch die Fixierung auf den 9. November 1938 zum Zeitpunkt des Interviews als Narrativ etabliert waren. Das von ihm angesprochene Attentat des in Paris lebenden polnischen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath schilderte er wiederum in der Logik der Nazis als Auslöser für die nachfolgenden Pogrome.304 Direkt danach kam Silberbard auf die Einführung des sogenannten Judensterns zu sprechen, der ihn zur Zielscheibe der Hitlerjugend machte.305 Silberbard zählte folglich eine Reihe von Ereignissen und antisemitischen Maßnahmen der Diskriminierung und Verfolgung auf, die seine Lebenssituation und die der Juden in Deutschland extrem verschlechterten, wobei er keine strikt chronologischen Angaben machte. Boder interessierte sich besonders für das erwähnte Pogrom und hakte, nachdem er mehr Informationen über Silberbards Familie erfragt hatte, nochmals nach: Boder: Ja. Also, eh, man hat da, eh, Sie sagen, die Pogrome haben angefangen/ Silberbard: Ja. Boder: Was für Pogrome waren die, können Sie die beschreiben, wenn Sie sich erinnern? Silberbard: Ja, ich kann sie Ihnen im Großen und Ganzen beschreiben/ Boder: Doch be/ eh, beschreiben Sie sie im Kleinen und im Detail [lacht], nicht wahr? Silberbard: Gut.306 Die Aufforderung des Psychologen, das Novemberpogrom »im Kleinen und im Detail« zu beschreiben, verdeutlicht wieder Boders Forscherspektive, die auf der detaillierten Erzählung eigener Erfahrungen basieren sollte. Boder erklärte dies seinem Gegenüber allerdings nicht, sondern reagiert – lachend – auf Silberbards Angabe, die Ereignisse »im Großen und Ganzen«, also allgemein, zu beschreiben. Wieder wird der Konflikt der Perspektiven deutlich, der auch bereits die Interviews von Unikowski und Heisler geprägt hatte.
304 Zur Bedeutung des Attentats für die Verfolgung der Juden in Deutschland vgl. Karl Jonca: Die Radikalisierung des Antisemitismus: Der Fall Herschel Grynszpan und die »Reichskristallnacht«, in: Deutschland zwischen Krieg und Frieden. Beiträge zur Politik und Kultur im 20. Jahrhundert, hg. von Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1991, S. 43-55. 305 Der gelbe Stern wurde 1941 auf Anordnung von Goebbels im Deutschen Reich verpflichtend eingeführt, vgl. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Band 2: Die Jahre der Vernichtung 1939-1945, München 2006, S. 279 ff. 306 Silberbard, Boder 1946.
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Silberbard schilderte anschließend knapp seine Erinnerung an beschmierte und eingeworfene Fensterscheiben und den folgenden Verlust des väterlichen Geschäfts. Er verweilte jedoch nicht lange im Jahr 1938. Boders Frage, was mit seiner Familie passiert sei, nachdem der Vater sein Geschäft verkaufen musste, hatte einen großen zeitlichen Sprung in der Erzählung zur Folge: Boder: Ja, und dann, was hat der Familie passiert? Silberbard: Dann wurden wir alle nach Auschwitz, im Februar dreiundvierzig, wurden wir alle nach Auschwitz deportiert.307 Der Interviewer bemerkte die zeitliche Lücke von 1938 zum Jahr 1943 in der Erzählung von Silberbard zunächst nicht und erfragte weitere Details über die Verhaftung und Deportation der Familie. Daraufhin berichtete Silberbard, dass er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert worden sei: Boder: Nun, wie, wurde die ganze Familie nach Auschwitz geschickt? Silberbard: Ja, wir kamen/ bis Auschwitz waren wir noch zusammen. Boder: Ja. Silberbard: Dort wurden wir alle/ wurden wir getrennt. Meine Mutter, mein Vater und meine kleine Schwester [Störgeräusch] wanderten, was ich annehme, sofort in die Gaskammer, während es mir als Jüngstem vergönnt war/ da ich arbeiten/ da ich arbeitsfähig war/ unter den Lebenden zu bleiben.308 Silberbard benutzte für die Beschreibung des Grundes für sein Überleben während der Auswahl an der Rampe in Auschwitz-Birkenau den im Lager üblichen Begriff »arbeitsfähig«, der über Leben und Tod entschied. Der Begriff der NS Täter diente demnach als kausale Angabe, um sein Überleben zu erklären. Auf Boders Nachfrage ergänzte er, dass seine gesamte Familie zuvor in der Nacht vom 7. auf den 8. März 1943 in Berlin von der Gestapo verhaftet und in ein Sammellager in der Stadt verschleppt worden war: Boder: Ja, und ist die ganze Familie zusammen gewesen? Silberbard: Dort sind wir noch zusammen gewesen. Boder: Männer und Frauen und Kinder zusammen? Silberbard: Ja. Boder: Ja. Silberbard: Ja, die ganzen Familien wurden noch nicht getrennt.309 Ein Abgleich mit der aktenkundigen Überlieferung der Deportation von Silberbards Familienangehörigen offenbart allerdings Widersprüche in diesen Angaben. Im Sinne der von Reinhart Koselleck als »Vetorecht der Quellen« 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ebd.
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bezeichneten quellenkritischen Überprüfung von Silberbards Aussagen lässt sich aufzeigen, dass sich die Verhaftung und Deportation anders vollzogen hatte, als von Silberbard angegeben worden war. In den überlieferten Quellen der NS -Täter steht verzeichnet, dass Gert Silberbard im Zuge der von den Nazis als »Großaktion Juden«310 bezeichneten Verhaftungswelle vermutlich am 3. März 1943311 zusammen mit seiner kleinen Schwester sowie seiner Mutter verhaftet und am 6. März aus Berlin mit dem 35. Osttransport nach Auschwitz deportiert wurde.312 Sein Vater Erich Silberbard wurde hingegen erst eineinhalb Jahre später, am 6. September 1944, ebenfalls aus Berlin nach Auschwitz deportiert.313 Gert Silberbards Erzählung im Interview mit Boder suggeriert jedoch eindeutig, dass sein Vater zusammen mit der restlichen Familie verhaftet und deportiert wurde. Auf eine Nachfrage von Boder zum Verbleib des Vaters reagierte Silberbard auffällig vage. So enthält ein späterer Dialog, in dem Silberbard die »Selektion« in Birkenau erneut schilderte, folgende Interaktion: Boder: Also, Sie meinen, Sie haben auch sofort Ihren Vater verlor/ nicht mehr gesehen? Silberbard: Nein, ich habe kein Mitglied meiner Familie mehr gesehen.314 Mit dem heutigen Wissensstand, dass Gert Silberbard nicht zusammen mit seinem Vater nach Auschwitz deportiert worden war, wird deutlich, dass der Befragte einer eindeutigen Antwort auf Boders Frage auswich. Er gab an, »kein Mitglied seiner Familie« mehr wiedergesehen zu haben, und redete nicht explizit über seinen Vater. Als er danach ergänzte, dass er 14 Jahre alt war, als er 1943 in Auschwitz eintraf, realisierte Boder schließlich die eklatante zeitliche Lücke in der Erzählung: Boder: Na, warten Sie mal. Sie sagen die Schwierigkeiten haben angefangen in achtunddreißig? Silberbard: Ja. Boder: Wo waren Sie von achtunddreißig bis dreiundvierzig? 310 Über die Verhaftungswelle der noch in Berlin verbliebenen Juden, die nach 1945 als »Fabrik-Aktion« bezeichnet wurde, vgl. Wolf Gruner: Widerstand in der Rosenstraße. Die Fabrik-Aktion und die Verfolgung der »Mischehen« 1943, Frankfurt am Main 2005, S. 59-70. 311 Dieses Datum gab Silberbard kurz nach seiner Befreiung in Buchenwald in einem amerikanischen Fragebogen vom 22. Mai 1945 an, vgl. Individuelle Unterlagen Buchenwald, 1.1.5.3 / 7111541/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 312 In der Transportliste vom 06.03.1943 sind die Namen von Gert Silberbard, seiner Mutter Manci und seine Schwester Ruth verzeichnet, vgl. Transportlisten Gestapo, 1.2.1.1 / 11193829/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 313 Eintrag zu Silberbard Erich, in: Bundesarchiv Koblenz (Hg.): Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945, Koblenz 2006, S. 3212. 314 Silberbard, Boder 1946.
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Silberbard: Von achtunddreißig bis dreiundvierzig befand ich mich noch in Berlin, ich besuchte bis zum Jahre einundvierzig die Schulen, die dann zwangsläufig geschlossen wurden. Boder: Ja. Und was hat Ihr Vater getan during dieser/ durch diese Zeit? Silberbard: Mein Vater konnte während dieser Zeit überhaupt nicht arbeiten, ist dann später zwangsläufig in eine Fabrik geschickt worden. Boder: Ja. Silberbard: Wo er dann arbeiten musste bis zu seiner Evakuierung. Boder: Also wenn er in der Fabrik arbeitete, ist er jeden Tag nach Hause gekommen? Silberbard: Ja.315 Die wiederholte Nachfrage von Boder nach der Verhaftung und Deportation der Familie Silberbard sowie die erneute Frage nach dem Verbleib des Vaters wirken misstrauisch, eventuell ahnte der Interviewer, dass Gert Silberbards Geschichte an dieser Stelle nicht stimmig war. Besonders auffällig ist hier, dass Silberbard in der Antwort von »seiner Evakuierung« sprach, also von der Deportation seines Vaters und nicht jener der gesamten Familie. Weitere Details gab Silberbard allerdings nicht preis, sondern fuhr mit der Beschreibung seiner Zeit in Auschwitz fort. Eine Erklärung für die Darstellungsweise über die Geschichte seines Vaters bleibt im Interview mit Boder an dieser Stelle voerst offen.316 Die folgenden Erzählungen sind geprägt durch Silberbards Angaben über seine Einführung in die alltäglichen Abläufe des Konzentrationslagers nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Die entmenschlichenden Praxen des Haarescherens am gesamten Körper und der Einkleidung in die gestreifte Häftlingsuniform beschrieb der Interviewte in sachlichem Ton und auffallend neutral als scheinbar völlig normale Vorgänge. Nachdem er von seiner anschließenden Überführung in das K Z Monowitz berichtet hatte, wo er seine erste Nacht in einer Baracke verbrachte, gab Silberbard Auskunft darüber, dass ihm und den anderen Häftlingen die Lagerordnung mit martialischer Gewalt vermittelt wurde: Silberbard: Wir schliefen dann bis morgens um fünf, morgens um fünf bekamen wir erst ein wenig Kaffee, ein Stück Brot, und mussten uns dann vor den Block stellen, wo uns dieses Strammstehen und diese ganzen Schritte/ dieser Marschschritt beigebracht wurden unter vielen Schlägen/ Boder: /In welcher Weise?/
315 Ebd. 316 In Kapitel II .2 werden die widersprüchlichen Angaben über seinen Vater im Vergleich mit den späteren Erzählungen von Silberbard/Silver wieder aufgegriffen und deutend erklärt.
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Silberbard: /Unter vielen Schlägen. Wir mussten uns in Fünferreihen aufstellen, was noch ziemlich gut ging, dann wurde rechts- und linksum geübt, dann marschieren, was zu Anfang nicht ganz so gut klappte, uns dann aber eben durch Kolbenschläge besser beigebracht wurde.317 Als Boder seinem Interviewpartner ins Wort fiel, um zu erfragen, auf welche Weise ihm das Marschieren beigebracht wurde, wiederholte Silberbard zuerst seine Angabe, dass dies »unter vielen Schlägen« geschehen sei, und gab danach an, dass er und die anderen mit Gewehrkolben geschlagen wurden. Die auffällig emotionslose Darstellung der brachialen Gewalt, die laut Silberbard dem Erlernen der sozialen Normen im Lager diente, ist bemerkenswert und drückte sich nicht nur in der Wortwahl, sondern ebenfalls in der monotonen Stimme von Silberbard in der Audioaufzeichnung aus. Der 17-Jährige schien vollständig verinnerlicht zu haben, dass die Anwendung von extremer Gewalt im Lager der »Erziehung« der Insassen galt, und er stellte dies wiederum als etwas völlig Normales dar. Als Neuankömmling musste er in der Konfrontation mit dem brutalen Alltag im K Z diese Logik der Gewalt schließlich auch übernehmen, um zu überleben.318 Wie Kertész ausgeführt hat, war der Alltag im K Z zwar von etlichen kaum begreifbaren Widersprüchen geprägt, aber gerade die Sinnlosigkeit der Gewalt musste internalisiert werden, um zu überleben.319 Dass Silberbard die brutalen Schläge der SS auch anderthalb Jahre nach seiner Befreiung noch immer als etwas Natürliches und Logisches darstellte, zeigt, wie stark die alltägliche Gewalt des Lagers nachwirkte. Der Blick auf einen Erinnerungsbericht der Pädagogin Charlotte Weber verdeutlicht, dass dies keineswegs ein Einzelfall war. Weber, die auf dem Schweizer Zugerberg überlebende Kinder und Jugendliche aus Buchenwald betreute – darunter auch den von Boder interviewten Adolf Heisler –, beschreibt in ihrem autobiographischen Bericht, dass sich die Gewalt der Lager massiv auf die Psyche der Jugendlichen ausgewirkt hatte. Nach den Jahren der Lagerhaft seien sie zwar nicht, wie sie es erwartet hatte, komplett moralisch verwahrlost: Erschreckend wirkt sich jedoch die SS -Disziplin aus. Der Stacheldrahtempfang in der Schweiz machte den Jungen deutlich, dass sie die Freiheit, die sie zuletzt in Deutschland hatten, hier nicht antreffen. Sogleich fallen sie in das Sklavenverhalten der vergangenen Jahre zurück. Wie können wir ihnen helfen sich davon zu befreien? 317 Silberbard, Boder 1946. 318 Suderland hat die Disziplinierung in den Lagern als moderne Form der Gewalt klassifiziert, der die Häftlinge permanent ausgesetzt waren, vgl. Maja Suderland: Ein Extremfall des Sozialen. Die Häftlingsgesellschaft in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Frankfurt am Main 2009, S. 146-177. 319 Vgl. Imre Kertész: Rede über das Jahrhundert, in: Ders., Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. Essays, Aus dem Ungar. von György Buda, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 14-40, hier S. 22.
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Wohl sieht es im Sinne der offiziellen Vorschriften nett aus, wenn die Jungen gruppenweise in Zweierreihen zum Essen, Waschen usw. gehen. Selbst als wir sagen, sie brauchten das nicht zu tun, laufen sie nicht etwa voller Freude durcheinander. Die Reihen bleiben bestehen, bis einer der Jungen ruft: ›Hört, wir sollen nicht in Zweierreihen gehen!‹ Auch das ist für sie ein Befehl, dem sie instinktiv Folge leisten. Die aufgelöste Ordnung ist vorerst noch nicht Ausdruck der Freiheit im eigenen Verhalten, das sie sich nur zögernd zu eigen machen.320 Das von der Pädagogin Weber beschriebene »Sklavenverhalten« der Jungen äußere sich in der strikten Orientierung an Befehlen, denen die ehemaligen K Z -Häftlinge »instinktiv Folge leisten« würden. Dies war ihnen jedoch nicht angeboren, wie es der Begriff des Instinktes suggeriert, sondern durch die von Silberbard beschriebenen Schläge »beigebracht« worden. Dieses Verhalten durch viel Fürsorge wieder abzulegen, war die schwierige Aufgabe der Erzieherin, die retrospektiv schilderte, dass es das Ziel im Kinderheim für die Jungen aus Buchenwald war, »die rein freundschaftliche Beziehung zwischen Mensch und Mensch«321 wiederherzustellen. Mit diesem Ziel benannte Weber exakt jenen Aspekt, den Boder in der späteren Auswertung seiner DP-Interviews mit dem Begriff der Dekulturation zu begreifen versuchte: [D]eculturation of personality manifests itself not in the physical submission but in the intellectual and affective acceptance of the materially and ethically deculturated mode of existence. The problems of diagnosis of deculturation and the technique of reculturation of personality stand far beyond their purely theoretical significance in a world which counts about twelve million displaced persons.322 Boder führte in seinem Artikel von 1954 aus, dass die Dekulturation der Persönlichkeit durch die geistige Akzeptanz einer dekulturierten Umwelt zustande komme, also exakt jenen Prozess, der in der Erzählung von Silberbard deutlich wird. Das K Z ist nach Boder als eine Umwelt zu begreifen, deren soziale Ordnung durch extreme Gewalt hergestellt wurde, und mit seinem Begriff der Dekulturation folgte daraus eine regelrechte Zerstörung der Persönlichkeit. Das praktische Ziel, diesem Prozess entgegenzuwirken, das die Pädagogin Weber als die Wiederherstellung eines menschlichen Miteinanders benannte, bezeichnete Boder in seinem Artikel als Re-kulturation der Persönlichkeit. Allerdings ist hier auf die verschiedenen Zeitebenen der Jahre 1954 und 1946 zu reflektieren.
320 Charlotte Weber: Gegen den Strom der Finsternis. Als Betreuerin in Schweizer Flüchtlingsheimen 1942-1945, Zürich 1994, S. 202. 321 Ebd. 322 Boder, Catastrophe, S. 35, H. i.O.
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Während des Interviews mit Silberbard im August 1946 ging Boder auf den Aspekt der nachträglichen Legitimation der Gewalt in der sprachlichen Darstellung seines Interviewpartners zunächst gar nicht weiter ein. Dies lag insbesondere daran, dass die Aufnahme in Minute 13 direkt nach Silberbards Erzählung über die extreme Gewalt aufgrund einer Essenspause unterbrochen wurde. Erst nach dieser Unterbrechung kam Boder wieder auf diese Erzählung zurück und fasste das Vorangegangene lapidar zusammen: Boder: Ja nun? Eh, essen Sie? Silberbard: Ja. Boder: Bisschen zu essen? [Pause] Boder: Also vor dem Essen sind wir ja dabei geblieben, wie Sie uns erzählt haben, dass man Ihnen beigebracht hat, wie zu marschieren. Nun gehen Sie mal weiter.323 Boder kennzeichnete das Ausschalten des Rekorders und die Pause nicht verbal in seiner Aufnahme. Da er kein Transkript des Interviews angefertigt hatte, gibt es auch keinen nachträglichen schriftlichen Kommentar von ihm zu dieser Stelle. Aufgrund seiner mündlichen Anmerkung »vor dem Essen« und durch die Veränderung der Lautstärke in der Audioaufnahme erschließt sich aber, dass der Rekorder zwischenzeitlich pausiert worden war.324 Auch nach dieser Unterbrechung der Aufnahme ging Boder nicht auf die von Silberbard beschriebene Logik der Gewalt im Lager ein, sondern reproduzierte sie stattdessen mit seiner Angabe, dass Silberbard zuletzt erzählt habe, wie ihm das Marschieren beigebracht worden war. Anschließend forderte der Interviewer sein Gegenüber auf, mit seiner Erzählung über Auschwitz fortzufahren. Daraufhin erzählte Silberbard zunächst von der Zwangsarbeit, die er in den Buna-Werken für die I.G. Farben leisten musste. Er gab an, dass er jeden Tag 50 Kilo schwere Zementsäcke schleppen musste.325 Aufgrund der harten körperlichen Arbeit war der damals 14-Jährige erkrankt und musste in den Krankenbau verlegt werden. Danach wurde er in verschiedene andere Arbeitskommandos eingeteilt. In seiner Erzählung über die Zwangsarbeit in Auschwitz verwendete er erneut normalisierende Adverbien wie »natürlich« oder »selbstverständlich«, wenn er die ständige körperliche 323 Silberbard, Boder 1946. 324 Es lässt sich allerdings nicht rekonstruieren, wie lange die Unterbrechung der Aufnahme dauerte. 325 Anhand dieser Information erschließt sich, dass er dem sogenannten Zementkommando zugeteilt wurde, eines der schlimmsten Arbeitskommandos in Auschwitz III , vgl. Thomas Schmaltz: Auschwitz III -Monowitz Main Camp, in: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos, 1933-1945. Volume I: Early Camps, Youth Camps, Concentration Camps and Subcamps under the SS -Business Administration Main Office (W V H A ), hg. von Geoffrey P. Megargee, Bloomington 2009, S. 215-220, hier S. 217.
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Gewalt thematisierte. Aufgrund der mehrfachen Wiederholung dieser Wörter fiel dem Interviewer diese sprachliche Besonderheit schließlich auf, und er thematisierte sie: Boder: Und wie ist es während der Arbeit gegangen, war die Behandlung mehr oder weniger gut? Silberbard: Die Behandlung/ wir wurden selbstverständlich stark geschlagen aber das ist eben/ [unverständlich, gleichzeitig] Boder: /Warum ist das so selbstverständlich? Silberbard: Das ist selbstverständlich, glaub’ in/ Ich glaub’, dass das eben von Büchern und Vorträgen und Filmen genug bekannt ist, dass ich das gar nicht mehr erwähnen brauch. Denn die Schläge waren einfach etwas, was zu/ was zum Konzentrationslager gehört, genauso wie zu einem Büro ne Schreibmaschine gehört.326 Wieder wird deutlich, dass die Gewalt für Silberbard zum festen Bestandteil des Alltags im Lager gehörte, diese erschien ihm auch im Nachhinein als »selbstverständlich« – ein Wort, das er im gesamten Interview ganze 14-mal benutzte. Silberbard schien in seiner Erzählung keinerlei emotionalen Zugriff auf seine Erinnerungen zuzulassen, sondern distanzierte sich von seiner eigenen Geschichte durch die gewählte neutrale und nüchterne sprachliche Darstellung.327 Auf Boders Nachfrage erklärte Silberbard, dass die Schläge zentrales Merkmal der Lager waren, so wie eben eine Schreibmaschine zu einem Büro gehört. Diese eindrucksvolle Metapher, die er in seiner freien Rede benutzte, erinnert an die spätere Analyse des Nationalsozialismus durch den österreichischen Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry, der die Folter in seinem Essay Die Tortur im Jahr 1965 als die Essenz des NS beschrieb.328 Und ebenso drängt sich erneut der Vergleich zu einem Dialog in Kertész’ Roman eines Schicksallosen auf. Kertész beschreibt gegen Ende des Buches, wie sein Protagonist Köves 1945 vom befreiten K Z Buchenwald nach Budapest zurückkehrt und in der Straßenbahn von einem Reporter befragt wird. Köves bringt diesen Journalisten in Verlegenheit, da er ganz offen ausspricht, dass er nicht Freude über seine Befreiung und Heimkehr, sondern vielmehr tiefen Hass in sich spüre. Das Schweigen des Reporters wird schließlich durch die Nachfrage nach den Erlebnissen in den K Z s durchbrochen, deren Gewalttätigkeit der junge Köves wiederum als »natürlich« beschreibt: Er schwieg wieder, dieses mal etwas länger, und fragte dann: »Hast du viel Schreckliches durchmachen müssen?«, und ich sagte, es käme darauf an, was 326 Silberbard, Boder 1946. 327 Dieses distanzierende Sprechen findet sich häufig in Darstellungen von Überlebenden der K Z s, vgl. Warmbold, Lagersprache, S. 259-261. 328 Vgl. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1997, S. 50.
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er unter schrecklich verstehe. Bestimmt, sagte er da, mit einem etwas unbehaglichen Ausdruck im Gesicht, hätte ich viel entbehren, hungern müssen, und wahrscheinlich sei ich auch geschlagen worden, und ich sagte: »Natürlich.« »Lieber Junge«, rief er da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor, »warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei den Dingen, die es überhaupt nicht sind!« Ich sagte, im Konzentrationslager sei so etwas natürlich. »Ja, ja«, sagte er, »dort schon, aber…«, und hier stockte, zögerte er ein bißchen, »aber…ich meine, das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!«, endlich hatte er gewissermaßen das richtige Wort erwischt, und ich erwiderte dann auch nicht darauf, denn ich begann allmählich einzusehen: über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen.329 Wie die Literaturwissenschaftlerin Margit Frölich herausgearbeitet hat, findet die Anpassung an die inhumane Realitätsperspektive der Peiniger gerade durch das beschriebene Streben nach Selbsterhaltung Ausdruck in Kertész’ Roman.330 Sein Text stellt die »Geschichte eines Persönlichkeitsverlustes«331 dar, und ebenso wie in der Rede der Romanfigur Köves drückt sich in den Aussagen von Silberbard im Interview mit Boder eine Anpassung an das K Z Auschwitz aus. Die alltägliche Gewalt im Lager war durch die kolbenschwingenden SS -Männer normalisiert worden. In der Logik des K Z s waren die Schläge daher völlig natürlich, oder in Silberbards eindringlichem Wort: selbstverständlich. Silberbard betonte zudem, dass er davon ausgehe, dass die Gewalt in den K Z s bereits aus »Büchern und Vorträgen und Filmen« bekannt sei. In seiner Perspektive gab es demnach im Sommer 1946 bereits ein breites öffentliches Wissen über die Lager.332 Er begriff sich keineswegs als einer der ersten Zeugen, die völlig Unbekanntes zu berichten hatten, sondern gab zu verstehen, dass grundlegendes Wissen über die Zustände in den K Z s ein Jahr nach Kriegsende bereits in großer Zahl vorhanden sei. Die kaum überbrückbaren Erfahrungsdifferenzen zwischen Silberbard und seinem Interviewer machten Boder allerdings im gewissem Sinne tatsächlich zu einem »Fremden, Ahnungslosen«, wie Köves diejenigen bezeichnete, die nicht in den Lagern gewesen waren. Etliche Details aus dem Alltag der K Z s waren 329 Kertész, Roman eines Schicksallosen, S. 270-271. 330 Vgl. Margit Frölich: Jenseits der Tatsachen und Erinnerungen. Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen als literarisches Zeugnis des Holocaust, in: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, hg. von Michael Elm und Gottfried Kößler, Frankfurt am Main 2007, S. 230-245, hier S. 239 ff. 331 Imre Kertész: Galeerentagebuch. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 24-25. 332 Innerhalb der DP-Camps gingen viele der Überlebende davon aus, dass die Öffentlichkeit bereits grundlegend über die K Z s und die Leidensgeschichten informiert waren, vgl. Rosen, Voices, S. 61.
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dem Interviewer völlig fremd, und die Möglichkeit des hörenden Begreifens war dementsprechend begrenzt. Auf die eindrücklichen Aussagen seines Gegenübers reagierte Boder folglich nicht, sondern stellte Silberbard eine Folgefrage, welche die Akteure, von denen die Gewalt ausgegangen war, thematisierte: Boder: Wer haben Sie meistens geschlagen? Silberbard: Die Kapos sowie auch die SS -Männer. Boder: Wie? Wer waren die Kapos? Beschreiben Sie die bitte.333 Der Interviewer wich Silberbards vorherigen Angaben scheinbar aus und wendete sich mit diesen Fragen den Tätern zu und fragte weiter: »Was ist der, eh, die Herkunft des Wortes Kapo? Warum haben die Deutschen das gebraucht?«334 Der Psychologe offenbarte mit dieser Frage, dass er an der etymologischen Herkunft des Begriffes Kapo interessiert war und zu verstehen suchte, welche Bedeutung diese Gruppe innerhalb der Lager hatte. Silberbard gab jedoch an, die Herkunft nicht zu kennen: »Das weiß kein Mensch.«335 Der Dialog über den von Silberbard eingebrachten Begriff des Kapos motivierte Boder schließlich zu einer expliziten Nachfrage nach einem weiteren Begriff aus dem Vokabular der Lager, den der Interviewer zuvor bereits mehrfach gehört hatte: Boder: Sagen Sie, haben Sie das Wort Muselmann gehört? Silberbard: Selbstverständlich! Als Muselmänner wurden die bezeichnet, die da eben durch/ durch schwere Arbeit stark abgemagert, stark abgemagert waren und geschwächt und bei dem/ diese Muselmänner, das waren die/ das einfach nach Beendigung der Arbeit alle durchs Tor ins Lager einmarschieren mussten, sich ausziehen und sich vor dem Lagerarzt einer nach dem andern kamen. Dieser Lagerarzt entschied dann auch wieder durch ein Wink seiner Hand rechts oder links. Links die wanderten in den Gasofen, rechts sie blieben weiter bei ihrer Arbeit.336 Boder zeigte großes Interesse am Alltag und an der sozialen Ordnung des Lagersystems, explizit auch an den Häftlingskategorien und den Wortschöpfungen aus den K Z s – die mehrfachen Fragen nach bestimmten Begriffen lassen vermuten, dass er sich bewusst war, dass dort eine spezifische Lagersprache entstanden war.337 Durch die wiederholte Beschreibung bestimmter Begriffe wie jenem des Muselmannes versuchte der Interviewer, mehr Wissen über bestimmte Phänomene zu erlangen. Er leistete damit auch einen Ansatz für eine
333 334 335 336 337
Silberbard, Boder 1946. Ebd. Ebd. Ebd. Zum Begriff des Muselmannes und dessen Bedeutung in der Lagersprache vgl. Warmbold, Lagersprache, S. 281-284.
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frühe Forschung über die Sprache und Sozialstruktur der Lager.338 Silberbards Antwort auf Boders Frage, ob er das Wort Muselmann kenne, enthielt erneut das charakteristische »selbstverständlich«. Allerdings hatte sein Interviewpartner zunächst Schwierigkeiten, den ihm aus Auschwitz bekannten Begriff eindeutig zu beschreiben. Silberbard kennzeichnte Muselmänner als Unterernährte und von der Arbeit Geschwächte, die durch den Lagerarzt für den Tod bestimmt wurden. Seine Angabe, dass sie »in den Gasofen« gewandert seien, also eine sprachliche Kombination von Gaskammern und Verbrennungsöfen, wollte Boder wiederum genauer beschrieben haben: Boder: Ja, was heißt das, sie wanderten in den Gasofen? Silberbard: Sie wurden alle sofort gesammelt von der SS / Boder: Ja. Silberbard: Selbstverständlich gab es großes Geschrei, denn die Leute wussten alle, wohin sie kamen. Es war einem/ es war nicht das erste Mal, dass solche Selektionen vorkamen. Sie kamen dann auf einen Block, alle zusammen unter starker SS -Bewachung, und dann meistens am darauf folgenden Tag sofort in Wagen verladen nach Birkenau und in die Gaskammern.339 Silberbard gab in seiner Antwort eine eindrückliche Beschreibung des Massenmords an den geschwächten Zwangsarbeitern. Er stellte klar, dass die von ihm benannten »Selektionen« eine Aussonderung der geschwächten Personen, die er zuvor als Muselmänner beschrieben hatte, bedeuteten. Anschließend erklärte er die Sammeltransporte zum Stammlager, wo jene Personen in AuschwitzBirkenau mittels Giftgas ermordet wurden. Zudem gab Silberbard ein vitales Bild dieses Prozesses, der keineswegs still ablief, sondern unter dem Geschrei der Opfer, die von ihrer bevorstehenden Ermordung wussten: Boder: Sie sagen, es war großes Geschrei. Silberbard: Selbstverständlich haben die Menschen geschrien und gebetet. Ich mein’, ein Mensch, der weiß, dass er in zwei Stunden, drei Stunden vergast wird, der ist nicht mehr menschlich, der ist verzweifelt, nicht? Boder: Nun, hat das Bitten mal geholfen? Silberbard: Sicher hat das nicht geholfen. Das/ davon/ das wussten die Leute auch, aber in dem Moment, wo man so weit ist, da vermag man
338 Ausführlich zur Bedeutung der Kategorie Muselmann innerhalb der Häftlingsgesellschaften vgl. Michael Becker, Dennis Bock: Muselmänner and Prisoner Societies. Toward a Sociohistorical Understanding, in: The Journal of Holocaust Research 34, 2020, S. 158-174.; Dies: »Muselmänner« und Häftlingsgesellschaften. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, in: Archiv für Sozialgeschichte 55, 2015, S. 133-175. 339 Silberbard, Boder 1946.
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einfach nicht mehr, logisch zu denken, nicht? Man ist nicht mehr Herr seiner selbst.340 Die Beschreibung, dass die Muselmänner »nicht mehr menschlich« waren, nutzte Silberbard, um zu erklären, warum die Selektierten um ihr Leben geschrien hatten: Sie taten es aus lauter Verzweiflung angesichts der bevorstehenden Ermordung in der Gaskammer. Dies kann auch als frühe Gegenerzählung zum Begriff des »Nicht-Mensch«341 verstanden werden, der sich in der späteren Literatur als Metapher für Muselmänner etablieren sollte und diese zu stummen Objekten degradierte.342 In der Antwort von Silberbard auf Boders Frage, ob es denn Fälle gegeben hätte, bei denen »das Bitten« geholfen habe, wird abermals deutlich, dass der Interviewte die Logik des Lagers 1946 noch immer verinnerlicht hatte. Die monoton emotionslose Erzählung wird an dieser Stelle von einem Gefühlsausbruch des Interviewten durchbrochen. In schnippischem Tonfall antwortet er, dass das Schreien der Opfer nicht geholfen habe gegen die bevorstehende Ermordung. Die schreienden Personen seien laut Silberbard nicht mehr fähig gewesen, »logisch zu denken«. In der Gegenrationalität von Auschwitz erschien Widerstand als völlig irrational – es gab kein Entkommen vor der sinnlosen Ermordung.343 Nach diesem Exkurs von Silberbard über die Bedeutung der Muselmänner, der auch auf dem Wissen von Dritten und allgemeinen Geschichten basierte, wollte Boder anschließend wieder zu den persönlichen Erfahrungen seines Gegenübers zurückkehren und thematisierte daher seine Augenzeugenschaft: Boder: Haben Sie das selbst gesehen und gehört? Silberbard: Ich habe es selbst gesehen und gehört. Boder: Wie kam es, dass Sie durchgekommen sind? Silberbard: Ich war eben/ Ich war eben einfach noch stark genug, um arbeiten zu können. Boder: Aha. Nun, also, wie lange hat das gedauert in Auschwitz? Silberbard: Dort lebte ich bis Ende vierundvierzig, bis gegen September.344 Die Direktheit von Boders Frage nach den Gründen für das Überleben von Silberbard überrascht aus heutiger Perspektive. Angesichts der Millionen an Ermordeten führte das eigene Überleben oftmals in ein moralisches Dilem340 Ebd. 341 Den Begriff des »Nicht-Mensch« benutzt etwa Agamben als Beschreibung für die Muselmänner, vgl. Agamben, Auschwitz, S. 47. Zu einer umfassenden Kritik an dieser Konzeption von Agamben vgl. Trezise, Witnessing, S. 135-141. 342 Vgl. Becker, Bock, Muselmänner, S. 145. 343 Siehe dazu den von Dan Diner geprägten Begriff der Gegenrationalität, vgl. Thomas Sandkühler: Aporetische Erinnerung und historisches Erzählen, in: Holocaust: die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, hg. von Hanno Loewy, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 144-159, hier S. 151 ff. 344 Silberbard, Boder 1946.
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ma.345 Auf Silberbard hingegen schien Boders Frage nicht ungewöhnlich oder unpassend zu wirken, und so antwortete er gewohnt sachlich und gefasst. Zudem gab der Befragte im Verlauf des weiteren Gesprächs an, dass er Ende 1944 in das Außenlager Bobrek verlegt wurde und in den dortigen Siemens-Schuckertwerken Zwangsarbeit unter Bedingungen verrichtete, die für ihn vergleichsweise erträglicher waren. Aufgrund der anrückenden Roten Armee musste Silberbard im Januar 1945 in einem Gewaltmarsch über 50 Kilometer wieder zurück in das Stammlager Auschwitz zurückkehren. In seiner anschließenden Erzählung über den Fußmarsch aus dem Stammlager zur deutschen Grenze fällt wieder Silberbards beschönigende Sprache auf, als er über die Erschießung von Gefangenen spricht. Boder wusste zu diesem Zeitpunkt bereits über die Ermordung von geschwächten Häftlingen während dieser Märsche Bescheid und fragte daher explizit nach der Behandlung der Marschierenden: Boder: Und, eh, was wurde mit den Häftlingen getan, die nicht mitkonnten? Silberbard: Die Häftlinge, die nicht mitkonnten, die liefen einfach aus der Reihe und bekamen den Gnadenschuss und blieben liegen und wurden dann später von einem Auto, das alle Leichen aufsammelte, mit aufgelesen und ins Krematorium gebracht. Boder: Einen Gnadenschuss? Nun? Silberbard: Ja, man kann das Gnadenschuss nennen.346 Silberbards Beschreibung der brutalen Ermordung von völlig erschöpften Häftlingen durch die SS wirkt fast liebevoll: Die Schwachen seien demnach »einfach aus der Reihe« gelaufen und wurden dann von ihrem Leid erlöst, wie es der Begriff des Gnadenschusses suggeriert. Boder wiederholte daraufhin den Begriff »Gnadenschuss« noch einmal sehr langsam und fragend. Er ist hörbar überrascht angesichts des von Silberbard vermittelten Eindrucks, dass es das Anliegen der SS bei den Hinrichtungen gewesen sei, den entsprechenden Personen weiteres Leid zu ersparen. Doch Silberbard verteidigte seine Wortwahl und blieb bei seiner Interpretation der Erlösung durch den Tod. Dieses Ver-
345 Die autobiographischen Reflexionen von berühmten Überlebenden wie Primo Levi verdeutlichen dies. Im Essay »Die Scham« setzt sich Levi explizit mit den Problemen des eigenen Überlebens auseinander, vgl. Levi, Untergegangenen, S. 71-90. Ab den 1960er Jahren wurde dieses Phänomen in der Psychologie unter dem Begriff der »Überlebensschuld« diskutiert, vgl. Ruth Leys: Die »Überlebensschuld« im psychoanalytischen Diskurs. Ein kurzer historischer Überblick, in: Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas, hg. von José Brunner und Nathalie Zajde, Göttingen 2011 (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte), S. 86-115. 346 Silberbard, Boder 1946.
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ständnis des Todes als Erlösung wird verständlicher durch eine weitere Erzählung über den anschließenden Zugtransport in Richtung des K Z Buchenwald: Silberbard: Wir hatten unsere dünne Kleidung und von Stunde zu Stunde, kann man beinah sagen, starben welche. Boder: Wovon? Silberbard: Durch die/ teils durch Kälte, teils durch Hunger, teils durch Schwäche, eins hing ja schließlich mit dem andern zusammen. Die Toten wurden dann aus dem Wagon geworfen. Erhielten noch teils/ manche erhielten einen Schuss, manche nicht mehr und dadurch wurde uns immer mehr in den Wagons Platz. Es ist tatsächlich schlimm, wie man das jetzt sagen muss, aber wir empfanden es einfach gar nicht mehr als schlimm, wenn jemand starb, wir waren damals so/ so herunter, dass einfach der Selbsterhaltungstrieb war in dieser Situation über jeden einen Herr geworden und wir machten uns eigentlich kaum noch Kopfschmerzen über das Los der andern.347 Silberbard gab zu verstehen, dass das Leben von anderen Menschen in dieser Extremsituation keinerlei Wert mehr hatte. Vielmehr bedeuteten Tote mehr Platz im Inneren des Deportationswagons, wenn sie hinausgeworfen wurden. Wie sehr Silberbard durch die Allgegenwärtigkeit des Todes abgestumpft war, erschreckt ihn an dieser Stelle in seiner erinnernden Erzählung selbst. Er begründete seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterben der Anderen mit seinem Selbsterhaltungstrieb und thematisierte somit den Überlebenskampf im Inneren der Viehwagons. Die anschließenden Erzählungen über seine Ankunft und den Aufenthalt im K Z Buchenwald unterschieden sich von dem, was Boder bisher von Unikowski und Heisler bekannt war. Der Interviewte gab an, dass er zunächst im Kleinen Lager untergebracht wurde, wo er nicht arbeiten durfte und kaum Essen erhielt. Da Boder bereits mehrfach vom dort befindlichen Kinderblock gehört hatte, fragte er, ob Silberbard sich auch dort befunden habe, was dieser jedoch verneinte: Boder: Nun? War das ein, eh, Jugendlicher-Block? Silberbard: Nein das war kein Jugendlicher-Block, das waren alle durcheinander.348 Silberbard wurde schließlich nach eineinhalb Monaten im Kleinen Lager in das Hauptlager überstellt und musste im sogenannten Räumungskommando Zwangsarbeit in Weimar leisten – er beseitigte Trümmer nach den Bombenangriffen der Alliierten. Bis etwa im März 1945 habe er diese Arbeit verrichten müssen, dann waren die amerikanischen Truppen bereits in der Nähe. Seine 347 Ebd. 348 Ebd.
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Darstellung über das Ende des Lagers wich ebenfalls stark von den Geschichten ab, die Boder bisher gehört hatte: Silberbard: Da rückten wir nicht mehr aus, denn die Gefahr war so groß. Der Lagerkommandant, ein SS -Obersturmführer, hatte uns schon vorher gesagt, wir brauchten keine Angst haben, wir sollten keinen Aufruhr machen, er würde uns in aller Ruhe den Amerikanern übergeben. Boder: Das hat der Lager/ das hat der Lagerkommandant gesagt? Silberbard: Wir/ wir glaubten natürlich nicht daran. Boder: Und glauben Sie, er hat die Wahrheit gesagt? Silberbard: Er hat selbstverständlich nicht die Wahrheit gesagt, dass haben wir/ haben wir schon daran gesehen, dass/ einige Tage später hieß es ›Alle Juden antreten!‹349 Silberbards Angabe, dass der Lagerkommandant den Häftlingen zugesichert hätte, dass Buchenwald den Amerikanern übergeben werden würde und sie daher Ruhe bewahren sollten, ist bemerkenswert, insbesondere, weil sie in explizitem Widerspruch zu den Erzählungen von Unikowski und Heisler steht. Silberbard beglaubigte seine Darstellung, indem er den Lagerkommandanten mit der Bezeichnung SS -Obersturmführer klassifizierte, wohl um zu betonen, dass er über die Rangordnung des Lagers Bescheid wüsste. Tatsächlich hatte sich der Lagerkommandant Pister am 3. April 1945 an die Häftlinge des Bergungstrupps gewandt und ihnen versichert, das K Z der anrückenden US -Armee zu übergeben. Am darauffolgenden Tag folgte schließlich der von Silberbard beschriebene Befehl zum Antreten der im Lager verbliebenen Juden zum Appell.350 Boder hatte sowohl von Unikowski als auch von Heisler die gegenteilige Geschichte gehört, dass das Lager in die Luft gesprengt werden sollte, und daher fragte er nach Silberbards Einschätzung des Wahrheitsgehaltes der Angabe von Pister zur Übergabe des Lagers an die Amerikaner. Silberbard gab an, dass er, nachdem die massenhafte Aussendung von Juden aus Buchenwald auf Todesmärsche begonnen hatte, dem Versprechen des Lagerkommandanten keinen Glauben mehr geschenkt habe.351 Silberbard ergänzte anschließend, dass er sich in den letzten Wochen vor dem 11. April 1945 permanent versteckt hielt, um sich den Todesmärschen der Juden aus Buchenwald zu entziehen. Aufgrund der bereits zuvor aufgezeichneten Erzählungen über die Befreiung fragte Boder anschließend nach einer detaillierteren Darstellung der Ereignisse am 11. April 1945: 349 Ebd. 350 Vgl. Neumann-Thein, Parteidisziplin und Eigenwilligkeit, S. 60-61. 351 Wie in der Analyse des Interviews mit Adolf Heisler ausgeführt, war es tatsächlich der Plan von Pister, das Lager den Amerikanern zu überlassen, die Juden jedoch Richtung Theresienstadt auf Todesmärsche zu schicken, vgl. Blatman, Todesmärsche, S. 234-235; Greiser, Todesmärsche, S. 55 ff.
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Silberbard: Und so kamen dann eben am elf/ gegen/ eben am elften April gegen vier Uhr nachmittags, kamen die Amerikaner und befreiten uns. Boder: Na, und wie war das? Wollen Sie das/ die letzten drei Tage ungefähr in Buchenwald erzählen. Silberbard: Die letzten drei Tagen vor der Befreiung soll ich Ihnen erzählen? Boder: Ja, ja. Silberbard: Gut, also, ich befand mich während diesen, während dieser ganzen letzten drei Tage in Kellern und Kanalisationslöchern, habe während dieser ganzen Tage nichts gegessen, nichts getrunken, immer nur gehört, immer nur ängstlich auf den Schrei gehorcht, wann es heißt ›Juden raus!‹ und wenn sich einer/ wenn irgendetwas in meiner Nähe gerührt hatte, wenn ich irgendein Geräusch hörte, schreckte ich sofort ängstlich zusammen.352 Silberbard wiederholte, dass er sich an verschiedenen Orten innerhalb des Lagers versteckt hielt und dabei Todesängste ausstand. Boder war hingegen im Besonderen an der Aussage interessiert, dass dieser drei Tage nichts gegessen und getrunken hatte und fragte misstrauisch nach: Boder: So sagen Sie, drei Tage wirklich nichts gegessen? Silberbard: Ja. Es war nicht, es war nicht das erste Mal. Ich hatte schon sieben Tage gehungert. Nichts gegessen und nichts getrunken. Boder: Na ja. Wo, wann haben Sie sieben Tage gehungert, nichts gegessen, nichts getrunken? Silberbard: In der ersten Zeit in Buchenwald. Boder: Wieso, hat man nichts zu essen gegeben? Silberbard: Nein, wir hatten nichts zu essen bekommen. Boder: Aber Wasser war ja. Silberbard: Wasser war. Boder: So haben Sie doch getrunken. Silberbard: Gut. Wenn man das als etwas/ Latrinenwasser als ein Getränk [bezeichnen möchte?]353 Boders Zweifel und sein Misstrauen führten dazu, dass Silberbard mehrere Details über seine Ankunft im Kleinen Lager ergänzte. Die dortigen Gefangenen hätten eine Woche kein Essen bekommen, und er überlebte nur dadurch, dass er verschmutztes Wasser aus der Latrine getrunken habe. Diese Schilderungen bestätigen den Charakter des Kleinen Lagers, das sich seit Anfang 1945 zum Sterbe- und Siecheort in Buchenwald entwickelt hatte.354 Boder schien
352 Silberbard, Boder 1946. 353 Ebd. 354 Vgl. »Das Kleine Lager«, in: Gitta Günther; Gerhard Hoffmann:
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aufgrund dieser Erzählung fassungslos zu sein, er forderte weitere Informationen und fragte wieder zweifelnd: Boder: Aus welchen/ was für einen Sinn war es, nicht Ihnen zu erlauben, sich Wasser zu holen? Silberbard: Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Da hätten Sie sich bei den Leuten erkundigen sollen, die uns/ die es uns verboten hatten. Boder: Na ja ich meine, haben Sie nicht was gesagt? Silberbard: Wir haben nichts gesagt. Wir nahmen es beinahe als etwas Selbstverständliches hin. Wir waren schon solche Sachen gewöhnt, an solche Schikanen.355 Wieder betonte Silberbard die Selbstverständlichkeit der demütigenden Gewalt, doch innerhalb des Dialogs kam es zu einem Konflikt mit dem Interviewer, der auf die Totalität der Sinnlosigkeit verweist. Silberbard und die anderen Gefangenen waren die inhumane Behandlung bereits gewöhnt gewesen, und wie er angab, erschien es ihnen als normal, dass sie weder Essen noch Trinkwasser bekamen. Obwohl er die Normalität der schlechten Behandlung durch die SS unterstrich, wies er die von Boder formulierte Sinnfrage als eine Form der Selbstbehauptung gegen das Zweifeln des Interviewers vehement zurück. Eine Auskunft darüber, warum man sie verhungern und verdursten ließ, könne er Boder nicht erteilen, das hätte der Interviewer die Täter fragen sollen. Damit durchbrach Silberbard sein bisheriges Interpretationsmuster der Lagererfahrungen und stellte klar, dass die völlig inhumane Behandlung der Gefangenen nicht rational zu erklären sei und keinerlei Sinn gehabt hatte. Silberbard kehrte anschließend zu seiner Erzählung der Befreiung zurück und gab an, dass er am 11. April in seinem Versteck plötzlich Jubelschreie und amerikanische Musik über die Lautsprecheranlage im Lager gehört habe: Silberbard: Wir konnten das einfach in den ersten Stunden gar nicht fassen. Ja, und dann fielen wir uns weinend um den Hals und/ das ist eigentlich kaum zu schildern, die letzten/ die ersten Stunden nach der Befreiung. Boder: Probier mal!356 Das Bild der befreiten Häftlinge, die sich mit Tränen in den Augen umarmten, schien Silberbard, direkt nachdem er es beschrieben hatte, wieder zu verwerfen. Nach einer kurzen Pause konstatierte er, dass eine Schilderung seiner Befreiung in Buchenwald kaum möglich sei. Diese Grenze der Kommunizierbarkeit bestand allerdings nicht in Ausdrucksschwierigkeiten im Deutschen wie lager Buchenwald 1937 bis 1945. Kleines Lexikon, Ilmenau 2016, S. 119-121, hier S. 120; Greiser, Sie starben allein. 355 Silberbard, Boder 1946. 356 Ebd.
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im Interview mit Binder oder gar in einer Grenze der Sprache, sondern vielmehr in der erinnerten Fassungslosigkeit, die er damit zum Ausdruck brachte.357 Silberbard gab zu verstehen, dass er am 11. April 1945 mehrere Stunden gebraucht habe, um zu begreifen, dass das für ihn unwahrscheinliche Ereignis seiner Befreiung tatsächlich eingetreten war. Die Probleme des Begreifens und einer Vermittlung der Erinnerungen sind allerdings nicht mit dem Topos des Unsagbaren zu verwechseln. Die Literaturwissenschaftlerin Marisa Siguan hat betont, dass Formulierungen wie Silberbards »kaum zu schildern« als eine sprachliche Stütze zu verstehen sind, die das Gespräch über schwierige Erinnerungen in Gang halten – sofern der Zuhörer oder die Zuhörerin auch darauf eingehen.358 Boder gelang dies mit seiner simplen Aufforderung »Probier mal!«, denn tatsächlich begann Silberbard direkt im Anschluss, über Einzelheiten der Befreiung zu berichten. Hinzu kam ebenso noch der Umstand, dass es für Silberbard besonders schwierig war, von der Befreiung zu erzählen, weil er in der Beschreibung dieses Ereignisses auf keine Begriffe und Deutungen der Täter zurückgreifen konnte, die er zuvor durchgängig für seine Darstellung genutzt hatte. Die Selbstverständlichkeiten des Lageralltags hatte er mühelos in den Worten und Denkmustern der Täter beschrieben, doch für das Ereignis der Befreiung schien es keine passenden Worte zu geben. Nach einem Spulenwechsel sprach Silberbard noch verschiedenste Themen an, aus denen besonders der Aspekt der Rache an der SS heraussticht. Zunächst erzählte er, dass einige Häftlinge die fliehende Lager-SS verfolgt und gefangen genommen hatten. Boder fragte seinen Interviewpartner daraufhin, ob er Gelegenheit gehabt hätte, mit den gefangenen Wachleuten zu reden, was Silberbard verneinte – er hatte sich erst wieder stärken und erholen müssen nach der erschöpfenden Erfahrung des Verstecks ohne Essen und Trinken. Er war »viel zu schwach, um aus dem Block nur einige Schritte hinauszugehen«, so Silberbard. Damit wird deutlich, dass er die Geschichten über die Verfolgung der SS nur von Dritten gehört haben konnte. Boders Interviewmethode, die explizit auf der Erfragung von individuellen Erfahrungen beruhen sollte, spielte in diesem Moment jedoch keine Rolle. Der Psychologe wollte als interessierter Zuhörer mehr über die Behandlung der Nazis durch die befreiten Häftlinge im Allgemeinen erfahren. Silberbard erzählte daraufhin, dass sich einige an der SS gerächt hätten, jedoch nur »[i]n einfacher Form, indem sie sie schikanierten«.359 Die Ermordung der SS -Männer erschien Boder als Rache hingegen sehr viel angemessener, und so versuchte er zu erfahren, warum man die Täter nicht an Ort und Stelle getötet habe: 357 Dieses »Primärgefühl der Fassungslosigkeit« ist für eine integrierte Geschichtsschreibung des Holocaust von elementarer Bedeutung, wie der Historiker und HolocaustÜberlebende Saul Friedländer betont hat, vgl. Friedländer, Holocaust beschreiben, S. 96-120, hier S. 104. 358 Vgl. Siguan, Grenzen der Sprache, S. 47. 359 Silberbard, Boder 1946.
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Boder: Aha. Nun sagen Sie, eh, ehm, da waren ja so viele Häftlinge, wie kam es, dass man überhaupt diese SS am Leben gelassen hat? Silberbard: Man hat sie am Leben gelassen. Denn wenn wir sie nicht hätten am Leben gelassen, dann wären wir/ wären wir ja gar nicht viel anders gewesen als die Deutschen. So, wir müssen/ wir wollten ja doch schließlich mit gutem Beispiel vorangehen, wenn nicht mit gutem Beispiel, aber wir sollten doch nicht so handeln, wie sie an uns gehandelt haben, dann wären wir ja schließlich dieselben. Boder: Das war die Philosophie von der Sache? Silberbard: Das war nicht die Philosophie von der Sache. Das ist meine Ansicht. Sicher haben viele eine andere Ansicht vertreten. Im Großen und Ganzen war es aber die Ansicht des Lagers.360 Silberbards Aussagen enthalten diverse Aspekte, die es im Einzelnen zu betrachten gilt. Zunächst gab er an, dass man die SS am Leben gelassen habe, um sich von den Deutschen zu unterscheiden, die, so die implizite Ergänzung, jahrelang gemordet hatten. Er wollte sich demnach nicht nur von den SS Männern, sondern auch von den Deutschen insgesamt abgrenzen – damit exkludierte er sich, als in Deutschland geborener, selbst vom eigenen nationalen Kollektiv. Ob es sich dabei um eine Internalisierung der nationalsozialistischen Trennung von Deutschen beziehungsweise »Ariern« und Juden handelte, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlicher ist, dass er sich, nachdem seine Landsleute ihn ins K Z gesperrt und seine Familie ermordet hatten, selbst nicht mehr als Deutschen begreifen konnte. Seine weitere Begründung, dass man die Täter nicht töten wollte, weil man sich sonst mit ihnen gemein gemacht hätte, sei allerdings nicht »die Philosophie von der Sache«, wie Boder es zusammengefasst hatte, sondern seine eigene Ansicht, die vom Großteil des Lagers geteilt worden wäre.361 Silberbards Sprache ist in diesem Abschnitt geprägt von imperativischen Angaben: »wir müssen«, »wir wollten«, »wir sollten«. Ein Blick zurück auf die Beschreibung der Befreiung des Lagers von Izrael Unikowski hilft an dieser Stelle, um zu verstehen, warum. Unikowski hatte im Interview mit Boder angegeben, dass es eine Mehrheit in Buchenwald gegeben hätte, die keine Rache an der SS erlaubt habe. Diese Gruppe hatte Unikowski in seinem Interview als »Deutsche«, »politische Gefangene« beziehungsweise »Kommunisten« benannt. Gemeint war das Internationale Lagerkomitee (ILK ) in Buchenwald, eine konspirative Widerstandorganisation, die vor dem Eintreffen der amerikanischen Soldaten am 11. April die Kontrolle über
360 Ebd. 361 Rachegefühle waren hingegen tatsächlich weit verbreitetet unter den Befreiten, vgl. Susanne Urban: Die Mörder dürfen nicht siegen. Die Jewish Brigade, Nakam und die Bricha, in: Tribüne 43, 2004, S. 142-154, hier S. 144.
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das KZ übernommen hatte.362 Silberbards allgemeine Angabe, dass »man« sich nicht mit den mörderischen Deutschen gemein machen wollte, war also vielmehr seine persönliche Interpretation, wie er schließlich auch selber mit Nachdruck ergänzte. Mit dieser Interpretation unterstützte er gleichzeitig den Imperativ des Tötungsverbotes, der vom ILK gesetzt worden war. Zu vereinzelten Tötungen war es dennoch gekommen, und Boder versuchte wieder, sein bisheriges Wissen darüber zu überprüfen: Boder: Ist es wahr, dass die Häftlinge welche SS gehängt haben in Buchenwald? Silberbard: Dass die Häftlinge SS -Leute gehängt haben? Boder: Ja? Silberbard: Das kam zweimal vor, soviel ich weiß. Boder: Ja. Wann? Silberbard: Und das waren dann/ nach der Befreiung. Boder: Ja? Silberbard: Das waren tatsächlich SS -Leute, die sich einfach unheimlich schlimm gegen Häftlinge benommen hatten. Aber davon hatte ich nur gehört, so dass ich genauere Einzelheiten darüber nicht berichten kann. Boder: Das haben Sie selber nicht gesehen? Silberbard: Nein.363 Silberbard bestätigte zwar den Wahrheitsgehalt von Boders Angabe, dass einzelne SS-Männer aus Rache erhängt worden waren, gab aber gleichzeitig explizit an, dass er dies nicht selbst gesehen hatte und daher keine Einzelheiten berichten könne. Dieser Hinweis von Silberbard, dass es sich um eine Erzählung durch Dritte handelte, beendete schließlich auch Boders Fragen nach Fällen von Rache.364 Zum Schluss der Audioaufzeichnung erzählte Silberbard noch darüber, wie er sich im Juni 1945 für einen Transport der UNR R A aus dem befreiten Lager in Buchenwald in die Schweiz gemeldet hatte. Zusammen mit anderen überlebenden »Buchenwaldkindern« befand er sich zum Zeitpunkt des Interviews in Genf und versuchte dort, seine Zukunft zu planen. Diese Nachgeschichte zur Verfolgung im NS fiel in vielen anderen Interviews sehr kurz aus und wird in Silberbards Fall äußerst aufschlussreich anhand der Lebensbedingungen der DP s behandelt. Zunächst erfragte Boder, ob Silberbard nach dem Krieg Verwandte hatte wiederfinden können: 362 Zum organisierten Lagerwiderstand und zur Rolle der deutschen Kommunisten vgl. Neumann-Thein: Parteidisziplin und Eigenwilligkeit, S. 33-43. 363 Silberbard, Boder 1946. 364 Extrem drastisch wird das Thema Rache im Interview von Boder mit dem polnischen Juden Benjamin Piskorz thematisiert, der davon berichtet, dass er nach seiner Befreiung deutsche Kleinkinder ermordet hatte, vgl. David P. Boder Interviews Benjamin Piskorz, September 1, 1946, Tradate, Italy, UR L : https://voices.library.iit. edu/interview/piskorzB; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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Boder: Haben Sie probiert, Ihre Familie, jemand aufzufinden? Silberbard: Ich habe bereits genug Recherchen gemacht. Ich habe aber überhaupt keine Hoffnung mehr, dass irgendjemand von ihnen leben geblieben ist. Ich hab’ nur meine Tante und meinen Onkel in Chile wiedergefunden, die schon währ/ die schon vor dem Kriege dorthin emigriert waren. Boder: Wie heißen die? Silberbard: Salinger. Boder: Dahlinger. Und, eh, wie haben Sie sie gefunden? Haben Sie denen geschrieben, haben sie geantwortet? Silberbard: Ich habe durchs Rote Kreuz und durch verschiedene Organisationen Recherchen gemacht und eine ist dann einfach/ eine Nachricht ist von ihnen gekommen. Und im September vorigen Jahres hatte ich die erste Nachricht von ihnen.365 Der 17-Jährige erklärte vage, dass er »genug Recherchen gemacht« habe, aber bis auf eine Tante und einen Onkel in Chile keinerlei lebende Familienmitglieder finden konnte.366 Die zeitliche Dimension des Interviews wird hier besonders deutlich. Seit der Befreiung von Silberbard in Buchenwald waren fast eineinhalb Jahre vergangen, und der junge Mann hatte keinerlei Hoffnungen mehr, weitere Verwandte zu finden. Die weltweite Suche nach Angehörigen gehört ebenso zur Geschichte der Displaced Persons, und neben jüdischen Hilfsorganisationen ist in diesem Falle besonders das Schweizerische Rote Kreuz (SRK ) zu nennen. Im Oktober 1945 war Silberbard zunächst in einem Heim des SRK in Vaumarcus, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Bern, untergebracht worden. Die bereits erwähnte Pädagogin Charlotte Weber hatte sich zu dieser Zeit beim SRK für einen Ausbildungsplatz für Silberbard in Genf eingesetzt.367 Da Silberbard in Berlin bis 1941 eine gute Schulbildung genossen hatte und zudem nach der Schließung seiner Schule in einer Apotheke beschäftigt gewesen war, strebte er noch im August 1945 eine Ausbildung zum Chemiker oder Laboranten an.368 Im Interview mit Boder ein Jahr später erzählte er, dass er eine Ausbildung zum Zahntechniker erhalte, seine Wunschausbildung hatte er demnach nicht beginnen können. Zudem besuchte er Abendkurse an der Handelsschule und lernte Französisch und Englisch. Boder fragte schließlich nach den Zukunftsplänen seines Interviewpartners, und Silberbard gab an, dass er nach Beendigung seiner Ausbildung zu seinen Ver365 Silberbard, Boder 1946. 366 Boder verstand den Namen falsch als »Dahlinger«. Die Korrespondenz von Gert Silberbard mit Federico und Erna Salinger (geborene Silberbard) hielt noch bis 1949 an, vgl. CM /1-Akte Schweiz 3.2.1.4/ 81074151/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 367 Weber schrieb Briefe an potenzielle Ausbildungsstellen für Silberbard und weitere »Buchenwaldkinder«, vgl. CM /1-Akte Schweiz, 3.2.1.4 / 81074144/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 368 Vgl. ebd.
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wandten nach Chile emigrieren wolle. Als Schlusswort sprach Boder seinen Dank an Silberbard aus und betonte, wie wertvoll sein Interview sei: Boder: Aha. Nun, Gert, das war eine/ ein sehr ausführlicher Bericht. Ich habe von Ihnen so Manches gehört, das ich von anderen nicht gehört habe, denn ich habe sehr wenige deutsche Häftlinge gehabt. Sie haben auch sehr intelligente Sachen beschrieben. Ich bin überzeugt, dass es ein guter Report ist, und vielleicht werde ich auch in Chicago gewissen deutschen Gruppen mal diesen Rat vorspielen lassen. Ich bin überzeugt sie werden/ ich kann nicht sagen, freuen, aber sie werden zufrieden sein, etwas davon zu learnen. Danke sehr.369 Boder führte aus, dass das Interview mit Silberbard ein »guter Report« sei, und begründete dies damit, dass sein deutscher Interviewpartner viel bisher Unbekanntes erzählt habe.370 Das amerikanische Publikum könne von Silberbard somit viel Neues lernen, wobei Boder das deutsche Wort mit dem englischen »learn« vermischt. In diesem Sinne bezeichnet der Interviewer die Erzählung von Silberbard auch als Rat im Sinne eines Ratschlages – der Erzählung von Silberbard spricht er damit die Bedeutung der Vermittlung wichtiger Botschaften zu. Doch diese Botschaft besteht nicht in einer Sinngebung der erzählten Erfahrungen, sondern liegt eher im Informationswert über die beschriebenen Ereignisse begründet, über die in den USA kaum Wissen vorhanden war. Boders Aussage, dass er die Audioaufnahme von Silberbard »gewissen deutschen Gruppen« in Chicago vorspielen wolle, drückt in diesem Sinne die Wertschätzung des Interviewers für den ausführlichen Bericht aus. Allerdings gelangte das Interview bis zur Jahrtausendwende gar nicht an die Öffentlichkeit. Boder reproduzierte die Spulen mit der Aufnahme von Silberbards Interview zwar im November 1950 in Chicago, fertigte allerdings nie eine Transkription davon an.371 Boders Schlussworte fassen indes zentrale Punkte des Interviews zusammen. Die Besonderheit der Geschichte von Silberbard als einem Juden aus Deutschland wurde bereits zu Beginn der Aufnahme durch den veränderten Stimulus deutlich. Boders Angabe, dass sein Interviewpartner »sehr intelligente Sachen beschrieben« habe, verweist einerseits auf die eloquente Wortwahl des jungen Mannes, der sich in seiner Muttersprache sehr gut ausdrücken konnte. Man merkte Silberbard seine gute Schuldbildung deutlich an. Anderseits war diese 369 Silberbard, Boder 1946. 370 Boder hatte bis dato erst einen einzigen deutschen Interviewpartner. Den aus Mannheim stammenden Juden David Hirsch hatte er einen Tag zuvor in Genf interviewt, siehe David P. Boder Interviews David Hirsch, August 26, 1946, Geneva, Switzerland, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/hirschD; letzter Zugriff am 04.08.2021. 371 So hört man in der Audioaufnahme Boders Kommentar »This concludes the reproduction of Spool 9-83, the interviewee was Silberbard […] November the 14th, 1950, Chicago, of course. Boder.« Vgl. Silberbard, Boder 1946.
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Beurteilung von Boder auch ein Hinweis auf Silberbards wertvolle Auskünfte über die Sozialstruktur der K Z s in Auschwitz und Buchenwald sowie über die Lagersprache, wie an der Diskussion der Begriffe Kapo und Muselmann ausgeführt wurde. Der Psychologe war entgegen seinem Lob während des Interviews allerdings sehr misstrauisch gewesen und zweifelte einige Aussagen von Silberbard offen an: Etwa die Angabe seines Interviewpartners, im K Z Buchenwald sieben Tage ohne Essen und Trinken überstanden zu haben. Silberbard hingegen stand zumeist gefasst Rede und Antwort und behauptete sich auch gegen kritische Nachfragen des Interviewers. Anhand seiner Darstellung über körperliche Bestrafungen in Auschwitz wurde besonders deutlich, dass die alltägliche Gewalt im Lager in seiner Deutung auch nach der Befreiung noch völlig »selbstverständlich« war. Seine sachlich nüchterne Sprache, die nur an wenigen Stellen des Interviews durchbrochen wurde, kann als Ausdruck einer psychischen Anpassung an die irrationale Logik der Konzentrationslager verstanden werden, die auch ein Mittel des eigenen Überlebens gewesen war.
»Später hat man erst gewusst, was das eigentlich ist« (Jürgen Bassfreund) Am Freitag, dem 20. September 1946, interviewte Boder den 22-jährigen deutschen Juden Jürgen Bassfreund in München. Seit seiner Befragung von Silberbard in Genf war fast ein ganzer Monat vergangen, und der Psychologe hatte über 30 weitere Interviews aufgezeichnet. Nach seinem Aufenthalt in der Schweiz war er zunächst in die norditalienische Gemeinde Tradate bei Mailand, danach wieder nach Paris und Mitte September 1946 in die amerikanische Besatzungszone nach Deutschland gereist. In der ehemaligen Funkkaserne der deutschen Wehrmacht hatte die UNR R A nach Kriegsende ein Durchgangs- und Auswanderungslager für DP s eingerichtet, das Tausende Ausreisebereite beherbergte.372 Bassfreund war erst kurz vor seinem Interview in diesem DP-Camp aus Fürth angekommen, wo er zwischenzeitlich alleine gelebt und gearbeitet hatte.373 Das Interview mit Bassfreund war das letzte von insgesamt fünf Befragungen, die Boder an diesem Tag aufzeichnete. Obwohl der Psychologe zu diesem Zeitpunkt bereits viele Aufnahmen gesammelt hatte, handelt es sich bei der Aufzeichnung von Bassfreund mit einer Dauer von fast zwei Stunden um eine vergleichsweise ausführliche Erzählung.374 372 Zum Schluss des Interviews mit Bassfreund gab Boder an, dass das DP-Camp Funkkaserne mit bis zu 5.000 Personen völlig überfüllt gewesen sei. 373 Seine D. P. Identification Card wurde Bassfreund als Ausweispapier sogar erst vier Tage nach dem Interview mit Boder ausgestellt, vgl. Nachkriegszeitkartei, 3.1.1.1 / 66520890/ ITS Digital Archive, Bad Arolsen. 374 Dies widerspricht Boders nachträglicher Angabe zu seiner Methode, dass er in der zweiten Hälfte des Projektes nur kurze und thematisch fokussierte Interviews aufgezeichnet hätte, vgl. Boder, Topical Autobiographies, Bd. 16, S. 3161.
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Der Interviewte berichtete während der Aufzeichnung ausführlich von seiner Diskriminierung als Jude im nationalsozialistischen Deutschland ab 1933. Geboren wurde Jürgen Bassfreund am 30. September 1923 in Bernkastel bei Trier, er stammte aus einer mittelständischen jüdischen Familie. Zum Haushalt gehörten seine Eltern, eine ältere Schwester und diverse Angestellte. Sein Vater, der Arzt war, verstarb bereits im Jahr 1932. Nach mehrfachen Umzügen innerhalb Deutschlands verbrachte Bassfreund die ersten Kriegsjahre allein mit seiner Mutter in Berlin, seine Schwester hatte noch im Jahr 1939 nach England emigrieren können. Im Februar 1943 wurde Bassfreund im Zuge der sogenannten Fabrikaktion als einer der letzten noch in Berlin lebenden Juden von der Gestapo verhaftet. Die Erzählungen über seine anschließende Deportation nach Auschwitz und den Aufenthalt im Lagerkomplex handeln von der Zwangsarbeit, die er unter anderem in den Buna-Werken der I. G. Farben im K Z Monowitz verrichten musste.375 Im Januar 1945 wurde er auf einen Todesmarsch gezwungen, und er berichtete ausführlich über die Deportation, die ihn über das K Z Groß-Rosen zum K Z Dachau führte. Dort erkrankte er im K Z -Außenkommando Mühldorf an Flecktyphus und wurde am 2. Mai 1945 todkrank von der US -Armee befreit. Zum Schluss des Interviews erzählte Bassfreund von seiner anschließenden Genesung und dem Jahr, das er alleinstehend und arbeitend in Fürth verbracht hatte, bevor er aufgrund seiner bevorstehenden Emigration in die USA in das Transitcamp Funkkaserne einberufen worden war. Geprägt ist das gesamte Interview von dem Aspekt, dass Bassfreund die geschilderten Aspekte nachträglich zu verstehen versuchte. In der nahezu emotionslosen Erzählung des jungen jüdischen Deutschen wird ersichtlich, dass die Fassungslosigkeit, welche die Diskriminierung und Verfolgung als Jude in ihm auslösten, auch ein Jahr nach seiner Befreiung deutlich nachwirkte. Anschaulich wird dies etwa, als der Interviewte gegenüber Boder zu erklären versuchte, welche Bedeutung seine K Z -Erfahrung und die geschilderten Ereignisse hatten. Als Bassfreund über die Deportationen von Berliner Juden nach Auschwitz berichtete, deren Bedeutung von den Nazis durch den Begriff der »Evakuierung« verschleiert wurde, verdeutlichte er sein nachträgliches Begreifen durch die Formulierung »später hat man erst gewusst, was das eigentlich ist.« Boders Interview mit Bassfreund war eines der Ersten, die der Psychologe nach seiner Rückkehr in die USA übersetzte, transkribierte und analysierte.376 Bereits in seinem ersten Artikel aus dem Jahr 1947 zitierte der Forscher Ausschnitte aus seiner englischen Übersetzung von Bassfreunds Erzählung, 1949 375 Zur Bedeutung der Zwangsarbeit im Häftlingslager Monowitz vgl. Bernd C. Wagner: Darstellungen und Quellen zur Geschichte von Auschwitz: Band 3: IG Auschwitz. Zwangsarbeit und Vernichtung von Häftlingen des Lagers Monowitz 19411945, Berlin 2000, S. 91 ff. 376 Vgl. Chapter V. The Story of Juergen Bassfreund, in: Boder, Topical Autobiographies, Bd. 2, 1950, S. 276-320.
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veröffentlichte Boder das gesamte übersetzte Transkript als zweites Kapitel in I Did Not Interview the Dead 377 und auch in späteren Publikationen des Psychologen nimmt Bassfreunds Interview eine dominante Stellung ein.378 Aufgrund dieser Popularität werden in der folgenden Analyse insbesondere die verschiedenen Zeitebenen der Erzählung und Interpretation miteinander verglichen: Bassfreunds mündlicher Bericht im Spätsommer 1946 und Boders spätere Kommentierung und Interpretation der Erfahrungen seines Interviewpartners ergeben das Bild einer prozesshaften Wissenskonstruktion über die NS -Verbrechen an den Juden, die Boder unter dem Begriff der Katastrophe zu begreifen versuchte. Zu Beginn der Audioaufzeichnung im DP-Camp Funkkaserne veränderte Boder wieder seinen üblichen Stimulus, der nach den Erlebnissen seit Kriegsbeginn fragte. Da es sich bei Bassfreund um einen deutschen Staatsbürger handelte, fragte der Interviewer nach den Erlebnissen seines Gegenübers seit 1933: »Also wollen Sie mir dann erzählen, was hat Ihnen passiert von der Zeit, hm, wo Hitler zur Macht kam? Wer waren Ihre Eltern?«379 Boder zeigte insbesondere großes Interesse am Alltag seines jüdischen Interviewpartners unter den Nazis vor 1939: Boder: Ja. Nun, erzählen Sie mir denn, wie ist es Ihnen gegangen durch die Hitlerzeit bevor dem Krieg? Bassfreund: Also, ich bin damals als einziger Jude auf das Gymnasium gekommen, nach Trier. Und ich hab/ damals war’s schon so, dass ein gewisser militaristischer Drill eben von der Lehrerschaft aus auf die Schüler, äh, ausgeübt wurde, nicht? Und es war so, dass, äh, wenn der Lehrer morgens zu Sch/ in die Sch/ in die Tür reinkam, begrüßte er die Schüler mit ›Heil Hitler!‹ und die Schüler mussten ebenfalls ›Heil Hitler!‹ grüßen. Selbstverständlich hab’ ich das als Jude nicht getan und/ Boder: Nicht getan oder nicht tun dürfen? Bassfreund: Nicht tun dürfen und auch nicht getan. Boder: Ja. Bassfreund: Und/
377 Bassfreund wird dort mit dem Pseudonym »Jürgen Gastfreund« benannt, vgl. Boder, Dead, S. 26-59. 378 In seinem Artikel The Impact of Catastrophe wird das Interview von Bassfreund als eines von fünf repräsentativen Beispielen der »K Z group« von Boder analysiert, vgl. Boder, Catastrophe, S. 4 379 Transkription des Autors auf Grundlage der digitalisierten Audioaufnahme und der überarbeiteten Transkription von Dagmar Platt und Julia Faisst für die Website Voices of the Holocaust, vgl. David P. Boder Interviews Jürgen Bassfreund; September 20, 1946; München, Germany, UR L : https://voices.library.iit.edu/interview/ bassfreundJ; letzter Zugriff am 04.08.2021. Im Folgenden: Bassfreund, Boder 1946.
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Boder: Nu ja, warum ist das so selbstverständlich? Wie alt waren Sie denn?380 Bassfreund berichtete davon, dass er als einziger Jude in seiner Schule den Lehrer nicht mit dem obligatorischen »Heil Hitler!« begrüßte. Was für ihn selbstverständlich war, wie er sich ausdrückte, regte Boder zu einer Nachfrage an, und ähnlich wie im Interview mit Gert Silberbard schien es das Interesse des Psychologen zu sein, den Prozess der Normalisierung der beschriebenen Handlungen zu hinterfragen: »Nu ja, warum ist das so selbstverständlich?« Bassfreund legte im Anschluss weiter dar, dass er als Jude von seinen nichtjüdischen Mitschülern schikaniert worden war, bis er schließlich auf eine jüdische Schule wechselte und die Familie dafür nach Köln umzog. Boder stellte im Anschluss weitere Fragen nach Bassfreunds Familienangehörigen, die einen Vorgriff in der Erzählung seines Interviewpartners zur Folge hatten: Boder: Ja. Wo ist Ihre Mutter? Bassfreund: Meine Mutter, äh, lebt wahrscheinlich nicht mehr. Wir wurden damals, im Jahre 1943, das war am 27. Februar, plötzlich von der Arbeit weggenommen. Ich arbeitete damals auf der Bahn/ und die Leibstandarte Adolf Hitler trieb uns in Autos hinein und wir wurden zu einem Sammellager gefahren. Boder: Also warten Sie. (unverständlich) Wir kommen danach later/ später. Also, Sie haben dann beide in einer Fabrik gearbeitet. Bassfreund: Ja.381 Boder griff hier stark regulierend in die Erzählung von Bassfreund ein. Das Interesse des Forschers galt zunächst der Zwangsarbeit, die Bassfreund nach seinem Umzug nach Berlin hatte leisten müssen.382 Erst danach wollte der Interviewer die Geschichte von Bassfreunds Deportation hören. Als diese Geschichte schließlich in passender Chronologie an der Reihe war, entspann sich eine Diskussion über das damalige Wissen über den Prozess und die Bedeutung der »Evakuierungen«: Boder: Nun, weiter, also was hat nachher passiert? Bassfreund: Also nachher, pf/ äh, spitzte sich die Lage immer mehr zu. Es war schon, äh/ dann kam diese Sache mit dem Judenstern auf, nicht. Und es war schon gefährlich, äh, über die Straße zu gehen. Es/ Naziagenten, Gestapoagenten liefen herum und verhafteten Juden auf der Straße. Ich erinner’ mich zum Beispiel an einen Freund von mir, der mit mir in der 380 Ebd. 381 Ebd. 382 Niewyk hat darauf hingewiesen, dass der Umzug der Familie Bassfreund aus Rheinland-Pfalz in die Großstadt Berlin als Versuch des Schutzes vor der antisemitischen Diskriminierung zu verstehen ist, den viele Juden aus kleineren Städten als Reaktion unternommen hatten, vgl. Niewyk, Fresh Wounds, S. 257.
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Fabrik arbeitete. Er wurde/ Sein Vater wurde abends von Polizei verhaftet und es wurde gesagt, dass in Berlin ein Attentat auf eine Naziausstellung verübt worden ist und äh, diese Juden, es waren, glaube ich, fünfhundert, soweit ich noch mich erinnern kann, wurden dann in der SS -Kaserne in Lichterfelde erschossen. Und die Angehörigen dieser Leute wurden zwangsverschleppt, also damals sagte man evakuiert. Also, später hat man erst gewusst, was das eigentlich ist. Boder: Hat man damals das nicht gewusst? Bassfreund: Nein. Und ich habe den Eindruck, dass selbst die jüdische Gemeinde es nicht gewusst hat. Denn noch als ich/ als ich verhaftet wurde, gab man uns noch Seife und Kleidungsstücke mit. Weil wir von der Arbeit ja nichts mithatten außer dem/ außer diesen Sachen, die wir anhatten, hat uns die jüdische Gemeinde selbst noch Sachen mitgegeben. Und ich nehme an, wenn sie gewusst hätte, wo wir hinkommen, hätte sie das selbstverständlich nicht getan. Boder: Nun ja. Vielleicht hat sie eim/ ja/ Nu ja, wir können das nicht diskutieren. Aber die jüdische Gemeinde hat gewusst, also, äh, hat Sachen mitgegeben. Und warum/ Bassfreund: Ja.383 Bassfreunds Angabe »damals sagte man evakuiert« reflektierte den täuschenden Charakter des Begriffs der Evakuierung in der Verwendung der Nazis.384 Dass der als Evakuierung bezeichnete Vorgang nichts anderes als eine Zwangsverschleppung in den Tod bedeutete, erschloss sich ihm und den anderen Deportierten allerdings erst nachträglich: »Also, später hat man erst gewusst, was das eigentlich ist.« Boders anschließende Frage »Hat man damals das nicht gewusst?« regte Bassfreund wiederum dazu an, über das Wissen der jüdischen Gemeinde in Berlin zu spekulieren. Der Befragte gab an, dass er nicht glaube, dass die jüdische Gemeinde darüber informiert gewesen sei, dass die »Evakuierungstransporte« in Wirklichkeit die Deportation der Juden mit dem Ziel der kollektiven Ermordung bedeuteten. Bassfreund sprach die jüdische Gemeinde folglich von jeglicher Verantwortung frei, wieder mit dem prägnanten Adjektiv »selbstverständlich«. 383 Bassfreund, Boder 1946. 384 Der Begriff evakuieren wurde in der deutschen Sprache im 19. Jahrhundert dem lateinischen evacuare (räumen, leer machen) entlehnt und hatte im Sprachgebrauch des NS zweierlei Bedeutungen: Für Mitglieder der sogenannten Volksgemeinschaft bezeichnete das Wort den Vorgang, kriegsbedrohte Gebiete von Zivilisten zu räumen, insbesondere aufgrund von Bombenangriffen. Diese humanitäre Konnotation wurde in der Anwendung auf als Juden Verfolgte hingegen umgekehrt und als Euphemismus verwendet – Evakuierung bezeichnete in dieser zweiten Bedeutungsebene »Juden mit dem Ziel der Vernichtung deportieren«. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. 2., durchges. und überarb. Aufl., Berlin, New York 2007, S. 219.
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Boder hingegen, der bereits zahlreiche Erzählungen über die erzwungene Kollaboration, etwa Unikowskis Geschichte über den Judenrat Rumkowski, gehört hatte, war sich bewusst, dass die jüdischen Gemeinden durchaus über das tödliche Ziel der Deportationen informiert gewesen sein könnten, vor allem im Jahr 1943, als Bassfreund als einer der letzten Juden im Deutschen Reich nach Auschwitz deportiert wurde.385 Der Interviewer widersprach Bassfreund zunächst, brach die Kontroverse allerdings schnell ab, da dies nicht der Fokus seiner Befragung war: »Nu ja, wir können das nicht diskutieren.« Vielmehr war der Psychologe an Details über Bassfreunds Erfahrungen während der Deportation interessiert. Doch auch im folgenden Dialog entwickelte sich erneut ein Streitgespräch über das Wissen und die Verantwortung der jüdischen Gemeinde: Boder: Ja. Nun, und wohin/ Wie wurden Sie dann in Wagen eingeladen? Ähm (unverständlich) äh, Sie wurden, äh/ wie viel Personen wurden Sie in einen Wagen gesetzt? Bassfreund: Wir waren damals ungefähr fünfzig Personen in einem Wagen. Und Frauen und Männer und Kinder durcheinander, also/ Boder: Ja. Bassfreund: Und wir/ die Türen wurden zugemacht/ Und wir sind weggefahren und sind nachmittags um fünf abgefahren und waren andern Abend halb elf in Auschwitz. Boder: Und hat man Ih/ Sie/ Ihnen zu Essen gegeben auf dem Weg? Bassfreund: Die jüdische Gemeinde hat uns noch Brote mitgegeben, jawohl. Und eine Kanne Wasser. Boder: Also die jüdische Gemeinde hat gewusst, dass Sie weggeschickt werden? Bassfreund: Ja, selbstverständlich hat die jüdische Gemeinde gewusst/ Boder: Wieso ist das so selbstverständlich? Die Nazis (unverständlich)/ Bassfreund: Denn wir haben/ wir haben es ja auch gewusst. In der Minute, wo wir auf die Bahn gesetzt wurden, wussten wir, dass wir wegkommen. Nur wir wussten nicht, wohin wir kommen. Denn/ Boder: Und dann hat die jüdische Gemeinde Ihnen zu essen mitgegeben? Bassfreund: Ja.386 Boders Interesse galt den Details der Deportation, daher fragte er: »Wie wurden Sie dann in Wagen eingeladen?« Der Forscher wollte genau wissen, wie viele Personen in die Deportationswagons gepfercht wurden, um diese Informationen einerseits mit anderen Erzählungen abgleichen zu können und, um andererseits 385 Bassfreund wurde getrennt von seiner Mutter am 4. März 1943 zusammen mit über 1.000 Juden aus Berlin nach Auschwitz deportiert, vgl. Transportlisten Gestapo/ 34. Osttransport v. 1943/ 1.2.1.1 / 11193667/ ITS Digital Archives, Bad Arolsen. 386 Bassfreund, Boder 1946.
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daraus Rückschlüsse über die Auswirkungen der desaströsen Zustände auf die Psyche des Befragten zu ziehen. Auch an der Information, ob Bassfreund Essen erhalten habe, war er deshalb interessiert. Bassfreund hingegen wollte erneut über die jüdische Gemeinde sprechen, die zuvor von Boder abgebrochene Diskussion über die Organisation wiederholte sich. Wieder benutze Bassfreund das Wort selbstverständlich, um zu betonen, dass die jüdische Gemeinde zwar wusste, dass es einen Transport geben werde, jedoch nicht, wohin er und die anderen Juden verschleppt werden würden. Boder kehrte schließlich wieder zu seiner Befragung über den Ablauf der Deportation zurück und verwendete ähnliche Detailfragen, die er zuvor bereits Adolf Heisler gestellt hatte: Boder: Ja. Und äh, die Wagons wurden zugeschlossen. Was für Wagons waren die? Bassfreund: Das waren diese gewöhnlichen äh, Wagons, in denen man die Waren transportiert. Also diese/ Boder: Diese/ es sind Frachtwagons? Bassfreund: Frachtwagons, ja. Boder: Und (unverständlich) äh, hatten Sie eine Toilette dort gehabt? Bassfreund: Nein, eine Toilette hatten wir nicht und das wurde s/ sogar/ im Laufe des Tages, war das eine sehr schlimme Angelegenheit, weil doch sehr viel Leute in der Aufregung auf Toilette mussten und es war doch keine Möglichkeit, irgendwie etwas zu machen. Wir hatten eine Schüssel im Wagon und es war natürlich unangenehm, die Türen waren zu und die Luft wurde schlecht. Boder: Ja. Und da waren Frauen und Kinder und Männer alle zusammen? Bassfreund: Frauen und Kinder und Männer, alles durcheinander.387 Die Fragen des Interviewers nach der Art der Züge und die Bestätigung durch Bassfreund, dass es sich nicht um Personen-, sondern um Frachtwagons handelte, die verschlossen wurden, verweisen auf Boders bisherige Erkenntnisse über die entmenschlichende Praxis der Transporte. Explizit fragte der Psychologe erneut nach Toiletten und der Trennung nach Geschlechtern innerhalb der Züge. Bassfreund beschrieb die Deportation als »eine sehr schlimme Angelegenheit« und das Fehlen von Toiletten als »natürlich sehr unangenehm«. In seiner Beschreibung der Zustände im Inneren des Deportationszuges schien Bassfreund die Fassung wahren zu wollen, er schilderte das Geschehen sachlich und fast emotionslos. In der Form des distanzierenden Sprechens, das auch im Interview mit Silberbard festzustellen war, fand Bassfreund eine sprachliche Form für seine verstörenden Erinnerungen.388 Boder fragte anschließend nach den Erlebnissen seines Interviewpartners bei der Ankunft in Auschwitz: 387 Ebd. 388 Zur Bedeutung des distanzierenden Sprechens vgl. Warmbold, Lagersprache, S. 259261.
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Boder: Nu, was hat Ihnen passiert? Bassfreund: Also, ich wurde zu den Männern gestellt und man pf/ ein SS Mann fragte mich, ob ich gesund sei. Daraufhin sagte ich ›ja‹. Und dann sagte er, ich muss auf die andere Seite gehen. Und auf der anderen Seite standen alte und schwache Männer und meistens Frauen mit Kinder und ältere/ ältere Personen. Und wir haben später erst erfahren, dass dort/ dass diese Frauen und diese älteren Männer zur Vergasung gebracht würden. Mir selbst fiel auf, als ich dort ankam, sah ich/ Boder: Auf der anderen Seite? Bassfreund: Bitte? Boder: Sind Sie auf die andere Seite gekommen? Bassfreund: Ich kam auf die rechte Seite und äh ich wusste selbst damals noch nicht, was das bedeuten sollte. Jedenfalls mussten wir warten. Ich sah in/ Ich, ich wollte mich orientieren, und sah in der Ferne überall Türme mit Posten besetzt, mit SS -Posten mit Maschinengewehr. Und sah in der Ferne ein sehr großes Feuer brennen und ich wusste damals noch nicht, was es war, und erfuhr erst später, dass das die großen Krematorien von Auschwitz sind äh, wo diese ganzen Leute, äh, vergast und verbrannt wurden.389 Bassfreund beschrieb, dass er nach der Ankunft in Auschwitz nicht begreifen konnte, was mit ihm geschah – im Gegensatz zu den vorangegangenen Erzählungen sprach er in der ersten Person Singular über seine eigene Erinnerung. Doch diese individuelle Perspektive verwarf er sofort wieder und betonte, dass auch alle anderen nicht wussten, was die beschriebene Trennung von Männern, Frauen, Kindern, Alten und Kranken zu bedeuten hatte. Bassfreund verwies mehrfach darauf, dass er und die anderen ankommenden Juden die Ereignisse, die sich vor ihren Augen abspielten, schlichtweg nicht verstanden und erst nachträglich begreifen konnten: »Und wir haben später erst erfahren, dass dort/ dass diese Frauen und diese älteren Männer zur Vergasung gebracht würden.« Ähnlich wie in der Darstellung von Unikowski wird deutlich, dass es sich bei den Erzählungen in Boders Interviews zwar um persönliche Berichte handelt, die beschriebenen Ereignisse aber stets auf die kollektive Verfolgung als Juden verweisen. Dies drückte sich ebenfalls in der von Bassfreund als »Registrierung« benannten Tätowierung der Häftlingsnummer aus, die der Befragte in Auschwitz zwangsweise erhalten hatte: Bassfreund: Und als ich dann in/ im Lager war, mussten wir dann uns registrieren lassen. Wir bekamen dann diese bekannte Tätowierung von Auschwitz in den Arm. Ich bekam die Nummer eins null sechs drei sieben sieben. 389 Bassfreund, Boder 1946.
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Boder: Ach, das ist eine Eins? Bassfreund: Das ist eine Eins, Null/ Boder: Hundert/ Bassfreund: Hundertsechstausend Dreihundertsiebenundsiebzig. Boder: Siebenundsiebzig. Und was bedeutet das Dreieck? Bassfreund: Dieses Dreieck wurde erst später hineingemacht, das heißt Jude. Also, die/ Boder: Wann, wann später? Wurde das/ Bassfreund: Das wurde, drei Monate nachdem ich im Lager war, wurde das gemacht. Es war wahrscheinlich eine Vorsichtsmaßnahme, oder sie wollten genau wissen, wer Jude und wer Nichtjude ist. Weil die polnischen Häftlinge und die ausländischen Arbeiter ebenfalls tätowiert wurden, wollten sie eben die Juden noch besser kennzeichnen. Boder: Aha. Und die polnischen und die ausländischen Arbeiter wurden tätowiert? Bassfreund: Ja. Boder: Ja. Bassfreund: Und wir auch. Und wir erhielten danach dieses Dreieck, also um damit zu sagen, dass wir Juden sind.390 Bassfreund verwies auf die Bekanntheit der Tätowierungen aus Auschwitz, was an die Aussage von Silberbard erinnert, der im Interview mit Boder angegeben hatte, dass die Geschichten aus den Lagern 1946 längst aus Büchern, Filmen und Vorträgen bekannt seien. Boder wiederum zeigte großes Interesse an der tätowierten Häftlingsnummer von Bassfreund und offenbarte, dass er sie bereits angesehen hatte, aber die Zahlen nicht entziffern konnte: »Ach, das ist eine Eins?« Zudem erfragte er, was das Dreieck zu bedeuten habe, woraufhin Bassfreund erklärte, dass ihn dies als Jude markiert habe. Boders Interesse für Bassfreunds Tätowierung aus Auschwitz blieb auch nach dem Interview bestehen. In seiner späteren Monografie aus dem Jahr 1949 betitelte der Forscher das Interview mit Bassfreund mit »Number 106477 U«.391 Die tätowierte Häftlingsnummer wurde damit als Titel zum Symbol der Dekulturation im K Z . In seinem Buchmanuskript The D. P. Story hatte der Forscher 1948 noch den Arbeitstitel »It was just impossible« für das Interview von Bassfreund gewählt, mit dem er auch den Beginn des Kapitels seiner Transkription in den Topical Autobiographies von 1950 überschrieben hatte: »JUERGEN BASS-
390 Bassfreund, Boder 1946. 391 Vgl. Boder, Dead, S. 26. Allerdings hatte Boder die Häftlingsnummer leicht abgeändert: Aus der Nummer drei hatte er eine vier gemacht. Ob es sich dabei um eine Anonymisierung, ähnlich der Namensänderung von Bassfreund zu »Gastfreund«, oder um einen Fehler beim Transkribieren und Übersetzen handelte, ist nicht genau zu klären.
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FR EUND / IT WAS JUST IMPOSSIBLE .«392 Dieser Arbeitstitel rekurrierte auf eine Stelle des Interviews, in der Bassfreund über seinen Transport vom K Z Groß-Rosen zum K Z Dachau berichtet hatte, der auf die Deportation von
Auschwitz folgte. In der Audioaufnahme gestaltete sich die mündliche Erzählung von Bassfreund folgendermaßen: Boder: Nun, weiter? Bassfreund: Nun wollte ich eigentlich erzählen, wie wir im/ nachher, als schon die russischen Armeen Auschwitz sich näherten, äh, von Auschwitz nach Dachau transportiert wurden. Und das ist insofern sehr interessant, weil es eigentlich die größte Strapaze von allen war, die wir im Lager mitgemacht haben. Wir waren sehr viel schon gewöhnt, aber das war das Letzte, wo es die meisten Menschen wahrscheinlich, es/ ihr Leben haben lassen müssen. Boder: Von Auschwitz nach Dachau? Bassfreund: Von Auschwitz nach Dachau. Und/ Boder: Also wollen Sie uns/ über diese Reise/ Bassfreund: Ja. Boder: Ganz ausführlich erzählen? Bassfreund: Ganz ausführlich erzählen. Also am 18. Januar sahen wir nachts schon/ Boder: Welches Jahr? Bassfreund: 1945. Boder: Ja.393 Den Beginn des Dialogs bildete zunächst Bassfreunds Kategorisierung des Gewaltmarsches von Auschwitz nach Dachau als »die größte Strapaze«, die er während seiner Zeit im Lager durchgemacht habe. Dies deckte sich mit Boders Interesse an Schilderungen von Extremerfahrungen, die der Psychologe zuvor in mehreren Interviews als »schlimmstes Ereignis« erfragt hatte. Aus diesem Grund waren sich beide schnell einig, dass diese Erinnerung »ganz ausführlich« erzählt werden solle. Bassfreund berichtete von seinem Marsch im Januar 1945 durch den Schnee und wie er schließlich per Deportationszug im K Z GroßRosen ankam. Nach zwei Tagen hatte er sich freiwillig für einen Weitertransport zum K Z Dachau gemeldet, weil er gehofft hatte, dass die Lebensbedingungen dort besser sein könnten. Anschließend beschrieb Bassfreund, wie 120 Personen von der SS in einen Wagon gedrängt wurden, und diese Stelle enthält schließlich auch das titelgebende Zitat von Boders Transkription. In Boders englischprachiger Übersetzung hieß es an dieser Stelle:
392 Vgl. Boder, Topical Autobiographies, S. 277. 393 Bassfreund, Boder 1946.
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Juergen: […] we were standing at the cars and soon the SS drove us into the cars, 120 people into each car. It was just impossible – Boder: You, yourself, were in a closed car?394 Anhand einer ausführlichen Zitation der deutschsprachigen Audioaufnahme wird deutlich, wie Bassfreund die entstehende Panik während der Deportation darstellte und interpretierte: Bassfreund: Und als wir an diesen Wagons standen, dann trieb uns die SS wieder in die Wagons hinein, und zwar 120 Menschen in einen Wagon. Also es war ein/ eine Unmöglichkeit/ wir haben/ Boder: In einem geschlossenen? Bassfreund: In einem geschlossenen Wagon. Die Türen wurden zugemacht, Verpflegung hatten wir nicht mit, und nun versuchten wir, uns hinzusetzen, aber es war nicht möglich. Wenn 80 Leute gesessen haben, konnten die anderen schon nicht mehr stehen. Und es waren auch sehr viel Leute dabei, die sehr müde waren. Also, es war nicht anders möglich, der eine st/ hat auf dem anderen draufgestanden. Wir haben den Leuten auf die Finger getreten und die Leute haben sich natürlich wieder gewehrt und haben geschlagen. Also, es brach direkt eine Panik aus. Und es war so schlimm, dass [1 Sek.] Leute wahnsinnig wurden während der Fahrt. Aber während wir gefahren sind [3 Sek.] war es noch/ es war noch unter anderem ein/ der erste Tote, den wir hatten. Wir wussten nicht, wo wir die Toten hinlegen sollten. Auf der Erde haben sie doch Platz weggenommen, weil sie doch lang gelegen haben. Und dann sind wir auf die Idee gekommen, wir hatten jeder eine Decke mit, und da haben wir diesen Toten in diese Decke eingehüllt und an diesem Wagon waren zwei Eisenstäbe und da haben wir ihn oben festgeknotet, ne? Boder: Ja? Bassfreund: Und / aber nicht/ Boder: In einer Hängematte? Bassfreund: Ja. Wie in einer Hängematte. Und nun war das aber/ Wir haben aber bald eingesehen, dass das nicht geht, denn es wurden immer mehr Tote. Und durch die Hitze im Wagon fingen die Leichen auch schon zu riechen an. Also, wir sind gefahren und die/ damals waren diese Transporte, diese deutschen Truppentransporte, die zurückgingen von der Front, weil doch die Front äh/ äh, zurückging. Weil die Russen doch immer weiter vorwärts gingen, waren die ganzen Gleise verstopft. Wir 394 Vgl. Boder, Topical Autobiographies, S. 301. Auffällig an Boders Trankription ist, dass er Jürgen Bassfreund mit seinem Vornamen als »Juergen« benannte sowie seinen eigenen Namen ausschrieb und nicht, wie in den späteren Transkripten, mit »Q. n.« abkürzte. Boder veränderte demnach auch die Darstellungsform der Verschriftlichung der Interviews im Prozess der Arbeit an seinen 16 Bänden Transkripten von 1950 bis 1957.
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mussten tagelang stehen und erst diese Truppentransporte durchlassen. Nachts haben wir natürlich/ ko/konnten wir ja überhaupt nichts sehen, also man ist geschlagen worden und getreten worden. Bei mir war es zum Beispiel so, dass meine Hose, meine Häftlingshose, Sträflingshose, wurde mir plötzlich aufgerissen, der Länge nach, und ich konnte die Hose schon gar nicht mehr tragen. Und, ich war nur noch in Unterhosen. Wir sind so ohne Verpflegung, also ohne einen Tropfen Wasser und ohne ein Stück Brot/ trotzdem wir geschrien haben nach Wasser und draußen Schnee lag, hat uns die SS nichts gegeben.395 In seiner Beschreibung der Deportation geriet Bassfreund mehrmals ins Stocken, insbesondere an der Stelle, an der er über den ersten Todesfall im Inneren des Zuges sprach. Er schilderte, wie im geschlossenen Wagon, der mit 120 Personen völlig überfüllt war, während der Fahrt eine Panik im dunklen Innenraum ausgebrochen war. Menschen wurden totgetrampelt, Bassfreund wurde im Überlebenskampf seine Hose zerrissen. Der junge Mann beschrieb, wie die Toten in Decken gewickelt und aufgehängt wurden, um Platz auf dem Boden des Wagons zu schaffen. In seiner Erzählung griff Bassfreund den von Boder eingeworfenen Begriff der Hängematte für diese Konstruktion auf. Anschließend berichtete er davon, dass er bei einem Aufenthalt in Regensburg von Schwestern des Roten Kreuzes etwas zu essen und zu trinken bekommen habe, nachdem er sich für die Aufgabe gemeldet hatte, Leichen aus dem Wagon hinauszuwerfen. Seine zerrissene Hose erwähnte er an dieser Stelle erneut: Bassfreund: Nachdem wir das gegessen hatten und sind/ mussten wir wieder in Wagon zurück. Also ich war in Unterhosen und im Schnee. Strümpfe habe ich schon keine mehr angehabt. Also ich weiß auch nicht, was die Leute dort gedacht haben, die Schwestern, weiß ich auch nicht. Jedenfalls, wir sind weitergefahren. Boder: Und äh, konnten sich keine neue Ho/ oder eine andere Hose schaffen? Bassfreund: Nein, es war unmöglich. Ich hätte höchstens einem Toten die Hose ausziehen müssen. Aber man war so entkräftet von der langen Fahrt, wenn man fünf Tage und fünf Nächte nichts gegessen hat. Ich hab’ die ganze Zeit während dieser Fahrt gestanden und hab mir nur dadurch’s Leben gerettet, dass ich ein Stück Schnur an den Wagon angebunden habe und mich daran festgehalten habe. Also es war ein Ding der Unmöglichkeit.396 Boder schien nach dieser Erzählung seines Interviewpartners das Bild des jungen Mannes »in Unterhosen und im Schnee« vor Augen zu haben und fragte Bassfreund daher unmittelbar, ob sich dieser denn keine andere Hose hätte 395 Bassfreund, Boder 1946. 396 Ebd.
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beschaffen können. Der Interviewer kann nicht verstehen, warum Bassfreund bei Minusgraden in dieser völlig unzureichenden Bekleidung verblieben war. Doch der Befragte gab ihm unmittelbar die Antwort, dass es unmöglich war, eine andere Hose zu bekommen, er sei viel zu entkräftet gewesen und habe den Zugtransport selbst nur knapp überlebt. Neben Bassfreunds Erzählung über die Panik und den Überlebenskampf schien es für Boder nachträglich besonders die Darstellung der als Hängematte bezeichneten Konstruktion für die Leichen im Inneren des überfüllten Zuges zu sein, die aussagekräftig über die Zustände während einer Deportation waren. Der Psychologe zitierte 1947 in seinem Artikel The Displaced People of Europe exakt jene Passage aus Bassfreunds Interview ausführlich und leitete sie mit der Angabe ein, dass es sich dabei um die Beschreibung eines typischen Transportes handelte: Let us listen to a fragment of spool 138. We find there a description (in German) of a typical transport. The interviewee is Jurgen (sic) Bassfreund, about twenty years of age, a boy of German birth and education. We give a literal translation of the German text.397 Das folgende übersetzte Zitat aus Bassfreunds Erzählung der Deportation zum K Z Dachau kommentiert und kontextualisiert Boder 1947 ausführlich: Upon arrival at the concentration camps, the old, the sick, the women with children were sent immediately to the gas chambers (they thought they were going bathing), often to the tune of an orchestra. Those fit to work were shaven wherever there was a hair on the body, and a number was tattooed on their arm; […] Murder by clubbing and improvised garroting were common events in such camps. Meanwhile the bodies from the gas chambers were processed. Gold teeth were extracted, and women’s hair was shorn off for industrial use. Then the bodies were burned. There were never enough ovens for cremation, and the bodies were burned in open pits in full view of the prisoners and the neighboring population. Never was there a stethoscope applied to the bodies before cremation, and the common belief is that the quantity of gas allowed was not always sufficient to kill. These are some ›moderate‹ episodes taken from the wire recorder, all confirmed by unsolicited statements of DP ’s (sic) in camps far apart, and well substantiated by the material gathered for the Nurenburg (sic) trials. And these are their memories!398 Die Vorgänge, die Boder im Nachgang zu Bassfreunds Zitat über den Transport nach Dachau beschrieb, also die Ermordung von Alten, Frauen und Kindern in Gaskammern, das Scheren der Körperhaare, die Tätowierung der 397 Boder, Displaced People, S. 4. 398 Ebd. S. 5.
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Häftlingsnummer auf den Arm oder das Verbrennen von Leichen in Krematorien beziehungsweise offenen Gruben, waren allerdings alles keine Informationen über das K Z Dachau, sondern jene Aspekte, die Boder in den DP-Interviews insgesamt über verschiedenste Konzentrationslager, im Speziellen über das K Z Auschwitz erfahren hatte. Im selben Text schrieb Boder allerdings auch explizit über eine Gaskammer im K Z Dachau.399 Als Bebilderung seines Artikels wählte er ein Foto aus dem befreiten K Z Dachau vom Sommer 1946, das ihn vor einem Schild, das die amerikanischen Befreier hatten anbringen lassen, zeigte. Boders Pose vor dem Schild wirkt wie ein Touristenfoto – dieser Eindruck wird noch verstärkt dadurch, dass in seiner Hand eine Kamera zu sehen ist, mit der er in Dachau Videoaufnahmen angefertigt hatte (vgl. Abb. 3).400 Die Erzählung von Bassfreund über einen »typischen Transport« verwendete Boder als repräsentatives Beispiel, und in den im Artikel von 1947 folgenden Ausführungen vereinte der Forscher alle gehörten Angaben über die Konzentrationslager, um allgemeine Aussagen darüber zu tätigen. Indem Boder an dieser Stelle noch hinzufügte, dass es sich bei dem Zitat von Bassfreund um einen »moderaten« Abschnitt aus seiner Sammlung von unaufgeforderten Aussagen der DP s handele, verstärkt der Autor die Wirkung über das Grauen der K Z s noch. Diese Anmerkung verweist zudem bereits auf den späteren Titel seiner Monografie, den er im Vorwort des Buches von 1949 erklärte – die schlimmsten Geschichten hätten nur die Ermordeten erzählen können, doch diese hatte er nicht befragen können: »The verbatim records presented in this book make uneasy reading. And yet they are not the grimmest stories that could be told – I did not interview the dead.«401 Gleichzeitig verwies Boder auf »the material gathered for the Nurenburg (sic) trials«. Die Beweise, die im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945 bis 1946 zusammengetragen worden waren, unterstützten den Wahrheitsgehalt der kaum fassbaren Erzählungen der DP s, schließlich handele es sich um juristisch bewiesene Verbrechen. Aufgrund der medialen Verbreitung der Informationen über den Massenmord an den Juden in der Folge der Gerichtsprozesse des Internationalen Militärgerichtes in Nürnberg setzte Boder 399 In der Baracke X, die 1942/43 erbaut worden war, hatte die SS auch eine Gaskammer errichten lassen, die allerdings nie für Ermordungen benutzt wurde. 1946 ging man davon aus, dass diese Gaskammer in Betrieb gewesen sei, vgl. Barbara Distel: Die Gaskammer in »Baracke X« des Konzentrationslagers Dachau und die »Dachau-Lüge«, in: Neue Studien zu nationalsozialistischen Massentötungen durch Giftgas. Historische Bedeutung, technische Entwicklung, revisionistische Leugnung, hg. von Günter Morsch, Bertrand Perz und Astrid Ley, Berlin 2012 (Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten), S. 337-342, hier S. 339 ff. 400 Vgl. United States Holocaust Memorial Museum, David P. Boder Film Collection, Dachau, RG Number: RG -60.1955, UR L : https://collections.ushmm.org/search/ catalog/irn555479; letzter Zugriff am 30.07.2021. 401 Boder, Dead, S. xix.
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Abb. 3: Im Sommer 1946 posierte David Boder vor einem Schild im befreiten K Z Dachau mit der Aufschrift »CR EMATORY / DACHAU CONCENTR ATION CA MP «. Das Foto verwendete er 1947 für seinen ersten Artikel über das DP-Interviewprojekt. Fotograf unbekannt.
das Wissen um diese Verbrechen 1947 als bekannt voraus.402 Der Erzählung von Bassfreund sprach Boder somit als Augenzeugenbericht eindeutig eine Beweisfunktion zu: Den Interviewauszug verwendete er in seinem Artikel mit der Begründung, dass es sich bei seinen DP-Interviews um die Erinnerungen derjenigen Personen handele, welche die K Z s selbst er- und überlebt hatten: »[T]hese are their memories!«403 Doch Boder hatte 1946 nicht nur Erinnerungen über die Konzentrationslager aufgezeichnet, sondern ebenfalls über die Erlebnisse der Nachkriegszeit. Gegen Ende der fast zweistündigen Audioaufnahme zeigte er besonderes Interesse daran, zu erfahren, ob Bassfreund nach seiner Befreiung mit nichtjüdischen Deutschen, die er als »Stockdeutsche« benannte, Kontakt gehabt habe. 402 Die Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas stand zwar nicht im Mittelpunkt der Prozesse in Nürnberg, aber die Thematisierung des Massenmords (in den K Z s) nahm breiten Raum ein, vgl. Weinke, Nürnberger Prozesse, S. 47-53; Arieh J. Kochavi: The Role of the Genocide of European Jewry in the Preparations for the Nuremberg Trials, in: Holocaust and Justice. Representation and Historiography of the Holocaust in Post-War Trials, hg. von David Bankir und Dan Michman, Jerusalem 2010, S. 59-80. 403 Boder, Displaced People, S. 5.
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Sein Interviewpartner sprach daraufhin von seinen Erfahrungen mit Deutschen nach dem Ende des Krieges: Boder: Sagen Sie mal/ Ja. Sagen Sie mal, sind Sie nach Ihrer Befreiung mit Stockdeutschen zusammen gekommen? Bassfreund: Ja. Boder: Mit Christen? Bassfreund: Ich bin mit Christen auch zusammengekommen, selbstverständlich. Und zwar hab’ ich / muss ich sagen, dass bei diesen Leuten also teilweise das Verständnis für unsere Lage vollkommen fehlt. Also es sind manche Leute, wenn man gesagt hat, man kommt aus dem K Z / Boder: Ja, nun? Bassfreund: Dann haben sie zum Beispiel gesagt, ›Na ja, meine Angehörigen sind durch Bomben um/ umgekommen, das ist genauso schlimm.‹ Aber es gab ’n Teil wieder, die wollten es wieder von sich abwälzen, die wussten davon nichts, was in den Konzentrationslagern passiert. Und, äh, wenn sie das gewusst hätten/ das Volk/ sie haben nichts sagen dürfen, sie waren ängstlich, sonst wären sie selbst ins Lager gekommen und so. Es ist verschieden, die Auffassung. Also ich muss sagen, eigentlich, ein Eingeständnis von Seiten der Deutschen, dass man sagen kann, dass sie sagen ›Ja, es ist/ war falsch‹ oder ›Es war nicht richtig, was wir gemacht haben‹, hat man selten gehört.404 Boders recht unspezifische Frage nach Kontakt mit Deutschen nahm Bassfreund zum Anlass, um über die Schuldabwehr der deutschen Nachkriegsbevölkerung zu berichten. Die nichtjüdischen Deutschen hätten sich gegenüber Bassfreund, der nach seiner Befreiung ein Jahr im bayrischen Fürth verbracht und dort in einem Kino gearbeitet hatte, als gleichgültig bis schuldrelativierend angesichts seiner K Z -Erfahrungen geäußert. Ihr eigenes Leid im Bombenkrieg hatten sie etwa gegen seine Qualen im K Z aufgewogen.405 Die amerikanische Kriegsberichterstatterin Bourke-White hat die von Bassfreund beschriebene frühe Schuldabwehr in ihrem 1946 erstveröffentlichten Bericht über das besiegte Deutschland adäquat eingefangen und bezeichnete den von der Zivilbevölkerung stets wiederholten Satz »Wir haben nichts gewußt« polemisch als neue deutsche Nationalhymne.406 Da Bassfreund von »den Deutschen« als den Anderen sprach, fiel es Boder nachfolgend hörbar schwer, zu entscheiden, wie er seinen Interviewpartner, der selbst in Deutschland geboren worden war, adressieren sollte. Boder bricht seine Frage zunächst ab, und anstatt Bassfreund selbst als Deutschen zu klassi404 Bassfreund, Boder 1946. 405 Diese Selbstviktimisierung der Deutschen war weit verbreitet, vgl. Grossmann, Juden, S. 69-83. 406 Bourke-White, Deutschland, S. 90.
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fizieren, stellte er eine allgemeine Frage nach den Erwartungen »der Deutschen« für die Zukunft: Boder: Ja. Nun, sagen Sie, wie verstehen Sie das als [1 Sek.]/ Mit guter Einsicht, was erwarten eigentlich die Deutschen in der Zukunft? Was, äh, was ist die Auffassung der Deutschen jetzt von der ganzen Situation? Bassfreund: Ja, also es ist sehr schwer zu sagen. Die Deutschen glauben nun natürlich, die Amerikaner müssen/ werden es ihnen wieder heraufhelfen. Also sie glauben/ zum Beispiel hab’ ich auch vielfach schon die Meinung gehört/ sagen: ›Na, du bist Jude, du gehst heute nach Amerika, du wirst sehen, es werden Juden aus Amerika nochmal hierherkommen, damit der Handel wieder auflebt.‹ Und solche, solche kindischen, naiven Ansichten haben ein großer Teil dieser Leute. Und sie können auch nicht verstehen, dass uns zum Beispiel Deutschland gar nichts bedeutet, trotzdem wir dort geboren sind und so. Also es ist doch selbstverständlich: in einem Land, wo man alles, was man besessen hat, die Eltern vor allen Dingen, ein Wert, der doch gar nicht zu ersetzen ist, wenn einem das genommen worden ist, dann kann man überhaupt kein Gefühl mehr haben [1 Sek.] für/ für so ein Land.407 Bassfreund grenzte sich in dieser Darstellung eindeutig vom Kollektiv der Deutschen ab. Nachdem seine Familie von den Nazis ermordet wurde, könne er »überhaupt kein Gefühl mehr haben« für Deutschland. Dies betraf nicht nur ihn, sondern sei eine kollektive Erfahrung der ehemaligen Verfolgten, Bassfreund sprach von »uns« und »wir«. Ähnlich wie dem ebenfalls in Deutschland geborenen Gert Silberbard erschien es Bassfreund unmöglich, sich weiter als Deutscher zu begreifen. Die von Bassfreund geschilderte Position einiger Deutscher, dass Juden aus Amerika nach Deutschland kommen würden, um den Handel wiederaufleben zu lassen, bezeichnete er als »kindisch« und »naiv«. Damit drückte er zaghaft sein Unbehagen über die antisemitische Dimension der Identifikation von »den Juden« mit der kapitalistischen Wirtschaft aus.408 Zum unmittelbaren Schluss der Audioaufnahme erzählte Bassfreund noch, dass er einen Onkel in Atlanta sowie einen Vetter in New York habe, die er nach seiner Überfahrt nach Amerika besuchen wolle. Boder sprach ihm daraufhin Mut für seine Zukunft in den USA zu: Boder: Da gibt es solche [Boder bezieht sich auf Berufsberatungen in den USA ; DS] und die ORT hat auch angefangen in Amerika/ zu funktionieren und/ und Ihre Verwandten wahrscheinlich werden Ihnen auch bloß 407 Bassfreund, Boder 1946. 408 Diese Gleichsetzung knüpft nahtlos an die antisemitische NS -Verschwörungstheorie des »internationalen Judentums« an, vgl. Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg 2005, S. 165-194, hier S. 179 ff.
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die Möglichkeit geben und wenn Sie fleißig sind [1 Sek.] und, äh, sich ans Leben dort gewöhnen, dann wird es Ihnen schon gut gehen. Also danke sehr, Herr Jürgen. [1 Sek.] Und Sie werden wahrscheinlich in Amerika bevor nicht/ äh, äh, bevor ich hinkomme, sein. [1 Sek.] Und, äh [1 Sek.] ich werde Ihnen meine Adresse geben. Sie können mir mal schreiben, wie es Ihnen geht. Bassfreund: Das wär’ sehr nett von Ihnen. Boder: Also. Bassfreund: Vor allen Dingen danke ich Ihnen dafür, dass Sie mir Gelegenheit gegeben haben, hier einmal über diese ganzen Erlebnisse aus dem Lager zu sprechen und/ damit die Leute, damit denen man mal ein Bild geben kann, von dem, was wirklich geschehen ist und das, was ich gesagt habe, sind nur einzelne Fälle. Und, äh, es ist nichts übertrieben. Das kann ich mit gutem Gewissen sagen. Im Gegenteil, man kann es nicht so schildern, wie es wirklich gewesen ist.409 Boder bot seinem Interviewpartner zum Schluss des Interviews Unterstützung an, er wollte ihm seine Adresse geben, damit ihm der Interviewte in den USA schreiben könne.410 Bassfreund wiederum dankte Boder für die Möglichkeit, über seine K Z -Erfahrung sprechen zu können. Der Interviewte schien sich ein großes Publikum vorzustellen, das sein Interview in den USA erreichen und »die Leute« über die Verbrechen der Nazis aufklären würde. Seine Angabe, dass er nichts übertrieben habe und es eigentlich kaum zu beschreiben sei, »wie es wirklich gewesen ist«, verweist auf die Grenzen der Repräsentation seiner Erfahrungen, die er in den Lagern und auf den Deportationen erlitten hatte. Gleichzeitig offenbarte seine Aussage einen eklatanten Widerspruch zum Diktum des Unsagbaren und ist ein gutes Beispiel für das Erzählen trotz allem: Obwohl Bassfreund angab, dass seine Erinnerungen kaum zu schildern seien, hatte er immerhin fast zwei Stunden über ebendiese geredet. Das Interview von Bassfreund war eine jener Aufnahmen, die Boder besonders aussagekräftig und repräsentativ für die Erfahrung der Katstrophe in Europa erschienen. Der Forscher übersetzte und transkribierte es als eines der ersten nach seiner Rückkehr in die USA und nutzte es anschließend als Forschungsgrundlage für seine Analyse der traumatischen Auswirkungen des NS Massenmords an den Juden. Wie in der Analyse des Interviews aufgezeigt 409 Bassfreund, Boder 1946. 410 In mehreren Interviews sprach Boder diese Form der möglichen Unterstützung und nachträglichen Kontaktaufnahme aus. Tatsächlich hatte er im Nachgang seiner Interviews jedoch nur mit sehr wenigen Befragten Kontakt. Zum Briefwechsel von Boder mit Kimmelmann vgl. Daniel Schuch: Wem gehören die Erzählungen? Zur (Nach-)Geschichte von David Boders Interview mit Abraham Kimmelmann, in: D. P. Boder 1946. Fragen an Displaced Persons 1946 und heute, 29. April 2021, UR L : https://www.dp-boder-1946.uni-jena.de/wem-gehoeren-die-erzaehlungen; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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wurde, war die Erzählung von Bassfreund insgesamt stark durch die nachträglichen Deutungsversuche geprägt. Im Gespräch mit Boder wurde deutlich, dass er seine Erlebnisse noch zu verstehen und diese zu kommunizieren versuchte. Wiederholt hatte Bassfreund betont, dass ihn die Konfrontation mit der Realität des Massenmords an den Juden nach seiner Ankunft im K Z Auschwitz völlig überfordert hatte und er erst im Nachhinein durch weiteres Wissen verstehen konnte, was dort eigentlich geschah. In Satzfragmenten wie »ich wusste selbst damals noch nicht, was das bedeuten sollte« oder »wir haben später erst erfahren« verdeutlichte er, dass er Stück für Stück den Prozess des organisierten Massenmordes verstanden hatte, von dem er Boder 1946 berichtete. In seiner deutenden Erinnerung benannte er Auschwitz schließlich als Tötungsort, »wo diese ganzen Leute, äh, vergast und verbrannt wurden«. Bassfreunds Erzählung war insgesamt größtenteils emotionslos berichtend gehalten, und dies nicht trotz, sondern gerade wegen der Erinnerung an extreme Gewalt, Mord und kaum erträgliches Leid. Sein distanzierendes Sprechen ermöglichte es ihm, eine Form für die Fassungslosigkeit zu finden.
Zwischenfazit Anhand der detaillierten Interviewanalysen wurde aufgezeigt, dass es ein großes Konfliktpotenzial im Dialog der Befragten mit dem Psychologen sowie in der Deutung der erzählten Erlebnisse gab.411 Das Erkenntnisinteresse von Boder und seine Interviewmethoden zielten auf die Erfahrung der Individuen ab, deren wortwörtliche Erzählungen er mit seinem Drahttonrekorder aufzeichnete, um diese im Nachhinein auswerten zu können. Die Fragen des Forschers standen allerdings oftmals im Widerspruch zum Eigensinn seiner Interviewpartner, die versuchten, eine eigene Form für die interpretierende Darstellung der Erlebnisse zu finden. Das große Konfliktpotenzial der Kommunikation war durch mehrere Aspekte bedingt, die in allen Interviewanalysen aufgezeigt wurden. Ein entscheidender Punkt betraf die Perspektive der Erzählungen: Boders Interesse an individuellen Erlebnissen stand oftmals im Widerspruch zur Erfahrung der kollektiven Verfolgung als Juden. In der Verbalisierung der Verfolgungserfahrungen handelte es sich um prozesshafte Versuche eines nachträglichen Verstehens der erlittenen Ereignisse, und die Dimensionierung der NS -Verbrechen machte dies erst möglich. Die Erzählung von Unikowski über seine Verfolgung als Jude in Polen stand etwa durchgängig im Spannungsver411 Zur konflikhaften Kommunikation als zentralem Aspket der Interviews vgl. Daniel Schuch: Konflikthafte Zeugenschaft. David P. Boders Interviews mit Displaced Persons im Nachkriegseuropa, in: Mimeo. Blog der Doktorandinnen und Doktoranden am Dubnow Institut, 22. Juli 2020, UR L : https://mimeo.dubnow.de/kon flikthafte-zeugenschaft/; letzter Zugriff am 04.08.2021.
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hältnis zwischen seinen persönlichen Erfahrungen und der kollektiven Dimension, die er durch allgemeine Informationen über den historischen Kontext erklärte. Durch die Kombination dieser beiden Perspektiven war es ihm möglich, eine interpretierende Darstellung über die kollektive Verfolgung der Juden in Polen am Beispiel seiner Erlebnisse im Ghetto Litzmannstadt sowie im K Z Auschwitz zu formulieren. Unikowski betonte mehrfach, dass seine Erfahrungen nur im größeren historischen Kontext zu verstehen wären: »Das, was mit mir passiert ist, ist einem jeden Juden passiert.« Diese Interpretation bestätigte auch Heisler in seinem Interview mit Boder. Seine gesamte Erzählung war durch die Verbindung von Erinnerungen an individuell Erlebtes, Geschichten vom Hörensagen und allgemeinen Informationen über die Verfolgung der Juden aus seiner Heimat gekennzeichnet. Eine Dimensionierung des NS Massenmordes erschien allen Interviewten als fundamentaler Bestandteil der Deutung ihrer Erfahrungen, so auch bei Binder, die detaillierte Angaben über die Massenerschießungen im Ghetto Lemberg sowie über die Deportation der Juden zum Tötungsort Bełżec machte. Das begrenzte Wissen des Interviewers animierte die Befragten regelrecht dazu, ein umfassendes Bild der kollektiven Verfolgung zu zeichnen, in das die eigenen Erlebnisse eingebettet wurden. Ein weiterer Aspekt der konflikthaften Kommunikation betraf die Grenzen des Sagbaren, die sich teilweise im Scheitern von Kommunikationsversuchen, aber auch im Aspekt des Erzählens trotz allem ausdrückten. Besonders Binder, die im Interview mit Boder stark emotional war, rang um passende Worte für ihre Erlebnisse. Die Grenzen der Sprache basierten bei der polnischen Muttersprachlerin insbesondere auf der begrenzten Ausdrucksfähigkeit in der ihr fremden deutschen Sprache. Obwohl es Boders Anspruch war, die Erzählungen der Interviewten in ihrer eigenen Stimme sowie in deren eigener Sprache aufzuzeichnen, führten Sprachbarrieren in einigen Fällen zu einem Abweichen von dieser Methode. Auch Heisler hatte im Deutschen diverse Probleme mit der Verständigung und drückte in seinen teilweise abgehackten Sätzen seine Fassungslosigkeit und Ohnmacht aus. Die Verbalisierung seiner Erinnerungen an die Deportation zum K Z Auschwitz, von dessen Existenz er noch im Frühjahr 1944 nichts gewusst hatte, fiel ihm hörbar schwer. Um die Erlebnisse mitteilen zu können, war für die Interviewten eine nachträgliche Deutung nötig, die insbesondere Bassfreund in seinem Interview betonte. Er schilderte seine Erinnerungen an den NS -Massenmord in einem emotionslos berichtenden Stil und dieses distanzierende Sprechen ermöglichte es ihm, eine Form für seine Erinnerungen zu finden. Ihm schien es als gutgebildetem Erzähler ebenso wie dem deutschen Muttersprachler Silberbard wenig Probleme zu bereiten, einen Ausdruck für seine Erinnerungen an die Konzentrationslager in Auschwitz und Buchenwald zu finden. Die eloquente Wortwahl verband Letzterer mit einem sachlich nüchternen Stil, und er schilderte die alltägliche Gewalt im K Z in der Logik der Täter als völlig »selbstverständlich.« Diese Normalisierung der Gewalt wurde als Anpassung an die
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tionale Logik der Konzentrationslager gedeutet, die auch ein Mittel des eigenen Überlebens war. An den Stellen, an denen die Erfahrungen nicht mehr mit Begriffen und Deutungsmustern der NS -Täter zu beschreiben waren, versagte allerdings auch Silberbard die Sprache. In Reaktion auf die Aufforderung, seine Befreiung im K Z Buchenwald zu beschreiben, gab er an, dass dies kaum zu schildern sei. Boder schaffte es als Interviewer allerdings in vielen solcher Situationen, seine Interviewpartner zum Weitersprechen zu motivieren, in diesem Falle genügte ein einfaches »Probier mal!«. Die konflikthafte Kommunikation offenbarte auch die Widersprüchlichkeit der angestrebten Wissensproduktion: Boder eignete sich im Laufe der Interviews umfangreiches Wissen über die Verfolgung und Ermordung der Juden an, was anhand seiner gezielten Nachfragen zu bestimmten Begriffen, Ereignissen oder nach Abläufen der Deportationen aufgezeigt wurde. Zugleich schienen die erzählten Erlebnisse keinen nachvollziehbaren Sinn zu ergeben und sperrten sich gegen ein logisches Nachvollziehen. Während der Aufnahmesituation im Nachkriegseuropa, die ich als prozesshafte Feldforschung interpretiert habe, wechselte Boder mehrfach die Rolle zwischen einem professionellen Interviewer mit spezifischen Erkenntnisinteressen und einem wissbegierigen und gleichzeitig perplexen Zuhörer. Der Forscher befand sich während der Aufnahmen seiner Interviews im Sommer und Herbst 1946 noch im Prozess des Verstehen-Wollens, doch er konnte die Erzählungen seiner Interviewpartner oftmals nicht begreifen. Die Berichte über die extreme Gewalt und über den Massenmord in den Ghettos, Konzentrationsund Vernichtungslagern ergaben schlichtweg keinen Sinn. In Reaktion auf die unfassbaren Geschichten seiner Interviewpartner wandelte Boder seine Interviewmethoden mehrfach ab. An den Interviews von Binder und Heisler wurde deutlich, dass der Forscher zwischenzeitlich die Sammlung von mehreren kurzen Erzählungen bevorzugte, um sein Sample zu vergrößern und dadurch mehr Vergleichspunkte für seine spätere Auswertung der Interviews zur Verfügung zu haben. Ebenfalls wandelten sich die Fragen des Interviewers: Spezifische Nachfragen, die zunächst naiv oder provokativ wirkten, konnten durch die Analyse seiner Forscherperspektive erklärt werden. Es sind insbesondere die nur scheinbar naiven Fragen des Interviewers nach Sitzbänken oder Toiletten in den Deportationszügen in der Aufnahme von Heisler, die Boder gezielt einsetzte, um genauere Informationen über die entwürdigenden Deportationen zu erhalten, um deren psychische Auswirkungen im Nachgang analysieren zu können. Zu konstatieren ist daher, dass Boder oftmals weitaus mehr über die NS -Verbrechen begriffen hatte, als es seine Fragen in den einzelnen Interviews vermuten lassen. Perplexität und gezielte Nachfragen wechselten sich ab und sind charakteristisch für das gesamte Interviewprojekt: Die Widersprüchlichkeit seiner Aufnahmen und der angestrebten Wissensproduktion ist durch den prozesshaften Wissenserwerb gekennzeichnet.
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Im Nachgang der Interviewsammlungen in den DP-Camps analysierte Boder die Erzählungen und benutzte Ausschnitte aus seinen Transkriptionen als repräsentative Beispiele für seine wissenschaftlichen Artikel, wie am Beispiel des Interviews mit Bassfreund aufgezeigt wurde. Boder entwarf auf Grundlage der persönlichen Geschichten damit eine universalisierende Interpretation der Ereignisse als »world catastrophe«. Die massenhaften Ermordungen von Juden in Polen, von denen Binder in ihrem Interview ausführlich berichtet hatte, kommentierte der Psychologe nachträglich etwa als geplanten Massenmord mit katastrophalem Ausmaß. Die psychischen und kulturellen Auswirkungen dieser beispiellosen Massenvernichtung standen somit im Zentrum seines Erkenntnisinteresses. Wie aufgezeigt wurde, leistete Boder mit seiner Begriffsbildung einen wichtigen Beitrag zur Wissensproduktion über die NS -Verbrechen. Der Forscher interpretierte den NS -Massenmord als einen historischen und kulturellen Bruch, weshalb er mehrfach betonte, dass ein völlig neues Vokabular nötig sei. Boders Begriffsbildung der Dekulturation für die Analyse der traumatischen Auswirkungen auf die Psyche seiner Interviewpartner reflektierte dies. Die Erfahrungsberichte seiner Interviewpartner waren die Basis für spezifisches Wissen: Boder wollte die »Katastrophe« in Europa begreifen und deren Auswirkungen auf die Individuen auswerten.
3. Boders ambivalente wissenschaftliche Verortung und Rezeption David Boder war keineswegs der Erste und auch nicht der Einzige, der die Berichte von Opfern der NS -Verbrechen frühzeitig dokumentierte und interpretierte. Aus den bisherigen Ausführungen über sein Interviewprojekt mit DP s im Nachkriegseuropa ergeben sich daher diverse Fragen über die wissenschaftsgeschichtliche Verortung des Forschers sowie die Rezeption seiner Interviews von 1946 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts: Wie lassen sich Boders Interviewprojekt und seine öffentliche Wahrnehmung innerhalb einer Historisierung von Zeugenschaft und Erforschung des NS -Massenmords an den Juden Europas einordnen? In welchem Verhältnis stehen seine Interviews zu anderen zeitgenössischen Dokumentations- und Forschungsansätzen der frühen Nachkriegszeit? Und wie wurden die Interviews bis zum Tod des Forschers im Jahr 1961 und darüber hinaus überliefert? Eine Verortung von Boders Interviews sowie die Rezeption seiner Forschung in den folgenden Jahrzehnten stehen der gängigen Periodisierung von Zeugenschaft und Erforschung des Holocaust teilweise konträr gegenüber. Dies ist bedingt, so die forschungsleitende These, durch seine spezifischen Erkenntnisinteressen als Psychologe und Humanwissenschaftler. Nichtsdestotrotz gehören seine DP-Interviews zur Phase der frühen Dokumentation und
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schung des NS -Massenmords an den Juden Europas. Der Mythos von einer verspäteten Auseinandersetzung, gar von einem totalen Schweigen über die NS -Verbrechen bis in die 1960er Jahre wurde in der Forschung der letzten Dekade grundsätzlich in Frage gestellt.412 Eine Dokumentation der NS -Verbrechen begann bereits während des Zweiten Weltkrieges, und der Beginn der Holocaustforschung avant la lettre kann auf die unmittelbare Nachkriegszeit datiert werden, wobei der Zeugenschaft der Opfer eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird.413 In ganz Europa organisierten sich etliche der durch den NS verfolgten Juden und leisteten historische Pionierarbeit.414 Die von jüdischen Betroffenen begründeten Historischen Kommissionen dienen daher als erster Vergleichspunkt zu Boders Interviews. Um sein Interviewprojekt mit diesen Forschungen zu vergleichen, wird im ersten Teil dieses Kapitels danach gefragt, in welchem Verhältnis Boder zu diesen Akteuren der frühen Erforschung des NS -Massenmords stand. Zudem wird die Bedeutung von Boder innerhalb der frühen K Z - und Katastrophenforschung der 1940er und 1950er Jahre anhand eines transatlantischen Vergleichs mit den USA aufgezeigt.415 Die Vernetzung von Boder innerhalb dieses grenzüberschreitenden und interdisziplinären Forschungsfeldes ergibt das Bild einer ambivalenten Rezeptionsgeschichte seines Interviewprojekts. Um zu erklären, welche Bedeutung Boders Interviews zu seinen Lebzeiten hatten, wird der persönliche Kampf des Psychologen um öffentliche Anerkennung für seine Forschung bis zum Beginn der 1960er Jahre rekonstruiert. Das Jahr 1961 bildet dahingehend einen paradoxen Wendepunkt: Im Jahr des spektakulären Gerichtsprozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, der als internationaler Paradigmenwechsel und Auftakt zu einer »Ära des Zeugen«416 gilt, starb Boder im Alter von 75 Jahren in Los Angeles. Die neue pädagogische Funktion der Aussagen von 412 Vgl. Elisabeth Gallas, Laura Jockusch: Anything But Silent: Jewish Responses to the Holocaust in the Aftermath of World War II , in: A Companion to the Holocaust, hg. von Simone Gigliotti und Hilary Earl, Hoboken/Chichester 2020, S. 311-330; Diner, Silence; Cesarani, Challenging. 413 Vgl. Cohen, Holocaust Testimonies; Michman, Bewältigungsstrategien, S. 259-260. 414 Vgl. Hans-Christian Jasch; Stephan Lehnstaedt: Die Erste Generation der Holocaustforschung – Verfolgung, Aufklärung und Erinnerung des Völkermords an den europäischen Juden / The First Generation of Holocaust Research – Persecution, Elucidation and Remembrance of the Genocide of the European Jews, in: Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung/Crimes Uncovered. The First Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung/Exhibition Catalogue, hg. von Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt, Berlin 2019, S. 6-19. 415 Zur Bedeutung einer transatlantischen Perspektive für die Erforschung der Wirkungsgeschichte des Holocaust vgl. Hans Krabbendam; Derek Rubin: Transatlantic Perspectives on American Responses to the Holocaust: An Introduction, in: American Responses to the Holocaust. Transatlantic Perspectives, hg. von Hans Krabbendam und Derek Rubin, Frankfurt am Main 2017 (Interamericana), S. 7-14. 416 Vgl. Wieviorka, Era, S. 56-96.
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Opferzeugen während des Eichmann-Prozesses wird mit der Rolle seiner Interviewpartner und den Interviews als Forschungsmaterial kontrastiert. Folglich wird zweitens aufgezeigt, dass die Rezeption von Boders Interviewprojekt nach 1961 als eine gegenläufige Bewegung hinsichtlich der Konjunkturen der Zeugenschaft zu verstehen ist. Weder die öffentliche Anerkennung der Figur des Holocaustzeugen seit 1961 noch der folgende Boom von Videointerviews mit Überlebenden nach 1979 hatten wesentliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung seines frühen Interviewprojektes. Nach 1961 fanden seine Aufnahmen vielmehr über Jahrzehnte kaum mehr Beachtung, und erst seit der Jahrtausendwende gelten die Interviews aufgrund ihrer digitalen und virtuellen Reproduktion als die vermeintlich frühesten Zeugnisse des Holocaust. Die Historikerin Elisabeth Gallas hat Boders Interviews retrospektiv als »das erste Holocaust-Tonarchiv«417 gewürdigt, doch es stellt sich die Frage, seit wann seine Aufnahmen überhaupt als auditive Zeugnisse des Holocaust gelten und wie sie überliefert wurden. Anhand einer Rekonstruktion der Projektgeschichte der »Voices of the Holocaust«-Website an der Paul V. Galvin Library in Chicago wird drittens detailliert aufgezeigt, wie sich Boders fast vergessene Interviews mit Displaced Persons erst um die Jahrtausendwende in populäre Narrative des Überlebens verwandelt haben.
Verwissenschaftlichung der Katastrophe: Boders Disaster Studies Die Dokumentation und Interpretation der massenhaften Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa begann aus jüdischer Perspektive bereits kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aufgrund der auf den Einmarsch der Wehrmacht in Polen folgenden systematischen Zerstörung der jüdischen Gemeinden durch die Nazis hatte sich in Wilna bereits im November 1939 ein Komitee bestehend aus etwa 60 jüdischen Schriftstellern und Journalisten gegründet, die im litauischen Exil schriftliche Interviewprotokolle von Augenzeugen der antisemitischen Verfolgung sammelten. Das Wilnaer Komitee, das sich den jiddischen Namen »Komitet tsu zamlen materialn vegn yidishn khurbn in Poyln 1939« gegeben hatte, gilt damit als die früheste jüdische Dokumentationsinitiative in Osteuropa.418 Interpretiert wurde die antisemitische Verfolgung in der jahrhundertelangen Tradition der Pogrome gegen Juden in der Diaspora. Doch die Sammlung von Augenzeugenberichten diente nicht nur der Dokumentation, sondern ebenso einer ersten Interpretation und Deu417 Elisabeth Gallas: Frühe Holocaustforschung in Amerika. Dokumentation, Zeugenschaft und Begriffsbildung, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 15, 2016, S. 535-569, hier S. 555. 418 Ausführlich zu dieser frühen Sammlung von Interviews mit Augenzeugen der NS Verfolgung und zur Übersetzung der jiddischen Interviewprotokolle vgl. Miriam Schulz: Der Beginn des Untergangs. Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden in Polen und das Vermächtnis des Wilnaer Komitees, Berlin 2016.
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tung der Ereignisse. Die Zeugnisse bildeten den Grundstein für das Forschungsfeld der sogenannten Khurbn Forshung.419 Das jiddische Wort khurbn (Zerstörung) rekurriert auf die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem (586 v.Chr.), die als kosmologischer Bruch im Judentum überliefert wird.420 Die Sammlung von Zeugnissen einer erneuten Zerstörung der jüdischen Gemeinden war demnach das Ziel der Forschung, und jeder einzelne Jude wurde als Augenzeuge der historischen Ereignisse betrachtet, weswegen die Aufgabe in der individuellen und kollektiven Sammlung von Quellenmaterial für eine jüdische Historie bestand.421 Nach dem Sieg der Alliierten über die Deutschen gründeten sich in ganz Europa zahlreiche jüdische Historische Kommissionen, in denen sich bis zu 2.000 Personen engagierten.422 Organisiert waren diese Kommissionen in regionalen bis landesweiten Netzwerken, bestehend aus (Laien-)Historikern sowie zahlreichen unterstützenden Sammlern, fast alle selbst jüdische Überlebende der NS -Verbrechen. Der israelische Historiker Boaz Cohen hat die Akteure dieser frühen Erforschung des NS -Massenmords daher als »survivor historians« bezeichnet, für die Zeugnisse der Opfer von zentraler Bedeutung waren: »The very early appearance of survivor testimonies in the post-Holocaust world was due to the fact that they were solicited, collected, and organized by the survivor historians from the first decade of Holocaust research.«423 Die Sammlung von Zeugnissen als historischem Beweismaterial ist nicht nur als Dokumentation, sondern ebenfalls als erste Interpretation und Systematisierung des NS -Massenmords an den Juden zu begreifen. Im Warschauer Ghetto war es den Mitgliedern des geheimen Oyneg-Shabes-Archivs um Emanuel Ringelblum und Rachel Auerbach etwa durch eine chronologische Dokumentation und anschließende Auswertung von Deportationslisten und weiteren Materialien möglich gewesen, bereits während der Deportationswellen von Juden seit 1942 nach Treblinka zu erkennen, dass diese in einer massenhaften 419 Vgl. Laura Jockusch: Khurbn Forshung – Jewish Historical Commissions in Europe, 1943-1949, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 6, 2007, S. 441-473. 420 Marc Caplan: Khurbn, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2: Co-Ha, hg. von Dan Diner, Darmstadt 2012, S. 341-345, hier S. 341. 421 Damit wurde ebenso an eine Form von jüdischer Geschichtsschreibung angeknüpft, deren Grundstein der russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow Ende des 19. Jahrhunderts gelegt hatte, vgl. Jockusch, Geschichte, 120 ff. 422 Vgl. Laura Jockusch: Historische Kommissionen, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2: Co-Ha, hg. von Dan Diner, Darmstadt 2012, S. 70-75. 423 Cohen, Holocaust Testimonies, S. 162. Natalia Aleksiun und Katrin Stoll haben den Begriff jüngst erweitert und mit der Deutung als »survivor scholars« auf die Bandbreite der beteiligten Wissenschaften verwiesen, vgl. Katrin Stoll: Die deutschen Verbrechen bezeugen. Jüdische Zeugnisse der Shoah in Polen, in: Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung/Crimes Uncovered. The First Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung/Exhibition catalogue, hg. von Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt, Berlin 2019, S. 232-261.
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Ermordung mündeten.424 Die Deutung der Ereignisse als systematische Verfolgung und gezielte Ermordung der Juden als Kollektiv nährte zugleich die Hoffnung der Betroffenen, dass die Weltöffentlichkeit durch ihre Zeugnisse über die Verbrechen der Deutschen informiert und die Regierungen der Alliierten dadurch zur Intervention veranlasst werden würden.425 Wie die Historikerin Laura Jockusch ausgeführt hat, lassen sich die Ziele der Historischen Kommissionen nach Kriegsende grob in zwei Anliegen unterteilen: erstens die historische Dokumentation und Rekonstruktion der Verbrechen sowie zweitens politische Anliegen wie die juristische Aufarbeitung, der Kampf gegen Antisemitismus und das Engagement für Kompensationszahlungen an die Opfer.426 Als eine der größten und bedeutendsten Institutionen im Feld der Khurbn Forshung gilt die Zentrale Jüdische Historische Kommission (ZJHK ), die in Polen seit 1944 Beweise über die Verbrechen an den Juden sammelte. Zu den Gründungsmitgliedern in Lublin gehörte der polnische Historiker Philip Friedman, einer der Väter der Holocaustforschung.427 Das Ziel der historischen Beweissicherung sollte durch die Erarbeitung von methodischen Handreichungen wie Fragebögen und Leitfäden für die Erstellung von schriftlichen Interviewprotokollen ermöglicht werden.428 Ähnlich wie Boder waren die Historischen Kommissionen auch in den DP-Camps, insbesondere in der amerikanischen Besatzungszone in Deutschland aktiv.429 Als wichtigste Organisa424 Vgl. Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos, Reinbek bei Hamburg 2010, S. 333-355. 425 Die Hoffnung auf einen weltweiten öffentlichen Aufschrei und eine tatkräftige Reaktion blieb bis zum Kriegsende trotz zahlreicher früher Presseberichte über den Massenmord jedoch größtenteils vergeblich, vgl. Hans-Christian Jasch: »The crime without a name« – Erste Berichte über den Judenmord in der westlichen Welt, in: Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung/Crimes Uncovered. The First Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung/Exhibition Catalogue, hg. von Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt, Berlin 2019, S. 42-71. 426 Vgl. Jockusch, Khurbn Forshung, S. 444. 427 Vgl. Gallas: Zwei ungleiche Väter, S. 91-114; Wolfgang Benz: Überleben, um den Untergang zu beschreiben. Die Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen und ihr literarisches Erbe, in: Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947, Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, hg. von Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Distel, Berlin 2014, S. 9-21, hier S. 9. 428 In den drei Jahren ihres Bestehens wurden insgesamt 39 Titel (Bücher, Broschüren und Hefte) publiziert, vgl. Frank Beer: Die Veröffentlichungen der Zentralen Historischen Kommission in Polen 1945-1947, in: Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947, Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, hg. von Frank Beer, Wolfgang Benz und Barbara Distel, Berlin 2014, S. 23-26. 429 Laura Jockusch: Sammeln, Aufschreiben und Erinnern: Historische Dokumentation in den Lagern für Displaced Persons in Deutschland, in: Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung/Crimes Uncovered. The First
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tion agierte dort die Zentrale Historische Kommission (ZHK ). Gegründet wurde die ZHK 1945 in München von Israel Kaplan, einem jüdischen Journalisten und Geschichtslehrer aus Litauen, sowie von Moses Josef Feigenbaum, einem jüdisch-polnischen Buchhalter.430 Die Deutung der DP-Camps als »Wartesaal« vor einer möglichen Emigration bedeutete für die Survivor Historians der Historischen Kommissionen zugleich eine Chance, die Verbrechen an den Juden möglichst detailliert durch die Erfahrungsberichte der Geretteten zu dokumentieren.431 Die Mitglieder der ZHK führten zu diesem Zweck zahlreiche Interviews mit überlebenden Juden und publizierten schriftliche Interviewprotokolle, die von den Interviewern niedergeschrieben wurden.432 Zwischen den verschiedenen Kommissionen entstand in der frühen Nachkriegszeit ein reger personeller und methodischer Austausch, was insbesondere dadurch deutlich wird, dass Philip Friedman, der die ZJHK in Polen mitgebründet hatte, 1946 nach München reiste und dabei behilflich war, die Arbeit der ZHK zu professionalisieren.433 In der Folge erarbeiteten die Mitglieder der ZHK etwa einen Interview-Leitfaden mit 120 Fragen, die thematisch und chronologisch aufgeteilt waren. Friedman hatte die Bedeutung von Interviews als Quellen in einer methodischen Handreichung für die Mitglieder der Historischen Kommissionen aus dem Jahr 1945 folgendermaßen charakterisiert: »We must remember that every detail from that period is a contribution to the reconstruction of the Jewish reality.«434 Mittels einer umfangreichen Dokumentation der Lebensbedingungen der Juden unter der Zwangsherrschaft der Nazis sollte demnach eine Geschichte der Zerstörung aus jüdischer Perspektive erarbeitet werden. Etwa 2.500 schriftliche Interviews mit Überlebenden wurden in den DP-Camps insgesamt geführt, ab August 1946 etablierte die ZHK eine eigene Zeitung namens Fun Letstn Khurbn – Jiddisch für »Von der letzten Zerstörung«.435 Diese Zeitung enthielt unter anderem auch jiddische Protokol-
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Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung/Exhibition Catalogue, hg. von Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt, Berlin 2019, S. 184207. Vgl. Jockusch, Historische Kommissionen, S. 71. Vgl. Ada Schein: »Everyone Can Hold a Pen«. The Documentation Project in the DP Camps in Germany, in: Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics and Achievements, hg. von David Bankir und Dan Michman, Jerusalem 2008, S. 103-134, hier S. 108. Ähnlich wie in den Interviews von Boder sammelten die Kommissionen auch Lieder, die gesamte jüdische Kultur aus der Zeit der NS -Verfolgung sollte dokumentiert werden, vgl. Israel Kaplan: The Jewish voice in the Ghettos and Concentration Camps. Verbal expression under Nazi occupation, Jerusalem 2018. Vgl. Schein, Pen, S. 113. Friedman, zitiert nach Cohen, Holocaust Testimonies, S. 177. Vgl. Markus Roth: Die Zeitschrift »Fun letstn churbn« (»Von der letzten Zerstörung«) und die Dokumentation der Shoah – Zur Einführung, in: Von der letzten Zerstörung. die Zeitschrift »Fun letstn churbn« der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946-1948, aus dem Jiddischen von Susan Hiep, Sophie
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le von Interviews und machte die schriftlichen Opferberichte damit einer größeren (jüdischen) Öffentlichkeit zugänglich.436 Ähnlich wie Boder waren die Historischen Kommissionen an der Dokumentation von möglichst vielfältigen Erfahrungen interessiert, so auch an den Berichten von Kindern. Deren Erzählungen wurde von der ZJHK im Gegensatz zu den Aussagen von Erwachsenen allerdings eine geringe Beweiskraft zugesprochen, wie anhand einer Handreichung aus dem Jahr 1945 nachvollziehbar ist. Der ZJHK-Mitarbeiter Noe Grüss437 hatte methodische Hinweise für die Interviewer von jüdischen Kindern erarbeitet und betonte: Den Ablauf von Ereignissen tatsächlicher Verbrechen und Arten des Mordens kennen wir bereits aus den Aussagen von Erwachsenen, die davon viel genauer berichten. Wenn wir Untersuchungen mit Kindern durchführen, sind wir uns schon von Vornherein darüber im Klaren, dass sie geringere Beweiskraft haben können, dafür aber einen geradezu unschätzbaren psychologischen Wert.438 Demnach interessierten sich die Akteure des ZJHK ebenfalls für die psychischen Auswirkungen der Verbrechen auf die Betroffenen. Im Gegensatz zu Boder, für den dieser Aspekt bei all seinen Interviewpartnern im Mittelpunkt stand, war das Interesse der ZJHK an den psychischen Auswirkungen jedoch scheinbar auf die Erzählungen von Kindern beschränkt, deren Aussagen weniger Beweiskraft zugeschrieben wurde. Dieser erste Vergleichspunkt wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis Boders Interviewprojekt zu der Arbeit der Historischen Kommissionen stand. Kann er als Teil eines Netzwerks von frühen Interviewsammlungen im Rahmen der Khurbn Forshung in Europa verstanden werden? tenstein und Daniel Wartenberg, hg. von Frank Beer und Markus Roth, Berlin 2021, S. 13-37; Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Jüdisches Museum Berlin (Hg.): In einem fremden Land. Publikationen aus den Lagern für Displaced Persons, Berlin 2015, S. 34-49; Ausführlich zum Publikationswesen in den DP-Camps vgl. AnneKatrin Henkel, Thomas Rahe (Hg.): Publizistik in jüdischen Displaced-PersonsCamps im Nachkriegsdeutschland. Charakteristika, Medientypen und bibliothekarische Überlieferung, Frankfurt am Main 2014. 436 Für eine umfassende Studie über die in »Fun letstn khurbn« abgedruckten Interviewprotokolle siehe Freda Hodge (Hg.): Tragedy and triumph. Early testimonies of Jewish survivors of World War II , Clayton 2018. 437 Zur Bedeutung vom Grüss als Gründungsmiglied der ZJHK vgl. Klaus Kempter: Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, 2., durchgesehene Auflage, Göttingen 2014, S. 70, S. 112. 438 Zentrale Jüdische Historische Kommission in Polen: Instruktionen zur Erforschung der Erlebnisse von jüdischen Kindern während der deutschen Besatzungszeit, in: Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948, Interviewprotokolle der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, hg. von Feliks Tych, Alfons Kenkmann, Elisabeth Kohlhaas und Anders Eberhardt, Berlin 2008, S. 273-292, hier S. 278-279.
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Im Gegensatz zu den Akteuren der Historischen Kommissionen gehört Boder nicht zur Kategorie der Survivor Historians: Er war weder ein der Ermordung Entkommener, noch war er Historiker mit dem Ziel einer detaillierten Rekonstruktion der historischen Ereignisse. Zwar verband ihn seine Herkunft aus einer lettisch-jüdischen Familie biographisch mit dem NS -Massenmord an den Juden Europas, doch als in Chicago ansässiger Psychologe hatte Boder bei seiner Forschungsreise nach Europa eine andere Perspektive und unterschiedliche Forschungsinteressen als die Historischen Kommissionen. Boder wollte nicht die jüdische Realität während der Zeit der NS -Besatzung rekonstruieren, er war vielmehr an den psychischen Auswirkungen der Erlebnisse interessiert. Die Interviews sollten auch nicht als Beweismaterial für künftige Gerichtsprozesse aufgezeichnet werden, Boder war vielmehr interessiert an »evidence of trauma«439: Der Psychologe wollte die traumatischen Folgen der Ereignisse analysieren. Zudem war Boders Wissensbasis über die NS -Verbrechen wesentlich geringer als bei jenen, die selbst betroffen waren. Konkretes Wissen über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa war in den USA Mitte der 1940er Jahre jenseits der Gräuelbilder aus den befreiten Konzentrationslagern noch sehr gering, wie Boder in den Vorgesprächen zu seinen Interviews 1946 auch mehrfach betont hatte.440 Erst im Verlauf der Befragungen lernte er durch die Erzählungen seiner Interviewpartner etwas über die konkreten Orte und Prozesse des Massenmords. Die Befragung von Displaced Persons stellt hingegen eine eindeutige Parallele von Boders Interviewprojekt mit jenen der Historischen Kommissionen dar. Obwohl beide im Sommer 1946 teilweise zeitgleich Interviews in den DPCamps der amerikanischen Besatzungszone führten, lässt sich keine Zusammenarbeit zwischen Boder und der ZHK nachweisen. Boder wusste allerdings von der Arbeit der Historischen Kommissionen. Im großen DP-Camp Feldafing in München beschränkte der Forscher seine Interviews etwa auf nur drei Aufnahmen, da die ZHK um Kaplan und Feigenbaum dort bereits Monate vor seiner Ankunft etliche Befragungen durchgeführt hatte – wie Rosen ausgeführt hat, befürchtete Boder vermutlich, dass sich die Erinnerungen der DP s durch die vorherigen Interviews bereits zu einem Narrativ geformt hatten und er daher keine brauchbaren Erfahrungsberichte als Forschungsmaterial mehr aufzeichnen könne.441 Insofern war Boders Projekt indirekt durch die Arbeit der 439 Boder, Dead, S. xiv; Alan Rosen: Evidence of Trauma. David Boder and Writing the History of Holocaust Testimony, in: Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics and Achievements, hg. von David Bankir und Dan Michman, Jerusalem 2008, S. 497-518. 440 Vgl. Alan Rosen: »We know very little in America«. David Boder and un-belated testimony, in: After the Holocaust. Challenging the Myth of Silence, hg. von David Cesarani und Eric J. Sundquist, Hoboken 2011, S. 102-114. 441 Boder Interviewte im DP-Camp Feldafing lediglich Max Meyer Sprecher sowie Erwin und seine Frau Helen Tichauer, vgl. Rosen, Voices, S. 95.
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Historischen Kommissionen beeinflusst, eine Kooperation fand allerdings nicht statt, und die Forschungsinteressen unterschieden sich stark. Für die Historischen Kommissionen stand mit der Rekonstruktion der Zerstörung des jüdischen Lebens durch die Nazis insgesamt eher die Kontinuität der antisemitischen Verfolgung und Ermordung der Juden im Vordergrund. Die schriftlichen Interviewprotokolle dienten der Rekonstruktion dessen, was geschehen war, wobei der Schwerpunkt nicht auf der wortwörtlichen Überlieferung, also der Form der Erinnerung lag. Boders Fokus lag hingegen auf ebendieser Form, also dem Wie der mündlichen Überlieferung. Die bezeugten historischen Ereignisse hatten beispielloses psychisches Leid zur Folge, für dessen Verständnis der Forscher neue Begriffe wie jenen der Dekulturation erschuf. Dieser begriffliche Unterschied zwischen der Rekonstruktion der Zerstörung (khurbn) und der Erforschung der Folgen der Katastrophe (catastrophe) liegt insbesondere auch in der Verortung von Boder innerhalb der amerikanischen Forschungslandschaft begründet, die sein Interviewprojekt entscheidend geprägt hat. Um die Bedeutung von Boders Interviewsammlung für eine frühe Begriffsbildung und Erforschung der NS -Verbrechen aufzeigen zu können, muss somit die spezifische Forschungsperspektive des Psychologen innerhalb der wissenschaftlichen Debatten der Chicago School dargestellt werden, der Boder zuzuordnen ist. Wie Gallas aufgezeigt hat, etablierte sich in den USA zudem bereits Ende der 1940er Jahre ein international und interdisziplinär geprägtes Forschungsfeld, das zu einer systematischen Erforschung der NS -Verbrechen an den Juden beitrug.442 Der polnische Historiker Philip Friedman etwa, dessen Arbeit die Historischen Kommissionen in Europa maßgeblich geprägt hatte, agierte nach seiner Emigration in die USA ab 1948 in einem lange Zeit kaum beachteten Netzwerk von Wissenschaftlern.443 Welche gesellschaftliche Bedeutung hatten die NS -Verbrechen demnach in den USA der 1940er und 1950er Jahre und inwieweit kann Boder als Teil dieses Forschungsfeldes begriffen werden? Meine zentrale These lautet, dass die frühe Nachkriegszeit international durch vielfältige Formen der Auseinandersetzung mit dem NS -Massenmord geprägt war. Da es noch keine abgegrenzten Tätigkeitsfelder, noch nicht einmal einen einheitlichen Begriff für den NS -Massenmord an den Ju442 Gallas ordnet Boder insbesondere dem Bereich der frühen Zeugenschaft und Erinnerung zu, wobei zu betonen ist, dass der Psychologe für die von ihr beschriebene Forschung mindestens genauso bedeutsam ist, vgl. Gallas, Frühe Holocaustforschung, S. 550-556. 443 Vgl. Natalia Aleksiun: An Invisible Web. Philip Friedman and the Network of Holocaust Research, in: Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS -Massenmordes an den Juden/Before the Holocaust had Its Name, Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, hg. von Regina Fritz, Éva Kovács und Béla Rásky, Wien 2016 (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (V W I )), S. 149-165.
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den gab, befanden sich Boder und die Akteure in diesem grenzüberschreitenden Netzwerk der frühen Forschung in einem stetigen Ringen um öffentliche Aufmerksamkeit.444 Es handelte sich um die »ersten Anläufe, die begangenen Verbrechen zu dokumentieren, zu beschreiben, aber vor allem zu verstehen«.445 Insbesondere der Blick auf frühe transatlantische Forschungen zu den NS Konzentrationslagern, die in den USA wirkmächtig waren, ist hilfreich, um Boders spezifischen Fokus auf die wortwörtlichen Erzählungen der Katastrophe besser zu verstehen. In einer der wenigen Buchrezensionen zu Boders 1949 erschienener Monografie lieferte der Psychologe Franklin Fearing 1951 einige aufschlussreiche Ausführungen zu Boders Begriffen und seinem Forschungsschwerpunkt.446 Fearing stellte den Begriff der Katastrophe und dessen Besonderheit in den Sozialwissenschaften ins Zentrum seiner Rezension und führte dazu aus, dass das Verhalten von Menschen im Angesicht von Katastrophen ein altbekanntes Thema bei Poeten, Dramaturgen und Schriftstellern sei. Im 20. Jahrhundert habe die Bedeutung des Katastrophen-Begriffes aufgrund von Phänomenen wie den Konzentrationslagern oder der Atombombe allerdings einen eklatanten Wandel erfahren: The systematic, objective, study of human behavior in catastrophic situations is very recent. It is an ambiguous distinction of our era that such behavior should become an object of scientific study in its own right, requiring special techniques, and, doubtless, a special terminology. In a world of atom bombs and concentration camps catastrophic experience is no longer unique and relatively exceptional. It has become a mass phenomenon.447 Im somit neu entstandenen Forschungsbereich der systematischen Studien von Katastrophen als Massenphänomen der modernen Gesellschaften sollte Boders Arbeit mit anderen Studien verglichen werden. Explizit benannte Fearing die Publikationen über Konzentrationslager von Bruno Bettelheim und Eugon Kogon. Der aus Österreich stammende und in die USA ausgewanderte Psychologe Bettelheim hatte mit seiner K Z -Studie »Individual and Mass Behavior in Extreme Situations« aus dem Jahr 1943 bereits während des Zweiten Weltkrieges eine Analyse des Sozialverhaltens in den NS -Konzentrationslagern vorge444 Vgl. Jasch, Lehnstaedt, Erste Generation, S. 14-16. 445 Fritz, Kovács, Rásky, NS -Massenmord, S. 8. 446 Vgl. Franklin Fearing: Critical Reviews of Recent Books: Boder, D. P. I Did Not Interview the Dead. Urbana, Ill.: Univ. Illinois Press, 1949. Pp. 220, in: The Journal of Social Psychology 34, 1951, S. 145-148. Fearing war Boders Doktorvater an der Northwestern University und blieb auch nach Boders Wechsel zum IIT mit ihm im wissenschaftlichen Austausch, vgl. Rosen, Voices, S. 38-39. 447 Ebd.; diese Einschätzung des 20. Jahrhunderts als katastrophisch bestätigt auch ein Sammelband über die historische und philosophische Bedeutung der Kategorie des Überlebens als Resultat von Katastrophen, vgl. Falko Schmieder: Überleben – Geschichte und Aktualität eines neuen Grundbegriffs, in: Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen, hg. von Falko Schmieder, München 2011, S. 9-31.
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200 david p. boders interviewprojekt mit displaced persons legt.448 Bettelheims Analyse basierte auf eigenen Erfahrungen in den K Z s Dachau und Buchenwald und avancierte zu einer der bedeutendsten Beiträge einer frühen K Z -Forschung.449 Der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Eugen Kogon wiederum war ebenfalls mehrere Jahre im K Z Buchenwald interniert und hatte mit seiner 1946 publizierten Monografie Der SS Staat den Anspruch verfolgt, einen »Sachbericht über das System der deutschen Konzentrationslager«450 vorzulegen. Die amerikanische Ausgabe von Kogons Buch war 1950 unter dem Titel The Theory and Practice of Hell in New York erschienen und wurde im gleichen Jahr von der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau als »[d]as wichtigste Buch aus dem heutigen Deutschland«451 gepriesen.452 Damit ordnete Fearing die Monografie von Boder innerhalb der Debatte über die ersten Versuche einer Verwissenschaftlichung der NS -Konzentrationslager ein.453 Durch diesen Vergleich mit den bedeutenden frühen K Z -Studien lässt sich Boder innerhalb der frühen Erforschung des Sozialverhaltens von Menschen in Extremsituationen verorten. In diesem Forschungsbereich der Sozialwissenschaften wurden Boders Publikationen auch dementsprechend wahrgenommen, wie ein Brief an den Psychologen aus dem Jahr 1949 beweist. Noch vor der Veröffentlichung von I Did not Interview the Dead hatte sich der amerikanische Soziologe Elmer Luchterhand auf Anraten des ebenfalls in Chicago ansässigen Psychologen Bettelheim an Boder gewandt, um sich mit ihm über seine Expertise über »concentration camp survivors and displaced persons«454 auszutauschen sowie mehr über Boders DP-Interviews aus dem Jahr 1946 zu erfahren. Luchterhand arbeitete zu diesem Zeitpunkt an einer Dissertation über das Sozialverhalten von K Z -Überlebenden, betreut von Hans 448 Vgl. Bruno Bettelheim: Individual and Mass Behavior in Extreme Situations, in: The Journal of Abnormal and Social Psychology 38, 1943, S. 417-452. 449 Vgl. Christian Fleck; Albert Müller: Bruno Bettelheim (1903-1990) und die Konzentrationslager, in: Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft, hg. von Christoph Henning und Amalia Barboza, Bielefeld 2006, S. 180-231. 450 Eugen Kogon: Der SS -Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1946, S. X. 451 Kurt Hellmer: Das wichtigste Buch aus dem heutigen Deutschland. »The Theory and Practice of Hell« by Eugen Kogon, translated bei Heinz Norden. Farrar, Straus & Co., New York, in: Aufbau 16, 15.12.1950, S. 11. 452 Zur Bedeutung von Kogons Buch für die zeithistorische NS -Forschung vgl. Volkhard Knigge: »Die organisierte Hölle«. Eugen Kogons ambivalente Zeugenschaft in »Der SS -Staat«, in: Ders.: Geschichte als Verunsicherung, S. 527-533. 453 Ausführlich zu dieser Debatte und der Rolle von Bettelheim, vgl. Kim Wünschmann: The »Scientification« of the Concentration Camp. Early Theories of Terror and Their Reception by American Academia, in: Leo Baeck Institute Year Book 58, 2013, S. 111-126. 454 Elmer Luchterhand, Brief an David Boder (23.06.1949), in: David Pablo Boder Papers, Box 24.
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Heinrich Gerth, einem amerikanischen Soziologen deutscher Herkunft. Wie Luchterhand in seinem Brief an Boder ausführte, wollte er in seiner Studie »sociological and psychological factors in the survival of prisoners in Nazi concentration camps«455 analysieren. Luchterhand war während seines Militärdienstes als Nachrichtenoffizier der US -Armee unter anderem damit beauftragt worden, Verhöre von deutschen Kriegsgefangenen durchzuführen und entsprechende Protokolle und Berichte darüber zu verfassen. Aufgrund dieser Aufgabe war er im Zeitraum von April bis November 1945 auch in insgesamt acht befreiten Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern, unter anderem in Buchenwald, Mauthausen und Dachau. Daraufhin hatte Luchterhand ein intensives Interesse an den Geschichten von Überlebenden der Lager entwickelt und verfasste schriftliche Protokolle von Interviews mit insgesamt etwa 75 Personen, größtenteils Überlebende sowie Anwohner im Umfeld der befreiten Lager.456 Die Auswahl an Interviewpartnern von Luchterhand entsprach damit exakt jener Vorstellung aus Boders ersten Memoranden aus dem Frühjahr 1945, in denen der Psychologe angegeben hatte, Täter, Opfer und sogenannte Zuschauer interviewen zu wollen – womit auch bei Boder Deutsche gemeint waren, die in der Nähe von Konzentrationslagern gelebt hatten.457 Der Soldat und spätere Soziologe Luchterhand hatte demnach bereits im Frühjahr 1945 ein Interviewprojekt mit erstaunlicher Ähnlichkeit zu Boders ursprünglichem Plan durchgeführt. Allerdings zeichnete Luchterhand im Gegensatz zu Boders Audioaufnahmen seine Leitfadeninterviews schriftlich auf, und zudem hatte er als Soziologe einen anderen Fokus. Luchterhand analysierte explizit die Sozialstruktur und Mechanismen des Überlebens innerhalb der Lager in Abgrenzung zu den wirkmächtigen Thesen von Bettelheim, der davon ausging, dass es keinerlei Solidarität innerhalb der Häftlingsgesellschaft gegeben hätte. Die K Z s wurden in beiden Fällen als soziale Extremsituationen interpretiert. Innerhalb der in den 1940er Jahren stark interdisziplinär ausgerichteten Forschung über solcherart Extremsituationen war der von Boder und anderen Forschern ver455 Ebd. 456 Nach dem Krieg hatte Luchterhand an der Universität von Wisconsin (USA ) 1947 ein Studium der Soziologie begonnen und sich bereits in seiner Diplomarbeit 1949 mit den Phänomenen von Überleben und Widerstand innerhalb der K Z s auseinandergesetzt. Seine lange unveröffentlichte Dissertation wurde erst jüngst in deutscher Übersetzung herausgegeben und mit einem instruktiven Vorwort versehen, vgl. Elmer Luchterhand: Einsame Wölfe und stabile Paare. Verhalten und Sozialordnung in den Häftlingsgesellschaften nationalsozialistischer Konzentrationslager, Herausgegeben und eingeleitet von Andreas Kranebitter und Christian Fleck, Wien 2018, S. 7-36. 457 Einen weiteren Vergleichspunkt bildet wiederum das 7. Kapitel in Luchterhands Studie über »Biosoziale Aspekte von Trauma und Anpassung«. Boders Traumaforschung dürfte eine der Wissensquellen dafür gewesen sein, seine Monografie von 1949 wurde im Literaturverzeichnis von Luchterhands 1953 eingereichter Dissertation aufgeführt, vgl. Luchterhand, Einsame Wölfe, S. 274.
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wendete Begriff der Katastrophe jedoch keineswegs nur auf die Analyse von K Z s beschränkt. Wie Fearing in seiner Buchbesprechung von 1951 weiter ausführte, biete sich für Boders Material ebenso die (Neuro-)Psychologie und deren Untersuchungen über Angststörungen und Traumata als weiterer Vergleichspunkt an. Der Begriff der Katastrophe sei dahingehend bereits vom Neurologen und Psychiater Kurt Goldstein verwendet worden. Goldstein hatte mit dem Befund der »catastrophic reaction« ein neurologisches Symptom erfasst, das den Zusammenbruch der organischen Hirnfunktionen in Situationen von extremem Stress bezeichnete, die der menschliche Organismus nicht verkraften konnte.458 Fearing führte aus, dass Boders Begriff der Katstrophe zu unscharf sei, da er sowohl auf neuropsychologische Reaktionen des Gehirns als auch auf soziologische Phänomene angewendet werde. Daher merkte er abschließend an: If the term is to be retained it needs further clarification especially applied to a variety of non-clinical conditions. […] Dr. Boder’s interviews may throw some light on these and related problems to the end that such concepts as ›catastrophic,‹ ›traumatic,‹ and ›anxiety‹ may be given greater psychological content.459 Wenn Boder es also schaffen sollte, den Begriff der Katastrophe zu schärfen, könne er neue und wichtige Erkenntnisse im Fachbereich der Psychologie generieren. Gleichzeitig brachte Fearing damit zum Ausdruck, dass die Begriffe und damit verbundenen Theorien über katastrophische Ereignisse als Extremsituationen und daraus folgende Traumata in den frühen 1950er Jahren noch keineswegs eindeutig definiert waren. Die Rekonstruktion von Boders wissenschaftlichen Aktivitäten in den USA der 1950er Jahre ergibt ferner das Bild eines Netzwerkes von interdisziplinären Wissenschaftlern, das sich der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Auswirkungen von Katastrophen auf den Menschen widmete. Das an der University of Chicago angesiedelte Forschungsinstitut National Opinion Research Center (NORC ) etwa führte von 1950 bis 1954 eine Studie über Katastrophen und deren Auswirkungen unter dem Titel »Disaster Research Project« durch. Dabei wurden 700 Audiointerviews mit betroffenen Personen verschiedenster Katastrophen wie Flugzeugabstürzen, Explosionen in einer Kohlemine sowie Opfern von Erdbeben und Tornados aufgezeichnet.460 Boder zeigte großes In458 Der historische Kontext für das klinische Untersuchungsmaterial von Goldstein war allerdings der Erste Weltkrieg, vgl. Helmut Albrecht: Angst und Panik als »Katastrophenreaktion« des Organismus – Die Aktualität Kurt Goldsteins (1878-1965) für die moderne Psychosomatik im Spannungsfeld von Neurobiologie, Tiefenpsychologie und Psychotraumatologie, in: Balint 8, 2007, S. 115-121, hier S. 115-116. 459 Fearing, Boder, S. 148. 460 Vgl. Cécile Stephanie Stehrenberger: Praktisches Wissen, Wissenschaft und Katastrophen. Zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung, 1949-
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teresse an dieser Studie und kontaktierte das Forschungszentrum mehrfach. Im Juli 1953 wandte er sich erstmals an den Soziologen Charles E. Fritz, der die Katastrophen-Studie leitete, und schickte diesem auch Kopien der Transkripte seiner Interviews aus den DP-Camps.461 In seinem Brief an Fritz bot Boder zugleich seine Unterstützung für das sozialwissenschaftliche Katastrophenforschungs-Projekt durch weitere Tonaufnahmen an: »I could be available for the National Opinion Research Center for emergency field work.«462 Erneut wird deutlich, dass die Bedeutung von Boders Interviewprojekt in Europa in der Funktion als Feldforschung bestand – die Sammlung von Forschungsmaterial wollte der Psychologe nun auch in anderen Bereichen fortsetzen. Fritz lehnte das Angebot von Boder aufgrund von fehlender Finanzierung für weitere Forschungsinterviews zwar ab, doch der intellektuelle Austausch über die Auswirkungen von Katastrophen aller Art wirkte fort. Im März 1954 wurde Boder in der ersten Ausgabe des in Washington, D. C., vom Committee on Disaster Studies herausgegebenen Disaster Research Newsletter neben dem Psychologen Gordon Allport – der für Boder mit den Begriffen der catastrophe, der topical autobiographies sowie der Interviews als personal documents als wichtigster Stichwortgeber zu verstehen ist – sowie diversen Mitarbeitern des NORC -Projekts als »Katastrophenforscher« aufgelistet. Im Abschnitt Social Sciences wurden Boders Forschungsschwerpunkte im Bereich der Psychologie sowie der angewandten Anthropologie folgendermaßen benannt: Interest: Analysis of personal reactions to catastrophe and the impact on personality, content analysis of personal interviews with the disaster victims and assessment and evaluation of traumatic experiences.463 Wie Alan Rosen angemerkt hat, wurden Boders mehrbändige Publikationen der Topical Autobiographies in den Publikationen der Forschungsgruppe des NORC zwar nicht explizit erwähnt, der Psychologe ist aber eindeutig in das Netzwerk von Sozialwissenschaftlern in den USA einzuordnen, die in den 1950er Jahren das junge Forschungsfeld der Katastrophenforschung prägten.464 Im März 1955 wandte sich Boder erneut an das NORC mit der Bitte um Kopien ihrer »verbatim recorded interviews« – Boder war interessiert an jeglichem »material concerning a flood, earthquake or an airplane disaster or any other
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1989, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 40, 2017, S. 350-367; Dies.: Systeme und Organisationen unter Stress. Zur Geschichte der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung (1949-1979), in: Zeithistorische Forschungen 11, 2014, S. 406424. Vgl. David P. Boder, Brief an Charles E. Fritz (13.07.1953), in: David Pablo Boder Papers, Box 21. Ebd. Disaster Research Newsletter 1 (1954), in: David Pablo Boder Papers, Box 29. Vgl. Rosen, Voices, S. 156.
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204 david p. boders interviewprojekt mit displaced persons interview material dealing with catastrophes.«465 Diese Interviews sollten ihm als Vergleichsdaten zu seinen DP-Interviews dienen, die er allesamt dem Forschungsbereich der Disaster Studies zuordnete.466 Ähnliche Audiointerviews wie jene des Disaster Project in Chicago hatte Boder zuvor bereits 1951 nach einer Flutkatastrophe in Kansas City angefertigt.467 Seine Erfahrungen mit Feldforschungen waren also nicht nur auf die Interviews mit den DP s in Europa beschränkt. Wie Boder 1954 in seinem Artikel The Impact of Catastrophe angekündigt hatte, wollte der Psychologe seine Interviews mit Flutopfern auswerten und schließlich mit seinen DP-Interviews von 1946 vergleichen. Grundlage dafür war die damals übliche Unterscheidung von »nature-made disaster«, wie etwa die von Boder untersuchte Flutkatastrophe, von einer »man-made catastrophe«, die der Psychologe insbesondere am Beispiel der Konzentrationslager analysierte.468 Boders theoretisches Analysekonzept der Dekulturation und die Erforschung von traumatischen Auswirkungen standen allerdings geradezu im Widerspruch zum Mainstream der damaligen Katastrophenforschung. Die Analyse des menschlichen Verhaltens in verschiedenen Stresssituationen war im Angesicht des Kalten Krieges ein vom amerikanischen Verteidigungsministerium gefördertes Unterfangen, das für den nationalen Katastrophenschutz der Zivilbevölkerung eingesetzt werden sollte. Zudem waren die Forscher des NORC durch ihre Studien zu dem Ergebnis gelangt, dass sich Menschengruppen in Stresssituationen überwiegend sozial verhalten würden, womit eine weitere Forschung über Traumata hinfällig erschien.469 Hinzu kam, dass sich das in den 1950ern noch interdisziplinär angelegte Feld der Katastrophenforschung innerhalb der folgenden Dekade auf Theorien und Methoden der Soziologie spezialisierte und der Einfluss von psychologischen Forschungen, wie jener von Boder zu traumatischen Auswirkungen von Katastrophen, drastisch verringerte.470 Festzuhalten ist somit, dass Boder in den späten 1940er und den 1950er Jahren zwar innerhalb des interdisziplinären Forschungsfeldes der Katastrophenforschung zu verorten ist und damit als ein bedeutender Akteur innerhalb der frühen Holocaustforschung avant la lettre zu begreifen ist. Gleichzeitig saß der Psychologe buchstäblich zwischen allen Stühlen, und seine
465 David P. Boder, Brief an Eli S. Marks (01.03.1955), in: David Pablo Boder Papers, Box 21. 466 Die Begriffe »disaster« und »catastrophe« verwendete Boder dementsprechend als Synonyme. 467 Boder zeichnete 1951 zusammen mit seinem Kollegen Vin Rosenthal in Kansas City 47 Interviews mit Flutopfern mit einem Tonbandgerät auf, vgl. Rosen, Voices, S. 46, S. 159. 468 Boder, Catastrophe, S. 3. 469 Stehrenberger, Stress, S. 418-419. 470 Vgl. Ebd. S. 410.
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DP-Interviews wurden trotz der aufgezeigten Gemeinsamkeiten mit den Studien der frühen K Z - und Katastrophenforschung kaum gewürdigt.
Die begrenzte wissenschaftliche Anerkennung von Boder in den 1950er Jahren kann besonders eindrücklich durch einen kurzen Rückblick nachvollzogen werden. Anfang Januar 1951 erreichte Boder in Chicago ein Brief von einer jener Displaced Persons, die der Forscher 1946 in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands interviewt hatte. Aus der knapp 15.000 Kilometer entfernten Küstenstadt Brisbane im Nordosten von Australien schrieb Helen Tichauer an den Psychologieprofessor: Sehr geehrter Herr Doktor Boder! Ich hoffe (sic) daß Sie sich noch an mich erinnern werden. Sie haben mich seinerzeit im D. P. Lager Feldafing über meine Eindrücke im Konzentrationslager interviewt und waren so freundlich mir Ihre Adresse zur Verfügung zu stellen. Ich wende mich heute an Sie mit der Bitte um Rat. Mein Ehemann hat ein Buch geschrieben, einen Roman über die deutschen Konzentrationsläger (sic).471 Boder hatte Helen und ihren Mann Erich Tichauer vier Jahre zuvor im DPCamp Feldafing bei München interviewt.472 Ihre Bitte um einen Rat betraf die Suche nach einem geeigneten Verlag, der das besagte Buchmanuskript ihres Mannes publizieren würde.473 In seinem Antwortschreiben an Helen Tichauer schrieb Boder im Januar 1951, dass er sich sehr gut an das Interview mit ihr erinnere und dass er versuchen wolle, sie mit der Publikation zu unterstützen.474 471 Helen Tichauer, Brief an David Boder (31.12.1950), in: David Pablo Boder Papers, Box 22. 472 Zum Interview von Boder mit Helen Tichauer vgl. David P. Boder Interviews Helen Tichauer, September 23, 1946, Feldafing, Germany, UR L : https://voices.library.iit. edu/interview/tichauerH; letzter Zugriff am 04.08.2021. Die Audioaufnahme des Interviews mit ihrem Mann Erich Tichauer gilt hingegen als verschollen, vgl. Rosen, Voices, S. 95. 473 Erwin Tichauer war ein aus Berlin stammender Jude, der im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert worden war. Nach der Befreiung, der anschließenden Hochzeit und gemeinsamer Emigration des Ehepaares nach Chile hatte er 1947 damit begonnen, ein fiktionales, autobiographisch inspiriertes Buch mit dem Titel »Totenkopf und Zebrakleid. Ein von Menschen erlebter Roman« zu schreiben. Jürgen Matthäus aus der Forschungsabteilung des USHMM publizierte eine überarbeitete und leicht gekürzte Version des Romanmanuskripts postum in Absprache mit seiner Witwe, vgl. Erwin R. Tichauer: Totenkopf und Zebrakleid. Ein Berliner Jude in Auschwitz, Bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Matthäus, Berlin 2000. 474 Er verwies die Tichauers unter anderem an den Sprachwissenschaftler und Jiddischisten Max Weinreich am Yiddish Scientific Institute in New York, heute bekannt als Y IVO. Boder korrespondierte bereits seit den 1940ern mit Weinreich über sein Interviewprojekt, vgl. Rosen, Voices, S. 19, S. 33. Im Jahr 1957 unternahm Boder auch einen Versuch, seine Interviewsammlung im Y IVO in New York zu
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206 david p. boders interviewprojekt mit displaced persons Doch zunächst entschuldigte sich der Forscher dafür, dass er das Interview von Helen Tichauer noch immer nicht bearbeitet hatte, und antwortete ihr auf Englisch: It was a great pleasure indeed to hear from you and I remember you, I think, very well. I did not get around yet to translating your recording although I have been working at my material all this time, but as you probably know I have interviewed about eighty people and the work of transcription from the wire recorded spools goes rather slowly.475 Boder war im Januar 1951 mit der Transkription seiner Interviews aus dem Sommer und Herbst von 1946 beschäftigt, seine Angabe von insgesamt 80 Interviews ist ein Indiz dafür, dass er zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen Überblick über die Gesamtmenge des aufgezeichneten Materials hatte.476 Der Verweis auf seine Arbeit an den Transkriptionen und Übersetzungen der Interviews ins Englische diente auch als Begründung und Entschuldigung dafür, dass er ihr nicht so viel helfen könne, wie er eigentlich wollte: »I am awfully busy at the moment and am afraid to be too brief with you. Books on this topic are beeing published and there seems to be always room for a good book.«477 Dass Boder »awfully busy« mit der Arbeit an den Interviews war, änderte sich auch bis zu seinem Tod zehn Jahre später nicht mehr. Bis Ende 1951 hatte er fünf Bände mit insgesamt 19 Interviewtranskripten im Eigenverlag publiziert und an zahlreiche Bibliotheken und Einzelpersonen verschickt, bis 1957 folgten noch elf weitere Bände. Das Transkript zum Interview mit Helen Tichauer publizierte er in englischsprachiger Übersetzung erst 1956.478 Wie stark der Stress war, dem der Forscher ausgesetzt war, zeigte sich auch darin, dass Boder bereits im November 1949, damals 62-jährig, einen Herzanfall erlitt, der einen sechswöchigen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatte.479 Und dies exakt in der Woche der Veröffentlichung seiner Monografie I Did Not Interview the
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ren, was allerdings nicht gelang, vgl. David P. Boder: Brief an Max Weinreich (23.05.1957), in: David Pablo Boder Papers, Box 22. Zur Bedeutung des Y IVO für eine Kulturgeschichte des (osteuropäischen) Judentums vgl. Samuel D. Kassow: Y IVO , in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 6, Ta-Z, hg. von Dan Diner, Stuttgart, Weimar 2015, S. 479-485. David P. Boder: Brief an Helen Tichauer (09.01.1951), in: David Pablo Boder Papers, Box 22. Als Boder den letzten Band seiner Transkriptsammlung im Jahr 1957 abschloss, gab er die Zahl von 109 Interviews als Gesamtangabe an, womit er – weil er vermutlich den Überblick über die Gesamtmenge verloren hatte – etwa 20 weitere von ihm aufgezeichnete Interviews für nichtexistent erklärte, vgl. Boder, Addenda, in: Topical Autobiographies, Bd. 16, S. 3160. Ebd., H. i.O. Vgl. Boder, Topical Autobiographies, Bd. 11, S. 2043-2111. Vgl. Rosen, Voices, S. 44; sowie die Krankenakten in David Pablo Boder Papers, Box 17.
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Dead, die nach langer, kräftezehrender Suche nach einem Verlag und stark gekürztem Manuskript veröffentlicht wurde.480 Seit 1952 hatte Boder versucht, seinen Verlag von einer zweiten Auflage seines Buches zu überzeugen. Zu diesem Zweck hatte er auch die Rezension von Franklin Fearing aus dem Jahr 1951 an die Illinois University Press geschickt. Im Antwortschreiben des Chefredakteurs bekam Boder eine freundliche, doch zugleich deutliche Absage: »On may 1 we had 180 copies of your book left in stock […] we feel that with the sale of our remaining copies we will have gotten the book to most of the people who are willing to buy it.«481 Die erste Auflage seines Buches ließ sich Anfang der 1950er Jahre demnach nicht gut verkaufen, eine breite Leserschaft hatte es nicht gefunden. In den folgenden Jahren verhandelte Boder nochmals mit diversen anderen Verlagen, insbesondere Exposition Press aus New York zeigte sich von 1954 bis 1955 sehr interessiert an einer Neuauflage, diesmal als preiswerteres Softcover.482 Boder verhandelte über Monate mit dem Verleger Edward Uhlan und betonte, dass er Sponsoren für die Druckkosten in Aussicht habe. Zugleich bemängelte der Wissenschaftler in seinen Briefen, dass die Eigenbeteiligung für die Publikation schlicht zu hoch sei und er sich dies nicht leisten könne.483 Letztlich wurde keine Einigung gefunden. Noch im Jahr 1957 zeigte sich The American Press aus New York interessiert an einer zweiten Auflage der Monografie, aber auch dies war nicht erfolgreich.484 Boders persönliches Engagement um öffentliche Anerkennung seiner Publikation ebbte auch in den Folgejahren nicht ab, und zu Beginn der 1960er Jahre veränderte sich die Wahrnehmung von Opferberichten maßgeblich, womit er eigentlich gute Chancen gehabt hätte, internationale Aufmerksamkeit für seine DP-Interviews zu erlangen.
Paradoxer Wendepunkt 1961: (k)ein Auftakt zur »Ära des Zeugen« Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre hatte Boder zahlreiche Exemplare seiner Monografie sowie Transkripte der Topical Autobiographies an ausgewählte Persönlichkeiten versendet. Er hatte die Hoffnung noch nicht verloren, doch noch eine zweite Auflage von I Did Not Interview the Dead zu erwirken. In diesem Kontext schickte er auch dem amerikanischen Schriftsteller und 480 Ausführlich zur Publikationsgeschichte des Buches vgl. Rosen: Nachwort, in Boder: Die Toten, S. 345-368. 481 Miodrag Muntyan, Brief an Boder (12.05.1952), in: David Pablo Boder Papers, Box 24. 482 Vgl. David P. Boder, Brief an Edward Uhlan, (16.12.1954); Edward Uhlan, Brief an David P. Boder (27.01.1955), in: David Pablo Boder Papers, Box 21. 483 Vgl. David P. Boder, Brief an Edward Uhlan (10.03.1955), in: David Pablo Boder Papers, Box 22. 484 Vgl. Carl Buehler, Brief an David P. Boder (04.03.1957), in: David Pablo Boder Papers, Box 22.
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Drehbuchautor Albert Maltz sein Buch sowie weitere Transkripte per Post. Nach der Lektüre sendete Maltz die Unterlagen wieder an Boder zurück und bedankte sich in einem Brief vom März 1961 nochmals freundlich für die Einsicht in die verschriftlichten Interviews, die ihn sehr beeindruckt hätten. Zu dieser Zeit arbeitete Maltz, der 1942 am berühmten Spielfilm Casablanca mitgewirkt und 1944 den erfolgreichen Roman The Cross and the Arrow über Widerstand gegen den Nationalsozialismus veröffentlicht hatte, an einem neuen Romanprojekt, das die K Z -Erfahrungen in Auschwitz zum Thema haben sollte.485 In seinem Brief an Boder betonte Maltz den besonderen Wert der bewegenden DP-Interviews: It so happens that in the extensive reading I have been doing for my project, I have not come upon any material presented in personal interview as yours is. I found these interviews moving and stimulating and they have added to my general background of knowledge. I wish that your book might be reissued at this time in a soft cover reprint. With the interest aroused by the Eichmann case, these telling, personal narratives would do more to educate readers than all of the statistics about the number of people who died in the camps.486 Die verschriftlichten persönlichen Interviews von Boder seien besonders gut als Wissensquelle geeignet, da sie mit ihrer Konkretheit zur Bildung der Leser beitragen würden, so Maltz. Sie seien im Kontext dessen, was der Schriftsteller als »Eichmann case« benannte, gesellschaftlich besonders relevant. Hintergrund war die Verhaftung des untergetauchten ehemaligen SS -Obersturmbannführers Adolf Eichmann im argentinischen Buenos Aires, der von israelischen Geheimdienstagenten entführt und im Mai 1960 nach Jerusalem überführt worden war. Die Generalstaatsanwaltschaft unter Gideon Hausner hatte am 21. Februar 1961 – also erst kurz vor dem Brief von Maltz an Boder – vor dem Jerusalemer Bezirksgericht Anklage gegen Eichmann erhoben, der Prozess stand zu diesem Zeitpunkt damit unmittelbar bevor.487 Maltz hatte in seinem Brief an Boder die aufschlussreichen persönlichen Erzählungen in Boders Interviews betont und sie in Kontrast zu dem gesetzt, was er vom Prozess gegen Eichmann in Jerusalem erwartete: trockene Statistiken über die Anzahl der in den Konzentrationslagern Ermordeten. Doch ganz entgegen den Erwartungen von Maltz vor Prozessbeginn war es gerade die Gerichtsverhandlung gegen Adolf Eichmann, die persönliche Erzählungen von Opfern in den Fokus der Weltöffentlichkeit rückte. Und dies mit dem expliziten Ziel der Aufklärung und Erziehung des Publikums. 485 Ein entsprechender Roman von Maltz ist allerdings nicht überliefert, er scheint das Buch nie realisiert zu haben. 486 Albert Maltz, Brief an Boder (22.03.1961), in: David P. Boder Papers, Box 19. 487 Vgl. Raphael Gross: Eichmann-Prozess, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 2: Co-Ha, hg. von Dan Diner, Stuttgart 2012, S. 186-191.
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In der Reflexion über den Prozess publizierte der Chefankläger Hausner 1966 ein Buch mit dem Titel Justice in Jerusalem.488 Mit dieser englischsprachigen Monografie wandte sich der Jurist und Politiker an ein internationales Publikum und schrieb auf knapp 500 Seiten eine umfangreiche Geschichte über die »Vernichtung der Juden«489 als größtes Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Als zentrales Ziel seines Buches und der vorangegangenen Gerichtsverhandlung benannte Hausner die historische Aufklärung über die NS -Verbrechen an den Juden. Für dieses Projekt der Aufklärung waren die Zeugenaussagen der Opfer von elementarer Bedeutung. Er gab an, dass während des Prozesses gegen Eichmann eigentlich ein Bruchteil des zur Verfügung stehenden Archivmaterials zur Verurteilung genügt hätte: »But I knew we needed more than a conviction; we needed a living record of a gigantic human and national disaster, though it could never be more than a feeble echo of the real events.«490 Da es Hausner dezidiert um eine lebendige Aufnahme der Verbrechen als gigantischer menschlicher und nationaler Katastrophe ging, entschied er sich dafür, das Verfahren sowohl auf schriftlichen Dokumenten als auch auf mündlichen Opferberichten zu basieren. Mit der weltweiten Übertragung von Videoaufnahmen der Gerichtsverhandlung, insbesondere der Zeugenaussagen, rückten die oftmals namen- und gesichtslosen Opfer der Verbrechen in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit.491 Wieviorka hat den Prozess gegen Eichmann daher als Auftakt zu einer »Ära des Zeugen« interpretiert. Die individuellen Überlebenden wurden als Zeugen damit zur Verkörperung der Erinnerung sowie der Gegenwart der NS -Verbrechen: »With the Eichmann trial, the witness became an embodiment of memory [un homme-memoire], attesting to the past and to the continuing presence of the past.«492 Die Identifikation der Zuschauer und Zuhörer mit den persönlichen Geschichten der Opfer hatte zudem eine pädagogische Funktion, wie Hausner ausführte: In any criminal proceedings the proof of guilt and the imposition of a penalty, though all-important, are not the exclusive objects. Every trial also has a correctional and educational aspect. It attracts people’s attention, tells a story and conveys a moral. Much the more so in this exceptional case.493 Die zu erzählende Geschichte benannte Hausner als »Jewish catastrophe« und repräsentierte die Katastrophe durch die Angabe von »six million personal
488 Gideon Hausner: Justice in Jerusalem, New York 1966. 489 So der Titel der deutschen Übersetzung im Kindler Verlag, siehe Gideon Hausner, Die Vernichtung der Juden – Das größte Verbrechen der Geschichte, München 1979. 490 Hausner, Justice, S. 291. 491 Wieviorka, Era, S. 87-88. 492 Ebd., S. 88. H. i. O. 493 Hausner, Justice, S. 292.
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tragedies«.494 Im Gegensatz zu Boders universellem Katstrophenbegriff verwies die Wortwahl von Hausner damit eher auf den hebräischen Begriff der Shoah als Bezeichnung für die Ermordung der Juden im NS . Das unermessliche Ausmaß dieser Verbrechen sollte folglich durch die Aussagen der Opfer als Zeugen konkret werden: We stop perceiving living creatures behind the mounting totals of victims; they turn into incomprehensible statistics. […] The only way to concretize it was to call surviving witnesses, as many as the framework of the trial would allow, and to ask each of them to tell a tiny fragment of what he had seen and experienced. The story of the particular set of events, told by a single witness, is still tangible enough to be visualized.495 Anhand der persönlichen Erzählungen einzelner Opfer sei die unfassbare Dimension des Massenmords demnach begreifbar. Inwieweit unterscheiden sich diese Ausführungen des israelischen Chefanklägers Hausner von Boders Interviews als personal documents? Um den qualitativen Unterschied zwischen der Perspektive von Boder und jener von Hausner zu begreifen, sind die begriffliche Verschiebung und deren Folgen zu erläutern: Aus Opfern (victims) seien Zeitzeugen (surviving witnesses) geworden.496 Nach Hausner habe der Gerichtsprozess gegen Eichmann die unfassbaren Dimensionen der jüdischen Katastrophe sichtbar gemacht und dadurch Israel als den Staat der überlebenden Juden konstituiert: »It came as a discovery to many that we are actually a nation of survivors.«497 Aus den einstigen Opfern waren durch ihre Funktion als Zeugen vor Gericht gesellschaftlich anerkannte Überlebende geworden. Jene Überlebenden boten der jungen israelischen Nation eine heldenhafte Identifikationsfigur, wie Hausner weiterhin ausführte: The trial thus proved to be a strong educational factor in strengthening Jewish consciousness. The interest of the younger people of the events of the Nazi holocaust (sic) continues unabated. Israel’s education authorities are trying out various means of maintaining this upsurge identification with the nation’s past.498 Die Identifikation der jüdischen Gemeinschaft mit dem Massenmord an den Juden Europas und dezidiert auch mit den Überlebenden hatte das Ziel der Verfestigung einer neuen nationalen Identität. Die Ermordung von sechs Millionen Juden bezeichnete Hausner in seiner 1966 veröffentlichten Monografie 494 Ebd. 495 Ebd. 496 Dieser Prozess vollzog sich laut Taft jedoch bereits seit den 1940er Jahren, vgl. Margaret Taft: From Victim to Survivor. The Emergence and Development of the Holocaust Witness, 1941-1949, Edgware, Portland 2013. 497 Hausner, Justice, S. 435. 498 Ebd., S. 453.
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an dieser Stelle nicht nur als jüdische Katastrophe, sondern ebenfalls mit dem Begriff »Nazi holocaust« – ein Beleg dafür, dass die NS -Verbrechen an den Juden damals bereits mit dem heute gängigen Begriff Holocaust bezeichnet wurden: »By the beginning of the 1960s a name had been ascribed to this genocidal event.«499 Hausner verknüpfte die historische Aufklärung über die NS -Verbrechen demnach mit einer nationalen Sinngebung des Massenmordes: »Thus the great national disaster has also been a fountain of new strength, and it holds out new hope for a better future.«500 Aus dem Massenmord an den Juden Europas wurde in dieser Interpretation eine nationale Katastrophe und zugleich eine hoffnungsvolle Sinnstiftung: Israel als Nation von Holocaust-Überlebenden wurde durch diese Neuinterpretation zur Stätte der Katharsis, zu einem Symbol der Stärke und Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Wie der israelische Historiker Tom Segev ausgeführt hat, wechselte Hausner mehrfach zwischen verschiedenen Rollen und agierte abwechselnd als Staatsanwalt, Pädagoge, Historiograph, Politiker und geschickter Dramaturg.501 Die Zeugenaussagen der nunmehr als jüdische Überlebende des Holocaust interpretierten Personen hatten im Prozess gegen Eichmann somit diverse pädagogische Funktionen, die Hausner durch seine verschiedenen Rollen zu realisieren suchte. Sie dienten der Vermittlung von historischem Wissen über die Gesamtheit der Verbrechen an den Juden Europas sowie einer nationalen Sinngebung dieser Verbrechen im Sinne eines zionistischen Narrativs. Damit wurde eine folgenschwere geschichtspolitische Aneignung des Holocaust in Israel geprägt.502 Taubitz hat konstatiert, dass sich nach 1961 kein Anstieg der Sammlung von Opferberichten in Form von Interviews nachweisen lässt und somit kein Paradigmenwechsel in der Zeugenschaft des Holocaust stattgefunden hätte.503 Insbesondere durch die Gerichtskolumnen von Hannah Arendt im New Yorker im Jahr des Prozesses sowie ihrer daraus resultierenden Monografie Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil von 1963 war jedoch auch in den USA eine bedeutsame öffentliche Debatte über den NS -Massenmord an den Juden ausgelöst worden.504 Ein kurzer Blick zurück verdeutlicht die Brisanz des 499 Lipstadt, Holocaust, S. 13. Lipstadt hat ausgeführt, dass sich der Begriff Holocaust (teils auch in der Schreibweise holocaust) in der historischen Forschung über den NS insbesondere in Israel bereits seit Ende der 1950er etabliert hatte. 500 Hausner, Justice, S. 454. 501 Vgl. Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 445. 502 Zu den frühen israelischen Debatten vgl. Nadav Heidecker: Die Ursprünge von Holocaustgedenken und -forschung in Israel, in: Verfolgen und Aufklären. Die erste Generation der Holocaustforschung/Crimes Uncovered. The First Generation of Holocaust Researchers. Publikation zur Ausstellung/Exhibition catalogue, hg. von Hans-Christian Jasch und Stephan Lehnstaedt, Berlin 2019, S. 328-351. 503 Vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 65. 504 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des
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Eichmann-Prozesses hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktionalisierung der Opfer der NS -Verbrechen als Zeugen. Arendt klassifizierte die Verhandlung gegen Eichmann als »Schauprozess«, und diese harsche Kritik basierte insbesondere auf der Verwendung der Opferzeugen durch Hausner als moralische Klage.505 Demnach wurde nicht nur ein Strafprozess gegen Eichmann als einzelnen Täter, sondern unter Rückgriff auf die Zeugen eine Klage gegen alle NS -Täter im Namen der Ermordeten formuliert. Hausner hatte argumentiert, dass der Vorteil der Fokussierung auf die Berichte der Opferzeugen in der Möglichkeit bestand, die abstrakten Verbrechen an Millionen Juden am Einzelschicksal begreifbar zu machen. Die Vermittlung einer Moral stand dabei stets im Vordergrund, weshalb der israelische Philosoph Avishai Margalit auch von der Erfindung der Figur des moralischen Zeugen im Eichmann-Prozess gesprochen hat.506 Ein moralischer Zeuge definiert sich nach Margalit dadurch, dass er Opfer und Augenzeuge von Leid ist, das von einer bösen Macht verursacht wurde. Im Gegensatz zum Märtyrer hat er dieses Leid allerdings überlebt und kann darüber berichten.507 Als Beispiel für die Figur des moralischen Zeugen bezieht Margalit sich auf den jüdischen Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Jehiel Dinur, besser bekannt unter seinem Pseudonym K. Zetnik, was im Jiddischen so viel wie »K Z -Häftling« bedeutet. Dinur ist in Israel seit den 1950ern für seine schockierenden Romane über Auschwitz bekannt und wurde 1961 als Zeuge gegen Eichmann geladen – im Zeugenstand fiel er in Ohnmacht, und die Fernsehkameras hielten diesen spektakulären historischen Moment fest. Margalit schließt daraus, dass Dinur den moralischen Zeugen geradezu idealtypisch verkörpert: Vielleicht gab es überhaupt keinen zweiten Menschen mit K. Zetniks leidenschaftliche gefühlter Mission, ein moralischer Zeuge zu sein – jemand, der mit letzter Kraft zu überleben suchte, zu dem einzigen Zweck, das Grauen des Holocaust zu erzählen. Durch seine Bücher erlangte er Anerkennung als maßgeblicher moralischer Zeuge, und als solcher wurde er aufgefordert, beim Eichmann-Prozess 1961 auszusagen.508
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Bösen, 10. Auflage, München 2010. Zur geschichtskulturellen Bedeutung ihres Buches siehe Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt revisited. »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen, Frankfurt am Main 2000. Vgl. Wieviorka, Enstehung des Zeugen, S. 141. Zur historischen Genese der Figur des moralischen Zeugen siehe Dean, Moral witness, insbesondere Kapitel 3: »The Holocaust Witness/The Eichmann Trial and Its Aftermath«, S. 91-131. Vgl. Avishai Margalit: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Frankfurt am Main 2000, S. 60-65. Margalit, Ethik, S. 72.
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Die Bedeutung einer ethischen Botschaft ist für die Funktion des moralischen Zeugen somit zentral und sorgte zugleich dafür, dass die Überlebenden als Träger von historischem Wissen wahrgenommen wurden. Durch die dem Eichmann-Prozess folgende mediale Aufmerksamkeit für die persönlichen Geschichten von Opfern der Judenvernichtung, die nunmehr als Zeugen und Holocaust-Überlebende öffentliche Anerkennung fanden, hätten Boders Interviews eigentlich gute Chancen gehabt, ebenfalls als Zeugnisse des Holocaust von einem breiteren Publikum rezipiert zu werden. Dies geschah allerdings aus zwei entscheidenden Gründen nicht: Zum einen unterscheiden sich Boders Interviews in Form und Funktion wesentlich von den Zeugenaussagen des Eichmann-Prozesses. Im Gegensatz zur aufgezeigten Funktionalisierung der Aussagen der Opfer vor Gericht hatten die Erzählungen der von Boder als Kriegsleidende und DP s klassifizierten keine pädagogische Funktion. Der Psychologe verfolgte mit seinen Interviews im Gegensatz zu Hausners moralischer Instrumentalisierung der Zeugenaussagen eher aufklärerische Ziele. Dies zeigte sich insbesondere in der Verwendung in der politischen Bildung in den USA .509 Durch Boders primäre Verwendung der Erzählungen als Daten für seine Katastrophenforschung wurden die persönlichen Geschichten als Beispiele von Extremerfahrungen zwar tendenziell universalisiert. Jedoch war das Ziel der Wissensvermittlung bei Boder nicht mit einer Sinnstiftung der Erlebnisse verbunden. Den Interviewten wurde keine moralische Autorität zugesprochen, die eine bessere (nationale) Zukunft garantieren könnte, und es sollte auch keine universelle Botschaft aus ihnen abgeleitet werden. Einer der entscheidenden Gründe dafür, dass Boders Interviews nach dem internationalen Medienereignis des Eichmann-Prozesses kaum in der Öffentlichkeit beachtet wurden, ist allerdings gar nicht inhaltlich begründet, sondern liegt darin, dass die Audioaufnahmen von 1946 schlichtweg für Jahrzehnte nicht mehr auffindbar waren. Während des weltweit Aufsehen erregenden Prozesses gegen Eichmann verstarb Boder am Morgen des 18. Dezember 1961 aufgrund eines erneuten Herzinfarkts in Los Angeles. Sein persönliches Engagement zur Vermittlung seiner Interviewsammlung fand damit ein jähes Ende, und auch die öffentliche Resonanz für seine Interviews verebbte für mehrere Jahrzehnte.
509 Boder hatte seine DP-Interviews in öffentlichen Vorträgen in den 1940er Jahren auch als politisches Argument für die Einwanderung der Flüchtlinge aus Europa in die USA verwendet, erinnert sei etwa an seine politische Agenda in der Radiosendung »Should we Close the Gates to Displaced Persons?« vom März 1948 und seine Ausführungen darüber, dass es sich bei den DP s nicht um Abschaum handelte.
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»Wiederentdeckt«: Von antiquierten Drahtspulen zu digitalen Voices of the Holocaust Bereits im Dezember 1950 hatte Boder auf Anfrage der Financiers seines Forschungsprojektes am National Institute of Mental Health (NIMH ) Kopien der Drahtspulen seiner DP-Interviews angefertigt und wollte diese zum Zwecke der Archivierung der Interviewsammlung in acht Boxen verstaut an deren Bibliothek schicken. Ein Missverständnis mit der Anschrift hatte allerdings dazu geführt, dass diese Boxen versehentlich an die Library of Congress (LOC ) in Washington, D. C., verschickt und dort in der Motion Picture, Broadcasting & Recorded Sound Divsion archiviert wurden.510 Auch seine Transkripte sendete Boder an die LOC , allerdings wurden diese separat archiviert und dadurch überhaupt nicht mit den Soundaufnahmen in Verbindung gebracht. Bereits ab den 1960er Jahren begann durch das Interesse eines Mitarbeiters am LOC an den spärlich beschrifteten Drahtspulen ein Prozess, der es ermöglichen sollte, diese Aufnahmen wieder abspielen zu können. Der Mitarbeiter am LOC , John Howell, konnte trotz der großen Auswahl an Drahttonrekordern in der hauseigenen Sammlung allerdings nicht den passenden Pierce Magnetic Wire Recorder Model 50 ausfindig machen, den Boder für seine Aufzeichnungen verwendet hatte. Ein passendes Gerät fand Howell erst ganze 20 Jahre später, und es dauerte noch bis in die 1990er Jahre, bis die Audioaufnahmen tatsächlich wieder abgespielt werden konnten. Bekanntheit erlangten Boders Interviews daher erstmals wieder ab Ende der 1990er Jahre, und zwar aufgrund seiner übersetzten Transkripte und nicht der Audioaufnahmen. Der amerikanische Historiker Donald N. Niewyk arbeitete – unabhängig von Howells Bemühungen um die Audioüberlieferungen an der LOC – an einem Buchprojekt und veröffentlichte 1998 Fresh Wounds. Early Narratives of Holocaust Survival mit einer Auswahl von 34 edierten Transkripten aus Boders Sammlung. Zwar hatte Niewyk sich mit seiner Widmung »To the memory of DAV ID P. BODER« explizit dem Andenken an den Psychologen verpflichtet, doch bereits der Untertitel des Buches verweist auf eine starke Umdeutung von Boders Interviews. Mit dem Titel seiner Monografie I Did Not Interview the Dead hatte Boder 1949 noch explizit die Bedeutung der Toten und des Verlusts betont. In der Darstellung von Niewyk wurden aus den DP-Aufnahmen nun hingegen früheste Erzählungen des Überlebens.511 Niewyk ist zwar ein ausgewiesener Experte für die Geschichte des Holocaust sowie für die Geschichte der Juden im Deutschland des 20. Jahrhunderts.512 Mit Interviews als Artefakten und historischen Quellen hatte sich der Historiker zuvor allerdings nie ausführlicher beschäftigt – inspiriert war sein Buch durch einen 510 Vgl. Rosen, Voices, S. 167. 511 Vgl. Niewyk, Fresh Wounds, S. 1-23. 512 1980 publizierte Niewyk The Jews in Weimar Germany und 1992 The Holocaust. Problems and Perspectives of Interpretation.
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Hinweis der Historikerin Sybil Milton, die in der Forschungsabteilung des USHMM tätig war, wie Niewyk in seiner Danksagung vermerkte.513 Das geringe Wissen von Niewyk über den Umgang mit frühen Opferberichten und im Speziellen mit Audiointerviews führte zu einer äußerst problematischen Form seiner Publikation. Bereits seine Interview-Auswahl war fragwürdig, denn er sortierte diejenigen aus, die nicht seinen Vorstellungen von einer kohärenten Erzählung entsprachen: »Those who ›froze up‹ or were unable to tell coherent stories during the sessions have been excluded […].«514 Boders zentrales Anliegen einer möglichst wortwörtlichen Überlieferung der Erzählungen wurde ebenfalls übergangen, da die übersetzten Transkripte nicht nur gekürzt, sondern teilweise auch neu »geordnet« wurden: Here the objective is to let the survivors tell their stories as clearly and as intelligibly as possible, always in their own words, but with much redundant material excised and, in a few cases, the narratives reordered for chronological coherence.515 Wie Jürgen Matthäus anhand des Interviews mit Helen Tichauer detailliert nachgewiesen hat, wurden Boders Transkripte durch die Edition von Niewyk so stark verändert, dass sowohl die Form als auch der Inhalt der Erzählungen schlichtweg verfälscht wurde.516 Niewyk lieferte mit seinem Buch zudem einen entscheidenden Beitrag zur Historisierung von Boders Interviewprojekt, der ebenfalls problematisch ist. Der Historiker vertrat die These, dass die gesamte Sammlung von Boder jahrzehntelang vergessen gewesen sei. Boder hätte sein Werk demnach nie vollenden können und sei an der Publikation und wissenschaftlichen Auswertung der Interviews insgesamt gescheitert: Although he drew together a unique and valuable collection of sources on the Holocaust, he succeeded in publishing only a handful of the interviews during his lifetime. The audience simply was not there. Since Boder’s death in 1961, his work has been largely forgotten.517
513 »Special recognition belongs to Sybil Milton, former senior historian at the Research Institute of the United States Holocaust Memorial Museum, who brought the Boder interviews to my attention when I was working on an earlier research.« Niewyk, Fresh Wounds, S. iii. 514 Ebd., S. 6. 515 Ebd. 516 Vgl. Matthäus, Displacing Memory, S. 49-72. Deutlich wird an dieser Stelle ebenfalls, dass der Vorschlag von Susanne Urban, die Interviews von Boder für Bildungszwecke neu zu schneiden, ohne sie zu »verfälschen oder gar mit eigenen Werten und Ideen aufzuladen«, schlichtweg unmöglich ist, da jeder Schnitt und jede Neustrukturierung der Erzählungen eine interpretierende Aneignung der Quellen bedeutet. Susanne Urban, Zeugnis ablegen, S. 41. 517 Niewyk, Fresh Wounds, S. 3.
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Boders Interviews wurden als Sammlung von Quellen über den Holocaust begriffen, für die es jedoch keinerlei Resonanz gegeben hätte. Als Grund dafür gab Niewyk weiterhin an, dass in den ersten Jahren der Nachkriegszeit generell nur sehr wenige Berichte von NS -Opfern aufgezeichnet worden seien.518 Die Überlebenden, so Niewyk weiter, hätten über ihre Erfahrungen nicht sprechen wollen oder können, zudem hätte es keine gewillten Zuhörer gegeben. Erst in der Folge des Eichmann-Prozesses habe sich dies geändert: »Boder died in Los Angeles in 1961, the year of the Eichmann trial. By the time the world began to take notice of the genocide of the Jews, Boder’s efforts had been all but forgotten.«519 Damit ist Niewyks Argumentation geradezu ein Musterbeispiel für die Reproduktion vom Mythos des Schweigens.520 Wie an den bisherigen Ausführungen ersichtlich wurde, hatte es auch bereits vor dem EichmannProzess diverse Formen der Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den Juden gegeben, es wurden durch die Aktivitäten der Historischen Kommissionen und anderen Initiativen Tausende Zeugnisse von Opfern dokumentiert, und bis 1961 waren auch weder Boder noch seine Interviews unbekannt oder vergessen. In Niewyks Darstellung der Rezeption von Boder wurde völlig verkannt, dass Boder in der Folge seiner Expedition nach Europa immerhin 16 Bände mit 70 Transkripten seiner insgesamt 129 Interviews samt Index und psychologischem Anhang sowie sozialwissenschaftliche Analysen über die Interviews publiziert hatte. Wie durch die Kontextualisierung von Boders Forschung im Bereich der amerikanischen Katastrophenforschung der 1950er Jahre herausgestellt wurde, war es keineswegs so, dass Boders Arbeit ausschließlich auf fehlendes wissenschaftliches Interesse stieß. Daher ist es auch irreführend, von einer »Wiederentdeckung« der Interviews in den 1990er Jahren zu sprechen, wie Alan Rosen ausgeführt hat: Having influenced a wide range of writing and research in this period [the 1950s, DS], the interviews are treated as something lost and then discovered, on the order of the buried-and-then-unearthed Warsaw Ghetto Oyneg Shabes archives and other wartime writings.521 Rosen argumentiert im Gegensatz zu Niewyk, dass die Interviews von Boder und maßgeblich dessen Monografie von 1949 in den 1950er Jahren im Bereich der Psychologie, Soziologie und weiterer Sozialwissenschaften umfangreich rezipiert wurden. Verschollen waren Boders Interviews also keineswegs, wie der drastische Vergleich zum Ringelblum-Archiv, das im Warschauer Ghetto vergraben und erst Jahre nach dem Krieg geborgen wurde, deutlich macht. 518 519 520 521
Vgl. ebd., S. 1. Ebd., S. 5. Cesarani, Myth of Silence. Rosen, America, S. 110.
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Gleichzeitig muss allerdings gegen Rosen argumentiert werden, dass Boders Interviews seit seinem Tod 1961 kaum mehr wahrgenommen wurden und diese fehlende Rezeption bis in die 1990er Jahre andauerte. Dies lag zum einen daran, dass Boders im Eigenverlag publizierte Transkripte zwar in diversen Bibliotheken und Museen weltweit verfügbar waren und sind, aber in der Wissenschaft nicht rezipiert wurden. Zudem waren die Audioaufzeichnungen der Interviews zunächst nicht auffindbar und bis Mitte der 1990er Jahre nicht wieder abspielbar, wie Rosen selbst angemerkt hat: »What took Boder a little over two months to record took nearly thirty-five years to be played back.«522 Erst Mitte der 1990er Jahre wurde der Sound, der auf den fragilen Drahtspulen von Boder aufgezeichnet worden war, durch die LOC auf Tonbänder übertragen und dadurch mit zeitgenössischer Technik erneut abspielbar.523 Die Materialität der Interviews hat dahingehend noch eine weitere mediengeschichtliche Ebene: Erst durch die folgenden Prozesse von Digitalisierung, Klassifizierung und Einbettung in eine Onlinedatenbank wurden die Interviews als Tondokumente für eine breite Öffentlichkeit zugänglich.524 Insofern ist die Rezeptionsgeschichte von Boders Interviews noch komplizierter, als es die Darstellungen von Niewyk und Rosen konstatiert haben: Boder war in den 1950er Jahren ein mäßig erfolgreicher Sozialwissenschaftler auf dem Gebiet der Katastrophenforschung. In dieser Zeit fanden seine Publikationen über psychische Auswirkungen von Extremsituationen durchaus Resonanz. Doch seine Monografie fand kein breites Publikum, eine zweite Auflage seines Buches ging nie in Druck, und mit seinem Tod im Jahr 1961 endete schlagartig eine weitere Verbreitung seiner publizierten Forschung. Im Jahr des Prozesses gegen Eichmann und dem damit verbundenen Auftakt zur »Ära des Zeugen« waren Boders Interviews zwar noch relativ bekannt, aber in den folgenden Jahrzehnten gerieten sie in Vergessenheit. Erst durch die Digitalisierung der Interviews um die Jahrtausendwende änderte sich dies. Ende der 1990er Jahre wurde an der Paul V. Galvin Library (GL)525 in Chicago ein Projekt zur Digitalisierung von Boders Interviewsammlung initiiert, das die öffentliche Wahrnehmung und Interpretation der Aufnahmen bis heute maßgeblich verändert hat.526 Der Journalist Carl Marziali war mit seiner Berichterstattung über das Projekt zur Digitalisierung von Boders Interviews 522 Rosen, Voices, S. 165. 523 Eine Kopie des Interviews von Helen Tichauer wurde etwa 1995 von der LOC auf Tonband angefertigt, allerdings falsch als »Helena Tischauer« benannt, siehe Library of Congress: David P Boder interviews Helena Tischauer, September 23, 1946, Germany, UR L : https://catalog.loc.gov/vwebv/search?searchArg=Tischauer&searchCode=GK E Y 5E*&searchType=0&recCount=25&sk=en_US ; letzter Zugriff am 21.07.2021. 524 Vgl. Keilbach, Mikrofon, S. 289. 525 Die Bibliothek ist an das IIT angegliedert, also jener Institution in Chicago, die Boders Forschungsheimstätte bis in die späten 1950er war. 526 Zur Bedeutung der Repräsentation von Boders Audiointerviews mit Displaced Persons auf der in Chicago entwickelten Website vgl. Ranke.2 – Quellenkritik im
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maßgeblich an einer Interpretation der Sammlung beteiligt. Zu Beginn der 2000er Jahre beschrieb er den Arbeitsprozess der Bibliothek in Chicago unter dem vielsagenden Titel Uncovering Lost Voices: In 1946, Boder borrowed from his life insurance to help fund a European expedition where he made the first recorded interviews with Holocaust survivors and other wartime refugees. Although his work produced the only recorded oral histories of survivors from that time, Boder’s efforts attracted little interest and were nearly lost before the Galvin Library rediscovered his work after more than 50 years.527 Boders Interviewprojekt wurde von Marziali als wenig erfolgreich und letztlich unbekannt und vergessen dargestellt, ähnlich wie in der Darstellung von Niewyk. Die Bibliothek in Chicago hätte diese vergessene Interviewsammlung von Boder demnach über 50 Jahre nach seinen Aufnahmen »wiederentdeckt«. Diese Charakterisierung von Boders Interviews durch Marziali ist besonders aufschlussreich, um die Bedeutungsverschiebung der Aufnahmen zu begreifen. Der Journalist bezeichnete die Interviews als die ersten Aufnahmen mit Holocaust-Überlebenden aus der Nachkriegszeit. Eine Rekonstruktion der Projektgeschichte an der GL verdeutlicht, wie sich die Klassifikation von Boders DPInterviews von 1998 bis Anfang der 2000er Jahre rasant veränderte und welche Auswirkungen dies auf deren Interpretation als früheste Zeugnisse des Holocaust hatte. Der erste überlieferte Antragsentwurf für eine finanzielle Förderung der geplanten Website ist auf Juni 1998 datiert. Betitelt war der Antrag mit: »Heroes of the Narrative. Topical Autobiographies of Displaced Persons.«528 Dieser Arbeitstitel war sehr nah an Boders eigener Wortwahl und verwies zudem auf den historischen Kontext der Aufnahmen in den DP-Camps. Dass die Interviewten als Helden benannt wurden, basierte ebenfalls auf Boders eigenen Worten. In der Danksagung zu seiner Monografie von 1949 hatte der Psychologe geschrieben: This statement of gratitude would be incomplete without mention of the heroes of the narratives. Without any incentive other than the hope that their stories might contribute to a better understanding of the DP drama, the DP ’s (sic!) themselves gave their time readily.529 talen Zeitalter: David Boder. Von der Drahttonaufnahme zur Website, UR L : https://ranke2.uni.lu/de/u/boder/; letzter Zugriff am 21.07.2021. 527 Carl Marziali: Uncovering Lost Voices. 1946 David Boder Tapes Revived, in: American Libraries 34, 2003, S. 45-46, hier S. 45. 528 Paul V. Galvin Library, University Archives and Special Collections, Voices of the Holocaust Project papers, 1998-2005, ID 025.04.04, Ordner: Grants/Budget. Im Folgenden: Voices Project Papers. 529 Boder, Dead, S. xiii.
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Der historische Kontext der DP-Camps war in den 1990er Jahren jedoch vermutlich zu weit entfernt, der erste Arbeitstitel wurde rasch wieder verworfen.530 Zunächst wurde die schlichte Bezeichnung Boder Project benutzt, bis das Vorhaben im November 1998 in einem weiteren Antragsentwurf schließlich mit Voices of the Holocaust betitelt wurde.531 Der Antrag benannte als Projektleiterin Dr. Sahair W. Elbaz, die zugleich Direktorin der Bibliotheken am IIT war, sowie Dr. Jan Figa und Christoper Stewart als leitende Forscher. Das Formular mit einem Konzept, für das knapp 75.000 US -Dollar benötigt wurden, ging Mitte November bei der Illinois State Library ein.532 Boders Interviewsammlung wurde in diesem Konzeptpapier folgendermaßen vorgestellt: »Boder interviewed 109 Holocaust survivors in displaced-persons (sic) camps throughout Europe. In all, he recorded 70 interviews that totaled 120 hours.«533 Erklärungsbedürftig sind daran zunächst die benannten Mengenangaben. Boder hatte im letzten Band seiner Topical Autobiographies, in denen er eine Auswahl von 70 Interviews transkribiert hatte, angegeben, dass er 1946 insgesamt 109 Personen interviewt hatte, und diese Angaben wurden im Antrag der GL übernommen. Erst Alan Rosen hat mit der Zahl von 129 aufgezeichneten Interviews die vermutlich genaueste Angabe zur Anzahl von Boders Aufnahmen festgehalten.534 Dass es sich bei den Interviewpartnern von Boder ausschließlich um Holocaust-Überlebende gehandelt habe, hatte sich Ende 1998 bereits als Verallgemeinerung durchgesetzt. Der Chicagoer Titel Voices of the Holocaust für Boders Sammlung von Interviews mit DP s ist somit als Ausdruck einer veränderten Interpretation der Aufnahmen zu verstehen. Der Fokus des Titels lag auf den Stimmen des beziehungsweise aus dem Holocaust. Doch die konkreten Stimmen spielten in diesem Teil der Planungsphase an der Bibliothek eine noch sehr untergeordnete Rolle: The Paul V. Galvin Library of Illinois Institute of Technology is fortunate to possess a unique and complete 16-volume set of translated transcriptions of this epochal research. It is our intent to digitize these volumes and make them universally available via the World Wide Web. Boder’s original wire recordings have been destroyed, but a magnetic tape facsimile exists at the Library of Congress. We will obtain a set of these tapes and make excerpts of the actual voices of survivors Web-accessible.535 530 Keiner der Mitarbeiter in der Galvin Library konnte sich im Juni 2017 noch an den benannten Arbeitstitel erinnern, vgl. Expertengespräch des Autors mit Ralph Pugh und Kristin Standart in der Galvin Library Chicago am 13. Juni 2017. 531 Vgl. Bewerbung der Galvin Library bei der Illinois State Library, FY99 Educate and Automate Grant, undatiert (vermutlich November 1998), in: Voices Project Papers. 532 Vgl. Amy L. Kellerstrass an Jan Figa (12.11.1998), in: Voices Project Papers. 533 Ebd. 534 Vgl. »Appendix II : The Disputed Number of Boder Interviews«, in: Rosen, Voices, S. 239-240. 535 IIT Grant Application 1998, in: Voices Project Papers.
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Als Ziel des Projektes wurde angegeben, alle 16 Bände von Boders Transkripten zu digitalisieren und diese schließlich mittels einer Website global zugänglich zu machen.536 Die hauptsächliche Arbeit betraf damit die Digitalisierung von Boders Transkripten. Die Qualität der Texte, die in den 1950ern auf manuellen Schreibmaschinen erstellt worden waren, erwies sich allerdings als so schlecht, dass die 3.200 Seiten händisch abgetippt werden mussten. Die ersten Ansätze für eine Digitalisierung der Audioaufnahmen der Interviews waren hingegen sehr viel bescheidener. Ein konkreter Plan für die Verwendung von Ausschnitten der Audiointerviews wurde im Antrag ebenfalls angegeben, wobei die Frage nach dem Originalmaterial Widersprüche offenbarte. Als Ziel des Projekts gibt die GL dort 1998 an: »Obtain a magentic copy of the original wire recordings from the Library of Congress. Select clips from individual interviews, turn those clips into sound files, and link them to the appropriate interviews.«537 Einerseits hieß es in dem Antragstext, dass die »original wire recordings« von Boder zerstört worden seien, wobei unklar bleibt, von wem oder wodurch. Andererseits war es das Ziel, Kopien der »original wire recordings from the Library of Congress«538 zu erhalten. Als »Original« wurden demnach Boders Kopien der Drahtspulen aus den 1950er Jahren verstanden. Eine Auswahl der 1995 in der LOC angefertigten Audiokassetten wurde schließlich 1998 angefordert.539 Ausgewählte sound clips aus einzelnen Interviews sollten anschließend digitalisiert und mit dem Transkript des jeweiligen Interviews verlinkt werden. Die Digitalisierung kompletter Interviews in voller Länge war Ende 1998 hingegen noch gar nicht vorgesehen, denn bereits im Juni 1999 sollte die Website online gehen. Allerdings kam Mitte Januar die Absage für die Finanzierung.540 Bis Mitte Juni 1999 wurde daher ein neuer Antrag für eine Förderung des Projektes ausgearbeitet.541 Nach einem personellen Wechsel formulierte nun ein Team um den neuen Projektleiter Jan Figa den Plan, von September 1999 bis September 2000 eine Website zu entwickeln, die auch inhaltlich einen veränderten Schwerpunkt hatte. Mit einem um ganze 20.000 US -Dollar gesteigerten Budget sollten nun sowohl die vollständigen Transkripte als auch komplette Audioaufnahmen der Interviews digitalisiert werden. Das Projekt hatte damit innerhalb eines knappen Jahres die Zielstellung hinsichtlich der Verwendung von Boders Interviews 536 Zur Bedeutung der Digitalisierung und der Auswirkungen auf die Rezeption von Erinnerungsinterviews vgl. Bothe, Digitales Zeugnis, S. 241-259. 537 IIT Grant Application 1998, in: Voices Project Papers. 538 Ebd. 539 Dies widerspricht der Darstellung über die Projektgeschichte auf der Homepage, dass man erst 1999 von Kopien der Boder-Interviews in der LOC erfahren habe, siehe Voices of the Holocaust, The Voices Project, UR L : https://voices.library.iit. edu/voices_project; letzter Zugriff 21.07.2021. 540 Vgl. Brief von Amy L. Kellerstrass am 14.01.99 an Jan Figa, in: Voices Project Papers. 541 Vgl. IIT Grant Proposal to the Institute of Museum and Library Services (1999), in: Voices Project Papers.
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grundsätzlich verändert. Ziel war es nun, alle in der LOC verfügbaren Kopien von Boders Spulen digital zu reproduzieren und die Audioaufnahmen online zugänglich zu machen.542 Um die Finanzierung dieses neuen Projektentwurfes zu garantieren, wurde die Bedeutung der Einzigartigkeit von Boders Interviews nunmehr noch stärker betont – es handele sich laut Antragstext um eine einzigartige Sammlung und Boders Aufnahmen seien die ersten Zeugnisse des Holocaust überhaupt: »This unique collection provides one of the earliest, if not the first, testimony from survivors of the atrocities of Nazi opression.«543 Dass die GL im Besitz einer der vermeintlich wenigen Kopien der Transkripte sei, ließ die Realisierung des Projektes an der Bibliothek des IIT umso bedeutsamer erscheinen: »Galvin Library owns one of the few copies of the complete sixteen-volume set of interviews of Holocaust survivors from 1946.«544 Ein Blick auf den weltgrößten Bibliothekskatalog WorldCat beweist allerdings, dass Boders Transkripte in fast 30 Bibliotheken weltweit einzusehen sind.545 Lag es demnach nur im Jargon des Antragstextes begründet, dass die Bedeutung der Interviews von Boder so stark überhöht wurde, um die Relevanz des eigenen Projekts zu verstärken? Beachtet werden muss ebenfalls, dass es sich bei dem Team der GL um Bibliothekare und IT-Experten, nicht aber um Historiker oder Experten auf dem Gebiet der Holocaustforschung handelte. Der Projektleiter Jan Figa etwa war zwar ausgewiesener Fachmann für Digital Humanities, aber eben kein Experte für die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust.546 Der technische Aspekt der Website stand insgesamt klar im Vordergrund, und so wurden auch als die vier große Ziele des Projektes angegeben: The Voices of the Holocaust project aims to: 1. Preserve rare and fragile material 2. Increase public access to primary source material 3. Promote oral history as a rich resource and an effective learning tool 4. Provide a scalable model for integrating resources from a variety of formats for other repositories of rare and historic collections547 Boders Interviews, das heißt sowohl die Transkripte als auch die Audioaufzeichnungen, wurden als fragiles historisches Material verstanden, das es zu 542 543 544 545
Vgl. ebd. Ebd., H. d.Verf. Ebd., H. d.Verf. Nach Onlinerecherche des Autors befinden sich Kopien der Transkripte in immerhin 28 Bibliotheken, der Großteil in den USA , aber auch in Kanada, Großbritannien und Israel (Stand: Juli 2021). 546 Im Förderungsantrag von 1999 wurden explizit Figas technische Qualitäten betont: »Jan Figa has a Doctorate in Applied Mechanics and Master in LIS from UIUC . Dr. Figa offers a unique combination of advanced analytical skills with professional knowledge of library-related issues.« IIT Grant Proposal, 1999, in: Voices Project Papers. 547 Ebd.
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erhalten gälte. Ihr Wert als historische Quellen wurde den Interviews insbesondere durch die Klassifizierung als Oral History zugeschrieben. Mit diesem Sammelbegriff verwies die GL somit auf einen spezifischen Quellentypus mündlich erfragter Geschichte, der sich in Amerika seit Ende der 1960er Jahre zu einer gesellschaftsrelevanten Disziplin und Bewegung entwickelt hatte: Bereits 1966 war in den USA der Berufsverband Oral History Association gegründet worden, der sowohl in der Wissenschaft als auch als soziale Bewegung von Relevanz war.548 Ende der 1990er Jahre versprach die nachträgliche Klassifizierung von Boders Interviews als Oral History – ein Begriff, den Boder nie verwendet hatte – demnach einen Mehrwert an Bedeutung und gesellschaftlicher Relevanz. Als Ziel für die pädagogische Vermittlung der historischen Sammlung wurde die Verwendung der Interviews weiterhin als Lerninstrument benannt. Damit positionierte das Team des Voices-Projekts die GL als sogenannte Gedächtnisinstitution.549 Im Sinne der Digital Humanities vereint diese die Merkmale und Aufgaben eines Archivs, einer Bibliothek und eines Museums: Sowohl die Sammlung und Archivierung als auch die öffentliche Zugänglichkeit und ein pädagogischer Auftrag verbanden sich im Voices of the Holocaust project der GL . Weitet man den Blick auf das Team der GL , wird das Fehlen von historischem Fachwissen über den Holocaust innerhalb des Projekts noch deutlicher. Für die Supervision war die Dekanin der IIT-Bibliotheken Sohair Elbaz zuständig, die Arbeitsgruppe bestand aus diversen Bibliothekaren. Der Journalist Marziali brachte das Problem an dieser Zusammensetzung der Gruppe mit seinem eingangs zitierten Artikel aus dem Jahr 2003 (unfreiwillig) auf den Punkt: How many Egyptian-born Muslims end up in charge of a major Holocaust history project? Aware of her limitations, Elbaz assembled a focus group that included a child of Holocaust survivors, Jewish participants, experts in Web site design, and, for a fresh perspective, IIT students from India who knew almost nothing about the Nazi era.550 Das Wissensdefizit der Kerngruppe des Voices-Projekts wurde von Marziali als »fresh perspective« verklärt, muss hingegen als einer der elementaren Gründe dafür verstanden werden, dass die historische Kontextualisierung von Boders Interviews – zumindest in dieser Phase des Projektes – schlichtweg völlig unzureichend war. Fast keiner der Beteiligten konnte auf fundiertes Wissen über 548 Vgl. Annette Leo; Franka Maubach: Den Unterdrückten eine Stimme geben? Die International Oral History Association zwischen politischer Bewegung und wissenschaftlichem Netzwerk, Göttingen 2013. 549 Zur Bedeutung des Begriffs »Gedächtnisinstitution« vgl. Heike Neuroth: Bibliothek, Archiv, Museum, in: Digital Humanities. Eine Einführung, hg. von Fotis Jannidis, Hubertus Kohle und Malte Rehbein, Stuttgart 2017, S. 213-222. 550 Marziali, Uncovering, S. 46.
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den Nationalsozialismus oder die Geschichte des Holocaust zurückgreifen.551 Die Spezifik der Entstehungsgeschichte von Boders Interviews, der aktuelle Forschungsstand zu frühen Interviews mit Überlebenden des Holocaust oder die Bedeutung von Erinnerungsinterviews für die Erforschung der NS -Geschichte lagen jenseits des vorhandenen Fachwissens. Dies wurde innerhalb des Teams durchaus reflektiert, in der ersten Phase der Durchführung stand daher auch auf der Agenda, Fachleute zu suchen, die eine historische Kontextualisierung auf der Website geben könnten: »Galvin Library will seek an introductory essay by a prominent scholar or writer on the Holocaust.«552 Das Hauptaugenmerk des Projekts lag allerdings merklich nicht in der historischen Forschung, sondern vielmehr in der Digitalisierung von Boders Interviews. Dafür war die Bibliothek auch bestens geeignet, auf diesem Gebiet handelte es sich um ausgewiesene Experten. Bezüglich des Internets, dessen Verwendung Ende der 1990er als neueste Technologie gepriesen wurde, konnte die GL auf gute Erfahrungen zurückgreifen: »The Galvin Library has a history of commitment to growth and expanding accessibility by using cutting edge technology.«553 In einem Vision Statement der Hauptbibliothek am IIT war zu lesen, dass die GL besonders an technischem Fortschritt interessiert war: »By the beginning of the 21st century, Illinois Institute of Technology’s library system will be a leader in creating a new environment for excellence in the provision of research and information services.«554 Eingebettet und kontextualisiert werden sollten Boders Interviews daher in eine Erfolgsgeschichte des IIT: »The interviews were conducted by Dr. Boder, a trained psychologist at IIT, who used the wire recording technique invented by Dr. Camras, also of IIT.«555 Neben der Rolle von Boder als Psychologe am IIT sollte ebenfalls die Biographie und das Werk von Marvin Camras, dem Erfinder des Drahttonrekorders, den Boder für seine Interviews benutzte, Erwähnung finden. Ihre Pionierrolle auf den Gebieten der Mechanik und der Sozialwissenschaften sowie die Bedeutung der technischen Innovation am IIT wurden somit stark betont. Ein weiterer Aspekt in der Planung der Website betraf die Kooperation mit bedeutenden geschichtspolitischen Akteuren auf dem Gebiet der institutionellen Holocaust-Erinnerung in den USA . In allen Finanzierungsanträgen der GL wurde stets eine Kooperation mit dem USHMM betont. Bereits im allerersten Antragstext von 1998 stand in der Projektbeschreibung: »The Holocaust Memorial Museum has agreed to link its homepage to this website at IIT.«556 Und 551 Wobei nicht verschwiegen werden soll, dass sich auch zahlreiche Holocaust-Überlebende aus Chicago an die GL wandten und ihre Unterstützung bei den Transkriptionen anboten. 552 IIT Grant Proposal, 1999, in: Voices Project Papers. 553 Ebd. 554 Ebd. 555 Ebd. 556 IIT Grant Proposal 1998.
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auch ein Jahr später wurde wieder eine explizite Verbindung zum USHMM hergestellt. Das Museum wurde damit als eine der wichtigsten Institutionen für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Erinnerung und des Lernens mit den Interviews als historischen Quellen dargestellt. Im August 2000 war die Website unter dem Titel »Voices of the Holocaust. A documentary project by Illinois Institute of Technology« schließlich erstmals online zugänglich.557 Historische Kontextualisierungen durch Fachwissenschaftler fehlten zu diesem Zeitpunkt allerdings noch vollständig. Wie der Untertitel suggerierte, hatte diese erste Version der Website einen stark dokumentarischen Charakter. Präsentiert wurden in digitaler Form die neu abgetippten 70 Transkripte von Boder sowie eine kleine Auswahl an Audioaufnahmen.558 Die zur Verfügung gestellten Informationen über Boders Interviewprojekt setzten die Deutung der Aufnahmen als früheste Zeugnisse des Holocaust sowie der Interviewten als Holocaust-Überlebende fest: This collection of interviews is unique and up to now has not been easily accessible. While there is a tremendous effort around the world today to record the stories of survivors of the Holocaust, these interviews are special because Dr. Boder interviewed survivors in 1946 while they were still in displaced persons camps around Europe – only one year after their liberation from the death camps.559 Die weltweite Sammlung der Geschichten von Holocaust-Überlebenden seit Ende der 1970er Jahre bildete den Kontext für Boders Interviews, und damit ordnete die GL sowohl Boder als auch das Voices-Projekt in einen Trend der gesellschaftlichen Wertschätzung von Zeugenschaft des Holocaust ein. Aus der relativ heterogenen Gruppe von Boders Interviewpartnern, von denen der Großteil von Erfahrungen mit Zwangsarbeit, Ghettos und Konzentrationslagern berichtet hatte, wurde in dieser Interpretation der GL eine homogene Menge an Überlebenden aus Vernichtungslagern. Die Mehrheit von Boders Interviewpartnern war allerdings niemals in einem Vernichtungslager gewesen: abgesehen von einem Teil der Interviewten, die Auschwitz-Birkenau oder das K Z Majdanek560 überlebt hatten. Die Verwendung des Begriffes »death camp« scheint daher auf eine mangelhafte begriffliche Differenzierung des Voices557 Vgl. Voices of the Holocaust (2000), UR L : https://web.archive.org/web/200104 07063939fw_/http://voices.iit.edu/index.html; letzter Zugriff am 21.07.2021. 558 Vgl. Interview Archive, in: Voices of the Holocaust (2000), UR L : https://web.archive.org/web/20010211142240fw_/http://voices.iit.edu/interview.html; letzter Zugriff am 21.07.2021. 559 About the Project, in: Voices of the Holocaust (2000), UR L : https://web.archive. org/web/20010407063939fw_/http://voices.iit.edu/index.html; letzter Zugriff am 15.03.2021. 560 Von ihren Erfahrungen in Majdanek/K L Lublin berichten gegenüber Boder Nechama Epstein, Benjamin Piskorz, Hadassah Marcus und Roma Tcharnobroda, vgl. Rosen, Voices, S. 231-238. Zur Bedeutung des K Z Majdanek als Vernichtungslager
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Teams zurückzuführen zu sein: death camp erscheint in diesem Zusammenhang als drastischere Wortwahl im Vergleich zu concentration camp. Eine historisch versiertere Kontextualisierung von Boders Interviews, die eigentlich bereits 1999 angestrebt worden war, wurde erst nach einer umfassenden Überarbeitung der Website im Jahr 2005 nachgereicht. Als prominente Holocaustforscher fungierten auf der Website seit 2005 der Historiker Donald N. Niewyk und der Literaturwissenschaftler Alan Rosen. Aus Niewyks Buch Fresh Wounds wurden einführende Kurzbeschreibungen zu ausgewählten Interviews übernommen, Rosen hingegen verfasste einen Text über Boders Biographie sowie über die Bedeutung seines Interviewprojekts.561 Die Identifizierung der diversen Interviewpartner von Boder mit der Rolle als Holocaust-Überlebende sowie deren Interviews als erste Zeugnisse des Holocaust bilden eine konstante Interpretation seit dem ersten Projektantrag der GL im Jahr 1998. Das Team des Voices-Projekts strebte stets eine Zusammenarbeit mit bedeutenden Institutionen der amerikanischen Erinnerung an den Holocaust an, wie die Absprachen mit dem USHMM bereits gezeigt haben. Jan Figa hatte als Projektkoordinator bereits vor der ersten Onlineversion der Voices-Website diverse Kontakte zu amerikanischen Institutionen hergestellt, die sich auf die Produktion, Archivierung und Verbreitung von Interviews mit HolocaustÜberlebenden spezialisiert hatten. Im Oktober 1999 hatte Figa einen Vortrag auf der Jahrestagung der Oral History Association in Anchorage, Alaska, mit dem Titel »Voices of the Holocaust: The Boder Project«562 gehalten und war dort mit Jessica Wiederhorn in Kontakt getreten, die für die USC Shoah Foundation (SF ) tätig war.563 In der Woche nach der Konferenz fragte Figa per EMail an, ob Wiederhorn in der Datenbank der SF nach den 70 Namen aus Boders Transkripten suchen könnte. Er hoffte darauf, dass ehemalige Interviewpartner von Boder eventuell erneut von der SF interviewt worden seien: »It would be great to find even just one match as we could then explore the issue of memory as it relates to traumatic events.«564 Wiederhorn reagierte erst knapp einen Monat später auf die Anfrage aus Chicago, doch versicherte sie, dass auch sie sehr an einem Vergleich der Erinnerungen interessiert sei und im VHA nach den Namen suchen wolle. Figa
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siehe Barbara Schwindt: Das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek. Funktionswandel im Kontext der »Endlösung«, Würzburg 2005. Vgl. Alan Rosen: David Boder. Early Postwar Voices. David Boder’s Life and Work, in: Voices of the Holocaust, UR L : https://voices.library.iit.edu/david_boder; letzter Zugriff am 04.08.2021. Jan Figa, E-mail an Jessica Wiederhorn (13.10.1999), in: Voices Project Papers. Wiederhorn wurde 1995 als Interviewerin für die USC Shoah Foundation ausgebildet und arbeitete dort bis 2001, vgl. Jessica Wiederhorn: Case Study: »Above all, we need the witness«. The Oral History of Holocaust Survivors, in: The Oxford Handbook of Oral History, hg. von Donald A. Ritchie, Oxford 2012, S. 244-254, hier S. 249. Figa an Wiederhorn (13.10.1999), in: Voices Project Papers.
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wiederum antwortete bereits nach wenigen Stunden auf die E-Mail aus Los Angeles und betonte erneut, wie außergewöhnlich ein solcher Vergleich der Erzählungen wäre: »This could be a land-mark study, if we find survivors that were interviewed in the 1980s or 1990s.«565 Nach dieser enthusiastischen Nachricht von Figa schien die Korrespondenz mit Wiederhorn und der SF allerdings abgebrochen zu sein, keine weiteren E-Mails sind überliefert. Für Figa und seine Idee des Interviewvergleichs kann dies als tragischer Umstand bezeichnet werden, denn schließlich waren von der SF in den 1990er Jahren mehrere ehemalige Interviewpartner von Boder erneut interviewt worden: Alan Kalish (geb. Adolf Heisler), Edith Zierer, Gert Silver (geb. Gert Silberbard), Jack Bass (geb. Jürgen Bassfreund), Jack Unikowski (geb. Izrael Unikowski) und Janine Oberrotman (geb. Janina Binder).566 Im Gegensatz zu den Audioaufzeichnungen der Forschungsinterviews von Boder mit DP s handelte es sich bei den späteren Videoaufnahmen allerdings um eine völlig neue Kategorie von Interviews, die unter dem Begriff Holocaust Testimony mit veränderten Methoden und Erkenntnisinteressen aufgezeichnet wurden und die zudem spezifische Funktionen erfüllen sollten.
Zwischenfazit Bevor der Blick auf diese neue Form der Zeugenschaft und die erneuten Befragungen von ehemaligen Interviewpartnern von Boder gerichtet wird, ist jedoch eine Zwischenbilanz zur Verortung und Rezeption von Boders Interviewprojekt nötig. Im Vergleich zu den Pionierforschungen zum Holocaust in den 1940er und 1950er Jahren wurde Boders Interviewprojekt in diesem Kapitel mit der Khurbn Forschung der Historischen Kommissionen in Europa verglichen und aufgrund von diversen Differenzen hinsichtlich der Methoden und Erkenntnisinteressen abgegrenzt. Eingebettet wurde Boder insbesondere in die Katastrophenforschung der 1940er und 1950er Jahre in den USA . Die engen Kontakte des Psychologen zur Forschergruppe des NORC und seine Bemühungen im Bereich der Disaster Studies wurden exemplarisch aufgezeigt. Obgleich Boder innerhalb dieses spezialisierten Forschungsfelds zu verorten ist und bis an sein Lebensende »awfully busy« mit der Arbeit an seinen Interviews war, erreichte er jedoch kaum ein breites Publikum, bis er 1961 in Los Angeles verstarb. Dieses Jahr wurde folglich als paradoxer Wendepunkt hinsichtlich der Konjunkturen von Zeugenschaft vorgestellt: Der spektakuläre Eichmann-
565 Figa an Wiederhorn (10.11.1999), in: Voices Project Papers. 566 Es ist unklar, ob die Verschlagwortung des V H A 1999 mit den Angaben zu den Namen der Überlebenden vor dem Krieg noch nicht so weit entwickelt war, dass man sie gut hätte finden können, oder ob diese speziellen Suchanfragen nie durchgeführt worden sind.
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Prozess in Israel gilt als Auftakt zu einem Zeitalter der Zeugenschaft und der Etablierung der Figur des moralischen Zeugen. Die folgende Rezeption von Boders Interviewprojekt steht dazu geradezu im Widerspruch. Es handelte sich um einen ambivalenten Prozess des Vergessens und »Wiederentdeckens« seiner Aufnahmen in den Folgejahren, der in der Digitalisierung der Interviews um die Jahrtausendwende durch die GL mündete. Die Klassifizierung und öffentliche Wahrnehmung von Boders DP-Interviews als frühe beziehungsweise vermeintlich erste Zeugnisse des Holocaust unterlagen einem historischen Wandel von 1946 bis zur Jahrtausendwende. Die Begriffe Oral History und Holocaust Testimony, die insbesondere seit 1979 Konjunktur haben, wurde erst nachträglich auf Boders frühe Interviews übertragen. Bei dieser Klassifizierung handelt es sich um eine spezifische Form von Erinnerungsinterviews, deren institutionalisierte Produktion im Vergleich zu Boders fragilen Aufnahmen von 1946 teilweise konträre Ziele verfolgt, wie im folgenden Kapitel aufgezeigt wird.
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1. Holocaust Testimony als Genre: Methodik und Ziele der institutionellen Video-Produktion Mit dem Memory-Boom um das Jahr 1979 und den in den folgenden Dekaden zu Tausenden per Videokamera aufgezeichneten Interviews mit Überlebenden des Holocaust ist ein neues Genre der mündlichen Zeugenschaft entstanden.1 Die Begriffe Holocaust Testimony oder Video Testimony sind die gängigsten Bezeichnungen für diese Form von Erinnerungsinterviews mit HolocaustÜberlebenden: What, precisely, do we mean by ›testimony‹? Is testimony the most useful foundational term for every instance in which survivors invoke the destruction, or should it be considered one particular genre of remembering and retelling, with its particular benefits and limits?2 Wie im letzten Kapitel am Beispiel von Boders Aufnahmen aufgezeigt, wurde der Begriff Holocaust Testimony rückwirkend auch auf die frühesten Interviews übertragen, obwohl diese Aufnahmen kaum unter diese nachträgliche Begriffsschöpfung subsumiert werden können. Im Gegensatz zu Boders Audioaufzeichnungen ermöglichte die neue Technik der mobilen Videoaufzeichnung seit Mitte der 1970er Jahre auch die Dokumentation der visuellen Dimension, die als offensichtlichste Veränderung zu erkennen ist. Geoffrey Hartman, der 1979 bei dem Pionierprojekt zur Aufzeichnung von Augenzeugenberichten von Holocaust-Überlebenden in New Haven beteiligt war und in den Folgejahren das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (FV H ) an der Yale University mit aufgebaut hat, betonte in der Beschreibung des Genres daher stets die Dimension des »embodiment«, des leibhaftigen Auftretens der Überlebenden vor laufender Videokamera.3 Nach Hartman lassen sich dem Begriff Holocaust Testimony diverse Merkmale zuordnen: Es handelt sich um Erzählungen, die der Quellengattung Oral History zugerechnet werden, aufgezeichnet per Videokamera zum Zwecke der Dokumentation des Zeugnisablegens der Überlebenden und mit dem Ziel der Überlieferung eines Vermächtnisses für die Nachwelt. Diesem Vermächtnis wurde sowohl vom FVA als auch von späteren Institutionen die Funktion eines oftmals nicht 1 Zur These der Zäsur um 1979 vgl. Bösch, Zeitenwende, S. 363-393. Jan Taubitz geht eher von einem schleichenden Wandel aus, vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 8285. 2 Henry Greenspan, Sara R. Horowitz, Eva Kovács, Berel Lang, Dori Laub, Kenneth Waltzer: Engaging Survivors. Assessing »Testimony« and »Trauma« as Foundational Concepts, in: Dapim: Studies on the Holocaust 28, 2014, S. 190-226, hier S. 191. 3 Vgl. Hartman, Learning from Survivors, S. 201.
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näher bestimmten Lernens von den Überlebenden zugeschrieben. Trotz der Betonung der Videoaufzeichnung grenzte Hartman das FVA stets deutlich davon ab, ein Filmprojekt zu sein: »Let me emphasize that we are not filmmakers.«4 Ein solcher Filmemacher war hingegen Steven Spielberg, der 1994 mit der Gründung der Survivors of the Shoah Visual History Foundation das Genre Video Testimony entscheidend prägte.5 Insbesondere in den USA , aber auch in Europa und Australien gründeten sich verstärkt in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Organisationen, die sich auf die Produktion von Videointerviews mit Überlebenden spezialisierten. Im Folgenden werden jene drei Institutionen vorgestellt, die in den 1990er und 2000er Jahren bei der erneuten Befragung meiner Auswahl der fünf ehemaligen Interviewpartner von Boder beteiligt waren. Alle drei Institutionen prägten das Genre Holocaust Testimony mit ihren Zielen und Methoden der Interviewproduktion maßgeblich: Neben der bereits erwähnten USC Shoah Foundation werden das Jewish Holocaust Centre (JHC ) in Melbourne und das USHMM vorgestellt.6 Das JHC ist als Teil eines globalen Trends zur »Universalisierung des Holocaust«7 zu verstehen, zumal auch zahlreiche Kooperationen des JHC mit der SF und dem USHMM bestanden und bestehen. Das Ziel in diesem Kapitel ist keine ausführliche Institutionengeschichte, sondern die Darstellung der Institutionen als Prägeinstanzen mit spezifischen Methoden und Zielen, welche die Kommunikations- und Sinnbildungsprozesse während der Interviews geprägt haben. Dies basiert auf einer der zentralen Erkentnnisse des Holocaustforschers Noah Shenker: »Testimonies of the Holocaust are coconstituted through distinctive archival approaches working in dialogue with the individuel witnesses, and are not simply captured as ›raw‹ accounts.«8 Shenker hat dies mit dem Begriff des reframing ausgedrückt, dem die Erkenntnis zugrunde liegt, dass die Erfahrungsberichte der Befragten nicht einfach nur auf Video dokumentiert, sondern bereits während des Aufzeichnungsprozesses geformt, interpretiert und funktionalisiert wurden. Oftmals ist eine Sinnstiftung der Erzählungen bereits während der Produktion der Videoaufnahmen 4 Hartman, Learning from Survivors, S. 202. 5 Michaelis hat die These aufgestellt, dass erst durch die umfassende Medialisierung der videographierten Interviews durch die USC Shoah Foundation von einem Genre gesprochen werden könne: »Tatsächlich sind Video Testimonies erst mit dem heutigen Visual History Archive (V H A ) zu einem eigenen Genre geworden.« Andree Michaelis: Erzählräume nach Auschwitz. Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah, Berlin 2013, S. 26, H. i.O. 6 Alle fünf Personen in meiner Auswahl wurden erneut durch die SF und das USHMM befragt, Unikoski und Silver wurden zudem in Melbourne vom JHC interviewt. 7 Vgl. J. Olaf Kleist: »Soweit von Europa entfernt wie möglich«. Holocaust Erinnerungen in Australien, in: Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, hg. von Jan Eckel und Claudia Moisel, Göttingen 2012, S. 86-108. 8 Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. xii.
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inhärent, wobei verschiedene Ziele und Funktionen voneinander unterschieden werden können: Den Interviewten wurde oftmals ein Expertenstatus zugeschrieben. Aufgrund ihrer Autorität als Überlebende sollten die Befragten moralische Lehren vermitteln. Die Interviews dienten weiterhin als Beweise gegen Holocaustleugung. Für das Boder Projekt am USHMM zu Beginn der 2000er Jahre dienten die erneuten Befragungen hingegen in erster Linie der Produktion von erfahrungsgeschichtlichen Quellen, die es zu interpretieren gälte. Diese Quellen sind allerdings ebenso wenig als Rohmaterial zu verstehen, sondern stark durch die methodisch strukturierte dialogische Gesprächsführung geformt. Als Grundlage für die vergleichenden Interviewanalysen werden folglich zunächst die Zielstellungen und Techniken der Befragungen der Institutionen untersucht.
Moralische Lektionen der USC Shoah Foundation Der aus Deutschland in die USA emigrierte Jack Bass (geb. Jürgen Bassfreund) war einer derjenigen Interviewpartner von David Boder, die in den 1990er Jahren von der USC Shoah Foundation erneut interviewt wurden. Am Ende der Videoaufzeichnung aus dem Jahr 1997 wurde er gefragt, warum er sich entschieden habe, sein Zeugnis in der Form eines Interviews mit der Stiftung abzulegen: Bass: Well, this is/ my daughter insisted. She said: ›Daddy, I heard on the television that Mr. Spielberg is looking for people to, to testify and to sp/ talk about a concentration camp. And I think you should do it, too. Because maybe some day people want to hear the story and/‹ So she kept bothering me and she called, said to me ›You still have the phone number to call Mr. Spielberg?‹ I said ›Yes.‹ And then once I really lost it, and she says ›May I give you the phone number?‹ I wrote it down. And then I called.9 In dieser Darstellung von Bass wirkte es so, als habe er mit Steven Spielberg persönlich telefoniert, so stark wurde der Filmemacher mit dem Interviewprojekt identifiziert. Dies lag insbesondere daran, dass Spielberg stets als »Übervater der Stiftung«10 präsentiert wurde, der die persönliche Verantwortung für die Erzählungen der Überlebenden und deren Weitergabe trage. Doch warum suchte »Mr. Spielberg« in den 1990er Jahren überhaupt mittels Werbeclips im amerikanischen Fernsehen nach Holocaust-Überlebenden, die über ihre K Z Erfahrungen berichten sollten?
9 Jack Bass, Interview 30765, Visual History Archive, USC Shoah Foundation, 09.07.1997. Zugriff am 29.07.2019. 10 Bothe, Virtueller Raum, S. 110.
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Alina Bothe hat dargelegt, dass die SF verschiedene Zielsetzungen verfolgte, die gewissermaßen aufeinander aufbauen würden: zunächst die Sammlung von Interviews, danach die Erschließung der Daten und schließlich die Erziehung mittels der Interviews.11 Meine forschungsleitende These lautet hingegen, dass die pädagogischen Ziele der SF nicht erst nach der Sammlung und Erschließung der Aufnahmen hinzugetreten sind, sondern dass die Interviews bereits während der Produktionsphase von pädagogischen Implikationen geformt worden sind. Um dies zu erklären, ist eine Analyse der Methodik der Interviewproduktion nötig. Eine Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte, der Sammlungsphase sowie der Ziele und Methoden der Stiftung wird im Folgenden verdeutlichen, welchen Einfluss die Institution auf die Form und Deutung der Interviews hatte. Obwohl es sich um die weltweit größte Sammlung von Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden handelt, steht eine umfassende Institutionengeschichte bisher noch aus.12 Im Jahr 2014 veröffentlichte die Stiftung anlässlich ihres 20-jährigen Jubiläums einen Katalog, der als das offizielle Narrativ der SF verstanden werden kann und bereits im Titel zentrale Deutungsmuster versammelt: Testimony. The Legacy of Schindler’s List and the USC Shoah Foundation.13 Die Bezeichnung der mündlichen Erzählungen von Überlebenden als Testimony ist als Ausdruck der Wirkungskraft des Begriffs Holocaust Testimony zu begreifen, der sich seit Ende der 1970er Jahre etabliert hat.14 Das zweite zentrale Element für die Geschichte der SF bildet das Erbe des Spielfilms Schindlers Liste. Der Begriff legacy ist dabei als konstitutiv im Kontext einer Bestimmung der öffentlichen Figur des Holocaust-Überlebenden zu verstehen: »Whether speaking of a legacy of trauma, of testimony, of Hitler, of Schindler, of night, or of dawn, there is probably no word used more often in connection with survivors than legacy.«15 Welches Erbe hat also der Spielfilm aus dem Jahr 1993 hinterlassen? Ohne ausführlich auf die Handlung des Films einzugehen, sei darauf verwiesen, dass der Regisseur für die Darstellung des deutschen Unternehmers Oskar Schindler als Retter von Juden während des Zweiten Weltkrieges in Polen die Form des Melodramas wählte und damit eine der erfolgreichs11 Vgl. ebd., S. 113-115. 12 Wie Bothe ausgeführt hat, stehen nur wenige Quellen und Literatur über die Stiftung zur Verfügung, vgl. ebd., S. 210. 13 Vgl. USC Shoah Foundation (Hg.): Testimony. The Legacy of Schindler’s List and the USC Shoah Foundation, New York 2014. 14 Die Entstehung des Begriffs Holocaust Testimony im englischen Sprachraum ist eng mit der Konstitution der öffentlichen Rolle als Witness (Zeuge) und Survivor (Überlebender) des Holocaust verbunden. Eine historisierende Reflexion der Begriffe besteht bisher nur in Ansätzen, vgl. Bothe, Nesselrodt, Survivor; Greenspan et al., Engaging Survivors; Horowitz, Rethinking. 15 Henry Greenspan: Imagining Survivors: Testimony and the Rise of Holocaust Consciousness, in: The Americanization of the Holocaust, hg. von Hilene Flanzbaum, Baltimore 1999, S. 45-67, hier S. 63.
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ten Hollywoodproduktionen zum Thema Holocaust erschuf.16 In den wenigen kritischen Besprechungen des Oscar-prämierten Spielfilms wurde häufig insbesondere die Darstellung der Figur des guten Deutschen problematisiert.17 In seinem Film über Oscar Schindler bekräftigte Spielberg stets die positive Botschaft der Geschichte: Though it is not a happy ending, I think the ending is uplifting because it is about salvation and deliverance. The biggest message of the movie is that because of what Schindler did, generations live on.18 Das Fortleben der Generationen wird in der Erzählung der Gründungsgeschichte der SF kontinuierlich betont. Zudem wurden in dieser Geschichte als Grund für die Gründung der SF stets die Erfahrungen von Spielberg mit Holocaust-Überlebenden während der Dreharbeiten angegeben. Auf Wunsch von polnischen Überlebenden, die sich während und nach der Arbeit an dem Film an Spielberg gewandt hätten, sollten im Anschluss an den Spielfilm nun die Lebensgeschichten von jüdischen Opfern gesammelt und tradiert werden. Am 31. August 1994 verkündete Spielberg in Hollywood die Gründung der Survivors of the Shoah Visual History Foundation und auch zehn Jahre später wurde das Zusammentreffen mit Überlebenden während der Dreharbeiten in einer Chronik der SF stark betont: »One year after Holocaust survivors visit the set of Schindler’s List, Steven Spielberg establishes Survivors of the Shoah Visual History Foundation as a nonprofit organization.«19 Analog zur Darstellung von Schindler als Retter der Juden war die Gründung der SF in der Interpretation von Spielberg ein Projekt zur Rettung der Geschichten der Überlebenden: »We made a promise to interviewees, a promise I feel we have honored – that their testimony would be saved and shared for the benefit and progress of mankind.«20 Die Ziele der Stiftung lassen sich anhand der von der SF formulierten Mission Statements rekonstruieren, insbesondere die Sammlungsphase der 1990er 16 Vgl. Jeffrey Shandler: Schindler’s Discourse. America Discusses the Holocaust and its Mediation, from NBC ’s Miniseries to Spielberg’s Film, in: Spielberg’s Holocaust. Critical Perspectives on Schindler’s List, hg. von Yosefa Loshitzky, Bloomington 1997, S. 153-170. 17 Zur Kritik am Inhalt und der Botschaft des Films vgl. Liliane Weissberg: The Tale of the Good German. Reflections on the German Reception of Schindler’s List, in: Loshitzky, Spielberg’s Holocaust, S. 171-192; Eike Geisel: E. T. bei den Deutschen oder Nationalsozialismus mit menschlichem Antlitz, in: Schindlerdeutsche. Ein Kinotraum vom Dritten Reich, hg. von Initiative Sozialistisches Forum, Freiburg 1994, S. 107-126. 18 Steven Spielberg, zitiert nach: USC Shoah Foundation, Testimony, S. 142. 19 USC Shoah Foundation: Ten Years, in: PastForward 6, 2004, S. 14-15, hier S. 14. 20 Steven Spielberg: Introduction: Face to Face with Testimony, in: Testimony. The Legacy of Schindler’s List and the USC Shoah Foundation, hg. von USC Shoah Foundation, New York 2014, S. ix-xiii, hier S. xiii.
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Jahre ist für die Auswahl der Interviews dieser Arbeit relevant. Das ursprüngliche Ziel der SF im Gründungsjahr 1994 war kein geringeres als die Erschaffung der größten Sammlung von Interviews mit Holocaust-Überlebenden weltweit: »The original mission of the Foundation is to record the testimonies of 50,000 Holocaust survivors and other witnesses around the world before it is too late.«21 Zu beachten ist zunächst die begriffliche Differenzierung zwischen Holocaust-Überlebenden und anderen Zeugen. In dieser ersten Zielformulierung wurde zwischen verschiedenen Opfergruppen und Gruppen von Interviewpartnern unterschieden. Gemeint waren neben jüdischen Opfern auch amerikanische Befreier oder andere Personen, die als Zeugen der NS Verbrechen befragt werden sollten. Der zweite Teil des Zitats nahm Bezug auf die gesellschaftliche Debatte um den Tod der letzten Zeitzeugen.22 Die Produktion von Interviews wurde permanent als »race against time«23 beschworen, um eine zusätzliche Begründung für die Notwendigkeit der schnellen Erschaffung eines monumentalen Videoarchivs zu liefern. Dies bestätigte auch die retrospektive Analyse der Sammlungsphase von Karin Jungblut, die seit 1996 Angestellte der SF ist: Everyone involved in the Foundation saw the work as a race against time. A production oriented mentality permeated all activities associated with it. […] The urgency resulted from two premises: a race against time because survivors were dying but also a race against time wanting to get these testimonies done sooner rather than later.24 Die Produktion und Sammlung der Videoaufnahmen als Holocaust Testimonies bildeten in der Selbstdarstellung der SF die beiden zentralen Grundlagen in der ersten Phase der Stiftung. Die Popularität von Spielberg sowie die mediale Inszenierung des Projektes hatten dazu geführt, dass sich viele Überlebende für einen Interviewtermin mit der SF bereit erklärten, wie die eingangs zitierte Darstellung von Bass gezeigt hat. Die hohe Bereitschaft, sich interviewen zu lassen, erklärt sich teilweise auch durch die starke Bewerbung der Interviewsammlung auf verschiedensten Kanälen: Local organizations, synagogues, survivor groups, secular and Jewish community papers and newsletters were contacted. Through announcements, 21 USC Shoah Foundation, Ten Years, S. 14. 22 Taubitz hat darauf hingewiesen, dass der Topos vom »Tod der Zeitzeugen« in der Auseinandersetzung um die Erinnerung an den Holocaust bereits seit den 1980er Jahren besteht, vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 9-15. 23 Vgl. USC Shoah Foundation, Testimony, S. 147. 24 Karen Jungblut: Survivors of the Shoah Visual History Foundation. An Analytical Retrospective of the Foundation’s Collection Phase, in: NS -Gewaltherrschaft. Beiträge zur historischen Forschung und juristischen Aufarbeitung, hg. von Alfred B. Gottwaldt, Berlin 2005 (Publikation der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der WannseeKonferenz), S. 508-519, hier S. 510.
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articles, and word-of-mouth, survivors and witnesses heard about the foundation. They in turn either telephoned local or toll-free lines to register with the Foundation or filled out flyers and returned them by mail.25 Die Umsetzung der massenhaften Aufzeichnung von Videointerviews wurde insbesondere durch die rasche Eröffnung von weltweiten regionalen Büros und mit einem logistischen Aufwand, den bisher keine andere Institution hatte aufbringen können, erreicht. Von August 1994 bis Ende 1998 wurden insgesamt 50.000 Interviews mit hauptsächlich jüdischen Holocaust-Überlebenden per Video aufgezeichnet, womit das erste Ziel der Stiftung erreicht wurde und die Phase des massenhaften Sammelns vorbei war.26 Im Jahr 1999 wurden zwar immer noch rund 800 weitere Videos produziert, doch der Höhepunkt der Interviewproduktion, der 1996 die Menge von fast 16.000 Interviews in einem Jahr erschaffen hatte, war Ende 1998 vorbei. In den frühen 2000er Jahren wurde die pädagogische Nutzung des umfangreichen Videoarchivs als offizieller Sinn und Zweck der Interviews proklamiert.27 In einem zweiten Mission Statement aus dem Jahr 2001 wurde dieses neue Ziel der Bildungsarbeit ausformuliert: The Foundation announces its new mission: To overcome prejudice, intolerance, and bigotry – and the suffering they cause – through the educational use of the Foundation’s visual history testimonies.28 Mithilfe der Interviews sollten demnach Vorurteile, Intoleranz und Fanatismus überwunden werden, wobei die Mittel zunächst noch nicht näher bestimmt wurden. Dieser pädagogische Anspruch wurde im Jahr 2006 durch die Angliederung der Stiftung an die University of Southern California (USC ) und die folgende Namensänderung in USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education weiter verstärkt.29 Die Erschließung und Verbreitung der Interviews fand seither durch das an der USC ansässige Visual History Archive (VHA ) statt. In diesem digitalen Videoarchiv sind etwa 52.000 Interviews von Holocaust-Überlebenden aus 56 Ländern und auf 32 Sprachen versammelt.30 Weltweit bieten etwa 140 Institutionen Zugriff auf die passwortgeschützten Videoaufzeichnungen und deren Metadaten, Ausschnitte aus Interviews sind ebenfalls über den YouTube-Account frei zugänglich. Nach 2006 25 26 27 28 29
Jungblut, Survivors, S. 511. Vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 138-139. Jungblut, Survivors, S. 518. USC Shoah Foundation, Ten Years, S. 15. Siehe USC Shoah Foundation – The Institute for Visual History and Education, UR L : http://sfi.usc.edu/; letzter Zugriff am 26.07.2021. 30 Insgesamt sind im V H A noch etwa 2000 weitere Interviews archiviert. Die offizielle Angabe lautet »more than 54,000 video testimonies of survivors and witnesses of genocide.« Visual History Archive Online, UR L : http://vhaonline.usc.edu/login; letzter Zugriff am 26.07.2021.
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wurde das Spektrum der Interviewpartner erheblich erweitert und um die Methode der vergleichenden Genozidforschung ergänzt. Das 2014 gegründete USC Shoah Foundation Center for Advanced Genocide Research führte etwa auch Interviews mit Opfern aus Rwanda oder Kambodscha, die seither ebenfalls für Bildungsarbeit verwendet werden.31 Als aktuelle Mission ist auf der Website der SF zu lesen: »Our mission is to develop empathy, understanding and respect through testimony.«32 Das pädagogische Ziel der Vermittlung von Lehren aus dem Holocaust wurde demnach wahlweise als Kampf gegen Rassismus, Intoleranz oder in neuester Form und größtmöglicher Universalisierung als Kampf gegen Hass bezeichnet.33 2014 fasste Spielberg seine Perspektive auf die Bedeutung der Überlebendengeschichten rückblickend in folgende Worte: I am not an authority on the Holocaust. The only authorities are the survivors themselves. I am, however, a steadfast ally of the people who I encountered while making Schindler’s List, and an advocate for the faces and voices of these survivors. […] One voice can move us to act. This call to action is at the very core of Schindler’s List and of the work of the USC Shoah Foundation, and it says: One person can change the world, and that person is you.34 Spielbergs Verständnis der SF ist geprägt von der Vorstellung einer uneingeschränkten Autorität der Interviewten als Holocaust-Überlebende sowie der Authentizität ihrer Erzählungen.35 Das Ziel der Dokumentation der Erzählungen wurde durch Spielbergs Deklaration eines Expertentums der Überlebenden mit dem pädagogischen Imperativ als Sinngebung verbunden: Den Stimmen und Geschichten derjenigen, die den Holocaust überlebten, wird eine transformative Funktion zugeschrieben. Die als Holocaust Testimony klassifizierten Interviews hätten demnach nahezu automatisch die Kraft zur Verbesserung der Welt, da sie zum Handeln animieren würden. Das Ziel der Bildungs-
31 Der weltweite Online-Zugang für Universitäten und andere Bildungseinrichtungen wird permanent weiter ausgebaut, um dem Anspruch der Nutzung des V H A für Forschung und Bildung gerecht zu werden, wie Wolf Gruner als Gründungsdirektor des Center for Advanced Genocide Research mir mitgeteilt hat, vgl. Expertengespräch des Autors mit Wolf Gruner am 06. 06. 2017 an der University of Southern California in Los Angeles. 32 USC Shoah Foundation, The Institute for Visual History and Education, UR L : https://sfi.usc.edu/; letzter Zugriff am 15.03.2021. 33 Vgl. Adam Popescu: Steven Spielberg on Storytelling’s Power to Fight Hate, in: New York Times, 18.12.2018, UR L : https://www.nytimes.com/2018/12/18/arts/design/steven-spielberg-shoah-foundation-schindlers-list.html; letzter Zugriff am 26.07.2021. 34 Steven Spielberg, Introduction: Face to Face with Testimony, in: USC Shoah Foundation, Testimony, S. ix, H. i.O. 35 Die Autorität der Überlebenden sowie der Glaube an die Authentizität ihrer Geschichten muss indes als historisch geworden reflektiert werden, vgl. Michaelis, Autorität, S. 265-284.
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arbeit wird aus dieser idealistischen Grundannahme abgeleitet, die zugleich teleologische Züge trägt. Möglich geworden war die massenhafte Produktion der Interviews erst durch eine radikale Abkehr von bisherigen methodischen Traditionen der Aufzeichnung von Videointerviews mit Überlebenden, wie sie maßgeblich das FVA in Yale seit 1979 geprägt hatte.36 Wie die Archivarin Joanne Rudof betont hat, stand das emphatische Zuhören stets im Fokus der Interviews in Yale – es fanden keine Befragungen nach klar strukturierten Fragebögen statt, sondern die Erzählungen folgten dem Erinnerungsfluss der Befragten, ohne die Vorgabe einer Zeitbegrenzung der Aufnahme oder der Pflicht, die Erzählung chronologisch zu strukturieren.37 Der Prozess der Interviewproduktion durch die SF war hingegen sehr streng geregelt und durchgeplant. Die Interviewteams der SF bestanden zumeist aus zwei Personen: einem Laieninterviewer, der in einem zweitägigen Workshop in Grundlagen der Interviewführung und der Geschichte des Holocaust ausgebildet worden war, sowie einer weiteren Person, die für die Kamera zuständig war.38 Die Aufnahmen wurden zudem nicht in einem professionellen Studio, sondern bei den Interviewten zu Hause, zumeist in deren Wohnzimmern, angefertigt. Obwohl dies auf eher pragmatische Gründe der Kostenminimierung zurückzuführen ist, hatte diese Entscheidung des Aufnahmeortes auch erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Erzählenden, was sich insbesondere in den methodischen Handreichungen der Stiftung zeigt. Vorgegebener Anspruch der SF war es, die Erzählungen der Überlebenden möglichst in ihren eigenen Worten aufzuzeichnen: »A good testimony is one in which the survivor has a chance to tell his story in his own words.«39 Dies erinnert an die Formulierung von David Boder, der die Erzählungen seiner Interviewpartner ebenfalls in den eigenen Worten und Stimmen aufzeichnen wollte. Doch ähnlich wie bei Boder klaffte auch bei der SF eine Lücke zwischen vorgegebenem Ideal und Wirklichkeit. Geradezu im Widerspruch zu dem zitierten Ziel eines guten Interviews, das dem Interviewer eine passive Rolle zuwies, standen die schriftlichen Handreichungen zur Interviewmethodik der SF. Diesen lässt sich entnehmen, dass kohärente Erzählungen der Überlebenden gewünscht wurden, die möglichst keine Sprünge in der Chronologie der Erzählung aufweisen sollten: Die konflikthafte Kommunikation wurde dadurch geglättet. Strukturiert werden sollten die Erzählungen maßgeblich durch aktive 36 Ausführlich zu Zielen und Methodik der Videoproduktion in Yale vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 19-55. 37 Rudof, Fortunoff Video Archive, S. 59-61. 38 Die knappe Ausbildung der Interviewteams erfolgte über Workshops, einführende Lehrvideos sowie schriftliche Interview-Guidelines und einen Fragekatalog als Orientierungshilfe für die Interviewführung, vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 140. 39 SF, Techniques for Effectively Applying Interview Methodology, zitiert nach Shenker, Reframing Holocaust testimony, S. 118, H. i.O.
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Interviewer und deren Fragen: »Interviewers were asked to spend about 20 per cent of the interview on prewar, 60 percent on wartime, and 20 per cent on postwar experiences.«40 Shenker hat darauf hingewiesen, dass diese spezielle Form der Erzählung einem Hollywoodfilm-Paradigma entspricht, also einer Erzählstruktur im Sinne eines Dramas in drei Akten.41 In der Praxis wurde diese starre Struktur allerdings nicht immer eingehalten und von den interviewenden Personen variiert. Um die erwünschte Form und die Kohärenz der Erzählungen zu gewährleisten, begannen die Vorbereitungen der Interviews bereits etwa eine Woche vor der eigentlichen Filmaufnahme. Um logistische Fragen zu klären und eine Beziehung zwischen dem Interviewer und dem Überlebenden herzustellen, sollten mindestens zwei Treffen stattfinden. Im Idealfall sollte etwa sieben Tage vor der Videoaufzeichnung eine Vorbesprechung geführt werden, bei der die zu interviewende Person gebeten wurde, einen über 40-seitigen Fragebogen, genannt Pre-Interview-Questionnaire (PIQ ), auszufüllen.42 In diesem wurden biographische Informationen abgefragt sowie in spezifischen Fragen zentrale Erlebnisse während des Holocaust fixiert, wodurch die Erzählungen der Erlebnisse bereits vorstrukturiert wurden.43 Der Umstand, dass während der Interviews spezifische Erfahrungen, etwa in Ghettos, Konzentrationslagern oder als Mitglieder in einer Widerstandsgruppe erfragt werden sollten, lässt darauf schließen, dass der Fragebogen einer bereits vorhandenen Konzeption des Holocaust folgte, in welche die spezifischen Erfahrungen der Interviewten eingepasst werden sollten. Dies bezeichne ich im Folgenden als Metageschichte des Holocaust. Diese Metageschichte speiste sich aus diversen medialen Bildern und Narrationen über die Verfolgung und Ermordung der Juden, die als universelle Folie diente.44 Innerhalb der Metageschichte des Holocaust wurde die Rolle der Interviewten stets als Überlebende festgelegt, und der Aspekt ihrer Identität als jüdische Überlebende fand besondere Betonung, etwa durch Fragen nach der Religiosität vor und nach dem Zweiten Weltkrieg oder nach der Mitgliedschaft in speziellen jüdischen Organisationen. So wurde etwa in der Kategorie Survivor Information gefragt: »With which Jewish political party or movement did you affiliate or identify?«45 Wie Bothe ausgeführt hat, war der Fragebogen der SF speziell auf jüdische Überlebende zugeschnitten, und zwar explizit auf die Erfahrungen von polnischen Juden als Überlebende von Kon-
40 Jungblut, Survivors, S. 516. 41 Vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 119. 42 Vgl. USC Shoah Foundation: Collecting Testimonies, UR L : https://sfi.usc.edu/collecting; letzter Zugriff am 26.07.2021. 43 Vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony S. 221-122. 44 Bothe definiert dieses Phänomen als »Meta-Narration der Shoah«, vgl. Bothe, Virtueller Raum, S. 119. 45 Vgl. USC Shoah Foundation, Pre-Interview-Questionnaire, S. 5.
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zentrationslagern.46 Dadurch wurden die spezifischen Erfahrungen der Opfer und Überlebenden in ein starres Korsett gezwängt. Die Orientierung an dieser Metageschichte bedingte eine Starrheit der Fragemuster, die folglich nur schwerlich auf spezifische Erfahrungen, etwa jener von Juden aus Ungarn oder Griechenland, sowie abweichenden Verfolgungserfahrungen anwendbar waren.47 Die Interviewer Guidelines der SF sahen zudem eine festgelegte Struktur der Interviews vor, die über thematische Fragen zum Leben vor dem Krieg, dem Holocaust und nach dem Krieg hinausgingen. Am Ende eines jeden Interviews waren stets Fragen nach einer Botschaft an die kommenden Generationen vorgesehen: »Questions concerning faith and meaning, dreams, and messages to future generations (reflective topics) are asked toward the end of the interview.«48 Aufgrund der bezeugten leiblichen Erfahrung des Holocaust wurden die Befragten zu Experten der Geschichte erklärt. Die Interviews sollten nicht nur an die Vergangenheit erinnern, sondern vielmehr zum Handeln animieren und die Zuschauer durch die Vermittlung von moralischen Lehren zu besseren Menschen erziehen. Mit diesem pädagogischen Auftrag, der bereits in die Fragen der Interviewer eingeschrieben war, überstieg die Produktion der Interviews das Ziel der Dokumentation von persönlichen Erfahrungen bei Weitem: »The important thing was to give them [the survivors, DS] a platform to be seen, to be heard, and to be teachers.«49 Die Überlebenden fungierten in ihrer Rolle als Zeugen somit gleichzeitig als Lehrer mit erzieherischem Auftrag. Kann somit also von historischer Bildung im Sinne der Herausbildung eines reflexiven Geschichtsbewussteins gesprochen werden? Volkhard Knigge hat dies als das »Vermögen, Geschichte, Geschichtsdeutungen, historische Sinnund Identitätsangebote – oder -zumutungen – zu hinterfragen und in ihrer Genese aufschließen und erschließen zu können«,50 definiert. Die Imagination der Überlebenden als expertenhafte Lehrer und Verkörperungen der Vergangenheit verweist hingegen eher auf die Vermittlung von nicht hinterfragbaren Geschichtsbildern. In der Struktur der Aufzeichnung durch die SF wird die Funktion der Erzählenden als Lehrer ebenfalls deutlich. Nach dem Ende des narrativen Teils der Interviews war zunächst der Dank des Interviewers an den Befragten vorgesehen, um anschließend mit optionalen ergänzenden Segmenten fortzufahren. Im Photographs and Artifacts Segment konnten die Interviewten Familienfotos oder persönliche Gegenstände zeigen und besprechen, danach war zusätzlich das sogenannte Family Members Segment vorgesehen. 46 47 48 49 50
Vgl. Bothe, Virtueller Raum, S. 119. Ebd., S. 219. USC Shoah Foundation: Interviewer Guidelines, Los Angeles 2012, S. 15. Spielberg, Introduction, in: USC Shoah Foundation, Testimony, S. xv. Volkhard Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch-politische Bildung führen muss, in: Ders., Geschichte als Verunsicherung, S. 280-299, hier S. 288.
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Zum Schluss der Videoaufnahme bot dieser Teil des Interviews die Möglichkeit, ausgewählte Familienangehörige ins Bild zu holen. Speziell in dieser Konstellation war es das Ziel der Interviewer, eine Message for the Future zu erfragen, über deren Bedeutung die Interviewten bereits vor dem Interview aufgeklärt worden waren. Mit der Inszenierung der Überlebenden im eigenen Wohnzimmer und umringt von Familienmitgliedern wurde den Interviews zum einen eine identitätsstiftende Funktion zuteil: Die Zuschauer sollten sich mit dem Überlebenden und der glücklichen Familie identifizieren. Zum anderen entstand der Eindruck eines Happy End: Familiäre Kontinuität, Genugtuung und Hoffnung standen im Fokus und nicht Verlust, Trauer oder die Sinnlosigkeit der Verbrechen wurden betont.51 Diese Formgestaltung erinnert an eine Komödie, an deren Schlusspunkt die Katharsis steht: Nicht nur die Interviewten triumphieren am Ende als Überlebende über die Schrecken des Holocaust, sondern auch die Zuschauer, die sich mit den Erzählenden identifizieren können und sollen.52 Wie der israelische Historiker Amos Goldberg ausgeführt hat, kann diese Form der Inszenierung auch als melodramatisch verstanden werden, womit der Schulterschluss mit der legacy von Schindlers Liste auch in den Interviews der SF zu finden ist.53 Insbesondere die Message for the Future, die sowohl im PIQ als auch in den Fragebögen für die Interviewer ein zentrales Element ist, enthielt in der angestrebten Formulierung von moralischen Botschaften und Lehren während der Interviews bereits das erst 2001 formulierte Ziel der Bildungsarbeit gegen Intoleranz. Die herausgestellte Bedeutung einer Metageschichte des Holocaust und das Ziel der Vermittlung von moralischen Botschaften spielte jedoch nicht allein für die SF eine bedeutende Rolle, sondern kann ebenfalls in anderen Institutionen nachgewiesen werden, die sich der Produktion von Holocaust Testimonies verschrieben haben.
Erziehung zur Toleranz im Jewish Holocaust Centre Auch in Australien wurden seit den 1980er Jahren Institutionen gegründet, die sich auf die Aufzeichnung von Interviews mit Holocaust-Überlebenden spezi51 Vgl. Linde Apel: »You are participating in history«. Das Visual History Archive der Shoah Foundation, in: Zeithistorische Forschungen 5, 2008, S. 438-445, hier S. 440. 52 Diese narrative Form der Darstellung des Holocaust als Komödie findet sich in nahezu allen Interviewsammlungen über den Holocaust; sie hat sich nach Taubitz in unbewusster Reproduktion der Darstellung der Miniserie Holocaust aus dem Jahr 1978/79 etabliert, vgl. Jan Taubitz: Der Holocaust als Anfang oder als Höhepunkt? Die narrative Modellierung von Zeitzeugeninterviews vor und nach 1978/1979, in: WerkstattGeschichte 70, 2016, S. 75-88, hier S. 87. 53 Vgl. Amos Goldberg: The Cultural Construction of the Holocaust Witness as a Melodramatic Hero, in: Melodrama After the Tears. New Perspectives on the Politics of Victimhood, hg. von Scott Loren und Jörg Metelmann, Amsterdam 2015, S. 263-280.
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alisiert haben: Bei der Etablierung von Holocaust Testimony als Genre handelte es sich demnach um ein internationales Phänomen. Mit Jack Unikoski (geb. Unikowski) und Gert Silver (geb. Silberbard) sind zwei der fünf Personen aus meiner vergleichenden Auswahl nach Australien emigriert und haben in Melbourne eine neue Heimat gefunden. Am 4. März 1984 wurde dort das Jewish Holocaust Museum and Research Centre als erstes Museum in Australien mit explizitem Fokus auf der Geschichte des Holocaust eröffnet.54 Vorausgegangen waren jahrzehntelange Initiativen von Holocaust-Überlebenden sowie der jüdischen Gemeinde der Stadt, um an die Judenvernichtung öffentlich zu erinnern. Seit den 1970ern waren es insbesondere der Kampf gegen Antisemitismus und Holocaustleugnung in Australien, der lokale Initiativen bestärkte, ein solches Museum zu eröffnen.55 Um die spezifischen Ziele und Methoden des JHC bei der Interviewproduktion in den Blick zu nehmen, ist zunächst ein kurzer Abriss der Gründungsgeschichte des australischen Museums nötig. Anders als bei der Gründung der SF waren es Überlebende, die sich eigenständig zusammenschlossen, um sich gegen Geschichtsrevisionismus zu engagieren. Zu den Gründungsmitgliedern des JHC gehörten zuvorderst aus Polen stammende Juden wie Aron Sokolwicz, Bono Wiener und Mina Fink.56 Sokolwicz, der 1911 in Białystok und Wiener, der 1920 in Łódź geboren wurde, hatten beide das K Z Auschwitz überlebt und waren nach Kriegsende nach Melbourne emigriert. Mina Fink, 1913 in Białystok als Miriam Waks geboren, war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem ebenfalls aus Białystok stammenden Mann Leo Fink nach Australien emigriert. Vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Einwanderungspolitik Australiens äußerst restriktiv. Erst 1945 wurde von der Labor-Regierung ein radikaler Wandel in der Migrationspolitik beschlossen: Durch diesen politischen Wandel war es möglich, das zunächst 2.000 jüdische Überlebende des Holocaust in Australien aufgenommen wurden.57 Von 1945 bis 1961 emigrierten 25.000 jüdische Überlebende nach Australien und prägten die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Neben dem Staat Israel, der 1948 mit dem Anspruch gegründet worden war, die Heimstätte für alle Juden zu sein, entwickelte sich Australien im weltweiten Vergleich zum Land mit der zweithöchsten Emigrationsquote von Juden (prozentual zur Einwoh54 Über das heute unter dem Namen Jewish Holocaust Centre firmierende Museum gibt es nur spärliche Literatur. Zur Geschichte des JHC siehe Steven Cooke; Donna-Lee Frieze: The Interior of Our Memories. A History of Melbourne’s Jewish Holocaust Centre, Strawberry Hills 2015. 55 Vgl. Judith E. Berman: Holocaust Museums in Australia: The Impact of Holocaust Denial and the Role of the Survivors, in: The Journal of Holocaust Education 10, 2001, S. 67-88, hier S. 73 ff. 56 Ebenso wie bei Cookee/Frieze werden diese drei Personen auf der Homepage des JHC als Gründungsmitglieder gewürdigt, vgl. Jewish Holocaust Centre, About us, UR L : https://jhc.org.au/about-us/; letzter Zugriff am 26.07.2021. 57 Vgl. Suzanne D. Rutland: Resettling the Survivors of the Holocaust in Australia, in: Holocaust Studies 16, 2010, S. 33-56, hier S. 36.
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nerzahl) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.58 Es waren insbesondere jüdische Hilfsorganisationen aus den USA wie das JDC , die sich für die Emigration von jüdischen Opfern der NS -Verbrechen nach Australien einsetzten. Leo Fink, der Ehemann der JHC -Mitbegründerin Mina Fink, war 1947 maßgeblich an der Gründung der Australian Jewish Welfare and Relief Society beteiligt und erschuf damit in Melbourne die größte jüdische Hilfsorganisation Australiens.59 Da Juden in der frühen Nachkriegszeit sowohl innerhalb der Regierung als auch in großen Teilen der Bevölkerung als unerwünschte Migranten galten, waren es insbesondere die von den USA unterstützten Hilfsorganisationen, welche jüdische Emigranten in Australien unterstützten. Im Gegensatz zu Nichtjuden, die in staatlichen Einrichtungen einquartiert wurden, mussten jüdische Einwanderer ihre Unterkünfte durch Familien oder jüdische Hilfsorganisationen sicherstellen.60 Private Hostels wurden daher zu den wichtigsten Anlaufpunkten, und in Melbourne wurden davon besonders viele gegründet. Dies ist auch einer der entscheidenden Gründe dafür, dass sich etwa 60 Prozent aller Ankommenden dort niederließen.61 Mina Fink hatte 1947 die Leitung einer zweistöckigen Villa in Melbourne übernommen, die in der Funktion als privates Hostel in 17 Räumen etwa 70 bis 80 Personen beherbergen.62 In der Entstehungsphase des JHC engagierte sie sich seit Beginn der 1980er Jahre insbesondere durch die Sammlung von Spenden. Seit 1983 nahm sie auch an den ersten organisatorischen Treffen teil und spendete 50.000 US -Dollar, die es ermöglichten, das Museumsgebäude des JHC zu erwerben.63 Seit der Eröffnung des Museums im März 1984 hatte das Team des JHC einen starken pädagogischen Anspruch im Gedenken an den Holocaust, der analog zu den im vorangegangenen Kapitel besprochenen moralischen Lektionen der SF zu begreifen ist. Bereits in der ersten Ausgabe des JHC -Newsletters im Jahr 1984 wurden von Aron Sokolowicz’ Frau Cyla, ebenfalls eine polnische Holocaust-Überlebende, konkrete pädagogische Ziele benannt: The Centre’s group of dedicated volunteer workers have great ambitions for the future and hope to be able to use the lesson of the Holocaust as a starting point in an effort to build bridges of understanding between Jews and nonJews, so that they may work together towards a future in which racial prejudice and hatred will forever be eliminated.64
58 59 60 61 62 63 64
Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 35-36. Vgl. ebd., S. 46. Ebd., S. 36. Ebd., S. 50. Cooke, Frieze, Memories, S. 26-27. Cyla Sokolowicz, zitiert nach: Cooke, Frieze, Memories, S. 144.
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Das Team der ehrenamtlichen Mitarbeiter des JHC bestand zum Großteil aus Überlebenden, und dies wirkte sich fundamental auf die Zielsetzung der Institution aus. Cyla Sokolowicz proklamierte, dass den Verbrechen des Holocaust eine Lehre inhärent sei, die als Ausgangspunkt des Kampfes gegen Rassismus und für die Verständigung von Juden und Nichtjuden benutzt werden solle. Eine Erziehung zur Toleranz wurde zum zentralen Konzept des Museums, und insbesondere die Überlebenden prägten als Akteure dieses Ziel.65 Laut Selbstverständnis war das JHC »a place for education for the young and for Jews and non-Jews.«66 Der Bildungsanspruch und die Bedeutung von Überlebenden als Akteuren drückte sich insbesondere auch dadurch aus, dass Führungen durch das Museum seit der Eröffnung fast ausschließlich von Holocaust-Überlebenden durchgeführt wurden.67 Die jüdischen Überlebenden waren zugleich Gründungsmitglieder, zentraler Bestandteil der Organisation des Museums sowie Pädagogen, die Besucher mithilfe ihrer persönlichen Erzählungen als Augenzeugenberichten durch die Ausstellung führten. Die mündlichen Geschichten der Überlebenden während der Führungen wurden als Holocaust Testimonies verstanden, und in der Rolle als Pädagogen spiegelte sich die moralische Autorität der Zeugenberichte sowie der Anspruch der Vermittlung von Lehren wider. Im Gegensatz zur SF ging dieser pädagogische Anspruch, der die Zeugen als Experten mit belehrender Funktion einsetzte, allerdings von den Überlebenden selbst aus. Steven Cooke und Donna-Lee Frieze haben in ihrer grundlegenden Monografie über das JHC die Motivation der Überlebenden mit den pädagogischen Zielen des Museums in Zusammenhang gebracht.68 Analysiert haben sie diesen Zusammenhang hinsichtlich der Bildungsprogramme des Museums, wohingegen sie das Ende der 1980er Jahre gegründete Testimonies Department lediglich unter dem Aspekt der Sammlung und Archivierung von Interviews betrachtet haben. Ausgehend von den Ergebnissen der Analyse von Methoden und Zielsetzungen der SF wird daher erneut danach gefragt, welche pädagogischen Implikationen die Produktion von Holocaust Testimony im JHC in Form von Erinnerungsinterviews beinhalteten. 1987 wurde im JHC damit begonnen, Interviews mit Holocaust-Überlebenden aufzuzeichnen. Als ursprüngliches Ziel wird von Cooke und Freeze die Dokumentation des Holocaust aus der Perspektive der Überlebenden angegeben.69 Ein Blick auf Aussagen der Akteure der Interviewproduktion am JHC lässt jedoch Zweifel an dieser These einer reinen Dokumentation aufkommen. 65 Zum größeren Kontext von Holocaust-Überlebenden als politischen Akteuren der Geschichtskultur siehe Stengel, Katharina (Hg.): Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS -Verfolgter in der Nachkriegszeit, Frankfurt am Main 2008. 66 Cooke, Frieze, Memories, S. 24. 67 Vgl. ebd., S. 148-159. 68 Vgl. ebd. S. 144. 69 Vgl. ebd., S. 124.
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Phillip Maisel prägte die Interviews des Museums als Interviewer und Kameramann über Jahre, daher sind seine Aussagen besonders aufschlussreich.70 Maisel wurde 1922 im litauischen Vilnius geboren und überlebte sowohl das dort 1941 von den Nazis errichtete Ghetto Wilna als auch diverse Zwangsarbeitslager und emigrierte nach dem Krieg nach Melbourne. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Eröffnung des JHC fasste er seine Motivation für die Produktion von Interviews mit Überlebenden folgendermaßen zusammen: I was already 70 years old when I became involved in recording testimonies. The project started much earlier, but I realised how urgent it was. When you are 70 you start to cross out a lot of names from your address book; many of my friends are disappearing. I started to listen to the memories of survivors, recording what happened to them, their life stories. Often they were confronting their Holocaust experiences for the first time. Each of them had different realities, depending on their place of birth, background, places they had been. I became interested, not only in what they told me, but how they described it. I felt passionate about my job. I was fulfilling my obligation to honour the wishes of those who perished, to let the world know what happened to them.71 Die persönlichen Motive von Maisel waren folglich äußerst vielschichtig. Die gesellschaftliche Debatte um den Tod der Zeitzeugen bedeutete für den damals 70-Jährigen ganz konkret den Tod seiner Freunde, die ebenfalls den Holocaust überlebt, jedoch kein Zeugnis davon hinterlassen hatten. Er fühlte sich daher dazu verpflichtet, die Geschichten derjenigen, die noch lebten, aufzuzeichnen, wobei er die Diversität der Erfahrungen und die verschiedenen Formen der Erzählungen betonte. Auch das Motiv der Zeugenschaft für die Toten spielt eine Rolle: Die Interviews sollten ebenfalls Zeugnisse für die Ermordeten sein, die ihre Geschichten selbst nicht mehr erzählen konnten. Ebenso wurde der Kampf gegen Holocaustleugnung von Maisel als Motivation für die Produktion der Interviews betont.72 Als Ziel der Interviews wurde somit nicht allein die Dokumentation und Sammlung von Erzählungen oder die Vermittlung von historischem Wissen über den Holocaust benannt, sondern vielmehr lag deren Bedeutung im Kampf gegen Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus begründet. Im Gegensatz zu den pädagogischen Lektionen der SF hatten die 70 Maisel hat jüngst seine Memoiren veröffentlicht, in denen er ausführlich über seine Rolle als Interviewer reflektiert, siehe Phillip Maisel: The Keeper of Miracles, Sydney 2021. 71 Phillip Maisel: First Hand. The Holocaust Testimonies Project, in: Reflections. 20 Years 1984-2004: Jewish Holocaust Museum and Research Centre Melbourne, hg. von Stan Marks, Melbourne 2004, S. 73-75, hier S. 73. 72 Zur Bedeutung von Holocaustleugnung in Australien vgl. Danny Ben-Moshe: Holocaust Denial »Down Under«, in: Holocaust Denial. The Politics of Perfidy, hg. von Robert S. Wistrich, Berlin, Boston, Jerusalem 2012, S. 157-179.
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Zeugnisse in erster Linie die Funktion von Beweismaterial. Mit dieser Beweisfunktion folgten die Erfahrungsberichte dem Zweck, Argumente gegen die Leugnung des Holocaust zu sein. Von 1987 bis 1994 wurden im Kontext des Oral History Project (OHP) im Museum etwa 173 Audiokassetten aufgezeichnet. 1992 wurde aus dem OHP das Holocaust Testimonies Project (HTP) und die Mitarbeiter begannen die Interviews nun per Video aufzuzeichnen. Die Bedingungen der Aufnahmen waren semi-professionell. Es gab kein Aufnahmestudio, daher wurden Büros improvisiert mit Bettdecken als Hintergrund für die Filmaufnahmen.73 Maisel erinnerte sich an die Probleme, die dadurch entstanden: The testimonies project began in 1987, using audio tapes. Recording on video started in 1992 in a small way, in two rooms of the Centre. Interviews were often interrupted, as others needed to use the space.74 Die Laieninterviewer des Museums waren ebenso wie bei der SF Freiwillige, die zum Teil an Workshops zum Thema Oral History am Museum teilgenommen hatten.75 Der Fokus der Interviews lag auf den Erfahrungen von jüdischen Überlebenden des Holocaust, dessen Zeitrahmen vom JHC auf die Jahre zwischen 1939 und 1945 festgelegt wurde und die Erzählung dadurch bereits zeitlich vorstrukturierte und beschränkte. Zentrale Erfahrungen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden damit ausgeschlossen. Zudem wirkte sich der politische Anspruch, die Interviews als Argumente gegen Holocaustleugnung einzusetzen, auch auf den Inhalt der Erzählungen aus. Im Gegensatz zu den oben zitierten Aussagen von Maisel, der die Vielfalt der Erfahrungen und Erzählweisen betont hatte, fokussierten die Fragen der Interviewer oftmals auf kraftvolle Ikonen des Holocaust, wie etwa das berühmte Eingangstor von Auschwitz mit der Inschrift »Arbeit macht frei«.76 Interviewer fragten teilweise völlig kontextlos nach Erinnerungen danach. Der Zweck der Zeugenschaft lag dahingehend in einer Bestätigung von bereits Bekanntem und somit im Beweis gegen die Leugnung des Holocaust. Das Museum griff ähnlich wie die SF ebenfalls auf eine Metageschichte des Holocaust zurück. Diese basierte oftmals auf bestimmten Bildern, die der amerikanische Religionsphilosoph und Historiker Oren Baruch Stier mit dem Begriff der Holocaust Icons bezeichnet hat:
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Vgl. Cooke, Frieze, Memories, S. 127. Maisel, First Hand, S. 73. Vgl. Cooke, Frieze, Memories, S. 125. Cooke, Frieze, Memories, S. 132. Zur Bedeutung von ikonischen Fotos im Bildgedächtnis des Holocaust vgl. Sebastian Schönemann: Symbolbilder des Holocaust. Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis, Frankfurt, New York 2019, S. 21-62.
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[C]ertain symbols that have come to represent the Holocaust in encapsulated form – those that summarize complex narratives of the Shoah, simplifying, condensing, and distilling these narratives and producing meanings for cultural consumption.77 Die Interviewer des JHC orientierten sich in ihren Fragen oftmals an diesen Ikonen des Holocaust, womit die komplexen Verfolgungserfahrungen im Rückgriff auf nur wenige symbolhafte Bilder beschränkt wurden. Oftmals wurde nach bekannten Konzentrationslagern und Ghettos, nach detaillierten Beschreibungen bekannter Narrative wie der Ankunft an der Rampe in Auschwitz-Birkenau oder nach konkreten Nazi-Tätern gefragt, um diese Details als Argumente für den Kampf gegen Holocaustleugnung einsetzen zu können. Die Methodik des JHC wurde auch von etablierten Institutionen wie der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem oder der SF beeinflusst, die das JHC dazu animierten, weitere Interviews aufzuzeichnen.78 Seit Mitte der 1990er Jahre setzte eine Überarbeitung der Interviewmethoden ein, was insbesondere durch den Einfluss der SF auf das HTP begründet lag. Der Fokus auf die Jahre 1939 bis 1945 wurde erweitert, und 1998 wurde schließlich festgelegt, auch Fragen nach dem Leben der Interviewpartner vor Beginn des Zweiten Weltkriegs und nach Kriegsende zu integrieren, um die Perspektive auf die Lebensgeschichten zu erweitern.79 Eine Kooperation des JHC bestand ebenfalls mit dem USHMM : Von den im April 1998 insgesamt 800 aufgezeichneten Videointerviews wurden über 100 nach Washington, D. C., versendet, um sie im dortigen Archiv zu zentralisieren.80 Das JHC ist somit eindeutig als Teil eines internationalen Netzwerks von Institutionen zu verstehen, die Holocaust Testimony geschichtskulturell etabliert haben. Analog zu den pädagogischen Zielen der SF stand auch für das JHC eine »legacy for future generations«81 im Zentrum der Nutzung der Interviews. Zur Bedeutung der Vermittlung von moralischen Botschaften fand Maisel dahingehend deutliche Worte: It is important to transfer not only the knowledge of events, but also the way of thinking. There is a message, a purpose that is conveyed. After all the suffering, what the Jews have learnt should be taught to others.82 Nicht nur Wissen über den Holocaust, sondern ebenso die Vermittlung von Botschaften der Überlebenden, welche auf den Leiderfahrungen, basieren würden, seien wichtig. Die Methodik und Zielsetzungen der Interviewproduktion 77 Oren Baruch Stier: Holocaust Icons. Symbolizing the Shoah in History and Memory, New Brunswick, New Jersey, and London 2015, S. 2. 78 Vgl. Cooke, Frieze, Memories, S. 136. 79 Vgl. ebd., S. 134. 80 Vgl. ebd., S. 136. 81 Ebd., S. 134. 82 Maisel, First Hand, S. 74.
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am JHC basierten auf den Erfahrungen von Holocaustleugnung in Australien: Sowohl die Perspektive der Opfer sollte durch die Interviews dokumentiert und als historisches Wissen bewahrt werden, als auch die Funktion der Vermittlung von moralischen Lehren für zukünftige Generationen stand im Fokus. Die Erziehung zu Toleranz und Antirassismus war das anvisierte Ziel der pädagogischen Nutzung der Interviews. Metageschichten und Symbolbilder des Holocaust wurden zu diesem Zwecke während der Interviewproduktion als Referenzpunkte erfragt und sollten von den Interviewten bestätigt werden. Die Interviewproduktion mit Holocaust-Überlebenden am JHC kann daher nicht vom Anspruch des JHC als Memorial Museum getrennt betrachtet werden. Die Vermittlung von historischem Wissen war eng mit dem Gedenken an die Ermordeten und einer daraus abgeleiteten moralischen Erziehung verknüpft.83 Inwiefern dieser Zusammenhang auch die Produktion von Interviews am USHMM als dem bekanntesten Memorial Museum weltweit prägte, doch gleichzeitig darüber hinaus ging, wird im folgenden Kapitel erläutert.
Von »moral lessons« zu »primary sources«: Das Boder-Projekt am United States Holocaust Memorial Museum Die Geschichte des United States Holocaust Memorial Museum kann als Ausdruck eines langjährigen Kampfes um die Deutung und Relevanz des Holocaust für die amerikanische Gesellschaft verstanden werden.84 Der Entstehungsprozess der Institution reicht von 1978, dem Jahr der Erstausstrahlung der T V-Miniserie Holocaust in den USA , bis zur feierlichen Eröffnung des Hauses am 22. April 1993. Eingebettet in der National Mall als dem zentralen Ort des Gedenkens in der amerikanischen Hauptstadt Washington, D. C., liegt das USHMM neben den bedeutendsten nationalen Denkmälern wie dem Vietnam Veterans Memorial oder Museen wie dem National Museum of American History. Die Integration des USHMM in diesen bedeutsamen Ort bedeutete eine symbolische Verankerung der Geschichte des Holocaust in der amerikanischen Geschichtskultur.85 Erklärtes Ziel des USHMM war bereits in der Planungsphase seit den 1980er Jahren die Erschaffung eines nationalen Archivs für audio-visuelle Interviews mit Holocaust-Überlebenden.86 Bereits fünf Jahre vor der Eröffnung des Mu83 Zur besonderen Form und Funktion von Memorial Museums vgl. Amy Sodaro: Exhibiting Atrocity. Memorial Museums and the Politics of Past Violence, New Brunswick, Camden, Newark, New Jersey, London 2017; Paul Williams: Memorial Museums. The Global Rush to Commemorate Atrocities, Oxford 2007. 84 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte des USHMM vgl. Linenthal, Preserving Memory. 85 Zur geschichtskulturellen Bedeutung des Standortes des USHMM innerhalb der National Mall vgl. Haß, Gestaltetes Gedenken, S. 249 ff. 86 Vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 73. Als Vorbild galten die Bestände
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seums hatte das Department of Oral History (DOH ) am USHMM Ende 1988 unter der Direktorin Linda Kuzmack mit seiner Arbeit begonnen. Der Ursprung des DOH lag in der Produktion von Videointerviews mit HolocaustÜberlebenden, um diese für die geplante Dauerausstellung benutzen zu können. Bis 1993 waren daher zwei Punkte zentral: Die Videointerviews sollten sowohl archiviert als auch ausgestellt werden, wobei eine Funktionalisierung der Interviews als Moral Lessons im Vordergrund stand.87 Als explizites Ziel der 1993 eröffneten Dauerausstellung des Museums erklärte der damalige Museumsdirektor Jeshajahu Weinberg eine moralische Belehrung der Besucher, was stark an die moralischen Lektionen der USC Shoah Foundation und den Anspruch der Erziehung zur Toleranz durch die Interviews am JHC erinnert. Nach Weinberg sei das USHMM demnach kein normales Museum, das lediglich eine Sammlung von historischen Artefakten ausstellen würde, sondern es sei in seiner Bedeutung als Memorial Museum sowohl dem Gedenken an die Opfer als auch der Vermittlung von historischem Wissen verpflichtet.88 Zudem sollten moralische Lehren vermittelt werden: »The museum has been built to tell America and the world the factual story of this most terrible event in modern history, and to illuminate the crucial moral lessons it entails.«89 Da das erklärte Ziel des Museums in der Vermittlung von moralischen Geschichtslektionen bestand, war die Emotionalisierung durch die Ausstellung nach Weinberg ein absolutes Muss, da dies eine Internalisierung der »moral lessons embedded in the story«90 verstärken würde. Mit der Form des narrativen Museums setzte das USHMM auf eine erzählende Vermittlung von historischen Inhalten, die in den 1990er Jahren als erfolgversprechendes Vermittlungskonzept gepriesen wurde.91 Wie der ehemalige Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora Volkhard Knigge kritisch angemerkt hat, liegt der entscheidende Unterschied einer solchen narrativen Ausstellung im Gegensatz zu dokumentierend-argumentativen Ausstellungen darin, dass letztere vornehmlich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Reflexion der Besucher abzielen.92 Narrative Ausstellungen wie jene des USHMM hingegen zielen zuvörderst auf die Betroffenheit
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der ebenfalls in Washington, D. C., ansässigen LOC , vgl. Taubitz, Holocaust Oral History, S. 105-106. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 75. Zum Anspruch des USHMM , ein lebendiges Denkmal (Living Memorial) zu sein, vgl. Sodaro, Exhibiting Atrocity, S. 30-57. Jeshjahu Weinberg: From the Director, in: Michael Berenbaum: The World Must Know. The History of the Holocaust as Told in the United States Holocaust Memorial Museum, Boston, Toronto, London 1993, S. xiv-xv. Jeshajahu Weinberg: A Narrative History Museum, in: Curater: The Museum Journal 37, 1994, S. 231-239, hier S. 231. Vgl. Andrea Kramper: Storytelling für Museen. Herausforderungen und Chancen, Bielefeld 2017, S. 17-24. Vgl. Volkhard Knigge: Gedenkstätten und Museen, in: Verbrechen erinnern. Die
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der Besucher, die sich in Weinbergs erwünschter Emotionalisierung ausdrückte. Zum Zeitpunkt der Eröffnung des Museums war demnach das Ziel des USHMM eine Internalisierung von vorgefertigten Lektionen. Die Zeugnisse von Überlebenden hatten eine zentrale Funktion: Innerhalb der Dauerausstellung dominiert insgesamt die Perspektive der Opfer, was insbesondere von Holocaust-Überlebenden in der Planungsphase des Museums eingefordert worden war.93 Wie Shenker ausgeführt hat, ist in der Dauerausstellung insbesondere der Film Testimony von Sandy Bradley am Ende des Rundgangs dominant, der Holocaust-Überlebende als Hoffnungsträger präsentiert. Die Zusammenstellung von Videoausschnitten aus 24 Interviews mit Holocaust-Überlebenden und amerikanischen Soldaten als Befreiern wird dort in einer Endlosschleife präsentiert.94 Die moralischen Lehren, die Weinberg als zentrales Ziel der Ausstellung betonte, werden im Film verkörpert durch die Aussage, dass das Böse nicht gesiegt hätte. Eine positive Sinngebung der NS Geschichte und des Holocaust wird somit insbesondere durch die präsentierten Interviewausschnitte vermittelt. Sie geben, so Mathias Haß, »der Erinnerung eine positive Wendung: von der Katastrophe zur Wiedergeburt.«95 Die »Katastrophe«, die Boder mit seinem Interviewprojekt 1946 durch seine Befragungen zu begreifen versucht hatte, wurde in der narrativen Ausstellung des USHMM demnach durch den Einsatz von Erinnerungsinterviews zur gesellschaftlichen Katharsis verwandelt: Die amerikanische Demokratie wurde im Kontrast zum Schrecken des Holocaust als positive Identifikation präsentiert. Nach der Fertigstellung der Dauerausstellung und der Eröffnung des Museums im April 1993 übernahm die Historikerin Joan Ringelheim die Leitung des DOH , was die Methodik der Interviewproduktion und die Ziele des DOH grundlegend veränderte. Ringelheim hatte sich in den 1980ern besonders durch ihre Forschungen über die Holocaust-Erfahrungen von jüdischen Frauen einen Namen gemacht – bereits damals hatte sie mit Erinnerungsinterviews
Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, hg. von Volkhard Knigge und Norbert Frei, München 2002, S. 378-389, hier S. 385. 93 Insbesondere der Holocaust-Überlebende und Schriftsteller Elie Wiesel war prägend in dieser Ausrichtung auf die Geschichten der Opfer, vgl. Haß, Gestaltetes Gedenken, S. 340. Die Dauerausstellung des Museums besteht bis heute in kaum veränderter Form, soll jedoch mittels Spenden erweitert und teilweise umgestaltet werden, siehe USHMM , Major Gift Enables Museum to Launch Revitalization of Permanent Exhibition (13.06.2016), UR L : https://www.ushmm.org/information/press/press-re leases/major-gift-enables-museum-to-launch-revitalization-of-permanent-exhibition; letzter Zugriff am 26.07.2021. 94 Vgl. Noah Shenker: Embodied Memory. The Institutional Mediation of Survivor Testimony in the United States Holocaust Memorial Museum, in: Documentary Testimonies. Global Archives of Suffering, hg. von Bhaskar Sarkar und Janet Walker, New York 2010, S. 35-59, hier S. 43. 95 Haß, Gestaltetes Gedenken, S. 350.
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gearbeitet.96 Da der ursprüngliche Imperativ der Produktion von Interviews für die nun fertige Dauerausstellung obsolet war, konnte Ringelheim das DOH zu einer eigenständigeren Entität innerhalb des Museums ausbauen. In den von ihr mitherausgegebenen Oral History Interview Guidelines von 1998 wurden folgende Ziele der Interviewproduktion benannt: The mission of the Department of Oral History is to document and preserve Holocaust testimonies as primary sources. These testimonies, in either video or audio format, enable scholars, researchers, filmmakers, teachers and students to hear and see the people who experienced, witnessed or perpetrated the crimes and genocidal policies of the Germans and their collaborators.97 Die Interviews wurden zwar ebenfalls mit dem Begriff Holocaust Testimony bezeichnet, aber definiert wurden die Aufnahmen als historische Quellen, die es zu sammeln und anschließend zu erschließen gälte. Damit standen sowohl die Archivierung als auch die Erforschung der Interviews im Vordergrund der Arbeit des DOH unter Ringelheim. Der Unterschied zur Verwendung von Videointerviews im Museum unter der Vorgängerin Kuzmack hätte größer nicht sein können: Im Gegensatz zur Funktionalisierung der Interviews als Moral Lessons wurden die Holocaust Testimonies von Ringelheim als erfahrungsgeschichtliche Quellen interpretiert. Zudem sollten als Interviewpartner nicht nur die Opfer, sondern ebenfalls Täter und andere als Zeugen befragt werden. Die Bedeutung der Interviews hatte sich somit grundlegend geändert: bis 1993 dienten Videoaufnahmen von Holocaust-Überlebenden am USHMM vornehmlich der Autorisierung der narrativen Ausstellung, danach erhielten die Interviews eine eigenständige Evidenz – es galt, sie nunmehr als historische Quellen zu erforschen.98 Während im Jahr 1998 der Archivbestand des DOH mit etwa 5.800 Interviews angegeben wurde, von denen etwa 1.000 vom Museum selbst angefertigt worden waren, lag der Umfang der Sammlung im Jahr 2002 bereits bei insgesamt etwa 7.000 Interviews, davon 4.500 als Videoaufzeichnungen und 2.500 im Audioformat.99 Das DOH hatte in vier Jahren demnach knapp 400 weitere Interviews angefertigt, hauptsächlich Videoaufzeichnungen in englischer Sprache – die restlichen Interviews stammten aus der Produktion von anderen Institutionen, wie etwa auch dem JHC in Melbourne. Zu diesem Zweck waren Verträge mit über 100 Institutionen und Individuen abgeschlossen worden, die garantieren sollten, dass sich die Sammlung im Museum als das zentrale Archiv 96 Vgl. Joan Ringelheim: Women and Holocaust. A Reconsideration of Research, in: Communities of Women 10, 1985, S. 741-761. 97 Joan Ringelheim; Arwen Donahue; Amy Rubin: Oral History Interview Guidelines, Washington, D. C., 1998, S. ii. 98 Vgl. Shenker, Embodied Memory, S. 53. 99 Vgl. Ringelheim, Donahue, Rubin, Guidelines, S. ii.
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von Holocaust Testimonies behaupten konnte. Zentrale Ziele des DOH unter Ringelheim waren die Produktion, Erschließung und Archivierung der Interviews als historische Quellen, die zugleich Forschern zur Verfügung gestellt werden sollten. Ende der 1990er Jahre entstand am DOH der Plan für ein sehr spezifisches Oral History-Projekt, das im Folgenden näher vorgestellt wird: Ehemalige Interviewpartner von David Boder sollten weltweit gesucht werden, um sie erneut zu befragen. Angestoßen worden war dieses Projekt durch eine bereits mehrfach erwähnte ehemalige Interviewpartnerin von Boder: Helen Tichauer. Die Tichauers, die sich 1951 aus Brisbane per Brief an Boder in Chicago gewandt hatten, waren in den 1960er Jahren von Australien in die USA umgezogen und lebten seit 1967 in New York.100 Eine Rekonstruktion der bisher unerforschten Projektgeschichte verdeutlicht, welche Ziele mit den erneuten Befragungen von Boders ehemaligen Interviewpartnern am USHMM verfolgt wurden und welche Bedeutung die Interviews als erfahrungsgeschichtliche Quellen spielten.101 Im Jahr 1999 war am DOH damit begonnen worden, erste Listen mit Namen und Geburtsdaten von Boders Interviewpartnern anzufertigen, allerdings wurde diese frühe Vorbereitungsphase des Projekts nur spärlich dokumentiert.102 Im März 2002 wurde von der Collections Division des DOH unter der Leitung von Ringelheim ein Projektantrag erarbeitet, der die Finanzierung der nächsten fünf Jahre abdecken sollte. Er beinhaltete mehrere Interviewprojekte, eines davon war jenes Projekt mit ehemaligen Interviewpartnern von David Boder. Eingeführt wurde das als »Boder Project« benannte Vorhaben im Antrag folgendermaßen: In 1946, American psychologist David P. Boder traveled to Europe, where he interviewed over 100 Holocaust survivors living in displaced persons shelters in France, Germany, Italy and Switzerland. These interviews are the earliest recorded verbatim accounts of Holocaust survivors anywhere in the world.103 Die Bedeutung der Interviews von Boder wurde damit begründet, dass es sich um die frühesten mündlich aufgezeichneten Zeugnisse von Holocaust-Über100 Vgl. Matthäus, Nachwort, in: Tichauer, Totenkopf, S. 209. 101 Auf das Boder Projekt am USHMM hat Kangisser Cohen in ihrer Studie nur rudimentär verwiesen, die verfügbaren Quellen wurden jedoch nicht ausgewertet. 102 Die älteste Datumsangabe ist auf Oktober 1999 datiert, vgl. Boder Interview Collection, Tips for searching for interviewees, in: USHMM , Institutional Archives, Oral History Collection, Boder project search history parts 1 & 2, and working group notes, 2003-2005. 103 Project Proposal, Collections Division, Department of Oral History, März 2002, in: USHMM , Institutional Archives, Oral History Collection, Boder project search history parts 1 & 2, and working group notes, 2003-2005, Box 1, Ordner: Oral History Working Group Meeting (13.11.2003).
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lebenden überhaupt handele. Das Boder-Projekt am Museum verfolgte drei wesentliche Ziele: It is our intent to locate as many of these Boder interviewees as possible in order to re-interview them and compare their current testimony with their accounts given over 50 years ago, in the immediate aftermath of the Holocaust.104 Am Anfang stand somit der Plan einer internationalen Suche nach ehemaligen Interviewpartnern von Boder, die noch lebten. Danach sollten diese Personen vom DOH erneut befragt werden, und in einem dritten Schritt sollten schließlich die frühen mit den späteren Interviews verglichen werden. Die Idee einer vergleichenden Interviewanalyse, die Jan Figa vom Team der Voices-Website in Chicago bereits Ende der 1990er im Sinn gehabt hatte, sollte am USHMM durch die hauseigene Produktion von Interviews ermöglicht werden. Ringelheim wollte als Direktorin des DOH laut Antrag 20 Prozent ihrer Arbeitszeit für das Boder-Projekt investieren und alle Interviews in den USA durchführen. Für Aufzeichnungen außerhalb der USA sollten externe Interviewer engagiert werden. Mit einem geplanten Budget von 100.000 US -Dollar handelte es sich bei dem Boder-Projekt um ein vergleichsweise kleines Unterfangen am DOH . Nicht einmal vier Prozent der insgesamt über 2,5 Millionen US -Dollar, die für die nächsten fünf Jahre an Finanzierung angesetzt waren, wurden dafür eingeplant. Zum Vergleich: Das umfangreichste Unternehmen in der Planung von 2002 war ein internationales Interviewprojekt unter dem Arbeitstitel »Witnesses, Collaborators, and Perpetrators«, für das knapp 700.000 Dollar angesetzt waren.105 Für die vielfältige Sammlung des DOH unter Ringelheim waren demnach verschiedenste Gruppen von Interviewpartnern vorgesehen. Weitere Informationen über die Idee und das Konzept des Boder-Projektes lassen sich aus dem Antragstext von 2002 nicht erschließen. Die Erinnerungen der Projektleiterin können jedoch ergänzend herangezogen werden. Wie es überhaupt zum Boder-Projekt am USHMM gekommen war und welche Erwartungen und Ziele die beteiligten Akteure am Museum hatten, sind Fragen, die sich auch bereits andere Forscher gestellt haben. Im Juni 2007 fand im Berliner Haus der Wannsee-Konferenz ein internationales Forschungssymposium statt, das sich intensiv mit den Interviews von Boder auseinandersetzte.106 Einer der Organisatoren der Konferenz war der französische Historiker Florent Brayard, der 2006 ein Nachwort zur französischen Edition von Boders Mono104 Ebd. 105 Vgl. USHMM Proposal 2002. 106 Vgl. Johanna Bodenstab, Tagungsbericht: Stimmen aus der Vergangenheit. Interviews mit Überlebenden der Shoah: Das David-Boder-Archiv und das »Archiv der Erinnerung«, 07.06.2007-08.06.2007 Berlin, in: H-Soz-Kult, 05.10.2007, UR L : www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-1730; letzter Zugriff am 26.07.2021.
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grafie geschrieben hatte und damit bestens über die frühe Interviewsammlung des Psychologen informiert war.107 In Vorbereitung auf die geplante Konferenz in Berlin wandte sich Brayard Ende März 2007 an Ringelheim: The idea of the team in charge of the organization was that it would be very interesting if you would give a paper of the enterprise you are working on in the Museum of re-interviewing Boder’s witnesses. Why such a campaign? What was expected and what was reached? What can we understand in comparing the testimonies of the same witness given at two periods, in 1946 and more than half a century after?108 Ringelheim gab in ihrer Antwort an Brayard an, dass sie bisher noch keine Zeit gehabt habe, die USHMM -Interviews mit jenen von Boder zu vergleichen. und daher auch nicht darüber referieren könne. Ihr straffer Zeitplan am USHMM ermögliche ihr leider auch keine Teilnahme am Symposium in Berlin, aber sie versprach in einer E-Mail vom 5. Mai 2007 eine Darstellung der Projektgeschichte und der internationalen Suche des DOH nach den ehemaligen Interviewpartnern von Boder für die Organisatoren des Symposiums niederzuschreiben. Am 29. Mai 2007 sendete sie an Brayard schließlich einen Text mit dem Titel »The Boder Project at United States Holocaust Memorial Museum«, den sie zusammen mit ihrer Kollegin Elizabeth Hedlund verfasst hatte, die in der Recherche und Kontaktaufnahme mit Interviewpartnern maßgeblich am Boder-Projekt beteiligt gewesen war. Den Ausgangspunkt der niedergeschriebenen Erinnerungen bildete ein Treffen von Ringelheim mit Helen Tichauer Anfang der 1980er Jahre: In 1983, I met a survivor, Helen [Zippy] Spitzer Tichauer, who had been interviewed by David Boder. Although this early interview only took up some of our conversations, it was clear that she had very vivid memories of him and was more than angry at his translation of her interview.109 Bereits seit Anfang der 1980er Jahre stand Tichauer mit Ringelheim in Kontakt und hatte die Forscherin über Jahre darum gebeten, nach dem Original-Audiointerview von Boder mit ihr zu suchen, doch dazu war es bis Mitte der 1990er Jahre nicht gekommen. Erst nachdem Tichauer durch Ringelheim einem weiteren Mitarbeiter am USHMM vorgestellt worden war, begann eine intensive 107 Florent Brayard, Postface. Témoins à defaut?, in: Boder, Les Morts, S. 311-320. 108 Florent Brayard, E-Mail an Joan Ringelheim (23.03.2007), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Explanation of Boder Oral History project conducted by USHMM Oral Hist. Dep. – explanation done for a conference in 2007. 109 Ringelheim, E-Mail an Florent Brayard (29.05.2007), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Explanation of Boder Oral History project conducted by USHMM Oral Hist. Dep. – explanation done for a conference in 2007.
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Suche, die dazu führte, dass sie die Audioaufzeichnung ihres Interviews von 1946 erneut anhören konnte. Jürgen Matthäus aus der Forschungsabteilung des USHMM hatte Boders Aufnahmen in der Sammlung des LOC lokalisiert, und 1998 erhielt das Museum Kopien der Audioaufnahmen auf Audiokassetten, die John Howell an der LOC angefertigt hatte. Nachdem ebenfalls im Jahr 1998 die Edition Fresh Wounds von Donald N. Niewyk publiziert worden war, war Helen Tichauer nach Auskunft von Ringelheim sehr enttäuscht über das Buch aufgrund des Desinteresses von Niewyk an den Lebenswegen der Überlebenden. Ringelheim erinnerte sich an diese Enttäuschung und spekulierte retrospektiv: I think Helen’s report of that conversation [with Niewyk, DS] gave me an idea. If Donald Niewyk wasn’t interested, why not the Museum? Why not our Oral History Department? Somehow it came to me that we should try to locate as many survivors of these interviews as we could and re-interview them.110 Die Idee der Suche nach ehemaligen Interviewpartnern von Boder, um sie erneut zu befragen, basierte demnach auf Ringelheims Interaktion mit Tichauer. Diese war enttäuscht darüber, dass der Historiker Niewyk das stark edierte Transkript ihres Interviews mit Boder ohne ihre Erlaubnis in Buchform veröffentlicht hatte und ihre Audioaufnahme aus dem Jahr 1946 vor 1998 zudem noch immer verschollen war. Zugleich war das Boder-Projekt am USHMM laut Ringelheim und Hedlund methodisch inspiriert von einem anderen Großprojekt am Museum. Im St.-Louis-Projekt war 1996 eine weltweite Suche nach Überlebenden des Schiffes mit jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, das 1939 von Kuba und den USA abgewiesen worden war, gestartet worden. Das umfassende Zehn-Jahres-Projekt über das Schicksal der jüdischen Emigranten war ein bedeutsames Unterfangen für das Museum, aus dem schließlich eine umfangreiche Monografie resultierte.111 Die Suche nach Überlebenden gestaltete sich für das Boder-Projekt laut Ringelheim noch schwieriger als jene für das St.-Louis-Projekt, da es keine vollständigen Verzeichnisse von Namen und Geburtsdaten gab. Für die internationale Suche nach ehemaligen Interviewpartnern von Boder wurden vom DOH daher alle zur Verfügung stehenden Quellen über Boders Interview110 Ringelheim an Brayard (29.05.2007), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund. 111 Vgl. Sarah A. Ogilvie; Scott Miller: Refuge denied. The St. Louis passengers and the Holocaust, Madison 2006. Auch für das Remember-Me-Projekt am USHMM , das weltweit nach Child Survivors suchte, um sie zu interviewen, wurde explizit eine Referenz auf die Bedeutung des St.-Louis-Projekts als Vorgängerin angegeben, vgl. Diane Afoumado: The United States Holocaust Memorial Museum’s »Remember Me« Project, in: Freilegungen. Überlebende, Erinnerungen, Transformationen, hg. von Rebecca Boehling, Susanne Urban und René Bienert, Göttingen 2013 (Jahrbuch des International Tracing Service, Band 2), S. 29-45.
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projekt genutzt: Neben Boders Monografie von 1949 und den Namen seiner Interviewpartner aus den Topical Autobiographies wurde ebenso die Edition von Niewyk von 1998 sowie Informationen von der Website Voices of the Holocaust verwendet. Hinzu kamen Listen aus der LOC mit 118 Namen von Boders Interviewpartnern sowie Inhaltszusammenfassungen der Erzählungen, die Mitte der 1990er Jahre an der Bibliothek angefertigt worden waren. Jürgen Matthäus verfasste für das DOH einen kurzen Bericht mit dem Titel »The Boder Project, 1945-57«, um Ringelheim und Hedlund sowie den Rest des Teams möglichst umfassend über Boders Interviewprojekt zu informieren.112 Knapp 50 Personen wurden aufgrund ihres Alters für die internationale Suche ausgewählt, da es bei diesen eine hohe Chance gäbe, dass sie noch immer am Leben waren. 29 Personen konnten insgesamt weltweit identifiziert werden, 12 davon waren allerdings bereits verstorben. Von den 17 Individuen, die in den USA , in Frankreich, Israel und Australien lebten, waren sechs entweder bereits zu altersschwach oder nicht gewillt, ein weiteres Interview zu geben. Somit wurden letztendlich elf Personen in den Jahren von 2003 bis 2006 erneut befragt.113 Für die Methodik der Befragungen waren die 1998 publizierten Oral History Interview Guidelines des DOH von grundlegender Bedeutung. Den Großteil der Interviews im Boder-Projekt führte Joan Ringelheim selbst durch und orientierte sich an den von ihr mitentwickelten Vorgaben zur Kunst der Interviewführung: »The interviewer guides the interview, but does not direct it.«114 Die Rolle der Interviewerin wurde eher passiv bestimmt. Allerdings lassen sich auch in der Methodik des DOH grundsätzliche Elemente einer Vorstrukturierung der Interviews finden. Grundlage für die Vorbereitung der Interviewerin war eine gründliche Recherche zu Orten der Verfolgung und historischen Kontexten, die mittels der Interviews von Boder erarbeitet wurden. Auch die Videoaufnahmen der SF wurden in die Vorbereitungen für die Interviews des USHMM miteinbezogen, um möglichst umfassend über die bisherigen Darstellungen der Interviewpartner informiert zu sein und spezifische Fragen zu erarbeiten. Die angestrebte chronologische Strukturierung der Interviews war der Dreiteilung der SF ähnlich: Erzählungen über das Leben vor dem Zweiten Weltkrieg, die Erfahrungen von Krieg und Holocaust sowie die Nachkriegs112 Die Angaben zu den verwendeten Quellen finden sich in den Aufzeichnungen der DOH -Arbeitsgruppe, vgl. Working List (04.12.2002), in: USHMM , Institutional Archives, Oral History Collection, Boder project search history parts 1 & 2, and working group notes, 2003-2005, Box 1, Ordner: Boder project – old lists. 113 Bei den 11 Interviewten handelte es sich um Edith Zierer, Jack Bass (alias Jürgen Bassfreund), Alan Kalish (alias Adolf Heisler), Janine Oberrotman (alias Janina Binder), Jack Unikoski (alias Izrael Unikowski), Georges Kestenberg (alias Jurek Kestenberg), Mark Moskowitz (alias Marko Moskovitz), Yosef Rosbach und Avraham Kimmelman (alias Abraham Kimmelman), vgl. USHMM , United States Holocaust Memorial Museum Oral History Project with David Boder Interviewees, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn44522; letzter Zugriff am 26.07.2021. 114 Ringelheim, Donahue, Rubin, Guidelines, S. vii.
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zeit, wobei der Fokus auch hier eindeutig auf den Erlebnissen während des Krieges lag.115 Im expliziten Gegensatz zu der Konstruktion einer Metageschichte des Holocaust seitens der SF und dem JHC wurde in der methodischen Handreichung des DOH über die Spezifik der individuellen historischen Erfahrungen reflektiert: There is no ›typical‹ Holocaust experience, although there are some categories of experiences into which many people fit. Alternately, there are instances where one person’s experiences fit into multiple categories.116 Die vom DOH vorgeschlagenen Fragen für die Interviewer beinhalteten, ebenfalls im Gegensatz zu SF und JHC , keine Aufforderung der Vermittlung von Future Messages oder Moral Lessons. Jedoch war das Konzept von Holocaust Testimony auch am DOH mit der Vermittlung einer Hinterlassenschaft für die Nachwelt verknüpft. Insbesondere die von Greenspan als psychiatrische Rhetorik beschriebene Fokussierung auf Trauma und psychische Auswirkungen der Extremerfahrungen auf die Überlebenden schimmerte in einigen Fragen durch.117 In der Sammlung von thematischen Fragen über das Leben nach dem Holocaust fanden sich etwa folgende Vorschläge: »How did you adjust to ›normal‹ life after the Holocaust? What problems did you face?«118 Diese thematisierten Probleme wurden daran anschließend schließlich noch expliziter fokussiert: Can you talk about the long-term impact that your experiences during the Holocaust have had on you? For example, how did the Holocaust affect your family, raising children, values, trust, fear, your work? When you dream about the Holocaust years, what images still haunt you?119 Ganz im Gegensatz zum eingangs aufgezeigten pädagogischen Imperativ der narrativen Dauerausstellung des USHMM findet sich in den methodischen Interviewrichtlinien des DOH allerdings kein Ziel der Vermittlung von Moral Lessons: Selbst die Fragen, die explizit auf Auswirkungen des Holocaust rekurrierten, tendierten nicht zu einer Universalisierung der Erfahrungen. Zur Besonderheit des Boder-Projekts am DOH gehörten weiterhin Fragen nach den Erinnerungen der Interviewten an Boder sowie das Interviewprojekt von 1946. Da jedoch nicht alle Interviews von Joan Ringelheim geführt wurden, insbesondere jene in Australien, unterschieden sich die Interviewmethoden in der Praxis teilweise erheblich. In der folgenden vergleichenden Interiewanalyse 115 116 117 118 119
Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Vgl. Greenspan, Imagining Survivors, S. 59. Ringelheim, Donahue, Rubin, Guidelines, S. 35. Ebd., S. 36.
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wird daher im Detail herausgearbeitet, inwiefern die methodischen Vorgaben des DOH die Erzählung der Interviewten beeinflusst haben. Das dritte große Ziel des Boder-Projekts, also die vergleichende Analyse der Interviews von Boder mit jenen späteren Aufnahmen des DOH , konnte am USHMM nie realisiert werden: Although we would have wished to analyze each Boder interview and compare it with each new video interview that we produced at the Museum, we were not able to do so. This will be the work of scholars.120 Dem Team des DOH fehlte es für solch eine komparative Studie schlichtweg an Ressourcen wie Zeit und Geld.121 Zudem ging Ringelheim als Direktorin des DOH ein Jahr nach Ende der Aufnahmen des Boder-Projektes im Jahr 2007 in den Ruhestand, womit die Idee eines Vergleiches der frühen mit den späteren Interviews ebenso ihr vorläufiges Ende fand.
Zwischenfazit Wie in diesem Kapitel aufgezeigt wurde, war die Produktion und Archivierung von Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust geprägt durch die spezifischen Ziele und Methoden der jeweiligen Institutionen. Das USHMM , die SF und das JHC klassifizierten die Videointerviews allesamt mit dem Begriff Holocaust Testimony: Als spezifisches Genre der mündlichen Zeugenschaft sind mit diesem Begriff verschiedene Charakteristika verbunden, die sich zum Teil stark unterscheiden. Eine Gemeinsamkeit bestand insbesondere im Ziel der Vermittlung von moralischen Botschaften und Lehren aus den Erfahrungen der Überlebenden. Die Interviews des Boder-Projekts am USHMM unterschieden sich jedoch deutlich von solcherlei Sinnstiftungen. Die Rolle der Interviewten wurde vor allem durch die SF und das JHC als die von Zeugen mit erzieherischem Auftrag bestimmt. Den befragten Holocaust-Überlebenden wurde seitens der SF eine uneingeschränkte Autorität zugesprochen, woraus gleichzeitig der Anspruch der Vermittlung von moralischen Lektionen in Form von Messages for the Future abgeleitet wurde. Das JHC begründete seine Produktion von Interviews mit Überlebenden vornehmlich mit der Bedeutung der Erzählungen als Beweise gegen Holocaustleugung. Beide Institutionen bezogen sich in ihren Befragungen auf eine vorgefertigte Metageschichte des Holocaust und vereinheitlichten dadurch bereits während der Interviewproduktion die individuellen Erzählungen. Die Interviews am USHMM wichen von dieser Funktionalisierung hingegen grundlegend ab. Obwohl in der Dauerausstellung des Museums die Ver120 Ringelheim an Brayard (29.05.2007). 121 Expertengespräch des Autors mit Joan Ringelheim und Elizabeth Hedlund in Washington, D. C., am 21.06.2017.
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mittlung von Moral Lessons durch die Verwendung von Interviewausschnitten ebenso eine bedeutende Rolle spielte, ließ sich in der Interviewmethodik des DOH unter Ringelheim nur bedingt das Ziel der Vermittlung von universellen Lehren nachweisen. Die konkreten Zwecke und die Methodiken der Interviewproduktion prägten die Interviews auf unterschiedliche Weise. Unter dem unspezifischen Begriff Holocaust Testimony, der sich seit der Institutionalisierung von Videointerviews ab 1979 für alle Berichte von Überlebenden des Holocaust durchgesetzt hat, wurde demnach eine Vielzahl an Erwartungshaltungen versammelt. Je nach Institution, Interviewer und den individuellen Bedürfnissen des jeweilig befragten Überlebenden können diese Erwartungen und Funktionalisierungen stark variieren. Deshalb wird das Wiedererzählen der ehemaligen Interviewpartner von Boder im Folgenden am konkreten Interviewmaterial analysiert.
2. Wiedererzählen: Zwischen moralischen Erwartungshaltungen und Eigensinn der Überlebenden In den folgenden vergleichenden Interviewanalysen handelt es sich um Erzählungen derselben fünf Personen, die 1946 von Boder sowie in den 1990er und frühen 2000er Jahren vom Jewish Holocaust Centre, der USC Shoah Foundation und dem United States Holocaust Memorial Museum befragt worden sind. Die Auswahl der fünf Fallbeispiele ermöglicht es, die vorausgegangenen Thesen über die Institutionalisierung und Funktionalisierung von Holocaust Testimony am konkreten Interviewmaterial zu überprüfen. Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurde, war es das explizite Ziel des Boder-Projekts am USHMM , eine Auswahl von einstigen Interviewpartnern von David Boder erneut zu befragen. Zwar fanden sowohl die Aufnahmen in den Sammlungen des JHC in Melbourne als auch jene der SF nicht in einem solchen Kontext statt, jedoch handelte es sich unabhängig von der Intention um einen Vorgang von erneuten Befragungen und bei den Erzählungen der Interviewten um einen Vorgang des Wiedererzählens, also »wiederholten mündlichen Präsentationen einer selbsterlebten Episode durch denselben Sprecher.«122 Veränderungen im Wiedererzählen sind sowohl durch Prozesse der sozialen Re-Interpretation der Erinnerungen durch die Befragten als auch durch die Praktiken der interviewenden Institutionen und deren Erwartungen geprägt. Die jeweiligen Erzählkontexte an einem konkreten Ort, zu einer bestimmten Zeit und mit einem spezifischen Interviewer werden daher ebenso in die Analyse miteinbezogen wie der Einfluss der Methodik und Zielstellung der Interviews.123 122 Schumann et al., Wiedererzählen, S. 10. 123 Vgl. Greenspan, Listening, S. 11-73; Laub, Bodenstab, Wiederbefragt, S. 399-401.
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Die leitenden Forschungsfragen betreffen zum einen die dialogischen Interaktionen mit den verschiedenen Interviewern und die konkrete Anwendung der Methodik: Inwiefern beeinflussen die veränderten Interviewtechniken das Wiedererzählen? Besonders Fragen, die auf eine Metageschichte des Holocaust und auf Aufforderungen zur Formulierung von Moral Lessons hinweisen, stehen im Fokus, um die veränderten Zielstellungen der Interviews zu analysieren. Zum anderen wird die Bedeutung der Re-Interpretationen der erinnerten Erfahrungen ergründet: In den unterschiedlichen Interviews besteht immer wieder aufs Neue die Möglichkeit, verschiedene Handlugen und Merkmale der eigenen Person durch Techniken der Erzählkunst zu betonen oder abzuschwächen, die Erinnerungen demnach anders zu interpretieren und dementsprechend zu erzählen.124 Stellte sich die interviewte Person etwa eher als hilfloses Opfer der Verhältnisse oder als aktiver Überlebenskünstler dar? Und wie veränderte sich diese Positionierung im Wiedererzählen über mehrere Jahrzehnte vergangener Lebenszeit?125 Wie wirkte sich weiterhin die veränderte Rolle der Interviewten von einer Displaced Person zum gesellschaftlich anerkannten Holocaust-Überlebenden auf den Inhalt der Erzählungen aus? In der Beantwortung dieser Fragen wird deutlich werden, dass es sich beim Wiedererzählen um einen antagonistischen Prozess handelt: Die Re-Interpretationen der vielschichtigen Erinnerungen und deren Bedeutung für die Betroffenen standen oftmals im Konflikt mit den Erwartungen der interviewenden Institutionen nach einer Sinngebung der Erzählungen in Form von moralischen Botschaften und universellen Lehren aus dem Holocaust. Gegen diese Erwartungen setzen die befragten Überlebenden eigene Interpretationen und ihren Eigensinn in den Deutungen der erinnerten Verfolgungserfahrungen.
»I cannot give advice« (Jack Unikoski, geb. Unikowski) Nach seinem Interview mit David Boder im August 1946 verblieb Izrael Unikowski noch weitere zwei Jahre in Frankreich und emigrierte 1949 nach Australien. Dort änderte er seinen Namen zu Jack Unikoski, heiratete und bekam mit seiner Frau zwei Söhne. Als Holocaust-Überlebender wurde er in seinem weiteren Leben mehrfach und von verschiedenen Institutionen interviewt: 1995 vom JHC in Melbourne, 1998 von der SF und im Jahr 2004 im Auftrag des USHMM . Insgesamt lassen sich diverse Veränderungen in seinen Erzählungen feststellen, die in erster Linie auf die veränderten Zielstellungen und Erkenntnisinteressen der Befragenden zurückzuführen sind. Während Boder im Jahr 1946 an 124 Vgl. Noah Benninga: Holocaust testimony as sources for (a) cultural history of the Holocaust. The Anecdote as an analytical tool, in: Jewish History Quarterly 60, 2013, S. 414-432, hier S. 424. 125 Vgl. Bader, Das Unerzählbare, S. 217-224.
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den persönlichen Erlebnissen seines Interviewpartners als Wissensquelle interessiert war und diese mit seinem Drahttonrekorder als personal document für sein Forschungsprojekt aufzeichnete, sind die späteren Holocaust Testimonies stark durch die Funktionalisierung und Sinngebung seitens der Institutionen geprägt. Sowohl die Perspektive der Erzählungen als auch die Erwartungshaltungen haben sich grundlegend verschoben: Unikoski änderte seine Erzählperspektive von einem allgemeinen Bericht im Interview mit Boder zu einer persönlichen Schilderung seiner individuellen Erfahrungen. Für den Befragten standen in den späteren Interviews nicht mehr die allgemeinen Ereignisse, die allen Juden als Kollektiv zugestoßen waren, im Fokus, sondern seine eigenen Erlebnisse. Während Boder 1946 genau solche persönlichen Erzählungen hatte aufzeichnen wollen, zeigten die Interviewer der SF und des JHC 50 bis 60 Jahre später hingegen eher Interesse an der Bestätigung ihrer vorgefertigten Metageschichten über den Holocaust. Unikoskis Erzählungen dienten dem Zweck, ein vorgeformtes Narrativ des Holocaust zu bestätigen, um als exemplarische Geschichte im Kampf gegen Holocaustleugung eingesetzt zu werden und um moralische Lehren als Sinngebung seiner Erfahrungen zu formulieren. Die erneute Befragung im Auftrag des USHMM wich von dieser Funktionalisierung des Erinnerungsinterviews wiederum deutlich ab und bildete eine Ausnahme und Besonderheit im Vergleich aller Interviews miteinander. Jack Unikoski hatte erst nach längerem Austausch per Brief und E-Mail mit Elizabeth Hedlund als Projektkoordinatorin des DOH in Washington, D. C., zugestimmt, sich für deren Boder-Projekt erneut befragen zu lassen. Das Interview, das am 10. September 2004 stattfand, war durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet. Es wurde nicht in Unikoskis neuer Heimat in Melbourne, sondern in einer Ferienwohnung in Paris geführt. Zudem handelt es sich nicht um eine Einzelbefragung, sondern um ein gemeinsames Interview zusammen mit seinem Freund George Kestenberg. Dieser war 1946 ebenfalls von Boder interviewt worden, aber im Gegensatz zu Unikoski in Frankreich verblieben.126 Die Interviewerin für das USHMM war in diesem Falle auch nicht Joan Ringelheim, sondern die Oral-History-erfahrene französische Historikerin Annette Wieviorka, die das mit nur etwa 100 Minuten relativ kurze Interview zusammen mit ihrem Kollegen Dominique Touboul in Paris führte und im Audioformat aufzeichnete.127 Obwohl Kestenberg anfänglich Jiddisch als Interviewsprache vorgeschlagen hatte, wurde sich in Absprache aller Beteiligten 126 Zum Interview von Boder mit Kestenberg siehe David P. Boder Interviews Jurek Kestenberg; July 31, 1946; Fontenay-aux-Roses, France, UR L : https://voices.library. iit.edu/interview/kestenbergJ; letzter Zugriff am 04.08.2021. 127 Die Gründe dafür, das Interview mit Unikoski und Kestenberg zusammenzulegen, ebenso wie die Entscheidung für eine Audioaufnahme waren pragmatischer Natur – ein Studio und Kameratechnik waren kurzfristig nicht zu organisieren, wie Hedlund in einem Memo vermerkte, vgl. Elizabeth Hedlund, Memo: Possible joint interview with Jack Unikoski and Georges Kestenberg (16.08.2004), in: USHMM ,
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schließlich auf Französisch und Englisch geeinigt, wobei Unikoski im Interview durchweg Englisch sprach.128 Das USHMM hat die Audioaufnahme im Nachgang digitalisiert sowie ein Transkript auf ihrer Homepage virtuell zugänglich gemacht.129 Eine weitere Besonderheit des USHMM -Interviews betrifft den Inhalt der Erzählung: Unikoski wollte 2004 nicht erneut über seine Erinnerungen an den Nationalsozialismus sprechen und stimmte daher lediglich zu, Fragen über sein Leben nach 1945 zu beantworten. Dies begründete er gegenüber Hedlund damit, dass er bereits mehrfach Interviews über diese leidvolle Zeit gegeben hatte, wie die Forscherin in einem Memorandum an ihre Kollegin Ringelheim festgehalten hat: Jack Unikoski has been interviewed by the Shoah Foundation, as well as by the Jewish Holocaust Museum and Research Centre in Melbourne. The USHMM Archives has the latter interview (RG -50.407*0006). He says the interviews took a lot out of him and he prefers not to do another interview about his Holocaust experiences.130 Unikoski sprach in der Aufnahme von 2004 dementsprechend auch nur über sein Leben nach 1945. Daher eignet sich die Aufzeichnung des USHMM zwar nicht, um sein Wiedererzählen vergleichend zu analysieren, jedoch ist sie zum einen als Quelle über seine Nachkriegsbiographie äußerst aufschlussreich, und zum anderen reflektierte Unikoski auch ausführlich über sein frühes Interview mit Boder. Entgegen der üblichen Strukturierung der Interviews des USHMM mit Einstiegsfragen nach der Jugend und Kindheit der Befragten vor dem Zweiten Weltkrieg begann Wieviorka ihr Interview 2004 direkt mit der ersten Frage nach dem Psychologen: »So, the first question is to ask you if you have any souvenirs from this man, David Boder, who made the interview in 1946.«131 Unikoski gab zunächst an, dass er sich an Boder und sein Interview im Jahr 1946 überhaupt nicht erinnert habe, bis ihn das USHMM kontaktiert und dazu befragt hatte. Erst aufgrund der expliziten Nachfragen nach Boder und dessen Interview im französischen OSE -Kinderheim im Sommer 1946 erinnerte sich Unikoski insbesondere an einen Aspekt, der in meiner Analyse seines
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chiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Unikovsky (sic), Israel. Vgl. Hedlund, Memo (16.08.2004). Vgl. Oral history interview with Jack Unikoski and Georges Kestenberg, 10.09.2004; RG Number: RG -50.562.0006, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn515830; letzter Zugriff am 27.07.2021. Im Folgenden: Unikoski, USHMM 2004. Hedlund, Memo an Ringelheim (10.06.2004), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Unikowsky, (sic) Israel. Unikoski, USHMM 2004. Transkription des Autors auf Grundlage der Audiodatei und Überprüfung des USHMM -Transkripts, Vgl. https://collections.ushmm.org/ oh_findingaids/RG -50.562.0006_trs_fr.pdf; letzter Zugriff am 27.07.2021.
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Interviews bereits ausführlich besprochen wurde. Unikoski reflektierte 2004 explizit über die Widersprüche seiner Erzählperspektive im Vergleich zu den Vorstellungen von Boder als Interviewer: »He wanted me to speak particularly for me. I wanted to speak generally.«132 Diesen Konflikt mit Boder beschrieb Unikoski als »disagreement of the point of view«,133 der das gesamte Interview mit dem Psychologen gekennzeichnet habe. Ebenfalls zu Beginn der Aufnahme von 2004 stellte Wieviorka Unikoski und Kestenberg die Frage, warum gerade sie von Boder für Interviews ausgewählt worden seien. Kestenberg antwortete zunächst, dass sich einige der Überlebenden damals gar nicht an die schrecklichen Erlebnisse in den Lagern erinnern oder darüber sprechen wollten, woraufhin Unikoski ergänzte, dass er sich hingegen freiwillig für das Interview bei Boder gemeldet habe. Er erklärte, dass es für ihn bereits 1946 besonders wichtig gewesen sei, die Geschichte zu erzählen: Unikoski: I always felt that it is important/ nobody lives forever/ I always felt it is important to tell the story. Because I didn’t realize that there would come a time when there will be people denying that the Holocaust ever happened. But I thought it was important for people who haven’t been there to know what happened.134 Unikoski gab mehrere Motive für sein Interview mit Boder an. Er empfand es retrospektiv als wichtig zu erzählen, weil niemand ewig lebe. Es scheint so, dass Unikoski 2004 den zeitgenössischen Topos vom Tod der Zeitzeugen auf sein frühes Interview mit Boder übertrug. Ob das Ende der Zeitzeugenschaft für die damals 20-jährige Waise im Sommer 1946 tatsächlich eine entscheidende Motivation für sein Interview war, ist allerdings fragwürdig. Dass es Holocaustleugner geben könnte, war 1946 noch jenseits seines Vorstellungshorizonts und spielte für das Interview mit Boder daher auch noch keine wesentliche Rolle. Vielmehr war es die Weitergabe von Wissen über die Verbrechen, die ihn entschieden motivierte: Diejenigen, die nicht »dort« gewesen waren, sollten informiert werden. Dabei war »die Geschichte«, um die es ging, keineswegs nur seine eigene, sondern vielmehr die Geschichte derjenigen, die nicht überlebt hatten: Unikoski: Because/ why exactly me? Because I volunteered, as Jurek said. Because I felt it’s important to tell the story. And I didn’t think that my story is particularly interesting in comparison to other people. I know there were people who went through a lot more than I did. And I thought that everybody should tell their story.135
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Gegenüber Wieviorka führte Unikoski aus, dass 1946 eines seiner Hauptmotive für das Interview mit Boder eine Art Vermächtnis für die Toten gewesen sei. Wie in der Interpretation seines Interviews mit Boder aufgezeigt wurde, waren es besonders die allgemeinen Geschichten über das Leid des jüdischen Kollektivs, von denen Unikowski 1946 berichtet hatte. Spielte diese Form der Zeugenschaft für die Toten auch in den Interviews mit dem JHC und der SF eine prägende Rolle? Und welche Bedeutung hatten seine biographischen Erfahrungen nach 1946 für das Wiedererzählen? Wie Unikoski im Interview mit dem USHMM angab, bestieg er im Dezember 1948 in Marseille zusammen mit acht anderen Überlebenden aus Buchenwald ein Schiff nach Australien und emigrierte Anfang 1949 nach Sydney. Von den über 900 im K Z Buchenwald befreiten Kindern und Jugendlichen waren ganze 65 nach Australien ausgewandert. Aus Sydney siedelte Unikoski nach drei Monaten nach Melbourne über, wo die meisten anderen BuchenwaldÜberlebenden wohnten, wie er sich 2004 erinnerte: Unikoski: When I came to Melbourne, I start asking ›Where are all my friends?‹ They are all living in a house from the Jewish Welfare Society on Burke Road. So, in quiet I start speaking a few words English, and I came to that house in Burke Road where all our friends were, we were called the Buchenwald Boys. I came in there and the director was a Mr. Fink. I said, ›Mr. Fink. I am also from Buchenwald and I would like to live with all my friends.‹136 Das beschriebene Haus der Jewish Welfare Society in Melbourne, wo alle Freunde von Unikoski lebten, war jene Unterkunft für jüdische Emigranten, die Mina Fink – welche später die Gründung des JHC in Melbourne entscheidend unterstützte – seit 1947 als Vorstand verwaltete.137 In dem als Melbourne Welfare House beziehungsweise Camberwell House bekannten Hostel waren etwa 80 jüdische Emigranten untergebracht, der Großteil davon waren Überlebende aus Buchenwald. In der Anekdote von Unikoski über seine Ankunft in Melbourne wurde jedoch ein »Mr. Fink« benannt – es ist gut möglich, dass Minas Ehemann Leo Fink 1949 ebenfalls vor Ort war und sich Unikoski daher an ihn als damaligen Direktor erinnerte. Unikoski hatte demnach seit seiner Befreiung konstanten Kontakt zu anderen Überlebenden aus dem K Z Buchenwald, und der Austausch innerhalb dieser Gruppe prägte auch seine spätere Erzählung der Lagererfahrungen. Im Interview mit Wieviorka für das USHMM sprach Unikoski ausführlich über die Bedeutung der Buchenwald-Überlebenden, die sich die Eigenbezeichnung Buchenwald Boys gegeben hatten: Unikoski: This I want to point out that people like us not having family/ the group, not only in France but all over the world/ having all this time 136 Ebd. 137 Rutland, Resettling, S. 50.
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a connection with one another helped us a lot to/ how is it/ but to survive/ to have a normal life, because we sometimes think ourselves how come that we more or less grew up normal people, got married, we have children, got/ made a living, because a lot of it helped/ we had this group/ not so much financially, one did not need financial help from one another, but always knew you can pick up the phone, you can ring direct to France, I can chat to Florida/ in America, I can ring up somebody in Canada, and we have a talk, and when I come, it may go down ten or 15 years and we meet, we meet as if we had never left one another. This is actually amazing.138 Seit seiner Emigration nach Australien war Unikoski aktiver Teil der Überlebenden-Gruppe der Buchenwald Boys, die er in diesem längeren Monolog als eine Art Ersatzfamilie beschrieb, die ihm dabei half, ein »normales Leben« nach dem Holocaust zu führen. Die Kinder und Jugendlichen, die im April 1945 von amerikanischen Soldaten im K Z Buchenwald befreit worden waren, verteilten sich in den Folgejahren zwar über den gesamten Globus, besonders aber in Australien bildeten sie ein stabiles Netzwerk, das jährlich an den Tag der Befreiung erinnert und im regen Austausch steht. Die Buchenwald Boys sind kurz nach der Jahrtausendwende zur internationale Berühmtheit geworden, es existieren etliche Zeitungsartikel, eine Ausstellung sowie mehrere Filme über sie.139 Eine Analyse des Wiedererzählens von Unikoski muss diese biographischen Kontextinformationen daher mit in die Interpretation einbeziehen. Als sich Unikoski am 15. September 1995 im Alter von 69 Jahren vom JHC in Melbourne interviewen ließ, war er bereits seit Jahrzehnten ein wohlbekannter Holocaust-Überlebender, der sich in der jüdischen Gemeinde der Stadt engagierte. Der Interviewer der Videoaufnahme von 1995 war Moshe Morris, der als Freiwilliger am Museum arbeitete, um deren Holocaust Testimonies Project zu unterstützen. Die dreistündige Aufnahme wurde im Museum in Melbourne angefertigt und die Videoaufzeichnung auf einer V HS -Kassette anschließend dort archiviert. Das USHMM hat die Aufnahme wiederum 1996 für seine Sammlung erworben, digitalisiert und auf ihrer Homepage virtuell zugänglich gemacht.140 Knapp drei Jahre später, im März 1998, gab Unikoski in 138 Unikoski, USHMM 2004. 139 Im Immigration Museum Melbourne fand 2005 eine Ausstellung statt, welche die Gruppe zum Thema hatte, vgl. Jayme Josem; Anita Frayman; Mark Baker: The Buchenwald Boys: A story of survival, Melbourne 2005. Bei den erwähnten Filmen handelt es sich um folgende Produktionen: The Boys of Buchenwald (2002), The Buchenwald Ball (2006) und Kinderblock 66. Return to Buchenwald (2012) vgl. Waltzer, History and Memory, S. 224-225. Siehe auch die Online-Ausstellung, kuratiert von Anita Frayman: The Buchenwald Boys, UR L : https://www.monash.edu/ buchenwald-boys/home; letzter Zugriff am 27.07.2021. 140 Vgl. Oral history interview with Jack Unikowski, RG Number: RG -50.407.0006, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn505790; letzter Zugriff am
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seinem Wohnhaus in einem Vorort von Melbourne ein weiteres Interview, diesmal für die Sammlung des VHA . Der Interviewer war Reuben Zylberszpic, der für die SF als Laieninterviewer angestellt war.141 Das über fünfeinhalb Stunden umfassende Interview wurde per Videokamera in Unikoskis Wohnzimmer aufgezeichnet, wie es für die Aufnahmen der SF üblich ist. Beide Interviews wurden in englischer Sprache geführt. Bei seinem Interview mit dem JHC im Spätsommer 1995 gab Unikoski an, dass es sehr lange gedauert habe, bis er überhaupt dazu bereit war, sich erneut interviewen zu lassen. Nach einer knappen halben Stunde der Videoaufzeichnung des JHC , in der es thematisch um Unikoskis Leben vor dem Krieg ging, fragte Morris, ob der Interviewte noch etwas ergänzen wolle, um anschließend mit der Zeit des Zweiten Weltkrieges fortzufahren. Unikoski merkt daraufhin an, dass er nicht komplett in chronologischer Reihenfolge berichten könne: Unikoski: […] because I have not prepared for an interview. It took me a long time [2 sec] to take the courage [2 sec] to come for this interview although I appreciate what you’re doing and I know how important it is to have done it.142 Unikoski drückte damit seine Anerkennung für das Holocaust Testimony Project des JHC aus und gab zugleich zu verstehen, dass es ihn starke Überwindung gekostet hatte, vor laufender Kamera über seine Erfahrungen des Nationalsozialismus zu sprechen. Wie bereits dargestellt wurde, handelte es sich bei dem Interview mit dem JHC 1995 keineswegs um das erste Wiedererzählen seiner Erinnerungen an die Verfolgung durch die Nationalsozialisten seit 1946. In der Gruppe der Buchenwald-Überlebenden redete er seit Jahrzehnten über seine Erinnerungen, jedoch in einem gänzlich anderen Rahmen.143 Als per Video aufgezeichnetes Interview ist die Form des Holocaust Testimony daher auch hinsichtlich der medialen Vermittlung als besonderes Genre zu begreifen, wie Greenspan ausgeführt hat: »Testimony is ›for the record‹ or ›for posterity‹. However difficult its articulation, conveying something essential and lasting is
13.03.2019. Sein Familienname wird in der Archivierung des JHC -Interviews auf der Website des USHMM als »Unikowski« verzeichnet. Ich benutze hingegen den Namen, den er in Australien angenommen hatte, und verweise im Kurztitel auf den Usprung der Aufnahme. Im Folgenden: Unikoski, JHC 1995. 141 Seit den 2000er Jahren begann Zylberszpic im JHC zu arbeiten, vgl. E-Mail-Kontakt des Autors mit Michael Cohen vom JHC am 15. und 16.11.2017. 142 Unikoski, JHC 1995. 143 Jack Unikoski gilt als Historiker in der Überlebenden-Gruppe der Buchenwald Boys, weil er sich sehr ausführlich mit der Geschichte der Shoah auseinandergesetzt hat. Michael Cohen, der am JHC angestellt war und seit mehreren Jahren mit Unikoski Kontakt hat, bestätigte mir eine rege Aktivität von Unikoski bei Jahrestagen der Befreiung von Buchenwald in Melbourne in Form von zahlreichen Gedenkreden, vgl. E-Mail-Kontakt des Autors mit Michael Cohen, 27./28.09.2017.
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central to what makes testimony, testimony.«144 Die Videoaufzeichnung garantierte eine wortwörtliche Überlieferung des Gesagten als Zeugnis für die Nachwelt samt Mimik und Gestik.145 Dies unterscheidet sich grundlegend von den mündlichen und informellen Gesprächen über seine Erinnerungen in der Gruppe der Buchenwald Boys. Im Vergleich des Wiedererzählens in den Interviews mit dem JHC und der SF sind insbesondere die veränderten Erwartungshaltungen an die Interviews zu beachten: Die Institutionen haben gänzlich andere Vorstellungen über den Sinn und Zweck der Aufnahmen als Unikoski. Nicht mehr nur die Erzählperspektive, wie bei Boder, sondern die Funktionalisierung des Gesagten führte vielfach zum Konflikt. Im direkten Vergleich fällt zunächst auf, dass Unikoskis Erzählungen in den Aufnahmen der SF und des JHC sehr große Ähnlichkeit hatten, sowohl was den Inhalt betrifft als auch die Form, insbesondere seine Wortwahl. Bestimmte Zitate, die der Befragte in seine Erzählungen eingebaut hatte, waren in den verschiedenen Aufnahmen nahezu wortwörtlich identisch, etwa als Unikoski über den Judenrat Chaim Rumkowski sprach, über den er auch im Interview mit Boder 1946 viel zu sagen hatte. 1995 erzählte Unikoski dem Interviewer des JHC , dass er nach seiner Ankunft in Łódź im September 1939 auf einen alten Mann getroffen sei: »It turned out, that this man was Cha/ Rumkowski.«146 Mit dieser Einführung und der Angabe des Namens verwies Unikoski auf die Bekanntheit von Rumkowski, den auch der Interviewer des JHC kannte, ganz im Gegensatz zum Interview von 1946. Boder hatte damals kaum Wissen über die Person und die Debatten über die jüdischen Organisationen innerhalb des Ghettos. Die Erzählung über Rumkowski unterschied sich in den späteren Interviews in einigen Details von der Version aus dem Jahr 1946. In der Aufnahme des JHC aus dem Jahr 1995 gab er etwa zu verstehen, dass die Waisenkinder von einer Heimleiterin in Łódź abgelehnt worden seien und es dem persönlichen Einsatz von Rumkowski zu verdanken gewesen sei, dass sie überhaupt in dem Kinderheim aufgenommen wurden. Rumkowski habe die Leiterin des Kinderheims zurechtgewiesen und ihr unter Androhung martialischer Gewalt befohlen, ihn und die anderen Waisenkinder aufzunehmen: Unikoski: He came over with us and he said to the lady/ unfortunately she perished, too/ he said to her/ in Yiddish, but I will translate in Yiddish/ in English. He said: ›If you tell me once more you haven’t got any room I through you down the stairs. I am in charge and I order you to take them 144 Greenspan et al., Enaging Survivors, S. 194. 145 Vgl. Burkhard Liebsch: Unsichtbare Gewalt: Bezeugung, Aufzeichnung, Überlieferung und Techniken der Visualisierung, in: Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, hg. von Sonja Knopp, Sebastian Schulze und Anne Eusterschulte, Weilerswist 2016, S. 42-70. 146 Unikoski, JHC 1995.
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in!‹ And that’s how we came in [2sek] in this orphanage [1sek] on the Pomorska number nineteen.147 Dieses Detail, das im Interview mit Boder gar nicht vorkam, schilderte Unikoski drei Jahre nach dem Interview mit dem JHC in der Aufnahme der SF nahezu im exakt gleichen Wortlaut: »[H)e [Rumkowski, DS] came across with us and he said/ he went up to/ and he said, ›I will through you down the stairs if you don’t take these children in.‹«148 Seine Erzählung über die Ankunft im Kinderheim hatte sich demnach im Vergleich zum Interview mit Boder stark verändert, und Unikoski stützte seine veränderte Erzählversion in beiden späteren Interviews auf ein und dasselbe Zitat von Rumkowski. Im Gegensatz zu Boder wussten die Interviewer des JHC und der SF um die öffentlichen Debatten über die Judenräte und fragten daher auch explizit danach. Der Interviewer der SF war etwa sehr interessiert an Rumkowski und an Unikoskis Einschätzung zu seiner Person während der Zeit des Ghettos: Zylberszpic: Did you have any personal dealings with Rumkowski? Unikoski: [3 sec] From person to person no. But he came to the house/ eh, on a few occasions. Zylberszpic: What your/ What were your thoughts of the men at the time? Unikoski: [3 sec] At the time I considered him a benefactor. [2 sec] And I know that today a controversy goes.149 Als Interviewer der SF fragte Zylberszpic Unikoski nach persönlichen Begegnungen mit Rumkowski im Ghetto und nach seinen Gedanken über ihn aus dieser Zeit. Unikoski war sich der zeithistorischen Kontroverse um die Person von Rumkowski bewusst und versuchte daher, die beiden Ebenen zu trennen: Für ihn persönlich sei er zur Zeit des Ghettos ein Wohltäter gewesen, der ihm das Leben gerettet hatte. Hinsichtlich der öffentlichen Debatte führte er kurz darauf jedoch ebenso aus, dass sich der Judenälteste schuldig gemacht habe: »He committed a very great sin.«150 Bezüglich dieser »Sünde« benannte Unikoski wieder, wie auch bereits im Interview mit Boder, die unterdessen berühmt gewordene Rede vom August 1942, in der Rumkowski die Mütter im Ghetto dazu aufgefordert hatte, ihre Kinder zur Deportation zu übergeben.151 In beiden späteren Interviews zitierte Unikoski einen Ausspruch von Rumkowski in identischer Wortwahl: »History will judge«. 1995 gegenüber dem JHC kommentiert er dies mit: »Well, history judged. Despite the fact that he practically saved my life, history judges that he was a collaborator/ with the Germans.«152 147 148 149 150 151 152
Ebd. Unikoski, V H A 1998. Ebd. Ebd. Vgl. Rumkowski, Rede 1942. Unikoski, JHC 1995.
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Drei Jahre später im Interview mit der SF war seine Darstellung dieselbe: »I know that Rumkowski did say ›History will judge.‹ [1 Sek] And history did judge.«153 Die Angaben über Rumkowski dienten in seinen Erzählungen als Verbindung von zwei Ebenen: Seine eigenen Erfahrungen wurden mit der öffentlichen Debatte über die historische Figur Rumkowski und die Judenräte im Allgemeinen verknüpft. Auf der Ebene der individuellen Erfahrungen fällte Unikoski zunächst ein positiveres Urteil über Rumkowski im Vergleich zum Interview mit Boder. Rumkowski sei in der persönlichen Begegnung stets hilfsbereit gewesen. Sein Charakter und sein Verhalten gegenüber den Ghettobewohnern wurden in den späteren Interviews insgesamt allerdings noch wesentlich schlechter bewertet im Boder’schen. Der Judenälteste sei eindeutig ein Kollaborateur gewesen, er hätte die NS -Ideologie übernommen. Die Vermischung dieser beiden Ebenen sowie die Verbindung mit einer Metageschichte des Holocaust durch den Interviewer des JHC wird an einem späteren Dialog besonders deutlich. Nachdem Unikoski über das Leben im Ghetto und vom Tod seines Bruders im Mai 1943 berichtet hatte, entstand eine lange Pause. Unikoski schwieg für ganze elf Sekunden, was darauf hindeutet, dass diese Erinnerung für ihn emotional besonders schwer zu ertragen war. Sein Gesichtsausdruck war jedoch weniger von Trauer gekennzeichnet als vielmehr fragend, er schien auf ein Signal des Interviewers zum Weitersprechen zu warten. Morris durchbrach das Schweigen schließlich mit einer unerwarteten Frage: Morris: The Judenrat/ would you like to describe your recollections of them? Unikoski: [5 sec] The main [2 sec] guilt/ without any whatsoever falls on the German people [2 sec] or the Nazi regime.154 Obwohl Unikoski zuvor bereits ausführlich über den Judenältesten Rumkowski gesprochen hatte, fragte ihn der Interviewer des JHC völlig unvermittelt nach den Judenräten als Institution. Er wollte Unikoskis Erinnerungen an diese als Ganzes wissen, worauf das verwendete Personalpronomen »them« verweist. Dass Morris mit seiner allgemeinen Frage nach Erinnerungen an die Judenräte keinerlei Bezug auf Unikoskis Schilderungen über Rumkowski nahm, weist darauf hin, dass der Interviewer die Verbindung zu den vorausgegangenen Erzählungen gar nicht hergestellt hatte. Vermutlich suchte er in seinen Notizen nach einem passenden Schlagwort, das es ihm ermöglichen sollte, das Schweigen in der Videoaufnahme zu durchbrechen. Deutlich wird an dieser Stelle, dass der Interviewer in dieser Situation nicht an Unikoskis individuellen Erinnerungen, sondern eher an der Bestätigung einer allgemeinen Metageschichte der Judenverfolgung Interesse zeigte, die über Schlagworte 153 Unikoski, V H A 1998. 154 Ebd.
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strukturiert war. Als Leitfaden des JHC sollten diese Schlagworte eigentlich nur der groben Orientierung für die Befragung dienen, doch in der Praxis des Interviews wurden die konkreten Erinnerungen von Unikoski einer verschlagworteten Metageschichte des Holocaust untergeordnet. In den Interviews mit dem JHC und der SF war sich Unikoski indes eindeutig bewusst, dass in der Gesellschaft bereits breites Wissen über den Holocaust vorhanden war und seine persönlichen Geschichten nicht den Zweck neuer Wissensproduktion über die historischen Ereignisse hatten. Er bezog sich etwa darauf, dass die Geschichte des Ghettos Litzmannstadt bereits sehr bekannt sei: »The area of the ghetto, which is now well documented.«155 Während er über die Deportationen aus dem Ghetto berichtete, verwies er erneut auf das bereits vorhandene Wissen: »Until the time of the Sperre, which is also well known, when all the children of the Ghetto were sent out to their death.«156 Der Interviewer des JHC fragte in diesem Abschnitt wiederum nach den Lebensbedingungen im Ghetto, explizit, ob es überfüllt gewesen sei. Unikoski betonte daraufhin, dass diese Angaben nicht seine persönliche Erfahrung betreffen würden, sondern es sich dabei um allgemeine Informationen handele: »And here again I must go away from my person, to the general.«157 Diese Vermengung seiner eigenen Erfahrungen mit allgemeinen Geschichten war in der Aufzeichnung knapp 50 Jahre zuvor einer der größten Konfliktpunkte mit Boder als Interviewer gewesen. Im Kontext der Aufzeichnung des JHC reflektierte Unikoski explizit darüber und tätigte nachfolgend allgemeine Aussagen über die Lebensbedingungen im Ghetto. Unikoski beendete seine Erzählung über die Lebensbedingungen und über die jüdische Polizei im Ghetto schließlich mit der klaren Ansage, dass er nun zu seinen persönlichen Erfahrungen zurückkehren wollte: »Now I’m going back to my private.«158 Dadurch wird ersichtlich, dass Unikoski die Kontrolle über seine Geschichte erlangt hatte und aus diesem Grund zwischen verschiedenen Ebenen souverän hin- und herwechseln konnte. Zudem bildeten das historische Wissen über die NS -Zeit und der öffentliche Diskurs über den Holocaust die Grundlage der Verständigung mit dem Interviewer: Der Befragte musste kaum mehr etwas erklären, da die groben Ereignisse und Orte bereits bekannt waren. Unikoskis mehrfache Verweise auf das bereits vorhandene historische Detailwissen bestätigten, dass er in den Interviews mit dem JHC und der SF eher über seine persönlichen Erfahrungen als über Allgemeines berichten wollte. Dies war auch die von Philipp Maisel als einem der Hauptverantwortlichen des HTP erwünschte Perspektive. Wie Maisel in seinen Reflexionen mehrfach betont hatte, komme es auf die persönlichen Geschichten der Überlebenden an. 155 156 157 158
Unikoski, JHC 1995. Ebd. Ebd. Ebd.
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Berichte über die historischen Ereignisse seien hingegen zweitrangig, da diese bereits gut dokumentiert seien: »Events of the Holocaust are already well documented it is the individual stories which can help to counteract the growing trend of revisionism and anti-Semitism.«159 Um dem Zweck der Interviews als Mittel im Kampf gegen Holocaustleugnung und Antisemitismus gerecht zu werden, verknüpfte Morris als Interviewer für das JHC im Jahr 1995 allerdings in der gesamten Aufnahme die persönlichen Geschichten von Unikoski mit Nachfragen nach ebenjenen gut dokumentierten Ereignissen, nach berühmten Persönlichkeiten und Holocaust Icons. Die Fragen des Interviewers verwiesen auf eine Metageschichte des Holocaust, an die sich die individuellen Erfahrungen von Unikoski gewissermaßen anpassen sollten. So unterbrach Morris die Erzählung von Unikoski etwa an einer Stelle, um zu erfragen, ob die Deutschen an der Rampe in Birkenau auch Hunde gehabt hätten. Die folgende bejahende Antwort von Unikoski besaß keinerlei Informationswert, sondern diente einzig der Bestätigung eines etablierten Bildes von Auschwitz: An der Rampe standen SS -Männer mit Hunden. Während Unikoski anschließend über seine Ankunft im K Z Auschwitz-Birkenau erzählte, unterbrach ihn Morris erneut und fragte völlig unvermittelt nach der Anwesenheit von Josef Mengele bei der Selektion in Auschwitz: Morris: Mengele. Was he part of this selection process at this stage? Unikoski: We were told later that this officer/ so handsome he dressed/ [unverständlich] were Mengele.160 Der Interviewte formulierte seine Antwort äußerst vorsichtig und bedacht. Er ergänzte anschließend noch, dass er allerdings nicht mit Sicherheit bestätigen könne, ob es sich tatsächlich um den berühmt-berüchtigten Dr. Mengele gehandelt habe, und unterstrich damit erneut, dass seine Angaben keinen Anspruch auf eine exakte historische Dokumentation hatten, sondern es ihm vielmehr darum ging, seine persönliche Geschichte zu erzählen. Christopher Browning hat die Bedeutung der medialen Bilder über Mengele als Erklärung dafür herangezogen, dass eine Begegnung mit dem berüchtigten Arzt im K Z Auschwitz in vielen Interviews mit Holocaust-Überlebenden erwähnt wird, obwohl einige der Befragten diesen niemals gesehen hatten: »[T]he selection on the ramp by Dr. Mengele has become one of the most broadly recognized archetypal episodes of the Holocaust, widely disseminated in both books and films.«161 Wie Maria Ecker-Angerer herausgearbeitet hat, begann die Entwicklung von Mengele als Symbol des grausamen K Z -Arztes ab den 1960er Jahren und war Mitte der 1990er Jahre bereits fest in der öffentlichen Erzählung über
159 Maisel, First Hand, S. 73. 160 Unikoski, JHC 1995. 161 Browning, Collected Memories, S. 83.
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den Holocaust etabliert.162 Im Gegensatz zu Fragen nach den Gründen von »falschen Erinnerungen« von Überlebenden an Mengele in Auschwitz waren es im Falle von Unikoski insbesondere die Fragen des Interviewers, die den Befragten vom Status des Augenzeugen in die Position brachten, Geschichten vom Hörensagen zu reproduzieren. Die Frage von Morris nach einer Begegnung mit Mengele beantwortete Unikoski allerdings äußerst reflexiv. Insgesamt zielten die Fragen im Interview des JHC wenig auf die Spezifik der Erfahrungen von Unikoski ab, sie verraten allerdings umso mehr über die Vorstellungen von Morris über das K Z Auschwitz: Das Lager wurde durch ein Bild von bellenden Hunden und dem berüchtigten Dr. Mengele repräsentiert, der an der Rampe stand und alle Ankommenden höchstpersönlich selektierte. Unikoski sollte dieses vereinfachende Bild der Geschichte durch seine Angaben bestätigen. Die individuellen Erfahrungen von Unikoski traten demnach durch die Fragen des Interviewers in den Hintergrund beziehungsweise wurden instrumentalisiert, um bestehende mediale Darstellungen über das K Z Auschwitz zu bestätigen. Im Vergleich zum frühen Interview mit Boder wird weiterhin deutlich, dass sich die Erwartungshaltungen gänzlich verschoben haben. 1946 wollte Unikowski allgemeine Geschichten über das kollektive Leid der Juden erzählen und abstrahierte von seinen eigenen Erfahrungen, die ihm nicht wichtig genug erschienen. Boder hingegen erfragte mehrfach die persönlichen Erlebnisse seines Interviewpartners und wollte keine allgemeinen Geschichten über andere Personen oder das kollektive Leid hören. In der Aufnahmesituation von 1946 hatte Boder als Interviewer nur wenig Wissen über die historischen Ereignisse oder konkrete Täter, er war allerdings auch nicht an den allgemeinen Ereignissen, sondern vielmehr an Unikowskis individuellen Erfahrungen interessiert. In den späteren Aufnahmen mit dem JHC und der SF war das historische Wissen sowohl von Unikoski als auch von beiden Interviewern sehr viel größer. Im Gegensatz zur Aufnahme von 1946 wollte Unikoski in den 1990er Jahren über seine persönlichen Erlebnisse berichten, wohingegen die Interviewer des JHC und der SF eher die ihnen bereits bekannten Informationen, etwa über das K Z Auschwitz, bestätigt wissen wollten. Damit hatten sich die Erwartungen von Unikoski und den Interviewern im Vergleich von 1946 bis in die 1990er Jahre gewissermaßen umgekehrt: von Unikoskis Bedürfnis, das Allgemeine zu erklären, hin zu seinem Drang, persönliches zu erzählen, und von Boders Anliegen, nur die individuellen Erlebnisse abzufragen, zu der Bestätigung der allgemein bekannten Geschichte des Judenmords in Auschwitz. Diese Beispiele machen deutlich, dass es insbesondere die verschiedenen Motive des Befragten sowie der jeweiligen Interviewer und der dazugehörigen institutionellen Vorgaben waren, die das Wiedererzählen beeinflussten. Anhand eines Vergleichs der Schlusspassagen der Interviews lassen sich die Unter162 Vgl. Ecker, Mengele, S. 40-42.
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schiede der Motive und Ziele der Interviews besonders eindrücklich in der Fokussierung auf die eingeforderten moralischen Botschaften aufzeigen. Boder konstatierte gegen Ende seiner Aufnahme, dass es sich um ein gelungenes Interview gehandelt habe, und gab Unikowski den Ratschlag, seine Erlebnisse ausführlich zu dokumentieren und alles aufzuschreiben.163 Der Psychologe gab zu verstehen, dass er sich darüber bewusst war, nicht alle Erinnerungen von Unikowski aufgezeichnet zu haben. Diese Anmerkung von Boder verdeutlicht, dass die Form des Interviews nicht nur aus einer Aneinanderreihung von Fragen und Antworten besteht, sondern es sich vielmehr um eine komplexe soziale Interaktion handelt.164 Die Kontrastierung von Boders Ratschlag an Unikowski mit den Schlusssequenzen der späteren Interviews lässt indes eklatante Unterschiede erkennen. Boder hatte Unikowski ermutigt, seine Erinnerungen aufzuschreiben, da es sich um historisch wertvolle Informationen handele. Die persönlichen Erfahrungen von Unikowski als Person standen im Mittelpunkt, die Masse der Toten habe Boder schließlich nicht mehr befragen können. Ganz im Gegensatz dazu stand am Ende der Videoaufzeichnung des JHC die Aufforderung des Interviewers an Unikoski, den kommenden Generationen einen Rat zu erteilen. In der letzten Minute des Interviews ereignete sich folgender Dialog: Morris: Just one final question which will sum this up/ well, let’s say sum it up. What advice would you give to the upcoming Jewish generation today, as a result of your life’s experiences? Unikoski: [3 sec.] I cannot give advice. I can only say a wish.165 Unikoski sollte seine Erfahrungen interpretieren und basierend auf der Deutung einen Ratschlag formulieren, der im Sinne einer Lehre aus dem Holocaust für die zukünftige jüdische Generation dienen solle. Diese Aufforderung fiel Unikoski sichtlich schwer, er blickte zunächst für drei Sekunden mit offenem Mund in die Kamera und überlegte (vgl. Abb. 4). Schließlich antwortete er, dass er keinen Rat erteilen könne, er habe vielmehr einen Wunsch, der wiederum sehr persönlich sei. Sein Enkel, über den er zuvor ausführlich gesprochen hatte, solle sich an die Verbrechen an den Juden erinnern und seine jüdische Identität bewahren. Dies war Unikoski, der angegeben hatte, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg seinen Glauben an Gott verloren hatte, besonders wichtig. Der Befragte wendete die Aufforderung des Interviewers nach einem allgemeinen Ratschlag damit in eine persönliche Botschaft an seine Familienangehörigen. Dahingehend ist der elementare Unterschied zwischen persönlichen Botschaften von Überlebenden zu allgemeinen Lehren zu 163 Vgl. Unikowski, Boder 1946. 164 Vgl. Henry Greenspan; Sidney Bolkosky: When Is an Interview an Interview? Notes from Listening to Holocaust Survivors, in: Poetics Today 27, 2006, S. 431-449, hier S. 433. 165 Unikoski, JHC 1995.
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beachten, wie Greenspan aufgezeigt hat: »Many survivors have ›messages‹ (not the same as ›lessons‹) that vary enormously in content but similarly reflect a drive to transmit.«166 Eine persönliche Mitteilung an die eigene Familie ist demnach nicht gleichbedeutend mit einer universellen Lehre aus dem Holocaust. Die Bedeutung von sinnstiftenden Lehren aus dem Holocaust lag insbesondere in der Klassifizierung des Interviews als Holocaust Testimony begründet, dem eine moralische Lektion inhärent sei. Doch was ist, um mit Reemtsma zu fragen, der Nutzen der Mitteilung der Leiderfahrung?167 Dem Leid der Opfer des Holocaust wurde hier eindeutig ein Zweck zugesprochen. Im krassen Gegensatz etwa zu der kritischen Anmerkung der Auschwitz-Überlebenden Ruth Klüger, welche die K Z s als »die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen«168 klassifiziert hat, wurden Leiden und Lernen unmittelbar miteinander verknüpft, die Erfahrung des Holocaust habe dadurch nachträglich einen spezifischen Abb. 4: Jack Unikoski weiß keinen Sinn. In der Vorstellung von Maisel, der Rat für die zukünftigen Generationen die Interviewkonzeption am JHC entschieim Interview mit dem Jewish Holoden geprägt hatte, habe die extreme Gewalcaust Centre in Melbourne, Australien (15. September 1995). Interviewer: terfahrung zu einer spezifischen Art, über die Welt nachzudenken, geführt, und daMoshe Morris. her sollten die jüdischen Überlebenden eine universelle Botschaft vermitteln, die Maisel als »the universal message of tolerance, understanding and brotherhood«169 benannt hat. Eine klare begriffliche Trennung zwischen Botschaften (messages) und Lehren (lessons) ließ sich in der konkreten Wortwahl von Unikoski und Maisel zwar schwerlich nachvollziehen, allerdings trat die inhaltliche Differenzierung deutlich in den Vordergrund: Der universelle Anspruch unterscheidet Lehren von persönlichen Botschaften.170 Das pädagogische Ziel der Vermittlung von 166 167 168 169 170
Vgl. Greenspan et al., Enaging Survivors, S. 194. Vgl. Reemtsma, Memoiren, S. 22 Klüger, weiter leben, S. 91 Maisel, First Hand, S. 75. Zur Unterscheidung der Botschaften von Überlebenden im Gegensatz zum An-
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moralischen Lehren griff Morris als Interviewer für das JHC explizit auf, als er nach einem Ratschlag für die heranwachsende jüdische Generation fragte. Unikoski wurde demnach als eine Art Geschichtslehrer und Pädagoge imaginiert, eine Rolle, die sich durch seine Identität als Zeuge des Holocaust begründet, wie Annette Wieviorka ausgeführt hat.171 Und gerade weil sich Wieviorka als Historikerin dieser Entwicklung bewusst war und sie dies mehrfach in wissenschaftlichen Publikationen kritisiert hat, verwundert es auch nicht, dass in ihrem Interview mit Unikoski in Paris für das USHMM im Jahr 2004 jegliche Aufforderungen zu moralischen Botschaften oder universellen Lehren des Holocaust fehlen.172 Im Interview mit der SF, das drei Jahre nach der Videoaufzeichnung des JHC im Frühjahr 1998 stattfand, schien Unikoski die Bedeutung seines Interviews als Holocaust Testimony und die damit verbundenen Erwartung an universelle Lehren hingegen internalisiert zu haben. Zum Schluss der Videoaufnahme erzählte er über seine Befreiung im K Z Buchenwald, die im Gegensatz zu seiner Darstellung im Interview mit Boder nicht mehr eine aktive Geschichte von bewaffneter Befreiung war, sondern eher die Allgegenwärtigkeit des Todes betonte.173 In diese Erzählung fügte Unikoski einen spontanen Dank an die SF ein und erklärt darin auch sein Verständnis der Funktion seines Interviews: Unikoski: I find that we are the remnants of millions of/ of/ of/ people. And that’s why I want to take this opportunity actually to say thank you for the organizers of this tape. Because I feel that this tape is a tombstone/ for my brothers, for my sister, for my family and for the millions of/ buried somewhere in an/ unknown graves. Let this tape be/ be a tombstone for the future generations.174 Unikoski suchte beim Sprechen anfänglich nach Worten, es klingt in der Videoaufnahme fast so, als ob er stottern würde, als er über die Masse der Ermordeten spricht. Er bedankte sich bei der SF als Institution dafür, dass sie diese Videoaufnahme ermöglicht hatte, und führte aus, dass er das Video als Grabstein für seine ermordeten Familienangehörigen und die Millionen Toten
171 172 173
174
spruch an die Interviews als »Testament« für die Nachwelt vgl. Henry Greenspan: On Testimony, Legacy and the Problem of Helplessness in History, in: Holocaust Studies: A Journal of Culture and History 13, 2007, S. 44-56, hier S. 55 ff. Vgl. Wieviorka, Era, S. 133. Wieviorkas Interview mit Unikoski und Kestenberg endete mit einem kompakten Dankeschön an die beiden Interviewten. Zur Transformation seiner Geschichte über die Befreiung siehe Daniel Schuch: Recounting Buchenwald. Three interviews with one survivor over 50 years, in: Practices of Memory and Knowledge Production. Papers from the 22nd Workshop on the History and Memory of National Socialist Camps and Extermination Sites, hg. von Denisa Nešťáková, Katja Grosse-Sommer, Janine Fubel, Christoph Gollasch, Borbála Klacsmann und Mareike Otters (im Erscheinen). Unikoski, V H A 1998.
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des Holocaust begreife. Seine Reflexion darauf, dass das Interview als Grabstein eine Erinnerung an die Ermordeten für die zukünftigen Generationen sein solle, lässt sich als Ausdruck der Kernprinzipien der SF interpretieren. Bereits im Vorinterview hatte der Interviewer Unikoski mit der Frage nach einer moralischen Botschaft konfrontiert. Unikoski kombinierte in dieser Sequenz seines Interviews mit der SF die Aufforderung, eine allgemeine Lehre zu formulieren, mit einer persönlichen Botschaft an seine Familie. Allerdings verwendete er nicht die erwünschten Begriffe wie Toleranz und Versöhnung, die eine Message for the Future enthalten sollte. Zusätzlich formulierte er seine Botschaft nicht an der dafür vorgesehenen Schlusssequenz des Interviews, was Zylberszpic als Laieninterviewer völlig zu überfordern schien. Der Interviewer schwieg nach Unikoskis Ausführungen für ganze sechs Sekunden, was eine unangenehme Stille in der Videoaufnahme erzeugte. Nach dieser längeren Pause kehrte er schließlich wieder zur Chronologie der Erzählung von Unikoski zurück: Zur Befreiung in Buchenwald. Die vorgegebene Strukturierung des Interviews durch den PIQ und den Interviewleitfaden erlaubte ein Abweichen vom intendierten Plan kaum, die eigensinnige Einfügung von Unikoskis Botschaft brachte daher auch den Ablauf der Aufzeichnung erheblich ins Stocken. Insgesamt lassen sich mehrere grundlegende Konflikte im Wiedererzählen der verschiedenen Interviews mit Unikoski zusammenfassen. Die jeweiligen Perspektiven und Zwecke der Interviews unterschieden sich gravierend und prägten dadurch auch die Fragen der Interviewer sowie die Erzählungen des Befragten. Während Boder 1946 persönliche Erfahrungen aufzeichnen wollte, war es Unikowskis Anliegen, über das kollektive Leid der Juden zu berichten. Die Interviewer des JHC und der SF wollten hingegen eher eine Bestätigung ihrer Metageschichte des Holocaust: Bekannte historische Ereignisse sollten durch Unikoskis persönliche Erzählung illustriert werden. In den 1990er und 2000er Jahren verfügten sowohl Unikoski als auch die späteren Interviewer über wesentlich umfangreicheres historisches Wissen über die Ereignisse und Zusammenhänge des Holocaust, der im Zentrum der späteren Interviews stand. In der Analyse von Funktionalisierungen des Erzählten als Sinngebung der persönlichen Erfahrung wurde in den späteren Interviews zudem eine universalisierende Dimension eröffnet: Unikoski sollte als Holocaust-Überlebender moralische Botschaften und sinnstiftende Lehren aus dem Holocaust für zukünftige Generationen formulieren. Dieser Aufforderung verweigerte er sich gegenüber dem JHC zunächst und gab an, dass er keine Ratschläge erteilen könne. Wie am Beispiel seiner Botschaft im Interview mit der SF aufgezeigt wurde, verknüpfte Unikoski seine persönliche Erinnerung an die ermordeten Familienangehörigen mit einem allgemeinen Aufruf, der Millionen Toten des Holocaust zu gedenken. Dadurch versuchte er den Interessenkonflikt zwischen seinem persönlichen Anspruch an das Interview als Hinterlassenschaft für seine Familienangehörigen und der Erwartungshaltung hinsichtlich sinngebender Lehren beizulegen.
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»I don’t want to consider myself a victim« (Janine Oberrotman, geb. Binder) Janina Binder, die im August 1946 von Boder in Paris interviewt worden war, verblieb noch sieben weitere Jahre in der französischen Hauptstadt, bevor sie 1953 in die USA emigrierte. In der Pariser Unterkunft lernte sie ihren späteren Ehemann Joseph Oberrotman kennen, der ebenfalls aus Polen stammte und das Warschauer Ghetto überlebt hatte. 1950 heirateten die beiden, ein Jahr später wurde ihr erster Sohn geboren. Bis 1953 warteten sie noch auf Ausreisegenehmigungen, und am 1. Februar bestiegen sie im nordfranzösischen Le Havre die SS America.175 Janine Oberrotman und ihre Familie fanden in Skokie, einem nördlich gelegenen Vorort von Chicago in Illinois ihre neue Heimat. In den folgenden Jahren bekamen sie zwei weitere Söhne, und Janine Oberrotman war als Hausfrau und Mutter sowie als Französisch-Tutorin tätig. Bereits seit den späten 1950er Jahren war Oberrotman Teil einer lokalen Gruppe von Holocaust-Überlebenden.176 Deren Treffen dienten anfänglich nur dem persönlichen Austausch unter den jüdischen Emigranten, ohne explizit die Erfahrungen des Holocaust zu thematisieren, jedoch änderte sich dies in den Folgejahren. Insbesondere nachdem der rechtsradikale Aktivist Frank Collin seine Anhänger der National Socialist Party of America (NSPA ) 1977 dazu aufgerufen hatte, in der Kleinstadt Skokie, die eine äußerst hohe Dichte an HolocaustÜberlebenden aufweist, zu demonstrieren, engagierte sich Oberrotman ebenfalls in lokalen Initiativen für die öffentliche Erinnerung an den Holocaust.177 1981 wurde in Skokie als Reaktion auf die geschichtsrevisionistische Provokation der NSPA schließlich ein Museum als Gedenkort an den Holocaust eröffnet, das seit 2009 unter dem Namen Illinois Holocaust Museum and Education Center bekannt ist: Der Kampf gegen Geschichtsrevisionismus und Neonazismus in den USA gehört zur Gründungsgeschichte des Museums.178
175 Die Datumsangaben der Abreise in Europa und Ankunft in den USA sind nicht einwandfrei zu bestimmen. Janine Oberrotman hat wiederholt den 23. Februar als Datum der Ankunft nach einer einwöchigen Überfahrt angegeben, auf einer Abreiseliste des JDC vom 28. Februar 1953 ist der 1. Februar als Abfahrtsdatum aus Frankreich vermerkt, vgl. Erfassung von befreiten ehemaligen Verfolgten an unterschiedlichen Orten, 3.1.1.3/78795982/ITS Digital Archive, Arolsen Archives. 176 Die biographischen Angaben über ihr Leben in den USA basieren auf einem persönlichen Gespräch des Autors mit Janine Oberrotman an ihrem Wohnort in der Nähe von Chicago am 13.06.2017. 177 Zur Bedeutung der antifaschistischen Proteste in Skokie vgl. Lipstadt, Holocaust, S. 90 ff. 178 2013 veröffentlichte das Museum einen Film auf DVD unter dem Titel: »Skokie: Invaded But Not Conquered«, siehe UR L : https://www.ilholocaustmuseum.org/ skokie/; letzter Zugriff am 14.08.2019.
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Die Vermittlung von moralischen Lektionen aus dem Holocaust besaß bereits seit der Gründung einen besonderen Stellenwert: The mission of Illinois Holocaust Museum & Education Center is expressed in our founding principle: Remember the Past, Transform the Future. The Museum is dedicated to preserving the legacy of the Holocaust by honoring the memories of those who were lost and by teaching universal lessons that combat hatred, prejudice and indifference. The Museum fulfills its mission through the exhibition, preservation and interpretation of its collections and through education programs and initiatives that foster the promotion of human rights and the elimination of genocide.179 Von diesen Zielen der sogenannten Holocaust Education180 wurde auch Oberrotman beeinflusst, die seit Jahrzehnten im Museum aktiv ist und bis heute Vorträge hält und einige Texte über ihre Erfahrungen des Holocaust publiziert hat.181 Die Eröffnung des USHMM in Washington, D. C., 1993 verfolgte sie aufmerksam und registrierte sich dort Mitte der 1990er in der Database of Holocaust Survivor and Victim Names als Überlebende.182 Dieser Status als gesellschaftlich anerkannte Holocaust-Überlebende und die damit verbundene Rolle als Zeugin der NS -Verbrechen prägte ihr Wiedererzählen in den späteren Interviews mit der SF und dem USHMM grundlegend. Der folgende Vergleich der drei Interviews ergibt das Bild einer Überwindung des eigenen Opferstatus und der prozesshaften und erfolgreichen Abwehr von Schuldgefühlen aufgrund des eigenen Überlebens. Das gewandelte Selbstbild von Oberrotman vom passiven Opfer bei Boder zur aktiven Überlebenden in den späteren Interviews in den 1990er und 2000er Jahren wirkte sich sowohl auf die erneute Erzählung der eigenen Verfolgungsgeschichte als auch auf die Darstellung und Re-Interpretation der Bedeutung der Ermordung ihrer Familienangehörigen aus. Als Oberrotman Mitte der 1990er im Alter von 69 Jahren eine Interviewanfrage der SF für die Sammlung des VHA erhielt, war sie bereits lange Zeit als Akteurin der lokalen Geschichtskultur aktiv und Teil einer Gruppe von Holocaust-Überlebenden in der Region Chicago. Das Interview der SF wurde am ersten März 1995 von der Laieninterviewerin Wendy Lipsman im Wohn179 Illinois Holocaust Museum: Mission, UR L : https://www.ilholocaustmuseum.org/ pages/about/mission/; letzter Zugriff am 29.07.2021. 180 Vgl. Avril Alba: Lessons from History? The Future of Holocaust Education, in: A Companion to the Holocaust, hg. von Simone Gigliotti und Hilary Earl, Hoboken, Chichester 2020, S. 599-617, hier S. 600. 181 2009 beteiligte sich Oberrotman etwa an einem Sammelband des Museums über die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden, vgl. Esther Yin-Ling Spodek; Matthew Sackel: In Our Voices. Stories of Holocaust Survivors, Skokie 2009, S. 40-45. 182 Vgl. USHMM , Database of Holocaust Survivor and Victim Names, UR L : https:// www.ushmm.org/remember/resources-holocaust-survivors-victims/database-of-ho locaust-survivor-and-victim-names; letzter Zugriff am 27.07.2021.
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zimmer von Oberrotman geführt und als Video Testimony aufgezeichnet.183 Die Aufnahme bestand aus vier Videokassetten und hatte eine Dauer von knapp zwei Stunden. Acht Jahre später wurde Oberrotman aufgrund ihrer Registrierung als Holocaust-Überlebende am USHMM zudem im Kontext der Suche des Boder-Projekts von Ringelheim und Hedlund gefunden und 2003 für ein erneutes Interview am Museum angefragt. Am 30. März 2004 führte Ringelheim daraufhin ein weiteres Interview mit Oberrotman in einem Aufnahmestudio in Washington, D. C., dessen Aufzeichnung aus 11 Videokassetten bestand und eine Länge von etwa fünfeinhalb Stunden hatte.184 Beide späteren Interviews wurden auf Englisch geführt. Ein Vergleich der Aufnahme von Boder mit jener des USHMM gibt erste Einblicke in das gewandelte Selbstbild von Janine Oberrotman. Um mit der Interviewpartnerin über die Aufnahme von Boder ins Gespräch zu kommen, spielte Ringelheim gegen Ende des Interviews mit dem USHMM Abb. 5: Janine Oberrotman reagiert im Interview des USHMM (30. den Beginn der Audioaufzeichnung von März 2004) mit stark ablehnender 1946 an. Oberrotman reagiert mit starker Mimik und Gestik auf das Vorspielen Mimik und Gestik auf die Audiowiedergabe ihrer frühen Audioaufnahme von (vgl. Abb. 5). David Boder aus dem Sommer 1946 Mit ablehnenden Gesten wie Kopfschüt- in Paris. Interviewerin: Joan Ringelteln kommentiert sie wortlos Boders falsche heim. Aussprache ihres Mädchennamens Binder. Auf Nachfragen von Ringelheim stellte sich heraus, dass Oberrotman selbst im Besitz einer digitalen Kopie ihres Interviews mit Boder war. Über Dritte war sie zuvor auf die Website Voices of the Holocaust aufmerksam gemacht worden, in dessen Rahmen auch ihr Interview mit Boder virtualisiert worden war. Auf Ringelheims Frage, ob sich Oberrotman an 183 Vgl. Janine Oberrotman, 01.03.1995, Interview 1190, USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education, letzter Zugriff am 16.09.2019. Im Folgenden; Oberrotman, V H A 1995. 184 Vgl. Oral history interview with Janine Oberrotman, 30.03.2004, RG -50.562*0004, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn514926; letzter Zugriff am 27.07.2021. Im Folgenden: Oberrotman, USHMM 2004.
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das Interview mit Boder überhaupt noch erinnern könne, antwortete sie verneinend und erklärte anschließend, warum sie mit der Onlinepublikation ihres frühen Interviews nicht einverstanden war: Ringelheim: You don’t remember. Oberrotman: Not at all, not/ and I was so amazed when my friend informed me that my interview was on the internet, and I couldn’t believe it. I said, ›That’s not possible, I was never interviewed.‹ And well/ and I/ and yes, and I went to the internet, and I saw my name. Ringelheim: And you saw the transcript? Oberrotman: I didn’t see the transcript. Ringelheim: Uh-huh. Oberrotman: I don’t know how I/ I wa/ I actually/ I don’t know, I had a di/ I/ I wasn’t that well versed in the computer use that I could do that. So I think I notified then my son, and he located it right away. Ringelheim: Right. Oberrotman: He located it and he provided me with everything. And I told him I’m not happy with having it published without my permission, and he located whoever was in charge of that project, and/ and they removed my name/ Ringelheim: Right, right. Oberrotman: /and my tape and everything off the internet. And this is how it wasn’t listed. It was not listed on the list of interviewees. Ringelheim: Right, it was taken off. Oberrotman: Right.185 In dieser Erzählung von Oberrotman wird die Verbindung zu der in Kapitel I.3 besprochenen Projektgeschichte der Website Voices of the Holocaust unmittelbar ersichtlich: Das Team der GL aus Chicago hatte ohne die Zustimmung von Oberrotman das Interview mit Boder virtuell zugänglich gemacht, und durch die Intervention einer ihrer Söhne erwirkte die Überlebende schließlich, dass die Audioaufzeichnung sowie das Transkript von der Website entfernt wurden. Dies war der einzige Fall, bei dem sich eine Überlebende gegen die Veröffentlichung ihres Interviews mit Boder ausgesprochen hatte.186 Weitere Nachfragen von Ringelheim machten das Unbehagen von Oberrotman mit der Aufnahme von Boder noch deutlicher. Wie durch die Analyse ihres Interviews mit Boder bereits deutlich geworden ist, war es Binder 1946 äußerst schwergefallen, über ihre Erfahrungen während des Zweiten Welt185 Oberrotman, USHMM 2004. 186 Vgl. Expertengespräch des Autors mit Ralph Pugh und Kristin Standaert vom Voices-Team in der GL in Chicago am 15.06.2017. Durch mehrfache Gespräche mit Janine Oberrotman konnte sie in den Folgejahren davon überzeugt werden, dass ihr Boder-Interview unschätzbaren Quellenwert besitzt, heute ist die Audioaufnahme wieder online zugänglich.
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kriegs zu sprechen. Aufgrund starker emotionaler Reaktionen wie Weinen hatte Binder ihre Erzählung in der frühen Aufnahme mehrfach unterbrochen. Dies reflektierte Oberrotman auch 2004 und betonte: »I felt myself be very vulnerable during that interview.«187 Ringelheim griff diesen Aspekt auf und hakte nach: Ringelheim: And did you feel he was being aggressive, or you were afraid of him, do you think? Oberrotman: I think I was afraid of him. I think he must have reminded me of my Professor Napadiewich. He had that way about him, you know, like condescending way of a professor speaking down to his student. Not an American professor, but a German professor, or the Russian professor from before the war, which is a different thing.188 In Reaktion auf Ringelheims Frage, ob Oberrotman 1946 Angst vor Boder gehabt hätte, gab die Befragte an, dass der fast 60-jährige Interviewer die damals 21-jährige Frau an ihren russischen Professor erinnert habe und sein Interview sehr autoritär geführt gewesen sei. Dies habe sie stark eingeschüchtert. Daher gefalle ihr die Aufnahme aus der Perspektive mit fast 60 Jahren Abstand auch nicht mehr, und insbesondere gegenüber ihrem eigenen Verhalten war sie dahingehend sehr kritisch: Ringelheim: What did you think when you listened to yourself ? Oberrotman: Well, I didn’t like myself too well/ Ringelheim: /Why? Oberrotman: /on that tape. I don’t know. I/ I/ I/ maybe because it’s different to look at it from the hindsight. I felt that I/ I/ I shouldn’t be fee/ feeling so/ so vulnerable, that I should have been more responsive to his questions in terms of if I didn’t like him I could have said so. But I didn’t, I/ it seemed to me that I wanted to tell him what he wanted to hear. Ringelheim: You wanted to please him? Oberrotman: Yes, right. Ringelheim: Yeah. Oberrotman: I/I have this feeling now. I don’t know if it’s I/I/ that, too, may be incorrect, but that’s what I think. But you know, it’s all speculation, you specu/ you speculate about things like that. Ringelheim: Right.189 Oberrotman betonte gegenüber Ringelheim ausdrücklich, dass es sich bei ihren Angaben über das Interview mit Boder um nachträgliche Betrachtungen und Spekulationen handele, womit sie ihre eigenen Angaben relativierte. Je187 Oberrotman, USHMM 2004. 188 Ebd. 189 Ebd.
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doch bestätigte sie ausgehend von ihrer Perspektive im Jahr 2004 eindeutig, dass sie sich gegenüber Boder sehr verletzlich gefühlt hatte. Direkt im Anschluss ergänzte Oberrotman, dass sie Boders Arbeit nun sehr wertschätzen könne. Sie lobte den Psychologen und sein Interviewprojekt als eines der wenigen, die überhaupt Interesse an den Geschichten der Überlebenden gezeigt habe: »I have a great admiration for him, you know, nobody wanted to hear our stories, nobody did, really.«190 Der Grund für das Bedürfnis, ihr Interview mit Boder der Öffentlichkeit zu entziehen, schien somit nicht vordergründig in der als autoritär empfundenen Befragung durch Boder gelegen zu haben, da sie dessen Projekt nachträglich sogar äußerst positiv bewertete. Vielmehr war es ihr eigenes unsicheres und beschämtes Sprechen in der Audioaufnahme von 1946, das ihr äußerst unangenehm war, da es nicht zu ihrem Selbstbild zur Zeit des späteren Interviews im Jahr 2004 passte. Deutlich wurde dies auch in anderen Episoden aus der Aufzeichnung der SF. Als die Interviewerin Oberrotman gegen Ende des Videos von 1995 nach den Gründen ihres eigenen Überlebens fragte, was im VHA unter dem Schlagwort Survival Explanations aufgeführt ist, gab sie folgende Antwort: Lipsman: Why do you think that you survived? Oberrotman: I don’t know. I don’t know. I’ve been asking myself this question and I have no answer. I still don’t have an answer, I hope I find the answer before I die but I really don’t know.191 Die Frage des eigenen Überlebens beschäftigte Oberrotman demnach jahrelang, doch sie konnte keine Antwort darauf finden, warum gerade sie überlebt hatte. Wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellte, waren es die Kinder von Janine Oberrotman, die sie davon überzeugt hatten, das Interview mit der SF anfertigen zu lassen. Innerhalb ihrer Familie hatte sie nie über den Holocaust gesprochen, daher wollten ihre Kinder eine Interviewaufzeichnung von ihrer Mutter: Oberrotman: They did want to have a tape. My son was actually instrumental/ my oldest son I have to say was instrumental in me getting involved in this. He brought me the information he made sure I’d send it in. So there you are.192 Diesen Bezug zu ihren Kindern griff Lipsman als Interviewerin der SF an dieser Stelle auf und verknüpfte ihre vorherige Frage nach den Gründen des Überlebens mit der obligatorischen Frage nach einer Message for the Future: Lipsman: What message would you like to give to your children and grandchildren 50 years after the war? 190 Ebd. 191 Oberrotman, V H A 1995. 192 Ebd.
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Oberrotman: [3sec] I would like them to remember their heritage. I would like them to have an identity. I would like them to have a Jewish identity and be proud of it/ ehm/ and not to hide from it in turns of/ even though the experiences were so difficult. Yet, we survived and I don’t/ I don’t want to consider myself a victim. I would like to consider myself as somebody who/ who survived. Why I don’t know. And I would like to/ yeah sometimes I ask myself that question. And as a matter of fact I do it quite often now since I am getting older and older so that makes it, you know, more important.193 Oberrotmans Antwort auf die Frage nach einer Botschaft an ihre Kinder und Enkel war äußerst vielschichtig: Sie formulierte eine Botschaft für ihre Familiennachkommen, interpretierte ihre Erfahrungen des Holocaust und entwarf ein deutlich gewandeltes Selbstbild. Ihre Kinder und Enkel sollten ihre jüdische Herkunft erinnern, die sie als Erbe bezeichnete. Um den Holocaust in eine stolze jüdische Identität integrieren zu können, betonte sie nicht die Millionen von Ermordeten, sondern das Überleben von Juden. Sie integrierte sich somit in das Kollektiv von Holocaust-Überlebenden. Gleichzeitig grenzte sie ihr eigenes Selbstbild deutlich davon ab, ein passives Opfer zu sein. Obgleich sie die Gründe des eigenen Überlebens nicht erklären könne und noch immer darüber nachdenke, definierte sie sich als Survivor und betonte damit ihre Aktivität. Die gesamte Erzählung im Interview mit der SF war eine Geschichte des (eigenen) Überlebens und stand damit im Gegensatz zu ihrer Darstellung in der Aufnahme von 1946. Im Interview mit Boder hatte Binder einen doppelten Status als Opfer: Zu ihren mit Scham besetzten Erinnerungen an das erfahrene Leid im Ghetto und dem bezeugten Massenmord an den Juden trat zusätzlich die Scham als passives Objekt der Befragung gegenüber dem als autoritär empfundenen Psychologieprofessor Boder hinzu. Dieser Opferstatus wurde im Interview mit der SF im Jahr 1995 eindeutig vom Selbstbild als aktive Überlebende abgelöst. Inwieweit sich die Erzählungen von Binder/Oberrotman in den drei Aufnahmen von 1946, 1995 und 2004 unterscheiden, kann besonders deutlich an einer Episode aufgezeigt werden, in der sie über die Ermordung ihres Großvaters sprach. Im Interview mit Boder führte sie die Erzählung folgendermaßen ein: Binder: Und nachher im (unverständlich) im (unverständlich) war eine Aktion für äh die alten Menschen. Nur für die Alten. Boder: Nur für die Alten? Binder: Ja, da hat man die Brücke geschlossen äh die (unverständlich) Brücke in äh/ Boder: Lemberg? 193 Ebd.
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Binder: / in äh Lemberg, bevor man ins Ghetto hereinkam, nicht? Und im jüdischen Bezirk war ei/ äh eine Brücke. Da hat man alle Menschen, alte Menschen gefangen und es war furchtbar. Die hat man ähm/ wenn hat die (2 Sek.) Sachen abgenommen, nicht. Ganz nackt/ Boder: Die Kleider abgenommen? Binder: Ja [1 Sek.] Ja. Boder: Wo hat man das getan? Binder: Das hat man getan. Das war die kleine Kirche, nicht? Neben äh der Brücke, wo man das getan hat. Die hat man furchtbar geschlagen und da war äh ein Berg neben Lemberg, nicht? Boder: Ja. Binder: Da hat man die gleich alle aufgereiht auf dem Platz, nicht. Dann hat man sie nicht nach Bełżec gebracht, sondern dort äh an der Stelle umgebracht, nicht [1 Sek.] Das war furchtbar, mein/ mein Großvater war damals [2 Sek.] (unverständlich) Boder: Ihr Großvater wurde damals erschossen? Binder: Ja. Boder: Und was haben die mit den Leichen getan? Binder: Die hat man äh [1 Sek.] in die/ da hatten/ das war äh manchmal so, dass einer von denen/ das Grab für den Anderen graben, nicht?194 Binder schilderte 1946, dass ihr Großvater im Ghetto Lemberg verhaftet wurde, und kontextualisiert dies mit der Angabe über eine »Aktion« für alte Menschen. Der Großvater sei an Ort und Stelle entkleidet, ermordet und anschließend auf ein Auto verladen worden. Boder hatte versucht, die Erzählung von Binder zu verstehen, und fragte schließlich, ob ihr Großvater damals erschossen wurde, was Binder sofort bejahte. Auf seine Nachfrage, ob dieses Wissen gesichert sei, antwortet sie mit der Bestätigung, dass ihr Onkel das Auto mit den nackten Leichen gesehen habe. Der Hinweis auf die Augenzeugenschaft ihres Onkels hatte demnach eine Beweisfunktion in ihrer Erzählung über die Ermordung des Großvaters. Ein Vergleich dieser Erzählung mit den Interviews aus den Jahren 1995 und 2004 ergibt hingegen ein deutlich anderes Bild. Im Interview mit der SF leitete sie ihre Erzählung damit ein, dass ihr Großvater im jüdischen Wohnbezirk nach einer Wohnung für den bevorstehenden erzwungenen Umzug der Familie in das Ghetto Lemberg gesucht hatte. Damit betonte Oberrotman den Aspekt einer aktiven Handlung ihres Großvaters. Er sei dort in einen Hinterhalt der Deutschen geraten: »Whoever went there this time was taken.«195 Anschließend erwähnte sie wieder einen Lieferwagen mit nackten Menschen und erklärt dazu: 194 Binder, Boder 1946. 195 Oberrotman, V H A 1995.
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Oberrotman: And we were told that the vans with naked people were seen and/ well my grandfather never came back as many other people and we were told that they might have been either gassed on the spot/ they may have been gassed in the vans but I’m not sure that was so, or taken also to that particular camp in Bełżec or/ very often people were taken to a place in Lwów which was called sands, the sand mountain and that’s were they were killed.196 In dieser Wiedererzählung der Geschichte über die Ermordung ihres Großvaters fehlte der Verweis auf die Augenzeugenschaft ihres Onkels. Vielmehr bestätigt Oberrotman mit ihrer Darstellung sogar, dass es sich um Geschichten vom Hörensagen handelte – »we were told« – und sie sich gar nicht sicher sei, ob ihr Großvater und die anderen Alten erschossen oder durch Gas getötet wurden. In der Erzählung dieser Geschichte im Interview mit dem USHMM bestätigte Oberrotman sogar explizit, dass es sich um Gerüchte handelte und sie kein genaues Wissen über den Tod ihres Großvaters habe. Ähnlich wie Boder fragte Ringelheim, ob ihr Großvater erschossen worden sei, doch Oberrotman reagierte 2004 völlig anders als im Jahr 1946: Ringelheim: You’re talking about August forty-two round-up, right? Oberrotman: That was August forty-two. Until then/ then my father/ my grandfather went to look for a place, and/ Ringelheim: Right. And he was shot. Oberrotman: /and/ and he was [1 sec] I don’t know wa/ no, he wasn’t shot. I don’t know what happened […].197 Anstatt die Antwort ihrer Interviewpartnerin abzuwarten, erzählte Ringelheim – die sowohl das Interview mit Boder als auch jenes mit der SF kannte – in ihrer Funktion als Interviewerin an dieser Stelle die Geschichte von Oberrotman aus den früheren Interviews nach. Doch Oberrotman widersprach Ringelheims eindeutiger Aussage, dass ihr Großvater erschossen worden sei, und gab an, dass sie dies gar nicht genau wisse. Sie schien sich nicht dazu verpflichtet zu fühlen, ihre Geschichte zu vereindeutigen. Vielmehr gestand sie offen ihr fehlendes Wissen ein, sprach über mögliche Erklärungsansätze und ließ eine finale Deutung oder ein eindeutiges Urteil offen. Im Anschluss bestätigt sie nochmals, dass ihre damaligen Informationen hauptsächlich auf Gerüchten beruhten: Oberrotman: And later on the rumors were that/ that they shot them, that they/ the rumors were that they saw naked people on the trucks […] and then they said they gassed them with the carbon monoxide in the trucks, or they took them somewhere where they shot them on the hills. They 196 Ebd. 197 Oberrotman, USHMM 2004.
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used to call na/ na piaski. Piaski meaning sands. On the sands, na piaski. They killed them o/ on the sands. And voila, and that’s it. And/ and/ and then my father/ grandfather never came back.198 Wer genau diese Gerüchte erzählte, blieb in ihrer Erzählung unklar, aber ihren Onkel erwähnte sie gegenüber Ringelheim nicht mehr als Augenzeugen. Diese Unterschiede in den drei Erzählversionen über die Ermordung ihres Großvaters im Ghetto Lemberg sind auch darauf zurückzuführen, dass sich die Interaktionen mit den verschiedenen Interviewern von Interview zu Interview stark verändert hatten. Während sich Binder im Jahr 1946 als junge Frau vor dem als autoritär empfundenen Boder fürchtete, ließ ihr Lipsman im Interview für die SF 1995 sehr viel Raum für freie Erzählungen. Die Passivität der Interviewerin hat zur Folge, dass Oberrotman viel ausführlicher erzählte. Da kaum Nachfragen zu ihren Ausführungen gestellt wurden, musste sie sich auch nicht rechtfertigen oder bestimmte Aspekte begründen. Ringelheim dagegen war 2004 wesentlich aktiver in ihrer Interviewführung, sie stellte oftmals Nachfragen, allerdings keine, die die Glaubwürdigkeit von Oberrotman in Frage gestellt hätten. Ringelheim war sowohl historisch versiert als auch mit Oberrotmans vorherigen Interviews bestens vertraut und schuf damit ein starkes Vertrauensverhältnis. Dies ermöglichte es Oberrotman, auch Widersprüche einzugestehen, etwa, dass sie nicht genau wissen könne, was mit ihrem Großvater im August 1942 geschehen war, lediglich, dass er niemals zurückkehrte. Diese Unterschiede in der Interviewführung sind somit einer von vielen Faktoren, die das Wiedererzählen von Oberrotman prägten. In der Erinnerung an ihr Interview mit Boder hatte Oberrotman an einer anderen Stelle gegenüber Ringelheim angegeben, »it seemed to me that I wanted to tell him what he wanted to hear.«199 Dies könnte auch eine Erklärung für ihre Angabe auf die vermeintliche Augenzeugenschaft ihres Onkels gewesen sein. Binder wollte 1946 eine glaubhafte Geschichte erzählen, um das von ihr als furchtbar geschilderte Leid zu bezeugen. In den beiden späteren Interviews war ihr Anliegen vielmehr die Betonung der Geschichte ihres eigenen Überlebens. Ihr gewandeltes Selbstbild vom Opfer zur aktiven Überlebenden prägte somit auch an dieser Stelle die erneuten Erzählungen. Auf die institutionelle Prägung von Oberrotmans Erzählung durch die Forderung nach einer Botschaft seitens der SF wurde bereits weiter oben eingegangen. Ringelheim erfragte als Interviewerin des USHMM hingegen keine Botschaft oder Lehre, sondern vielmehr die persönliche Bedeutung des Holocaust für Oberrotmans weiteres Leben: Ringelheim: Do/ do you have a sense of how this history has affected you? Oberrotman: I’m working on it. 198 Ebd. 199 Ebd.
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Ringelheim: You’re working on it. It’s hard, isn’t it? Oberrotman: I’m working on it. Yeah, I/ I still don’t know how to ge/ explain it. I think that if I was formed by the Holocaust, I was much more formed by my upbringing and my genes. And/ and the Holocaust may have reinforced what was there, or destroyed some of it. I ya/ Ringelheim: Did it make you cynical in any way about human beings? Oberrotman: I don’t think so. I don’t think so. No, no, and I/ didn’t destroy my faith either.200 Als professionelle Interviewerin mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Holocaust-Überlebenden versuchte Ringelheim aus Oberrotmans Erlebnissen keine lehrhafte Botschaft zu extrahieren. Vielmehr fragte sie gegen Ende des Interviews nach individuell-biographischen Auswirkungen des Holocaust, wie dies auch in den Interview Guidelines des Museums vorgegeben war.201 Oberrotman beschrieb die Bewältigung der eigenen Geschichte nachfolgend als einen fortlaufenden Prozess, sie arbeite noch immer daran. Allerdings negierte Oberrotman, die sich nicht als Opfer des NS begreifen wollte, eine vollständige Determination durch ihre Erlebnisse während des Krieges: »I was much more formed by my upbringing and my genes.« Ihr Leben nach 1945 sei dementsprechend nicht vollständig durch die Erlebnisse während der NS -Verfolgung determiniert, sondern durch etliche andere Faktoren geprägt gewesen. Wie stark Oberrotman allerdings über Jahrzehnte mit der Verarbeitung der Extremerfahrungen zu kämpfen hatte, wird am Beispiel einer anderen Episode deutlich. Im Vergleich von Oberrotmans Erzählungen über die Ermordung ihres Vaters im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska lässt sich deutlich aufzeigen, wie sich ihr Verhältnis zu eigenen Schuldgefühlen verändert hatte: Im direkten Abgleich ihrer Erzählungen von 1946, 1995 und 2004 wird deutlich, dass sie ihre Scham aufgrund des eigenen Überlebens überwinden konnte. Im Interview mit Boder hatte sie davon berichtet, dass ihr Vater verhaftet und in ein Lager verschleppt worden war, wohin ihm die Familie Essen geschickt hatte. Sie benannte eine Verhaftungswelle im Ghetto, die zwei Wochen angedauert habe, weshalb sie sich zusammen mit ihrer Mutter eine Woche lang im Ghetto versteckte und sie in dieser Zeit dem Vater kein Essen mehr schicken konnten. Binders Erzählung über den Tod ihres Vaters war im Interview von 1946 äußert schwer verständlich, ein längerer Ausschnitt aus dem Transkript macht dies deutlich: Binder: Äh und hat uns nicht gefunden. Wir damals Glück gehabt. Aber diese Zeit, das war eine Woche, nicht? Und da konnte meinem Vater nichts schicken. Da hat er schon keine Kraft zum Arbeiten, nicht? Wenn man keine Kraft hat, dann ist man schon umgebracht, nicht? 200 Oberrotman, USHMM 2004. 201 Ringelheim, Donahue, Rubin, Guidelines, S. 35-36.
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Boder: Ja. Binder: Und er wurde umgebracht, ich wusste das von dem/ meinem Onkel, der in diesem äh Lager ein Arzt war, nicht? Da hat er mir das gesagt (unverständlich). Boder: Ihr Onkel war ein Arzt im Lager? Binder: Ja. In diesem Lager, wo mein äh Vater äh starb als Arbeiter. Boder: Äh hat er ihren Vater gesehen? Binder: Ja. Boder: Und was äh was hat ihm passiert? Binder: Was/ mein Vater war/ hatte kein/ keine Kraft, hatte nichts zu essen, er war ganz apathisch [1 Sek.] ist ganz körperlich gebrochen, nicht. Er hatte überhaupt keine Kraft, er hat alles verloren, nicht. Boder: Ja. Binder: Hatte überhaupt keine Kraft zu arbeiten. Boder: Ja. Binder: Und da hat er ein sehr äh [1 Sek] strengen äh Nachseher, nicht? Boder: Ja. Binder: Und da hat er (unverständlich). Boder: War der Nachseher ein Jude? Binder: Nein. Boder: Nein. Binder: Das war ein Deutscher. Boder: Und der hat ihn erschossen? Binder: Ja. Boder: Und das hat ihr Onkel gewusst? Binder: Ja, weil er wusste nicht wie/ das heißt oder er hat mir gesagt mein Onkel, dass mein Vater nicht zur Arbeit gekommen [1 Sek.] äh gegangen nicht von der Arbeit zurückkam.202 In gebrochenem Deutsch gab die junge Polin gegenüber Boder an, dass ihr Vater aufgrund der fehlenden Nahrung stark geschwächt gewesen war und deshalb nicht mehr arbeiten konnte. Er habe seine körperliche und seelische Kraft verloren, sei »apathisch« gewesen und deshalb ermordet worden. Binder erwähnte einen »strengen Nachseher«, womit sie vermutlich einen Funktionshäftling oder eine Wache meinte. Ganz ähnlich wie in Binders Erzählung über die Ermordung ihres Großvaters war es Boder, der die Frage stellte, ob der Vater von dieser Person erschossen worden sei, was Binder wiederum sofort bejahte. Ebenfalls gab Binder erneut die Augenzeugenschaft ihres Onkels als Wissensquelle an. Einen Zusammenhang zwischen den ausbleibenden Lebensmitteln und dem Tod des Vaters stellte Binder in dieser Erzählung zwar her,
202 Binder, Boder 1946.
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allerdings wurde nicht ersichtlich, ob sie sich selbst oder der Mutter die Schuld am Tod des Vaters zuschrieb. Im Interview mit der SF im Jahr 1995 erzählte sie die Geschichte von der Ermordung ihres Vaters im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska erneut. Sie gab abermals an, dass ihr Vater seinen Lebenswillen verloren habe, er sei zum »Muselmann« geworden, was sie explizit als Lagersprache benannte. Die physische und psychische Schwächung beschrieb sie demnach ähnlich wie bei Boder, doch ihre Interpretation der Geschichte hatte sich grundlegend verändert. Sie reflektierte explizit die Fragen nach Verantwortung und Schuld: Oberrotman: And for a longest time I felt that/ I felt so guilty that he died because we didn’t send him any food and/ we really couldn’t, we couldn’t get out and/ and then I thought oh maybe he didn’t die because we didn’t send him any food [1 sec] maybe he died because/ because he lost his will to live because he thought that since we didn’t send him any food that we were taken and that there’s no reason for him to live any more [1 sec] and I decided that this wasn’t true either and it took me fifty years to decide that. He didn’t die because we didn’t give him food. He didn’t die because he lost will to live. He was killed. [7 sec] Well anyway […].203 Mit Tränen in den Augen und zittriger Stimme erzählte Oberrotman 1995 im Interview mit der SF, dass sie sich seit der Nachricht über den Tod ihres Vaters mit den Gründen desselben auseinandergesetzt habe und lange mit sich selbst gerungen habe, ob sie die Schuld an seinem Tod tragen würde. Erst zum Zeitpunkt des Interviews, also nach über 50 Jahren, sei sie zu dem Schluss gekommen, dass die Schuld nicht bei ihr liege, sondern ihr Vater von den Nazis ermordet worden war. Ganze sieben Sekunden schaute sie nach dieser existenziellen Erkenntnis zu Boden, was darauf hindeutet, dass sie emotional sehr aufgewühlt war. Innerhalb dieser Unterbrechung intervenierte auch die Interviewerin nicht, und so schien sich Oberrotman wieder zu sammeln und fuhr nach der Pause mit fester Stimme mit den Worten »well anyway« mit ihrer Erzählung über ihr Versteck im Ghetto fort. Ihre Verarbeitung der Schamgefühle, die in der psychologisierenden Debatte über Holocaust-Überlebende oftmals unter dem Begriff der »Überlebensschuld«204 behandelt worden ist, prägte demnach ihre Erzählung stark. Im Interview mit dem USHMM , das neun Jahre nach der Aufzeichnung der SF stattfand, erzählte Oberrotman die Geschichte über die Ermordung ihres Vaters erneut. Als Informationsquelle gab sie gegenüber Ringelheim ebenfalls an, dass ihr Onkel im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska interniert gewesen war und dieser sie nachträglich über den Tod des Vaters informiert ha-
203 Oberrotman, V H A 1995. 204 Vgl. Leys, Überlebensschuld, S. 86-115.
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be.205 Oberrotman erwähnte in dieser Erzählversion noch ein neues Detail: Ihr Vater habe am Tag seiner Verhaftung Kartoffeln für die Familie organisiert. Erneut betonte sie damit eine aktive Handlung, die als Ausgangspunkt der späteren Ermordung erzählt wurde. Diese Angabe über die Handlungen ihres Vaters führte dazu, dass sie wieder über ihre Schuldgefühle sprach: Oberrotman: Yeah, he was taken when he was bringing the potatoes for us. Ringelheim: I see, right, okay. Oberrotman: And I felt terrible because I said ›What if he didn’t bring the potatoes for us?‹ He did it for us. And I lived with that for years and years and years. And/ and I felt guilty for my father’s death, until I realized that it wasn’t us who killed/ who killed him, right? Ringelheim: Right. Certainly not. Oberrotman: Right.206 Abermals gab Oberrotman zu verstehen, dass sie sich jahrelang schuldig gefühlt hatte, insbesondere aufgrund der Begebenheit, dass ihr Vater Essen für die Familie geschmuggelt hatte. Doch wie bereits im Interview mit der SF 1995 kam sie zu dem Schluss, dass nicht sie selbst verantwortlich für den Tod ihres Vaters war, worin ihr Ringelheim emphatisch zustimmte. Deutlich wurde durch diesen Vergleich der drei Erzählversionen, dass sich insbesondere die Interpretation und Bewertung bestimmter Erinnerungen verändert hatte und dies eng mit der Betonung von Aktivität und Passivität sowie einem gewandelten Selbstbild zusammenhing. Im Wiedererzählen eröffnete sich für Oberrotman die Möglichkeit, die erinnerten Ereignisse neu zu interpretieren und sie in die eigene Biographie und ihr neues Selbstbild als Holocaust-Überlebende zu integrieren.207 Die Tatsache der Ermordung ihres Vaters hatte sich nicht gewandelt, was sich aber geändert hatte, war ihr Verhältnis zu diesem Ereignis in Form von Gefühlen der Schuld und Verantwortung sowie die Art und Weise, wie sie die Erzählung in die eigene Biographie und Familiengeschichte integrieren konnte. Durch den jahrelangen Prozess des Nachdenkens und der Vergegenwärtigung der belastenden Vergangenheit befreite sich Oberrotman nach mehreren Jahrzehnten in den USA von den Schuldgefühlen aufgrund der Ermordung ihres Vaters. Das eigene Überleben, im Gegensatz zum Tod des Vaters und der anderen Familienangehörigen, betonte sie schließlich als ihre neue Identität: Als Holocaust-Überlebende wollte Oberrotman das jüdische Erbe ihrer Familie als Vermächtnis für ihre Nach205 Über diesen Onkel ergänzte Oberrotman im USHMM -Interview noch, dass es sich eigentlich um den Cousin der Mutter gehandelt habe, sie hätte ihn nur Onkel genannt, vgl. Oberrotman, USHMM 2004. 206 Ebd. 207 Die Bedeutung der Re-Interpretation als Bewältigungsstrategie belegen auch aktuelle Studien über die narrative Bewältigung von Traumata, vgl. Schumann, LuciusHoene, Wiedererzählen als Möglichkeit, S. 95.
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kommen hinterlassen. Demnach stand für sie seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr das schamhafte Schuldgefühl, sondern das positive Selbstbild als Überlebende im Vordergrund des Erzählens. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich nicht der Inhalt der Erzählungen von Oberrotman, wohl aber die Interpretation und Darstellung der eigenen Erfahrungen verändert hatten. Die Interaktion mit den unterschiedlichen Interviewern war in allen drei Aufnahmen sehr verschieden. Gegenüber dem aktiven und von Binder 1946 als autoritär empfundenen Psychologieprofessor Boder war Lipsman als Laieninterviewerin der SF in der Aufnahme von 1995 auffallend passiv. Ringelheim agierte wiederum als eine sehr engagierte Gesprächspartnerin und war stets im Dialog mit Oberrotman, ohne dabei ihre Erzählungen zu unterbrechen. Im Vergleich zum nur knapp 30-minütigen Interview von 1946 waren die weitaus umfassenderen Erzählungen in den Videoaufzeichnungen der SF und des USHMM insbesondere darauf zurückzuführen, dass sich die Aufnahmebedingungen und Ressourcen stark verändert haben. Anders als in der Pariser Unterkunft bei Boder konnte Oberrotman in ihrem Wohnzimmer beziehungsweise in einem professionellen Aufnahmestudio in Ruhe erzählen. Nach Jahrzehnten in den USA konnte sich die gebürtige Polin Oberrotman im Englischen zudem wesentlich besser ausdrücken, als dies 1946 in gebrochenem Deutsch der Fall war. Zudem hatte sich die Deutung der Erlebnisse gewandelt: Im Interview mit Boder stellte Binder ihre Geschichte aus einer Opferperspektive dar und sprach hauptsächlich über das für sie kaum beschreibbare Leid und den sinnlosen Tod ihrer Familienangehörigen. Ihre späteren Interviews sind hingegen eher als Geschichten des (eigenen) Überlebens zu begreifen. Die einprägsame Formulierung »I don’t want to consider myself a victim«, die Oberrotman 1995 im Interview mit der SF tätigte, kann dahingehend als eine fundamentale Verschiebung interpretiert werden: Es handelte sich bei ihren späteren Interviews um Geschichten der Befreiung von Schuld und Scham. Der Wandel im Wiedererzählen war somit stark durch ihr verändertes Selbstbild geprägt. Und dies wirkte sich ebenso auf ihre Darstellung der Ermordung ihrer Familienangehörigen aus. In ihren späteren Erzählungen wurden nachträglich alle zu handelnden Akteuren, sie waren keine sinnlosen und passiven Opfer mehr. Diese Re-Interpretation der erlebten Vergangenheit passte zugleich zu den geschichtskulturellen Erwartungshaltungen der befragenden Institutionen, wie insbesondere am Beispiel des Interviews mit der SF aufgezeigt wurde. Oberrotmans Status als gesellschaftlich anerkannte Holocaust-Überlebende war für ihr Selbstbild in den späteren Interviews konstitutiv und diese Anerkennung war gleichzeitig damit verbunden, die eingeforderten Lehren aus der eigenen Geschichte in ihren eigenen Worten zu formulieren.
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»You can’t hate the rest of your life« (Alan Kalish, geb. Heisler) Ende Juni 2003 erreicht den 76-jährigen Pensionär Alan Kalish ein Brief von Elizabeth Hedlund in Florida, in dem die Mitarbeiterin des USHMM ihre Hoffnung ausdrückte, dass sie einen weiteren ehemaligen Interviewpartner von David Boder gefunden habe: According to our records, one of the survivors interviewed was named Adolf Heisler, born around 1927-28 in Czynadowo (sic), Czechoslovakia. Mr. Heisler was sent to the Mukachevo ghetto and was later interned at Auschwitz, Jawiszowice and Buchenwald. He was interviewed by Professor Boder in Geneva, Switzerland, in August 1946. We understand that you may have used the name Adolf Heisler in the past. We are writing in the hope that you are the person we are looking for. […] Even if you not recall being interviewed, Mr. Kalish, if the birthplace and other information above match yours, we would appreciate hearing from you.208 Über den Abgleich der Lebensdaten von Heisler mit den Angaben zu einem Interview von Alan Kalish im VHA hatte Hedlund tatsächlich einen weiteren ehemaligen Interviewpartner von Boder gefunden. Der damals 19-jährige Adolf Heisler hatte 1946 aus Genf Kontakt zu Verwandten in den USA aufgenommen und war im Juni 1947 nach New York emigriert. Zunächst fand er eine Unterkunft bei zwei Brüdern seines ermordeten Vaters, die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert waren. In den USA nahm er den Namen Alan Kalish209 an, besuchte eine Abendschule, lernte Englisch und arbeitete als Industriemechaniker. 1949 lernte er seine Frau kennen, die er 1950 heiratete. Die beiden bekamen zwei Töchter und zogen 1966 in den Südosten der USA nach Florida. Dort wurde Kalish am 7. Juni 1996 im Auftrag der SF erneut interviewt. Die Laieninterviewerin Laura Smith befragte den 69-Jährigen in seinem Wohnzimmer, die Videoaufzeichnung umfasste vier Kassetten und hatte eine Länge von etwa einer Stunde und 40 Minuten.210 Sieben Jahre später stimmte Kalish der Interviewanfrage des USHMM zu und wurde am 24. Oktober 2003 von Joan Ringelheim in einem Aufnahmestudio in Washington, D. C., erneut befragt. Die Videoaufnahme des USHMM umfasste sechs Kas-
208 Elizabeth Hedlund, Brief an Alan Kalish (25.06.2003), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Alan Kalish. 209 In den Interviews mit der SF und dem USHMM gab Kalish an, dass es sich um den Familiennamen der Großmutter handelte. 210 Vgl. Alan Kalish, 07.06.1996, Interview 16228, USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education; letzter Zugriff am 08.05.2019. Im Folgenden: Kalish, V H A 1996.
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setten und hatte eine Länge von knapp 170 Minuten.211 Die beiden späteren Interviews wurden auf Englisch geführt. Der Inhalt der Erzählungen in den drei Interviews war insgesamt sehr ähnlich, die späteren Videoaufnahmen waren allerdings deutlich länger als die nur knapp 40-minütige Audioaufzeichnung von Boder und enthielten ausführlichere Erzählungen über Kalishs Erlebnisse von Mai 1944 bis April 1945 sowie weitere Angaben über die Kindheit des Befragten in seiner Heimat in Tschynadijowo und sein Leben nach 1945 in den USA . In seinem Interview mit Boder Ende August 1946 hatte der 19-jährige Heisler bereits unmittelbar in der ersten Minute von seiner Deportation nach Auschwitz berichtet, und die gesamte Erzählung war von Versuchen geprägt, das Erlittene zu begreifen. Mehrfach hatte er gegenüber Boder betont, dass er und seine Leidensgenossen noch im Mai 1944 keinerlei Wissen über die Judenverfolgung in ganz Europa hatten. Die völlig unerwartete Verhaftung und Deportation habe ihn und die anderen Juden in der von Ungarn besetzten Provinz in Transkarpatien daher besonders stark getroffen. In seinem jiddisch gefärbten Deutsch schilderte er: »Wir haben absolut nichts gewusst und wir waren ganz verdreht, wir waren schon abnormal von die ganzen Geschichten, was ist vorgegangen.«212 Die Bedeutung des fehlenden Wissens über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs betonte er auch in den beiden späteren Interviews, konnte sich dort im Englischen, wie dies auch bereits bei Janine Oberrotman aufgezeigt wurde, wesentlich besser ausdrücken als gegenüber Boder auf Deutsch: Kalish: I mean, we were totally isolated from the world. The only reason we knew what/ a war was going on, because we heard the guns when the Germans invaded Poland. Ringelheim: Did you have a radio? Kalish: No. We had no electricity.213 Da er und seine Familie in der ländlichen Siedlung weder ein Radio noch Zugang zu Zeitungen gehabt hatten, wussten Alan Kalish und seine Angehörigen de facto nichts über den Krieg oder die Judenverfolgung, bis sie im Mai 1944 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurden. Die daraus resultierende Ohnmacht und Fassungslosigkeit war im Interview mit Boder ein Jahr nach Kriegsende noch immer stark präsent gewesen. Im Vergleich zu seinen späteren Interviews veränderte sich die Darstellung und die Interpretation dieser Erlebnisse erheblich: Kalish fand in den Folgejahren eine Form für die 1946 noch kaum begreifbaren Erfahrungen und konnte die Erlebnisse in seine Lebensgeschichte integrieren. Explizit betonte er zudem, dass ihn seine Verfolgungs211 Vgl. Oral history interview with Alan Kalish, 24.10.2003, RG Number: RG 50.562.0002, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn514242; letzter Zugriff am 28.07.2021. Im Folgenden: Kalish, USHMM 2003. 212 Heisler, Boder 1946. 213 Kalish, USHMM 2003.
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erfahrungen nicht verbittern ließen und er sich weigere, den Rest seines Lebens zu hassen. Entgegen der simplifizierenden Annahme, dass jede Erzählung von Holocaust-Überlebenden per se eine positive Botschaft von Versöhnung enthalte, lässt sich anhand des Wiedererzählens von Kalish detailliert nachvollziehen, welche Bedeutung Toleranz trotz und wegen Auschwitz in seinen Interviews spielte und welchen Einfluss sowohl seine Familie als auch die Erwartungshaltungen der Institutionen darauf hatten. Eine auffällige Gemeinsamkeit aller drei Aufnahmen besteht darin, dass es in allen Fällen Dritte waren, die Kalish zu einem Interview motiviert hatten. Während der Videoaufnahme des DOH von 2003 fragte Ringelheim danach, ob sich Kalish an das Interview mit Boder erinnern könne, was er verneinte: Ringelheim: In/ in August of 1946, a psychologist named David Boder was in Geneva interviewing people. Do you have any recollection of being interviewed back then? Kalish: I/ I had a slight, a very, very slight/ but don’t remember/ I don’t [indecipherable] what he looked like, but I do remember now that you brought it up that he was interviewing/ somebody was interviewing me. And that’s about all.214 Ringelheim versuchte anschließend, die Erinnerungen von Kalish durch das Anspielen seiner Audioaufnahme von 1946 aufzufrischen. Nach mehreren Nachfragen zu Details der Interviewsituation gab sie ihr Vorhaben aber schließlich auf und wirkte etwas enttäuscht, dass sie aufgrund der ausbleibenden Erinnerung von Kalish keine Fragen zum Interview mit Boder stellen konnte, obwohl dies eines der zentralen Ziele der erneuten Befragung gewesen war. Zum Schluss dieses Abschnitts ergänzte die Interviewerin allerdings noch die Nachfrage, wer ihn damals darauf aufmerksam gemacht habe, mit Boder zu sprechen: Ringelheim: I guess I can’t ask you any questions about it/ Kalish: No. Ringelheim: Because/ do you have any recollection of who told you talk with him? Kalish: It was Madame Goldman. She was in charge of ORT down there, and/ and she was the one who’s/ thought I should talk to him. And she was a very nice lady.215 Demnach wurde Heisler 1946 von der Leiterin der ORT-Schule in Genf zu seinem Interview mit Boder motiviert. In den beiden späteren Videoaufnahmen waren es erneut Dritte, die ihn davon überzeugt hatten, sich interviewen 214 Ebd. 215 Ebd.
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zu lassen: Zu dem Interview der SF 1996 hatte ihn seine Frau Doris überredet, und nur aufgrund der Anfrage des Teams um Ringelheim für das BoderProjekt am USHMM sprach er im Jahr 2003 erneut über seine Erinnerungen an den Holocaust. Erneut eröffnet sich daher eine kollektive Dimension des Wiedererzählens, das durch soziale Prozesse geformt ist. Daher müssen sowohl die Auswirkungen der Ziele und Methoden der beteiligten Organisationen und konkreten Interviewer als auch die veränderten Erwartungshaltungen an die Interviews von Kalish und seinen Familienangehörigen in den Blick genommen werden, um deren Einflüsse auf das Wiedererzählen analysieren zu können. Diverse Unterschiede in den drei Aufnahmen von Heisler lassen sich insbesondere aufgrund der veränderten Fragen der verschiedenen Interviewer aufzeigen. Boder hatte 1946 in der kurzen Audioaufzeichnung sehr viele Detailfragen über die Erfahrung bestimmter Ereignisse, wie etwa die Deportation im Zug nach Auschwitz, gestellt. Sie dienten zum einen der vergleichenden Rekonstruktion der historischen Ereignisse und waren zum anderen methodisch in seiner Forschung über die traumatischen Auswirkungen der Extremerfahrungen begründet. Als Interviewerin für die SF war Laura Smith 1996 im Interview mit Kalish ebenfalls auffallend aktiv und stellte viele Nachfragen.216 Ringelheim war als Interviewerin für das USHMM wiederum sehr gut informiert – sowohl über die historischen Kontexte von Heislers Verfolgungserfahrungen als auch über seine Erzählungen aus den beiden vorangegangenen Aufnahmen. Ein exemplarischer Vergleich der Erzählungen von Heisler/Kalish über seinen Aufenthalt in der Krankenstation eines Außenlagers des K Z Buchenwald zwischen Ende März und Anfang April 1945 verdeutlicht zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Wiedererzählen. Im Interview mit Boder hatte Heisler ausführlich davon berichtet, dass er aufgrund der harten Zwangsarbeit im Steinbruch des Buchenwalder Außenlagers Crawinkel so stark geschwächt war, dass er zu einer Krankenstation transportiert werden musste. Seine Angaben waren kaum strukturiert und schwer verständlich. Auf Boders Frage nach einer Ortsangabe antwortete er mit der Benennung des Lagers in Ohrdruf und erwähnte ein Krematorium, was Boder wiederum mit einer Gaskammer assoziiert hatte. Die Erzählung war dramatisch, und zugleich blieb an vielen Stellen unklar, was Heisler eigentlich mitteilen wollte, er schien die Erinnerung 1946 selbst kaum in Worte fassen zu können. Die befürchtete Ermordung von ihm und den anderen erkrankten Zwangsarbeitern bildete das zentrale Motiv der Erzählung. Der Vergleich dieser Episode in allen drei Interviews macht deutlich, dass es eine konstante Deutung dieser Erinnerung gab: Der junge Mann war während der Woche im 216 Dies ist auch als Argument dafür zu begreifen, dass es keine vollständig determinierende Interviewmethodik der SF gibt, sondern die individuellen Interviewer erheblichen Einfluss auf die jeweiligen Befragungen hatten.
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Krankenrevier kurz vor Ende des Krieges dem Tod am allernächsten. 1946 sagte er darüber zu Boder: »Und ich habe mir gesagt, es waren dort nur kranke Menschen, ›Ich gehe nicht mehr zu Fuß, sollen sie mich hier töten.‹«217 Seinen Lebenswillen hatte er in dieser Situation demnach verloren. 50 Jahre später erzählte Kalish die Geschichte im Interview mit der SF erneut, allerdings äußerst knapp. Er sei in Crawinkel aufgrund des vorangegangenen Todesmarsches aus dem K Z Auschwitz durch den tiefen Schnee und die harte Zwangsarbeit so stark geschwächt gewesen, dass man ihn auf eine Krankenstation verlegt hätte. Ähnlich wie Boder 1946 wollte auch die Interviewerin Smith wissen, wo genau sich Kalish damals aufgehalten hat: Smith: And were was this? Kalish: That was also/ some part of Germany [1 sec.] and eh/ Smith: Do you have a name? Do you know where it was? Kalish: I don’t know, I don’t know the name. There/ it was a place where you are going to die basically.218 Eine genaue Ortsangabe konnte Kalish im Interview der SF an dieser Stelle nicht geben und beschrieb stattdessen die Krankenstation nicht etwa als einen Ort der Genesung, sondern als einen Platz, an den man ging, um zu sterben. Erneut benannte er seinen Zustand als Schwebe zwischen Leben und Tod und führte kurz darauf aus: »You became an animal. You know, death doesn’t mean anything any more.«219 Im Wissen um die vorangegangenen Erzählungen von Kalish in den Aufnahmen von Boder und jener im VHA hakte Ringelheim in ihrem Interview 2003 an dieser Stelle der Geschichte nach. Sie gab Kalishs Angaben allerdings einen eindeutigen begrifflichen Rahmen: Ringeheim: So you were/ you were laying there, and wanted to die, th/ Kalish: That’s right, yeah. Ringeheim: So were you then a/ a muselman as far as they were concerned? Kalish: I just/ I would say yes, I was a muselman by that time. And then all of a sudden the Americans were approaching. So, they didn’t want anybody to see that, so they put us in trucks and took us to Buchenwald.220 Den Begriff des Muselmanns hatte Ringelheim im Interview knapp 11 Minuten zuvor selbst eingeführt. Ihre Einstiegsfrage zu Beginn der vierten Kassette eröffnete einen Austausch über die Bedeutung des abfälligen Lagerbegriffs: Ringeheim: Alan, did you ever hear the word muselman? Kalish: Yes. Ringeheim: What did it/ what did that mean? 217 218 219 220
Heisler, Boder 1946. Kalish, V H A 1996. Ebd. Kalish, USHMM 2003.
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Kalish: Muselman was a person who was all emaciated, and ready to/ ready for the heap. Ringeheim: Do you know the derivation of that word, where it comes from? Kalish: No. Ringeheim: No. Kalish: No. The funny/ I say the funny part, the sad part of it, you know, what do you call it, people in the camp used to make fun if somebody was going down to that point, it/ you’re a muselman, and didn’t want to have anything to do with you anymore. That means you were/ that’s h/ that’s how it be/ that’s how cruel we became, you know? You’re a muselman, and that means you are ready to go for the heap. You’re not going to be around too long. Ringeheim: So people would avoid that person/ Kalish: Correct. Ringeheim: /and not even/ not help them. Kalish: No.221 In Reaktion auf Ringelheims Frage beschrieb Kalish einen Muselmann als jemanden, der extrem ausgemergelt und bereits kurz vor dem Tod war, in seiner Beschreibung »ready for the heap«, in freier Übersetzung also etwa bereit für den Müllhaufen. Gleichzeitig betonte er die soziale Abwertung dieser Personen: Sie wurden verspottet, gemieden, und niemand half ihnen mehr.222 Ringelheims Frage nach der Herkunft des Muselmann-Begriffs erinnerte wiederum stark an die Fragen von Boder. Auch er hatte 1946 mehrere Interviewpartner gefragt, ob sie die Bedeutung und Herkunft des Begriffes kennen würden.223 Bei Boder hatten diese Fragen allerdings einem anderen Zweck gedient: Er interessierte sich für die Kultur und die soziale Ordnung des Lagersystems. Bei Ringelheim hingegen schien die Frage nicht der Wissensgenerierung über den Begriff als Ausdruck der Hierarchien innerhalb der Lager zu dienen. Vielmehr verwendete sie das Wort als Zuschreibung für den Zustand von Kalish: Sie erfragt von ihm eine Bestätigung dieser Zuschreibung als Muselmann. Damit schien Ringelheim in diesem Abschnitt des Interviews eher eine Metageschichte über die Konzentrationslager fortzuschreiben, als in einen Dialog über die spezifischen Erfahrungen ihres Interviewpartners zu treten. Kalish thematisierte seinen Zustand zwischen Leben und Tod im Krankenbau von Ohrdruf in allen drei Interviews, allerdings gewichtete er die Bedeu221 Ebd. 222 In neueren Forschungen über das Phänomen der Muselmänner wird dieser soziale Prozess der Ausgrenzung in den Häftlingsgesellschaften mit dem Begriff der Muselmanisierung analysiert, vgl. Becker, Bock, Prisoner Societies, S. 159. 223 Im Interview von Boder mit Heisler tauchte der Begriff Muselmann nicht auf, wohl aber in der Aufnahme von Gert Silberbard und anderen Interviewpartnern.
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tung dieser Erinnerung durch die Länge der Erzählung sehr unterschiedlich: In der nur knapp 40-minütigen Aufnahme von Boder hatte Heisler ganze sechs Minuten über seinen Aufenthalt in Crawinkel und über das Krankenrevier in Ohrdruf berichtet, was der Erzählung besondere Bedeutung verliehen hatte. Im 170-minütigen USHMM -Interview umfasste die Geschichte knapp vier Minuten. Insbesondere aufgrund von Ringelheims Zuschreibung der Kategorie als Muselmann und der sich daraus ergebenden Diskussionen gewann die Episode an Bedeutung innerhalb seiner gesamten Erzählung. In der 150-minütigen Aufnahme der SF räumte Kalish der Episode drei Minuten ein – die im restlichen Interview sehr aktive Interviewerin Smith stellt an dieser Stelle allerdings nur wenige Nachfragen. Im Interview der SF wirkte die Geschichte über den Krankenbau im Vergleich zum Rest des Interviews daher eher nebensächlich, besonders weil Kalish dort kaum auf Details einging. Kalishs Entscheidungen, wie ausführlich er über bestimmte Erinnerungen sprach, waren auch dadurch beeinflusst, dass er sich der unterschiedlichen Zuhörer und Zwecke seiner Aufnahmen bewusst war. Die Betonung oder Abschwächung von bestimmten Details des eigenen Leids kann etwa darauf zurückgeführt werden, dass Kalish das Interview mit der SF 1996 mit einer bestimmten Absicht aufzeichnen ließ. Gegenüber Ringelheim führte er 2003 aus, dass er das Video in erster Linie für seine Familie angefertigt hatte. Als Kalish gegen Ende der Aufnahme des USHMM über seine Kinder sprach, fragte Ringelheim danach, ob er mit diesen über seine Erlebnisse während des NS gesprochen habe: Ringelheim: Did you talk to your children as they were growing up? I mean, when they reached a certain age? Kalish: No. Ringelheim: You didn’t? So they knew nothing about your history? Kalish: No. They knew that I was a survivor. Ringelheim: They did? Kalish: They knew I was a survivor, but thi/ I never talked about what, where, when, and how. Ringelheim: And they didn’t ask? Kalish: Now they know because I showed them the Spielberg tape. Ringelheim: Right. Kalish: But/ Ringelheim: But before that/ Kalish: Before/ Ringelheim: /and that was ninety-six. So all these years/ Kalish: All these years I/ I couldn’t/ I couldn’t get myself to talk about it. Ringelheim: And they probably were shy to say/ to ask you. Kalish: Yeah. Ringelheim: Yeah.
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Kalish: Although my wife used to tell them, ›If your father doesn’t want to talk about it, then just leave him alone.‹ Ringelheim: Right. Did you talk about it with your wife? Kalish: Yes. Ringelheim: Did she talk to them about it? Kalish: She would tell them that I was in concentration camp, and I went through hell, but no details.224 Kalish gab zu verstehen, dass er mit seinen Kindern vor 1996 nie über Details seiner NS -Verfolgungserfahrungen gesprochen hatte. Bevor er seinen Kindern das Video der SF gezeigt hatte – das Kalish bezeichnenderweise als »Spielberg tape« benannte –, wussten sie lediglich aus Angaben der Mutter, dass ihr Vater ein K Z überlebt hatte, aber keine Details über »what, where, when, and how«. Zum Interview mit der SF war Kalish wiederum Mitte der 1990er Jahre durch seine Frau Doris überredet worden, wie diese in der Videoaufnahme selbst ausgeführt hat. Gegen Ende des Interviews mit der SF, direkt zu Beginn der vierten und letzten Kassette, veränderte sich der Bildausschnitt der Videoaufzeichnung deutlich. Von der sonst üblichen Kameraeinstellung des shoulder close-up, die einen talking head fokussiert, wurde vom Kameramann etwas herausgezoomt, um im medium close-up nun auch zwei weitere Personen zu filmen. Alan Kalish stellte seine Frau Doris und seine Tochter Francine kurz vor, die rechts neben ihm Platz genommen haben. Im V H A wurde dies im Segment 91 als »loved ones’ introductions« verschlagwortet (vgl. Abb. 6). Das Family Members Segment, das in den Interview Guidelines der SF eigentlich erst nach dem Photographs and Artifacts Segment stattfinden sollte, bildete hier den Beginn der letzten Video-Kassette.225 Zunächst sprach seine Frau Doris und erklärte die Bedeutung des Interviews aus ihrer Perspektive: I’m the one who pushed him to do this interview because I felt that other people should know what happened to all the people who were in the concentration camp and eh/ that/ it’s a good idea so that we/ maybe we make some more believers out of people who think this never happened.226 Doris Kalish führte aus, dass sie ihren Mann zum Interview mit der SF überredet hatte, da es ihr besonders wichtig gewesen sei, die Öffentlichkeit über das Schicksal der Opfer der Konzentrationslager aufzuklären. Das Interview ihres Mannes solle damit als Mittel der Aufklärung dabei helfen, der Holocaustleugnung entgegenzuwirken. Diese Argumentation erinnert an die Beweisfunktion der Interviews als Holocaust Testimony, die ausführlich im Kapitel II .1 am Beispiel des JHC in Melbourne besprochen wurde. Und auch Alan Kalishs 224 Kalish, USHMM 2003 225 Vgl. USC Shoah Foundation, Interviewer Guidelines, S. 14-15. 226 Kalish, V H A 1996.
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Tochter Francine griff dieses Motiv in ihrer Erklärung der Bedeutung des Interviews auf: I just wanted to say that/ ehm/ growing up my father never really talked much about his experiences in/ and also I was very much aware of what went on and it drove me to look further into it […] and it has made me very angry at people who are [1 sec] hateful of other people, who are intolerant of other people for any reason at all and it really makes me angry when I hear people say that this has never happened and I think that/ I’m very glad that he’s doing this because I think it’s very important for future generations that people know what really happened because I think people are going ’round saying that it’s been exaggerated, that it’s all liberal media and we all know that it wasn’t.227 Die Holocausterfahrung ihres Vaters verwandelte sich hier in ein Argument der Tochter für Toleranz und gegen Hass. Nicht nur die Fragen der verschiedenen Interviewer und die Erwartungshaltungen der Institutionen, sondern ebenso die prägende Bedeutung der Familiengeschichte wird daran deutlich. Die Tochter führte aus, dass ihr Vater nie mit ihr über seine Erfahrungen während des Nationalsozialismus gesprochen habe, und bestätigte damit die Angaben ihres Vaters über sein Schweigen innerhalb der Familie. Im Gegensatz zu ihrer Mutter benannte Francine Kalish allerdings weder K Z s noch den Holocaust, sondern nur vage »his experiences in/« und brach den Satz an dieser Stelle ab. Das transgenerationelle Schweigen über die Familiengeschichte des Holocaust schien sich auch in ihrer Erzählung auszudrücken, da sie auf keinerlei konkrete Orte der Verfolgung ihres Vaters rekurrierte. Der zweite Teil ihrer Aussage war wiederum stark in Bezug zur von der SF gewünschten Message for the Future zu verstehen. Gegen Ende der dritten Kassette hatte die Interviewerin ihre Abschlussfrage an Alan Kalish gerichtet, die sich fast wortwörtlich an der Formulierung aus den Guidelines der SF orientierte: »The interviewer concludes the testimony by asking the interviewee if there is anything else s/he would like to add that has not been covered in the interview.«228 So fragte die Interviewerin: Smith: I wanna ask you before we end if you had anything that you’d like to add or any perspective that your experiences have given you on live that you think might be of interest. Kalish: Well I’ll tell you I/ I worked all my life in/ with gentiles […] I am fortunate that I was able to adjust and get along with people.229
227 Kalish, V H A 1996. 228 USC Shoah Foundation, Interviewer Guidelines, S. 14. 229 Kalish, V H A 1996.
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Abb. 6: Alan Kalish im Interview mit der USC Shoah Foundation (07. Juni 1996). Standbild des Family Segment zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter im Visual History Archive. Interviewerin: Laura Smith.
Die Frage von Smith, ob Kalish aufgrund seiner Erfahrungen eine besondere Perspektive auf das Leben gewonnen habe, kann als von der Institution beabsichtigte Lehre aus dem Holocaust interpretiert werden. Kalish gab daraufhin an, dass er sein ganzes Leben mit Nichtjuden zusammengearbeitet habe, und führte aus, dass er sich mit allen Nationalitäten gut verstanden habe. Eine seiner Stärken sei es, dass er mit allen Menschen gut zurechtkomme. Er ergänzte noch, dass er in seinem Beruf auch Deutsche als Vorarbeiter gehabt habe und sich mit ihnen bestens verstanden hätte. Damit drückte er aus, dass er trotz der antisemitischen Verfolgung im NS keine Vorurteile gegenüber Deutschen hege, und betonte seine eigene Toleranz als grundsätzliche Lebenseinstellung. Seine Tochter Francine hatte die Bedeutung von Toleranz hingegen sehr viel stärker als eine Art Konsequenz und Lehre aus dem Holocaust interpretiert. In ihrem zitierten Monolog hatte sie angegeben, dass es sie besonders wütend machen würde, wenn Menschen intolerant seien oder den Holocaust leugnen würden. Mit ihrem Verweis auf liberale Medien griff sie wiederum einen zentralen Topos von amerikanischen Holocaustleugnern der Zeit auf: Revisionisten behaupteten in den USA in den 1990ern vermehrt, dass die Geschichts-
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schreibung über den Holocaust eine Lüge sei und einer Form von »political correctness« der liberalen Medien und Politik unterliegen würde.230 Das Interview ihres Vaters mit der SF war der Tochter daher insbesondere wichtig, um die kommenden Generationen über die historische Wahrheit aufzuklären: »I think it’s very important for future generations that people know what really happened.«231 Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass Francine Kalish – bewusst oder unbewusst – auf die zentralen Elemente der Funktionalisierung des Erinnerungsinterviews als Holocaust Testimony verwiesen hatte: Die öffentliche Zielgruppe der Videoaufnahme waren zukünftigen Generationen, und der Zweck war ein historischer Beweis der Ereignisse samt deutlicher moralischer Lehre. Ihr Vater Alan Kalish hingegen hatte während des Interviews mit der SF keinen politisch-pädagogischen Anspruch für die Vermittlung seiner Erinnerungen. Und auch in seinem Interview mit dem USHMM sieben Jahre später war keine eindeutige Sinngebung seiner Erfahrungen erkennbar, wohl aber eine Frage nach den persönlichen Folgen der Erlebnisse, die Ringelheim erfragte: Ringelheim: Are you bitter at all about the years that you spent in Europe under the Nazis? Kalish: No. Ringelheim: No. Kalish: If I be bitter, then I be eating myself alive. And I don’t want to do that. I had some German guys working for me, and we became friends. I was invited/ we were invited to/ my wife and I/ to their house and stuff like that. And we/ you just can’t/ you can’t hate the rest of your life. Ringelheim: Right. Kalish: If you do then/ then you’re a loser. It’s easy to hate, and it’s a/ but you just can’t do it. Ringelheim: Is there anything else you’d like to say that I haven’t asked you about, or that you’d like to say? Kalish: Yeah, well all/ all I can tell you is in the States I/ we/ I/ I/ I worked hard, I studied hard. I had a happy marriage. Unfortunately, my wife passed away, and that/ that/ that kind of hit me.232 Dieser Dialog mit Ringelheim eröffnet eine weitere Deutungsebene. Auf die Frage, ob er durch seine Holocaust-Erfahrungen verbittert sei, antwortete Kalish, dass er nicht den Rest seines Lebens mit hasserfüllten Emotionen zubringen wolle. Als Beweis für seine tolerante Lebenseinstellung betonte er erneut seinen freundlichen Umgang mit Deutschen und dass er sich nach dem Krieg 230 Vgl. Deborah E. Lipstadt: Denying the Holocaust. The Growing Assault on Truth and Memory, New York 1994, S. 189. 231 Kalish, V H A 1996. 232 Kalish, USHMM 2003.
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gut mit ihnen verstanden habe. Kalish bezog sich erneut auf seine harte Arbeit in den USA , die für ihn eine wesentlich stärkere identitätsstiftende Funktion zu haben schien als sein Status als Holocaust-Überlebender. Seine berufliche Karriere und die fast 60 Jahre in den USA mit seiner Familie stellte er als ein erfülltes Leben dar. Der Ausdruck der Trauer aufgrund des Todes seiner geliebten Frau bildete den Abschluss seiner Erzählung im Interview mit dem USHMM . Deutlich wurde an dieser Stelle, dass die Interpretation seiner Vergangenheit durch vielfältige persönliche Motive geprägt war. Im Vordergrund stand für Kalish die individuelle biographische Auseinandersetzung mit seinen Erinnerungen. Die Bedeutung seines Interviews mit der SF als Teil der weltweit größten Sammlung von Holocaust Testimonies war eher für seine Familienangehörigen zentral, nicht jedoch für ihn selbst. Bis Mitte der 1990er Jahre wollte Alan Kalish schließlich gar nicht über seine Erfahrungen im Holocaust sprechen und nutzte das Interview mit der SF eher als persönliches Mittel, seine Kinder über seine Vergangenheit zu informieren. Das Interview der SF mit Kalish von 1996 hatte wiederum auch Auswirkungen auf seine persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wie er gegenüber Ringelheim angab. Gegen Ende der vorletzten Kassette erwähnte Kalish, dass er seit dem Jahr 2000 als Zeitzeuge in Schulen auftrete, nachdem er jahrzehntelang gar nicht über seine Erinnerungen hatte sprechen wollen. Diesen Wandel im Umgang mit seiner Vergangenheit griff Ringelheim mit ihrer Einstiegsfrage zu Beginn der sechsten und damit letzten Kassette des USHMM -Interviews auf: Ringelheim: When did you start talking in schools about the Holocaust? Kalish: I would say about three years ago. Ringelheim: So it was very late, af/ after that interview with the Shoah Foundation? Kalish: Yes, yes. Ringelheim: Why did you agree to do that interview do you think, after all these years? Kalish: Well I/ I/ I felt the world should know what was going on, because there was a lot of deniers, and I felt it’s time that we talk up, and/ Ringelheim: /Right. Kalish: And that’s what decided me to go to schools also and talk about it in schools. Ringelheim: Do you enjoy doing that? Kalish: Yeah, I/ I enjoy the questions the kids throw at you, you know.233 Gegenüber Ringelheim begründete Kalish seine Aktivität als Zeitzeuge in Schulen mit dem Argument, dass er Holocaustleugnung in den USA bekämpfen wollte. Er fügte hinzu, dass dies auch bereits der Grund für sein Interview 233 Kalish, USHMM 2003.
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mit der SF im Jahr 1996 gewesen sei: »I felt the world should know what was going on, because there was a lot of deniers, and I felt it’s time that we talk up.« Den Kampf gegen Holocaustleugnung als Motiv für das Interview mit der SF hatte 1996 allerdings gar nicht er selbst, sondern seine Familie angegeben. Es ist schwer, genau zu bestimmen, was der entscheidende Grund für den Wandel seiner angegebenen Motivation darstellte – die Auseinandersetzung mit seiner Familie oder die institutionelle Vorgabe und Interpretation des Interviews als Holocaust Testimony, als Mittel im Kampf gegen Geschichtsrevisionismus, Intoleranz und Hass. Fest steht allerdings, dass Kalish nach dem Interview mit der SF damit begonnen hatte, öffentlich über seine Erinnerungen an den Holocaust zu sprechen. Er gab an, seine Auftritte in Schulen sogar genießen zu können: Durch seine Vorträge konnte er seine sinnlosen Leiderfahrungen zum Zwecke der historisch-politischen Bildung einsetzen. Die politische Botschaft, gegen das geschichtsrevisionistische Phänomen der Holocaustleugnung zu kämpfen, hatte er somit zu seiner Lebensaufgabe im hohen Lebensalter gemacht. Im Vergleich der drei Interviews aus den Jahren 1946, 1996 und 2003 wurden Kontinuität und Wandel im Wiedererzählen insbesondere anhand der Re-Interpretationen der Erinnerungen und aufgrund des Einflusses der veränderten Erwartungshaltungen untersucht. Die Episode seines Aufenthalts im Krankenbau in Ohrdruf gegen Ende des Krieges erwies sich als aussagekräftiger Vergleichspunkt, um die Verarbeitung seiner Erfahrung des Überlebenskampfes zu analysieren. Im Interview mit Boder gestaltete sich seine Erzählung sehr chaotisch: Heisler rang um passende Worte, um deutlich zu machen, dass er beinahe gestorben wäre und unverhofft durch einen Krankentransport nach Buchenwald gerettet worden war. Wie im Interview mit dem USHMM deutlich wurde, war der junge Mann extrem geschwächt und hatte seinen Lebenswillen in dieser Situation verloren. Ringelheim klassifizierte ihn entsprechend als Muselmann und ordnete seine Erfahrung damit ihrerseits in eine Debatte über die Sozialstruktur des Lagers ein. Im Interview mit der SF hatte Heisler hingegen viele Details über diese Erinnerung ausgespart. Diesen Tiefpunkt seines Lebens wollte er nicht in die Videoaufnahme der SF, die als Vermächtnis für seine Familie vorgesehen war, integrieren. Die veränderte Zielgruppe prägte daher auch den Inhalt der Erzählung. Im Vergleich der gewandelten Interpretation seiner Erinnerungen wurde besonders deutlich, dass Alan Kalish zunächst gar kein Interesse an einer Sinngebung seiner Erfahrungen durch die Generierung von Lehren aus dem Holocaust hatte. In der Aufnahme der SF gab er 1996 sogar explizit zu verstehen, dass er sein Leben nicht allein durch die Verfolgung durch die Nationalsozialisten bestimmt wissen wollte. Er betonte vielmehr seine biographischen Erlebnisse nach 1945, seine berufliche Karriere in den USA und die Liebe zu seiner Familie. Angestoßen durch sein Interview mit der SF, insbesondere auch durch die Formulierung von moralischen Lektionen durch seine Familienangehörigen, wandelte sich die Bedeutung
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seiner Erfahrungen abermals. Kalish engagierte sich seit den 2000er Jahren in der historisch-politischen Bildung und trat öffentlich als Zeitzeuge in Schulen auf. Aufgrund der Erwartungshaltungen seiner Familienangehörigen und der Interessen der ihn befragenden Institutionen veränderte sich die persönliche Lebenseinstellung von Kalish, dass permanenter Hass oder Bitterkeit aufgrund der Erfahrung des Holocaust nicht zu einem glücklichen Leben führen können, zu einer universellen Botschaft.
»I really don’t know how to answer that« (Gert Silver, geb. Silberbard) Durch einen Tipp von Avraham Kimelman (geb. Abraham Kimmelmann), den das USHMM ebenfalls im Zuge des Boder Oral History Projekts in Israel auf Hebräisch interviewen ließ, war das Team des DOH auf Gert Silver in Melbourne aufmerksam geworden.234 In einem Schreiben von Silver, das er kurz nach seinem Interview für das USHMM im März 2006 an Hedlund sendete, drückte er sein positives Erstaunen über das Boder-Projekt des Museums aus: I think you deserve a prize for some incredible detective work. You find a copy of an interview – on wire – that took place way back in 1946 when the late Prof. Boder interviewed a 17-year old survivor of the Holocaust in Geneva, Switzerland and now, 60 years later, you find that survivor as a 77-year old living down under in Melbourne, Australia! Unbelievable! Brilliant!235 Obgleich Silver gegenüber Hedlund und dem Team des USHMM seine Begeisterung betonte, gab er während seines Interviews im Jahr 2006 ebenso deutlich zu verstehen, dass er keinerlei Erinnerung mehr an die Befragung durch Boder hatte. Ähnlich wie auch Kalish/Heisler, den Boder 1946 in derselben ORT-Schule in Genf interviewt hatte, konnte sich auch Silver nach 60 Jahren nicht mehr an die frühe Audioaufnahme erinnern. Nach seinem Interview mit Boder im August 1946 in Genf hatte Gert Silberbard seine damals begonnene Ausbildung zum Zahntechniker beendet und zunächst in verschiedenen Branchen in der Schweiz gearbeitet. 1949 lernte er seine spätere Frau Rifka kennen, sie heirateten im Oktober desselben Jahres in Genf und emigrierten ein Jahr später zusammen nach Australien. Unter dem neuen Familiennamen Silver bekamen die beiden drei Kinder. Gert Silver machte in Australien Karriere als Geschäftsführer in einem multinationalen Unternehmen und verbringt seinen Ruhestand in Melbourne. Insgesamt sind 234 Vgl. Liste: Boder interviewees traced, Dezember 2007, in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project. Zum Videointerview mit Kimelman siehe Oral history interview with Avraham Kimelman, UR L : https:// collections.ushmm.org/search/catalog/irn518056; letzter Zugriff am 28.07.2021. 235 Gert Silver, E-Mail an Elizabeth Hedlund (30.03.06), in: USHMM , Privatarchiv Elizatebh Hedlund, Ordner: Gert Silver.
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zwei spätere Interviews mit ihm überliefert: Am 20. September 1996 wurde er von dem Laieninterviewer Nick Fischer für die SF in seinem Wohnzimmer auf Englisch zu seinen Erinnerungen an den Nationalsozialismus befragt. Die Aufzeichnung umfasst drei Videokassetten und hatte eine Länge von insgesamt knapp zwei Stunden.236 Im Zuge des Boder-Projekts wurde er im März 2006 im Auftrag des USHMM in Melbourne erneut interviewt. Jack Unikoski, der bereits zuvor für das USHMM interviewt worden war, hatte Hedlund auf das Holocaust Testimonies Project von Philipp Maisel aufmerksam gemacht und das JHC für eine Interviewaufzeichnung mit Gert Silver empfohlen.237 Das Interview mit Silver für die Sammlung des DOH wurde daraufhin ebenso im JHC in Melbourne aufgezeichnet und danach im USHMM archiviert und digitalisiert. Die Interviewerin war Geri Crest, die vermutlich als Laieninterviewerin für das australische Museum arbeitete. Das englischsprachige Interview mit Silver wurde auf zwei Tage aufgeteilt: Am 27. März wurde eine annähernd zweistündige Videoaufnahme angefertigt, die am 30. März mit einer knapp 45-minütigen Aufnahme fortgesetzt wurde.238 Ein Vergleich der frühen Erzählung von Silberbard gegenüber Boder mit seinen späteren Videointerviews in Melbourne zeigt, dass sich ein zentraler Bestandteil seiner biographischen Geschichte im Wiedererzählen verändert hatte. Anhand der wiederholten Erzählung über seine Deportation nach Auschwitz im Jahr 1943 sowie im Besonderen über den Verbleib seines Vaters lassen sich eklatante inhaltliche Unterschiede in der Darstellung seiner Geschichte nachweisen. Der Wandel im Wiedererzählen wird im Vergleich aller drei Interviews analysiert, um zu erklären, wie sich die veränderte Interpretation der vergangenen Erlebnisse auf Inhalt und Form der erneuten Erzählungen ausgewirkt hatte. Zudem werden die veränderten Erwartungshaltungen der befragenden Institutionen aufgezeigt: Die Fragen nach Auswirkungen der Erfahrungen im Holocaust auf die eigene Persönlichkeit sowie die mehrfache Aufforderung nach sinngebenden Botschaften und Lehren hatten bei Silver Unbehagen und eine Verweigerungshaltung zur Folge: »I really don’t know how to answer that.« Stattdessen setzte der Befragte eigene Akzente hinsichtlich des Aspekts der Bedeutung seiner Erfahrungen für die Gegenwart und Zukunft und verwies dadurch auf die Komplexität von moralischen Lektionen und persönlichen Interpretationen der Vergangenheit. 236 Vgl. Gert Silver, 20.09.1996, Interview 19626, USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education; Im Folgenden: Silver, V H A 1996. 237 Unikoski betonte explizit, dass er mit seiner Videoaufzeichnung des JHC sehr zufrieden war, vgl. Elizabeth Hedlund, E-Mail an Lisa Topelmann (09.09.2005), in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Australia Search/Interviews. 238 Vgl. Oral history interview with Gert Silver, 27. & 30.03.2006, Interview RG 50.526*0010, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn518264; letzter Zugriff am 28.07.2021. Im Folgenden: Silver, USHMM 2006.
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Den Ausgangspunkt der vergleichenden Analyse bildet die veränderte Erzählung von Silberbard/Silver über seinen Vater. Im Interview mit Boder hatte der damals 17-Jährige angegeben, dass er im März 1943 in Berlin verhaftet und zusammen mit seiner gesamten Familie nach Auschwitz deportiert worden sei. Durch den Abgleich mit der Überlieferung von schriftlichen Quellen wurde bereits in Kapitel I.2 dargestellt, dass sein Vater Erich Silberbard damals nicht zusammen mit dem Rest der Familie deportiert und ermordet worden war. Allerdings konnte ohne den Vergleich mit seinen späteren Interviews noch nicht aufgeklärt werden, warum Silberbard seine Geschichte gegenüber Boder verändert hatte. In der Analyse der Erzählung von 1946 war deutlich geworden, dass Silberbard auf die misstrauischen Fragen von Boder über den Verbleib seines Vaters mit vagen Antworten ausgewichen war. So etwa, als es um die chaotische Situation nach der Ankunft des Deportationszuges im Lagerkomplex Auschwitz ging. Gegen Ende der Aufnahme war Silberbard zudem von Boder gefragt worden, ob er nach dem Krieg Familienangehörige gesucht habe, worauf er eine ebenfalls unpräzise und ausweichende Antwort gegeben hatte: Boder: Haben Sie probiert, Ihre Familie, jemand aufzufinden? Silberbard: Ich habe bereits genug Recherchen gemacht. Ich habe aber überhaupt keine Hoffnung mehr, dass irgend jemand von ihnen Leben geblieben ist.239 Was genau Silberbard mit der Formulierung »bereits genug Recherchen gemacht« meinte, blieb im Interview mit Boder noch unklar. Ein Vergleich mit den beiden späteren Erzählungen hilft dabei, Lücken und Widersprüche in seiner Geschichte zu verstehen. Zwei Tage vor seinem Interview mit der SF füllte Gert Silver am 18. September 1996 den PIQ der Organisation aus. Unter der Rubrik Postwar beantwortete er die Frage »Did you ever return to your hometown after the war?«240 positiv. Im Interview mit Boder hatte er dies hingegen überhaupt nicht erwähnt. In den weiteren Ausführungen zu seiner Rückkehr notierte Silver im Fragebogen, dass er unmittelbar nach der Befreiung in Buchenwald nach Berlin gefahren sei, und auf die Frage »How long did you stay?« trug er handschriftlich ein: »One or two days, to establish whether his (sic) father was alive.«241 Über sich selbst notierte er in der dritten Person, dass er seinen Vater nach Kriegsende in Berlin gesucht hatte. Als Silver im Interview mit der SF zwei Tage später mündlich über die Verhaftung seiner Familie im Jahr 1943 berichtete, fragte der Interviewer Nick Fischer explizit nach dem Verbleib des Vaters in dieser Situation: 239 Silberbard, Boder 1946. 240 Vgl. PIQ , Gert Silver, Interview 19626, S. 15, in: USC Shoah Foundation, Internal Archives. Ich danke Martha Stroud von der USC Shoah Foundation für diese internen Unterlagen. 241 Ebd.
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Fischer: Where was your father at this time? Silver: My father wasn’t home when the Gestapo came. He probably came home after we had left, saw the seal on the lock, knew what had happened, and probably went underground and ehm I did not know until the end of the war what had happened to him. Fischer: What did the seal say? Silver: I think it was just a paper seal (just?) ›Gestapo. Do not open!‹ But I don’t remember.242 Sein Vater war demnach nicht zu Hause, als Gert Silberbard 1943 zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester von der Gestapo verhaftet worden war. Gegen Ende des Interviews mit der SF kam Silver im Anschluss an die Geschichte seiner Befreiung in Buchenwald schließlich auf die bereits schriftlich angegebene Suche nach seinem Vater in Berlin zu sprechen: Silver: And then, several days after the end of the war on May 8th ehm, I went to Berlin [1 sec] it’s only a few hours from Buchenwald, on a motorbike which a Russian soldier had given me and ehm looked for my father. I found out from the few remaining Jews there that ehm he had in fact been deported to Auschwitz in October forty-four and I (went?) back to Buchenwald.243 Demnach sei er kurz nach Kriegsende nach Berlin gefahren, um seinen Vater zu suchen, erfuhr dann allerdings von dessen Ermordung. Im Interview mit Geri Crest im Auftrag des USHMM erzählte Silver diese Geschichte im Jahr 2006 erneut. Während er nach einer knappen halben Stunde der Videoaufzeichnung chronologisch eigentlich erst im Jahr 1939 angelangt war, fragte Geri Crest als Interviewerin des JHC , wie lange sein Vater nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in seinem Geschäft gearbeitet habe. Silver überlegte drei Sekunden und erzählte dann plötzlich sowohl die Geschichte von der Verhaftung 1943 ohne den Vater als auch jene von seiner Suche nach dem Vater im Mai 1945 in Berlin: Crest: Up until what time was your father working in his business? Silver: [3 sec] When we were deported in 1943 eh only my mother, my sister and I were deported, my father was not at home. And ehm I thought, in fact, that he had survived the war, because I didn’t know what happened to him. And immediately after the war, after liberation, I went back to Berlin in the hopes that he had survived underground, only to be informed then, in October forty-four, six months before my liberation, he was discovered by the Gestapo, sent to Auschwitz, and he died there. So he certainly worked when we were deported. How much longer he 242 Silver, V H A 1996. 243 Ebd.
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worked there/ I presume he stopped work immediately and went underground, because when the Gestapo deported a family, they put a seal on the door. And when my father came home in the evening, he would have seen that seal, he would have known what happened, and I presume he went underground, but I’ll never know. Crest: Mm-hm. [6 sec] What was the food situation up until the time of deportation?244 Silvers Erzählversion von 2006 war nahezu identisch mit jener von 1996, insbesondere das Detail über das Siegel der Gestapo an der Wohnungstür, das er in seiner Erinnerung bildhaft vor Augen zu haben schien. Seine Hoffnung darauf, dass sein Vater in einem Versteck überlebt haben könnte, wurde somit erst im Zuge seiner Nachforschungen in Berlin im Mai 1945 zerstört. Dies scheint auch der entscheidende Grund dafür zu sein, dass er im Interview mit Boder 1946 angegeben hatte, keinerlei Hoffnung mehr zu haben, dass Verwandte von ihm noch am Leben sein könnten: Erst 15 Monate zuvor war er bei der Suche nach seinem Vater in Berlin durch die Nachricht von seiner Deportation nach Auschwitz bitter enttäuscht worden. Als Interviewerin des JHC reagierte Crest allerdings überhaupt nicht auf Silvers Geschichte über die Suche nach dem Vater in Berlin und fuhr nach langen sechs Sekunden des Schweigens mit einer Frage über die Verfügbarkeit von Lebensmitteln vor der Deportation 1943 fort. Im gesamten Interview achtete die Interviewerin streng auf die Chronologie der Erzählung und klammerte sich stoisch an den Interviewleitfaden – so unterbrach sie ihren Interviewpartner etwa an einer anderen Stelle mitten in der Erzählung: »Okay, we’ll/ we’ll come to that.«245 Dadurch wird deutlich, wie stark sich die Erwartungshaltung und insbesondere das Wissen der Interviewerin auf die Erzählung von Silver auswirkten. Ohne detailliertes Wissen über Silberbards frühere Erzählung im Interview mit Boder fiel weder Fischer als Interviewer der SF noch Crest als Interviewerin des JHC die Veränderung der Geschichte von Silver über den Verbleib seines Vaters auf. Ganz im Gegensatz dazu war Joan Ringelheim, die den Großteil der anderen Interviews für das Boder-Projekt des USHMM führte, stets über alle Details der Erzählungen ihrer Interviewpartner aus den Aufzeichnungen mit Boder sowie jenen der SF bestens vertraut und wäre sicherlich über diesen Widerspruch gestolpert und hätte ihn thematisiert. Dies verdeutlicht, wie wichtig die Kenntnis von Detailwissen über frühere Interviews für die Analyse des Wiedererzählens ist. Auf Nachfrage des Autors per E-Mail an Gert Silver bestätigte dieser erneut seine beiden späteren Erzählversionen in nahezu identischer Formulierung: 244 Silver, V H A 1996. 245 Silver, USHMM 2006.
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I was deported to Auschwitz in 1943 with my mother and my sister, Ruth. Both ended in the gas chambers of Auschwitz. When the Gestapo collected us from home my father was not at home, that is the reason why he was not deported when we were. After I was liberated from Buchenwald on 11/4/1945, 3 weeks before the war ended. I had hoped my father had survived incognito, that is why I travelled to Berlin where I was informed the Gestapo sent him to Auschwitz in October 1944, until then he was hiding somewhere in Berlin. I never found out where he was hiding. That is all I can tell you. I am 88 years old now and my memory is not as good as it once was.246 Mit dem nachträglichen Wissen um die enttäuschte Hoffnung auf das Überleben seines Vaters werden gleichzeitig Silberbards Aussagen gegenüber Boder sowie der Einfluss der jeweiligen Interviewkontexte deutlich. 1946, also in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Erfahrungen im Holocaust, war der Ausdruck der Hoffnungslosigkeit in der Erzählung von Silberbard sehr deutlich. Seine vagen Angaben zum Verbleib des Vaters deuten darauf hin, dass der damals 17-Jährige nicht erneut dessen Ermordung rekapitulieren wollte, denn das Ergebnis war schließlich das gleiche: Vater, Mutter und kleine Schwester »wanderten, was ich annehme, sofort in die Gaskammer«.247 In den späteren Interviews aus den Jahren 1996 und 2006 sprach Silver offen über die Geschichte seines untergetauchten Vaters und seine Hoffnung, dass er in Berlin überlebt haben könnte. Er hatte damit eine Erzählung für die Enttäuschung gefunden, insbesondere wohl auch, weil seit dem Ereignis mehrere Jahrzehnte Lebenszeit vergangen waren. Zum Zeitpunkt der späteren Interviews hatte Silver erfolgreiche Lebenserfahrungen als Geschäftsmann in Australien gesammelt und präsentierte sich als glücklicher Ehemann, Vater und Großvater. Im Wiedererzählen fand er die Möglichkeit, seine Familiengeschichte anders darzustellen und die Erfahrung des Verlusts in seine eigene Biographie zu integrieren.248 Gewandelt hatte sich im Vergleich der drei Interviews ebenfalls die Interpretation seiner Erfahrungen, insbesondere die der extremen Gewalt. Gegenüber Boder hatte Silberbard den gewalttätigen Alltag im Lager durchgängig als »selbstverständlich« bezeichnet und die Ermordung von Schwachen auf dem Todesmarsch vom Lagerkomplex Auschwitz nach Gleiwitz im Januar 1945 als Gnadenschuss interpretiert. Im Jahr 2006 beschrieb Silver diesen Gewaltmarsch und die Ermordungen gegenüber der Interviewerin des JHC hingegen als äußerst brutal: Crest: Was that traumatic?
246 Gert Silver, E-Mail an den Autor vom 29.10.2016. 247 Silberbard, Boder 1946. 248 Vgl. Schumann, Lucius-Hoene: Wiedererzählen als Möglichkeit, S. 95.
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Silver: Yes, very, because people collapsed left, right and center, and those who collapsed were shot in the head by the SS [1 sec] there and then/ [4 sec] So it was a great incentive to march on, when you saw that. Crest: [7 sec] How many people? [Fifty?] and others, so/ Silver: Yeah. Crest: [2 sec] On the side of the road? Silver: Yeah. Crest: [3 sec] You saw people shot in the head? Silver: Oh yes, many. Crest: [3 sec] How did that affect you at the time? Silver: Very traumatic, but we kept marching on, hoping that the march would end. We didn’t really know where we’re heading for, and how long it would last. Just kept walking and walking and walking. Crest: [2 sec] Did you assist anybody that was having difficulty? Silver: Not really, not really.249 Ausgangspunkt dieses Dialogs war die Frage der Interviewerin, ob das Ereignis traumatisch für Silver war, und so griff er den Traumabegriff auch in seiner deutenden Beschreibung auf.250 Silver erklärte deutlich, wie verstörend der Todesmarsch 1945 für ihn war. Die gesamte Episode war durch mehrfache Pausen und das Stocken in der Erzählung geprägt. Auf die Nachfrage, ob er irgendjemanden hätte unterstützen können, antwortete Silver mit sanfter, kaum hörbarer Stimme verneinend und wirkte dabei emotional ergriffen. Hatte der Begriff des Gnadenschusses, den er in der Erzählung bei Boder verwendete, demnach vielleicht auch eine entlastende Funktion? Den völlig geschwächten Häftlingen hatte Silberbard auf dem Todesmarsch 1945 nicht helfen können, und so interpretierte er die Ermordung dieser Personen ein Jahr später vielleicht als Erlösung von ihrem Leid. Eindeutig zu beantworten ist dies nicht, aber es wird deutlich, wie stark sich die Deutung der Erinnerungen verändert hatte. Die Interpretation der Erfahrung von extremer Gewalt gegen ihn selbst hatte sich indes sogar noch stärker gewandelt. Im Interview mit Boder hatte Silberbard angegeben, dass ihm das Marschieren in Auschwitz durch Kolbenschläge beigebracht worden war. Gegenüber der SF verwies Silver 1996 allgemein darauf, dass die schlimmste Zeit in Auschwitz die ersten Wochen im K Z Buna-Monowitz waren, da er dort stark geschlagen wurde. 2006 beschrieb er die Schläge der SS mit dem Gewehrkolben nicht mehr euphemistisch als »Erziehung«, sondern vermittelte ein deutlich anderes Bild. Er gab an, dass er stets versucht habe, SS -Wachen und Kapos zu meiden, um nicht geschlagen zu 249 Silver, USHMM 2006. 250 Die alltagssprachliche Verwendung des Traumabegriffes durch die Laieninterviewerin kann zudem als Anzeichen für das von Greenspan als psychiatrischer Diskurs benannte Phänomen verstanden werden, vgl. Greenspan, Imagining Survivors, S. 59.
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werden, was die Interviewerin des JHC als eine Aussage missinterpretierte, dass er überhaupt nicht geschlagen worden sei: Crest: So you weren’t ever beaten in the camps? Silver: I was hit occasionally, but not really/ not/ not often. Crest: What were you hit with? Silver: A wooden/ I think a rifle butt. Crest: Do you remember why you were hit? Silver: I don’t know why hit, but I still have marks of it today. I’m totally deaf on my right ear as a result of being hit over the head [4 sec]. It was the only memory of it.251 Der Gewehrkolben, den Silberbard 1946 in der Perspektive der Täter als Instrument des Erlernens der Lagerordnung beschrieben hatte, wurde in der Darstellung von 2006 eindeutig als Mittel der martialischen Gewalt benannt. Ein SS -Mann hatte ihm damit so fest auf den Kopf geschlagen, dass er seither einseitig taub ist. Im Vergleich seiner drei Interviews fällt weiterhin auf, dass Silver in den beiden späteren Aufzeichnungen diverse Anekdoten in seine Erzählung integrierte, die in ihrer Bedeutung variierten.252 So ergänzte er 1996 in der Aufnahme der SF, dass er von Mitte 1943 bis Anfang 1944 im Stammlager Auschwitz Teil der sogenannten Maurerschule gewesen war und sich eines Tages für eine besondere Tätigkeit gemeldet hatte. Er führte diese Erzählung ein mit dem Satz »You wouldn’t believe I had a desk job«,253 was im Kontext des K Z Auschwitz humoristisch wirkt. Was folgt, ist eine Erzählung darüber, wie ihm die Aufgabe zugeteilt worden war, als Übersetzer für die ankommenden Transporte von Juden aus Thessaloniki tätig zu sein: Silver: One morning, during the roll call they were searching for people who could speak Hebrew and German. And nobody could understand why they would call for people with those two languages but ehm I had a very good knowledge of Hebrew at this time so I made myself available and we subsequently found out that at that time the first greek Jews from Saloniki had arrived at Auschwitz and the greek Jews could speak Greek and Hebrew. And there was nobody in the German SS who could either speak Greek or Hebrew, so they needed a number of people to interview the greek Jews to get their names, their professions, their birthdates, and the usual details and I asked the Greeks in Hebrew and translated to German.254 251 Silver, USHMM 2006. 252 Zur Bedeutung der Analyse von Anekdoten in Erinnerungsinterviews vgl. Benninga, Holocaust testimony, S. 423-424. 253 Silver, V H A 1996. 254 Ebd.
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Hintergrund dieser Geschichte war die Deportation der Juden aus Thessaloniki vom 14. März bis zum 7. August 1943. Mittels 19 Zugtransporten wurden insgesamt 43.850 Juden deportiert, der Großteil nach Auschwitz-Birkenau, wo sie nach etwa fünf bis sieben Tagen Transport völlig erschöpft eingetroffen waren.255 Die griechischen Juden sprachen als Sephardim im Gegensatz zum Großteil der osteuropäischen Juden allerdings kein Jiddisch, weshalb die SS Übersetzer vom Hebräischen ins Deutsche benötigte.256 In der Funktion als Übersetzer konnte Silberbard etwa vier bis sechs Wochen in einem beheizten Büro arbeiten und sich so von der harten körperlichen Arbeit erholen, was ihn im Interview mit der SF wiederum zu einer humoristischen Interpretation animierte: »That was probably a live safer for me. [1 sec] Whenever I talk to people today about the advantage of learning a foreign language, I tell them that in my particular case it probably saved my life.«257 Zehn Jahre später erzählte Silver diese Geschichte über seine Tätigkeit als Übersetzer im Interview mit dem JHC erneut, allerdings in wesentlich ausführlicherer Form und mit weiteren Deutungsebenen versehen: Silver: It was the time that the Jews from Saloniki in Greece arrived in Auschwitz. And those/ the Jews from Saloniki only spoke Greek and Hebrew. They needed to be interviewed, they needed interpreters. What their name was, when they were born, what traits, what professions they had. So they needed somebody who could ask them in Hebrew and translate it into German. So I had a soft job for/ for simply a month or six weeks. That was one lucky break I had. […] Crest: Were you working long hours, or shorter hours? Silver: Sometimes we di/ we just sat to arrive/ to await the arrival of a transport. We had a chair. There were no chairs in Auschwitz. So that was one of the lucky breaks I had in Auschwitz. The lucky break. And then the other lucky break was when I left Auschwitz and came to Bobrik. Crest: I’ll ask you that in a moment. Silver: Yeah. Crest: The people that arrived from Salonika and Greece, did you say? Silver: Yeah. Crest : Did they inform you about anything that/ that you hadn’t known before? Silver: No, but it/ what it enabled us to do is to save some lives, because we knew that if somebody was asked the question, what was his profession, 255 Vgl. Rena Molho: Der Holocaust der griechischen Juden. Studien zur Geschichte und Erinnerung, Bonn 2016, S. 66-69. 256 Die Bedeutung des Holocaust in Thessaloniki hat die italienische Historikerin Stefania Zezza am Beispiel von Boders Interviews mit Deportierten aus Griechenland nachgezeichnet, vgl. Zezza, Their Own Voices, S. 96. 257 Silver, V H A 1996.
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that he said I’m a violinist, or I’m a teacher, he would probably be sent to the gas chambers. Somebody was a carpenter, or a locksmith, or a bricklayer, or a welder, they were safe. So very often, a lot of the Saloniki Jews told us that they’re a teacher or a violinist, we translated it as a welder, or as a bricklayer, or as a laborer. Crest: With their knowledge or not? Silver: Not with their knowledge, and not with the SS knowledge. Because they didn’t understand the Germans and the Germans didn’t understand Hebrew. Crest: [6 sec] Do you ever remember communicating to them in Hebrew/ Silver: Yes, of course. Crest: /and telling them something that/ Silver: No, I didn’t tell them anything, I just asked them what their name was, how old they were, where they were born, when and what their profession was. So my knowledge of Hebrew, you could almost argue, saved my life.258 Die Angabe, dass ihm seine Kenntnisse der hebräischen Sprache das Leben gerettet hatten, ist, ähnlich wie in der Darstellung von 1996, Teil der Anekdote. Silver versah diese Bedeutungsebene gewissermaßen mit einem Titel und benannte das Erlebnis mehrfach als »The lucky break«.259 Nicht nur bestückte er die Anekdote mit wesentlich mehr Details, sondern auch seine Deutung hatte sich verändert. Silver ergänzte, dass er selbst Juden aus Thessaloniki geholfen habe, indem er ihre Berufe in der Übersetzung verändert hatte. Noch viel stärker als im Interview mit der SF wird deutlich, dass die Tätigkeit nicht nur sein eigenes Überleben sicherte, sondern sich ihm und den anderen Übersetzern auch der Raum für Formen des kollektiven Widerstands eröffnete. Die Übersetzer in Auschwitz wussten, dass bestimmte Berufe die unmittelbare Ermordung zur Folge haben würden, und so übersetzten sie im Lager unbrauchbare Berufe wie Lehrer oder Musiker als Schweißer oder Maurer, um die entsprechenden Personen zu retten. Im Wiedererzählen von 2006 betonte Silver demnach nicht nur die Geschichte seines eigenen Überlebens, sondern ebenso die Möglichkeiten der Rettung als Widerstand gegen die Bürokratie des Massenmords. Am Beispiel seines Akts der Solidarität mit den ankommenden Juden aus Griechenland in Auschwitz wird deutlich, dass Silver ein verändertes Selbstbild als Helfer und Retter präsentierte.260 258 Silver, USHMM 2006. 259 Auch andere Anekdoten im Interview für das USHMM versah er mit einer Art von Überschrift in seiner Erzählung. Die Darstellung seiner Ankunft vom K Z Buchenwald in der Schweiz betitelte er 2006 eindrücklich mit der Formulierung »From hell to paradise.« 260 Bader hat an einem anderen Beispiel ebenfalls eine solche Deutungsverschiebung im Wiedererzählen analysiert, vgl. Bader, Das Unerzählbare, S. 214-215.
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Doch nicht nur sein verändertes Selbstbild prägte das Wiedererzählen, sondern ebenso die gewandelten Erwartungshaltungen der Interviewer. Boder hatte 1946 am Ende des Interviews mit Silberbard seinen Dank für den ausführlichen Bericht ausgesprochen und betont, dass seine Geschichte für das amerikanische Publikum von besonderem Interesse sein würde. Die Bedeutung der Aufnahme lag damit insbesondere in der Produktion und Vermittlung von Wissen über die Erfahrungen in den verschiedenen Konzentrationslagern, von denen Silberbard berichtet hatte. 50 Jahre später stellte Nick Fischer als Interviewer der SF in der Schlusssequenz des Videos die übliche Frage nach letzten Worten und verband dies mit einer als Frage formulierten Aufforderung nach einer Botschaft, auf die Silver ausführlich antwortete: Fischer: Is there any final words that you would like to say about [1 sec] the experiences you had? Any message that you would like to go out? Silver: I just think that it’s a wonderful thing that somebody like Spielberg has provided the means ehm to do what you’re doing at the moment, interviewing eh the few remaining survivors so that if/ at some later stage, perhaps in ten, fifty, or a hundred years people like David Irving will come/ new David Irvings will emerge and convince them that that never existed [1 sec] It’s just dreadful that something similar also not on the same scale exists today in Bosnia, in Burundi, in Rwanda, in Afghanistan, and so many other places. Not on the same scale, because there are no gas chambers and so on but people are nevertheless killed because of their race and their religion. Fischer: [2 sec] Thank you.261 Auf die Frage des Interviewers nach einer Botschaft reagierte Silver zunächst mit einer persönlichen Danksagung an Steven Spielberg. Er ehrte den Filmemacher als Schirmherrn der Interviewproduktion der SF. Zudem thematisierte er zentrale Motive der Geschichtskultur der 1990er Jahre. Er griff den Topos vom Tod der Zeitzeugen auf und verband ihn mit der Bedeutung von Holocaust Testimony als historischem Beweis der NS -Verbrechen im Kampf gegen Holocaustleugnung. Den britischen Geschichtsrevisionisten David Irving benannte er sogar namentlich, da dieser in den 1990er Jahren der weltweit bekannteste rechtsradikale Holocaustleugner war.262 Weiterhin drückte Silver sein Entsetzen darüber aus, dass ähnliche Verbrechen wie der Holocaust wieder stattfinden würden. Er benannte Bosnien, womit das Massaker an mehr als 8.000 Bosniaken in Srebrenica 1995 gemeint war, oder Ruanda, also den Massenmord an der Tutsi-Minderheit in dem ostafrikanischen Staat im Jahr 1994. 261 Silver V H A 1996. 262 Ausführlich zur Bedeutung von Irving für die Debatten um Holocaustleugnung vgl. Eva Menasse: Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, Köln 2017; Richard J. Evans: Der Geschichtsfälscher. Holocaust und historische Wahrheit im David-Irving-Prozess, Frankfurt am Main 2001, S. 138-192.
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Diese Verbrechen bezeichnete er zwar selbst nicht als Genozid und gab auch an, dass er sie nicht mit dem Holocaust – repräsentiert durch Gaskammern – gleichsetzen wolle, aber er betonte dennoch, dass die Ähnlichkeit der Verbrechen erschreckend sei: »[P]eople are nevertheless killed because of their race and their religion.«263 Mit diesem eindringlichen Satz endete sein Interview mit der SF 1996, lediglich gefolgt von einem kurzen Ausspruch des Danks seitens des Interviewers. Mit seiner individuellen Formulierung hatte Silver exakt jene Aspekte thematisiert, die für die institutionellen Erwartungen an das Interview als Holocaust Testimony zentral waren: eine deutliche Stellungnahme gegen Intoleranz, Rassismus und Gewalt und die Botschaft, dass sich der Holocaust nicht wiederholen dürfe. Ein Vergleich zu der Schlusssequenz seines Interviews mit dem JHC verdeutlicht, dass die Erwartungshaltung an die Formulierung von moralischen Lektionen im späteren Interview von 2006 sogar noch viel stärker war. Crest fragte als Interviewerin des JHC zunächst nach den persönlichen Auswirkungen der Erfahrungen auf Silvers weiteres Leben: Crest: Do you think that your effects ehm the effects of the war, the experiences that you endured, do you think that that has had an effect on you as a parent bringing up children [1 sec] in Australia? Silver: I’m not sure that I can answer that question. I belong to that category of Holocaust survivors who do not talk to their children about it, for a number of reasons, first of all, I think this was my way of coping with it, not talking about it. And secondly, it’s really/ I think impossible for anybody to fully comprehend what happened there, and I didn’t want to burden them with the trauma, I wanted them to have as normal an upbringing a/ as possible, without being neurotic about what happened in the past. Perhaps I’ve done the right thing, perhaps I’ve done the wrong thing, I don’t know. I mean, my children know all about it, they’ve seen the sp/ the tape that I/ came from the Spielberg interview, so it’s not that they don’t know about it, but we don’t talk about it.264 Silver reagierte zunächst ausweichend und gab an, dass er nicht wisse, ob er die Frage von Crest nach den Auswirkungen des Holocaust auf seine Kindererziehung überhaupt beantworten könne. Im Anschluss formulierte er dann allerdings deutliche Argumente. Er klassifizierte sich selbst als einer bestimmten Kategorie von Überlebenden zugehörig, die mit ihren Kindern nicht über den Holocaust sprechen. Für dieses intergenerationelle Schweigen gab er zwei wesentliche Gründe an: Zum einen sei Schweigen seine Art des Umgangs mit der Vergangenheit gewesen und zum anderen sei es unmöglich, die Ereignisse des Holocaust umfassend zu verstehen. Er verwies zudem explizit auf sein Inter263 Silver, V H A 1996. 264 Silver, USHMM 2006.
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view mit der SF als Grundlage des Wissens seiner Kinder. Dieses Holocaust Testimony diente somit als Mittel, um nicht persönlich mit seinen Nachkommen über den Holocaust sprechen zu müssen, aber sie dennoch umfassend zu informieren. In der Aufnahme der SF, die 10 Jahre vor seinem Interview mit dem JHC aufgezeichnet worden war, hatte der Interviewer Nick Fischer zu Beginn des Interviews indes ebenfalls nach Auswirkungen seiner Erfahrungen gefragt: Fischer: How did that affect you at the time? Silver: [2 sec] It’s very difficult to find adequate words for that in English or any other language, I mean people like Primo Levi and Elie Wiesel have written books about it, but I don’t think the words exist to mainly desc/ properly describe how it felt.265 Die Aussage von Silver in der Aufnahme des JHC von 2006, dass es unmöglich sei, den Holocaust zu verstehen, wird im Abgleich mit seinen Ausführungen aus dem Jahr 1996 gegenüber der SF noch deutlicher. Silver benannte die Werke der beiden weltberühmten Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi und Elie Wiesel und verwies mit dieser Referenz deutlich auf die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks seiner Erfahrungen. Im Interview des JHC verwies Silver erneut auf seine begrenzten Möglichkeiten der Beantwortung gewisser Fragen: Crest: How do you think the events shaped you as a person? Silver: I find that question actually very difficult to answer, I don’t know what/ what sort of a person I would have been, had I had a normal upbringing. Crest: Mm-hm. Silver: I really don’t know how to answer that. Crest: Mm-hm. [3 sec] Is there a message that you would like to leave to your children and to future generations? Silver: Be alert. I think antisemitism is rising throughout the world. We are probably today no longer target number one, Muslims have taken over that spot. But you never know what’s around the corner.266 Die Frage von Crest nach den Auswirkungen des Holocaust auf seine Persönlichkeit schien Unbehagen auszulösen und resultierte in einer Verweigerungshaltung: Silver gab erneut als Antwort, dass er nicht wisse, wie er die Frage der Interviewerin beantworten solle. Crest reagierte darauf gar nicht, sondern fuhr mit der erneuten Frage nach einer Botschaft an zukünftige Generationen fort, woraufhin sich Silver für den Kampf gegen Antisemitismus aussprach.267 265 Silver, V H A 1996. 266 Silver, USHMM 2006. 267 Wobei Silver angibt, dass Muslime die Rolle von Juden als Opfer übernommen
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Obwohl Silver damit bereits einige Aussagen getroffen hatte, die als moralische Botschaften und Lehren kategorisierbar waren, fragte Crest gegen Ende des Interviews am JHC noch ganze zwei weitere Male nach »particular messages«: Crest: Ehm I’d like to ask you, is there ehm is there a message that you would like to leave? I asked you before, but is there anything that/ that you’ve thought of subsequently, to your grandchildren and to future generations, based on your experiences? Silver: Well, I don’t talk to them about my experiences. […] Crest: You’ve commented several times about the loss of family, and your desire to continue and to have your own family. Are there any particular messages you would like to give them about family values? Silver: Not really, I mean I got married at twenty-one and many people today ask me how come you got married at/ at that young age. And remember, I had nobody at that time. My father, my mother, my brother, my sister, they’re all dead, and I was intent on starting a new generation, a new family. And eh I’m very glad I married when I was twenty-one.268 Auffällig ist, dass Crest als Interviewerin für das JHC in der Aufnahme von 2006 sehr viel vehementer nach Botschaften und Lehren fragte, als dies 1996 bei der Aufnahme der SF der Fall war. Fischer hatte 1996 lediglich zum Abschluss der Aufnahme eine einzige Frage nach letzten Worten und einer message gestellt. Dies kann zum einen durch die unterschiedlichen Interviewer und deren individuelle Anwendung der Methoden erklärt werden, lässt sich aber ebenso durch globale Bedeutungsverschiebungen hinsichtlich von Lehren aus dem Holocaust begründen. Seit Ende der 1990er Jahre war die Kooperation des JHC mit der SF ausgebaut worden, und das Ziel der Bildungsarbeit mittels Videointerviews gewann an Priorität für beide Institutionen. Douglas Greenberg, der damalige Geschäftsführer der SF, formulierte im Jahr 2004 in einem Grußwort an das JHC den erwünschten pädagogischen Nutzen der Interviews als Holocaust Testimony: »They have the power to heal, define, and influence the future.«269 Um diesem ambitionierten Anspruch, der Weltverbesserung mittels der Interviews, gerecht zu werden, wurde die Formulierung von Moral Lessons durch die Überlebenden umso zentraler. Es war demnach ein Zusammenspiel von individuellen Entscheidungen und organisatorischen Zielstellungen. Die verschiedenen Interviewer wendeten die methodischen Vorgaben der Institutionen unterschiedlich an, und der jeweilihätten. Ob dies im Zusammenhang mit einem spezifischen Diskurs über antimuslimischen Rassismus seit den 2000er Jahren zusammenhängt, wäre zu überprüfen. 268 Silver, V H A 1996. 269 Douglas Greenberg: To Repair and Transform the World, in: Reflections. 20 years 1984-2004: Jewish Holocaust Museum and Research Centre Melbourne, hg. von Stan Marks, Melbourne 2004, S. 46-47, hier S. 46.
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ge Interviewstil wirkte sich auch auf die Antworten der Überlebenden aus. Der eklatante Unterschied zwischen der persönlichen Re-Interpretation der Erinnerungen und der Forderung nach universellen Lehren wurde anhand mehrfacher Beispiele deutlich: Silver formulierte durchaus Botschaften wie die Aufforderung zum Kampf gegen Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus. Ebenso verglich er seine Erfahrungen mit anderen Massakern und Genoziden – gegenüber der SF insbesondere mit den Bürgerkriegen in Bosnien oder Ruanda als tagespolitischen Beispielen. Das Drängen des Interviewers nach moralischen Lektionen in seiner Aufnahme mit dem JHC führte allerdings zu einer deutlichen Verweigerungshaltung gegenüber dieser sinnstiftenden Funktionalisierung seiner Erfahrungen: »I really don’t know how to answer that.« Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich seine Erzählungen in den drei Interviews auf verschiedenen Ebenen gewandelt hatten. Anhand der Rekonstruktion seiner enttäuschten Hoffnung auf das Überleben seines Vaters im Juni 1945 konnte aufgeklärt werden, warum Silberbard seine Geschichte gegenüber Boder verändert hatte. 1946 hatte er seine leidvollen Erfahrungen kaum verarbeitet, was sich stark auf seine Darstellung ausgewirkt hatte: Er verwendete mehrfach Begriffe aus der Sprache der NS -Täter, und seine Erzählung war durch eine Internalisierung der erlittenen Gewalt geprägt. Im Vergleich mit den späteren Interviews wurde allerdings ebenso deutlich, dass bestimmte Begriffe wie etwa jener des Gnadenschusses auch eine Entlastungsfunktion hinsichtlich eigener Schuldvorwürfe gehabt haben könnten. Das Wiedererzählen im Kontext der Videointerviews der SF und des JHC ermöglichte Silver eine Re-Interpretation der Erlebnisse und führte zu neuen Darstellungsstrategien. Zudem wurden weitere Erinnerungen in der Erzählung ergänzt, die auf ein verändertes Selbstbild schließen lassen. So betonte Silver 1996 in der Geschichte über seine Tätigkeit als Übersetzer im K Z Auschwitz etwa die Bedeutung dieser Arbeit für das eigene Überleben und ergänzt 2006 noch, dass er dadurch einigen Juden aus Griechenland das Leben gerettet hatte. Der Wandel im Wiedererzählen wurde ebenfalls durch die nachträgliche Verarbeitung der eigenen Erfahrungen erklärt. In den späteren Interviews, die 50 beziehungsweise 60 Jahre nach der Aufnahme von Boder angefertigt wurden, hatte Silver etwa den Verlust seines Vaters in die eigene Familiengeschichte und seine autobiographische Geschichte integriert, was ihm ein Jahr nach Kriegsende noch nicht möglich gewesen war. Die Bedeutung von Botschaften in seinen späteren Interviews ist als widersprüchlich zu bezeichnen. Obwohl er in den 1990er Jahren seine Erinnerungen an den Holocaust mit zeitgenössischen Gewaltverbrechen und Kriegen verglich, verweigerte er sich zugleich der Sinngebung seiner Erfahrungen, die insbesondere die Interviewerin des JHC im Jahr 2006 vehement eingefordert hatte. Deutlich wurde, dass das Wiedererzählen als widersprüchlicher Prozess zu verstehen ist und sich Silver als Befragter nicht von den Zielen und Erwartungshaltungen der Organisationen vereinnahmen lassen wollte.
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»I still cannot understand it here today« (Jack Bass, geb. Bassfreund) Als Jürgen Bassfreund Ende September 1946 als 22-Jähriger von David Boder in München interviewte wurde, stand seine Auswanderung in die USA bereits kurz bevor. Im Herbst und Winter 1946 hatte er in Bremen zunächst noch einige Monate auf seine Überfahrt warten müssen, um am ersten Dezember 1946 schließlich die SS Ernie Pyle Richtung New York zu besteigen.270 Bassfreund amerikanisierte seinen Namen nach der Ankunft zu Jack Bass und fand durch die Hilfe eines Cousins in New York schnell Arbeit bei einer jüdischen Presseagentur. 1947 meldete er sich für die Nationalgarde und hatte in den folgenden Jahren diverse Anstellungen im Pressewesen. Insgesamt war er dreimal verheiratet und hatte zwei Töchter in erster Ehe. Seinen Lebensabend verbrachte er ab Mitte der 1990er Jahre mit seiner Familie in Alabama im Süden der USA . Bereits in den 1970er Jahren sprach Bass erstmals öffentlich in Schulen über seine Erfahrungen des Holocaust. Seit den frühen 2000er Jahren engagierte er sich zudem im Birmingham Holocaust Education Center – das Museum nahm ihn in sein Verzeichnis von Holocaust-Überlebenden in Alabama auf und publizierte eine Kurzbiographie, aus der hervorgeht, dass er im Mai 2010 im Alter von 86 Jahren verstorben ist.271 Für den folgenden Vergleich werden seine Erzählungen in der Aufnahme von Boder mit drei Interviews verglichen, die mit Bass in den USA geführt wurden. Für die Interviewsammlung der SF wurde Bass am 9. Juli 1997 an seinem Wohnort in Adamsville befragt. Im Alter von 74 Jahren war er von seiner Tochter dazu überredet worden, die Organisation zu kontaktieren, um ein Video Testimony anfertigen zu lassen. Die Laieninterviewerin Karni Perez zeichnete seine Geschichte auf sechs Videokassetten mit einer Dauer von insgesamt 167 Minuten in seinem Wohnzimmer auf.272 Nachdem die GL sein Interview mit Boder auf der »Voices of the Holocaust«-Website veröffentlicht hatte, war es dem Journalisten Carlo Marziali gelungen, Kontakt mit Bass in Alabama aufzunehmen. Er befragte ihn 2001 in Birmingham, und anschließend wurde ein 23-seitiges Transkript des Interviews auf der Chicagoer Website publiziert.273 Aufgrund der Kooperation der GL mit dem USHMM konnte 270 Vgl. Passagierliste S/S Ernie Pyle, 3.1.3.2/81650238/ITS Digital Archive, Arolsen Archives. 271 Vgl. Birmingham Holocaust Education Center: Bass, Jack, UR L : https://bhecinfo. org/survivors/bass-jack/; zuletzt aufgerufen am 29.07.2021. 272 Vgl. Jack Bass, 09.07.1997, Interview 30765, USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education, Im Folgenden: Bass, V H A 1997. 273 Unklar ist allerdings, in welchem Format (Audio oder Video) das Interview aufgezeichnet worden war. Auf einer älteren Version der Voices-Homepage stand online lediglich ein Transkript zur Verfügung, das erhebliche Fehler aufwies – etwa die falschen Angaben der Namen von David Boder als »David Border (sic)« und Jürgen Bassfreund als »Juergren (sic) Bassfreund«. Über die Wayback Machine des Internet Archive lässt sich diese ältere Version der Website einsehen, vgl. Voices of the Holocaust: Jack Bass aka
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das Team des DOH Kontakt zu Bass aufnehmen und fertigte zwei Jahre später in Washington, D. C., ihr Interview für das Boder-Projekt mit ihm an. Mit einer Dauer von 270 Minuten, aufgezeichnet auf neun Videokassetten, war die Aufnahme der Interviewerin Joan Ringelheim das umfangreichste Interview mit Jack Bass.274 Im Gegensatz zum deutschsprachigen Interview mit Boder wurden alle späteren Interviews auf Englisch geführt. Im frühen Interview mit Boder war die Erzählung von Bassfreund besonders stark durch den Ausdruck von Fassungslosigkeit geprägt. 1946 hatte er mehrfach angegeben, dass er nicht begreifen konnte, was mit ihm und den anderen Juden geschah, als sie im März 1943 in Berlin verhaftet und zum ihnen unbekannten K Z Auschwitz deportiert worden waren. Erst nachträglich konnte er die Vorgänge im Lager verstehen, was er mehrfach durch Aussagen wie »[i]ch wusste damals noch nicht« oder »[w]ir haben später erst erfahren« ausgedrückt hatte.275 Dieser Ausdruck des nachträglichen Verstehens ist ebenfalls in den späteren Erzählungen von Bass präsent. So betonte Bass etwa im Interview mit der SF 1997 in der Erinnerung an seine erste Mahlzeit in Auschwitz, dass er nicht verstehen konnte, warum sich die Gefangenen auf das verrottete, ungenießbare Essen gestürzt hatten: »Later on I learned fast that people are hungry and you had to do it in order to survive.«276 Im Interview mit dem USHMM , das Ringelheim sechs Jahre später mit ihm führte, schildert er diese Erinnerung nahezu identisch: Bass: I couldn’t understand how fast the other guys, they were fighting over it, hitting each other, they p/ but in a minute it was gone, you know. And I didn’t he/ I couldn’t understand what was such a big attraction, you know, this bowl of Sauerkraut. But later I knew what it was, that these people were starved, you know?277 In den wiederholten Erzählungen von Bass stellte dieser Ausdruck der Fassungslosigkeit eine eindrückliche Konstante dar. Als er im Jahr 2001 von Marziali im Kontext des Chicagoer Voices-Projekt gefragt wurde, ob sich die Pers-
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Juergren Bassfreund, Snapshot der Homepage vom 07.02.2004, UR L : https://web. archive.org/web/20040926112458fw_/http://voices.iit.edu/z_mock/featured.html; letzter Zugriff am 29.07.2021. Im Folgenden: Bass, Marziali 2001. Vgl. Oral history interview with Jack Bass, 17.10.2003, RG -50.562.0001, UR L : https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn514241; letzter Zugriff am 01.07.2019. Im Folgenden: Bass, USHMM 2003. Bassfreund, Boder 1946. Bass, V H A 1997. Die Transkriptionen dieser Aufnahme basieren größtenteils auf der leicht überarbeiteten Vorlage des 10-seitigen Teiltranskriptes durch das Projekt »Zeugen der Shoah«, vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Freie Universität Berlin (Hg.), Zeugen der Shoah. Fliehen – Überleben – Widerstehen – Weiterleben. Lernsoftware mit Video-Interviews, Bonn 2013. Bass, USHMM 2003.
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pektive oder Interpretation seiner Erfahrungen über die Jahrzehnte verändert habe, führte Bass aus, dass er seine Erlebnisse noch immer kaum fassen könne: Marziali: Did your perspective change at all over the years? Here you were twenty-two years old you were telling the story for the first time to somebody. Fifty years later you’re telling the story again to younger generations, had you processed and analyzed what had happened fully by the time the war ended or has your view of the significance and what happened and the reasons that happened, has that changed over the years? Bass: No, not really, I’ll tell you something. I still cannot understand it here today. I have read so many books. I read almost any book available about the Holocaust and well I know how it was and I/ these/ most of the reports are very factual and are written by people who lived through it. I still can’t understand how it could have happened. It’s just unbelievable.278 Bass betonte, dass er zahlreiche Bücher über den Holocaust gelesen habe, aber noch immer nicht verstehen könne, wie die Verbrechen möglich waren. Seine Perspektive habe sich demnach auch nach Jahrzehnten nicht verändert: »I still cannot understand it here today.« Auch in den anderen späteren Interviews verwies er explizit darauf, dass er sich in den USA intensiv mit dem Nationalsozialismus und der Ermordung der Juden auseinandergesetzt hatte, doch noch immer könne er die Verbrechen nicht begreifen. Als er 1997 im Interview für die SF gegen Ende der Aufnahme danach gefragt wurde, was Bass seinen Töchtern über seine Erfahrungen des Holocaust erzählt habe, gab er deutlich zu verstehen, dass der Massenmord an den Juden für ihn selbst noch immer nur schwer zu begreifen war und er seine Erfahrungen deswegen auch kaum kommunizieren könne. Auch gegenüber Ringelheim wiederholte er diese Einschätzung: Bass: It was a t/ it was a tough time, horrible. Not even these museums and the books can really/ even my speech cannot really reflect all the things which happened there, and you cannot/ of course you cannot feel it, because it didn’t happen to you. I even today/ it/ don’t feel it any more to the same extent.279 Er gab zu verstehen, dass eine Einfühlung in die Erlebnisse im Holocaust nicht möglich sei, da den Zuhörenden schlicht die leibliche Erfahrung fehle. Ein Nacherleben der historischen Ereignisse sei demnach schlichtweg unmöglich – selbst seine eigenen Erinnerungen an die körperlichen Erfahrungen seien nicht mehr so intensiv, wie dies kurz nach dem Ende des Krieges der Fall gewesen war. Daher betonte er, dass er noch immer versuche zu begreifen, was damals 278 Bass, Marziali 2001; Der Autor hat Rechtschreibfehler und Zeichensetzung des Transkriptes zum Zwecke der besseren Lesbarkeit korrigiert. 279 Bass, USHMM 2003.
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geschehen war und warum. Im Interview mit Boder hatte er dies 1946 mit seinem abschließenden Satz auf den Punkt gebracht: »[M]an kann es nicht so schildern, wie es wirklich gewesen ist.«280 Die Versuche von Bass, seine Erinnerungen trotz allem mitzuteilen, waren in den späteren Interviews insbesondere durch eine Vielzahl von ähnlich gestalteten Erzählungen geprägt. Im Wiedererzählen nutzte er oftmals Anekdoten, die er in alle Interviews einbaute. Diese Anekdoten gewichtete er allerdings unterschiedlich, womit sich teilweise auch die Bedeutung seiner Erzählungen veränderte. Im Interview mit Boder hatte Bassfreund etwa ausführlich über seine Deportation vom K Z Groß-Rosen zum K Z Dachau im Januar 1945 erzählt und beschrieben, wie er Leichen im Inneren des völlig überfüllten Wagons in Decken eingewickelt und verstaut hatte, um Platz für die Lebenden zu schaffen. Boder hatte diese Konstruktion als Hängematte bezeichnet, und Bassfreund hatte diese Formulierung von ihm übernommen. Zudem gab er gegenüber Boder zu verstehen, dass ihm während der Deportation seine Hose zerrissen worden war. Die Erzählung über diese Deportation findet sich auch in den drei späteren Interviews, allerdings mit unterschiedlichen Deutungen. Über seine zerrissene Hosen sprach Bass im Interview mit der SF 1997 nicht, wohl aber über die behelfsmäßige Hängematte: »[W]e took our blankets and we strung them up because there was no space on the bottom for them, they were dead […].«281 Detailliert beschrieb er anschließend den Überlebenskampf im Inneren des Wagons: Bass: It was a long trip, I remember. I don’t know exactly how long. I remember I/ we, er/ I used to st/ stand on people, you couldn’t help it. I mean if somebody was weak, and couldn’t stand, would fall. And you, er/ there were so many people, so many legs, you would stand/ and then/ you had just a little space to balance yourself. So sometimes, you would stand on somebody’s head and somebody’s neck, you couldn’t, just couldn’t help it. There was no other way. I mean, not intentionally, you there/ you didn’t even know about it. And then sometimes you did/ I remember there was one guy, my friend and I/ we/ we straightened him up. And he was all bloody because everybody was standing on his face. No blood was on/ and then he stayed there for a coup/ cou/ I don’t know what happened to him later, but I didn’t see him anymore. A lot of people died in those trains because they suffocated, they, er, they were so overloaded these/ these cars.282 Er berichtete von Personen, die im Gedränge des Zuges zu Tode getrampelt wurden, und erinnerte sich bildhaft an eine Person mit blutverschmiertem 280 Bassfreund, Boder 1946. 281 Bass, V H A 1997. 282 Ebd.
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Gesicht. Ganz ähnlich war seine Beschreibung des überfüllten Wagons vier Jahre später im Interview mit Marziali. Wieder griff er das Motiv der Hängematte auf: Bass: And then they the Germans put us in on a train and we were gone for five days. The trains were of course crowded you know people couldn’t sit and there was just not enough space so a lot of people died. So what we did, we had no space and we used to take a blanket and hang them in the car like on a hammock.283 Im Interview mit Ringelheim für das USHMM im Jahr 2003 beschrieb Bass die Geschichte über die Konstruktion der improvisierten Hängematte erneut in fast exakt gleichem Wortlaut: Bass: And then finally we went into a train. Again a freight train, again overcrowding, again no food, and we had an awful lot of people dying in that thing. It was really so bad we couldn’t leave them on the ground. I mean, they were laying on the ground we couldn’t sit, couldn’t stand/ so if you did this/ we had a brilliant idea, we took one of the blankets and we knotted it onto the/ the two metal bars there where the sliding door was, and we made a hammock out of them, we put the corpses in that. And, ’course not a nice thing to see when there’s/ every time you see dead heads shaking back and forth. But it was better than having them on the ground, we/ the/ the living had to sit.284 Die Erinnerungen von Bass an dieses Erlebnis schienen sehr bildhaft zu sein, er beschrieb in allen vier Interviews ausführlich und detailliert den überfüllten Wagon, die notdürftige Verstauung der Leichen in den Decken und den Kampf um das Überleben. In allen Erzählungen tauchte das Motiv der Hängematte auf, gegenüber Ringelheim klassifizierte Bass diese Konstruktion gar als »brilliant idea«, da sie den Lebenden etwas mehr Raum zum Sitzen verschaffte, was das eigene Überleben ermöglichte. Bass versuchte demnach mittels der detaillierten Schilderungen, einen Einblick in die Ereignisse im Inneren des Deportationszuges zu geben, die ihm im Abstand von fast 60 Jahren noch immer kaum vermittelbar erschienen. Zugleich nutzte er das wiederkehrende Motiv der Hängematte als eine Art Muster für seine Erzählungen: Ulrike Jureit hat ausgeführt, dass dies psychologisch erklärt werden kann: »Die Ausbildung fester Erzählmuster unterstützt das Bedürfnis, zum einen weiterhin über die traumatischen Erfahrungen sprechen zu können, zum anderen ermöglicht sie mit deren Bedrohlichkeit umzugehen.«285 283 Bass, Marziali 2001. 284 Bass, USHMM 2003. 285 Ulrike Jureit: Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, Hamburg 1999, S. 184.
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Verändert hatte sich in seiner Darstellung insbesondere die Interpretation bestimmter Erfahrungen. Im Wissen um Boders Interview hatte sich Ringelheim in der Vorbereitung Notizen zu der beschriebenen Deportation nach Dachau aufgeschrieben und notierte: »His pants were ripped and he was in his underwear somehow.«286 Im Interview von 2003 stieg Ringelheim nach einem Kassettenwechsel direkt mit einer Frage nach der zerrissenen Hose ein: Ringelheim: Jack, did your pants rip on this train trip? Bass: Yeah. Ringelheim: So that you were in your underwear? How did that happen? Bass: I don’t remember/ any/ exactly any more how it happened, but my pants ripped lengthwi/ oh, I know how it happened, I now remember. People were dying, they were trying to pull themselves up, and they ripped my pants. Ringelheim: Huh. So you were in your un/ you lost your pants? Bass: Uh-huh. I/ Ringelheim: Essentially? Bass: I think I didn’t lose my pants, what I did is, they/ they were very modern pants now, they were/ you don’t have to slip into them [Ringelheim lacht] you went like this with them [bewegt seine Arme] And I must have somehow found something to hold it together like a nail or something, so I was not really/ I wouldn’t arrive in Dachau without my pants, you know. Ringelheim: Right, right, it/ Bass: That doesn’t look too good. Ringelheim: Right.287 Auf Ringelheims Nachfrage nach den zerrissenen Hosen reagierte Bass zunächst ausweichend und dann mit scherzhaften Antworten, die Ringelheim in der Videoaufzeichnung hörbar zum Lachen brachten. Die Videoaufnahme zeigt, wie Bass an dieser Stelle ebenfalls lacht und eine Armbewegung machte, die von der halbtotalen Kameraeinstellung allerdings nicht ganz eingefangen wurde (vgl. Abb. 7). Vermutlich deutete er bei der Beschreibung der »modern pants« an, wie er in eine Jogginghose schlüpfte. Bass gestaltete seine Erzählung in der Form einer lustigen Anekdote, was ebenso durch seine Mimik und Gestik unterstützt wurde. Damit gelang es ihm die Geschichte erneut zu erzählen, ohne jedoch in Konflikt zu seiner veränderten Rolle als Holocaust-Überlebender zu geraten. Seine scherzhafte Aussage, dass er im K Z Dachau nicht ohne Hose angekommen wäre, weil dies nicht so gut ausgesehen hätte, verwies auf
286 Joan Ringelheim, Arbeitsnotizen, in: USHMM , Privatarchiv Elizabeth Hedlund, Files from the Boder interview project, Ordner: Bass, Jack (a. k.a. Jürgen Bassfreund). 287 Bass, USHMM 2003.
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die veränderte gesellschaftliche Erwartungshaltung und seine neue Rolle während des Interviews.288 Zur Bedeutung dieser veränderten öffentlichen Rolle als Überlebender war Bass von Marziali im Interview aus dem Jahr 2001 explizit befragt worden: Marziali: These are experiences that the rest of us don’t, really can’t comprehend, but what is it like when you go to schools, you’re introduced as a survivor is it accurate? What is it like to be referred to as a Holocaust survivor? It seems sort of like a one-dimensional term to apply to somebody. Bass: It doesn’t bother me after all it is really true. I mean I’m a survivor of the Holocaust and I don’t feel it’s a misinterpretation or in any way wrong to say.289 Im Anschluss an die Frage, wie es sei, als Holocaust-Überlebender bezeichnet zu werden, lieferte Marziali sogleich seine Antwort: Der Begriff des »Holocaust survivor« sei eindimensional und lege die Identität auf nur diese eine Rolle fest. Doch Bass widersprach und betonte, dass er sich explizit als Survivor verstehe, denn schließlich treffe diese Kategorie auf seine biographischen Erlebnisse zu. Die Anmerkung von Marziali führte für ihn zu einer Verteidigungshaltung seiner Identität. Im Interview mit Ringelheim für das USHMM bestärkte Bass in der Erzählung über seine zerrissene Hose im Jahr 2003 seine Rolle als Überlebender und damit auch seine Autorität als Zeuge des Holocaust. Mit dieser Rolle als Zeuge änderte sich ebenfalls die Funktion seiner Erzählung, was sich an der Bedeutung von moralischen Lektionen als Lehre aus dem Holocaust aufzeigen lässt. Mit Fragen nach sinngebenden Botschaften dürfte Bass in den 1990er und 2000er Jahre bereits bestens vertraut gewesen sein: Er konnte auf seine Erfahrungen als geübter Sprecher in der Funktion als Holocaust-Überlebender vor Schulkassen zurückgreifen. Die Motivation für seine Interviews basierte jedoch, wie es auch der Fall in allen anderen bisher analysierten Interviews war, zuallererst auf persönlichen Beweggründen. In der Aufnahme von 2001 fragte Marziali etwa, was die Motivation von Bass für das Interview mit Boder gewesen sei: Marziali: Were you willing to be interviewed, or did you feel that it was something that you had to do because somebody had told you to do the interviewing? 288 Kangisser-Cohen hat in ihrem Vergleich der Interviews von Bass den Aspekt der Identität als Holocaust-Überlebender ebenfalls betont, beachtet den Aspekt der Komik allerdings gar nicht. Ihre Thesen wirken daher eindimensional, da sie die Interaktion von Bass mit der Interviewerin lediglich auf die textliche Ebene beschränkt, in der die Komponente des Scherzes nicht so deutlich wird wie in der Videoaufzeichnung, vgl. Kangisser Cohen, Testimony and Time, S. 104-107. 289 Bass, Marziali 2001.
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Bass: No, I did it entirely because I knew that people should know about it because it’s very hard even today it’s really hard for people to comprehend what really happened there. So I figured especially for the Germans I was interested in telling the stories of what was going on there, they always said they didn’t know but of course they did know.290 Das Erzählen von Bassfreund richtete sich 1946 an die postnationalsozialistische deutsche Bevölkerung und gegen deren kollektive Schuldabwehr. Im Interview mit Boder hatte Bassfreund angegeben, dass die Deutschen sich keiner Schuld bewusst gewesen waren und das Leid der Opfer von Konzentrationslagern mit Bombentoten aufgerechnet hatten. Daher war er 1946 auch dankbar für die Möglichkeit, über seine Erfahrungen in den K Z s sprechen zu können. Im Interview mit Marziali gab Bass ebenso zu verstehen, dass er noch immer tiefe Ressentiments gegenüber den Deutschen hege, da der Holocaust nicht Abb. 7: Jack Bass reinterpretiert im Interview mit dem USHMM (17. Oktober nur von wenigen Nazis verübt worden 2003) scherzend die Erinnerung an seine sei, sondern vielmehr die deutsche während einer Deportation im Frühjahr Volksgemeinschaft die Verantwortung 1945 zerrissene Häftlingshose. Interviewfür die Verbrechen trage. Daher wollte erin: Joan Ringelheim. er auch nicht von Nazis, sondern von Deutschen sprechen: »I refer to the Germans because when you say the Nazis you think that was a small group of people that perpetrated all these crimes. But it was the whole nation.«291 Nach dieser kritischen Anmerkung über den NS -Massenmord als kollektives Mordprojekt führte Bass die Bedeutung dieses Arguments noch weiter aus und gab zu verstehen, dass er den Deutschen seiner Generation äußerst kritisch gegenüberstehe: 290 Ebd. 291 Ebd.
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Bass: I don’t like the Germans. I mean, I would not live there if they paid me a thousand dollars a week. I wouldn’t want to be there. There’s nothing to be bitter, but I cannot blame people that were born twenty or thirty years ago for what happened there. That would be just as wrong as what the Germans did to us. But the older ones I’m very critical of, people my age or people that lived during that time.292 Gegenüber Marziali äußerte Bass seine tiefe Abneigung gegen Deutsche, die während der Zeit des NS gelebt hatten, da sie allesamt Mittäter der Verbrechen gewesen wären. Im Interview mit der SF hatte er 1996 gegenüber Perez ebenso angegeben, dass er niemals nach Deutschland zurückkehren würde. Dies hatte er unter anderem damit begründet, dass er auch nach dem Krieg negative Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland gemacht hatte: Perez: Did you go back ever? Bass: Yeah I was there in 1972 and I found the people just as bad and/ as they were in/ during Hitler’s time […] I find them just as bad and as antisemitic as they were/ of course now they have to be a little more cautious about expressing themselves because there’s no more Hitler but I don’t think that their character has changed and that’s why I feel very much afraid of Jewish people to settle there. I wouldn’t want to see my grandchildren go into an oven.293 Bass war davon überzeugt, dass die Mentalität der Deutschen noch immer von einem eliminatorischen Antisemitismus durchdrungen sei und sich der Holocaust wiederholen könnte: Seine Befürchtung, dass seine Enkelkinder in einem K Z ermordet werden könnten, drückte sich unter anderem in dem von ihm verwendeten Begriff des »Ofens« aus. Gegenüber Perez erzählte Bass auch ausführlich über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland, bis ihn die Interviewerin der SF schließlich unterbrach, um zur erwünschten Chronologie der Erzählung zurückzukehren. Unmittelbar zum Schluss der Aufnahme fragte die Interviewerin nach der obligatorischen Botschaft, und daraufhin griff Bass seine Erzählung über den Antisemitismus der Deutschen erneut auf: Perez: Is there anything that we haven’t asked you that you would like to talk to us about, to say as a personal statement? Bass: Yeah, I can, I can only say in conclusion that I’m very happy to be here. And I think, er, that the biggest legacy I gave my children and grandchildren is the fact that they are here and not over there. That’s all I got to say more or less.294
292 Ebd. 293 Bass, V H A 1996. 294 Ebd.
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Die abschließende Frage nach einer persönlichen Stellungnahme ist als Forderung nach einer moralischen Botschaft für die zukünftigen Generationen zu begreifen. Bass antwortete bereitwillig und verwendete den Begriff legacy in Bezug auf seine familiären Nachkommen: Das Erbe, das er seinen Kindern und Kindeskindern hinterlassen habe, liege darin begründet, dass sie in den USA und nicht »over there« leben würden – damit war Deutschland gemeint. Seine persönliche Lektion war deutlich: Bass war froh, dass er und seine Nachkommen nicht mehr im als antisemitisch beschriebenen Deutschland, sondern in den USA lebten. Seine individuell-eigensinnige Botschaft betonte gerade keine Versöhnung und Toleranz, sondern seinen anhaltenden Groll gegen die Deutschen. Im Interview mit dem USHMM im Jahr 2003 spielten seine Ressentiments gegen Deutsche hingegen keine Rolle mehr. Prägnant für die Interaktion mit Ringelheim waren vielmehr humoristische Anekdoten, wie etwa die bereits dargestellten Ausführungen über seine zerrissene Hose. In der gesamten Videoaufnahme des USHMM wird deutlich, dass sich Bass sehr gut mit der Interviewerin verstand und sich die vertrauensvolle Interaktion mit Ringelheim deutlich auf die Form seiner Erzählungen auswirkte. Zum unmittelbaren Schluss des Interviews von 2003 wurde dies besonders deutlich, da Bass betonte, wie gut ihm das Interview sowie Joan Ringelheim als Interviewerin gefallen hatte: Ringelheim: You’ve had quite a life. Bass: Yeah, I could say that. Ringelheim: [3 sec] Is there anything that you would like to say that we haven’t covered? Bass: No, but I would like to say that I thank you very much. You/ the interview was very good. I like the way you ask the questions, and the way you treated me, and your tone of voice, I like everything about you. Ringelheim: Aren’t you nice? Bass: Unfortunately you’re married [but I mean?]/ Ringelheim: /[lacht] Actually, I’m not. [lacht] Thank you. I really am very grateful that you came. Bass: And/ no, I really liked it. I/ I took a liking/ well, when I/ when I was in the car, I did not know you that well, but as soon as I came here I took a great liking to you. Ringelheim: I’m glad. Bass: You are in/ on the first page of my book of well liked people. Ringelheim: Oh, you’re very sweet. And I thank you very much for agreeing to be interviewed here. Bass: And I thank you for having me and interviewing me. Ringelheim: Okay.295 295 Bass, USHMM 2003.
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Im Schlussdialog der Videoaufzeichnung gab Bass sehr deutlich zu verstehen, dass er anfänglich noch etwas skeptisch gegenüber Ringelheim als Interviewerin gewesen war, doch nach der viereinhalbstündigen Aufnahme überschüttete er sie mit Komplimenten: »I like the way you ask the questions, and the way you treated me, and your tone of voice, I like everything about you.« In diese charmante Danksagung fügte er ebenfalls die humorvolle Bemerkung ein, dass Ringelheim bedauerlicherweise verheiratet sei. Damit entwickelt sich der Schluss des Interviews zu einem Flirt, und unter beidseitigem Lachen endet die Aufnahme, gefolgt lediglich von einem kurzen Abschnitt der Präsentation von Familienfotos. Diese humorvolle und vertrauliche Interaktion mit der Interviewerin war eine Besonderheit, die in keiner der anderen analysierten Interviews von Bass vorgekommen war. Gegenüber Marziali im Jahr 2001 und auch gegenüber Perez in der Videoaufnahme der SF 1997 war Bass zwar ebenfalls aufgeschlossen, und es entwickelte sich durch die informierten Fragen der Interviewenden ein lebhafter Dialog. Allerdings blieb eine gewisse Distanz bestehen. Im frühen Interview mit Boder, in dem Bassfreunds Erzählung durch ein fast emotionsloses Sprechen gekennzeichnet war, war diese Distanz am deutlichsten. In seiner Reflexion auf Boder als Interviewer bestätigte Bass dies im Jahr 2001 auch explizit: Marziali: What was your first impression of Dr. Boder? Bass: It’s hard to say, I mean, he was/ he reminded me a little bit of a teacher, of a school teacher.296 Bass klassifizierte Boder als Schullehrer und darauffolgend als »very formal«. Auch Oberrotman hatte in ihrem Interview mit dem USHMM angegeben, dass Boder sie an einen autoritären Professor erinnert habe, in ihrem Falle an ihren russischen Professor, vor dem sie in der Schulzeit große Angst gehabt hatte. Die Einschätzung von Bass über Boder als Interviewer war gegenüber Ringelheim sogar noch negativer, er bezeichnete das Interview als eine Art Verhör: Ringelheim: What was that like for you, to be interviewed by him? Is this the first time anyone had asked you what had happened? Bass: Yeah. Well, no, some Germans were interest to hear what really happened there, and so on, they listened to me, say they never/ they never really said we did a wrong thing, or they never apologized. It was just/ they were interested in hearing it, like, you know? And he was/ he wa/ I don’t think/ he was a good interviewer, but he was like a/ like a general talking to a sergeant, you know? Or a general talking to a private or a corporal, you know? He was/ he was not a per/ a person with a/ he had no personality at all. He was like what they call in German a Pädagoge, a pedagogue. He was strictly like a teacher ›Where were you born? How 296 Bass, Marziali 2001.
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long did you live there? What came next? What did you do there, what did you do?‹ It was like an interrogation more than an interview/ Ringelheim: /and not an interview/ So were you uncomfortable with him, do you remember? Bass: No, I wouldn’t say I was uncomfortable with him, but I never really could unders/ I mean, I/ I would/ I had never kind of a close contact feeling with him, what you have/ like I have with you, you know, because/ not because he was a man, that might be one of the reasons, but he/ he was like a/ I don’t know, very p/ without feelings, like, you know? Without emotions. He was a man like that, probably that’s how he was.297 Bass wollte Boder zunächst nicht als schlechten Interviewer bezeichnen, aber klassifizierte ihn als einen emotionslosen Menschen, der keinerlei Persönliches preisgegeben hätte. Er verglich ihn erneut mit einem Lehrer sowie mit seinen Militärerfahrungen in der amerikanischen Nationalgarde. Ähnlich wie seine damaligen Vorgesetzten hätte Boder eine strikte Beantwortung seiner Fragen erwartet, was Bass schließlich zu der Aussage führt, dass ihm das Interview als Verhör in Erinnerung geblieben sei. Ausdrücklich gab Bass an, dass die kalte und emotionslose Interaktion mit Boder das genaue Gegenteil der Interviewführung seitens Ringelheim war: »I had never kind of a close contact feeling with him, what you have/ like I have with you.«298 Bass reflektierte dabei ebenfalls darüber, dass der Unterschied auch durch das Geschlecht beeinflusst war – im Gegensatz zu der Aufnahmesituation im DP-Camp Funkkaserne und als 22-Jähriger, der durch den älteren Professor Boder regelrecht verhört wurde, fühlte sich der 80-jährige Bass im Aufnahmestudio in Washington, D. C., in Gegenwart der jüngeren Interviewerin Ringelheim wesentlich wohler. Am deutlichsten hatte sich dies im beschriebenen Flirt zwischen Bass und Ringelheim zum Ende der Aufnahme ausgedrückt. Die unverkennbare Bedeutung des emotionalen Vertrauens und der Expertise von Ringelheim als emphatischer Interviewerin lässt sich abschließend anhand der Analyse weiterer humorvoller Anekdoten aufzeigen. Nachdem Bass im Interview des USHMM gegen Ende der siebten Kassette ausgeführt hatte, dass er noch immer nicht verstehen könne, wie es zu den Verbrechen des Holocaust kommen konnte, erzählte er anschließend über einen nicht namentlich benannten Bekannten aus Auschwitz, der als Strafe in den Stehbunker gesperrt worden war. Bass wirkt dabei sehr emotional, die Kameraaufnahme zeigt Tränen in seinen Augen. Bedingt durch das Ende der Kassette folgte eine Unterbrechung der Aufnahme. Zu Beginn der nächsten Kassette schien Ringelheim die Stimmung auflockern zu wollen und stellte zunächst Fragen danach, ob in Auschwitz viel über Essen gesprochen worden 297 Bass, USHMM 2003. 298 Ebd.
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sei.299 Danach wechselte die Interviewerin erneut das Thema und fragte nach der Bedeutung von Humor im Lager: Ringelheim: Did some people have a sense of humor in Auschwitz? Bass: Yeah. Ringelheim: Did you know some of these people? Bass: Yeah, me. Ringelheim: You? [lacht] Bass: [lacht] Yours/ yours truly had the sense of humor. I know there was one guy that used to perform at night [lacht] sometimes, when the Kapo wasn’t around eh, he would/ Ringelheim: /What would he? Bass: /recite plays or something like that. Ringelheim: Really? Bass: Yeah. Ringelheim: And were you telling jokes? Bass: No, I wasn’t telling jokes, but we talked, you know. And/ Ringelheim: So, did you make people laugh? Bass: Yeah, sometimes. Ringelheim: Yeah? Bass: There wasn’t really that much to laugh over there/ Ringelheim: /I would/ Bass: /even the jokes were not funny anymore.300 Die langjährige Erfahrung von Ringelheim als Interviewerin spielte eine entscheidende Rolle in diesem Dialog. Aufgrund der Tatsache, dass die beiden während des Interviews bereits einige Male zusammen gelacht hatten, schien die Interviewerin Bass’ großen Sinn für Humor bemerkt zu haben. Der gezielte Einsatz des Themas seitens Ringelheim erschließt sich ebenso durch einen Blick auf die von ihr mitherausgegebenen Oral History Guidelines: The questions posed are very important, so studying the subject areas in the person’s life is imperative. But the interaction between interviewee and interviewer can create a bond between the two people that even ›stupid‹ questions can not destroy. It is within that bond that questions and answers flow, and that history is revealed.301 Die Frage nach Humor in Auschwitz erscheint zunächst als eine dieser albernen oder abwegigen Fragen, doch genau durch diese Frage erwirkte Ringelheim eine innigere Beziehung zu ihrem Gegenüber. Bass gab aufgrund der 299 Der thematische Einstieg in die neue Kassette deutet darauf hin, dass eine Unterbrechung des Interviews zwischen Kassette sechs und sieben stattgefunden hatte, vermutlich für eine Essenspause. 300 Bass, USHMM 2003. 301 Ringelheim, Donahue, Rubin, Guidelines, S. vi.
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persönlichen Verbindung mit der Interviewerin viel mehr von seinem Charakter preis, was in den Interviews mit Boder, Perez oder Marziali nicht der Fall war. In einer Charakterisierung von Bass durch die Fotografin Becky Seitel wird dies überdeutlich. Seitel hatte im Jahr 2007 zusammen mit dem Maler Mitzi J. Levin eine Ausstellung unter dem Titel »Darkness into Life«: Alabama Holocaust Survivors Through Photography and Art erarbeitet. Dafür wurden die Lebensgeschichten von neun Überlebenden dargestellt, Bass war einer von ihnen.302 Ihre Interaktion mit Bass im Zuge des künstlerischen Projekts beschrieb Seitel folgendermaßen: Spend 15 minutes with Jack Bass and you’ll be entertained by Truman Capote, Winston Churchill, and Ronald Reagan. ›I inherited my sense of humor from my grandfather. Of course, it disappeared when I was at Auschwitz. I became numb there … no anger, no pain, no feeling at all. It was difficult to focus on anything. I was just trying to live another hour.‹ Through the years, that sense of humor has been reborn. Impersonations of movie stars and politicians are near perfect. Conversations are filled with wit and laughter. When asked how he feels about doubters of the Holocaust, he quips, ›If the Holocaust didn’t happen, I went through one heck of a weight loss program for nothing!‹303 Die Fotografin stellte Bass als humorvollen Mann dar und zitierte ihn mit der Aussage, dass es nach 1945 mehrere Jahre gedauert habe, bis er seinen Humor wiedergefunden hatte. Dies deckt sich auch mit den Aussagen von Bass gegenüber Ringelheim im Interview von 2003, wo er ausgeführt hatte, dass in Auschwitz selbst Witze nicht mehr lustig waren. Doch in den 2000er Jahren war Humor durchaus ein probates Mittel für ihn, um über den Holocaust zu sprechen. Ganz ähnlich wie in der Interaktion mit Ringelheim benutzte Bass auch gegenüber Seitel das Mittel der Ironie, in diesem Falle, um sich über Holocaustleugnung lustig zu machen. Dies belegt, dass die Thematisierung von Humor durch Ringelheim eine äußerst produktive Frage war, um ihren Interviewpartner besser kennenzulernen.304 Humorvolle Erzählungen boten dem Interviewten eine Möglichkeit, über seine Erinnerungen an das K Z Auschwitz zu sprechen. Damit hatte Bass eine Form für die Darstellung des Holocaust gefunden, in der die Betroffenen Teil eines humorvollen Diskurses waren, 302 In der Erweiterung des Projekts auf 20 Überlebende ist es seither Teil einer OnlineAusstellung vgl. Birmingham Holocaust Education Center: The Hevre (The Group), UR L : https://bhecinfo.org/survivors/the-hevre-the-group/?survivor-info=dil; letzter Zugriff am 29.07.2021. 303 Becky Seitel, Did You Hear the One About…, UR L : https://bhecinfo.org/survivors/ bass-jack/?survivor-info=dil; letzter Zugriff am 29.07.2021 304 Vgl. Greenspan, Bolkosky, Interview, S. 147.
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»ohne sie dadurch je selbst der Lächerlichkeit preiszugeben«.305 Somit erwies sich Humor als praktikables Mittel der persönlichen Verarbeitung. Nicht nur während der Zeit der Verfolgung konnte Humor als Abwehrmechanismus helfen, sondern auch im nachträglichen Wiedererzählen ermöglichte es einen Umgang mit den Erfahrungen, die Bass an anderer Stelle mehrfach als völlig unbegreiflich klassifiziert hatte.306 Zusammenfassend lässt sich zunächst die starke Kontinuität in den Erzählungen von Bass in allen vier analysierten Interviews festhalten. Als konstante Merkmale wurden seine anhaltende Fassungslosigkeit und die Betonung des nachträglichen Verstehens herausgearbeitet. Am Beispiel der wiederholten Erzählung über seine Deportation zum K Z Dachau im Frühjahr 1945 konnte aufgezeigt werden, dass Bass bestimmte Erinnerungen nahezu wortwörtlich identisch in allen vier Interviews erzählte und dahingehend auf Erzählmuster zurückgriff, die ihm bei der Verarbeitung der Erinnerungen halfen. Die aufgezeigten Unterschiede im Wiedererzählen betrafen insbesondere die Interpretation seiner Erinnerungen. Seine Perspektive hatte sich von der eines hilflosen Opfers im Interview mit Boder zum anerkannten Holocaust-Überlebenden als Erzähler verändert. In den späteren Interviews in den USA hatte Bass zudem mehr Vertrauen zu den verschiedenen Interviewern und weitaus mehr Zeit, um seine Erzählung um weitere Anekdoten zu ergänzen. Insbesondere durch das Mittel des Humors fand er eine Möglichkeit, mit der Widersprüchlichkeit seiner Erfahrungen umzugehen. Zum einen gab er in allen Interviews zu verstehen, dass er trotz seines nachträglichen historischen Wissens die Ereignisse des Holocaust noch immer kaum begreifen konnte. Zum anderen ermöglichte ihm die Form der humoristischen Anekdote eine Darstellung und Mitteilung seiner Erinnerungen. Die Bedeutung von moralischen Botschaften und Lehren war im Vergleich zu den anderen Interviewanalysen hingegen auffällig nebensächlich. Lediglich am Ende des Interviews der SF wurde er einmalig nach einer persönlichen Stellungnahme gefragt, die im Sinne einer moralischen Lektion interpretiert wurde. Ganz im Gegensatz zur institutionellen Erwartung war das Vermächtnis, das Bass seinen Nachkommen hinterlassen wollte, allerdings gerade nicht versöhnlich und auf Toleranz ausgerichtet. Dem Imperativ der Versöhnung widersetzte sich der aus Deutschland verjagte Jude und äußerte seine Freude darüber, dass seine Kinder und Enkel in den USA lebten und nicht in Deutschland, dass er mehrfach als ein zutiefst antisemitisches Land charakterisiert hatte.
305 Rüdiger Steinlein: Das Furchtbarste lächerlich? Komik und Lachen in Texten der deutschen Holocaust-Literatur, in: Kunst und Literatur nach Auschwitz, hg. von Manuel Köppen, Gerhard Bauer und Rüdiger Steinlein, Berlin 1993, S. 97-106, hier S. 103. 306 Zur Bedeutung von Humor als Abwehrmechanismus während der Zeit des Holocaust, vgl. Ostrower, Leben, S. 73-82.
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Zwischenfazit Wie haben sich die Erzählungen von Opfern des Holocaust seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verändert? Welche Auswirkungen hatten veränderte Prozeduren des Fragens und verschiedene Erwartungen sowie das jeweilige Interviewsetting auf das Wiedererzählen? Durch die vergleichenden Interviewanalysen der mehrfachen Erzählungen von fünf jüdischen Überlebenden des Holocaust im Zeitraum von 1946 bis 2006 konnte detailliert aufgezeigt werden, dass sich die veränderten Funktionen der Zeugenschaft erheblich auf die Interpretation und Darstellung der erinnerten Erlebnisse ausgewirkt haben. Der Vergleich von Kontinuität und Wandel der Erzählungen über einen Abstand von bis zu 60 Jahren bestätigte die in der Einleitung der Arbeit besprochene kontraintuitive These, dass sich die Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust nicht an nationale Kollektiverzählungen angepasst haben, sondern vielmehr eine »beeindruckende narrative Beständigkeit«307 aufweisen. Die Ergebnisse dieser Arbeit decken sich dahingehend in entscheidenden Punkten mit Befunden aus vergleichbaren Studien über mehrfache Interviews mit Holocaust-Überlebenden, die etwa den Perspektiven- und Rollenwechsel der Befragten analysiert haben.308 Darüber hinaus habe ich geschichtskulturelle Veränderungen in den Blick genommen und danach gefragt, wie sich diese auf die Erzählungen ausgewirkt haben. Bei den untersuchten Interviews handelte es sich um Zeugnisse einer konflikthaften Kommunikation, und bezüglich dieses Merkmals lässt sich eine starke Kontinuität feststellen: Sowohl bei den frühen Befragungen durch den lettisch-amerikanischen Psychologen David P. Boder im Nachkriegseuropa als auch bei den späteren Interviews in den 1990er und 2000er Jahren in den USA und in Australien handelte es sich um ein dialogisches Ausagieren von unterschiedlichsten Interessen. Durch die historische Kontrastierung der mehrfachen Befragungen konnte deutlich aufgezeigt werden, dass sich die Konflikte insbesondere aufgrund von veränderten Erwartungshaltungen verlagert haben: Während die mündlichen Berichte über individuelle Erlebnisse 1946 die Grundlage für Boders psychologische Auswertung der Erzählungen als Ausdruck von Dekulturation und Traumatisierung waren, hatten die späteren Interviewer gänzlich andere Erkenntnisinteressen. Der Kampf gegen Holocaustleugnung und die Formulierung von universellen Botschaften standen im Fokus. Eine Metageschichte des Holocaust, die auf medial verbreiteten Ikonen und Symbolbildern basierte, sollte durch die Erzählungen der Interviewten exemplarisch belegt werden.309 Diese Erkenntnisinteressen drückten sich insbesondere in den Methoden der drei untersuchten Institutionen aus. Die Interviewproduktion der SF und des 307 Laub, Bodenstab, Wiederbefragt, S. 401. 308 Vgl. Kangisser Cohen, Testimony and Time, S. 232; Schiff et al., Consistency and Change. 309 Vgl. Stier, Holocaust Icons.
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JHC verfolgten weitestgehend ähnliche Ziele. Die auf Video dokumentierten Interviews sollten an die Nachwelt überliefert werden und hatten entsprechende pädagogische Ansprüche. Abhängig waren diese veränderten Zwecke jedoch auch von den konkreten Interviewern, welche die Befragungen entscheidend geformt haben. Die Interviews des USHMM , die von 2003 bis 2006 vom Team des DOH unter Joan Ringelheim angefertigt worden waren, bildeten dahingehend eine Ausnahme: Nicht die Vermittlung von moralischen Botschaften, sondern die Dokumentation der Erzählungen als zu interpretierender erfahrungsgeschichtlicher Quellen war das Ziel der Aufzeichnungen. Doch auch seitens der Befragten hatte sich die Bedeutung der Erinnerungen teilweise stark verändert. Die geschilderten Erlebnisse im Holocaust wurden je nach Interview situativ neu interpretiert, eigenes Verhalten wurde anders gewichtet und Verlusterfahrungen konnten in die eigene Biographie integriert werden. Die (zugeschriebene) Identität war dahingehend von großer Bedeutung: Bei den Interviewten, die Boder ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befragt hatte, handelte es sich um junge, heimatlose Menschen, die als Displaced Persons kategorisiert worden waren. Sie berichteten am Ort ihrer jeweiligen Sammelunterkünfte vornehmlich aus einer Opferperspektive von der Verfolgung als Juden und verstanden zu diesem Zeitpunkt selbst noch kaum, was mit ihnen geschehen war. Der Status als Opfer ist allerdings keineswegs mit Passivität gleichzusetzen: Vielfach handelte es sich um Streitgespräche. Die Befragten hatten aufgrund ihrer Erfahrungen und der damit verbundenen Augenzeugenschaft einen erheblichen Wissensvorsprung gegenüber Boder als Interviewer und behaupteten sich gegen seine Nachfragen. Boder zweifelte die unglaublichen Geschichten über die Vorgänge der kollektiven Deportationen oder über die extrem gewalttätige Behandlung in den Konzentrations- und Vernichtungslagern mehrfach an, weil er sie schlichtweg nicht verstehen konnte. In den späteren Interviews aus den 1990er und 2000er Jahren wurde deutlich, dass sich der Status der Befragten von unerwünschten Displaced Persons zu gesellschaftlich anerkannten Survivors gewandelt hatte. Die Verbrechen des Holocaust waren in der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt längst als eines der bedeutsamsten historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts etabliert. Den Erzählungen der Überlebenden wurde insbesondere seitens der SF eine uneingeschränkte Authentizität und Autorität zugesprochen, womit ein Expertentum konstruiert wurde – in den Worten von Steven Spielberg: »The only authorities are the survivors themselves.«310 In der Folge wurden die Überlebenden als moralische Zeugen imaginiert, welche die Zuhörenden belehren sollten. Die institutionelle Verwendung der Begriffe Legacy und Moral Lessons war dahingehend ein Ausdruck für die pädagogische Funktionalisierung der erzählten Gewalterfahrungen.
310 Spielberg, Introduction, S. ix
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In den späteren Interviews standen tendenziell weniger die individuellen Erlebnisse der Überlebenden als vielmehr das Ziel der Formulierung universeller Botschaften und Lehren des Holocaust im Zentrum. Doch die Befragten hatten verschiedene Gründe, an den Interviewprojekten teilzunehmen, und bewiesen damit auch ein eigensinniges Verhalten im Umgang mit der pädagogischen Funktionalisierung ihrer Interviews als Holocaust Testimonies.311 Obwohl sich die Interviewten darüber bewusst waren, dass ihre Interviews der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden würden, adressierten sie vornehmlich eigene Familienmitglieder und gerade nicht die gesamte Menschheit als Publikum. Oftmals wurden Erinnerungen an die im Holocaust ermordeten Familienangehörigen sowie Freunde und Geliebte mit den von den Institutionen eingeforderten moralischen Botschaften in eigenwilliger Form verknüpft, etwa in der Interpretation des Interviews als Grabstein für die Toten. In der Reaktion von Jack Unikoski gegenüber dem ratsuchenden Interviewer des JHC ließ sich zudem eine explizite Verweigerungshaltung gegenüber dieser Funktionalisierung der Erinnerungen erkennen: »I cannot give advice.« Eine kontinuierliche Re-Interpretation der Vergangenheit und das öffentliche Sprechen über die eigenen Leiderfahrungen waren allen fünf Überlebenden sehr wichtig: Sie hatten sich in der zweiten Lebenshälfte verschiedentlich in der historisch-politischen Bildung engagiert. Bass sprach erstmals in den 1970ern als Survivor an Schulen und beteiligte sich an Projekten des Birmingham Holocaust Education Center in Alabama. Binder engagierte sich seit Ende der 1970er in der öffentlichen Erinnerung an den Holocaust in Skokie und ist bis heute aktiv im Illinois Holocaust Museum and Education Center. Kalish wurde in den USA erst nach seinem Interview mit der SF als Zeitzeuge in Schulen aktiv, im Gegensatz zu Unikoski, der bereits seit seiner Emigration nach Australien in den 1940er Jahren Teil der Überlebendengruppe Buchenwald Boys ist, die seither gemeinsam an ihre Befreiung im K Z Buchenwald erinnert. Öffentliches Sprechen über den Holocaust fand somit vielfach auch jenseits der analysierten Erinnerungsinterviews statt und die Erzählungen in den verschiedenen Audio- und Videoaufnahmen waren ebenfalls durch den Austausch mit Familienangehörigen, anderen Überlebenden sowie durch diverse massenmediale Repräsentationen des Holocaust geformt.
311 Vgl. Shenker, Reframing Holocaust Testimony, S. 14, S. 111.
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336 Schluss: Zeugenschaft des Holocaust jenseits moralischer Sinngebungen Was können wir aus den Erzählungen von Holocaust-Überlebenden lernen und warum erwarten wir von ihnen moralische Botschaften als Lehre aus den NS -Verbrechen? Erinnern wir uns an die in der Einleitung dieser Arbeit zitierte generalisierende Formulierung über die Zeugnisse von Auschwitz-Überlebenden: »Ihre Botschaft ist klar: Liebe statt Hass, Versöhnung statt Verbitterung, Widerstand statt Resignation.«1 Entgegen dieser eindimensionalen Vorstellung, dass es nur eine Botschaft als Erbe der vielfachen Berichte von Überlebenden des Holocaust gäbe und dass diese ausgerechnet versöhnlich sei, stehen exemplarisch die zahlreichen Verweigerungshaltungen und der Eigensinn in den hier analysierten Interviews. Die aufgezeigten Funktionen von Zeugenschaft über den Holocaust waren vielfältig, sie reichten von der Erinnerung an die Ermordeten und Geschichten vom eigenen Überleben über den Beweis der historischen Verbrechen bis zur Hoffnung auf eine Aufklärung der Weltöffentlichkeit samt dem Imperativ eines »Nie wieder!«, der auch tagesaktuelle Gesellschaftsverbrechen anklagte. Trotz dieser unterschiedlichen Funktionen ließen sich idealtypisch zwei konträre Zwecke von Zeugenschaft benennen: die Produktion von Wissen auf Grundlage von historischen Erfahrungen und die politisch-moralische Funktionalisierung der Erzählungen in Form von universellen Lehren. Die Rollenverschiebung vom Opfer zum Überlebenden und Zeugen begann bereits in den 1940er Jahren.2 Als Ergebnis meiner komparativen Analyse steht fest, dass das Ziel der Wissensproduktion eher in der frühen Nachkriegszeit zentral war und sich die Moralisierung der Holocaust-Erinnerung in Form des moralischen Zeugen tendenziell erst nach 1961 durchgesetzt hat. Diese Einteilung sollte allerdings nicht als Determination verstanden werden, vielmehr müssen in allen Interviewanalysen die Motive der Fragenden und die Anliegen der Erzählenden hinterfragt werden. Henry Greenspan hat diese Transformationen darüber hinaus auf die veränderten Erwartungshaltungen des Publikums zurückgeführt.3 In der frühen Nachkriegszeit wurden die Befragten als Augenzeugen kaum begreifbarer Verbrechen weder zu Helden verklärt, noch wurde versucht, eine universelle Lehre aus ihren Erfahrungen abzuleiten. Während in den Holocaust Testimonies der 1990er und 2000er Jahre die zukünftigen Generationen von Personen im Rentenalter adressiert wurden, waren es im Falle der Interviews von Boder die damals teilweise selbst noch jungen Überlebenden. Zudem unterschieden sich im Vergleich von frühen zu nach dem Memory1 Spannbauer, Gonschior, Einleitung, S. 13. 2 Vgl. Taft, Victim to Survivor. 3 Vgl. Greenspan, Awakening of Memory, S. 13.
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Boom entstandenen Interviews die Formen der Kommunikation teils erheblich voneinander. Boders Interviews waren insbesondere durch Brüche in den Erzählungen der Interviewten, durch das Ringen um Worte sowie durch die in den Erfahrungsdifferenzen begründeten Grenzen des Verstehens geprägt. Die späteren Interviews waren sprachlich geglättet, die signifikanten Brüche waren im Wiedererzählen nach 50 bis 60 Jahren größtenteils getilgt. Welche Bedeutung hatte die Entwicklung von Boders frühen Audioaufnahmen bis zur Klassifikation der Interviews als Holocaust Testimony? Worin liegen Chancen und Grenzen dieser Klassifizierung der Berichte von Überlebenden? Der Begriff Holocaust Testimony konnte als widersprüchlich und tendenziell unscharf herausgearbeitet werden, zumal er oftmals auf verschiedenste Formen von Erinnerungsinterviews und andere mündliche wie schriftliche Überlieferungen von Überlebenden angewendet worden ist. Seit der Institutionalisierung von Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden ab 1979 hat sich im englischen Sprachraum der Begriff Holocaust Testimony als Bezeichnung für alle Berichte von Überlebenden durchgesetzt. Die unterschiedlichen Ziele und Methoden der Befragungen sowie die vielfältigen nachträglichen Verwendungen der Interviews wurden dadurch allerdings unsichtbar gemacht. Die Thesen von Wieviorka über den Bedeutungswandel der Zeugenschaft müssen folglich überdacht werden, um ein differenzierteres Urteil fällen zu können: »The mission that has devolved to testimony is no longer to bear witness to inadequately known events, but rather to keep them before our eyes. Testimony is to be a means of transmission to future generations.«4 Der Zweck der Zeugenschaft hätte sich demnach gänzlich von der Wissensproduktion über unbekannte Ereignisse hin zur tagespolitischen Mahnung und Übermittlung von Botschaften an zukünftige Generationen verschoben. Als Tendenz ist dies durchaus zutreffend, jedoch handelte es sich keineswegs um einen widerspruchsfreien Prozess. Erklärungsbedürftig ist zudem, was mit »means of transmission« eigentlich gemeint ist. Was genau soll an die zukünftigen Generationen vermittelt werden? Die Aktivität von Wieviorka als Interviewerin im Auftrag des USHMM -Boder-Projekts im Jahr 2004 war ein eindrückliches Beispiel für die prinzipielle Möglichkeit, dass mit der Aufzeichnung von Interviews unter der Bezeichnung Holocaust Testimony durchaus auch das Ziel der Wissensproduktion und -vermittlung verfolgt werden kann. Zudem ist zu beachten, dass sich die zu Zehntausenden gesammelten Videointerviews, die etwa im Visual History Archive der SF archiviert sind, je nach Erkenntnisinteresse und sorgfältig angewendeter (digitaler) Quellenkritik für verschiedenste Formen der Recherche und Wissensproduktion über den Holocaust und die gedeuteten Erinnerungen von Überlebenden nutzen lassen.5 Der entscheiden4 Annette Wieviorka: On Testimony, in: Holocaust Remembrance. The Shapes of Memory, hg. von Geoffrey H. Hartman, Oxford, Cambridge 1994, S. 23-32, hier S. 24. 5 Ausführlich zur digitalen Quellenkritik vgl. Bothe, Virtueller Raum.
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de Punkt ist die Anerkennung der Interviews als Artefakte, als zu interpretierende Quellen, die durch zahlreiche Einflussfaktoren geformt worden sind. Welchen Erkenntnisgewinn verspricht die Klassifikation von frühen versus späten Zeugnissen des Holocaust? Aus dem Vergleich schriftlicher Interviewprotokolle der Historischen Kommissionen mit späteren Videoaufnahmen von Überlebenden hat die Historikerin Irith Dublon-Knebel geschlussfolgert, dass die Narrationen in frühen Zeugnissen des Holocaust eher in Form von »starren, eindimensionalen Berichten«6 überliefert seien, die sich erst im Abstand von mehreren Jahrzehnten zu komplexen Narrationen transformiert hätten. Anhand der analysierten Audiointerviews von Boder konnte dahingehend ein aussagekräftiger Kontrapunkt gesetzt werden. Der Vergleich zu den schriftlichen Protokollen, die teilweise zeitgleich zu Boders Audiointerviews in den DP-Camps der Nachkriegszeit angefertigt wurden, hat gezeigt, dass die unterschiedlichen Techniken der Aufzeichnung methodisch bedingt waren. Die Analyse von Boders Interviews ermöglichte faszinierende Einblicke in erste mündlich überlieferte Interpretationen des NS -Massenmords an den Juden Europas. Boders Interviews wurden weiterhin als Grundlage für eine sozialwissenschaftliche Erforschung der NS -Verbrechen dargestellt. Eine Ausdifferenzierung der Kategorie frühe Zeugnisse ist daher ebenso überfällig wie eine reflektierte Verwendung des Begriffs Holocaust Testiomy. Die Analyse der Genese von Boders Interviewprojekt von 1945 bis zum Tod des Forschers im Jahr 1961 hat verdeutlicht, dass zahlreiche Transformationsprozesse hinsichtlich der Bedeutung der von ihm geführten Interviews bereits zu seinen Lebzeiten einsetzten. Mit seiner Analyse der DP-Interviews leistete Boder innerhalb des Feldes der Katastrophenforschung einen wichtigen Beitrag zur Holocaustforschung avant la lettre. Zwar gilt das Jahr 1961 als Auftakt zu einer »Ära des Zeugen« (Wieviorka), doch wie anhand der ambivalenten Rezeptionsgeschichte von Boders Interviews aufgezeigt wurde, dauerte es noch bis in die späten 1990er Jahre, bis sein Interviewprojekt und seine Forschungen wissenschaftliche Anerkennung fanden. Die Rekonstruktion der Projektgeschichte der »Voices of the Holocaust«-Website hat deutlich gemacht, dass die nachträgliche Klassifizierung von Boders Interviews als Oral History, Narrationen des Überlebens oder gar als die allerersten Holocaust Testimonies zu hinterfragen sind. Boders frühe Audioaufnahmen haben das Potenzial, eine neue Perspektive auf Zeugenschaft des Holocaust jenseits dieser etablierten Konventionen zu eröffnen.7 Welche Bedeutung hat die Reflexion der Geschichte von Erinnerungsinterviews für die Zukunft der Zeugenschaft? Der reale Tod der allerletzten Zeugen des Holocaust, der bereits seit den 1980er Jahren beschworen wurde, steht nun unmittelbar bevor. Ein Dialog mit leibhaftigen Überlebenden wird durch das 6 Dublon-Knebel, Transformationen, S. 340. 7 Vgl. Rosen, Nachwort, S. 366-367; Ders., Voices, S. ix.
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altersbedingte Ableben zukünftig nicht mehr möglich sein und schmerzlich fehlen. Dies bedeutet allerdings nicht unbedingt ein Ende des »Zeitalters der Zeugenschaft« (Felman), vielmehr verändern sich die Erwartungen und das Nutzungsverhalten von (digitalen) Zeugnissen erneut. Als reichhaltiges Erbe steht uns eine Fülle an archivierten Erinnerungsinterviews und weiteren Überlieferungen der Betroffenen zur Verfügung, die es auch zukünftig als Artefakte und Quellen auszuwerten gilt. Die Formung der Erzählungen durch die in dieser Arbeit ausführlich besprochenen Faktoren wie die verschiedenen Erkenntnisinteressen und Methoden der Interviewer, die sich im Wandel befindlichen Motive für das Erzählen und die vielseitigen Deutungen der Erinnerungen durch die Überlebenden müssen in deren Analyse stets mitbedacht werden. Eine Erlösung versprechen diese Zeugnisse allerdings nicht, wie Christopher Browning bereits vor mehr als 20 Jahren betont hat.8 Die aktuellen technischen Bemühungen um eine Konservierung der letzten Überlebenden als 3D-Hologramme wirkt dahingehend kaum als zukunftsweisend, sondern vielmehr wie der Ausdruck einer schwerwiegenden Krise der Geschichtskultur.9 Als Beitrag zur Holocaustforschung konnte ich aufzeigen, inwieweit sich die Institutionalisierung von Holocaust Testimony insbesondere in Form von Moralisierungen und einer Pädagogisierung des NS -Massenmords durchgesetzt hat. Mit Blick auf die Durchsetzung des Menschenrechtsregimes im 20. und 21. Jahrhundert hat die Soziologin Lea David dies kritisch als »Moral Remembrance« bezeichnet.10 Von der fragwürdigen Erwartungshaltung, dass sich aus den Erzählungen der Opfer unmittelbare Lehren ableiten ließen und die Befragten aufgrund dieser Erfahrungen wiederum einen praktischen Ratschlag für zukünftige Generationen parat hätten, sollten wir uns verabschieden: Es handelt sich nicht nur um eine nachträgliche Sinngebung dessen, was Arendt einst die vollendete Sinnlosigkeit genannt hat, sondern ebenso um eine maximale Überforderung der Zeugen und Zeugnisse des Holocaust.11 Das Konzept eines begreifenden Lernens besteht gerade in der Reflexion der fortwirkenden Bedeutung der Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts.12 Die Förderung von reflexivem Geschichtsbewusstsein also, das Volkhard Knigge definiert hat »im Sinne einer Selbstaufklärung über das, was man besser nicht 8 Vgl. Browning, Collected Memories, S. 85. 9 Vgl. Axel Doßmann: Unsterbliche Zeugen. Holographische 3D-Projektionen als Symptom einer Krise, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, 2019, S. 68-77, hier S. 77. 10 Vgl. Lea David, The Past Can’t Heal Us. The Dangers of Mandating Memory in the Name of Human Rights, Cambridge 2020, S. 41-65. 11 Vgl. Axel Doßmann: Überforderte Zeugenschaft. Holocaust-Interviews in Geschichtskultur und historischer Bildung, in: Verbrechen begreifen. Nationalsozialismus, institutionalisiertes Gedächtnis und historisches Lernen nach der Zeitgenossenschaft, hg. von Volkhard Knigge, Göttingen 2021, S. 274-297. 12 Vgl. Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt am Main 2000, S. 195-250
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tut, wenn Gesellschaften ihre Zivilität, ihre humane Substanz nicht verlieren sollen«.13 Welche Relevanz hat der Holocaust demnach für unsere heutige Gesellschaft, 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? In aktuellen geschichtspolitischen Debatten melden sich vermehrt und lautstark Stimmen zu Wort, die eine Abkehr von Erinnerungskultur fordern, die dem Holocaust besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der von Dan Diner als Zivilisationsbruch definierte NS -Massenmord an den Juden sei demnach keineswegs einzigartig, sondern müsse in der Kontinuität von Kolonialverbrechen verstanden werden.14 Inwiefern hängt diese vermeintliche Opferkonkurrenz auch mit dem Bild von Holocaust-Überlebenden als Lehrern der Geschichte zusammen? Die rituellen Praxen im Umgang mit Holocaust-Überlebenden und der Produktion von Holocaust Testimonies wirken sich auch auf Interviews mit Opfern anderer Genozide und deren Deutung aus.15 Die Figur des moralischen Zeugen, die insbesondere durch die Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden geprägt worden ist, hat sich längst globalisiert und universalisiert.16 Durch den analytischen Blick zurück auf Boders erste Sammlung von Audiointerviews ist deutlich geworden, dass sich die Methoden und Ziele der Produktion von Erinnerungsinterviews seit 1945 massiv gewandelt haben. Boders Aufnahmen widersprechen der weit verbreiteten Vorstellung einer Zeugenschaft über den Holocaust als sinngebendes Vermächtnis von Überlebenden. Vielmehr können sie als subversive Artefakte verstanden werden: Sie haben das Potenzials bei heutigen Hörern Perplexität und Beunruhigung auszulösen und dadurch einen Denkprozess über die Bedeutung der geschilderten Erfahrungen anzuregen. Die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks und die aus heutiger Perspektive oftmals irritierenden Dialoge stellen unsere Erwartungen an stimmige Erzählungen von Holocaust-Überlebenden grundsätzlich in Frage. Ihre Stärke liegt gerade in dem begründet, was Marisa Siguan als Produktivität von Sprachkrisen bezeichnet hat.17 Die Auseinandersetzung mit der konflikthaften Kommunikation über die Erfahrungen historischer Ereignisse, die beide Gesprächspartner noch zu begreifen suchten, birgt die Chance einer fruchtbaren Irritation. Dies steht im radikalen Gegensatz zur Vorstellung einer »Einfühlung in Geschichte«18 durch Betroffenheit und bringt uns im 13 Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein, S. 294. 14 Vgl. Michael Rothberg: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021; Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin, Boston 2019. 15 Vgl. Noah Shenker: Through the Lens of the Shoah. The Holocaust as a Paradigm for Documenting GenocideTestimonies, in: History and Memory 28, 2016, S. 141-175. 16 Siehe das Kapitel 4 »The Global Victim and the Counterwitness« in: Dean, Moral Witness, S. 132-170. 17 Vgl. Siguan, Grenzen der Sprache, S. 44-50. 18 Vgl. Volkhard Knigge: Aneignen – Abwehren. Zu den Problemen der Wissensvermittlung und der Einfühlung in Geschichte, in: Ders., Geschichte als Verunsicherung, S. 41-55.
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besten Falle einen Schritt näher in die Richtung eines historischen Begreifens von »unannehmbarer Geschichte« (Kertész). Dies wird wohl kaum über verordnete moralische Botschaften, Versöhnungskitsch oder technische Spielereien gelingen. In der Hoffnung, dass die von Walter Benjamin proklamierte Erfahrungsarmut nicht völlig gesiegt hat, bilden die überlieferten Erinnerungsinterviews zumindest die Möglichkeit für historische Erkenntnisse jenseits moralischer Sinngebungen.
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342 Anhang Abkürzungsverzeichnis DP DOH FVA HTP IIT ILK ITS JDC JHC LOC NSDAP NSPA NORC OHP ORT OSE PIQ SF SH A EF SR K TAT UCL A USC USHMM UNR R A VHA ZHK ZJHK
Displaced Person Department of Oral History (des USHMM ) Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies (Yale University) Holocaust Testimonies Project (des JHC ) Illinois Institute of Technology (Chicago) Internationales Lagerkomitee (Buchenwald) International Tracing Service (Arolsen Archives) American Jewish Joint Distribution Committee Jewish Holocaust Centre (Melbourne) Library of Congress (Washington, D. C.) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei National Socialist Party of America National Opinion Research Center Oral History Project (des JHC ) Organisation Reconstruction Travail Œuvre de Secours aux Enfants Pre-Interview-Questionnaire USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force Schweizerisches Rotes Kreuz Thematic Apperception Test University of California Los Angeles University of Southern California (Los Angeles) United States Holocaust Memorial Museum (Washington, D. C.) United Nations Relief and Rehabilitation Administration Visual History Archive (der SF ) Zentrale Historische Kommission (München) Zentrale Jüdische Historische Kommission (Polen)
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Jack Unikoski und Georges Kestenberg, 10.09.2004, Interview RG -50.562*0006 Janine Oberrotman, 30.03.2004, Interview RG -50.562*0004 Alan Kalish, 24.10.2003, Interview RG -50.562*0002 Jack Bass, 17.10.2003, Interview RG -50.562*0001, Jack Unikoski, 15.10.1995, Interview RG -50.407*0006
Yad Vashem Archives, Jerusalem Prof. David Boder Testimonies Collection, O.36
Arolsen Archives, International Center on Nazi Persecution, Bad Arolsen ITS Digital Archive Listenmaterial Buchenwald: Neuzugänge vom 22. Januar 1945 von K L Auschwitz 1.1.5.1 / 5285631; Überstellungen zum Kdo. Ohrdruf 1.1.5.1 / 5320488 Individuelle Unterlagen Buchenwald, 1.1.5.3 / 7111541 Erfassung von befreiten ehemaligen Verfolgten an unterschiedlichen Orten, 3.1.1.3 / 78776727; 78795982 Transportlisten Gestapo, 1.2.1.1 / 11193829; 34. Osttransport v. 1943/ 1.2.1.1 / 11193667 CM /1-Akte Schweiz 3.2.1.4/ 81074151; 81074144 Nachkriegszeitkartei, 3.1.1.1 / 66520890
Expertengespräche Wolf Gruner (USC Shoah Foundation Center for Advanced Genocide Research), Treffen am 06. Juni 2017 an der University of Southern California in Los Angeles, USA . Adam Strohm und Kristin Standaert vom Team der »Voices of the Holocaust«Website, Treffen am 12. Juni 2017 in der Galvin Library Chicago, USA . Janine Oberrotman, Treffen mit der Holocaust-Überlebenden am 13. und 14. Juni 2017 in Skokie (USA ) sowie E-Mail-Kontakt von Juni 2017 bis Dezember 2019. Gert Silver, E-Mail-Kontakt mit dem in Melbourne lebenden Holocaust-Überlebenden im Dezember 2016 und Januar 2017. Jürgen Matthäus (USHMM , The Jack, Joseph and Morton Mandel Center for Advanced Holocaust Studies,), Treffen am 21. Juni 2017 in Washington, D. C., USA . Joan Ringelheim und Elizabeth Hedlund (USHMM , Department of Oral History), Treffen am 22. Juni 2017 in Washington, D. C., USA . Alan Rosen, Treffen im Dezember 2017 in Jerusalem, Israel. Henry Greenspan, Austausch per E-Mail im Augst 2019 sowie Skype im Dezember 2019.
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anhang
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369 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: David P. Boder mit Drahttonrekorder während seiner Forschungsreise im Jahr 1946 durch Europa. Fotograf unbekannt, Kopie des Fotos bereitgestellt durch die Paul V. Galvin Library am IIT Chicago, Nutzung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Bill Jarrico im Auftrag des Boder/Levien Family Trust. Abb. 2: UCL A , Charles E. Young Research Library, Library Special Collections, David Pablo Boder Papers (Collection 1238), Box 24, Ordner 2, Nutzung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung des UCL A -Archivs. Abb. 3: United States Holocaust Memorial Museum Photo Archives 38264, A group of boys gathers around a piano in the Hôme de la Forêt, a children’s home run by the (Œuvre de Secours aux Enfants) in Geneva, Switzerland, Copyright: United States Holocaust Memorial Museum, Nutzung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Norbert Bikales. Abb. 4: RG -50.407.0006, Oral history interview with Jack Unikowski, Produktion des Videointerviews durch das Jewish Holocaust Museum and Research Centre am 15.09.1995 in Melbourne (Australien), das USHMM hat das Interview im Juli 1996 erworben. Nutzung der Screenshots mit freundlicher Genehmigung des USHMM . Abb. 5: United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D. C., RG 50.562.0004, Oral history interview with Janine Oberrotman (30.03.2004), United States Holocaust Memorial Museum Oral History Project with David Boder Interviewees, Nutzung der Screenshots mit freundlicher Genehmigung des USHMM . Abb. 6: USC Shoah Foundation. The Institute for Visual History and Education, Screenshot des Visual History Archives, Interview 16228, Alan Kalish (07.06.1996), Nutzung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung der USC Shoah Foundation. Abb. 7: United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D. C., RG 50.562.0001, Oral history interview with Jack Bass (17.10.2003), United States Holocaust Memorial Museum Oral History Project with David Boder Interviewees, Nutzung der Screenshots mit freundlicher Genehmigung des USHMM .
370 Dank Ohne die Unterstützung durch zahlreiche Personen und Institutionen hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Ihnen möchte ich an dieser Stelle meinen innigsten Dank aussprechen. Großer Dank für die finanzielle Unterstützung der Druckkosten des Buches gebührt der Stiftung Zeitlehren (Karslruhe), der Axel Springer Stiftung (Berlin) sowie der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Letzterer und insbesondere Jens-Christian Wagner möchte ich für die Möglichkeit und Ehre danken, mit diesem Buch die neue wissenschaftliche Reihe »Buchenwald und Mittelbau-Dora – Forschungen und Reflexionen« zu eröffnen. Von ganzem Herzen danke ich meinem Erstgutachter Volkhard Knigge, der mir seit dem Jahr 2015 unterstützend und beratend zur Seite stand. Bei der Konzeption und Niederschrift der Dissertation an der FSU Jena waren mir der wissenschaftliche Austausch und die ermutigenden Worte auch in Zeiten der Krise eine sehr große Hilfe. Mein Dank gilt ebenso der Unterstützung durch meine Zweitgutachterin Annette Weinke. Insbesondere die Möglichkeit der Vorstellung und Diskussion von Zwischenergebnissen haben meine Arbeit sehr bereichert. Axel Doßmann danke ich dafür, dass er mich im Sommer 2015 zu meinem Dissertationsprojekt ermutigt hat und mir seither einer der wichtigsten Diskussionspartner war. Durch meine Anstellung am Europäischen Kolleg Jena. Das 20. Jahrhundert und seine Repräsentationen hatte ich von 2016 bis 2018 zudem die Möglichkeit, mein Dissertationsprojekt in regelmäßigen Abständen mit den anderen Doktorandinnen und Doktoranden sowie den Professorinnen und Professoren aus dem Kollegium zu besprechen. Ihnen allen bin ich für ihre fruchtbare Kritik zu Dank verpflichtet. Mein großer Dank gebührt den Holocaust-Überlebenden, mit denen ich für meine Recherchen in Kontakt treten durfte: Gert Silver und Janine Oberrotman gaben mir per E-Mail vielfach Auskunft und insbesondere meine Treffen mit Frau Oberrotman im Juni 2017 in Skokie werden mir in Erinnerung bleiben. Mein tiefer Dank gilt zudem allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der verschiedensten Museen und Archive, die ich in den letzten vier Jahren besucht habe: Harry Stein und Sabine Stein (Gedenkstätte Buchenwald, Weimar), Wolf Gruner und Martha Straud (USC Shoah Foundation, Los Angeles), Julianna Jenkins (UCL A , Library Special Collections), Adam Strohm, Ralph Pugh und Kristin Standaert (Paul V. Galvin Library, IIT Chicago), Elizabeth Hedlund, Joan Ringelheim und Jürgen Matthäus (USHMM , Washington, D. C.). Zahlreichen Kolleginnen und Kollegen gilt mein Dank für wertvolle Hinweise, Unterstützung und Feedback. Die Anregungen von Gloria Freitag, Michael Becker, Dennis Bock, Daniel Logemann und Raphael Utz haben meine Arbeit sehr bereichert. Sandra Franz bin ich für ihre Übersetzungen aus dem
371 Jiddischen sehr dankbar. Für den intellektuellen Austausch über David Boder und Zeugenschaft des Holocaust danke ich insbesondere Alan Rosen (Jerusalem) und Henry Greenspan (University of Michigan, Ann Arbor). Auch die Seminarteilnehmenden an der FSU Jena und der Universität Leipzig in meinen Lehrveranstaltungen im Jahr 2020 und 2021 haben mein Nachdenken über Zeugenschaft des Holocaust sehr bereichert. Großer Dank gilt auch meinen Freundinnen und Freunden für den Austausch über meine Arbeit und die emotionale Unterstützung: Insbesondere Giulio Salvati, Christian Träger und Anne Zühlke möchte ich dafür herzlich danken. Für die zahlreichen Korrekturen des Manuskripts der Arbeit sowie das Lektorat danke ich Ramón Boldt und Gesche Gerdes sowie Franziska Mendler und Lisa Oelmayer für weitere Korrekturen und Anmerkungen. Mein Dank gilt auch all jenen Personen ohne namentliche Nennung, die mich in den letzten Jahren unterstützt haben. Ich danke meiner Familie, dass sie viel Verständnis für mein Abtauchen im Schreibmodus hatte, und insbesondere meinem Vater Joachim für sein Interesse an meiner Forschung, was mir sehr viel bedeutet. Zuletzt möchte ich meiner Lebensgefährtin Ella Falldorf von Herzen danken. Ohne den kontinuierlichen Dialog und die unzähligen intellektuell anregenden Diskussionen sowie die emotionale und wissenschaftliche Unterstützung in den vergangenen Jahren hätte ich das Buch in dieser Form nicht schreiben können. Ihr ist es in Dankbarkeit und Liebe gewidmet.