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German Pages 384 Year 2016
Csongor Lo˝rincz Zeugnisgaben der Literatur
Lettre
Csongor Lo˝rincz (Prof. Dr.), geboren 1977, lehrt Ungarische Literatur- und Kulturwissenschaft mit literaturtheoretischem und komparatistischem Schwerpunkt an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Csongor Lo˝rincz
Zeugnisgaben der Literatur Zeugenschaft und Fiktion als sprachliche Ereignisse
Der Autor dankt Christina Kunze (Übersetzungs-, Lektorats- und Formatierungsarbeiten, Namensregister), Merten Both (Übersetzungen einzelner Kapitel) und Laura Paschirbe (Formatierungsarbeiten) für ihre Hilfe sowie der Humboldt-Universität zu Berlin (Exzellenzinitiative, Förderlinie »Freiräume«) für die Gewährung eines Freisemesters, in welchem die Arbeiten am Buch finalisiert werden konnten.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Vorwort | 7 1. Zeugnisgaben Der ereignis- und differenztheoretische Ansatz der Zeugenschaft | 9 Die Nachträglichkeit des Zeugnisses | 28 Die différance des Zeugnisgebens – zwischen Sprechakt und Schrift | 36 Fiktionalität und Bezeugung | 50 Lesen als Zeugnisgeben (Wiederlesen als Lektüre des »Dritten«?) | 55
S prechen 2. Das »innere Wort« zwischen Gabe und Zeugnis Auf den Spuren der Gadamer’schen Sprachtheorie | 61
S prache ( n ) 3. Zeugen der »Weltliteratur« Geschichtskonzepte und Literaturbegriffe zwischen den Weltkriegen | 93
T ext ( e ) 4. Beispielhaftigkeit – zwischen Philologie und Poetologie Hölderlin, Heidegger, Szondi | 131 5. Zwischen Heißen und Entzug Zum Verhältnis von »Dichten« und »Denken« bei Heidegger | 171
D ie S ingul arität der Z eugenschaft 6. Sprache und Zeit der Gastlichkeit Kleist: Die Verlobung in St. Domingo | 191
7. Im Netz der Schwüre Ereignis, Versprechen und Ver trag in Kleists Die Marquise von O. | 223 8. In der Erprobung der Sprache Die Ethik des Experiments bei Dezső Kosztolányi | 263 9. Die Latenz der Naturgeschichte Sprache und Zeugenschaft in W.G. Sebalds Luftkrieg und Literatur | 297 10. Zeugnis, Archiv, Gewalt Péter Esterházy: Verbesserte Ausgabe | 327 11. Maßloser Rest: Zeugnis und Ironie Péter Nádas: Der eigene Tod | 351 Personenregister | 375
Vorwort
Mit der Erschöpfung der »Meistererzählungen« der Moderne tritt das Problem der Einzigartigkeit oder Singularität intensiver – zugleich auch in veränderter Form – in den Vordergrund und induziert verschiedene Impulse (z.B. den Komplex eines quasi-autobiographischen Aspektes mit der unersetzlichen Gestalt des Zeugen). Und zwar grundsätzlich im Spiegel der Erfahrung einer Ausgesetztheit der Geschichte gegenüber (z.B. Trauma), zugleich im Zusammenhang mit den performativen Effekten der Sprache, ihrer Unbeobachtbarkeit, ihrer Stärke wie Schwäche. Auch die immer mehr voranschreitende Mediatisierung und technische Reproduzierbarkeit des Weltverhältnisses erzwingen die prinzipielle Frage nach der spezifischen Potenz, der Tragweite und der Wahrheitsdimension der Zeugenschaft. Dieses Feld wird nachhaltig von verschiedenen ethisch-politischen Indizes imprägniert: In diesem Sinne kann das Zeugnis grundlegend als Medium der Gerechtigkeit aufgefasst werden (im Gegensatz zur Voraussetzung des Beweises, die immer eine Rechtsordnung impliziert). Das Politische am Zeugnis kann sich sogar auf die historisch-anthropologische Befragung des Begriffs des »Menschen« selbst, der diesem Begriff implementierten Meistererzählungen ausweiten – darauf, wie denn der »Mensch« in den Kreuzungen von Natur, Kultur (Sprache) und Geschichte zu seinem eigenen nicht-souveränen Zeugen wird. Es ist also verständlich, dass der Problemkomplex der Zeugenschaft am Horizont der aktuellen Kulturwissenschaften in markanter Weise präsent ist. Zugleich bildet auch die nicht-identische »Wiederkehr« bestimmter Figuren der religiösen Erfahrung den Hintergrund dieser Tendenz. Auf tiefergehendere Weise hat sich die Philosophie mit dem Thema befasst (Heidegger und Derrida). Die Literaturwissenschaft hat sich das Problem – für die eigenen Methodologien, Begriffe und Lektürestrategien – bislang nur in Ansätzen objektiviert, wirklich überzeugende systematische Arbeiten wurden bislang nicht publiziert. Die vorliegende Monographie macht einen Vorschlag zur weiteren (mitnichten abschließenden) Verfeinerung und Erweiterung des Fragekomplexes, aus einem dreifachen methodologischen Fokus: die sprach-, text- und lesenstheoretischen Aspekte der Problematik der Zeugenschaft im Auge behaltend. Diese Untersuchung wird auf systematischer Ebene, zugleich aufgrund literarischer Beispiele mit prägnanten textuellen und referenziellen Wirkungsgeschichten durchgeführt (z.B. Hölderlin, Kleist, Kosztolányi, Sebald, Nádas, Esterházy).
1. Zeugnisgaben
Der ereignis- und differenztheoretische Ansatz
der Zeugenschaft
In dieser Arbeit wird der Komplex der Zeugenschaft grundlegend unter ereignis- und differenztheoretischem Aspekt untersucht. Obwohl die Notwendigkeit der Interpretation der Zeugenschaft als Ereignis wahrscheinlich zumeist auf Zustimmung trifft, orientieren sich mehrere kurrente Annäherungen an das Thema dennoch in Richtungen, in denen der konstitutive Ereignischarakter der Zeugenschaft in Vergessenheit geraten könnte, sich aber zumindest von ihm abweichende theoretische Muster abzeichnen.1 Die vorliegende Monographie verweist auf Momente, die eine gründlichere Reflexion der Ereignisartigkeit der Zeugenschaft und zugleich ihrer differenzartigen Seinsweise zwingend machen. Hier verbindet sich die Zeugenschaft mit dem Komplex der Gabe, ihr Ereignischarakter deutet auf eine gabeähnliche Seinsweise. Das heißt, in der Reflexion auf den Zeugen als mediale Figur und das Zeugnis als Medium sollen die prekären »performativen« Grundlagen der Zeugenschaft erörtert werden. Nachdem dieser Zusammenhang herausgearbeitet ist, wird die Verbindung von Zeugenschaft und Fiktion in den Mittelpunkt gestellt, wobei davon ausgegangen wird, dass weder die Zeugenschaft noch die Fiktion im Dienst der Informationsvermittlung stehen, dass ihre ursprüngliche Funktion nicht in der Erstellung von Beweisen besteht und sie dadurch schon von vornherein in wechselseitige Nähe geraten (wenn sie auch nicht vollkommen miteinander verschmelzen). Die literaturtheoretische Fragestellung 1 | Z.B. will Sybille Krämer die Zeugenschaft grundlegend als »Wissensübertragung« verstehen, was an mehreren Punkten Fragen bezüglich der Pertinenz ihrer Überlegungen aufwirft. Z.B. fällt auf, dass die Figur des »Übersetzers« in dem von ihr gegebenen Katalog in kein signifikantes Verhältnis mit der Gestalt des Zeugen tritt, dabei stellt der Übersetzer die Verkörperung des Zeugen par excellence dar: Er ist die Figur des Dritten zwischen der Quellund der Zielsprache, ist zugleich eine singuläre Instanz und ein Artefakt (jedoch keine originell-originäre Tätigkeit, obwohl er Inventionen vollzieht, gerade aus einem Zwang), setzt eine Unterschrift voraus etc. Vgl. Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, 176-192. Zum problematischen Zug der Denkfigur der »Übertragung« vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, 193-194.
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der Untersuchung lautet: Wie kann die Literatur als Funktion oder Spezialfall der Zeugenschaft angesehen werden (und nicht umgekehrt die Zeugenschaft als eine Funktion der Literatur)? Sieht man die Literatur als Funktion der Zeugenschaft an (weniger umgekehrt), dann denkt man die Literatur »an experience rather than an essence […] (natural or ahistorical)«.2 Damit wird die textuelle Kreuzung der Archive der Zeugenschaft und der Fiktion zu einer (theoretischen) Frage des Lesens.
Grundsätzliche Fragen 1. In welchem Zusammenhang stehen Zeugnis und Gabe? 2. Auf welche Weise hängt das Zeugnisgeben von der Gabe – letztlich von der Zeugenschaft selber ab? 3. Welche Zeitlichkeit prägt diese Relation? 4. Und welche sprachlich-performative Dimension wird von all dem vorausgesetzt bzw. eröffnet? 1. Bereits der Ausdruck des Zeugnisgebens zeigt an, dass das Zeugnis eine Art Gabe bedeutet, die selbst auch gibt (selbst schon gegeben wurde), und die der Zeuge spendet. Das Zeugnis existiert nicht außerhalb dieses Gebens oder Weitergebens, diese Momente gehören von Anfang an zum Zeugnis, ja dieses ist auf fundamentale Weise auf das Geben angewiesen. So wie die »Literatur« eine Funktion des Zeugnisgebens ist, so ist dieses ein Fall der Gabe. Wenn das Zeugnis dadurch zum Zeugnisgeben wird, dass es sich den sprachlichen, den pragmatischen Konventionen bzw. deren genealogischen Mustern entzieht und dadurch Einzigartigkeit präsentiert, dann kann es als Entsprechung der Bewegung der Gabe geltend gemacht werden, die sich analog von identifizierbaren Intentionen, ökonomischen Formeln, fundierenden Ursprüngen usw. entfernen muss, damit das Zeugnis in dem ihm eigenen Sinne 1. selbst gibt (nicht nur ein – referenziell-kognitives – »Wissen«, sondern, selbst im Modus des Schweigens, Wahrheit, Glaube, Hoffnung, Imagination, Erwartung, Potentialität usw., ferner, dass diese selbst Zeugnis oder Gabe seien) bzw., dass 2. das Zeugnis als Gabe gegeben (nicht bloß zugänglich gemacht oder transferiert) wird (wenn sich das Zeugnis als Gebendes nun mal nur als Empfang der Gabe – also durch den Kredit, der ihm von anderen entgegengebracht wird – vollziehen kann, ferner im Zeichen des Zeugen als im grundsätzlichen Sinne verstandenen Dritten, der weniger handelt als vielmehr bezeugt).3 Im Benjamin’schen 2 | Vgl. Jacques Derrida, »This Strange Institution Called Literature«, in: ders., Acts of Literature, New York 1992, 45. 3 | Paul Ricœur formuliert diesen doppelten Charakter folgendermaßen: »Das Konzept des Zeugnisses, wie es sich aus der biblischen Exegese entwickelt, ist hermeneutisch in einem doppelten Sinn. Zunächst in dem Sinn, dass es der Interpretation seinen zu interpretierenden Inhalt gibt. Sodann in dem Sinn, dass es eine Interpretation fordert. Das Zeugnis gibt etwas zu interpretieren. Diese erste Dimension markiert den Aspekt der Manifestation des Zeugnisses. Das Absolute spricht sich hier und jetzt aus. […] Aber ebenso wie es zu interpretieren gibt, fordert das Zeugnis auch, interpretiert zu werden.« (Ricœur unterscheidet drei Dimensionen der Interpretation: die Dialektik von Sinn und Ereignis, die Interpretation als kritische Tätigkeit, schließlich die Dialektik von Zeuge und Zeugnis.) Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die
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Sinne könnte man hier, in Anlehnung an z.B. die »Reproduzierbarkeit«, die »Übersetzbarkeit«, quasi von »Gebbarkeit« oder »Übertragbarkeit« sprechen. Also schreibt sich dieser Dualismus oder diese Unterscheidung in die Selbstreferenz des Zeugnisses ein, das Zeugnis wird von dieser doppelten Bewegung bestimmt: Das Zeugnis ist Gabe, da es gibt und (weiter-)gegeben wird. Diesen Unterschied (der zugleich kein Unterschied sein will) nennen wir im Folgenden testimoniale Differenz (ihren weiteren Iterationen bzw. Figuren wird der Gedankengang von nun an fortwährend begegnen). Die Singularität des Zeugnisses bedeutet nicht weniger, als dass das Zeugnis nicht einlösbar ist (z.B. als Feststellung, Bericht, Beweis, gegenständliche Referenz),4 denn im Falle einer solchen Substitution würde sein zeugnisgebendes Sein aufhören zu bestehen, insofern sind die Seinsweisen von Zeugnis und Gabe verwandt. Die Gabe ist nicht ersetzbar und kann insofern nur bezeugt werden. Für den Gebenden ist ein Wissen über die Gabe – in der Form von Intention, Erkenntnis, Begriff, Erscheinung oder durch diese verbürgt – unmöglich.5 Ähnliches lässt sich auch zum Zeugnisgeben feststellen: Wenn der Zeuge ein restloses Wissen darüber hätte, was er eigentlich bezeugt, dann würde er nur von einem Faktenstand berichten, diesen anzeigen und wäre insofern nicht mehr Zeuge zu nennen. Das ist genau der Grund, warum das Zeugnis(geben) als Gabe verstanden werden kann, denn diesem Nicht-Wissen (diesem Vergessen, Nicht-Erscheinen …) entspringt, gerade im Interesse seines Gelingens (nicht seines Ausgleichs!), der Bedarf des Zeugnisses als Gabe nach einer Gegensignatur. Man könnte auch sagen, dass das Zeugnis nicht einfach ein gegenständliches Geschenk bedeutet, es markiert in seiner Dimension der Präsentation vielmehr den gebenden Zug der Gabe,6 jene Dimension, die nicht bloß gegeben wird, sonReligion, Freiburg/München 2008, 31. (Auf einer anderen Ebene kann diese doppelte Seinsweise so abgebildet werden: »Zugleich verstehen wir auch, dass das Zeugnis im menschlichen Bereich ein doppeltes ist: Es ist das innere Zeugnis, das Siegel der Überzeugung; aber es ist auch das Zeugnis der Werke, d.h., nach dem Modell der Passion Christi das Zeugnis des Leidens …« Ebd., 200.) Das Zeugnis kann als Gabe also nicht zu einer antihermeneutischen Entität stilisiert werden: Die Reden Jesu sind selbst auch Gaben, die Evangelien widmen ihrer Interpretation bekanntlich viel Raum (die Parabeln Jesu sind genauso voll von seinen Erklärungen, von Szenen der Interpretation selbst). Selbst für einen so entschiedenen Kritiker des (in einem gewissen Sinn verstandenen) Christentums wie Nietzsche hat das Problem der Interpretation (vielleicht gerade deswegen) eine zentrale Bedeutung. 4 | Darauf hat Heidegger mit einem Goethe-Zitat verwiesen: »Wenn jemand Wort und Ausdruck als heilige Zeugnisse betrachtet und sie nicht etwa, wie Scheidemünze oder Papiergeld, nur zu schnellem und augenblicklichem Verkehr bringen, sondern im geistigen Handel und Wandel als wahres Äquivalent ausgetauscht wissen will, so kann man ihm nicht verübeln, dass er aufmerksam macht, wie herkömmliche Ausdrücke, woran niemand mehr Arges hat, doch einen schädlichen Einfluß verüben, Ansichten verdüstern, den Begriff entstellen und ganzen Fächern eine falsche Richtung geben.« (Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, in: ders., Wegmarken, GA 9, Frankfurt a.M. 1976, 425-426.) 5 | Die Möglichkeits- oder eher die Unmöglichkeitsbedingungen der Gabe sind Derrida zufolge: »Vergessen, Nicht-Erscheinen, Nicht-Phänomenalität, Nicht-Wahrnehmung und NichtBewahrung«. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I., München 1993, 27. 6 | Zwischen Geben (dem Akt des Gebens) und Gabe (als die gegebene Sache) kann in der indoeuropäischen Sprachgeschichte ein Unterschied beobachtet werden, vgl. Emile Benve-
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dern die selbst auch gibt (und so ein Zeugnis über den Empfänger ablegt). Und auch umgekehrt wird das Zeugnis von diesem gebenden Zug markiert bzw. demarkiert. Zugleich steht die Uneinlösbarkeit des Zeugnisses nicht im Widerspruch dazu, dass das Zeugnis immer ein Fehlen des Zeugnisses, ja sogar seine Unmöglichkeit bezeugt,7 dass es in gewissem Sinne also einen supplementären Charakter hat. Diese Seinsweise des Zeugnisgebens beinhaltet einen internen Unterschied, eine testimoniale Differenz. 2. Warum gehört dieser Komplex des Gebens oder der Gabe auf so fundamentale Weise zum Zeugnis selbst? Vermutlich, weil das Zeugnis immer schon Gabe bedeutet, da es kein bloßes (Weiter-)Geben, sondern auch Empfangen ist. Man empfängt es von den Adressaten des Zeugnisses, die dem Zeugnis Vertrauen oder Glauben schenken, damit es sich überhaupt als Zeugnisgeben präsentieren, man überhaupt von einem Zeugnis sprechen kann. Da dieser Zug des Glaubens (des Kredits) von Anfang an zum Zeugnis gehören muss, genauer: dieser sich für es ergeben muss, auch im Fall des falschen Zeugnisses, empfängt der Zeuge sein Zeugnis in diesem Sinne gleichsam von dessen Empfängern, sie geben ihm sein Zeugnis (zurück). Damit wird jedoch nicht die Repragmatisierung des Zeugnisses beabsichtigt. Denn das Zeugnis gründet – trotz jedes Oszillierens zwischen Zeuge und Gegenzeichnenden – in noch so zerbrechlicher Weise auf der Entscheidung des Zeugen. Diese Entscheidung ist eine Bejahung der Exzeptionalität, die Singularität, die Momente des zu-Bezeugenden oder des Bezeugten hervorruft und zugleich eine Art »Ja« zum Zeugnis selbst (was nicht voneinander getrennt werden kann, darin besteht die Performativität des Zeugnisgebens). Damit hängt zusammen, dass nur dort eine echte testimoniale Situation oder Herausforderung besteht, wo – verschärft formuliert – kein Zeugnis abgelegt werden kann, d.h. wo nur ein Zeugnis abgelegt werden kann (vergleichbar mit der Situation, wo man nicht entscheiden – verfügen – kann, da man sich nur entscheiden kann oder muss).8 Man kann niste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt a.M./ New York/Paris 1993, 55. 7 | Z.B. in der markanten Formulierung Giorgio Agambens: »Wer es übernimmt, für sie Zeugnis abzulegen, weiß, daß er Zeugnis ablegen muß von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen.« (Die emphatische Exposition von »[er] weiß« kann dessen ungeachtet bestimmte Fragen aufwerfen, z.B., ob Agamben hier nicht in gewissem Maße die in der Figur des »Muselmanns« angezeigte physiologisch-kognitive Unfähigkeit Zeugnis zu leisten kompensiert). Ferner: »Vielleicht entsteht [in der Folge davon, dass Zeugnis abgelegt wird vom] Unbezeugten[, das] noch nicht Sprache, noch nicht Schrift sein [kann,] jedes Wort, jede Schrift als Zeugnis.« (Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M. 2003, 30, 34. Noch früher hat Derrida, auf den Spuren Blanchots, auf diese Unmöglichkeit hingewiesen, vgl. z.B. Die Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, 87.) Später wird in vorliegender Arbeit davon die Rede sein, dass die Emergenz des Zeugnischarakters des Wortes oder der Schrift zugleich – dank der differentiellen Seinsweise des Zeugnisses – nicht von dessen inversem Aspekt, vom Schriftcharakter (der Inskription) des Zeugnisses, getrennt werden kann. 8 | Um jedweder Lesart des o.G. als Affirmation irgendeines politisch verfassten Dezisionismus zuvorzukommen: Es geht hier um so elementare Entscheidungen wie z.B. die Ent-
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nicht bezeugen von einem Allgemeinen als diskursiv-logischer Entität her, sondern vielmehr nur jene nicht-normative, ferner nicht-referenzielle einzigartige Überzeugung, Glauben, Disposition oder Gestimmtheit, die als eine Art Ausnahme(haftigkeit)9 oder deren Manifestation das Zeugnisgeben herausfordert. Die Sprache des Zeugnisgebens ist nicht der propositionale Diskurs der Prädikation, sondern die Sprache (als eine Art »inneres Wort«) der mit referenziellen resp. kognitiv-logischen Mitteln nicht rückzubestätigenden Evidenzerfahrung, bzw. die paradoxe Beispielhaftigkeit dieser Sprache. Diese Entscheidung berührt das Zeugnisgeben als solches noch vor jeder inhaltlichen Determiniertheit, wenn ein solcher Augenblick überhaupt isoliert werden kann. Denn das Geschehen der Entscheidung »als solches« kann von der Entität (Ordnung, Dimension, Kontext, Bedeutung usw.) her, die dieses inauguriert, nicht verifiziert werden, was wieder auf die testimoniale Differenz zwischen der Gabe des Zeugnisses (das »Zeugnis« ist gleichzeitig Subjekt und Objekt) und dem gegebenen Zeugnis weist (aufgrund dieser Differenz existiert, den besten Absichten des Zeugen zum Trotz, schon immer das falsche Zeugnis). Hier muss jedoch sogleich einer anderen Versuchung widerstanden werden, nämlich der Genealogisierung des Zeugnisgebens. Das heißt Abstand davon zu nehmen, die Entscheidung des Zeugen zu einer souverän-dezisionistischen Geste zu stilisieren, was dem Unvermögen oder der Schwäche – dem Nicht-Handeln –, die dem Zeugnis inhärent sind, nämlich widerspräche. (Das Zeugnis als Nachleben, als das Strukturmoment eines Überlebens, bedeutet nicht bloß eine zeitliche Nachträglichkeit, sondern dass es nach der Handlung kommt, weswegen der Zeuge im strukturellen Sinne auch als die Figur des Dritten gelten kann.) Es ergibt sich dennoch immer eine noch so prekäre Entscheidung über das Zeugnisgeben, gerade im Sinne der persönlichexistentiellen Herausforderung, Designierung des Zeugen.10 Diese Entscheidung entspricht dem Gabencharakter des Zeugnisses, sie unterstreicht ihn.11 Es gibt also keine organische, natürliche Notwendigkeit für das Zeugnisgeben, dieses kommt immer von einer Entscheidung her – und das entspricht den lateinischen Benennungen des »Zeugen«, dem »testis«, dem Dritten (»terstis«) in einem Streit oder Gerichtsverfahren zwischen zwei Parteien (die andere Benennung des Zeugen, das »superstes« kommt weiter unten zur Sprache).12 Letztlich wird diese Entscheidung scheidungen des Übersetzers bei der semantisch-materialen Arbeit des Übersetzens (zum Problem der Übersetzung als Bezeugung siehe Kapitel 3). Vgl. zum gesamten Komplex, auf einer prinzipiellen Ebene den Satz Heideggers: »Jede Entscheidung aber gründet sich auf ein Nichtbewältigtes, Verborgenes, Beirrendes, sonst wäre sie nie Entscheidung.« Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, GA 5, Frankfurt a.M. 1977, 42. 9 | »Daß man aufgerufen ist, an jedes Zeugnis wie an ein Wunder oder eine ›außerordentliche, ungewöhnliche Geschichte‹ zu glauben, ist ein Umstand, der den Begriff des Zeugnisses und der Bezeugung unmittelbar prägt.« Jacques Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Jacques Derrida/Gianni Vattimo (Hg.), Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 103. 10 | Zu Recht betont Ricœur diesen persönlichen Zug: Die Hermeneutik des Zeugnisses, 15. 11 | Die Gabe ist der »paradoxe Augenblick«, der »die Zeit zerreißt«, Derrida vergleicht ihn im Kierkegaardschen Sinn an einer Stelle mit der »Wahl«, vgl. Falschgeld, 19. 12 | Aus »testis« geht das italienische »testimone«, das englische »testimony«, das französische »témoignage« hervor.
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aber von der Ausnahmesituation hervorgerufen, die das Zeugnis überhaupt erst möglich macht, genauer: es ruft. Dieser Ruf ist nicht unbedingt in identifizierbarer Weise äußeren Ursprungs, er kann z.B. auch im Modus des »inneren Wortes« sprechen, gleichsam im Sinne des Äußeren, das im Inneren liegt (der im Zeugen verborgene Dritte als eigentlicher Zeugnisleistender).13 Das heißt, das Zeugnis kann nicht ohne Weiteres als intentional bezeichnet werden, eher noch könnte man von einer intentionslosen – mitnichten aber von einer unüberlegten oder zwecklosen – Entscheidung sprechen.14 Der oben genannte Glaube oder die Überzeugung meint keinen Bestand einer Subjektivität oder einer Innerlichkeit, sondern vielmehr die Insistenz an oder in der Entscheidung der Zeugenschaft (des Zeuge-Werdens), ist also mitnichten nur »inneren« Ursprungs. Gleichzeitig geschieht das alles radikal nachträglich, das Bezeugen ergibt sich im Vergleich zum Bezeugten immer in der Verschiebung, der Differenz (was die Bedeutung von »superstes« betont, oder: Entscheidung und Nachträglichkeit, »testis« und »superstes« stehen im wechselseitigen Bezug zueinander). Der Komplex des Bezeugens selbst ruft als Geschehen (das Zeuge-Werden) diese Entscheidung hervor,15 die also nicht in der Macht des Zeugen liegt, denn andernfalls würde der Zeuge in eine autonome oder dezisionistische Position geraten, die ihm per definitionem nicht zukommt. Die Entscheidung langt viel eher aus der »Nacht des Nicht-Wissens«16 oder der Latenz des Nicht-Wissens an, der Zeuge selbst liefert sich ihr, im Sinne doppelter Verantwortung (gegenüber dem zu Bezeugenden bzw. dem Zeugnis), aus. Damit ist die Entscheidung selbst in gewissem Sinn ebenso geheim17 wie der gebende Charakter der Gabe. Insofern bedeutet die Entscheidung des Zeugen weniger ein Dekret oder eine Deklaration als eine Unterschrift, die Gegensignatur des nicht durch ihn herbeigeführten Zeuge-Werdens (vgl. den Bedeutungskreis des Zeugen als Dritten, des »terstis«!).18 Das Ereignis geht als »another’s decision« sogar über die Unterschrift des Zeugen als »performative legitimization« hinaus, »is swept away« (stellt ihren testamentari13 | Vgl. die Rekonstruktion Ricœurs, Die Hermeneutik des Zeugnisses, 29. Vgl. zum »inneren Wort« das zweite Kapitel dieser Arbeit. 14 | Zu den Motivationen, den Unterschieden und den aufeinander nicht zurückzuführenden Charakteristika von »intentional«), »deliberate« und »on purpose« als Handlungen vgl. John L. Austin, Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten, in: ders., Gesammelte philosophische Aufsätze, Stuttgart 1986, 351-369. Den Grundlagen dieser Entscheidungen kann man sich folglich nicht so sehr von den Fähigkeiten oder den Möglichkeiten her annähern, vielmehr ist hier das Wissen um ihre Motivationen maßgeblich, vgl. dazu ebenfalls Austin: ›Falls‹ und ›können‹, ebd., 299. 15 | Die im vorliegenden Kontext gebrauchten Begriffe könnten in etwa so bestimmt werden: Die »Zeugenschaft« entspricht im Allgemeinen dem Geschehen des Zeugnisses, das »Zeugnisgeben/Bezeugung« bedeutet den Akt der Zeugenschaft selbst, das »Zeugnis« den Diskurs, Text oder die Rede, die die materiale Entsprechung des Zeugnisgebens, sein Abdruck, sein Überrest sind. 16 | Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt a.M. 1991, 54. 17 | Vgl. Jacques Derrida, Den Tod geben, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida–Benjamin, Frankfurt a.M. 1994, 354-355, 404. 18 | »Thinking the signature is inseparable from thinking the decision and the moment of decision.« Jacques Derrida, Countersignature, in: Paragraph 27 (2004), 38.
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schen Charakter her) »unexpectedly, invisibly, secretly, wordlessly«.19 Diese Entscheidung spendet als Entsprechung der Ausnahme das Zeuge-Sein und impliziert dessen Exemplarität. Der Zeuge selbst wird hier sogar verdoppelt (gerade durch die Duplizität von Unterschrift und Gegensignatur), das Zeuge-Werden (nicht einfach, ja nicht einmal als in erster Linie empirisches Moment, sondern als Funktion des Ereignisses der Entscheidung) berührt nämlich nicht den Zeugen als integres, einheitliches Subjekt, sondern den Zeugen in ihm selbst, der dadurch aber als Zeuge konstituiert wird: »Und zwar um so mehr, als die Erfahrung des Geheimnisses selbst durchaus einen inneren Zeugen, einen Dritten, den man in sich zum Zeugen nimmt, impliziert.«20 Gerade der Glaube, der, wie oben angemerkt, die Insistenz an oder in der testimonialen Entscheidung bedeutete, gibt dieses Selbst (kein Ich) als einen Dritten (also wiederum als Effekt einer Gabe oder eines Gebens). Der Zeuge ist also gleichsam auch für sich selbst ein Dritter, die Entscheidung spaltet ihn, eine testimoniale Differenz schreibt sich in die Figur des Zeugen ein. Diese interne Verdoppelung als Zeuge-Werden erlaubte es Heidegger, das Phänomen des »Gewissens« in der existentialen Analytik des Daseins als »Bezeugung« zu interpretieren. Das Gewissen ist hier keine übergeordnete moralische Instanz (geschweige denn ein »Gericht«), sondern eine Funktion der Entscheidung.21 Wenn ein Wissen über die Ausnahme auf der Basis pragmatischer Konventionen, kognitiver Wissensinstanzen und politisch-moralischer Autoritäten nicht 19 | Ebd., 39. Es zeigt sich, dass die Bezeichnungen in obigem Zitat zugleich die Bezeichnungen der Gabe sind (Falschgeld zufolge). Das Ereignis kann also auch eine Art Schweigen sein, gleichsam jenseits der (intentionalen) Zeugenschaft (vgl. dazu das Kapitel zu Kornél Esti). 20 | Jacques Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 29. Vgl. noch ders., Den Tod geben, 434. 21 | Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, Frankfurt a.M. 1977, 359-391. Viele der existenzanalytische Zusammenhänge von Heideggers frühem Hauptwerk setzte Hans Lipps um bzw. ließ sie in der sprachtheoretischen Dimension Früchte tragen, wenn er auch leider nicht häufig gelesen wird (dabei hat der im zweiten Weltkrieg jung umgekommene Lipps im Wesentlichen als deutscher Austin die wichtigsten sprachtheoretischen Einsichten der Sprechakttheorie ebenso wie der philosophischen Hermeneutik vorweggenommen, nicht zuletzt auch, indem er die Gedanken Humboldts in die Sprache der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts übersetzte und weiterdachte). Zum »Entscheidungs«-Charakter des Wortes (in der »Situation«) und zu seiner Zeugnisfunktion s. Die Verbindlichkeit der Sprache (1938), in: ders., Die Verbindlichkeit der Sprache, Werke IV, Frankfurt a.M. 1977, 108-115, außerdem ders., Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (1938), Werke II, Frankfurt a.M. 1976, 2326, 38-46. Lipps’ Ausgangspunkt: »Gesagtes ist wahr oder nicht, sofern es als über, bzw. als von etwas gesagt verstanden wird. Daß das Wort zu erkennen gib, zeigt sich hier als erschließende Potenz des Wortes; in der Aussage wird etwas e n t- d e c k e n d beigestellt in bezug auf ihren Gegenstand. Kenntnisvermittlung war etwas anderes; es bedeutete: ein den andern ins Bild setzen, ihm Kenntnis beibringen. Und dieser praktischen Absicht entsprach die Darstellung. Aussage heißt aber Gesagtes daraufhin, daß darin etwas bezeugt wird. (Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 17) Beziehungsweise: »Im sprachlichen Ausdruck werden nicht – wie in der Sprache des Kalküls – Beziehungen isolierend umgriffen herausgestellt. Das Wort bedeutet vielmehr v e r d i c h t e n d e r s t e i g e r n d e Z u s p i t z u n g . Es ist Ausdruck als E n t s c h e i d u n g .« (Die Verbindlichkeit der Sprache, 110)
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möglich ist,22 dann kann ihre Entsprechung nur die Entscheidung des Zeugnisgebens sein, die nicht restlos begründbar oder normierbar ist. Man könnte vielleicht sagen, dass diese Entscheidung den gebenden Charakter des Zeugnisses manifestiert, jene Dimension, die das Insistieren des zu Bezeugenden im Zeugnis bedeutet. Folglich fällt diese Entscheidung mit dem Zeugnis selbst in eins, das Zeugnisgeben ist diese Entscheidung selbst, bzw. das Zeugnis bezeugt auch diese Entscheidung. Eine Unterscheidung zwischen Entscheidung und Zeugnis einzuführen, wäre ebenso müßig wie zwischen Bezeugung und Weitergabe – und diese Analogie der Strukturmomente verweist wieder auf die Tatsache, dass das Zeugnis immer eine Gabe bezeugt, dass die Letztere sich ohne das Erstere nicht ergibt. In diesem Sinn hat die Entscheidung des Zeugniskomplexes – nicht einfach des Zeugen – einen Gabe-Charakter, einerseits wird sie gefällt, andererseits übernimmt man sie auch oder präsentiert sie bzw. bezeugt sie. Jedes Zeugnis empfängt also immer schon eine Entscheidung bzw. spendet sie mit sich selbst, wobei es über die Entscheidung jedoch nicht verfügt, es gibt also, was es nicht hat, worüber es nicht verfügt.23 Das heißt, dass der Zeuge schon in konstitutivem Sinne keine neutrale Figur sein kann, die letztendlich einem bestimmten Adressaten eine »Information« zukommen ließe.24 Der Zeuge signiert die Entscheidung eher, als er sie autonom oder souverän fällt – was auch bedeutet, dass der innere Zeuge seine Signatur der Entscheidung gleichsam als Dritter in ihm (in Bezug auf das »sonstige« handelnde oder erleidende Subjekt), auch als »der Zeuge seiner selbst als eines anderen« beifügt.25 Die Entscheidung subjektiviert (als bezeugendes Subjekt, als das Subjekt 22 | Derrida bringt die Gabe mit der Ausnahme in Beziehung: »daß das Ereignis der Gabe immer seinen Status unberechenbarer oder unvorhersehbarer Ausnahme wahren muß (ohne generelle Regel, ohne Programme, und selbst ohne Begriff)«. Falschgeld, 169. 23 | Dieses Motiv des Nachdenkens über die Gabe erstreckt sich bekanntlich von Heidegger und Lacan bis zu Derrida (vgl. Falschgeld, 206-207). 24 | Erneut im Widerspruch zu Krämer, vgl. Medium, Bote, Übertragung, 227, 239. Krämer versteht die Selbstliquidierung des »Boten« allen diesbezüglichen Gesten zum Trotz im Grunde nicht existentiell-persönlich, sie neutralisiert (z.B.: entpolitisiert) ihn im Interesse der Übertragung des »Wissens«. Könnte es sein, dass der »Bote« im Verborgenen sozusagen zum Vertreter des Souveräns wird, sich letztlich reautorisiert und die Iterabilität des Zeugnisses totalisiert? Die Wurzel all dessen ist das Verständnis der Medialität als Übertragung, als Postalität (dieses soll – gerade in Bezug auf das Bezeugen! – eine »Grammatik« haben, ebd., 228-234), während die Bedeutung der Ereignishaftigkeit vergessen wird. Letztlich geht es, im Interesse der Übertragung des »Wissens«, um die Funktionalisierung der Zeugenschaft (ebd., 253), da sie zum Werkzeug der kulturellen »Sozialisierung und Orientierung« wird (ebd., 260). Das »Wissen« scheint hier ohnehin nur ein referenziell-kognitives Wissen zu bedeuten, seit spätestens z.B. Castoriadis sollte man von der Bedeutung der imaginären Dimension bei der Sozialisierung aber wissen (vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution: Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M. ²1997). 25 | Derrida, Bleibe, 79. Diese Verhältnisse erscheinen in Erzähltexten in den Beziehungen des Erzählers als Dritten und als Autor-Ich sowie der Figuren, z.B. in gegenseitigen Beglaubigungseffekten. (U.a. bei Kleist z.B. die hinsichtlich der Kommunikation der Protagonisten quasi-wertenden und -beglaubigenden/diskreditierenden Gesten des Erzählers, bei Sebald in Bezug auf die Affektion des bezeugenden Autors selbst, die auf bedeutende Weise von anderen Zeugnissen, ja Antizeugnissen hervorgerufen wird, bei Esterházy schließlich in den
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des Zeugnisses) und desubjektiviert den Zeugen also gleichzeitig, d.h. der Zeuge wird vom Ausnahmezustand, vom Zeugen als Überlebenden (»superstes«) her zum Zeugen und zugleich auch zum Dritten für sich selbst (»terstis«).26 Ja, es ist eigentlich der Ausnahmezustand oder die Ausnahmesituation der Bezeugung, die entscheidet: die vom Zeugen zeugt. In diesem Sinne ist das Zeugnisgeben immer schon – auch in seinem »ersten« Zustandekommen – ein sekundäres Zeugnis, die supplementäre Bezeugung des Fehlens, u.U. der Unmöglichkeit des (originären) Zeugnisses.27 Gerade deswegen muss eine Entscheidung zugunsten des Zeugnisses (oder auch zuungunsten des Zeugnisses) gefällt werden: »Man bezeugt dort, wo bezweifelt wird.«28 Es gibt kein primäres Zeugnis: und damit geht einher, dass es keinen Zeugen für den Zeugen gibt, es gibt keine vorgängige, organisch oder referenziell gegebene Instanz, die die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses beträfe. Deswegen kann der Zeuge nur Dritter sein, auch für sich selbst. 3. Entscheidung und Gabe schließen sich im Zeugnisgeben also nicht aus. Ihre wesentliche Korrelativität besteht im temporalen Sinn nun darin, dass es für sie kein »Vorher« gibt, man erfährt oder begreift sie vielmehr nur vom Zeugnis her. Wenn die Entscheidung nicht einfach als intentionale oder kognitive Operation vor dem Zeugnis identifiziert werden kann, dann kann sie nicht vom Zeugnis selbst getrennt werden, eher produziert das Letztere sie gleichsam. Es handelt sich um eine Zirkelstruktur oder -bewegung: die Entscheidung ist gleichsam ein Ruf zurück »vor« das Zeugnisgeben, in jenen Ausnahmezustand (ohne den es kein ZeugeSein, kein Zeuge-Werden gibt), der das Bezeugen herbeigerufen hat, zugleich ist sie ein Hervorrufen, das in das Zeugnisgeben selbst als das Geschehen jenes Zustandes (bzw. dessen Gegenzeichnung) ruft, der sich zugleich nicht ohne das Zeugnisgeben ergibt.29 Diese Zirkelhaftigkeit wird ohnehin schon von der Korrelativität des Zeugnisses (Zeugnisgebens) und der (seiner) Weitergabe abgebildet. Versteht man den obigen Zusammenhang grundsätzlicher oder eher auf materiale Weise, d.h. konkreter vom Ereignis der Entscheidung oder sozusagen von dessen »Rest« her, wird deutlich, dass der gewaltsame Zug dieser »ersten«, wiewohl grund-losen Entscheidung in jedem Akt des Zeugnisgebens wiederkehrt und das Zeugnis von ihm diktiert oder skandiert wird. Diese Wiederkehr der Entscheidung oder ihres Moments der Gewalt kann durchaus traumatisierend auf den Zeugen wirken.30 Beziehungen u.a. zwischen dem Autor-Erzähler von Verbesserte Ausgabe, dem Vater und dem Erzähler, genauer dem Text von Harmonia Caelestis). 26 | Deshalb kann kein Zeuge über eine äußere Vollmacht legitimiert werden (als »Bote«), vgl. demgegenüber Krämer, Medium, Bote, Übertragung. 27 | Sebald zeigt die fehlende Zeugenschaft (die Zeugenschaft als Mangel) in den historischen Zeugnissen auf, Esterházy sieht den Mangel des Zeugnisses des Vaters virtuell im Text von Harmonia Caelestis bezeugt. 28 | Ricœur, Die Hermeneutik des Zeugnisses, 33. 29 | Ähnlich Heidegger zum doppelten Charakter des »Gewissens« (»Der Ruf kommt aus mir und doch über mich.«), das bei ihm auch als Bezeugen erscheint, vgl. Sein und Zeit, 275. Zum »Aufruf« als »vorrufender Rückruf« vgl. ebd., 294. (Zum gesamten Komplex vgl. die Paragraphen 54-60 bzw. 62.) 30 | Der »Zeuge« steht im Griechischen (und anderen Sprachen) in etymologischer Beziehung zum »Märtyrer« und wird dementsprechend systematisch von den Phantasmata der
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Bereits hier wird deutlich, dass die Entscheidung des Zeugnis(gebens) nicht zu einem archetypischen Ursprung bzw. einer solchen Instanz gemacht werden kann, da – und wieder helfen hier die Gedanken Heideggers – »[die] Gewißheit des Entschlusses bedeutet: Sichfreihalten für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme.«31 Diese Bereitschaft, die Entscheidung zurückzuziehen, hat jedoch einen doppelten Sinn: Einerseits bedeutet sie die potentielle Wiederholung des Zeugnisses,32 den Ruf, der gleichsam in die Ausnahme-, die zu bezeugende Dimension zurück-ruft (in deren Unbeherrschbarkeit), andererseits bezieht sie sich auf die Weitergabe, ruft zu dieser hervor, d.h. in die Offenheit des Bezeugens, in das Zeugnisgeben oder die Entscheidung des Anderen.33 Es gibt zwischen den beiden eigentlich keinen Unterschied (die Wiederholung des Zeugnisses ist seine Weitergabe und umgekehrt), er besteht letztlich nur darin, dass die Entscheidung sowohl im Sinne der Ausnahme, die die Unumgänglichkeit der Entscheidung manifestiert, als auch im Sinne des Rufes des Zeugnisgebens an sich eine Funktion des doppelten Rufes ist (des vorrufenden Rufes zurück). Die Wiederholbarkeit des Zeugnisses34 wirkt der vorausgesetzten Souveränität der Entscheidung entgegen, Stigmatisierung oder der Verstümmelung herausgefordert. Derrida spricht im Zusammenhang mit der Gabe von »irreduzible[r] Gewaltsamkeit«, vgl. Falschgeld, 188-189. 31 | Heidegger Sein und Zeit, 307-308. Des Weiteren: diese Gewissheit »kann sich gerade nicht auf die Situation versteifen, sondern muß verstehen, daß der Entschluß seinem eigenen Entschließungssinn nach frei und offen gehalten werden muß für die jeweilige faktische Möglichkeit. Die Gewißheit des Entschlusses bedeutet: Sichfreihalten für seine mögliche und je faktisch notwendige Zurücknahme. Solches Für-wahr-halten der Entschlossenheit (als Wahrheit der Existenz) läßt jedoch keineswegs in die Unentschlossenheit zurückfallen. Im Gegenteil: dieses Für-wahr-halten als entschlossenes Sich-frei-halten für die Zurücknahme ist die eigentliche Entschlossenheit zur Wiederholung ihrer selbst.« (Ebd., 407-408, § 62). Diese Zurücknahme der Entscheidung kann gegen die Auratisierung des Zeugnisses wirken, vgl. hierzu Jacques Rancière, Figuren der Bezeugung und Demokratie, in: ders.: Die Erfindung des Möglichen. Interviews 2006-2009, Wien 2014, 93. 32 | Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 308. 33 | Für Derrida ist »meine Entscheidung […] stets [die] Entscheidung des anderen«. Das setzt Folgendes voraus: das echte Ereignis, genauer: dessen Ankunft ist abhängig vom »vielleicht« und dieses wiederum ist der Index von »unmöglich«. Vgl. Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M. 2001, 74, ferner ders.: Countersignature, 25, 38-39. Übrigens berühren sich an diesem Punkt, im Moment der Weitergabe (auf dieser Seite der testimonialen Differenz), »Bote« und Zeuge; in Relation zum originären, singulären Geben (z.B. Entscheidung) (auf der anderen Seite jener Differenz) erweist sich die Thematisierung des »Bote[n]« als unzureichend dafür, den Komplex der Zeugenschaft zu verstehen. 34 | Zur fundamentalen Iterabilität des Zeugnisses vgl. Derrida: »In dem Moment, da man Zeuge ist, und in dem Moment, da man bezeugt, ›bearing witness‹, in dem Augenblick, in dem man ein Zeugnis vorbringt, muß es auch eine zeitliche Verkettung beispielsweise von Sätzen geben, und vor allem müssen diese Sätze ihre eigene Wiederholung und damit ihre eigene quasi technische Reproduzierbarkeit versprechen. Wenn ich mich verpflichte, die Wahrheit zu sagen, verpflichte ich mich, dasselbe einen Augenblick danach, zwei Augenblicke danach, am nächsten Tag und für alle Ewigkeit auf eine bestimmte Weise zu wiederholen. Nun reißt aber diese Wiederholung den Augenblick aus sich selbst heraus. Infolgedessen wird der Augenblick augenblicklich, in dem Augenblick selbst durch das, was er dennoch möglich macht
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sie zieht das Zeugnis virtuell zurück oder weist es dem potentiellen Anderen zu. Die Entscheidung wird vom »als ob«, von einem »vielleicht« heimgesucht,35 sie wird gleichsam von der Fiktion kontaminiert. In diesem Sinne kann man auch sagen, dass die Entscheidung immer schon eine geteilte Entscheidung (kein souveräner, unteilbarer Akt) ist, dass das différance-artige Wirken der Spaltung, der Teilung in ihr am Werk ist.36 Die Wiederholung selbst kann zum Glauben oder zur (inneren) Überzeugung führen, zur Evidenzerfahrung (nicht bloß umgekehrt), sie kann diese freilich im selben Zuge auch bedrohen, gar auslöschen – zugleich öffnet – das Zeugnis – geteilt, zerstört.« Bleibe, 33. Diese Iterabilität des Zeugnisses ist schon Vorbedingung der Singularität des Zeugnisses (als Entfernung von Kontexten, die auch durch Konventionen bestimmt und stabilisiert werden), sie ist nicht einfach die Wiederholung, die »Übertragung«, der Transport eines »schon« vorhandenen Zeugnisses. Zur möglichen politischen Tragweite oder zu politischen Implikationen des Iterationsbegriffs Derridas vgl. aus performativitätstheoretischer Sicht Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, 205-206. 35 | Dieses »als ob« ist aber kein Bewusstseinsmoment, z.B. abhängig von der Abtretung, sondern – mit Lipps gesprochen – ein Index der Kraft, der »erschließende[n] Potenz« des Wortes und bezieht sich konkret auf den nicht rückzubestätigenden, nicht-referenziellen Charakter dieser Evidenzerfahrung. Wichtig ist jedoch, dass diese zweite negative Definition von der ursprünglichen Positivität abhängt: »Ein Wort wie ›glatt‹ ›tönt als ob mans fühlte‹. Damit sollte bei Herder keine äußerliche und gleichsam schiefe Ähnlichkeit getroffen sein. ›Als ob‹ heißt hier auch nicht, es solle gleichnishaft etwsa angespielt werden, d. i. als sollte im Bewußtsein des Ungemäßen eines solchen Versuchs in einen andern Wirklichkeitsbereich übersetzt werden. Es bezieht sich vielmehr auf die Ausdruckskraft des Wortes. Es ist die Frage, ob diese darin nur umschrieben oder ob sie nicht gerade in dem ›als ob‹ getroffen worden ist. […] Nur in diesem Erinnertwerden an … verdeutlicht sich aber der Eindruck. […] Das Wort »tönt«, als ob man es fühlte. Nämlich sofern e s a l s Wo r t v e r n o m m e n ist. Und das meint: daß das Wort hier nicht einfach »gehört« wird – wie etwas die materielle Struktur der Dinge hörbar sich künden mag. Im Unterschied zu dem flüchtigen hören dessen, was das Ohr einem zuträgt, bedeutet das Vernehmen ein Aufnehmen, nämlich ein in einem selbst Wiederklingenlassen, so daß man seinerseits darauf zu- und zurückkommen kann.« (Die Verbindlichkeit der Sprache, 118-120) Dieses Erinnertwerden als Verstehen versieht das Wort gleichsam mit bezeugender Kraft oder Funktion, zugleich als eine Art »déjà-vu«, das äußere Wort belebt gleichsam das innere, das vorher als solches nicht zur Verfügung stand, oder wiederholt es als sagendes Wort (und wird dadurch zum Testimonium), das als inneres Wort jedoch auch ein Zitat sein kann. Dieses erinnernd-entdeckende »als ob« – als Evidenzerfahrung – ist die Grundstruktur der Bezeugung durch die Sprache als Rede. (Vgl. das analoge Moment des Esterházy-Kapitels nach dem Zeugnis der Harmonia Caelestis im Zusammenhang mit dem Zitat aus dem Auftakt des Toldi.) Auch Derrida scheint die Erfahrung des »als ob« manchmals nur im negativen Sinn formulieren zu können, z.B. »A decision that reckons unconditionally with the undecidable only by trusting to a ›perhaps‹ or an ›as if‹, where performative mastery fails.« Countersignature, 39. 36 | Vgl. Derrida, Die différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1999, 34. »Nach den Forderungen einer klassischen Begrifflichkeit würde man sagen, daß die ›différance‹ die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität bezeichnet, den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkungen die différents oder die differences wären.«
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sich diese Wiederholung oder Wiederholbarkeit potenziell immer auf den Anderen und erhält von diesem gewissermaßen auch die Evidenzerfahrung des Glaubens oder der Überzeugung. Das Zeugnis wird auch für den Zeugen in der Wiederkehr – d.h. in der Unverfügbarkeit der Entscheidung – zur Gabe, die er selbst (unfähig sie zu besitzen) übernehmen und weitergeben muss. Diese besagte Wiederkehr diktiert oder rhythmisiert auch die Iterabilität des Zeugnis(gebens) (die das Strukturmoment der Übertragbarkeit des Zeugnisses ist, und die immer schon eine Technik impliziert, wodurch das Wirken der testimonialen Differenz intensiviert wird). Die Wiederholbarkeit des Zeugnisses bedeutet also nicht bloß eine formale Möglichkeitsbedingung oder eine Eigenschaft des Zeugnisgebens, sondern sie hängt von der unbeherrschbaren Gewalt der Entscheidung ab, die das Zeugnis gleichsam mit einem Diktat in Verbindung bringt. Die Entscheidung ist gleichsam ein Versprechen, das Versprechen der Iterabilität, die Wiederholbarkeit zerstört aber auch die Autonomie, die absolute Einzigartigkeit, die Souveränität der Entscheidung (sie fiktionalisiert sie gleichsam) und erlaubt ihr eine nicht-identische Wiederkehr. Gleichzeitig produziert diese Wiederkehr – die im Sinne der Iterabilität jedoch auch eine gewisse Maschinenhaftigkeit impliziert – aber auch einen Exzess (oder ist selbst ein Exzess), der vergleichbar gerade mit der Gabe ist37 und die Iterabilität (des Zeugnisses) selbst in einen Exzess verwandelt. Dieses Überborden kann aber gerade das Gelingen, d.h. die Artikulation des Zeugnisgebens gefährden – gleichsam als autoimmuner Zug im Herzen des Zeugnisses. Die Möglichkeit des Zeugnisses bringt seine Unmöglichkeit mit sich. Das Gedächtnis der Entscheidung bedeutet in diesem Sinne nämlich zugleich auch Vergessen, die Bedrohung des Zeugnisses, zugleich aber auch seine Chance (im Sinne des Nicht-Wissens, der speziellen Disposition des Zeugen, die keinen Beweis, keine Bestimmung bedeutet).38 Diese Verdopplung, diese testimoniale Differenz des Zeugnisses ist im Wesentlichen die Spur der Wiederholung der Unentscheidbarkeit in bzw. durch die Entscheidung hindurch, und nur so kann es die Entscheidung zurückziehen, nur so steht es zu ihrer Erneuerung bereit.39 Auch das Unentscheidbare ergibt sich nicht rein vor der Entscheidung, es gewinnt seine Insistenz durch letztere (durch ihr doppeltes Gedächtnis). Die Iterabilität wird in diesem Sinn zum wesenhaften Strukturmoment, das die Nachträglichkeit des Zeugnisses bedeutet. Es ist nicht ratsam, diese Nachträglichkeit einfach als eine empirisch-referenzielle »belatedness« zu verstehen, sondern sie muss als die Nachträglichkeit des Zeugnisses selbst aufgefasst werden. Das Zeugnis zeugt damit von einem Über- oder Nachleben. Man darf sich den Zeugen als Überlebenden also nicht nur empirisch vorstellen, sondern grundlegender, er muss vom Zeugnis her gedacht werden. Der Zeuge ist nicht bloß der Überlebende dieses oder jenes Falles, er ist viel eher der Überlebende des eigenen Zeugnisgebens, wobei das Zeugnis zugleich auch als das Testament des Zeugen lesbar wird. Im Folgenden wird diese Testamentarität als der im ursprünglichen Sinn 37 | Bei Derrida beziehen sich Gabe und Exzess (Überborden, Überschuss) kontinuierlich aufeinander, vgl. Falschgeld, 20, und an anderen Stellen. 38 | Für die Gabe sind, der Argumentation Derridas zufolge, gleichermaßen auch Vergessen und Nicht-Vergessen relevant. Falschgeld, 26-31. 39 | Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, 296.
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verstandene textuelle Modus oder genauer: die textuelle Dimension dieses Überoder Nachlebens erläutert. Diese Testamentarität ist eine Funktion der Iterabilität: die Wiederholbarkeit des Zeugnisses entpersonalisiert gleichsam den Zeugen (was nicht im Widerspruch zur Exemplarität des Zeugen steht, da die Wiederholbarkeit – im Sinne der Aus-Nahme, des »eximen« – nur in der Absonderung von vorangegangenen Kontexten funktionieren kann), sie macht sein Zeugnisgeben gleichsam von Anfang an zu einem zweiten Zeugnis (zweiter Ordnung). Der Zeuge ist potentiell auch ersetzbar, gerade als Konsequenz der Wiederholbarkeit und der Exemplarität (als Wahrheitsanspruch),40 was mit dem Charakter des Geteiltseins der Entscheidung korreliert. Diese Teilung bedeutet die Übersetzbarkeit des Zeugnisses (und nicht die Weitergabe, das Zukommen-Lassen des Zeugnisses »als solches« an Adressaten, z.B. im Zeichen demokratischer Äquivalenz), es bedeutet, dass es schon immer im Übersetzungsprozess existiert. Eigentlich hat man es immer schon nur mit übersetzten Zeugnissen (und den von diesen Übersetzungen hinterlassenen Überresten als Zeugnissen) zu tun, niemals mit dem ersten, ursprünglichen, motivierten oder verbürgten Zeugnis. 4. Diese Selbstreferenzialität des Zeugnisses sollte jedoch nicht dazu verwendet werden, das Testimonium selbstgenügsam sich verschließen zu lassen (oder es zu neutralisieren), da sie vor allem mit dessen radikaler Nachträglichkeit, ja Fiktionalität im Zusammenhang steht. Der selbstreferenzielle Zug des Zeugnisses verweist nämlich auf etwas anderes zurück, und zwar auf die zerbrechlichen »performativen« Grundlagen des Zeugnisses. Oder darauf, dass das Zeugnisgeben keine auto-
40 | Vgl. Derrida, Bleibe, 43. Die artikulierte oder nicht artikulierte Voraussetzung jedes Zeugnisgebens: »Ich schwöre, die Wahrheit zu sagen, da, wo ich der einzige gewesen bin, der gesehen oder gehört hat, und wo ich der einzige bin, der das bezeugen kann, so ist das in dem Maße wahr, wie irgend jemand an meiner Stelle in diesem Augenblick dieselbe Sache gesehen oder gehört oder berührt hätte und beispielhaft, universal die Wahrheit meines Zeugnisses wiederholen könnte.« Dieser latente Bezug untergräbt schon im Voraus die Souveränität, die Autonomie des Zeugnisgebens, gewissermaßen schreibt er der performativen Struktur der Bezeugung den Zug des »vielleicht« ein (vgl. dazu die Erläuterungen des letzten Kapitels).
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nome Performanz oder Präsenz (aber auch kein ferngesteuertes Informieren und keine autorisierte »Wissensübertragung«) bedeutet,41 sondern dass es die Antwort 41 | Ein gutes Beispiel für die Fallen in der Annäherung an das Zeugnisgeben ist der Aufsatz von Gert Gooskens, Das Jahrhundert des Zeugen? Über Fernsehen und Zeugenschaft, in: Sibylle Schmidt (Hg.), Politik der Zeugenschaft: zur Kritik einer Wissenspraxis, Bielefeld 2011, 141-155. Ausgehend von der Frage nach dem Zeugenstatus des Fernsehzuschauers kommt Gooskens zu dem Schluss, dass der Konsument der Medialität kein Zeuge sein kann, da ihn die zu bezeugende sinnlich-körperliche Erfahrung affiziert, er gelangt nur über das Sehen zur Kenntnis derselben und erblickt sie im Grunde nur als Bild (das akustische Moment lässt der Autor unerwähnt). Die Erfahrung des Bildes ist keine ausreichende Sicherheit für das Zeugnis, denn die Erfahrung der »Spur« hat dieses zu bestimmen: »Zeugen sind lebendige Spuren der Dinge, die sie erfahren haben. So benutzen sie nicht nur Zeichen, indem sie die Sprache benutzen, sondern sie sind selbst Zeichen: Spuren dessen, was geschah, der bleibende Teil von etwas, das unwiederbringlich vergangen ist.« (155) Dass die kausale Beziehung hier schon zu einer synekdochischen Beziehung wird, ist verräterisch, der Zeuge war irgendwann ehemals Teil eines Ganzen. Die indexikalische Spur gerät in Opposition zum willkürlichen Zeichen, um die These der Studie zu stützen: »Durch den Zeugen suchen wir nicht nur Information über ein Ereignis, sondern vielmehr Kontakt mit diesem Ereignis […] der Aura der Geschichte selbst. In den Zeugnissen suchen wir […] die Geschichte selbst und eine Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten.« (Interessanterweise blickt der Autor mit Fortschreiten der Studie immer öfter aus der Perspektive einer diffusen ersten Person Plural auf »die Zeugen«, d.h. gleichsam mit dem Blick des sekundären Zeugen, während er jedoch das erste Zeugnis gleichsam kausal objektiviert. Diese Grammatik gerät in Widerspruch zur Auratisierung des Zeugen.) Er übersieht, dass diese Art »Spur« auch ein Deuten voraussetzt, dass sie auf Deutung angewiesen ist (wobei dem bekannten Begriffspaar Benjamins zufolge gerade »Spur« und »Aura« zeichen- und performativitätstheoretische Paradigmen bilden, die nicht gleichbedeutend sind), bzw. wird die Frage, die durchaus im Zusammenhang hiermit steht, unterschlagen, in welchem Verhältnis das Zeugnis selbst zum Spur-Sein des Zeugen steht. Anstelle dessen soll nun das schematische Gegensatzpaar von arbiträrem Zeichen und motivierter Spur die freilich einigermaßen vage These, was »die Geschichte selbst« sein mag, untermauern? Die vage-provisorische Vorstellung, genauer, die Sehnsucht nach dem Kontakt mit der Geschichte ist natürlich nur eine Art Hyperbel der Glaubhaftigkeit bzw. der Authentizität, die vom Zeugnis erwartet wird – die jedoch nur die Möglichkeitsbedingung des Zeugnisses, nicht aber sein Ziel sein kann. Letztendlich ist das nicht geklärte Problem des Aufsatzes das Zeugnis selbst (nicht »die Geschichte selbst« oder Ähnliches): Auf vielen Auswegen strebt sie nach der Bestimmung des authentischen oder falschen Charakters des Zeugnisses. Die Ambivalenz des Zeugnisses produziert, von der »Übertragung des Wissens«, »der Geschichte selbst« und anderen her, unterschiedliche Motivationen und Sehnsüchte der Autorisation. Diese Sehnsucht ist freilich gleichzeitig auch eine Reaktion gerade auf eine gewisse Geschichtserfahrung: An Gooskens Beispielen (die von Bildern vorgestellt werden, deren mediale Vermittlung angeblich die bezeugende Funktion derselben schwächt) fällt auf, dass diese sich systematisch auf Ferne, Mangel, Reste, d.h. insgesamt auf Zerstörung beziehen. Die Geschichte ist die Stätte der Zerstörung – ein solcher, d.h. ein Geschichtsbegriff, der auch distanziert betrachtet nicht neutral ist, zeichnet sich im Aufsatz ab. Die Sublimation oder Determination des Zeugnisses – die Reinigung, die Purifizierung der Sprache (willkürlich oder motiviert), der Medialität (die Akustik wird zugunsten der Optik verschwiegen), des Zeugen (eine kausale Affektion, bei der der jeweilige sekundäre Charakter des Zeugnisses
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auf eine Gabe ist oder diese bezeugt. Auf der Basis dieser gegenseitigen Abhängigkeit von Gabe und Zeugnis – die, wie oben deutlich geworden ist, von der Iterabilität und der Nachträglichkeit des Zeugnisses markiert wird – kann dem Zeugnis eine Art quasi-konstativer Modus nicht abgesprochen werden. Das Zeugnis ist von Anfang an der Gewalt der Wiederkehr seiner »ursprünglichen« Entscheidung überlassen, die dessen eigene Iterabilität eröffnet bzw. skandiert. Oder: das Zeugnis als identifizierbare sprachliche bzw. textuelle Entität präsentiert sich gezwungenermaßen selbst auch als Konstativum, sowohl im Sinne des Verweises auf die Ausnahme (wobei die Ausnahme eine Situation oder ein Ereignis sein kann) als im Zeichen des Bezugs auf das Ereignis seiner Entscheidung. Wenn diese Entscheidung das Zeugnis in ihrer eigenen latenten Wiederkehr von einem virtuellen Diktat her kommen lässt, dann macht sie das reine Konstativum, d.h. die neutrale Bezeichnung oder Benennung des Bezeugten, gleichzeitig unmöglich.42 Die Quasi-Performativität des Zeugnisses – als Gabe – entspringt genau dieser Unmöglichkeit und nicht irgendeiner Potenz. Sie bedeutet einem Denken, das bestrebt ausgelöscht wird) – kann das Verlangen, diesem Aspekt der Geschichte Widerstand entgegenzusetzen (d.h. gerade nicht in Kontakt mit der Geschichte zu treten), auch verdecken. Der Aufsatz beweist letztendlich genau das Gegenteil dessen, was er als Absicht deklariert hat. Verstärkt wird dieser Eindruck noch von einem anderen Moment: Das auffällig emphatisch formulierte Verlangen nach Gegenwart wird eigentlich gerade von der von technomedialen Bildern bestimmten (verbreiteten und zugleich als Simulakrum modifizierten) Wahrnehmung bzw. dem Weltbild erzeugt, dessen Dispositiva; gleichsam latent spricht der Diskurs der Arbeit von diesen her (vgl. die Grammatik der ersten Person Plural). Vgl. zu diesen Problemen den von Martin Sabrow und Norbert Frei herausgegebenen Band Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 (Göttingen 2012), hauptsächlich die Studien von Sabrow, Rainer Gries und Wulf Kansteiner (letztere z.B. zum Zusammenhang von Medialisierung und Normalisierung der Zeugenschaft durch das Fernsehen sowohl als Angleichung an einen Durchschnitt als auch als Vertragsschluss). Lehrreich kann es sein, darüber nachzudenken, wie Rancière auf die »gewöhnliche Logik der Information« hinweist: Sie »versucht […], das Unbeherrschbare auf ein Minimum zu reduzieren und und zu beweisen, dass wir in einer Welt leben, deren Daten und Gefahren ständig von denen erfasst werden, die über uns wachen. Die Bezeugung hat darin in Wirklichkeit kaum Gewicht: meistens werden die Aussagen der Zeugen eines Ereignisses im Fernsehen auf ein bis zwei Sätze reduziert. Sie bestätigen einfach die materielle Wirklichkeit dessen, worüber man uns informiert. […] Die Information ist nunmehr weniger der Beweis durch die Tatsachen als die endlose Überprüfung der Gültigkeit eines Interpretationsregimes. Das Problem dieser Maschinerie ist nicht, dass es Tatsachen gibt, die von redegewandten Zeugen bestätigt werden, sondern dass diese Tatsachen ihrem Interpretationsrahmen entsprechen.« Figuren der Bezeugung und der Demokratie, 100. 42 | Diese Beobachtung kann in mehreren von der vorliegenden Arbeit behandelten Texten gemacht werden: Sebald beschreibt die Erfahrung des »déjà-vu«, die an der Kreuzung von Naturgeschichte und »menschlicher« Geschichte zustande kommt, auch auf der intertextuellen Ebene (wobei die »Wahrheit« des Textes von Kluge im ihm zeitlich vorausgehenden Geschichtsbild Benjamins enthalten ist); das Nahtod-Erlebnis von Nádas wirft ein Licht auf ein früheres, wenngleich nicht in seinem Besitz befindliches »Wissen«; Harmonia Caelestis spricht aus der Perspektive von Javított kiadás [Verbesserte Ausgabe], gleichsam mit doppelter Stimme, aus einer Position zwischen dem Bekenntnis des Sohnes und der Unmöglichkeit der Vergebung.
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ist, »[der] Grenze der performativen Autorität«43 Rechnung zu tragen, folglich das eminente Paradigma des Zeugnisgebens. Insgesamt kann man sagen, dass es letztlich nur Grade oder Intensitäten der Testimonialität gibt und keinen »ontologischen« Unterschied zwischen »Bericht« und »Zeugnis« (diese Unterscheidung ist also nur strategisch zu verstehen). Auch der noch so referenzielle Bericht kann nur eine Funktion des Zeugnisgebens sein (und nicht umgekehrt), so wie jedes »Bekenntnis« oder »Geständnis« immer schon eine »Entschuldigung« aktiviert.44 Auf der sprachtheoretischen Ebene entspricht dem die Unmöglichkeit des reinen Konstativs, der ohne einen performativen Wert oder Effekt auskommen, von diesen bereinigt werden könnte. Das heißt natürlich auch, dass das Zeugnisgeben nicht primär im Dienste einer »Übertragung des Wissens« (Krämer) steht. Die Entscheidung des Bezeugens (nicht einfach des Zeugen), sein wesentliches Ereignis zum Thema zu machen, soll die Diskurse über Zeugenschaft, die heute beinahe schon inflationäre Symptome aufweisen, daran erinnern, dass die Möglichkeit des Zeugnisgebens niemals voraussetzbar ist und ebenso wenig irgendeiner »Grammatik« gehorcht.45 Davon gar zu schweigen, dass auf einer tieferen Ebene gerade der Komplex der Entscheidung die Bedeutung des Zeugen und der Zeugenschaft in der Herausbildung des Begriffes der Geschichte als »Kollektivsingular« beleuchten kann,46 im Kontext der breiter verstandenen Moderne (bis zum Perspektivismus von Nietzsche). Die Kontaminierung der Handlungs- bzw. Wissensräume der Geschichte hebt den Zeugen als eminent bedeutsame Figur hervor, hebt aus seiner scheinbar neutralen Rolle heraus. Und zwar dahingehend, dass infolge der sich immer mehr ausbreitenden und ausdifferenzierenden Mediatisierung des Weltverhältnisses die erwähnte Kontamination zu einem Chiasmus wird (oder gar diese ihre von vornherein chiastische Seinsweise sich intensiviert), und die unproblematische Unterscheidung von (historisch) Handelnden und Zeugen untergräbt: die Performativität des Bezeugens als eines Mediums in den Vordergrund stellend (wie sich das »geschichtliche« Handeln immer mehr mit kommunikativ-medialen Funktionen verschränkt).47 Wichtiger ist im vorliegenden Zusammenhang freilich, dass dadurch die wesentliche Seinsweise des Zeugnisses aufzeigbar wird, also dass es potentiell immer schon ein falsches Zeugnis sein kann. Dabei erreicht diese Möglichkeit das Zeugnis niemals von außen, sie ist von Vornherein seine Herausforderung.48 Und cha43 | Vgl. Derrida, Die unbedingte Universität, 76. 44 | Vgl. hierzu Derridas meisterhafte Analyse in Bezug auf Rousseau und Paul de Man: Das Schreibmaschinenband. Limited Ink II, ders.: Maschinen Papier Wien, 2006, 35-138. Jede Zeugenschaft wird intrinsisch von einem solchen Zwang zur Entschuldigung durchdrungen. 45 | Wie die rationalistisch-technizistische, grammatisierende, letztlich kartesianische Annäherung Krämers, vgl. Medium, Bote, Übertragung. 46 | S. hierzu die Arbeiten von Reinhart Koselleck, vor allem Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979. 47 | S. dazu das Kapitel zu Kleists Die Marquise von O… und dessen über den analysierten Text hinausgehende Schlussfolgerungen. 48 | Das ist der »originäre« Zug des Zeugnisses, dem nur wenige, sich mit der Bezeugung beschäftigende Theorien Rechnung tragen. Vgl. dazu Ricœurs Bemerkung: Die Hermeneutik des Zeugnisses, 16.
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rakteristischerweise besteht darin auch die Parallele zwischen der Gabe und dem Zeugnis: so wie die Gabe immer schon Falschgeld schenken kann, so ist das Zeugnis nicht frei vom Meineid, vom Verrat des zu Bezeugenden. Das falsche Zeugnis geht dem Zeugnis im folgenden Sinne, mag es auch noch so sonderbar klingen, strukturell sogar voraus (anstelle von »Geld« und »Gabe« sei das »Zeugnis« das Subjekt bzw. das Objekt der zitierten Sätze): Man vermag nur nach Maßgabe des Unberechenbaren zu geben, sagten wir, und folglich würde allein eine Falschgeld-Hypothese die mögliche Gabe zurückgeben. Man gibt niemals echtes Geld, das heißt ein Geldstück, dessen Auswirkungen man angeblich berechnen kann, mit dem man rechnen kann, mit dem man rechnen kann und im Voraus die Ereignisse erzählen, die man sich daraus errechnet hat. 49
Hinter all dem wirkt die Unvereinbarkeit der inneren, zu bezeugenden Überzeugung mit dem Vollzug der logisch-diskursiven Operation als Rechenschaft (mit einer Art ökonomischer Einlösung des Zeugnisses). Diese Unwahrscheinlichkeit, diese nicht-referenzielle, nicht-ökonomische, Vergessen voraussetzende Seinsweise des Kredits, der Glaubwürdigkeit, der Akkreditation bedeutet u.a. den Mangel des »ersten« Zeugnisgebens, oder dass jedes Zeugnis erst im Gefolge eines Mangels, diesen Mangel voraussetzend, produzierend oder mit sich bringend ankommen kann. Genau dieses Problem, diese Komplikation von Glaube, von Kredit (Akkreditation) wird nun von der Literatur verschärft, die letztlich weder von einer dritten Instanz (Code, Konvention) noch – als Text – von sich selbst beglaubigt werden kann (die für sich selbst kein Zeuge sein kann), wiewohl solche Beglaubigungen von ihr immer simuliert werden können. Aus diesem Grund muss diese fundamentale Ambivalenz des Zeugnisgebens eigens betrachtet werden, nicht jedoch »als solche« (da eine derartige theoretische Abstraktion oder Identifikation gerade diese Ambivalenz verfehlen würde), sondern bereits vom Bezeugen her. Diese Entscheidung ist nämlich nicht einfach auf den Fakt des Zeugnisses gerichtet, sondern auf die Motivation des Bezeugens, das nun die Wahrheit bezeugen muss, die diese als den Anspruch ihrer Mitteilung versprechen muss (denn die Lüge, die Möglichkeit des Meineids ist potentiell immer gegeben, sie ist zumindest nicht auszuschließen). Eine Entscheidung darüber also, nicht nur Zeugnis zu leisten, sondern das Zeugnis der Wahrheit zu leisten. Die oben thematisierte Bereitschaft, das Zeugnis zurückzuziehen, entspricht nun dem Umstand, dass dieser Wahrheitscharakter der Entscheidung niemals zu eigen oder in ihrem Besitz sein kann, sondern die – wiewohl unausgesprochene – Wahrheit (oder Gerechtigkeit gegenüber dem Bezeugten) gehört dem zu Bezeugenden selbst. Die Entscheidung muss zum Teil zurückgezogen werden, damit diese Wahrheit (Gerechtigkeit) irgendwie zur Geltung kommen kann, damit das Zeugnisgeben sich als die Evidenz des Bezeugten in seiner »Gewissheit« manifestieren kann (und 49 | Derrida fährt fort: »Es sei denn, dass dieser Gegensatz von echtem und falschem Geld hier seine Relevanz verliert – und das wäre eine der Beweisführungen dieser literarischen Erfahrung, dieser Sprache als immer auch möglichen Falschgelds.« Falschgeld, 201. Der literarische Text, den die vorliegende Arbeit behandelt, der diesen Zusammenhang vielleicht am ökonomischsten sichtbar macht, ist die Geschichte des bulgarischen Schaffners in Kornél Esti.
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nicht in einem Haufen nebensächlicher Umstände, die im gegebenen Fall als Referenz noch so wichtig sein mögen, verloren geht).50 Die Wiederholung der Entscheidung, oder eher noch: ihre Rückkehr ist gleichzeitig Chance und Bedrohung des Zeugnisgebens als der Gerechtigkeit gegenüber dem Bezeugten. Der Charakter der Iterabilität der Wiederkehr kann das Moment des Vergessens induzieren, die Fiktionalität, die durch dieselbe Wiederkehr erzeugt wird, kann das Bezeugte aber verdecken oder verdrängen. Genau diese Aspekte haben wir freilich bereits als die Strukturmomente der wesentlichen Offenheit des Zeugnisgebens charakterisiert. Wieder wird evident, dass die Möglichkeit und die Unmöglichkeit des Zeugnisses einer Wurzel entsprießen. Die Zurücknahme der Entscheidung setzt ein Quasi-Vergessen voraus, das Vergessen (z.B. das Unmotiviert-Werden ihrer Zeichenhaftigkeit, sei diese noch so indexikalisch) der »ersten Entscheidung« als die ursprüngliche Affirmation, Bejahung des Bezeugten in der »zweiten« Bejahung oder in der Gegenzeichnung des ersten »Ja«, d.h. seiner Wiederholung,51 im »äußeren Wort«. Diese »zweite Ja« ist schon im ersten geborgen, das zugleich das zweite Ja bejaht (das Verhältnis von erstem und zweitem »Ja« bildet den doppelten Sinn des Zeugnisses – es selbst gibt, doch es wird auch gegeben – als Gabe ab oder wiederholt ihn, was als der Grundzug der testimonialen Differenz unserem Ausgangspunkt entspricht). Aber auch das erste Ja ist – als eine Art »inneres Wort« – schon ein »Ja« auf die Herausforderung, den Ausnahmezustand, die bzw. der das Zeugnis gerufen hat (wobei das Zeugnis als Entscheidung selbst dieses »Ja« war).52 D.h. das Zeugnis ruft diesen Ausnah50 | Die Zurücknahme der Entscheidung als »Bereitschaft« kann also auch wieder darauf zurückweisen, dass der Empfang der Gabe nicht die Übernahme eines gegenständlichen Geschenks bedeutet, sondern – mit dem späteren Heidegger gesprochen – bloß dessen Bedankung in Aussicht stellt, ja überhaupt geht es – laut dem »Weisen« des ersten Feldweggesprächs – um ein »Danken«, »das sich nicht erst für etwas bedankt, sondern nur dankt, daß es danken darf« (Aus der Erfahrung des Denkens, GA 13, Frankfurt a.M. 1983, 148). Bei Augustinus gibt die Gabe weniger das Gesehene als vielmehr das Sehen-Können/Dürfen. Vgl. Benveniste: »Oberhalb des normalen Kreislaufs der Tauschbeziehungen, wo man gibt um zu erhalten, gibt es einen zweiten Kreislauf, den der Wohltat und der Dankbarkeit, des Gebens ohne Trachten auf Rückgabe, des Gebens um zu ›danken‹.« Indoeuropäische Institutionen, 159. 51 | Zur »ersten« und »zweiten« Bejahung vgl. Derrida, Vielzahl Ja, in: ders., Psyche. Erfindungen des Anderen I, Wien 2012, 180-183. Dasselbe Problem in Verbindung mit der Unterschrift und der Gegenzeichnung s. Derrida, Countersignature, 22, 29. 52 | »Dieses ›zweite‹ ja ist a priori ins ›erste‹ eingehüllt. Das ›erste‹ hätte nicht Statt ohne das Projekt, die Einsetzung oder das Versprechen, die Mission oder die Emission, die Sendung/Schickung (envoi) des zweiten, das bereits in ihm da ist. Dieses letztere, das erste, verdoppelt sich von vornherein: ja, ja, von vornherein seiner Wiederholung zugewiesen. Da das zweite Ja im ersten wohnt/das erste heimsucht (habite le premier), erweitert, spaltet und teilt die Wiederholung das ur-sprüngliche Ja von vornherein.« Derrida, Vielzahl Ja, 182. Diese Relation ist vielleicht nicht so weit von dem Zusammenhang zwischen »innerem« und »äußerem« Wort (vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit) entfernt, den der Gedankengang Gadamers entwickelt. Die Geschichte des bulgarischen Schaffners in Kornél Esti mag, mit den verschiedenen Verwicklungen, die narrative Allegorie dieser performativen Duplizität und dieser performativen Wiederholung darstellen (vgl. Kapitel 8).
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mezustand nicht hervor, sondern es wiederholt gleichsam von Anfang an dessen Entscheidung, deswegen muss es seine »eigene«, vermeintlich souveräne Entscheidung vergessen, muss, anders ausgedrückt, auf die konstative Bestimmbarkeit, Beherrschbarkeit dieser ersten Entscheidung als »Ja« (Bejahung) verzichten. Dieses Vergessen gehört zu jedem Zeugnisgeben nicht bloß als defizienter Zug, sondern als die Intensivierung oder Aktivierung der konstitutiven Nachträglichkeit oder des Nachlebens des Zeugnisses – zumindest solange die Rede von einem Zeugnis und nicht von einem narrativen Bericht oder einem referenziellen Beweis ist. Der Zeuge muss nicht nur das Gesehene usw., die vermeintliche Unmittelbarkeit vergessen, sondern auch seine anfängliche, vermeintlich autonome Entscheidung und dementsprechend sein Zeugnis als die Multiplikation der Bejahung vollstrecken bzw. es ihr (als Gabe) überlassen. Das Zeugnis ruft hier gleichsam auch selbst dieses zweite »Ja« (als eine Art Gegensignatur), »das bereits da ist, aber dennoch im Kommen bleibt beziehungsweise noch zu kommen hat (reste à venir)«.53 Das inhärente Vergessen, das im Zeugnisgeben als Nicht-Wissen wirkt, ist also – neben dem Index der Nachträglichkeit – die Bedingung der Gerechtigkeit des Zeugnisses, ja sein Strukturmoment.54 Gleichzeitig bringt dieses Vergessen auch den Effekt der Fiktion mit sich: die Fiktion als das differentielle Moment des zweiten »Ja«, das immer schon im ersten »Ja« arbeitet, die nicht-identische Bezeugung (denn sie bezieht sich nicht auf eine einstige, als vorübergegangene Gegenwart verstandene Vergangenheit) der Wahrheit des ersten »Ja«.55 Die Fiktion ist in gewissem Sinne der Name der Unmöglichkeit des Zeugnisses, was auf ihren gemeinsamen Zug zurückverweist, nicht an der Herstellung von Beweisen, der Weiterreichung von Informationen interessiert zu sein, vielmehr prägt sie eine andere, jenen vorangehende Gewissheit, eine unwahrscheinliche Evidenz, sie haben einen Wahrheitsanspruch, der nicht gänzlich kalkuliert ist. Sie appellieren, im Zeichen des »als ob« oder des »vielleicht« an den Glauben (den Kredit, das Vertrauen), nicht nur an das Wissen, was zugleich ihre Stärke und ihre Schwäche ist und gleichzeitig »Unschuld« (der Zeuge ist kein Handelnder, die Fiktion ist keine Informations- und Beweisdienstleistung) und »Gefahr« (falsches Zeugnis) bedeutet.56 Die Verdoppelung des »Ja«, die Verschiebung, der Verbleib des zweiten »Ja« im Kommen haben ihren Ursprung gerade in der strukturellen Vorgängigkeit des falschen (d.h. nicht verifizierten, nicht kalkulierten, weil so unwillkürlich als ein Bericht, ein Beweis, eine Referenz programmierten) Zeugnisses vor »dem« Zeugnis.
53 | Derrida, Vielzahl Ja, 182. Die Ankunft selbst ist also auch ein Rest, der Rest der Zukunft, der Index des aktiven, ja verändernd-veränderlichen (differierenden) Bleibens (»restance« an anderer Stelle bei Derrida). 54 | Das sekundäre Zeugnisgeben Sebalds baut z.B. darauf auf und macht in gewissem Sinn das strukturelle Charakteristikum des Verspätet-Seins der Zeugnisgaben verstehbar. In der testimonialen Figur der »Chiffre« wirkt dieses Vergessen, die Chiffre selbst bildet sozusagen den Effekt dieses Vergessens. 55 | Siehe dazu das Verhältnis von innerem und äußerem Wort in Verbindung mit Gadamer im zweiten Kapitel. Die Geschichte des bulgarischen Schaffners in Kornél Esti kann aber auch die narrative Allegorie gleichsam des zweiten (als Abschied gesprochenen) »Ja« sein. 56 | Die Rede ist von Hölderlins Dichtungs- und Sprachdeutung, vgl. dazu das Kapitel 4 und 5 dieser Arbeit.
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Genau deswegen ruft jedes Zeugnis seine Gegenzeichnenden, die es Bezeugenden, es wird sogar nur von diesem her überhaupt zum Zeugnis, da das falsche Zeugnis dem Zeugnis vorgängig ist, der Gegen-Zeuge stellt das Zeugnis gewissermaßen auf die Probe (nicht: er verifiziert es!). Dieses Verhältnis hängt mit einem gewissen provisorischen, versuchsmäßigen Charakter des Zeugnisgebens zusammen, mit der Experimentalität als Erprobung. Das Zeugnis wird immer von der Sprache des Anderen auf die Probe gestellt, von vornherein in der Sprache des Zeugnisses selbst (nicht in einer zeitlich darauf folgenden Phase).57 Die Beispielhaftigkeit des Zeugen verschränkt sich mit der Experimentalität (weniger in kognitiv-epistemologischem, als vielmehr in performativem Sinn). Dies alles ist auch Index der Nachträglichkeit des Zeugnisgebens.
D ie N achtr äglichkeit des Z eugnisses Die Interpretation der nun schon erwähnten wesentlichen Ebene des Zeugnisgebens muss, ausgehend von der etymologischen Prüfung von Benveniste, der anderen lateinischen Bezeichnung des »Zeugen« entnommen werden: Ebenso bedeutet superstare »jenseits stehen, jenseits bestehen«, jenseits eines Ereignisses, das das Übrige vernichtet hat. Der Tod hat eine Familie heimgesucht und die superstites bestanden über dieses Ereignis hinaus fort; superstes ist derjenige, der eine Gefahr bestanden, eine Probe abgelegt oder eine schwierige Zeit durchgemacht und überlebt hat. [...] Dies ist aber nicht die einzige Verwendung von superstes; »darüber hinaus bestehen« heißt nicht nur »ein Unglück, den Tod überlebt haben«, sondern auch »irgendein Ereignis mitgemacht haben und jenseits dieses Ereignisses weiterbestehen«, also sein »Zeuge« gewesen zu sein. Oder auch »der, der auf (super) der Sache selbst steht (stat), der an ihr teilnimmt; der anwesend ist«. Dies ist die Stellung des »Zeugen« in Bezug auf ein Ereignis. 58
Benvenistes Rekonstruktion hält hinsichtlich des gesamten Zeugnis-Komplexes wichtige Schlussfolgerungen bereit. Das Zeuge-Sein bedeutet nicht nur sein Überleben, sondern auch eine Teilnahme, ein Affiziertsein des Zeugen durch einen singulären Tatbestand bzw. ein Ereignis oder eine Erfahrung. Gleichzeitig hat der Zeuge als Bezeugender diese Erfahrung in gewisser Weise schon im Voraus hinter sich, zumindest trennt ihn irgendeine – zeitliche, kognitive, emotionale usw. – Dif57 | Daher tritt in vorliegender Arbeit der Fragekomplex der Experimentalität an mehreren Punkten in Vordergrund: Im zweiten Kapitel bedeutet das Bezeugen des inneren Wortes zugleich dessen Auf-die-Probe-Stellen. Bei Kleist wird »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« vom (Verhältnis mit dem) Anderen bezeugt und zugleich auf die Probe gestellt. Dieses Verhältnis – auch als sprachlicher Ausnahmezustand – ist jener »Zustand«, der »allererst weiß« (»denn nicht wir wissen«). Im dritten Kapitel wird das Übersetzen als Versuchsanordnung analysiert, das Kapitel zu Kosztolányi versucht weitere performativ-skripturale Komplikationen der testimoniopoetischen Experimentalität aufzudecken. Das Aufdie-Probe-Stellen durch die Sprache des Anderen stellt zugleich den Index des Politischen dar, die Einführung potentieller Freund-Feind-Unterscheidungen und/oder deren Subversion (das wird im Kapitel zu Esterházy berührt). 58 | Benveniste, Indoeuropäische Institutionen, 515.
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ferenz von ihr, auf jeden Fall existiert er in Bezug auf sie in einer Art Nachträglichkeit, ja Verspätung (»belatedness«) (selbst dann, wenn z.B. die traumatische Wirkung dieser Erfahrung ihn in der Gegenwart erreicht). Diese Nachträglichkeit oder dieses Überleben ist nicht einfach eine Kategorie der Zeit, sondern sie bzw. es entspricht der Singularität des Ereignisses, insofern dieses in identischer Form nicht reproduzierbar ist, es bedeutet viel eher eine untilgbare Zäsur, dergegenüber jedes Leben, jede Existenz, jede Erfahrung sich nur als Nachträglichkeit, als Nachleben manifestieren kann. Ja, die Erfahrung des Bezeugten wird nur von dieser Nachträglichkeit her zu dem, was sie ist, also zum Ereignis, zur Erfahrung, zur Affektion, welche bezeugt werden sollen (auch die Nachträglichkeit affiziert gleichsam den Zeugen). Dem kann das Überleben als Bewegung, als eine Art Transgression entsprechen,59 d.h. es ist nicht einfach die Rede von einem zeitlichen Zustand, einem »danach«, sondern von einer Bewegung, die über identifizierbare Gegebenheiten, Umstände hinaus geht, ja von der Bewegung des »hinaus« und von der jenseitigen, nicht zu bezeichnenden Seite dieser Bewegung als entstehende Zeichenhaftigkeit (Unmotiviert-Werden), als différance.60 Diese Bewegung spielt sich in gewissem Sinne im Zeugnisgeben selbst ab, als dessen differentielle Verdoppelung, deren Modalitäten und Implikation im Folgenden erläutert werden sollen. Diesen Dualismus von Überleben und Affektion und ihren als solchen unmarkierbaren Unterschied könnte man erneut testimoniale Differenz nennen: Der Zeuge »war da« (hatte Teil am Ereignis), er ist aber auch über es hinausgegangen, der Status des Zeugen ist immer eine Kategorie des Nachträglichen (er wird immer von einem »Jenseits« markiert, mag dieses auch noch so unsichtbar sein).61 Diese Differenz ist in jedem Zeugnisgeben am Werk. Es ist aber sogleich anzumerken, dass diese beiden Aspekte nicht symmetrisch auf den beiden Seiten der Unter-
59 | Super bedeutet nämlich »weder ursprünglich noch ausschließlich ›oberhalb‹ […], sondern ›jenseits‹, nach der Art eines Vorstoßes, eines Darüber-hinaus: satis superque heißt ›genug und darüber hinaus, genug und mehr als genug‹ […] der Begriff der ›Überlegenheit‹ bezeichnet nicht nur etwas, das ›oberhalb‹ ist, sondern mehr ein Fortschreiten in Bezug auf das, was unterhalb ist.« (Ebd.) 60 | Dieser Chiasmus der Bewegung des »Jenseits« und des »Jenseits« der Bewegung lässt sich im Grunde gerade mit der von Benveniste an anderer Stelle vorgelegten Beschreibung des medialen Verbs verbinden, wird sogar durch sie ergänzt: Das Subjekt existiert nach der Struktur des medialen Verbs in dem Vorgang (es führt ihn nicht einfach aus), der die Handlung bedeutet, aber es geht über dessen transitiven Charakter noch hinaus. Benvenistes Beispiele stammen überwiegend aus dem semantischen Kontext und dem lexikalischen Bestand der Gaben: »[E]r trägt Gaben, die ihn selbst betreffen« (Aktiv und Medium im Verb, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, 195). Zugleich wirkt sich auch die andere Seite des Vorgangs im oben erwähnten Sinn auf das Subjekt aus (sie überschreibt die Vorstellung des Subjekts – nicht nur die der Handlung – von einer anderen potenziellen Dimension, die sich von der Transitivität entfernt). 61 | Vielleicht erscheint dieser Dualismus auch schon auf der Ebene der sprachlichen Grammatik: »etwas/jemanden bezeugen« bzw. »von etwas zeugen«. Dieser Dualismus von »bezeugen« macht es jeglicher scheinbarer grammatischer Transitivität zum Trotz zu einem echten medialen Verb. Vgl. Benveniste, Aktiv und Medium im Verb.
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scheidung anwesend sind.62 Da diese Differenz nur aus der Nachträglichkeit heraus denkbar wird, sie das Produkt der Nachträglichkeit ist oder die Nachträglichkeit sie einschreibt, geht sie von vornherein in die Zeugenschaft über, sie ist immer schon die innere Differenz des Zeugnisses, man könnte sagen: eine innere Grenze im Zeugnis selbst. Es handelt sich um eine Art geschehende Differenz (nur deswegen kann sie sich in das Zeugnis einschreiben), nicht bloß um die operative Funktion des Beobachtens (selbst wenn diese eine Beobachtung »zweiter Ordnung« wäre).63 Die performative Seinsweise des Zeugnisgebens hängt von dieser Differenz ab, gleichzeitig schreibt jenes sich diese ein oder wiederholt sie. Oder die Differenz ist zugleich die Möglichkeits- (insofern sie sich auf ein singuläres Ereignis oder eine singuläre Erfahrung bezieht) und die Unmöglichkeitsbedingung (insofern dieses Ereignis referenziell unerreichbar oder unbeherrschbar für das strukturell verspätete Zeugnis ist) der performativen Funktion des Zeugnisgebens. Diese Nachträglichkeit bedeutet jedoch nicht bloß einen notwendigen zeitlichen Unterschied oder eine solche Verschiebung im Interesse der »Aufarbeitung«, der »Artikulation« der Erfahrung. Sie fällt vielmehr mit dem Mangel oder der Unmöglichkeit des Zeugnisses auf einer tieferen Ebene zusammen. Das Zeugnis kann das Bezeugte nicht restlos referenziell bezeichnen, performativ verkörpern, zum Dasein bringen/vergegenwärtigen (was die Tilgung des Strukturmoments des »hinaus«/»jenseits« bedeutete), es kann nur von etwas als von etwas »Jenseitigem« zeugen (als von einer latenten Dimension). Dieses Nicht-in-eins-Fallen zeigt zugleich den wesentlich diskursiven, ja vermittelt-vermittelnden Status des Zeugnisgebens an. Das Zeugnisgeben kann das zu Bezeugende also von Anfang an nur an etwas Anderem oder als etwas Anderes bezeugen. Sonst hätte es keinen Sinn, von der Nachträglichkeit zu sprechen, man müsste sie einfach nur voraussetzen – der fundamentale Zusammenhang besteht nun aber darin, dass die Nachträglichkeit das Zeugnisgeben selbst verdoppelt.
62 | Wie z.B. (nicht) das Verhältnis der »Sinne« und des »Glaubens« oder des »Wissens« im Zeugnis, deren Anordnung in einem symmetrischen Muster zwangsläufig, strukturalistisch gefärbt, Entzeitlichung voraussetzt. Systemtheoretisch gesprochen »besagt [diese Asymmetrie], daß immer nur eine Seite der Unterscheidung bezeichnet werden kann, denn wollte man beide Seiten zugleich bezeichnen, würde das die Unterscheidung selbst aufheben.« Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, 109. 63 | Den Unterschied zwischen der Beobachtung erster und zweiter Ordnung in Verbindung mit dem Zeugnisgeben geltend zu machen, wäre kein unproblematisches Unterfangen, da beide für das Zeugnisgeben gleichermaßen ins Gewicht fallen: man kann nicht zu einem »Vorher« in Bezug auf das Zeugnisgeben (als irreversibles Moment, z.B. als Versprechen oder als gegebenes Wort) zurück, gleichzeitig macht sein inhärenter Mangel (die Bezeugung des Mangels des Zeugnisses) es von Anfang an zu einer Beobachtung zweiter Ordnung (das re-entry der Bezeichnung existiert von Anfang an). Der Unterschied geht in das Zeugnis selbst über: das ist die testimoniale Differenz, wobei das Problem nicht bloß »die Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens« ist, sondern die Untilgbarkeit des internen Unterschieds dieser Operation als Operation oder, im dekonstruktivistischen Sprachgebrauch: seine Unlesbarkeit. (Zu diesen Begriffen bei Luhmann mitsamt von de Man- und Derrida-Verweisen vgl. Die Kunst der Gesellschaft, 92-164, Zitat: 96; zur Beobachtung zweiter Ordnung als Beobachtung von Latenzen ebd., 137.)
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Man könnte sagen, dass das Zeugnis von einem solchen »Jenseits«, von der anderen Seite der testimonialen Differenz, zeugt, die es gleichzeitig nicht fixieren, d.h. referenziell benennen, mit semiotischen Mitteln markieren oder handelnd vergegenwärtigen kann. Dieses »Jenseits« ist ohne die Zeugenschaft nicht postulierbar – es existiert sozusagen nicht »als solches« (denn wäre es als solches setzbar, dann müsste es nicht bezeugt, kein Zeugnis von ihm abgelegt werden), gleichzeitig unterscheidet es sich von allen referenziell, phänomenologisch, semantisch, narratologisch bestimmbaren Bedingungen derselben, es hat jenseits von diesen Statt. Genauer gesagt hat es nicht Statt, denn es ist kein Ort jenseits von etwas, vielmehr ist sich die Zeugenschaft selbst – und das ist am schwersten zu verstehen – als Transgression das »Jenseits«, wobei diese Überschreitung nicht einfach über etwas hinausgeht, sondern selbst ein »Jenseits« produziert, sich dieses »Jenseits« gleichsam einschreibt bzw. auf es verweist (z.B. als eine Art Geheimnis; als eine Vergangenheit, die niemals Gegenwart war usw.). Diese eigentümliche Verdopplung geschieht gleichzeitig mit dieser Bewegung, diese produziert jene nicht einfach, sie ist nicht einfach eine Operation oder eine »Tätigkeit«, sondern sie ist zugleich auch passiv, d.h. sie kommt dem Widerspruch von Aktivität und Passivität als »mediale Form« zuvor bzw. ist nicht-transitiv (wie die différance).64 (Diese Bewegung kann der »EntMotivierung« bzw. weiteren Derrida-Kategorien der »restance« entsprechen.) Hier wirkt die testimoniale Differenz: sie entzieht sich selbst und lässt zugleich einen Rest als eine Art »Jenseits«, eine (nicht-phänomenale, vergessene, verdrängte usw.) Rückseite der transgredierenden Bewegung, zurück. Tatsächlich macht dieses »Jenseits« die »Metaphysik der Medialität« (S. Krämer) notwendig, jedoch nicht im Sinne der Tropologie der »Übertragung«. Es kann noch nicht einmal entschieden werden, ob dieses »Jenseits« nicht in einem gewissen Sinne fiktiv ist, da es nicht nur den referenziellen, sondern auch den performativen Wert des Zeugnisgebens verdoppelt, es gleichsam mit unsichtbaren Anführungszeichen versieht. Es kann gleichzeitig, als gemeinsamer Ursprung die Exemplarität der Fiktion (das Differieren von sich selbst) und die Fiktionalisierung des Zeugnisses generieren. Vermutlich ruft das Zeugnisgeben vielmehr dieses in diesem Ruf zustande kommende »Jenseits«65 – die Entscheidung des Zeugnisgebens ist deswegen keine eigenmächtige dezisionistische Attitüde, sondern eine Art Ruf (und aus diesem Grund nie von der Herausforderung der Interpretation zu trennen). Und zwar der Ruf nicht nur dieses »Jenseits«, sondern zugleich auch der (Auf-)Ruf, der zur Gegenzeichnung der eigenen Zeugenschaft, zur Weitergabe des Zeugnisses ergeht. Dieser doppelte Ruf bedeutet die Aktivität, die Aktivierung der testimonialen Differenz. Der Zeuge (das Zeugnis) kann nicht einfach räumlich-empirisch oder positionell als die Figur des Dritten aufgefasst werden, sondern als der Aktant oder eher noch als das Medium gerade dieses Rufes und seiner Weitergabe. Insofern ist die testimoniale Differenz auf eminente Weise 64 | Vgl. Derrida, Die différance, 34-37. 65 | Wie die »reine Sprache« Benjamins im in der Übersetzung geschehenden Echo des Originals, das den Ruf der Übersetzung selbst zurückwirft, der zum Original hin ergeht: »Die Übersetzung aber sieht sich nicht wie die Dichtung gleichsam im innern Bergwald der Sprache selbst, sondern außerhalb desselben, ihm gegenüber und ohne ihn zu betreten ruft sie das Original hinein, an denjenigen einzigen Orte hinein, wo jeweils das Echo in der eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben vermag.« Vgl. Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften IV.1, Frankfurt a.M. 2008, 16.
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gleichsam die Spur des Dritter-Seins (bzw. letzteres die Figur jener Differenz),66 der Selbstentzug der Differenz verweist aber auf den Mangel des primären Zeugnisses selbst und zugleich auch auf die Nachträglichkeit des Zeugnisgebens als Transgression (wie in einem anderen Zusammenhang das Parergon).67 Die Differenz – zwischen der Transgression und ihrer anderen Seite – wird selbst zum Medium.68 Wenn das Zeugnisgeben das Ereignis (Erfahrung, Dimension usw.), das es möglich macht oder das es hervorruft, aber immer an etwas Anderem/als Anderes bezeugt, dann bezeugt es in gewissem Sinne gleichzeitig auch das Fehlen eines »ursprünglichen« Zeugnisses, ja (auf irgendeine Weise) die Unmöglichkeit des Zeugnisses. Das heißt, dass sich die Inskription der testimonialen Differenz in das Zeugnis selbst auf dieser Ebene vollzieht. Das Zeugnis ist immer eine Zeugnisleistung anstelle (oder nach) eines (einem) solchen »ursprünglichen«, »motivierten«, organischen, deiktischen, »erwarteten« Zeugnisgebens; seine Verspätung, seine Nachträglichkeit zeigt auf einer grundlegenderen Ebene seinen supplementären Charakter an (dass das Zeugnis niemals eine autonome, sich selbst genügende Handlung oder ein solches Gebilde sein kann, ja dass das Zeugnisgeben immer schon ein »ursprüngliches«, »motiviertes« Zeugnis – seine Deixis – auslöscht und so auf genuine Weise zum Nachleben wird, d.h. sich einschreibt). Diese Supplementarität (der Index des oben erwähnten Über- oder Nachlebens) bedeutet jedoch nicht bloß die Mangelhaftigkeit des Zeugnisses, sondern die Chance, dass das Bezeugte (von Anfang an) als anderes und zugleich das Zeugnisgeben selbst in nicht-identischer Form wiederholt wird, also die Möglichkeit einer gerecht(er)en Bezeugung. Den Analysen Benvenistes zufolge steht das »superstes« oder »superstitio« (»die Eigenschaft, als Zeuge anwesend zu sein«) oft im Zusammenhang mit den Ausdrücken »hariolatio«, »Voraussage, Prophezeiung«, »Seherischsein«, mit der Bezeugung einer Wahrheit, die nicht von einer referenziell-erfahrungsmäßigen Ebene abhängt.69 Der Wahrsager spricht »von 66 | Luhmann zufolge ist die Differenz, »logisch gesehen, etwas Drittes«, da »man nicht entscheiden [kann], ob die Grenze zum System oder zur Umwelt gehört«. Der Autor der Systemtheorie übergeht diese Frage aber sogleich, indem er »die Triadisierung vermeidet« (ebd.) oder sie ausschließt (was dann auf der »performativen« Ebene seines Diskurses die Frage der Grenze aufwirft). Stattdessen dienen die Grenzen »der Stabilisierung [des Komplexitätsgefälles]« des Systems. Soziale Systeme, 53. 67 | Vgl. Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien 1992, 82. 68 | Vgl. dazu die Feststellung Luhmanns, wonach die Unterscheidung von Medium und Form in der Kunst selbst auch Medium und nicht nur Form ist. Das Medium der Kunst, in: ders., Schriften zu Kunst und Literatur, Frankfurt a.M. 2008, 123-138. Rancière vertritt über das Verhältnis von Literatur und Bezeugung eine ähnliche Meinung; seiner Ansicht nach kann erstere gerade die oben behandelte Grenzüberschreitung reflektieren und simulieren: »Es ist die Eigenart der Dichtung – und nicht der Bezeugung –, das Verhältnis zwischen der Grenze und ihrer Überschreitung in Szene zu setzen.« Figuren der Bezeugung und Demokratie, 96. 69 | Zugrunde liegt das von Plautus übernommene unterhaltsame und zugleich tiefsinnige Beispiel Benvenistes: »Ein einäugiger Schmarotzer erklärt seine Verletzung: ›Ich habe mein Auge im Kampf verloren‹ und jemand antwortet ihm: ›Es ist mir gleich, ob du dein Auge im Kampf oder durch einen Topf verloren hast, den man dir ins Gesicht geworfen hat. – Oh, ruft der Schmarotzer aus, dieser Mann ist ein Hellseher, er hat richtig geraten!‹: superstitiosus hic quidem est; uera praedicat (Curc. 397). Die ›Wahrheit‹ besteht darin, erraten zu haben, woran man selbst nicht teilgenommen hat.« Indoeuropäische Institutionen, 516. (Eine sol-
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etwas Vergangenem so […], als ob er wirklich dagewesen wäre«, »die superstitio ist die Gabe des zweiten Gesichtes, die ein Wissen um die Vergangenheit ermöglicht, als ob man selbst anwesend, superstes, gewesen wäre [
] Zeuge von Vorgängen zu sein, an denen man nicht teilgenommen hat.«70 Dieses »zweite Gesicht« ist als Begabung das, was gleichzeitig die Performativität und die Supplementarität (den Charakter des »als ob«) des Zeugnisgebens bedeutet, wobei das primäre Zeugnis ausgelöscht wird. Im Sinne dieser scheinbaren Dualität rührt das Zeugnis von einer Kräftedifferenz her oder mobilisiert selber eine Kräftedifferenz71: Zwischen der empirischen Gegenwart und der sekundären (»als ob«-haften) testimonialen Gegenwart, dem referenziellen und dem »seherischen« Sehen. Insofern ist das Zeugnis zugleich stärker und schwächer als der referenzielle Beweis, so wie seine supplementäre, verschobene Seinsweise in Bezug auf das »ursprüngliche« Zeugnis. Ferner steht das »Wunder« bekanntlich in einem konstitutiven Verhältnis zum Zeugnisgeben, das immer irgendein Wunder, d.h. ein singuläres Ereignis bezeugt,72 im Sinne des »zweiten Gesichts« wird jedoch das Geschehen des Zeugnisgebens selbst zum Wunder (zur Gabe?) oder zu einem auf referenzielle Weise nicht zugänglichen Ereignis.73 Die Supplementarität des Zeugnisses, seine Seinsweise im Zeichen des »als ob«, bedeutet nicht bloß Nachträglichkeit, sondern sie korreliert mit seiner Gabenhaftigkeit: Der Zeuge gibt gleichsam, was er nicht hat. Hier muss ein Punkt im Voraus Erwähnung finden: Die Bezeugung des Bezeugten als anderes bedeutet kein Anders-Sein im Vergleich zu etwas, sondern sie zeigt die wesentliche Wiederholbarkeit des Zeugnisgebens selbst an. Das Zeugnis ist ein Supplement, weil es sich von Anfang an als wiederholt ergibt, es sich der Wiederholung hingibt. Oder das Jenseits-Sein ist als Nachleben schon der Index oder das Strukturmoment der Wiederholbarkeit, und aus diesem Blickwinkel könnte die Behauptung riskiert werden, dass das von der Zeugenschaft angepeilte »Jenseits« che Wahrheit der Bezeugung kann parallel zum Moment der »veritas redarguens« gestellt werden, vgl. dazu Kapitel 2. Das Beispiel des ganzen Problems, das am ehesten mit politisch-historischen Einsätzen aufwartet, befindet sich im Sebald-Kapitel – insbesondere die hypertextuelle Transposition des von Kluge gezeichneten Bildes der zerbombten Stadt, die der Sebald-Text vollzieht, seine Übertragung durch die Zitathaftigkeit des Zeugnisses, d.h. nicht einfach seine Auslöschung, sondern sein nicht-identisches Lesen.) 70 | Ebd., 516-517. 71 | Vgl. zu diesem Begriff Gilles Deleuze auf den Spuren Nietzsches: Nietzsche und die Philosophie, München 1976. 72 | Vgl. Derrida, Bleibe, 88. Das Wunder(-tun) ist in den Evangelien bekanntlich oftmals ein »Schenkungswunder« (z.B. Joh 6 bzw. die Fischfang-Parabel, Joh 21), vgl. János Bolyki, ›Igaz tanúvallomás‹. Kommentár János evangéliumához. [›Ein wahres Zeugnis‹. Ein Kommentar zum Johannesevangelium], Budapest 2001, 180-181, 534. Das Schenkungswunder ist gleichsam ein emblematisch-selbstinterpretatives Motiv des Ereignis-Überschusses, seiner Gabenhaftigkeit. 73 | Dabei wird dieses »zweite Gesicht« gleichsam als die Gabe des Nachlebens verstanden (nicht das Leben, nicht der Tod, nur »ein einzigartiges Überleben« kann Derrida zufolge im eigentlichen Sinne geben, vgl. Falschgeld 185). Vgl. in Verbindung mit Márai (hier Das Wunder des San Gennaro) auch Zoltán Kulcsár-Szabó, A liberális demokrácia forradalma. Márai Sándor [Die Revolution der liberalen Demokratie. Sándor Márai], in: Irodalomtörténet 2011, 566-567.
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(z.B. eine Art nicht-zeitliche, nie als solche oder als vergangene Gegenwart dagewesene Vorgeschichte oder Vergangenheit) keine versteckte metaphysische Dimension ist, sondern dessen Kommen und in gewissem Sinne das Nachleben des Zeugnisses selbst. Das »Nachleben des Zeugnisses« bedeutet hier jedoch nicht bloß eine dokumentierbare Rezeptionsgeschichte (im Sinne des genitivus subiectivus), sondern die Verdoppelung des Zeugnisses selbst (die Multiplikation der testimonialen Differenz in ihm), die Differierung von sich selbst, von den vorausgesetzten Intentionen, der Bedeutung desselben usw., oder ein anderes, unkalkulierbares SichÖffnen für dieses gewisse »Jenseits« als das zu Bezeugende. Dieser Zusammenhang, wonach sich eine Perspektive auf das »Jenseits« der Zeugenschaft als eine Art Latenz nur vom Nachleben des Zeugnisses (und nicht von einer Art unmittelbaren Deixis) her auftut, bedeutet eine temporale Figur oder Dimension, die man im genuinen Sinn verstanden vielleicht »vergangene Zukunft« nennen darf. Das »Jenseits« ist das Nachleben selbst: dieses ist seine différance, kein Aufeinander-Folgen, sondern die doppelte Bewegung von unterscheiden/verzögern.74 Im Grunde folgt all das aus der testimonialen Differenz des gegebenen und des fehlenden, des virtuellen und des aktuellen Zeugnisgebens, die nicht bloß als fehlendes (unmögliches) Zeugnis, sondern auch als die Differenz oder das Intervall zwischen ihm und dem aktuellen Zeugnis nicht fixierbar ist (eine nicht-sichtbare, nicht-hörbare, also eine schriftliche, spurenhafte Existenz oder Nicht-Existenz hat). Dabei macht diese Differenz – die in der Spur entstehenden Katachresen und unmöglichen Synonyme – das Zeugnis offen für die Erfahrung, zugleich verschiebt ihr Spiel sie (die Differenz selbst, die Fixierung der Wiederholbarkeit des Zeugnisgebens) aber auch oder schiebt sie auf. So wird das fehlende Zeugnis zum Ungesprochenen des aktuellen Zeugnisgebens (über das es nicht verfügt, das es nur geben kann), das virtuell sogleich selbst gleichsam anstelle des aktuellen Zeugnisses Zeugnis leistet und so die Nachträglichkeit des Zeugnisses als eine Art quasi-re-entry verschärft (es gibt also auch hier, innerhalb der einzelnen Zeugnisgaben, zwischen dem aktuellen und dem fehlenden Zeugnis, das sich jenem als Infratext eingeschrieben hat, eine »vergangene Zukunft«).75 Das Axiom des Nicht-Wissens des Zeugen muss aus diesem Blickwinkel auch auf einer anderen Ebene präzisiert werden: der Zeuge weiß nicht nur nicht, »was« er bezeugt,76 sondern auch, was er im Verein mit seinem Zeugnis gibt – eine Sprache nämlich (nicht nur einen Sprechakt), die differentiell auf seine Zeugenschaft
74 | Vgl. Derrida, Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, 116. 75 | Auffälligerweise zeugen die Werke, die die vorliegende Arbeit behandelt, auf der thematisch-narrativen Ebene zumeist von »nicht-empfundenen«, virtuellen Erfahrungen (die Marquise-Erzählung von Kleist, die Nahtoderfahrung Nádas’, Sebalds Trauma der sekundären Generation). 76 | Denn Spur und Bewusstsein sind Freud (Jenseits des Lustprinzips) zufolge nicht miteinander vereinbar, diese These bildet nicht nur das Fundament zum Verständnis des Zeugnisgebens, sondern ist auch eine wichtige Stütze der von Derrida entwickelten Auffassung der »différance«, vgl. Die différance, 44-46.
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bezogen ist.77 Diese Sprache ist ein solches »schweigende[s] Unterpfand«,78 eine Art Unausgesprochenes, das gleichzeitig die Sprache als Welt (im hermeneutischen Sinne) und eine spurenhaft-differentielle Materialisierung (dekonstruktiv), vielleicht ein Rauschen (im medientheoretischen Kontext) bedeuten kann. Hier, in der Differenz, die das Geben, das Sein im Sinne von »es gibt« vom »ist« unterscheidet, es gestattet, sie zu differenzieren, offenbart sich die Gabenhaftigkeit der Zeugenschaft und umgekehrt der testimoniale Effekt der Gabe.79 All dies spielt sich in der Dimension des Nachlebens ab, das zugleich der Index dieser Differenz ist – oder das zugleich aktive und passive Resonanz bedeutet.80 In diesem Nachleben erscheint das Moment der Geschichte (gleichsam als die säkulare Passion der Zeugenschaft?). Das Fehlen des »ersten«, originären, motivierten Zeugnisgebens ist gleichsam das Fehlen der Natur (der Natürlichkeit), die anthropologisch-kulturelle Dimension des Zeugnisses hängt mit dem grundlegenden Strukturmoment kulturellen Seins, dem Vermittelt-Sein des menschlichen Seins (gegenüber dem Menschen selbst), zusammen, einem Ereignis, das Heidegger zufolge als das Ereignis geschehenden Seins verstanden werden kann.81 Heidegger fasst den Menschen in seiner Hölderlin-Interpretation als den Zeugen seines eigenen Erbe-Seins auf.82 Der »Mensch« tritt als sein eigener Zeuge auf, und diese Exteriorisierung macht die Sprache als Medium derselben notwendig. Deswegen ergibt sich, im Sinne der durch die Sprache ermöglichten Zirkularität des Zeuge-Seins, für den Menschen eine Geschichte: Die historische Existenz bedarf der Sprache ebenso wie ihre Bezeugung, die Bezeugung dessen, welche Gestalt die Geschichte dem Menschen gegeben hat. Die Frage, die sich in der vorliegenden Arbeit immer wieder stellt, von Kosztolányi bis Esterházy, von Musil bis Sebald, ist die Frage, wie sich der vorgängige Begriff des »Menschen« gerade in der Vermitteltheit durch die Sprache und im Markiertsein durch die Geschichte (sowohl im engeren existentiellen als auch in einem politisch-anthropologischen Sinn) von sich selbst unterscheidet.
77 | Siehe dazu z.B. das Zeugnis der Verbesserten Ausgabe, gleichsam mit den im Sinn des Barthes’schen punctum verstandenen unerwarteten referenziellen Effekten der Sprache von Harmonia Caelestis im Hintergrund. Ferner die Kontaminierung des inneren Wortes durch die Sprache des äußeren Wortes bzw. das differentielle sprachliche Zeugnisgeben der Übersetzung vom Unausgesprochenen der anderen Sprache (Kapitel 2 und 3). 78 | Vgl. Derrida, Die différance, 41. 79 | Vgl. Derrida, Politik der Freundschaft, 71. 80 | Derrida zufolge bedeutet die im Modus der différance verstandene Resonanz »nicht […] den Akt des Ertönens«. Vgl. Die différance, 34. 81 | Vgl. dazu auf einer prinzipiellen Ebene Ernő Kulcsár-Szabó, A kulturális eredet (Mítosz és tudomány között). [Der kulturelle Ursprung. Zwischen Mythos und Wissenschaft], in: Al föld 2010, 40-55. In der vorliegenden Arbeit wird aus der Sicht der Interpretation des Zeugnisses folgendes Moment interessant: Wenn es keinen Weg zurück zu »der« Natur gibt, dann schreiben sich in alle Arten der Erfahrung der Natur – z.B. gerade der »menschlichen Natur« – historische Erfahrungen ein. 82 | Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1971, 33-48 (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2).
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D ie différ ance des Z eugnisgebens – z wischen S prechak t und S chrif t Wenn sich die testimoniale Differenz auf so komplexe und mehrfache Weise in das Bezeugte und in das Zeugnisgeben einschreibt, dann ist anzunehmen, dass sie das nicht von selbst tut, d.h. dass sie nicht einfach strukturell vorausgesetzt werden kann, sondern dass sie von einer Art Bewegung der »différance« initiiert oder ins Leben gerufen wird. Die Differenz steht nicht am Anfang, um sich sodann zu vervielfältigen oder auf andere Differenzen (oder Zeichen) weiterzuverweisen,83 sondern erst in der Dimension der différance können sich Differenzen überhaupt bilden. Gleichzeitig ist die différance kein additiver, übergeordneter, allgemeiner Sammelbegriff (im Hinblick auf die »Anhäufung« einzelner Differenzen), ja sie ist aus dieser Perspektive nicht einmal ein Begriff.84 Das Zeugnis ist nämlich nicht bloß das Strukturmoment einer irrtümlich als übergeordnet gedachten différance, viel eher kennzeichnet es ihre materiale Dimension oder ihren Abdruck. Bezieht sich das Zeugnis(geben) immer schon auf das Fehlen, die Abwesenheit des Zeugnisses, bezeugt es diese sozusagen, dann kann diese supplementäre Seinsweise mit der Spur in Verbindung gebracht werden, mit ihrer Bewegung, die wiederum die Abwesenheit, die Ursprungslosigkeit derselben generiert oder manifestiert, denn eine »ursprüngliche Spur« gibt es nicht.85 Deshalb ist das Zeugnisgeben strukturell an das geknüpft, was in der Bewegung der différance die Funktion des »Unmotiviert-Werdens der Spur« hat,86 welches Unmotiviert-Werden in gewissem Sinn die (erneute) Inskription der Spur oder des Zeichens selbst und nicht den historischen Verlust irgendeiner ursprünglichen Substanz bewirkt (die Systemtheorie
83 | So würde diese (leider verbreitete) reduktive Auffassung der »différance« eine Grammatik bedienen. 84 | Vgl. Derrida, Die différance, 37. Der Formulierung Luhmanns zufolge dient die »Serie von Verschiebungen (différances im Sinne Derridas)« dazu, »die ständig verschobene Differenz zum unmarked space der Welt zu ›objektivieren‹, das heißt: als Differenz sichtbar zu machen.« Die Kunst der Gesellschaft, 123. Derrida würde freilich hinzufügen, dass hier mitnichten von einer (auch keiner systemabhängigen) Operation die Rede ist. Den französischen Dekonstrukteur beschäftigt auch nicht so sehr die Frage nach dem Sosein der Differenzen, sondern eher die nach dem Zusammenhang von »Spur« (die im Diskurs Luhmanns auch keine Entsprechung findet) und »différance«: »Es geht hier nicht um eine bereits konstituierte Differenz, sondern, vor aller inhaltlichen Bestimmung, um eine reine Bewegung, welche die Differenz hervorbringt. Die (reine) Spur ist die *Differenz. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Bedingung.« Grammatologie, 109. 85 | Vgl. ebd., 108. 86 | »Ohne auf eine ›Natur‹ zu verweisen, ist die ›Unmotiviertheit‹ der Spur immer schon geworden. In Wahrheit jedoch gibt es keine unmotivierte Spur: die Spur ist indefinit ihr eigenes Unmotiviert-Werden.« »Wir befinden uns also von Anfang an, von Spielbeginn an im Unmotiviert-Werden des Symbols. […] Die Unmotiviertheit der Spur muß von nun an als eine Tätigkeit und nicht als ein Zustand begriffen werden, als eine aktive Bewegung, als eine Ent-Motivierung und nicht als eine gegebene Struktur.« Ebd., 83, 88.
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spräche hier eventuell von einem re-entry).87 Man kann die différance als das Unmotiviert-Werden der Spur, sogar als das Geschehende am Geschehen (und nicht als dessen bezeichenbares, bestimmbares, datierbares »Ereignis«) begreifen.88 Dieses Geschehen, das »ankündigt«, sich aber auch entzieht, »in der Spur zurückbehalten wird«,89 bleibt latent, und vielleicht kann deswegen über es nur Zeugnis abgelegt werden (wobei Zeugnis ablegen nicht vom Lesen getrennt werden kann). Vielleicht wird das Unmotiviert-Werden als ausgesprochen positive Kategorie verständlicher, wenn es auf die Gabe bezogen wird, gerade in Verbindung mit der bereits besprochenen konstitutiven Weitergebbarkeit des Zeugnisses,90 die ihm von vornherein eigen ist. Auch der Verzicht91 selbst, die wesentliche Voraussetzung jeder Gabe (jeden Gebens), ist das Moment eines solchen Unmotiviert-Werdens, vielleicht könnte man hier auch wortwörtlich davon reden, dass die nicht am Tausch, nicht an ökonomischer Erwiderung interessierte Gabe von vornherein und bis zu einem Grad unmotiviert sein muss, wo sie selbst »nicht an Tat ertappbar« ist (Kul csár-Szabó), wo sie nicht einmal mehr als solche erscheint.92 Analog dazu: dass die différance als Unmotiviert-Werden dem Gebenden der Gabe (nicht nur der als mit irgendetwas identifizierbaren, vielleicht sogar irrtümlich als selbstidentisch gedachten Entität der Gabe) entspricht, mit ihm in eins fällt. Im Fall der Zeugenschaft stimmt dieses Unmotiviert-Werden mit deren nachträglicher Seinsweise, mit deren Nachleben als konstitutivem (nicht abgeleitetem) Zug überein. Dass es nach Derridas tiefsinniger Formulierung »nur ein einzigartiges Überleben«93 geben kann (eine Beziehung, die die différance voraussetzt, könnte man hinzufügen), ist also von der Zeugenschaft her auf besonders funktionale Weise zu verstehen und die Korrelation von Zeugenschaft und Gabe dabei zu unterstreichen. Aber worin besteht diese Korrelation im engeren, materialeren Sinn? Der Verzicht (auf die Gabe) als Geben impliziert oder setzt nach Derridas Verständnis 1. auch den Tod der gebenden Instanz voraus, sie erscheint in diesem Sinn als Über- oder Nachleben. Ähnliches gilt auch für das Subjekt oder die Instanz des Bezeugens, die dem Zeugnis im Moment des Bezeugens die eigene Testamentarität beifügt. Das Nachleben als Unmotiviert-Werden setzt diese testamentarische Dimension voraus oder schaltet sie ein. 2. Auf der Ebene der Gabe entspricht der 87 | Übrigens ist es aus diesem Grund nicht möglich, die Dekonstruktion, entgegen der bekannten Meinung Habermas’, für eine säkularisierte negative Theologie zu halten (Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1986). 88 | Vgl. dazu Zoltán Kulcsár-Szabó/Csongor Lőrincz, Einleitung, in: dies. (Hg.), Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014, 13. 89 | Vgl. Derrida, Grammatologie, 116. 90 | Diese »Weitergebbarkeit« sollte, analog zu »Mitteilbarkeit«, »Übersetzbarkeit«, »Kritisierbarkeit«, »Reproduzierbarkeit«, im Benjamin’schen Horizont, d.h. als Aktivität oder Geschehen verstanden werden, vgl. dazu Samuel Weber, Benjamin’s -abilities, Cambridge/ Mass. 2008. 91 | Vgl. dazu Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak, 340. Vgl. Derrida, Falschgeld, 188192. Ders., Über den Namen, Wien 2000, 89, hier: »die Sprache […] des Verzichts ist keine negative«. 92 | Auch hier ist die Beziehung zwischen dem frühen und dem späten Derrida außerordentlich konsequent zu nennen. 93 | Falschgeld, 135.
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Verzicht jener paradoxen Seinsweise, deren »Bedingungen« im »Vergessen, NichtErscheinen, Nicht-Phänomenalität, Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Bewahrung« bestehen.94 Dasselbe gilt nun auch für das Bezeugte, wenn dieses zugleich ein fehlendes Zeugnis (bzw. seine Inskription) ist, das das »aktuelle« Zeugnisgeben bezeugt oder gegenzeichnet. So wie die – singuläre – Gabe nicht ersetzt oder eingelöst werden kann, so trifft das auch auf die Zeugenschaft zu, gerade im Fehlen des »ursprünglichen«, »motivierten«, des unanfechtbar authentischen Zeugnisses. Die testimoniale Differenz besteht also auch zwischen dem »fehlenden« und dem »aktuellen« Zeugnisgeben, diese Differenz weist sogar wieder auf die Spur, die auch das aktuelle (in der Tat freilich supplementäre) Zeugnisgeben inskribiert bzw. sich gleichzeitig selbst als Differenz in dieses eingeschrieben hat. Da z.B. unser methodischer Ausgangspunkt aber nur das Zeugnisgeben, sein einzigartiges Nachleben sein konnte, kann man aus dieser Perspektive sagen, dass von einer Gabe nur vom Zeugnisgeben her gesprochen werden kann, nur dieses qualifiziert das Ereignis der Spur als Gabe, und zwar, indem das Zeugnisgeben sie gleichsam wiederholt und so potentiell zu Schrift macht. Es ist leicht erkennbar, dass diese Beziehung auch umgekehrt werden kann: Das Zeugnisgeben selbst erhält gleichsam seine Zeugenschaft, seine Entscheidung, es führt sie nicht auf autonome Weise durch, sondern es muss sie als ursprungslose Gabe annehmen. Insofern muss auch die Figur des »auctor«,95 die man mit dem Zeugen in Verbindung gebracht hat, konkretisiert werden: Der testamentarische Charakter des Zeugen zeigt sich gerade darin, dass er gleichzeitig »Autor« oder Autorität der Entscheidung ist und nicht ist, da die Entscheidung keinen Grund bzw. einen iterativen Charakter hat. Die testimoniale Differenz würde also auch auf den Zeugen selbst übergehen, würde seine Autorität oder Souveränität verdoppeln und seine Subjektivierung (das Zeuge-Werden) und Entsubjektivierung bedeuten, wobei der Index dieses Ensembles die Scham96 (in der konstitutiven Selbst-Entschuldigung jeglichen Zeugnisgebens) wäre. Diese differentielle Seinsweise des Zeugen als »auctor« ist also der Effekt oder eine Figur der Bewegung des Gebens. Das erklärt auch das Agambensche Paar der Subjektivierung und Entsubjektivierung (einer Art beispielloser Exemplarität) tiefer, ferner die Scham: der Beschenkte kann nur als solcher zum Subjekt werden, zugleich kann er die Gabe nur annehmen, er verfügt nicht über sie, eher noch gibt er sie 94 | Ebd., 27. Diese »Bezeichnungen« erinnern der Beobachtung Zoltán Kulcsár-Szabós zufolge »in vielerlei Hinsicht an die de Man-sche Bestimmung der ›Materialität‹ der Sprache«, vgl. Tetten érhetetlen szavak, 314. 95 | Vgl. Agamben, Was von Auschwitz bleibt, 130. Agamben geht hier von einer der etymologischen Untersuchungen Benvenistes (die den Ursprung von »auctor« mit dem Verb »augere« identifiziert) aus und bildet einen Bezug zum Zeugen: »… so bedeutet auctor den Zeugen, insofern sein Zeugnis immer etwas voraussetzt – ein Faktum, eine Sache, ein Wort –, das vor ihm da ist und dessen Wirklichkeit und Gültigkeit beglaubigt oder bestätigt werden muss. In dieser Bedeutung tritt auctor in Gegensatz zu res (auctor magis […] quam res […] movit, der Zeuge hat mehr Autorität als das Faktum, von dem er Zeugnis ablegt …).« Auch hier kann man die Asymmetrie oder die Spannung beobachten, die dem Zeugnisgeben als konstitutive Grundlage dienen. 96 | Agambens Buch erläutert das Moment der Scham im Zusammenhang von Subjektivierung und Entsubjektivierung und bietet so eine kraftvolle Argumentation gegen die Auffassung einer Scham, die dem »Schuldbewusstsein« entstammt, vgl. ebd., 76-104.
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zurück, d.h. er verzichtet in gewisser Weise auch auf seinen Subjektstatus (Entsubjektivierung), und in dieser Duplizität ergibt sich die Scham (und nicht aus einem Schuld-Bewusstsein, das ein Effekt der falschen Deutung der Scham ist). Ferner entspringt die Entsubjektivierung auch der Weitergebbarkeit der Zeugenschaft, was nicht nur eine transzendentale Möglichkeitsbedingung bedeutet, sondern einen Exzess, in dem sich die Zeugenschaft gleichsam vom Zeugen (z.B. als »Augenzeugen«) entfernt, bis hin zum Tod des Zeugen, die Testamentarität der Zeugenschaft intensivierend. Dieses Sich-Entfernen entspricht auch der Bewegung der Gabe, die ebensowenig zum Geber zurückkehrt (der andernfalls, einer narzistischen Ökonomie folgend, gleichsam sich selbst beschenken würde). Das Zeugnisgeben verstärkt sozusagen diese Bewegung der Gabe, dass also dieses Sich-Entfernen keine empirische Trennung oder bloß eine »Möglichkeit« ist, sondern dass es von vornherein im Zusammenhang damit steht, dass der Zeuge (bzw. der Geber) das gibt, worüber er nicht verfügt (Besitz kann nie Gabe sein) – in diesem Fall das Zeugnis. Diese Verdopplung der Autorität, der Autorisierung des Zeugen geht damit einher, dass er schon von vornherein gleichsam auch anstelle seines eigenen (ursprünglichen, erwarteten) Zeugnisgebens Zeugnis ablegt (nicht nur anstelle eines scheinbar anderen oder sogar »idealen« Zeugnisses). Deswegen gibt der Zeuge, was er nicht hat: sein eigenes Zeugnis als die Bezeugung, das Supplement des fehlenden Zeugnisgebens. Oder Verspätet-Sein und Nachträglichkeit implizieren schon strukturell, dass das Zeugnisgeben anstelle eines im Voraus fehlenden Zeugnisses zeugt, während sich dieses Fehlen und diese Substitution, besser: diese Supplementarisierung – die testimoniale Differenz selbst – zugleich in das (aktuelle) Zeugnisgeben selbst einschreibt. Dieses Einschreiben, die Differierung des Zeugnisses von sich selbst kann sich aber in der différance oder als différance ergeben, sie bedeutet nicht nur einen formal-strukturellen Zug. Folglich wird das Zeugnis auch verfehlt, wird eingelöst (als etwas anderes), wenn es symbolisch begriffen wird (z.B. als erkennbare, auch politisch identifizierbare Geste), das Fehlen oder der Bruch – das Unmotiviert-Werden –, die seine differenzielle Seinsweise impliziert, verhindern nämlich, dass es auf den Zeugen bzw. auf die vorausgesetzten referenziellen Umstände des Bezeugten zurückgeführt werden kann (d.h. das Zeugnis wird gleichsam zu Schrift, zu einem Geheimzeichen, einer Chiffre, genauer: es bezeugt diese). Die symbolische Identifikation aufzubrechen, bedeutet auf eine Weise, die dem nicht fremd ist, auch die Chance der Gabe.97 Um zusammenzufassen: Bezeugen stellt das Ereignis des Sich-Gebens der Gabe, d.h. des Unmotiviert-Werdens, dar (auch im Fall des falschen Zeugnisses, ja gerade seine strukturelle Priorität kann sich im jeweiligen Wirken des Unmotiviert-Werdens ergeben, und es kann zugleich sein Effekt sein). Die unausweichliche Möglichkeit, ebenso Falschgeld geben zu können wie ein falsches Zeugnis, ergibt sich in dieser Wechselseitigkeit. Und gerade diese irreduzible Möglichkeit muss als der Grund (oder eher der Abgrund) der testimonialen Differenz gesetzt werden: Es gibt kein ontologisch verstandenes »erstes«, »authentisches«, »motiviertes« Zeug97 | »Aber auch der, der gibt, darf davon nichts merken oder wissen, sonst genehmigt er sich schon an der Schwelle, sobald er die Absicht hat zu geben, eine symbolische Anerkennung, beginnt, sich selbstgefällig glücklich zu schätzen, gratifiziert und gratuliert sich selbst und erstattet sich symbolisch den Wert dessen zurück, was er gerade gegeben hat, gerade gegeben zu haben glaubt oder gerade zu geben sich anschickt.« Falschgeld, 25.
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nis (nur ein »sekundäres«, verschobenes, supplementäres Zeugnisgeben in Bezug auf eine Leerstelle oder ein Fehlen), weil es immer schon ein falsches Zeugnis sein kann und umgekehrt. Dieses Verhältnis stellt sich bei näherer Betrachtung wie folgt dar: Das Fehlen des »ersten« Zeugnisses bzw. dessen Unmöglichkeit (die eigentlich nichts anderes als das Unentscheidbare selbst ist, das auch durch die Entscheidung nicht überwunden werden kann) sucht gleichsam das »zweite« Zeugnis heim, jenes Fehlen wird als Wiedergänger aktiv, weswegen es das potentiell falsche Wesen des von ihm kontaminierten »zweiten«, aktuellen Zeugnisgebens aufblitzen lassen kann. Gleichzeitig wird diese Aktivität (als eine Art »déjà-vu«) vom zweiten Zeugnisgeben initiiert, zumindest wird es aus dessen Perspektive irgendwie erfahrbar. Textuell gesehen ist es das Wie, sind es die Modi dieser Aktivität, die den Fokus einer Interpretation des Zeugnisgebens bilden müssen.98 Man könnte auch sagen, dass die Gabe als Gabe der Zeit ein Nachleben gibt, das zugleich die Dimension des Zeugnisses darstellt, wobei also das Zeugnis gleichsam das Nachleben der Gabe (oder das durch sie gegebene Nachleben) skandiert oder rhythmisiert. So wie die Gabe nicht auf organische, direkte Weise zurückgegeben wird, da sie auf die Zeit, auf das Warten angewiesen ist,99 so erfolgt auch das Zeugnisgeben nicht im selben Moment oder sofort, sondern nach einer Verschiebung, sei diese auch noch so unsichtbar oder unerfahrbar. Dieses Dauern oder dieses Warten ist keine neutrale Sequenz der Zeit, sondern es gehört – grundsätzlich als (wenn auch latentes) Geschehen (einer Dimension, die zugleich die Entscheidung herausfordert) – zum Nachleben des Bezeugten und folglich zum Sein der Bezeugung.100 Daraus wird leicht ersichtlich, dass das Bezeugen nicht nur Zeug98 | Gleichzeitig geht diese Aktivität immer schon auch im aktuellen Zeugnisgeben selbst vonstatten, sie wird auf irgendeine Weise in ihm lesbar (wenn auch nur auf potentiell-virtuelle Weise). So wird z.B in Sebalds Essay die Beziehung von Zitiertem und Zitierendem umkehrbar, ebenso in den Relationen zwischen Harmonia Caelestis, dem Archiv und Verbesserte Ausgabe. 99 | Derrida führt prägnant aus: »Der Unterschied zwischen einer Gabe und einem beliebigen anderen Tauschvorgang liegt darin, daß die Gabe die Zeit gibt. Dort, wo es die Gabe gibt, gibt es die Zeit. Das, was es gibt, was die Gabe gibt, ist die Zeit, aber diese Gabe der Zeit ist zugleich ein Verlangen nach Zeit. Es, das Ding, darf nicht unmittelbar und im selben Augenblick zurückgegeben werden. Es bedarf der Zeit und der Dauer, eines Wartens, das nicht vergißt. Warten – ohne Vergessen. Es, das Ding, verlangt Zeit, aber es verlangt nach einer begrenzten Zeit, also weder nach einem Augenblick noch nach einer unendlichen Zeit, sondern nach einer durch einen Termin determinierten Zeit: nach einem Rhythmus, einer Kadenz.« Falschgeld, 59. (Zum Warten in Verbindung mit Kleist siehe Kapitel 6 der vorliegenden Arbeit.) 100 | Siehe dazu z.B. die Geschichte des bulgarischen Schaffners in Kornél Esti (Kapitel 8 dieser Arbeit): der Erzähler wird Zeuge eines singulären Ereignisses (das zugleich Referenz und Fiktion ist), dieses Zeugnisgeben wird, während es auf der Text-Ebene (und nicht bloß auf der des narrativen Diskurses) zu Text wird, gleichzeitig zum Testament des Zeugen. Die testimoniale Differenz wirkt in der Gegenwart als vergangener Zukunft (z.B. dadurch, dass Erzähltes und Erzählen nicht unterscheidbar sind), abhängig von der Zeitdauer oder -frist, die die Gabe gibt. Die Subversion des sprachlichen Idioms (»Hund« vs. »irren ist menschlich«), das Mechanische des Textes (»lefelé lépkedtem a lépcsőn« (bei Virágh: »als ich die Stufen hinunterschritt«, Ein Held seiner Zeit, 167) zeugen gleichsam anstelle des narrativen Diskur-
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nis von irgendeiner vorausgesetzten Vergangenheit, sondern zumindest im selben Maße auch von der eigenen Gegenwart ablegt (auch deswegen ist das Moment der Entscheidung wichtig). Die Zeitlichkeit dieses Chiasmus gibt den radikalen Sinn der Nachträglichkeit kund: das Zeugnisgeben wird nicht in Bezug auf irgendeine chronologisch identifizierbare Vergangenheit in die Nachträglichkeit gebannt, sondern in Bezug auf die eigene Gegenwart, was der Spaltung der Idee der »Gegenwart« entstammt.101 Hier erscheint eine weitere tiefgreifende Parallele, ja eine Korrelation zwischen Gabe und (ihrem) Zeugnis, was erneut unterstreicht, dass das Zeugnisgeben gerade deswegen wieder auf das Gabenhafte weist, weil es grundsätzlich Geschehen ist. Das Testament der Gabe ist die Bezeugung: einerseits vererbt die Gabe diese ihrem Empfänger (wenn der Geber oder die Gabe diese von sich aus nicht erzwingen können), andererseits ist das potentielle Schrift-Sein der Gabe (ihr Unmotiviert-Werden) aber auch vom Zeugnis abhängig. Wenn Testamentarität immer einen Rest impliziert, dann ist auch die Gabe eine Art Rest (diesseits oder jenseits der Substituierbarkeit, der Ersetzbarkeit, der Kalkulierbarkeit), und auch das Zeugnis zielt auf so einen Rest ab (dadurch aber auf ein Fehlen), der nur gesondert von den Modellen der Erklärung, des Berichts, des Wissens und des Beweises bezeugt werden kann. Mit Derrida gesprochen: Und wenn dieses Vergessen über alle Präsenz hinausgeht, dann geht es um die Gabe als Bleibendes ohne Gedächtnis, ohne Permanenz und ohne Konsistenz, ohne Substanz und ohne Subsistenz; es geht um jenen Rest, der ist, ohne zu sein, jenseits des Seins; ἐπέκεινα τῆς οὐσίας: das Geheimnis dessen, wovon man nicht sprechen, aber auch nicht mehr schweigen kann.102
Das »Geheimnis dessen, wovon man nicht sprechen, aber auch nicht mehr schweigen kann« ist nichts anderes als das Unausgesprochene des Zeugnisgebens, d.h. in gewissem Sinn das Bezeugte selbst. Der Begriff des Rests in diesem Zitat ist deutlich an eine Art »Jenseits«, und zwar als Geheimnis, gebunden. Hier hat auch das (Ver-)Schweigen selbst, auch als ein gewisses Nicht-Gelingen des Zeugnisgebens, die Chance auf die Bezeugung des Unausgesprochenen.103 ses, dessen intentionalen Charakter sie auslöschen oder in Anführungszeichen setzen. Man kann das auch Ironie nennen, da es einen allegoretischen Diskurs (z.B. mit der Bezeichnung »Mensch« im Zentrum) als Anakoluth unterbricht, die Ironie würde hier als Zeugnisgeben fungieren. Ganz zu schweigen davon, dass dieses Zeugnisgeben auch thematisch auf ein Fehlen oder eine Leere verweist (weder Esti noch der Leser erlangen Kenntnis von der eigentlichen Geschichte des Schaffners). 101 | Vgl. dazu z.B. den hypertextuellen Effekt des Sebald-Essays (in der intertextuellen Beziehung von Kluge und Benjamin und der mit ihr einhergehenden irrealisierenden Bewegung), der als differentielles Moment auf die Überkreuzung (als eine Art Inskription) historischer Gegenwart und naturhistorischer Latenz verweist. Diese Latenz bezieht sich folglich auch auf das Nachleben selbst. 102 | Falschgeld, 189. 103 | Der Fragekomplex, auf den hier nicht weiter eingegangen werden kann, könnte mithilfe der Analyse des »Schweigens« bei Heidegger weiter untersucht werden, vgl. Sein und Zeit, 218. (Zu den testimonialen Zügen des Phänomens des Schweigens siehe auch das zweite, dritte und achte Kapitel dieser Arbeit.)
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Das Warten, die Gabe der Zeit als Wiedergabe und als Seinsbedingung des Bezeugens bedeutet in so geringem Ausmaß nur vergehende, neutrale Zeit zwischen zwei »Jetzt«, dass man sogar erklären kann, dass auch die Gabe selbst (ihre Bezeugung) eine Art Warten ist. Ein wiederholter Hinweis Derridas lautet, dass zur Gabe auch die Möglichkeit gehören muss, dass sie (als solche) nicht ankommt, zum Ereignis, dass es (als solches) nicht eintritt. Würde die Gabe streng genommen erscheinen, präsent werden,104 dann müsste sie nicht bezeugt werden, sondern sie könnte in einer phänomenalen Deixis bzw. einem Aussageakt integriert werden. Würde sich das Ereignis »einstellen«, als Gegenwart wahrnehmbar oder identifizierbar werden, dann wäre sein Zeugnis (die Doppeldeutigkeit des Possessivpronomens ist hier kein Zufall) nicht nötig. Demgegenüber kann das o.g. Nicht-Ereignis (das NichtErscheinen, das Nicht-Zustandekommen des Geschehens z.B. in der Dimension der öffentlichen – und so autorisierten – Ereignishaftigkeit) als Fehlen (als Suspension des Kontextes, der durch ein konventionelles Instrumentarium stabilisiert werden kann), als An-Kunft nur bezeugt werden, jenes ist zugleich gerade als Fehlen, als Chiffre des Geschehens (und nicht als Symbol eines abgeschlossenen Ereignisses) und weniger als Gegenwart oder Performanz im Zeugnisgeben anwesend.105 Oder: die testimoniale Differenz entstammt auf evidente Weise der Verschiebung, der différance, oder schreibt sich in dieser ein. Diese différance kann – im Sinne der Formulierung Derridas106 – auch am Werk sein, wenn das Symbol oder das Emblem gerade eines gewissen »vergangenen« Ereignisses zu einem (Geheim-)Zeichen, einer Chiffre werden, d.h. in ihrem Unmotiviert-Werden. Dieses Unmotiviert-Werden ist das Geschehen, das in der symbolischen Figur eines – öffentlich datierten – Ereignisses nicht repräsentierbar ist, sondern das diesem vorausgeht – und zwar gleichzeitig von der Vergangenheit und von der Zukunft her (es gibt also keinen Unterschied zwischen An-Kunft und »Ent-Motivierung« als »aktive[r] Bewegung«107). Diese différance als Unmotiviert-Werden kann dafür verantwortlich sein, dass die testimoniale Differenz zwar auf den Unterschied von performativ und konstativ verweist, diese Unterscheidung jedoch nicht vornehmen kann. Dieser Unterschied und mit ihm die Differenz des Zeugnisgebens bleiben, als eine Art Übergang (der, erneut als Muster der testimonialen Differenz, gleichzeitig das Bezeugen selbst und 104 | Hier im doppelten Sinn von »Present«, vgl. Falschgeld, 24. 105 | Zu diesem chiffre-Charakter vgl. das Sebald-Kapitel dieses Bandes. 106 | »… es gibt weder Symbole noch Zeichen, sondern nur ein Zeichen-Werden des Symbols.« Grammatologie, 83 (80). 107 | Ebd. Man sollte vielleicht darüber nachdenken, ob die de-Man-sche Bestimmung des performativen »Übergangs« (passage) als das Modell der Irreversibilität des historischen Ereignisses als Variante dieses »Unmotiviert-Werdens« aufgefasst werden kann (vgl. de Man, Kant and Schiller, in: ders., Aesthetic Ideology, Minneapolis 1996, 132). Formal ist die Ähnlichkeit jedenfalls nicht zu übersehen: Wie es Derrida zufolge weder Symbol, noch Zeichen, nur das Zeichen-Werden des Symbols gibt, so beschäftigt auch de Man dieser unfassbare oder unlokalisierbare Übergang, also weder das Kognitive noch das Performative an sich (die dieser Logik zufolge auch nicht isoliert, ähnlich z.B. wie die Modi von Geständnis und Entschuldigung, existieren). Inwiefern das historische Ereignis konzeptuell als Übergang interpretiert werden kann, ist wohl noch nicht vollständig geklärt. Man kann vielleicht sagen, dass bei der Unterscheidung von Konstativ und Performativ zumindest eine Seite immer ein »unmarked space«, eine unbekannte Kehrseite ist.
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die Bezeugung des Übergangs ist) in Bewegung, das Ereignis des Zeugnisses bedeutet also eine Unmöglichkeit, weil es, als Spur der Irreversibilität des Übergangs, die Unmöglichkeit der Rückkehr zum kognitiven Feststellen, ferner der kognitiven Sprache anzeigt.108 Die durch das Zeugnis ausgelöschte »erste« Bezeugung würde also dem Modell konstativer sprachlicher Möglichkeit folgen, das von einem kognitiven (referenziellen und begrifflichen) Muster geprägt ist. Dieselbe Unmöglichkeit vereitelt nun auch die Möglichkeit eines reinen Performativums, da auch dieses nicht die Fähigkeit besitzt, die Bewegung des Übergangs, das Wirken der ihr eingeschriebenen testimonialen Differenz hinter sich zu lassen. Die Unmöglichkeit der Rückkehr zum Konstativum bedeutet nämlich mitnichten eine Art beliebige Befreiung (z.B. um die »Performanz« zu feiern) oder gar Ablösung (damit würde der Begriff des Konstativums nämlich nicht berührt, wir würden jedem Emanzipationspathos zum Trotz nur eine Defensivoperation durchführen), sondern eine Art Zwang, d.h. dass die Performativität, wenn sie denn überhaupt existiert, eher der Index einer Art des Zwangs oder des Ausgeliefertseins ist. Dieser nicht beherrschbare Zwang erscheint im Komplex der »Entscheidung« bzw. löst ihn aus. Und dieser Übergang, die gleichermaßen unmöglichen Figuren des Konstativen »als solchen« und des Performativen »als solchen«, spiegeln erneut die Ambivalenz, die Ununterscheidbarkeit von Zeugnis und falschem Zeugnis (die Unmöglichkeit der Bezeichnung ihrer testimonialen Differenz) wider, die im Begriff des Zeugnisgebens nicht getilgt werden kann. Diese Ambivalenz zeigt sich auf der performativen Seite z.B. im (fehlenden) Bezeugen des Zeugnisses, das Derrida auf den Spuren Celans (»Wer zeugt für den Zeugen?«) im Bedeutungskreis des »zeugen für jemanden« in Augenschein nimmt, dessen synchron unübersetzbare Züge folgende sind: 1. zugunsten von jemandem (ihn verteidigend), 2. anstelle von jemandem, 3. vor jemandem Zeugnis ablegen.109 Auf der Basis der Texte, die diese Arbeit analysiert, kann z.B. mit dem komplexen Muster der Vergebung – insofern die Vergebung das Ereignis ist, in dem Gabe und Zeugnis einander auf evidente Weise bedingen – noch die Möglichkeit des Zeugnis-Ablegens »gegen jemanden« hinzukommen.110 Diese Ambivalenz bzw. diese performative Verwicklung von Entschuldigung und Gegenbezeugung kann nicht anders erklärt werden, als mit dem Fehlen eines ursprünglichen, moti108 | Der »Definition« de Mans zufolge produziert das Auftauchen des performativen Moments eigentlich eine gewisse Unmöglichkeit der kognitiven Sprache: »emergence of the language of power out of a language of cognition«. (Hervorh. Cs.L.) Kant and Schiller, 132. 109 | Vgl. Derrida, ›A Self-Unsealing Poetic Text‹. Poetik und Politik des Zeugnisses, in: Peter Buhrmann (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, Kopenhagen/München 2000, 172-175. 110 | Kleists Marquise legt mit der Verlautbarung gleichzeitig Zeugnis anstelle des »Täters«, gegen ihn und für ihn ab (da sie z.B. die Heirat anbietet und so die Tat eigentlich legitimiert). Ähnlich vollzieht Esterházy diese Bewegungen, die zum Teil heterogen zueinander stehen, gegenüber seinem verstorbenen Vater (Verbesserte Ausgabe), Sebald aber erst in Bezug auf die deutsche (literarische) Nachkriegs-Öffentlichkeit (Luftkrieg und Literatur). (In diesen Texten fällt die starke referenzielle, thematische, allegorische Rolle des Todes oder zumindest der Abwesenheit des ursprünglichen Zeugen auf.) Das alles geschieht in der Öffentlichkeit, oder das Zeugnisgeben legt zugleich ein Zeugnis vor der Öffentlichkeit und anstelle der »ursprünglichen« zeugenschaftlichen Instanz ab und setzt die Konfigurationen des öffentlichen Geheimnisses in Gang.
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vierten, organischen Zeugnisgebens, der Unmöglichkeit des Zeugnisses selbst (da die oben genannten Ausprägungen der Bezeugung das falsche Zeugnis aufgrund ihrer Heterogenität schon implizieren). Dieses Fehlen ist jedoch nicht bloß ein (zu kompensierender) Mangel, sondern eine Art unlesbare Spur oder Inskription, die aber nur durch das Zeugnis(geben), das sie gleichsam wiederholt, voraussetzbar wird.111 Es ist kein Zufall, dass die erwähnten Beispiele auf der auch thematisch zentralen Bedeutung der Rolle, des Problems der Schrift insistieren.112 Wenn die wahre Herausforderung des Zeugnisgebens in gewissem Sinn – und das gilt für jedes Zeugnis – darin besteht, sein eigenes Fehlen, seine eigene Unmöglichkeit (als testimoniale Differenz) zu exponieren, dann hängt das mit seiner auch für es selbst unzugänglichen potentiellen Schriftlichkeit zusammen. Dass in den erwähnten Beispielen oft von mindestens zwei Texten und zugleich von einer intratextuellen Beziehung innerhalb eines Textes die Rede ist,113 kann ein Hinweis darauf sein, dass der zeugnisgebende Text zugleich auch von den fehlenden Gründen seines eigenen Zeugnisgebens, d.h. von seiner Schriftlichkeit, seiner Zitathaftigkeit (d.h.: seinem Nachleben) zeugt. Auf diese Weise entspricht das Verhältnis von Gabe und Zeugnis immer einer intratextuellen Beziehung zwischen dem aktuellen Text und seinem Infratext. Zusammengefasst: die Inskription der (potentiellen) Schriftlichkeit des Zeugnisses stellt die testimoniale Differenz selbst dar. Als testimoniale Differenz wird der Unterschied zwischen Referenz und Bezeichnetem, Stimme und Schrift, Fiktion und Nicht-Fiktion selbst auch unbezei-
111 | Eine schöne Allegorie dafür ist die Geschichte der Die Marquise von O…, in der der eigentliche Täter nicht als ursprünglicher Zeuge, sondern als der Gegenzeichnender eines sekundären, schriftlichen Zeugnisses auftritt (das die Marquise bekanntlich in Ermangelung des referenziellen Wissens ablegt). Bei Sebald und Esterházy weisen das Verschweigen, die Latenz, die Defizite schon vorhandener Zeugnisse, die Komplexe der Chiffre auf etwas Ähnliches. Auch die Übersetzung als die Übersetzung der fehlenden Sprache (vgl. Kapitel 3), ferner die Fiktion des inneren Wortes vom äußeren Wort her (vgl. Kapitel 2) stehen im Zusammenhang mit dem Fehlen des ursprünglichen Zeugnisses (im letzteren Fall: das »ursprüngliche« Zeugnis wäre das unmögliche Zeugnisgeben des inneren Wortes ohne das äußere Wort). 112 | Zur Erinnerung: die öffentliche Verlautbarung in der Presse bei Kleist, die defizitären Zeugnisse, die »Erinnerungskultur« des Luftkrieges bei Sebald, die virtuellen Beziehungen zwischen dem Archiv und Harmonia Caelestis bei Esterházy, die Rolle der Zitathaftigkeit bei Nádas. 113 | Vgl. das (von Benjamin medialisierte) Verhältnis von Sebald und Kluge, ferner natürlich die Beziehung von Harmonia Caelestis und Verbesserte Ausgabe. Die referenzielle Kontamination der Fiktion von Harmonia Caelestis bringt diese gleichsam von Verbesserte Ausgabe, von deren nachträglichem Kommentartext her mit der Zitathaftigkeit in Verbindung. Die unbeherrschbare Interpenetration von Referenz und Signifikat, ja von Fiktion und Nicht-Fiktion (die die Unentscheidbarkeit hervorbringt) setzt im Wesentlichen die Zitathaftigkeit des jeweiligen Textes in Gang, die zu einem unvorhersehbaren Zeugniseffekt führt (im Chiasmus der Textualisierung der Referenz und der Referenzialisierung des Textes; z.B. wie Kluges Beobachtung der schon bombardierten Ruinenstadt durch das Benjamin-Zitat zum Text wird, gleichzeitig bezeugt gleichsam das Zitat Benjamins im Sebald-Text das danach folgende historische Ereignis). Diese Übergänge können als Beispiele oder Effekte des »Unmotiviert-Werdens« aufgefasst werden.
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chenbar, zu einer Zone im Sinn des »unmarked space«.114 Die Rede ist jedoch nicht einfach von einem räumlichen Zusammenhang (der benutzten Metaphorik zum Trotz), diese Unbezeichenbarkeit steht nämlich mit dem oben erwähnten Exzess in Beziehung, sie induzieren einander. Die Unbeobachtbarkeit, die Unbeherrschbarkeit der testimonialen Differenz würde also dem Exzess entstammen (oder diesen bewirken), der der Index oder der Effekt der unwahrscheinlichen Wiederkehr der Entscheidung, ja ihrer Weitergebbarkeit als unwahrscheinliche Zirkulation ist. Dieser Exzesscharakter, dieser transgressive Zug der Wiederkehr entspricht eigentlich dem Wirken der Verzögerung, der différance, die Unverfügbarkeit der eigenen Entscheidung und dadurch der unbeherrschbare Charakter des eigenen Zeugnisses sind zugleich Unterscheidung und Verschiebung: eine Art (seinerseits ebenso performatives) Versprechen des Unterschiedes des Konstativen und des Performativen und zugleich die Überschreitung oder Verschiebung dieses vorausgesetzten Unterschiedes in der différance-artigen Bewegung (»Übergang«?) der Wiederkehr als Exzess. Die Wiederkehr als différance: konsequenterweise stehen singuläres Ereignis und différance nicht nur nicht im Widerspruch zueinander, sie sind aufeinander angewiesen. Ferner sind die Momente des Zeugnisses und des falschen Zeugnisses deswegen niemals mit völliger Gewissheit voneinander zu lösen oder zu unterscheiden: Auch das erwähnte Versprechen selbst entspringt einem Bedrängtsein, es ist keine autonome »Performanz« oder kein autonomer »Akt«, gerade die Bewegung, die es in Gang setzt oder die es intensiviert, übersteigt jede konstative oder kognitive Bestimmbarkeit des Versprechens, der Differenz, die es impliziert (deswegen kann man streng genommen nur von »Übergang« oder »Unmotiviert-Werden« sprechen). Dieser Aspekt entspricht dem autoimmunen Zug des Zeugnisgebens (dem supplementären Charakter des »zweiten« Zeugnisgebens). Diese Autoimmunität hängt aber von einem Ereignis (und nicht vom Prozess einer »Übertragung«) ab.115 Wird das Über- oder Nachleben von dieser Wiederkehr als Exzess hervorgebracht (d.h. dass nicht einfach von einer Kategorie der Zeit die Rede ist), dann korrelieren dieser Effekt und die (Wieder-)Einschreibung der Spur des Zeugnisses (wie oben bereits angesprochen) miteinander. Aus diesem Blickwinkel einen sinnvollen Unterschied zwischen »Schrift« und »Zeuge« festzustellen, fällt, im Gegensatz zu dem, was Agamben suggeriert, schwer. Seiner These zufolge widerspricht die Auf114 | Vgl. die scharfsinnige Wahrnehmung Luhmanns in Verbindung mit der »différance« Derridas (s. Fußnote 61). 115 | Vgl. dazu die Darlegungen Derridas zu den Implikationen der Autoimmunität (jenseits des Topos des »sterbenden Boten«), die das Maschinenhafte und die Supplementarität beinhalten, jedoch im doppelten Bund mit der Ereignishaftigkeit (z.B. mit der Ankunft des Anderen): »… es ist genau dieser Überschuß, der den Bereich des Todes eröffnet […] mit der Technik, der Maschine, der Prothese, der Virtualität, kurz: den Dimensionen des auto-immunitär Supplementären, des Supplementären der Selbstaufopferung […] im Hinblick nämlich auf ein unsichtbares und geisterhaftes Über-leben. Diese sich gegen sich selbst wendende Bezeugung hält die auto-immune Gemeinschaft am Leben, will sagen: auf ein anderes hin offen, das mehr ist als sie selbst – Öffnung zum anderen, zur Zukunft, zum Tod, zur Freiheit, zum Kommen oder zur Liebe des anderen, zum Raum und zur Zeit einer geistererzeugenden Messianizität jenseits allen Messianismus.« Jacques Derrida, Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ›Religion‹ an den Grenzen der bloßen Vernunft, In: ders./Gianni Vattimo, Die Religion, Frankfurt a.M. 2001, 85 (Hervorh. – Cs.L.).
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fassung der Dekonstruktion, die den »Nicht-Ort der Artikulation« bevorzugt und diesen mit der »Spur« bzw. der différance korrelieren lässt, dem Ereignis des Zeugnisses: »Das Zeugnis findet Statt im Nicht-Ort der Artikulation. Am Nicht-Ort der Stimme steht nicht die Schrift, sondern der Zeuge.«116 Im Licht des bisher Gesagten kann diese polemische Gegenüberstellung nicht überzeugen: Die testimoniale Differenz (z.B. die Bewegung, die gerade den Nicht-Ort der Stimme offenbart, diesen in das Zeugnis – in seine Leerstelle – verlegt) impliziert eine potentielle Schriftlichkeit, insbesondere in Abhängigkeit von der Iterabilität des Zeugnisses. Aber auch das – gleichsam sekundär-supplementäre – auf das Fehlen des Zeugnisses Weisende, das Fehlen des Zeugnisses Bezeugende des Zeugnisses kann schon seinen vorgängigen schriftlichen, inskriptionalen Charakter hervorheben (mit Derrida gesprochen die »Spur des Erlöschens der Spur«). Dieses Moment ergibt sich im Grunde daraus, dass die Potenzialiät des falschen Zeugnisses, die im Kredit (im Borgen) verborgen ist (geben – und bezeugen – kann dem über Falschgeld nachdenkenden Derrida zufolge nur, wer das Kalkulieren suspendiert) sozusagen die in der Stimme liegende Schrift (als das Korrelat des Vergessens) offenbart, da sie das Fehlen des »ersten« Zeugnisgebens, gleichsam dessen Schrift-Sein, impliziert. Die potentielle schriftliche Seinsweise des Zeugnisses bedeutet andererseits dessen Festlegung oder Festschreibung auf den Modus der »Information« und des »Zeichens«. Da die Wiederholbarkeit immer Aufzeichenbarkeit impliziert, kann sich diese aufgrund bestimmter technischer Parameter als Fixierung zur »Information«, zum »Beweis«, allgemein sprachtheoretisch gesprochen: zum »Zeichen« (zum Bericht oder zur Beschreibung) realisieren. Diese technische Reproduzierbarkeit verkürzt das Zeugnis auf das, was in ihm das Reproduzierbare (z.B. bestimmte technische Effekte) darstellt oder (für bestimmte Techniken) reproduzierbar ist. So kann sie die testimoniale Potentialität des Zeugnisses reduzieren, einseitig machen, genauer: sie instrumentalisieren und auf – technisch diktierte – Referenzen begrenzen. Bereits die grundlegende Referenz oder Berufung jeglichen Zeugnisgebens, das Moment des »irgendjemand an meiner Stelle hätte dasselbe bezeugt« (der inhärente öffentliche Zug der Bezeugung), verhält sich von vornherein ambivalent. Diese Voraussetzung kann sowohl als Referenz (auf bestimmte, sich noch so sehr verbergende moralische, politische, juridische etc. Instanzen) als auch als Schwur verstanden werden – die grundlegende Geste der unvermeidlichen rhetorischen Verfasstheit einer jeden Zeugenschaft. Sie kann z.B. als adressierendes Kalkül, als Kalkül der Adressierung fungieren, die Herstellung des »Beweises«. Diese »alsob«-Berufung, diese virtuelle Anrufung als Satz, als Aussage zu setzen, reduziert das Zeugnis auf das Beweisstück, die Information, das Wissen, die auch technische Indizes haben können. Damit kann der Ersetzbarkeit des Zeugen das Wort geredet, der Zeuge als »Bote« determiniert (S. Krämer), seine konstitutive Singularität ausgelöscht werden. Zugleich impliziert der Schwur freilich immer schon Wiederhol116 | Vgl. Agamben, Was von Auschwitz bleibt, 113-114 (Hervorh. vom Autor). Derrida hat dagegen nicht versäumt hervorzuheben, dass die »différance«, »die weder der Stimme noch der Schrift im gewöhnlichen Sinne angehört und sich als seltsamer Raum […] zwischen Sprechakt und Schrift ansiedelt, auch jenseits der beruhigenden Vertrautheit, die uns dieser und jenem verbindet und uns manchmal in der Illusion bestärkt, sie seien zwei«. Die différance, 31. Zum Komplex des fehlenden Zeugnisses als Schrift siehe das zweite Kapitel (die potentielle Schriftlichkeit des inneren Wortes kann vom äußeren Wort her gedacht werden).
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barkeit, ist also immer schon potentiell mit Technik imprägniert. Wie kann jedoch das Zeugnisgeben in einem gewissen Abstand zu seiner eigenen Technisierung, zur technischen Determinierung der Zeugenschaft verstanden werden? Das Zeugnis zeugt von einem gewissen »jenseits« oder von der anderen Seite der testimonialen Differenz, die z.B. mit kognitiven Kategorien unerreichbar ist.117 Diese – vielleicht fiktive – Rückseite wird gewissermaßen im Übergang oder in einer Transgression zwischen Sehen und Sprechen, Sehen und Glauben, Affizierung und Aufschreiben, Sprechen und Schreiben hervorgerufen oder von der Bewegung dieser Überschreitung eingeschrieben, aus der Nachträglichkeit (die immer schon Zitathaftigkeit, textuelles Rauschen produziert). Dieser nicht fixierbare Übergang vornehmlich zwischen Sprechen und Schreiben, Gegensignatur und Testamentarität – in welchem Übergang keines dieser beiden als solches zu verfestigen ist – könnte die Dimension des Ungesagten darstellen. Dieses Ungesagte zeugt anstelle des Zeugen und keine generalisierbare Instanz (die im »irgendjemand an meiner Stelle hätte dasselbe bezeugt« vorverstandene, keineswegs neutrale Determinierung dieses »irgendjemand«). Nur so kann das »irgendjemand an meiner Stelle hätte dasselbe bezeugt« als Chance, zugleich damit das Zeugnis selbst als Medium der Gerechtigkeit verstanden werden – und nicht als Instrument des Beweisens, der Überführung, des rechtlichen Kalküls. Die testimoniale Kraft des Ungesagten als einer Wahrheit (auch in Bezug auf die »ursprüngliche« Zeugeposition) zu bezeugen, braucht es immer mindestens einen weiteren Zeugen, daher zeugt der Zeuge sowohl vom »ursprünglichen« Zeugnis als auch von dessen Unmöglichkeit. Die Schriftlichkeit oder virtuelle Textualität – die Quasi-Möglichkeitsbedingung des Zeugnisses – suspendiert ferner die Autorität (wie auch die Souveränität) des Zeugen, löscht sie aus (und genau das mag der radikale Sinn der »Entsubjektivierung« Agambens sein!), hier jedoch schon als die Unmöglichkeitsbedingung des Zeugnisses118 (in der Luhmann-schen Sprache als re-entry der Möglichkeitsbedingung). Dadurch wird das Zeugnisgeben potentiell literarisch oder zu Literatur (zu Fiktion), zumindest wird seine sprachliche Seinsweise verdoppelt. (Man darf hier auch an die strukturelle Nähe oder Affinität des auswendig gelernten Gedichtes, seiner testamentarischen Seinsweise zur Wiederholbarkeit des Zeugnisses als einer Art Diktat denken.119 Es kann, auch wenn die Akt-hafte, quasi-präskriptive Wiederholbarkeit des Zeugnisses und das mnemotechnische Memorieren des Gedichtes in gewisser Hinsicht nicht denselben Ursprung haben, durchaus zur Interpenetration der beiden kommen, metapoetisch gesehen im Sinne des latenten Zum-Eigenname-Werdens der dichterischen Sprache,120 in historischer Hinsicht 117 | Hierzu und zum Folgenden vgl. das letzte Kapitel (zu Nádas) und das Kapitel zu Kosztolányi (zum Verhältnis von Gegensignatur und Testament) der vorliegenden Monographie. 118 | Oder die Seinsweise des Zeugnisses intensiviert das Nicht-Sein der Spur: ist gleichzeitig »Spur und Spur des Erlöschens der Spur« (Die différance, 49). 119 | Vgl. dazu die Hölderlin-Analysen des dritten Kapitels, ferner – hauptsächlich auf der Ebene der testimonialen Funktionen poetischer Bilder – mein Buch: Költői képek testamentumai [Testamente des lyrischen Bildes], Budapest 2014. 120 | Vgl. dazu Kulcsár-Szabó, Metapoétika. Önprezentáció és nyelvszemlélet és modern költészetben [Metapoetik. Selbstpräsentation und Sprachauffassung in der modernen Lyrik], Bratislava 2007, 28. »… tatsächlich beginnt die dichterische Sprache – dank ihrer Selbstreferentialität, genauer: der Verdopplung ihrer Referentialität – durch den Bruch zwi-
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z.B. im Sinne der unpersönlichen Redesituation, die in bestimmten lyrischen Varianten der Moderne erscheint.) Das falsche Zeugnis wird dadurch von vornherein von einem Bezugssystem bedingt, das zugleich die Bewahrung und die Einlösung sowie die Inskription und Auslöschung des Zeugnisses beinhaltet. Die différance bedeutet gleichzeitig Exzess, den Exzess der Zirkulation (hier der Weitergebbarkeit, der Wiederholbarkeit) und die Bewegung der Ersetzung, d.h.: einerseits »[…] Beziehung zu unmöglicher Gegenwart, […] rückhaltlose Verausgabung, […] nicht wieder gutzumachender Verlust von Gegenwart […], selbst […] Todestrieb und Beziehung zum ganz Anderen«, andererseits einen »ökonomischen Umweg« »in dem Element des Gleichen« im Modus des »(bewußte[n] oder unbewußte[n]) Kalkül[s]«.121 (Freilich ist die Auslöschung der Spur, wie die Einlösung des Zeugnisgebens im referenziellen Bezeichnen oder Benennen – als Ersetzung – nur möglich, weil die Spur des Zeugnisgebens/ das Zeugnisgeben als Spur schon von vornherein der Auslöschung »entstammt«.) Die Beziehung des Ökonomischen und des Nicht-Ökonomischen im Zeugnis – die Entscheidung darüber (die das Zeugnis als Komponente seiner fundamentalen Entscheidung auch einschließt) – kontaminiert es immer schon mit der Gefahr falschen Bezeugens. Diese Beziehung ist der Index der testimonialen Differenz: das Zeugnis muss gerade darum Gabe sein (»rückhaltlose Verausgabung«), weil das ursprüngliche, motivierte, autonome, authentische, das für seine Kredibilität restlos bürgende Zeugnis (seine Fähigkeit, seine Potenz, all das zu leisten) fehlt, und gleichzeitig schreibt sich das Unausgesprochene dessen oder das »ursprüngliche« Zeugnis als Unausgesprochenes in das aktuelle Zeugnisgeben ein und zeugt gleichsam anstelle dessen (und gerade deswegen muss mit dem Vollzug, der Geste, dem Sprechen, der Adressierung, der Kontextualisierung, der Rhetorik des von vornherein substitutiven Zeugnisses, deren Wie usw. gerechnet werden). Gerade aus dem oben diskutierten Entscheidungscharakter ergibt sich, dass das Zeugnis, auch im Angesicht genau des eigenen Exzesscharakters, z.B. im Zeichen des unreduzierbar ökonomischen Zuges der Iterabilität, niemals ohne ein gewisses Kalkulieren oder Nachrechnen auskommt.122 Dieser ökonomische Zwang stammt nicht einfach aus schen Wort und Referenz als Eigenname zu funktionieren.« Derrida geht auf das Auswendig-Lernen gerade in seiner Studie über die lyrische Poetik des Zeugnisses ein: »Man zitiert es und zitiert es noch einmal, man endet damit, die Stellen des Gedichtes, die man nicht versteht, auswendig zu lernen, auch wenn man nicht weiß, wovon oder für wen oder wofür das Gedicht zeugt.« Jacques Derrida, ›A Self-Unsealing Poetic Text‹. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses, in: Peter Buhrmann (Hg.), Zur Poetik Paul Celans, Kopenhagen/München 2000, 170. D.h. das Nicht-Wissen der Bezeugung (das das Zeugnis gerade von den Modellen des Beweises und des Berichtes trennt) kann sich gerade als literarische Erfahrung als die sprachliche Kraft des Zeugnisses (und zugleich auch als eine Art Schweigen) intensivieren. Aber auch umgekehrt: gerade der Zug des virtuellen Zeugnisses behält, schreibt der poetischen Sprache (gleichsam erneut) eine solche skripturale Dimension ein. 121 | Derrida, Die différance, 45. 122 | Solche – auch thematischen, aber z.B. auch auf der Ebene infratextueller Verhältnisse erscheinenden, ferner zwischen dem narrativen Diskurs und dem Text bestehenden – Doppelbindungen von Geben und Kalkül können in der Marquise-Novelle Kleists, in der Kornél-Esti-Erzählung, bei Esterházy, bei Nádas und bei Sebald beobachtet werden. Aber auch in der Gegensignatur des inneren Wortes durch das äußere Wort (Kapitel 2), ferner des
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persönlichen Intentionen, sondern neben der Entscheidung oder zusammen mit ihr aus der konstitutiven Öffentlichkeit des Bezeugens, er entspringt dem Insistieren des inneren Zeugen als – auch für »den Zeugen« – Dritten (vgl. dazu die Bedeutungen von »testis/terstis«, die Figur des Dritten).123 Die Interpenetration von Performativität (Entscheidung und Verantwortung) und Kalkül erscheint im konstitutiven »als ob«-Charakter des Zeugnisgebens: der Zeuge legt sein Zeugnis als ein Anderer ab, der an seiner Stelle ebensolches Zeugnis ablegen würde (deswegen ist der Zeuge zugleich einzigartig, unersetzbar, geheim und unpersönlich, öffentlich usw.), er leistet sein Zeugnis, als ob er es immer in gleicher Weise wiederholen würde.124 Dieses Versprechen im Zeichen des »als ob« verknüpft vielleicht von Anfang an den Exzess, die rückhaltlose Verausgabung mit dem Kalkül. Man kann vielleicht sagen, dass die Performativität des Zeugnisses (»rückhaltlose Verausgabung«), die Bindung, die sein Exzess mit der Iterabilität eingeht, und dadurch seine Autoimmunität das Kalkül herausfordern – und es (das Kalkül) hier mit der Dimension der Rhetorik korrelieren lassen. Dieses Kalkül ist gleichsam das Pendant der Rhetorik, der Index der rhetorischen Konstitution des Zeugnisgebens. In dem Sinne, dass die Rhetorik – der aristotelischen Bestimmung zufolge – immer auf Unsicherheit reagiert, sie wird als Entscheidungshilfe gebraucht, und dabei spielen nicht nur Beweise, sondern auch dispositionelle und persönliche Momente eine wichtige Rolle.125 In ihrer Gesamtheit kann die Rhetorik sogar als Kulturtechnik des Zeugnisgebens begriffen werden, wenn man ihren aristotelischen Dualismus – die Funktionen von Enthymem und Beispiel (in gewissem Sinne des Konstativen und des Performativen)126 – auf die Züge des Zeugnisses projiziert, die diese Arbeit akzentuiert: das Fehlen des »ersten« Zeugnisses macht das »zweite« Zeugnis notwendig zu einer enthymemischen Figur (vgl. z.B. die hervorgehobene Bedeutung des Geheimnisses), während die rhetorische Figuralität des Beispiels offensichtlich eine Trope der Exemplarität darstellt. Man darf jedoch nicht vergessen, dass die enthymemische Dimension der testimonialen Praxis im gegenwärtigen Zusammenhang eine Funktion der Ereignishaftigkeit ist. Auch das Verhältnis von Enthymem und Beispiel müsste eingehender diskutiert werden: gerade das Nicht-Sein des »ersten« Zeugnisses ermöglicht die Exemplarität, insofern das Enthymem die Problematisierung des Konstativen bedeutet, die das performative Moment herausfordert, und fragmentarischen Textes durch den anderen Text (Kapitel 4), im experimentellen Charakter der Übersetzung wirkt diese Duplizität. 123 | Z.B. wird die Marquise Kleists durch die Mediation der schriftlichen Verlautbarung – Prothese einer Art profanen und zugleich radikal nachträglichen Gewissens? – gleichsam für sich selbst der Dritte (der über die Glaubwürdigkeit der Beziehung zwischen ihr selbst und dem Täter als Anderen entscheidet). Dieses Verhältnis ruft unwillkürlich das Kalkül hervor, hier: das Moment des Vertrages. 124 | Vgl. Derrida, Bleibe, 43. 125 | Vgl. Ricœur, Die Hermeneutik des Zeugnisses, 15. 126 | »Die Beispiele gehören in den Bereich der Beratungsrede; denn aus dem Geschehenen beurteilen wir weissagend das Zukünftige. Die Enthymeme schließlich gehören in den Bereich der Gerichtsrede; denn Grund und Beweis verlangt das Geschehene, weil es noch ungeklärt ist.« Aristoteles, Rhetorik, München 1995, 53 (1368a). Vgl. zum Verhältnis von Enthymem, Beispiel und Zeugnisgeben ebd., 135 (1394a).
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zugleich schlägt die Ausnahme (eximere) des »Beispiels« eine Lücke und exponiert das Fehlen des primären, autonomen Zeugnisgebens. Auf jeden Fall existiert das Beispiel gleichzeitig im exemplarischen wie im supplementären Sinn. Damit gerät das Beispiel zu einer Art Parergon (gleichbedeutend mit Bei-Spiel), es umreißt ein Fehlen und ist zugleich Supplement, ja es offenbart die Schrifthaftigkeit.
F ik tionalität und B ezeugung Das Verhältnis von Fiktion und Zeugnisgeben ist eine der schwierigen Fragen, die mehrere aktuelle Theorien zur Zeugenschaft praktisch nicht zur Kenntnis nehmen. Was vielleicht kein Zufall ist, da dieses Verhältnis mit dem vermutlich in jedem Zeugnisgeben intrinsisch gegenwärtigen falschen Zeugnis in Verbindung steht, auf deren Einheit zurückweist. Auf jeden Fall steht und fällt die Interpretation des einander interpenetrierenden, kontaminierenden Verhältnisses von Zeugnis und Fiktion damit, ob letztere, genauer die Fiktionalisierung, auf der Grundlage eines intentional-kognitiven Modells aufgefasst wird, oder aber ob man versucht, ihm eher in Abhängigkeit von performativen Zusammenhängen und Effekten Rechnung zu tragen. Die vorliegende Argumentation muss im Zusammenhang damit hinsichtlich der performativen Dimension des Zeugnisgebens auch im Medium der testimonialen Differenz mit den Effekten der Fiktionalität rechnen. Wir müssen hier wieder der Strategie folgen, die die Performativität des Zeugnisgebens nicht einfach als autonome Handlung desselben versteht, da diese sozusagen mit dem Zeugnisgeben sich ereignet, bis hin zu dessen Autoimmunität. Wenn bis jetzt davon die Rede war, dass das Fehlen des primären Zeugnisgebens bedeutet, dass es keinen Zeugen für den Zeugen (seine Entscheidung) gibt, dass es keine ursprüngliche Instanz für die Beglaubigung der Bezeugung gibt (weswegen der Zeuge nur ein Dritter sein kann, auch für sich selbst), dann können wir jetzt sagen: die Fiktion intensiviert bzw. ruft diese Differenz zwischen der »ursprünglichen« und der »supplementären« Bezeugung hervor. Untersuchen wir dieses Verhältnis zuerst erneut im Zusammenhang mit der paradoxen Bedingtheit und der paradoxen Seinsweise der Entscheidung bzw. deren Implikationen. Wie bereits festgestellt werden konnte, stellt sich die Wiederkehr der Entscheidung – oder des Entscheidungszwanges, auch als der Zwang, die Entscheidung zurückzuziehen, sie zu erneuern – bedingt von der Iterabilität als Exzess heraus, was auch eine Art Maschinenhaftigkeit induziert oder impliziert. Freilich war der Ursprung dieser Wiederkehr die Unterbrechung der Entscheidung (ihrer vermeintlichen Souveränität, Autonomie) durch die Iterabilität, was auch den ursprünglich nicht-intentionalen, zumindest nicht einer vorgängigen Potenz entspringenden, unkontrollierbar illokutiven Charakter der Entscheidung gleichsam potenzierte. Und hier wird deutlich, dass die Iterabilität nicht einfach die Wiederholbarkeit des Zeugnisses »als solches« bedeutet, sondern auch die Wiederkehr des Unentschiedenen, einer Art Rest und damit einer Differenz (die »restance« Derridas, oder nicht einfach im Sinn irgendeiner Permanenz, sondern, ähnlich der différance, des Bleibens als Aktivität).127 Man könnte sagen, dass die Wiederkehr des von der Entscheidung zurückgelassenen Unentschiedenen sich als dessen testamentarische Dimension oder 127 | Vgl. Derrida, Limited Inc., 89-91, 183.
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dessen testamentarischer Zug – im Zeugnis manifestiert. Zugleich markiert sie auch den Zeugen als Subjekt, indem sie ihn zum Wiedergänger oder Gespenst macht. Die in der Wiederkehr (»restance«) implizierte Differenz würde also grundsätzlich Testamentarität bedeuten (deren textuelle Modalitäten und Zusammenhänge im Folgenden noch erläutert werden müssen). Diese Differenz bedeutet auf der Ebene der Selbstpräsentation, ferner der Textualität des Zeugnisses den Unterschied zwischen »sagen« und »meinen«, Sprechen und Schweigen, Reden und Schrift, Stimme und Schrift, Bild und Text, Sprechakt und Narration, vor allem aber die Spaltung des Zeichens (in Bezeichnendes und Nicht-Bezeichnendes) und dadurch die Relativierung der Unterscheidung von Information und Rauschen. Diese Differenz – der Unterschied, der in der différance der »restance« hervorgebracht bzw. aktiviert wird – ist verantwortlich für die Übersetzbarkeit des Zeugnisses, die selbst keine Möglichkeit, sondern Aktivität, Prozess (die unhintergehbare wechselseitige Überlagerung der bezeichneten und der unbezeichenbaren Seite des Zeugnisses) bedeutet. Darum bedeutet das Nicht-Wissen des Zeugen nicht bloß das Nicht-Besitzen der Wahrheit des Bezeugten, die zeitliche Nachträglichkeit, sondern die Unüberprüfbarkeit, die Unbeobachtbarkeit dieser Differenz (als Nicht-Gegenwart) – die Nachträglichkeit des Zeugnisses selbst (oder dass das Zeugnis nicht nur in der Nachträglichkeit besteht, sondern selbst auch, sozusagen in Bezug auf sich selbst, nachträglich ist). Auch die Entscheidung ist immer schon der Index gerade der Unmöglichkeit des Konstativum (des Wissens, der Erklärung, des motivierten oder autonomen, des »ersten« Zeugnisgebens), und gleichzeitig kommt mit der Unbeherrschbarkeit der Entscheidung – nach ihrer Irreversibilität (gerade auch der Unmöglichkeit ihrer Übertragung in ein Konstativum) – auch ein gewisser fiktiver Charakter hinzu. Die Entscheidung wird von der Gewalt der Iterabilität her gleichsam fiktionalisiert, was selbst auch ein Geschehen ist (also kein Ergebnis einer kognitivintentionalen Operation), der Index der testimonialen Differenz. Und zwar kommt diese Fiktionalisierung als eine »Entfremdung zwischen Subjekt und Äußerung« zustande, die »so radikal« ist, dass »sie sich jedem Verstehensmodus entzieht«, als »eine radikale Entfremdung der Bedeutung [hier: des souveränen Entscheidungscharakters] und der Performanz des Textes [hier: der Bezeugung]« zustande.128 So ist die Fiktion hier Zustandekommen und Intensivierung (Wiedereinschreibung) der testimonialen Differenz im Zeugnisgeben selbst, gegen das sie sich auch wendet und dessen Gelingen sie gefährdet. Dieser (sogar maschinelle) Geschehnischarakter bedeutet ferner (darüber hinaus, dass sie sich vom intentional-kognitiven Charakter des »Erfundenseins« entfernt), dass das Moment der Fiktion das Strukturmoment der Wiederkehr (die aus der Unbeherrschbarkeit der Entscheidung folgt bzw. deren Korrelat ist) des Unentscheidbaren (der Unentscheidbarkeit) – eine Art Nicht-Wissen – ist, die Fiktion hat Teil an dieser Wiederkehr und tritt durch sie, sozusagen als die Intensität des Unentscheidbaren (seiner Wiederkehr und dadurch seiner Insistenz) hervor.129 Wenn die Fiktionalität der Name oder der 128 | Basierend auf Paul de Mans berühmter Analyse der Bekenntnisse, im letzten Kapitel von Allegorien des Lesens II – Rousseau, Berlin 2012, 244-245. 129 | Die »Unschuld« der Dichtung bedeutet bei Hölderlin, dass das Maßgebliche in ihr mitnichten intentionale Erfindung ist (vgl. Im Walde, dazu die Interpretation Heideggers: Hölderlin und das Wesen der Dichtung). Die selbstpräsentative Bewegung der Dichtung suspendiert eher die Gültigkeit konstruierter »Realität«, deswegen scheint sie fiktiv oder unwahr-
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Effekt der Unmöglichkeit des Konstativen ist (und zwar auf doppelte Weise, im Sinne der anfänglichen Unbegründbarkeit der Entscheidung, ferner der Unmöglichkeit ihrer nachträglichen, kompensatorischen Identifizierung, wobei die zwei freilich ein und dasselbe sind), dann kann sie sich, während sie die Souveränität der Entscheidung kontaminiert, kaum auf etwas anderes beziehen als auf die (gespenstische) Wiederkehr des Unentscheidbaren, das Aktivwerden seiner Latenz. Diese Latenz gehört zum zu Bezeugenden selbst, und zwar in dem Sinne, dass das Fehlen des primären Zeugnisgebens hier die Bezeugung nicht als nur empirischer Mangel, sondern als Unausgesprochenes (als Unsagbares) ruft. Das Zeugnisgeben bezeugt dieses Unausgesprochene oder gibt es, gibt das, worüber es nicht verfügt (und wendet sich dadurch potentiell auch gegen sich selbst, von hier rührt die Unmöglichkeit des Zeugnisses). Man kann sagen, dass die Fiktion – als die Wiederkehr oder das Geschehen des Unentscheidbaren, das das Zeugnis mit dem Charakter des »vielleicht« imprägniert – Zeugnis vom Zeugnisgeben selbst gibt, jedoch nicht auf positiv-thetische Weise, sondern in Abhängigkeit von einem Bruch, einer Art Anakoluth.130 In diesem Effekt des »vielleicht« wendet sich das Zeugnisgeben gegen sich selbst, deswegen kann es exemplarisch sein als das unmögliche Beispiel des Beispiellosen, die Erfindung des Unmöglichen. Die Fiktionalität bedeutet den Intensitätsgrad der Exemplarität des Zeugnisses und zugleich auch seine Bedrohung, dass es sich gegen sich selbst wendet. Dieses Verhältnis erscheint in der testamentarischen und zitationellen Bewegung der Exemplarität als Aus-Nahme: die Ausnahme gibt Zeugnis davon, woraus sie »entnommen« wurde, gerade im Sich-davon-Entfernen (d.h. in der différance),131 es macht sie zu etwas anderem, eine Art virtuelles Allgemeinheitsmuster schreibt sich in die Ausnahme ein, die auf diese Weise exemplarisch wird. Das Beispiel verhält sich folglich als Supplement, als Effekt des Differierens, also einer Funktion der Schrifthaftigkeit. Diese Schrifthaftigkeit ist die Möglichkeitsbedingung des Beispiels, der Beispielhaftigkeit, der Exemplarität, und gleichzeitig kann als Folge dessen das Beispiel zum falschen Beispiel, zum falschen Zeugnis werden. Einerseits ist die Supplementarisierung des Beispiels die Chance des Beispiellosen (des Unentscheidbaren), andererseits macht die Austauschbarkeit des Beispiels seine vorgängige Programmierung, die Auslöschung seiner Singularität möglich. scheinlich (gleichzeitig ist sie gerade deswegen auch »gefährlich«, und es ist kein Zufall, dass Hölderlin nach der Dichtung »als dem Unschuldigsten aller Geschäfte« auf die Sprache als »der Güter Gefährlichstes« zu sprechen kommt). Zur Transposition des u.a. gesellschaftlichen Geformtseins der »Realität« aufgrund der hyperbolischen Erfahrung des »eigenen Todes« s. natürlich das Nádas-Kapitel. 130 | Dieses Verhältnis erscheint in der Überschreibung des intentionalen Zeugnisses durch gewisse arbiträre sprachliche Effekte in der Schaffner-Geschichte des Kornél Esti, bei Esterházy in der latenten, diskontinuierlichen Bezeugung des fehlenden Zeugnisgebens durch die Harmonia (gleichzeitig in der Entfremdung von der Intentionalität des Autors, in der Variation der Harmonia als falsches Zeugnis), ferner in der vorgängigen Mobilisierung intertextueller Differenzen bei Sebald (wobei das »primäre« Zeugnisgeben, z.B. der Text Kluges, sich von gewissen Zitaten als Infratexten her gleichsam als sekundär herausstellt). 131 | Das Zitat des Benjamin’schen »Engels der Geschichte« bei Sebald emblematisert gleichsam auch auf einer ikonischen Ebene dieses Sich-Entfernen (der Sturm der Geschichte reißt den Engel weg von der zum Fragment werdenden Vergangenheit).
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Diese inhärente Fiktionalisierung des Zeugnisgebens entspricht dem NichtWissen des Zeugen, dem immanenten Fehlen des Zeugnisses, einer Art Geheimnis. Wenn der Zeuge gibt, worüber er nicht verfügt (Besitz ist niemals Gabe), dann gibt er gleichsam dieses Fehlen als Unsagbares, dessen Testament. In diesem Sinn berühren sich das »unzugängliche Wesen«132 der Literatur und das Zeugnisgeben entlang der Gabe: beide geben, was sie nicht haben, so z.B. eine Art superfizielles Geheimnis. Die testimoniale Differenz im Zeugnis selbst, die unbezeichenbar wird, ist eigentlich das Korrelat jenes Geheimnisses, das bezeugt wird. Der grundlegenden These Derridas zufolge zeugt im Wesentlichen jedes Zeugnis von einem Geheimnis, was in einer tiefen Beziehung einerseits zur Singularität des Zeugnisgebens (mit dem Bezeugten als Ausnahme und mit der Einzigartigkeit des Zeugnisses), andererseits mit seinem konstitutiven Öffentlichkeitscharakter steht, damit, dass die Wiederholbarkeit des Zeugnisses auch die virtuelle Ersetzbarkeit des Zeugen voraussetzt (»irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]«). Dennoch kann die Entscheidung nicht vollständig aus diesem Zug des Öffentlichen, der Bezugnahme auf dieses, abgeleitet werden, wodurch ein Rest zurückbleibt (d.h. dass sie über die Herausforderung der Bezeugung eben nicht verfügt oder sie souverän beherrscht), in dieser Asymmetrie eine Differenz eingeführt wird, dadurch definierte Rahmungen des Öffentlichen und generalisierende Strukturen zumindest virtuell überschritten werden. Gerade die Berufung auf das »irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]« wird fiktionalisiert (die Fiktion kann diese Berufung reflektieren), ihre generalisierende Tendenz oder Autorität wird unterbrochen und die Singularität, der Geheimnischarakter, letztlich die Exemplarität der Bezeugung erhält als ihr Wahrheitsanspruch eine Chance. Die Exemplarität ist nämlich nicht als repräsentative Funktion (für irgendeine Allgemeinheit), sondern eher als Ruf zu verstehen, der einen Wahrheitsanspruch kundgibt (und deswegen ist sie, aller antihermeneutischen Wut einiger zeitgenössischer Theorien zum Trotz, von vornherein auf die Interpretation angewiesen). Derrida verweist nicht auf die andere Seite des »irgend jemand an meiner Stelle hätte dasselbe bezeugt«, auf die Seite des den Zeugen gegenzeichnenden oder bezeugenden Zeugen – z.B. des Lesers –, dass das also auch auf ihn zutrifft, in dem Sinne, dass ihm die Erfahrung, der »Glaube« des (Be) zeug(t)en nur dann zur Erfahrung wird, wenn er selbst dieses hätte sagen können, als ob er das gesagt hätte.133 Also apelliert dies alles an die Singularität des Zeugen (z.B. des Lesers) des Zeugen – an eine Einzigartigkeit in der Ersetzung –, welche »Übertragung« nun aber nie eine identische Gestalt zur Folge hat, sondern sich nur als Übersetzen, bereits in der selben Sprache (in deren verschiedenen Modi, von der Synonymie bis zu den parasemischen Beziehungen), ereignen kann. 132 | Vgl. Ernő Kulcsár Szabó, Az irodalomtörténet(írás) problémája. Megírható-e egy hozzáférhetetlen ›mibenlét‹ története? [Das Problem der Literaturgeschichte und -schreibung. Kann die Geschichte eines unzugänglichen ›Wesens‹ geschrieben werden?], in: Mónika Dánél/Péter Fodor/Péter L. Varga (Hg.), Esemény – trauma – nyilvánosság [Ereignis – Trauma – Öffentlichkeit], Budapest 2012, 11-37. 133 | Im Sinne der dialogischen Sprachauffassung Wilhelm von Humboldts: »Man versteht das gehörte Wort nur, weil man es selbst hätte sagen können.« (Wilhelm von Humboldt, Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues, in: ders., Werke III: Schriften zur Sprachphilosophie, Darmstadt 1963, 217) Humboldt war bekanntlich jener Sprachdenker, der meinte: »[E]rst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit …« (ebd., 228).
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Wichtig ist hier, dass der Zeuge als Dritter und der Zeuge als beispielhafte Figur, die auf den ersten Blick nur schwer vereinbar scheinen, eine Verbindung eingehen, gleichzeitig stellt ihre wesentliche Beziehung schon im Voraus den sekundären Charakter des Zeugnisses (seine supplementäre Exemplarität) her, noch wesentlicher ist aber, dass diese Beziehung das Versprechen der Gerechtigkeit bedeutet. (Deswegen ergibt sich die Figur des Zeugen als des Dritten nicht in der Neutralität, sondern in einem Wahrheitsereignis, im Bezeugen dessen, und deswegen kann er nicht als bloßes Agens irgendeiner »Wissensübertragung« neutralisiert werden.)134 Darum ist das Zeugnisgeben ebenso öffentlich, wie es einzigartig und geheim ist, und umgekehrt (die Figur des Dritten verweist auf die Öffentlichkeit, die Exemplarität auf das Geheimnis).135 Dies konnte oben als die wesentliche Übersetzbarkeit des Zeugnisses bestimmt werden.136 Womöglich ist die Übersetzung für den Chiasmus verantwortlich, der charakteristisch für die Beziehung von Literatur und Zeugnis ist: Die Fiktion wird beispielhaft, das Zeugnisgeben kommt aber mit der Fiktion in Berührung.137 Die Fiktion kann nur durch Übersetzung Exemplarität, eine zeugenschaftliche Funktion oder Kraft erlangen (zu einer impliziten – »implied« – Sprache der Zeugenschaft werden); das Zeugnisgeben ist nur durch die Effekte und Impli-
134 | Wie es bei Krämer erfolgt, die die Ansicht vertritt, der Zeuge müsse zwei »Idealen« genügen: einerseits der Verlässlichkeit, der Glaubwürdigkeit, andererseits der Erwartung einer direkten Aufzeichnung (»Glaube an die Solidität der Quelle der Information« bzw. auf die Weise eines »neutrale[n] […] Datenerhebungs- und Datenwiedergabeinstrument[s]«; Medium, Bote, Übertragung, 254, 258-259). Es ist deutlich zu erkennen, dass das »Aufzeichnungsinstrument« (239) eine kartesianische bzw. eine instrumentale Konstruktion ist, die die Dimension der Wahrheit im Zeugnisgeben verleugnet (denn diese würde eine Hermeneutik voraussetzen). Dennoch vermag diese Metaphorik die Aufmerksamkeit, wenn auch deformierend, als Übertragung auf die Inskriptionalität des Zeugnisses lenken. (Und dabei ist noch nicht die Rede davon, dass die Anordnung dieser beiden »Kriterien« nebeneinander im Grunde eine tautologische Struktur aufweist: Die Neutralität der Glaubwürdigkeit und der Informationsaufnahme bedeutet hier letzten Endes dasselbe.) 135 | Vgl. Bleibe, 28-30, 43. Der rhetorische, inter- und paratextuelle, ferner der referenzielle Raum der in dieser Arbeit untersuchten Texte (Kleist, Sebald, Esterházy, Nádas) wird auf komplexe Weise von den Doppelbindungen von Geheimnis und Öffentlichkeit durchwoben. 136 | Was nicht »transparent«, mitnichten »demokratische« Verteilung, was aber ebensowenig exklusive Bewahrung bedeutet: Die Doppelung von »unendlich geheim und unendlich öffentlich« (Derrida) entzieht sich diesen Gegensatzpaaren. 137 | Es ist allgemein bekannt, dass das Phänomen der Übersetzung sowohl für die Hermeneutik als auch für die Dekonstruktion ein eminent sprachtheoretisches Problem bedeutete. Schematisierend könnte man vielleicht sagen, dass die Hermeneutik primär an der Exemplarisierung der Fiktion (ihrem Wahrheitsanspruch), die Dekonstruktion eher an der Fiktionalisierung des Zeugnisgebens interessiert war. Das sind natürlich nur Tendenzen, die echte Leistung der beiden Richtungen ist damit keineswegs beschrieben, noch weniger können sie in Widerspruch zueinander gebracht werden – auf jeden Fall zeigen sich Hermeneutik und Dekonstruktion als Teile eines Chiasmus, was ihre gegenseitige Affinität und zugleich ihre Konflikte und ihre gewisse Unaussöhnlichkeit erklären helfen kann.
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kationen der eigenen Wiederholbarkeit, durch eine Art Fiktionalisierung, wobei es immer schon in einer Transposition existiert, fähig zu bezeugen.138
L esen als Z eugnisgeben (W iederlesen als L ek türe des »D ritten «?) Unausgesprochenes, Ruf, Übersetzung – diese Ausdrücke signalisieren schon, dass der Chiasmus von Zeugnis und Fiktion, der die oben dargelegten Strukturmomente des Zeugnisgebens (so z.B. gerade das Ereignis der Entscheidung, das unabdingbar mit jedem Perspektivismus des Lesens einhergeht) in sich konzentriert, eine Frage des Lesens ist. Bevor wir aber den lektüretheoretischen Nutzen dieses Gedankenganges umreißen, müssen gewisse Zusammenhänge des bisher Gesagten erneut zusammengefasst werden. – Das Fehlen des ersten Zeugnisses ist nicht bloß ein privatives Moment, nicht die »einfache Negativität einer Lücke«,139 sondern die »restance«, die Testamentarität des Unentscheidbaren. Diese Testamentarität manifestiert sich nachträglich (nicht unbedingt oder nicht nur im zeitlichen, sondern im strukturellen Sinn), von einem immer schon zweiten Zeugnis(geben) her (sozusagen als vorzeitliche Zukunft).140 Dieses zweite Zeugnisgeben ist nicht bloß ein »Kommentar« (mag dieser Begriff in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft auch einen noch so großen Boom erleben), sondern nur durch dieses wird das Fehlen des ersten Zeugnisses als der Abdruck einer Unentscheidbarkeit lesbar, genauer: ihre testamentarische Dimension, deren Geschehen, z.B. sein Aspekt des Exemplarischen. Das zweite Zeugnis fungiert selbst als eine Art Medium, auch als 138 | Ein meisterhaftes Beispiel dafür ist die Geschichte des Schaffners in Kornél Esti: Fiktion und falsches Zeugnis sind miteinander verknüpft, trotzdem werden sie exemplarisch, noch dazu im Zusammenhang mit einem virtuell-aporetischen Übersetzungsereignis. Die Fiktion ist hier gerade dadurch exemplarisch, dass sie das Geheimnis als die in das Narrativ eingebettete Kehrseite des Zeugnisgebens bewahrt (wir werden nie erfahren, was der Schaffner gefühlt und gedacht hat), die zugleich nur durch das falsche Zeugnis generalisiert worden ist. (Die Literatur zeichnet für Derrida gerade aus, dass es in ihr, »im exemplarischen Geheimnis der Literatur, eine Chance [gibt], alles zu sagen, ohne das Geheimnis anzutasten.« Über den Namen, 44.) 139 | Vgl. Derrida, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Limited Inc., Wien 2001, 28. Das geschriebene Zeichen »konstituiert« die (seine) Verräumlichung, die »nicht die einfache Negativität einer Lücke, sondern das Auftauchen des Zeichens« ist. 140 | Siehe dazu die Lesbarkeit der Harmonia Caelestis als Zeugnis von Verbesserte Ausgabe her; bei Sebald das Zitat Benjamins, das anstelle der fehlenden oder defizitären Zeugnisse zeugt, wobei dieses Zitat sich auf eine Chiffre (ein Rätsel) bezieht bzw. sie gleichsam produziert; und bei Nádas die nachträgliche Realisierung des vorgängigen Wissens (nicht einfach im Sinne eines »Inhalts«, sondern in der Wahrnehmung einer Art anderer, unbezeichenbarer Seite einer Bewegung, die über die Grenzen des Alltagslebens als »Realität« hinausgeht). Das Fehlen des äußeren Wortes (in beiden Besitzverhältnissen verstanden) kann sich von der anderen Seite aber auf ein und dasselbe beziehen (vgl. Kapitel 2), der Entzug des zweiten Zeugnisgebens, des »äußeren« Wortes, wurzelt in der Unverfügbarkeit gerade der ersten Bezeugung, des »inneren Wortes«, gleichzeitig kann die Aufladung des äußeren Wortes mit der testimonialen Funktion auf das innere Wort, sein Rufen zurückwirken.
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Lesen, auf diese Weise medial – es selbst schafft das zu Bezeugende im ontologischen Sinn nicht, sondern es vermittelt es. Dieses Lesen bezeugt das Zeugnisgeben der Sprache selbst, Ereignis und Fiktion gleichzeitig, auch als den Bruch mit einem vorausgesetzt-erwarteten originären Zeugnisgeben bzw. dessen Anakoluth, wobei die Sprache gleichsam – als Dritter – für/anstelle den/des Zeugen zeugt (wie es sich z.B. bei Kleist in »der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden« widerspiegelt und bei Esterházy zwischen den Zeilen der Harmonia Caelestis und bei Sebald in der Konstellation der »chiffre« zu lesen ist). Auch die Heideggersche Vorstellung des »Entzugs« kann hier Klarheit bringen: Dieser bedeutet nicht bloß eine privative Bewegung, sondern die Inskription einer Art Infratext (bei Esterházy von Verbesserte Ausgabe her in Harmonia Caelestis, aber hinsichtlich der Bezeugung der ersteren, die der Verbesserten Ausgabe virtuell, in einer textuellen – nicht nur chronologischen – Zeit vorangeht; bei Sebald das Benjaminsche Zitat als virtueller Infratext).141 Die Medialität des zweiten Zeugnisgebens macht, im Unmotiviert-Werden der »Grundlage« der Bezeugung selbst, das Geschehen des Unentscheidbaren als Testamentarität gleichsam als Zeichen (oder dieses Zeichen als Geschehen) denkbar oder lesbar. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sich die testimoniale Differenz gleichzeitig im Geschehen der différance manifestiert und sich in es zurückzieht, in die »restance«-hafte Aktivität des differentiellen Zeichens. Die testimoniale Differenz manifestiert sich im Hervortreten der Exemplarität (des Geschehens als Zeichen, nicht einfach des Zeichens des Geschehens) der Bezeugung, sie entzieht sich aber zugleich in der Aktivierung der supplementären Seinsweise (des Zeichens als Geschehens oder des Geschehens im Zeichen) dieses Beispiels. Das Lesen geschieht bzw. operiert so gleichsam zwischen den »zwei« Zeugnisgeben: in dem Ereignis (in der Bewegung der testimonialen Differenz), das das unentscheidbare Geschehen, das Geschehen der Herausforderung der Bezeugung, als das Fehlen des »ersten« Zeugnisgebens zu einem testamentarischen Zeichen macht, und das nur von einem »zweiten« (so auch virtuellen) Zeugnisgeben her zum Ereignis wird. Dem bisher Gesagten zufolge ist dieses »Zwischen« kein Raum, sondern verweist auf den Chiasmus des Geschehens als Zeichen und des Zeichens als Geschehen. Die symbolisierende Bewegung der Exemplarität ist das unabdingbare Korrelat – genauer: die Unterschrift, die Gegensignatur – der testamentarischen Seinsweise oder der Aktivität des Zeichens, während sein entsymbolisierend-supplementärer Charakter als eine Art Vergessen zugleich das Wirken der Differentialität des Zeichens intensiviert, indem es die (z.B. grafische, selbstreflexive, phänomenale) Stabilisierbarkeit des Zeichens (»marque«) als Bezeichnetes,142 die Zeichenhaftigkeit selbst entzieht, was als Geschehen trotzdem dem Zeichen (der »restance«-haften Aktivität des Zeichens) angehört, zumindest 141 | Zum »Entzug« bei Heidegger und zu dessen Lesart bei Derrida (»Entzug«) vgl. das Kapitel 5 dieser Arbeit. 142 | So auch seine Stilisierung zu einem imitativen Ursprung oder zu einer »Typographie«: In jeder Exemplarität liegt die Versuchung zur im ideologischen Sinn verstandenen imitativen Motivierung (wodurch das falsche Zeugnis im Zeugnis eingeschrieben wird), die Arbeiten Philippe Lacoue-Labarthes haben auf einzelne historisch-politische Aspekte dieser aufmerksam gemacht, vgl. z.B. Die Nachahmung der Modernen. Typographien II, Basel/Weil am Rhein/Wien 2003. (Zum problematischen Zug, zu gewissen historischen Defiziten einzelner Figuren der Exemplarität vgl. die Szondi-Kritik des dritten Kapitels.)
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würde es ohne dieses nicht existieren. Diese beiden Aspekte können nicht voneinander getrennt werden (die différance kann formal nicht geteilt/aufgeteilt werden), denn die Verwandlung zum Exemplarischen setzt schon voraus,143 dass sich das Zeichen von sich selbst unterscheidet (wie es auch eine Signatur voraussetzt), insofern beinhaltet es auch die Supplementarisierung der Exemplarität als Effekt der Schrifthaftigkeit des Zeichens, als eine Art Vergessen. Und gleichzeitig erinnert dieses Vergessen auch an das Differieren, an die Bewegung der Aus-Nahme (exemplum) selbst, die die Exemplarität erst hervorgerufen hat.144 (Deswegen kann Derrida in Verbindung mit der Literatur von einem »exemplarischen Geheimnis« reden,145 einer Exemplarität, die im Zeichen des Alles-Sagens zustande kommt und das Unausgesprochene doch nicht transparent machen kann, da die Literatur noch intensiver auf den Kredit, auf das strukturelle Primat des falschen Zeugnisses oder im Hinblick auf das Zeugnis zugleich auf seine Möglichkeits- und Unmöglichkeitsbedingung angewiesen ist.) Insofern ist das Lesen auch ein Wiederlesen, strukturell, in dem Sinne, dass es seinen eigenen exemplifizierenden Operationen (deren einschränkend-verrechtlichendem Charakter, der den Text als das Geschehen des Lesens betrifft) widerstehen kann, indem es sich gleichsam gegen sich selbst wendet (zumindest indem es in Bezug nicht nur auf den Text, sondern auf sich selbst, auf die eigene Lesart als Dritter, als Zeuge zustande kommt und sowohl den Text als auch sich selbst gleichsam als Kehrseite dieser Lesart setzt und bis zu einem gewissen Grad reflektiert).146 Dieses Lesen kann literarisches Lesen genannt werden, das die Bewegung der testimonialen Differenz nicht fixiert, sondern ihre Offenheit als die Chance der Gerechtigkeit (auch als das Gedächtnis der Zukunft) im Selbstentzug der Differenz bewahrt, gegenzeichnet, bezeugt. Und so entspricht es dem nicht-positivierbaren Wesen der Literatur, dass der Text nie über das verfügen kann – weder im materialen, noch im immaterialen Sinn –, was in ihm oder durch ihn als Gabe nach dem Lesen als Zeugnisgeben und Gegenzeichnung ruft.
143 | Vgl. Jacques Derrida, ›This Strange Institution Called Literature‹, in: ders.: Acts of Literature (Hg. Derek Attridge), London 1992, 43. 144 | Ich habe in einem früheren Text versucht, das als Wiederlesen (also gerade als Wiederholung!) im Sinne der »Rückkehr zum Text« zu beschreiben, vgl. Az olvasás ismétlése. Materialitás és kultúrtechnikák az irodalmi szövegben [Wiederholungen des Lesens. Materialität und Kulturtechniken im literarischen Text], Budapest 2010, 5-55. 145 | Derrida, Über den Namen, 44. Dieses »exemplarische […] Geheimnis« bedeutet, dass in der Literatur die testimoniale Differenz selbst zwischen dem Zeugnis als der Figur des Dritten und seiner Exemplarität zum Medium wird, wie das Medium des Rufes der Gerechtigkeit (es ist kein Zufall, dass hauptsächlich Kleists Marquise-Novelle und ebenso die Texte Esterházys und Sebalds öffentlichkeitsrelevante, politische, ethische Fragen des Bezeugens der Gerechtigkeit anregen.) 146 | Das kann in der Hermeneutik das Ereignis des Zurücktretens der Interpretation als die Regression der souveränen Zeugenrolle kennzeichnen. Heideggers klassische Formulierung lautet: »Der letzte, aber auch schwerste Schritt jeder Auslegung besteht darin, mit ihren Erläuterungen vor dem reinen Dastehen des Gedichtes zu verschwinden. […] Daher meinen wir beim wiederholenden Lesen, wir hätten die Gedichte immer so verstanden.« Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, GA 4, Frankfurt a.M. 1981, 8.
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2. Das »innere Wort« zwischen Gabe und Zeugnis
Auf den Spuren der Gadamer’schen Sprachtheorie
Die inneren Zusammenhänge der Sprachauffassung Gadamers scheint auch die neueste Fachliteratur nicht restlos erschlossen zu haben. Dass die möglichen externen Beziehungen der Gadamer’schen Sprachproblematik zu seinen Zeitgenossen (gerade etwa zu Derrida, mit dem er auch in der Diskussion stand) eher selten am Horizont der Fachliteratur auftauchen, kann teilweise auf diesem Umstand beruhen. Freilich existiert keine Vorschrift, die festlegen würde, ob man in den hermeneutischen Zirkel, in dem gewisse Herausforderungen des Sprach-Denkens Gadamers deutlich werden, von innen, streng verhaftet mit dem Gadamer’schen Korpus (ohne freilich seine wichtigen Vorläufer, von Platon bis Heidegger, zu vergessen), eintritt oder von außen, ja von kontroversen Positionen her. Das Verstehen ist – seinem Haupttheoretiker zufolge – immer auch ein Anders-Verstehen (oder, was dasselbe bedeutet, zugleich auch applikatives Verstehen), und die Fragen oder das Fragwürdige, die ihm zugrunde liegen oder es motivieren, sind nicht unbedingt in einem gewissen Kontext oder einer diskursiven Position zu verorten. Kein Gespräch oder Dialog verläuft freilich im luftleeren Raum, und das – sinnrelevante oder performative – Geschehen, das sich in ihnen vollzieht, kann nicht gänzlich mit der diskursiven Haltung eines Dialogpartners und seinen bestimmten – z.B. historischen – Indizes in Verbindung gebracht werden, sondern es geht darüber hinaus. Im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse steht grundlegend, aber nicht ausschließlich die Gadamersche Hermeneutik des »inneren Wortes«, ferner deren Zugehörigkeit zu anderen Elementen seiner Sprachauffassung, eine Beziehung, die im Spiegel der neuesten Gadamer-Fachliteratur nicht unbedingt als geklärt gelten kann, zumindest sind die Meinungen zu dieser Frage geteilt. Die dargelegte Gedankenfigur des »inneren Wortes« wird in Wahrheit und Methode mit einigem Nachdruck akzentuiert, schließlich überwindet in ihr das Sprach-Denken des Abendlandes die griechische Sprachphilosophie. Sie hat also auch hinsichtlich des Systems von historischen und theoretischen Zusammenhängen des Hauptwerks Gadamers eine vorrangige Bedeutung. Einige engagierte und versierte Heidegger-Monographien und -Analysen scheinen dagegen den prominenten Status des »inneren Wortes« mit einigem Unverständnis, man könnte sagen missbilligend, zu betrachten. So bringt z.B. Donatella Di Cesare in ihrer Monographie von 2008 folgende These in Umlauf: »So bezeichnet diese problematische Wiederaufnahme
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von Augustin eher eine Grenze von Gadamers Sprachreflexion.«1 Ferner betrachtet sie es als »schwierig«, »die Lehre des verbum interior mit anderen Teilen der philosophischen Hermeneutik in Einklang zu bringen, vor allem mit der zentralen Stellung des Dialogs« (ebd.). Die größte Herausforderung besteht demnach darin, das zum »inneren Wort« Gesagte mit anderen Elementen oder Zusammenhängen der Gadamer’schen Sprachproblematik zu vermitteln. Noch früher erblickte Günter Figal in den letzten Kapiteln von Wahrheit und Methode zwei die Sprachauffassung betreffende Modelle und meint, dass das Inkarnationsmodell nicht unbedingt in Einklang mit der Formel der spekulativen Struktur oder des spekulativen Horizonts der Sprache gebracht werden kann, »das Tun der Sache selbst« stehe in einer Spannung zur Horizonthaftigkeit des Sinns, in dem nach Gadamer die Gegenwart des Unausgesprochenen vorausgesetzt werden kann.2 Diese Stimmen haben in der Gadamer-Rezeption so sehr an Gewicht gewonnen, dass selbst Jean Grondin, der die Bedeutung des verbum interius als erster hervorgehoben hatte, sich in letzter Zeit in Bezug auf den Umfang seiner Behauptung, die Gadamer durchaus emphatisch begrüßte, zu distanzieren scheint.3 Zugleich existiert eine Dissertation, die die Bedeutung des inneren Wortes für die Sprachhermeneutik Gadamers uneingeschränkt anerkennt und zahlreiche Verbindungen zwischen ihnen aufzeigt.4 Die Aufklärung dieser Verbindungen scheint auch weiterhin einige Aktualität zu bergen, denn für die »unheimliche Nähe der Sprache«5 wird in den sprachtheoretischen Teilen von Wahrheit und Methode kaum ein prägnanteres Beispiel zu finden sein als gerade der Komplex des inneren Wortes.6 Mit dramatischer Schärfe formuliert, könnte man auch sagen, dass die Aufgabe des Problems des inneren Wortes darin mündet, daß dieser »unheimlichen Nähe« – oder zumindest der Herausforderung einer Art des Verstehens – ausgewichen wird. Möglicherweise kann der Hermeneutiker aber auch nur die verschiedenen Arten, vor dieser Nähe zu kapitulieren, vollziehen, wobei er dem Ereignis dieser Nähe als Subjekt notwendigerweise unterlegen ist. Trotzdem wird sich diese Nähe nie je im vollen Umfang unabhängig vom Verstehensinteresse der Subjekte und dem Vollzug dieses Verstehens ereignen – andernfalls wäre es nicht mehr möglich, zu argumentieren, dass die 1 | Hans Georg Gadamer, Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2008, 186. 2 | Günter Figal, Das Tun der Sache selbst. Gadamers hermeneutische Ontologie der Sprache, neu erschienen in: ders., Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, Tübingen 2009, 80-85. 3 | Unterwegs zur Rhetorik. Gadamers Schritt von Platon zu Augustin in ›Wahrheit und Methode‹, in: Günter Figal/Jean Grondin/Dennis J. Schmidt (Hg.), Hermeneutische Wege. HansGeorg Gadamer zum Hundertsten, Tübingen 2000, 212. Die frühere Studie Grondins: Gadamer und Augustin. Zum Ursprung des hermeneutischen Universalitätsanspruchs, in: ders., Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt 1994, 24-39. Vgl. auch Hans Georg Gadamer, Europa und die Oikoumene, in: ders., Gesammelte Werke (GW) 10, 271-274. 4 | Mirela Oliva, Das innere verbum in Gadamers Hermeneutik, Tübingen 2009. 5 | Vgl. Figal, Das Tun der Sache selbst, 85. 6 | Zur Theologie des inneren Wortes siehe folgende Klassiker: Augustinus, De Trinitate, auf www.unifr.ch/bkv/rtf/bkv205.rtf (hauptsächlich XV, 15); Thomas von Aquin, Der Prolog des Johannes-Evangeliums. Super evangelium s. Joannis lectura (caput I, lectio I-XI), Stuttgart 1986. Ferner Aurelius Augustinus, Die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, Leipzig 1888 (übers. von Otto F. Lachmann).
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Erschließung der Implikationen des inneren Wortes hinsichtlich der Gesamtheit des Sprachproblems auch weiterhin eine dringende Frage ist. Vielleicht können diese Implikationen im Weiteren in ein Licht gerückt werden, in dem nicht mehr einfach nach vorausgesetzten Dualismen, ja Widersprüchen der Gadamer’schen Argumentation gefahndet wird, sondern in dem die Konsequenzen, die sich aus den systematischen Zusammenhängen der Sache selbst ergeben, umsichtig präsentiert werden. Hermeneutisch gesprochen, soll es nicht das Ziel sein, Gadamer beim Wort zu nehmen, vielmehr soll die Tragweite des von ihm Gesagten tatsächlich verstanden werden. Diese Tragweite erscheint jedoch nicht unbedingt in den manifesten Zonen der Argumentation, eher ist sie als eine Art Unausgesprochenes im Text anwesend oder wirkt in ihm. Der Unterschied zwischen dem inhaltlichen Verstehen der Gadamer’schen Sprachtheorie und dem Vollzug dieses Verstehens existiert also nicht mehr. Wenn Verstehen immer nur Anders-Verstehen sein kann, dann kann es sich nicht in irgendeiner Rekonstruktion erschöpfen, auch wenn diese unerlässlich ist. Der sprachliche Komplex, der mit dem inneren Wort zusammenhängt, soll denn im Weiteren auch aus der Perspektive der Zeugenschaft betrachtet werden; es soll, wenn man so will, auf den Problemkreis des Zeugnisses angewandt, aber auch umgekehrt die Frage gestellt werden, inwiefern die Sprachreflexion Gadamers die nicht minder komplizierten Zusammenhänge von Zeugnis und Zeugenschaft erhellen kann. Diese Annäherung an das Gadamer’sche Korpus vollzieht sich nicht ausschließlich von außen, der Abstand verringert sich in Wahrheit und Methode, auf dessen letzten Seiten die verbale bzw. substantivische Form des Zeugnisses zweimal auftaucht. Zuerst korrigiert Gadamer im Zusammenhang mit dem Beispiel Hölderlins die traditionelle Rollenbestimmung des poetischen »Sehers«: »Vielmehr ist der Dichter ein Seher, weil er selbst darstellt, was ist, war und sein wird, und damit das, wovon er kündet, selber bezeugt.«7 Etwas später liest man in Verbindung mit der Inkarnation des Sinns, die sich in der Äußerung vollzieht: »Im Gedicht ist das Zur-Sprache-kommen wie ein Einrücken in Ordnungsbezüge, durch die die ›Wahrheit‹ des Gesagten getragen und verbürgt wird. Alles Zur-Sprache-kommen, nicht nur das der dichterischen Aussage, hat etwas von solcher Bezeugung an sich. ›Kein Ding sei, wo das Wort gebricht.«8 Das Zur-Sprache-kommen ist also zugleich ein Zeugnis, nicht nur Aussprechen, sondern die Bezeugung des Ausgesprochenen, es verbürgt oder beglaubigt das Ausgesprochene, das Wort wird zum »Bürgen« des Gesagten, um den Ausdruck eines anderen Aufsatzes von Gadamer zu gebrauchen.9 Leicht übertrieben gesprochen wird die Zeugenschaft gegen Ende des Buches zum Paradigma der Poetizität und damit auch der Sprachlichkeit.10 In Verbindung mit Hölderlin ahnt man Heidegger im Hintergrund, dessen George7 | Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, GW 1, Tübingen 1985, 492 (im Folgenden: WM). 8 | WM, 492-493. 9 | Hans Georg Gadamer, Sprache und Verstehen, GW 2, 198. 10 | Offenbar spielt auch hier das Spiel die Hauptrolle, mit ihm schließt das Buch, dagegen fällt gerade auch hier die Quasi-Möglichkeitsbedingung des »Glaubens« ins Gewicht, der unerlässlich für den Vollzug des Spiels ist (»Wir sind als Verstehende in ein Wahrheitsgeschehen einbezogen und kommen gleichsam zu spät, wenn wir wissen wollen, was wir glau-
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Lektüren ein Jahr vor Wahrheit und Methode in dem Band Unterwegs zur Sprache erschienen waren, und die Frage ist hier erlaubt, ob sie Gadamer dazu bewegt haben, das George-Zitat an den Schluss seines Werkes zu setzen.11 – Doch auf diesen Seiten macht sich auch eine interessante Spannung bemerkbar, da in Bezug auf Hölderlin mit Nachdruck von der Person des Zeugen gesprochen wird (»er selbst« kommt im selben Satz zweimal vor), während auf der folgenden Seite am Ende des Abschnitts im Kontext einer prinzipiellen Zusammenfassung verlautet, dass »diese Bestimmtheit durch die Situation und den Zusammenhang, die eine Rede zur Totalität des Sinnes ergänzt und das Gesagte erst gesagt sein läßt, […] nicht dem Sprechenden, sondern dem Ausgesprochenen zu[kommt]«.12 Wie kann nun die emphatische Betonung des Zeugen in Einklang mit der Aufwertung des Gesagten auf Kosten des Sprechers gebracht werden? Die zweite Behauptung taucht offenbar im argumentativen Zusammenhang auf: Im »spekulativen Geschehen« des Zur-Sprache-kommens ist die Wahrheit des Gesagten maßgeblich und nicht irgendeine »in der Ohnmacht subjektiver Partikularität verschlossene […]« Meinung, wobei sich das Verstehen auf die »Einfühlungsleistung« beschränken würde.13 Und doch, wie kann die Betonung des Subjekts oder des Ichs der Zeugenschaft mit dem methodologischen Primat des Sinnzusammenhangs des Gesagten in Verbindung gebracht werden? Vielleicht bietet gerade die Sprachlichkeit der Zeugenschaft eine Lösung: Der Zeuge ist ein singuläres, nicht austauschbares Subjekt (er und kein anderer) par excellence, gleichzeitig wird ihm sein Status nur vom Zeugnis (der Zeugenschaft) her zuteil, außerhalb dessen kann er nicht postuliert werden. Der Zeuge kann also nicht mit seiner Subjektivität an die Stelle seines Zeugnisses treten, denn dann würde er das Zustandekommen, das Gelingen der Zeugenschaft gefährden, er würde ein falsches Zeugnis leisten. Gleichzeitig kann es nicht nach Belieben ausgetauscht werden, die Zeugenschaft beruht auf seiner Singularität, bedarf ihrer.14 Es kann leicht sein, dass die Spannung, die die Gadamer’schen Passagen spüren lassen, auch dadurch nicht abgebaut werden kann, wobei auch eine gewisse Differenz zwischen den sprachlichen Dimensionen literarischer Selbstpräsentation und des philosophischen Sprachgebrauchs mitwirken mag. Ferner der Unterschied der Paradigmen der Verständigung in der Sache und des Sich-Verstehens im Anderen, den Hans Robert Jauß geradewegs als den Unterschied von philosophischer und liben sollen«, WM 494). Und, könnte man hinzufügen, für den Vollzug des Zeugnisgebens, das immer an den Glauben (die Beglaubigung), das Vertrauen, die Gegenzeichnung appelliert. 11 | Grondin bezieht sich im Zusammenhang mit der Hermeneutik der Faktizität (näher betrachtet geht es um das Verhältnis von actus signatus und actus exercitus) auch auf die Vorlesungen des frühen Heidegger, die stark von Augustinus geprägt waren und den jungen Gadamer beeinflusst haben mögen. Vgl. Grondin, Gadamer und Augustin, 25-30. Das Buch Luigi Alicis (Il linguaggio come segno e come testimonianza: una rilettura di Agostino, Rom 1976) konnte ich nicht beschaffen, dem Titel zufolge behandelt er auch die Frage des Zeugen im Zusammenhang mit Augustinus. 12 | WM, 493. 13 | Ebd. 14 | »Sprechen ist, wie wir betonten, niemals nur die Subsumtion des Einzelnen unter Allgemeinbegriffe. Im Gebrauch von Worten ist das anschaulich Gegebene nicht als Einzelfall eines Allgemeinen verfügbar gemacht, sondern im Gesagten selber gegenwärtig geworden – so wie die Idee des Schönen in dem, was schön ist, gegenwärtig ist.« WM, 493.
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terarischer Hermeneutik, den Punkt, in dem ihre Verstehensinteressen voneinander abweichen, proklamiert hat.15 Man kann nun fragen, ob das Sich-Verstehen im Anderen nicht eher der Seinsweise der Zeugenschaft nahesteht, die die Singularität fordert oder impliziert, und ob jener alte Streit damit nicht ein neues Moment hinzugewinnen würde? Um zur engeren Sprachproblematik bei Gadamer zurückzukehren: Das Wort bezeugt also grundlegend das Gesagte. Dieses Gesagte existiert nicht ohne das performative Moment oder das Versprechen der Zeugenschaft, was auch bedeutet, dass Gesagtes und Äußerung nicht voneinander getrennt werden können. Im Bewusstsein läuft kein kognitiver Prozess ab, der dann in der Form des ausgesprochenen Wortes mündet, auch statten sich schon vorhandene Wörter nicht mit neuem Sinn aus, sondern Denken und Zur-Sprache-kommen existieren in einer Isomorphie, gleichzeitig, d.h. sie geschehen, sie vollziehen sich prozessual, genauer, im Modus eines plötzlichen Übergangs.16 Gerade dank dieser Manifestation als geschehendes, 15 | Vgl. Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, 19. 16 | Humboldts Ansichten zum Schöpfungsakt der Sprache können hier hilfreich sein: Er versteht diesen Akt grundlegend als Synthese, die von der »Kraft« abhängig ist, er benutzt aber auch das Wort »Stärke«, im Sinne von »Intensität«. Vgl. das folgende Zitat, dessen Bedeutung zentral ist: »Da die Synthesis, von welcher hier die Rede ist, keine Beschaffenheit, nicht einmal eigentlich eine Handlung selbst ist, so kann es für sie kein besonderes Zeichen an den Worten geben, und das Bemühen, ein solches Zeichen zu finden, würde schon an sich den Mangel der wahren Stärke des Actes durch die Verkennung seiner Natur beurkunden. Die wirkliche Gegenwart der Synthesis muß gleichsam immateriell sich in der Sprache offenbaren, man muß inne werden, daß sie, gleich einem Blitze, dieselbe durchleuchtet und die zu verbindenden Stoffe, wie eine Gluth aus unbekannten Regionen, in einander verschmolzen hat.« Humboldt führt als Beispiel u.a. die Verbindung von Subjekt und Prädikat an und erinnert damit stark an die Hegel’sche Beschreibung des spekulativen Satzes (den Gadamer bekanntlich mehrfach als das herausragende Zeugnis der spekulativen Struktur der Sprache behandelt hat): Das Verbum »[knüpft] [d]urch ein und ebendenselben synthetischen Act […] durch das Sein das Prädicat mit dem Subjecte zusammen, allein so, daß das Sein, welches mit einem energischen Prädicate in ein Handeln übergeht, dem Subjecte selbst beigelegt, also das bloß als verknüpfbar Gedachte zum Zustande oder Vorgange in der Wirklichkeit wird. Man denkt nicht bloß den einschlagenden Blitz, sondern der Blitz ist es selbst, der herniederfährt; man bringt nicht bloß den Geist und das Unvergängliche als verknüpfbar zusammen, sondern der Geist ist unvergänglich.« Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Schriften zur Sprache, Stuttgart 1995, 167, 169. Die mehrfache Erwähnung des »Blitzes« kann von Nietzsche her gelesen mehr als vielsagend sein, er wäre das Emblem der »Intensität« (vgl. den Ausdruck »energisch«), die als »immaterielles« (!) Geschehen die Seinsweise der artikulativ-schöpferischen Kraft der Sprache bedeutet. Hegel sprach im Zusammenhang mit dem Beweggrund des spekulativen Satzes noch von »Schwere«: »Vom Subjekte anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es, indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten.« Die Phänomenologie des Geistes. Werke 3, Frankfurt
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»intensives« Sein existiert kein Unterschied zwischen dem inneren Wort und dem äußeren Wort. Die Äußerung phänomenalisiert nicht bloß instrumentell das innere Wort, sondern sie bringt das innere Wort zwischen Denken und Sprechen aus einem Stamm heraus artikuliert zur Geltung. Auch kann gesagt werden, dass das innere Wort kein Fall des Sich-selbst-sprechen-hörens (keine Verdoppelung) ist,17 ferner gibt es keine Metasprache für es.18 Deshalb ist das innere Wort kein Gegenstand der Reflexion,19 es stellt sich dem Intellekt nicht als solches dar, sondern es offenbart sich bzw. wird als Fund im Prozess des Denkens sagbar (dann jedoch schon als äußeres Wort). In diesem Prozess – des gemeinsamen Denkens und ZurSprache-kommens – ist keine Transformation ausschlaggebend, die sukzessive von einem zum anderen führt, sondern ein Entstehen, in dem das innere Wort nicht verändert, in seiner Äußerlichkeit zu etwas anderem wird und sich abnutzt, sondern in dem es überhaupt zum Dasein kommt. Die Gleichzeitigkeit dieses Entstehens nennt Gadamer auf den Spuren der Kirchenväter ein »Wunder« und macht die folgende weitreichende, entscheidende Feststellung: »Das größere Wunder der Sprache liegt nicht darin, daß das Wort Fleisch wird und im äußeren Sein heraustritt, sondern daß das, was so heraustritt und sich in der Äußerung äußert, immer schon Wort ist.«20 Dieser Satz spricht das Wesentliche der Problematik des inneren Wortes aus. Das Wort selbst tritt hervor, d.h. es wird sagbar, es bezeichnet keinen ihm vorausgegangenen Prozess oder konzipierten Tatbestand. Es geht hier um keine Phasenhaftigkeit oder gegenständliche Verdoppelung, sondern im Geschehen selbst tritt das Gesagte in seiner Offenbarung hervor oder: generiert Sinn. Dass hier nicht von einem Prozess der Wandlung die Rede ist, illustriert nach Gadamer am ehesten, dass er »kein Übergang von Potenz in Akt, sondern ein Hervorgehen ut actus ex actu« ist.21 Er kann nicht auf der Basis der Dualismen von Möglichkeit und Realisierung, Dynamis und Ergon, Potentialität und Wirklichkeit begriffen werden. Und eine weitere wichtige Implikation: Da das innere Wort immer schon Wort ist, kein spiritueller Inhalt, keine vorgängige Schematisierung, keine anthroa.M. 1970, 40. Vgl. WM, 470. (Gadamer erwähnt an anderer Stelle die »Gravitationskraft der Worte«, vgl. GW 9, 371.) Humboldt geht hier weiter in Richtung »Stärke« und Intensität und weist insofern schon auf Nietzsche. Es ist offensichtlich, dass die ganze Problematik nach einer eigenen Untersuchung verlangt. 17 | Vgl. GW 8, 418. 18 | Übrigens mag ihre Polemik gegen die Metasprache ein Berührungspunkt von Gadamer und Derrida sein (vgl. z.B. Die Einsprachigkeit des Anderen), diese mögliche Verbindung würde eine eigene Studie beanspruchen. Da Gadamer in einer Abhandlung, die sich mit Derrida beschäftigt, das »verbum interius«, die sprachliche Inkarnation – ganz in der Manier Derridas – als »eine Art quasi-transzendentale […] Bedingung der Möglichkeit, die mehr eine Bedingung der Unmöglichkeit ist« (Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 155) definiert, kann ferner angenommen werden, dass das innere Wort in gewissem Sinne die Vorbedingung jeder sprachlichen »Invention« sei. Derrida zufolge ist die einzige mögliche Invention immer die Invention des Unmöglichen, die er ebenso u.a. vom Begriffspaar Potenz–Realisierung abgrenzt (vgl. Jaques Derrida, Psyche: Erfindung des Anderen, Wien 2011). In dieser Richtung müsste (auch) gesondert geforscht werden. 19 | WM, 430. 20 | WM, 424. 21 | WM, 428.
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pologische Fähigkeit usw.,22 sondern weil es im Prozess des Denkens hervortritt, ist es gerade deswegen nicht reflektierbar, kein Gegenstand der Reflexion. Es zeigt sich, dass diese Bestimmungen auch ein Charakteristikum der zeugnisgebenden Praxis sein können: Die Emphase der Worte des Zeugen gründet auf einer ähnlichen Gleichzeitigkeit und einem ähnlichen Zustandekommen, wobei den Worten vor der geleisteten Zeugenschaft kein performativer Wert zu eigen ist, der Zeuge wählt als Gegenstand seines testimonialen Wirkens noch nicht einmal bereits gegebene Worte, viel eher manifestiert sich der mitteilende Charakter der Worte, dessen Sinn offen ist, als Zeugnisgeben und kann von dem Zeugnis nicht einmal hypothetisch getrennt werden. Wenn also inneres und äußeres Wort eine Einheit bilden, dann in der Zeugenschaft, oder, um den Zusammenhang genauer zu formalisieren: Das äußere Wort ist das Zeugnis der Gabe des inneren Wortes. Diese Gabe ist kein spirituelles Geschenk und tritt nicht durch das Wort nach außen, sie existiert auch nicht vorgängig, um dann im Zeugnis gleichsam aufgebraucht zu werden, sondern die Gabe oder das Sich-geben der Gabe fällt mit ihrer Bezeugung zusammen. Man könnte sagen, dass das wahre »Wunder« der testimonialen Kraft der Sprache nicht die Gabe des inneren Wortes ist, sondern die Gleichzeitigkeit, die Koinzidenz von Gabe und Zeugnis im sprachlichen Geschehen. Das sagbar gewordene Wort bezeugt dieses »Wunder« in und mit seinem Dasein und unabhängig von irgendeiner partikulären Intention. Die Manifestation, das Erklingen des Wortes ist als Sagbar-Werden das Wunder, das von dem selben Wort bezeugt wird (deswegen gibt es keinen platonischen Unterschied zwischen dem inneren und dem äußeren Wort, deswegen kommt es zwischen ihnen zu keiner Wandlung). Anders formuliert: Das Zeugnis birgt das Gebende des Wortes, die Gabe erfolgt nicht mit dem Ziel, das gegebene Wort danach zu bezeugen, sondern das Gebende des Wortes kommt im Zeugnis zum Dasein. Das Gabenhafte, das Gebende des Wortes ist keine »Möglichkeit«, die das Zeugnis »realisiert«, »verwirklicht«, sondern die Gabe fällt mit der Bezeugung ihres Gebenden (nicht nur ihres Was-seins)23 zusammen. Oder anders: Das Zeugnis ergibt erst das innere Wort, es ist nicht bloß sein Erhalt und dann seine Weitergabe. Zugleich kommt es dadurch, dass ein und dasselbe Wort »Wunder« (als Entstehung) und Bezeugung dessen sind, zu einer Art virtueller Verdoppelung (vom Ereignis des Wortes her, nicht aber als ontologische Voraussetzung), wodurch das Wort zum äußeren Wort wird. Aber nicht einfach dadurch, dass es erklingt, sondern weil es seinen Sprecher zum Zeugen seiner selbst macht (das »seiner selbst« sowohl im Sinne von Wort wie
22 | Diese Definitionen weist Gadamer zurück, vgl. z.B. GW 2, 206. 23 | Das Deutsche kann diese Struktur am prägnantesten ausdrücken: »das Gebende der Gabe«. Zur Gabe als »Verwahrnis« der »Gabe« vgl. Martin Heidegger, Was heißt denken?, Tübingen 1997, 5, 97. Auch hier geht Augustinus mit seiner Unterscheidung von »Gabe« (Geschenk) und »Gebendem« (Frucht) allen anderen späteren Überlegungen voran: »Von dir, mein Gott, hat er gelernt, das Geschenk von der Frucht zu unterscheiden. Das Geschenk ist die Sache selbst, dir gibt, welcher die Bedürfnisse darreicht, wie Geld, Speise, Trank, Kleidung, Obdach oder irgendeine Hilfe. Die Frucht aber ist der gute und rechte Wille des Gebers. Denn nicht sagt bloß der gute Meister, wer einen Propheten aufnimmt, sondern er fügt hinzu, in eines Propheten Namen; nicht sagt er nur, wer einen Gerechten aufnimmt, sondern fügt hinzu, in eines Gerechten Namen.« Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, Buch 13, Kap. 26.
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von Zeuge, im Sinne eines doppelten Besitzverhältnisses).24 Der Zeuge kann sich also nicht vom Ereignis seiner Zeugenschaft absondern. In all dem ist aber die Struktur des Öffentlichen des Zeugnisses impliziert, dass das Wort des Zeugnisses als gegebenes Wort also selbst auch auf Vertrauen oder Kredit, auf deren Geben angewiesen ist. Erneut wird hier die Seinsweise des Wortes erhellt: einerseits, dass es immer schon im Voraus Wort ist, andererseits, dass dieses Spezifikum nur im Format des äußeren Wortes, man könnte sagen, nachträglich manifest oder erkennbar wird. Das Wort wird dadurch zum äußeren Wort, dass der Andere ihm sein Vertrauen schenkt, nicht dadurch, dass es als empirisches Moment (dem Geschehen des Übertritts ins äußere Sein) eine Äußerung erfahren hat. Diese Sachlage kann jedoch zu ernsthaften Komplikationen bei der Deutung des performativen Status des inneren/äußeren Wortes führen. Zunächst mag aber in gewissem Maße einsichtig geworden sein, dass die Bedenken von Di Cesare und Figal größtenteils zerstreubar sind. Das Ereignis oder die Manifestation des Zur-Sprache-Kommens des inneren Wortes weicht strukturell mitnichten vom dialogischen Prinzip, dem Grundzug des Geschehens der Verständigung ab, es bedeutet im Grunde sogar dasselbe (enger gefasst z.B. mit der Betonung seines nicht-reflexiven Charakters).25 In Verbindung mit den Dilemmata Figals ist vor allem schwierig, dass er den Großteil seiner hermeneutischen Auffassung auf dem Begriffspaar von Möglichkeit (oder »Möglichsein«) und Verwirklichung ansiedelt. Gerade diese »Möglichkeit« hat Gadamer aber bei der Erörterung des inneren Wortes ausgeschlossen, und folglich hat Figal die sprachliche Inkarnation möglicherweise falsch verstanden, so dass die Operationalisierbarkeit seiner Polemik zumindest eingeschränkt wird. Die andere Annahme Figals zielt, wie bereits erwähnt, darauf ab, dass das Inkarnationsmodell oder das »Tun der Sache selbst« nicht mit der spekulativen Struktur der Sprache zu vereinbaren sei, die als Horizont des Unendlichen oder des Unausgesprochenen die endliche Offenbarung erfahrbar macht.26 Vielleicht gehören die beiden aber doch enger zusammen: Wenn das Wort nur in der Manifestation des inneren Wortes sagbar wird, dann geht das Inkarnierungsgeschehen des inneren Wortes schon im Voraus über die Fixierungen hinaus, die die Sprache vornimmt (das zeigt u.a. Gadamer mit der Interpretation des spekulativen Satzes von Hegel). Es öffnet sich also dem Unausgesprochenen, das gerade das Geschehen des inneren Wortes in den spekulativen 24 | »… der Gedanke [entzündet sich] in der Diktion, sofern er darin ins Freie kommt. Sich selbst sagt man etwas, sofern man sich selbst der andere sein kann.« Hans Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Frankfurt a.M. 1938, 117. Vgl. hier das HebbelZitat: »überall [gibt es für uns] nichts Ursprüngliches […], d.h. daß wir den Gedanken in dem Augenblick, wo wir uns seiner bewußt werden, schon zu etwas gemacht haben.« 25 | Bei Heidegger wird die Erfahrung des »ein Gespräch wir sind« »im Nennen der Götter und im Wort-Werden der Welt« konditioniert, vgl. Hölderlin und das Wesen der Dichtung, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1994, 40. Auch in den Bekenntnissen des Augustinus erscheint die innere Rede grundsätzlich als Gespräch, vgl. Reinhart Herzog, »Non in sua voce«: Augustins Gespräch mit Gott in den Confessiones, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.), Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik XI), München 1984, 238. Vgl. auch Oliva, Das innere verbum in Gadamers Hermeneutik, 86. 26 | »[…] jedes Wort läßt daher auch, als das Geschehen seines Augenblicks, das Ungesagte mit da sein, auf das es sich antwortend und winkend bezieht.« WM, 462.
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Horizont verlegt. Gerade das Verhältnis des »ut actus ex actu«, dessen virtuelle Gleichzeitigkeit lässt es zu, von einem spekulativen (nicht reflexiven) Verhältnis zu sprechen. Insofern werden die Wörter vom Unausgesprochenen her sagbar, das Unausgesprochene ist »gegenwärtig«, es spricht in ihnen, das ausgesprochene Wort ist kein bloßer Verweis auf das Unausgesprochene als eine Art Rest. Vielleicht besteht die »unheimliche Nähe« der Sprache nicht in der bloßen untrennbaren Einheit von Denken und Sagen (»Sichsagen«), sondern darin, dass das Sagen immer nur schon vom Unausgesprochenen her geschehen kann, während es zugleich von ihm aktiviert wird. Diese scheinbar zweifache – geschehnishafte und spekulative – Nähe ist einerseits für die nicht-reflexive Seinsweise des Wortes verantwortlich, die die »Selbstverbergung« der Sprache, dass sie sich ihr selbst entzieht, initiiert.27 Die Nähe ist also gerade auch Entzug, der Entzug oder die Suspendierung der (selbst-)reflexiven Objektivierbarkeit der Sprache. So wie es keinen Unterschied zwischen Geschehen und spekulativer Dimension gibt, existiert auch kein Widerspruch zwischen Nähe und Entzug. Deswegen kann Gadamer andererseits an mehreren Stellen von der »Virtualität« des Wortes sprechen,28 für die im gegenwärtigen Zusammenhang die Beziehung von innerem Wort und Unausgesprochenem der Anstoß sein kann.29 Die unheimliche Nähe der Sprache besteht demnach in der Anwesenheit des Unausgesprochenen, im nicht-reflexiven Wesen des Wortes sowie der zeitlichen Intensität des »Umschlagens«. Man könnte nun annehmen, dass das innere Wort identisch mit diesem Unausgesprochenen wäre,30 doch dann müsste es nicht »Wort« genannt, müsste nicht 27 | »So Drinsein im Worte, daß man ihm nicht als Gegenstand zugewendet ist, ist offenbar der Grundmodus alles sprachlichen Verhaltens. Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so daß das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewußten geborgen bleibt.« Sprache und Verstehen, GW 2, 198. 28 | Vgl. z.B. GW 2, 206, 370 und GW 10, 105. 29 | In der theologischen und der religiösen Tradition ist das menschliche Wort – im Gegensatz zur Abgeschlossenheit und Vollkommenheit des göttlichen Wortes – ein formbares Wort, die »Virtualität des Wortes« passt also in diesen Kontext. Vgl. WM, 428. Der grundlegende theologische Klassiker ist hier der Kommentar Thomas von Aquins zum Prolog des JohannesEvangeliums, vgl. Der Prolog des Johannes-Evangeliums. 30 | Grondin identifiziert an einer Stelle das innere Wort mit dem Unausgesprochenen, vgl. Gadamer und Augustin, 37-38. Di Cesare bestreitet das, ohne sich auf Grondin zu berufen und außerdem ohne weiter auf die Frage einzugehen (Donatella Di Cesare, Gadamer. Ein philosophisches Porträt, Tübingen 2009, 186). Die beiden Standpunkte zum Verhältnis des inneren Wortes und des Unausgesprochenen widersprechen sich also diametral. – Diesen Dualismus kann man auch in der Fachliteratur zu Augustinus beobachten: Tilman Borsche identifiziert das innere Wort mit dem »Gedanken« (Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1992, 164), was die Frage aufwirft, inwiefern dieser Standpunkt noch überzeugen kann, wenn der Ausgangspunkt die Gleichzeitigkeit von Denken und Sprechen ist. Spätere Erklärungen differenzieren an dieser Stelle, so z.B. Robert Markus: »The inner word is the condition of conceptualization or symbolisation, rather than a non- or pre-linguistic entity subsequently embodied in the audible or written word.« Communication and Transcendence in Augustins De Trinitate, in: Johannes Brachtendorf (Hg.), Gott und sein Bild. Augustins De Trinitate im
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»immer schon« (Gadamer) für ein Wort gehalten werden. Das innere Wort ist viel eher der Anspruch des Unausgesprochenen darauf, sprechen gelassen zu werden, ein Ruf an die Sprache, den das äußere Wort bezeugt, indem er in ihm zum Sprechen kommt. Ohne diesen Anspruch – als eine Art Sprache vor der Sprache – gibt es das Unausgesprochene nicht, die Bezeugung dieses Anspruchs gestattet es dem Unausgesprochenen zu entstehen, indem sie seine Präsenz, seine Insistenz aktiviert.31 Das äußere Wort antwortet auf den Ruf des Unausgesprochenen, wie Gadamer formuliert. Das innere Wort ist also nicht das Unausgesprochene selbst, sondern sein Anspruch darauf, zur Sprache zu kommen, z.B. als die Rückkehr des Unausgesprochenen eines Textes in die Sprache. Man kann in Verbindung mit dem inneren Wort, im Modus eines zweifachen Genitivs, von Gabe sprechen, weil das innere Wort nicht das Unausgesprochene selbst ist, sondern seine Gabe, d.h. das Gebende des inneren Wortes besteht darin, dass es den Ruf dieses Unausgesprochenen (als eine Art Mitteilbarkeit auch im Benjamin’schen Sinne) bedeutet oder übermittelt – im Modus oder im Medium der Bezeugung, die immer schon nach dem äußeren Wort (seiner Mitteilbarkeit) verlangt. Im philosophischen Sprachgebrauch kann das Unausgesprochene auch das zu Denkende sein, das sich, wie Heidegger einprägsam dargelegt hat, dem Denken entzieht, aber gerade deswegen das Denken mit sich zieht oder mit einem Zug versieht und Ereignis, ja Gabe bedeutet.32 Man könnte auch sagen, dass sich in der philosophischen Frage so gesehen weniger ein autonomes, souveränes kritisches Vermögen ausdrückt, als dass vielmehr die Fraglichkeit bezeugt wird.33 In diesem Zusammenhang werden auch die fundamentalen Stützen der Gadamer’schen Sprachauffassung deutbar, auf die hier nur verwiesen werden kann, indem im Grunde der sprachliche Wirkungskreis des Zeugen vor Augen gehalten wird. Das »Tun der Sache selbst« kann im Geschehen des Gesprächs bedeuten, dass seine Teilnehmer selbst, insofern sie es nicht »führen«, eher die Zeugen des Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000, 179. Johann Kreuzer sieht im inneren Wort dagegen eine Art Kantisches bzw. Benjaminsches Strukturmoment der Mitteilbarkeit, ferner ein »Entsprechungsverhältnis« von Sprache und Schweigen: Die Sprachlichkeit der Erinnerung. Überlegungen zum verbum intimum in Buch XV von De Trinitate, in: Johannes Brachtendorf (Hg.), Gott und sein Bild, 193, 199. 31 | Figal charakterisiert dies genau: Bei Gadamer »kommt [es] weniger darauf an, daß das Gesagte in den Kontext des Ungesagten gehört, sondern mehr auf die Gegenwärtigkeit des Ungesagten im Gesagten« (Figal, Das Tun der Sache selbst, 80). Freilich käme Figal die erste Option entgegen, die charakteristischerweise auf einer räumlichen Metaphorik aufbaut, während die »Gegenwärtigkeit« an die Geschehnishaftigkeit gemahnt, die Gadamer bevorzugen würde. Das Ausgesprochene gehört in den Kontext des Unausgesprochenen, später dann wird es durch das »Unvordenkliche« entzogen (ebd., 80-85) – so sehr diese Gedanken einen Anstoß geben können, so abstrakt bleiben sie auch in Figals Argumentation, dem, wenn ich mich nicht irre, die begrifflich-methodologischen Mittel fehlen, um ihre Implikationen auseinanderzusetzen. 32 | Vgl. Was heißt denken?, 1-6. 33 | Vgl. zu diesem Heideggerschen Thema (das auch Derrida in den Rang einer philosophischen Frage erster Ordnung erhoben hat) zuletzt Zoltán Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 349.
Das »innere Wor t« zwischen Gabe und Zeugnis
Gesprächs sind, das zugleich nicht ohne ihr Zutun entsteht. Der Zeuge muss dem Gespräch deswegen tatsächlich mit einer Art »Gelassenheit«, einer Art »Zulassen« begegnen, und ein Widerspruch zwischen dem »Tun der Sache selbst« und der (interpretativen) »Darstellung« ist hier nicht festzustellen.34 Ebenso wichtig ist es, darauf hinzuweisen, dass gerade deswegen vom Zeugen gesprochen werden kann, weil vom Tun der Sache selbst die Rede ist und nicht vom »Möglichsein«. Das »Möglichsein« appelliert nämlich immer an die Realisierung und steht damit offensichtlich im Gegensatz zum »Zulassen« der Haltung des Zeugen.35 Letztlich sollten auch die interpretationstheoretischen Zusammenhänge der Problematik aufgezeigt werden: Das innere Wort entspricht dem Vorverständnis, während das äußere Wort der Interpretation entspricht, die dieses Vorverständnis artikuliert.36 Ferner besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Bezeugung des Unausgesprochenen (im inneren Wort) und dem Zurücktreten der Interpretation, zu dem auch die Betonung der Sprachlichkeit des Hegelschen spekulativen Satzes durch Gadamer gehört, die den nicht-reflexiven Charakter des Wortes hervorhebt (da der spekulative Satz so zu einem echten sprachlichen Geschehen wird, indem er z.B. die grammatischen Kategorien außer Kraft setzt und die Verdinglichung der Sprache auflöst). Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Sprachauffassung und Poetik Hölderlins, die die Erfahrung des »ein Gespräch wir sind« zum poetischen Problem erhebt, in Wahrheit und Methode gerade und jenseits historischer Parallelen in der Nachbarschaft Hegels auftritt. Wichtig ist hier, wie das Problem der Zeugenschaft in Hölderlins Reflexion erscheint, das bekanntlich auch für Heidegger eine der Hauptfragen seiner diesbezüglichen Lektüren darstellte. Dem Prosagedicht Im Walde zufolge ist die Sprache »der Güter Gefährlichstes«, dem Menschen darum »gegeben«, dass »er zeuge, was/er sei geerbet zu haben …«.37 Der »Mensch« kann das Wesen seines Seins, das im Erbe liegt, das darin bestünde, dass er Erbe ist, demzufolge nur im Medium der Sprache bezeugen.38 Der »Mensch« erscheint in 34 | Im Gegensatz zu dem, was Figal suggeriert, vgl. Das Tun der Sache selbst, 69. 35 | Wiederum ein Widerspruch, der Figal nicht auffällt, der sich Heidegger und Gadamer doch geradezu mit dem Pathos von »Klärung« und »einleuchtend« nähert. Die Warnung Nietzsches verfängt nicht beim Autor der so herausragenden Nietzsche-Kurzmonografie: »… aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend.« Sämtliche Werke, KSA 12, Berlin/New York 1980, 540. 36 | Vgl. zur Beziehung von Verstehen und Deuten WM, 401-404. (Man kann hier lesen, dass »[d]as auslegende Wort […] insofern stets etwas Akzidentelles [hat], als es durch die hermeneutische Frage motiviert wird […] weil Verstehen immer ein echtes Geschehen ist«. Das »Akzidentelle« kann mit dem in Verbindung gebracht werden, was im Verbum-Kapitel über das Wort als der Akzident des Geistes gesagt wurde.) Vgl. im Zusammenhang mit Augustinus, der diese Deutungs-Frage in das Zentrum seines vielschichtigen Denkens gestellt hat, Tilman Borsches Feststellung, dass sich »[d]ie Differenz zwischen äußerem Sprechen und innerem Denken […] [auf der Ebene des inneren Wortes] als eine zwischen aktuellem Denken und potentiellem Wissen wiederholt.« Borsche, Was etwas ist, 165. 37 | Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe I, München 1992, 265. 38 | Vgl. Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 36 (weitere Seitenzahlen erscheinen im Haupttext in Klammern). Auch Lipps spricht über die Sprache als Erbe, das gleichzeitig einen anthropologischen Inhalt konditioniert: »Denn Erbe bezeichnet die ange-
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einer doppelten Perspektive: Er ist »[j]ener, der zeugen muß, was er sei«, zugleich verweist dieses Zeugnis darauf, dass der Mensch Erbe ist. Keines der beiden kann also als gegeben gelten, weder, »was« der Mensch sei, noch, ob das Erbe vererbt werden kann, das ja erst durch die Sprache bezeugt wird und also nicht als solches gegeben ist. Der »Mensch« wird nur durch die sprachliche Bezeugung dieses Erbes zum Menschen, weder das Erbe noch die Sprachlichkeit des Zeugnisses sind Gegebenheiten, über die verfügt werden kann, sie sind keine »Möglichkeiten«, die »verwirklicht« werden müssten. Der »Mensch« kann dieses Erbe also nicht direkt, sondern nur durch die Sprache bezeugen, es ist nicht unterscheidbar vom sprachlichen Zeugnis, das dem Menschen zugleich aber nicht eigen ist, denn die Sprache wurde dem Menschen »gegeben«. Jedoch nicht als Besitz oder Fähigkeit, sondern als das Medium der Bezeugung seines Erbe-Seins. Das Zeugnis ist kein Beispiel des Menschseins als des Besitzers von Fähigkeiten, es ist auch nicht einfach dessen Ausdruck (einer vorgegebenen Entität),39 das Menschsein zeigt sich nur in der Bezeugung, die also kein Beispiel der Universalität des »Menschen« ist, sie bezeugt den Menschen in seinem eigenen Sein – was bedeutet: als Erbe. Die Exemplarität des Zeugnisses verweist also nicht auf eine universelle Eigenschaft, sondern auf das geschichtliche Sein des Menschen, könnte man mit einem von Heidegger anderswo gebrauchten Ausdruck hinzufügen. Worin besteht das Erbe-Sein des Menschen von der Sprache her, ihre Gegenseitigkeit, ja ihr gewisses Zusammenfallen im vorliegenden Zusammenhang? Die Sprache ist das Medium des inneren Wortes, das das Unausgesprochene aufschließt oder ruft (zugleich ist der Ruf des Unausgesprochenen auch das innere Wort selbst), und aus dieser Sicht ist der Mensch keine Substanz, kein benennbarer Bestand als Tradition, sondern grundlegend der Erbe des Unausgesprochenen (und zugleich: seines eigenen Vorverständnisses), einer Art Latenz.40 Nur durch die stammte Substanz eines Menschen. Meine Sprache – das bin ich selbst. Die Muttersprache lernt man ineins damit, daß man überhaupt sprechen lernt.« Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, 79. Die Erbe-Problematik, die in der Zwischenkriegszeit (Dezső Kosztolányi bietet sich als ungarisches Beispiel an) im Zusammenhang von Sprache und Menschsein an Bedeutung gewinnt, ja schon die damalige Mehrung philosophischer Anthropologien kreist um das Problem der Abgrenzung, der Bestimmung der anthropologischen Kondition, evtl. des anthropologisch Wesentlichen, das durch die Geschichte unlesbar geworden ist. 39 | Heideggers Ausdruck ist hier »beiherlaufend«, was die Assoziation mit »beiherspielend« erlaubt, ein verbaler Ausdruck, der im Deutschen die Wurzel von »Beispiel« bildet. 40 | Dieses Unausgesprochene nennt die Augustinus-Fachliteratur in der Regel die »abgründigere Tiefe unseres Gedächtnisses« (»abstrusior profunditas memoriae«, De Trinitate, XV, 21, 40), das »potentielle Wissen« (vgl. oben Borsche) oder das »implizite Wissen« (eine Art »je ne sais quoi«, vgl. De Trinitate, XV, 25). Vgl. Kreuzer, Die Sprachlichkeit der Erinnerung, 186, u. Grondin, Gadamer und Augustin, 31. Die Sätze aus De Trinitate sollen hier vollständig zitiert werden: »Aber dort ist die abgründigere Tiefe unseres Gedächtnisses, wo wir auch jene Inhalte finden, die wir zum ersten Male denken, und wo das innerste Wort gezeugt wird, das keiner Sprache angehört, als Wissen von Wissen, Schau vom Schauen und als Einsicht von Einsicht; im Denken nämlich erscheint die Einsicht, welche von jener Einsicht stammt, die schon im Gedächtnis war, aber verborgen. Freilich, wenn nicht auch das Denken selber eine Art Gedächtnis hätte, würde es nicht zu dem zurückkehren, was es im Gedächtnis zurückließ, wenn es anderes dachte.« De Trinitate, 321.
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Sprache öffnet sich ein Zugang zum Unausgesprochenen, zugleich ist aber gerade die Sprache (ein bestimmter Sprachgebrauch) dafür verantwortlich, dass dieses Unausgesprochene verdeckt wird (wodurch die Bedeutung des »Menschen« oder des »Menschlichen« unlesbar wird). In der Beschreibung Hölderlins werden der Sprache performative Attribute verliehen (»schaffend, zerstörend«), und für Heidegger wird gerade in Frage stehen, worin dieser Charakter als Gefahr durch die Sprache besteht. Diese Gefährlichkeit erscheint nicht als Drohung von außen, sondern als durch die Sprache erschaffene Gefahr, sie taucht als »Möglichkeit des Seinsverlustes« (37) auf. Darüber hinaus »birgt [die Sprache] in sich selbst für sich selbst notwendig eine fortwährende Gefahr« (ebd.), die »furchtbare Nähe« der Sprache erscheint gerade in der potentiell immer anwesenden Drohung gegen sie selbst. In der Sprache kann »das Reinste und das Verborgenste ebenso wie das Verworrene und Gemeine zu Wort kommen«, und man könnte anstelle von »zu Wort kommen« auch sagen: kann bezeugt werden. Beide kommen in ähnlicher Weise als Gesagtes zum Ausdruck, das »Wort als Wort« kann die eigene performative Qualität nicht unmittelbar gewährleisten oder die Verantwortung für sie übernehmen, ob es also ein »wesentliches Wort oder ein Blendwerk« (ebd.) ist. Das Wort, das einfach, gewöhnlich scheint, kann ein wesentliches Wort in sich bergen, doch gerade der Aspekt des Äußeren erlaubt es, als unwesentlich verbucht zu werden, während das Wort, das sich mit dem Anschein, der Rhetorik des Wesentlichen wappnet, eben auch bloßes »Auf- oder Nachsagen« sein kann. »So muss sich die Sprache ständig in einen von ihr selbst erzeugten Schein stellen und damit ihr Eigenstes, das echte Sagen, gefährden« – beschließt Heidegger diese Beobachtungen (ebd.). Überträgt man diese Erkenntnis wieder auf die Gedanken Hölderlins, so könnte man sagen, dass gerade die sprachliche Bezeugung, die Offenbarerin des menschlichen Seins, das Eigene des Menschen, die Erfahrung des Erbe-seins am ehesten gefährdet. Der Zeuge selbst kann sich mit seinem Zeugnis selbst verfehlen und damit auch die wahre Herausforderung der Zeugenschaft. Dieser »Schein«, um einen Begriff Gadamers zu gebrauchen, ist der Effekt der sich selbst verbergenden Sprache: Die Sprache hat die Fähigkeit, auf gleichsam zweifache, chiastische Weise sowohl die wesentliche Dimension als auch die triviale Leere des Wortes zu verbergen und relativiert dadurch die Vergewisserung hinsichtlich des performativen Wertes der Mitteilung, d.h. sie bestätigt gleichermaßen das wesentliche und das falsche Zeugnis. Die Sprache kann nicht nur in Verbindung mit referenziellen Tatsachen täuschen (wie, sagen wir: das Bild), sondern sie kann die »Zusage« (das heißt das innere Wort), die ihr selbst und im strikteren Sinne dem Zeugnis als Grundlage dient, verbergen, ambivalent machen.41 Die sich 41 | Das Problem der Lüge hat auch Augustinus beschäftigt, der es allgemein auf die »Differenz zwischen Denken und Sprechen«, hier auch zwischen dem vor jeder Sprache existierenden inneren Wort und der aktuellen Äußerung, zurückgeführt hat (vgl. Borsche, Was etwas ist, 164). Lipps kommt am Ende seiner Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (141-142) auch dieser Einsicht nahe: »Das Wort könnte nicht zur Verdeckung werden und als Deckung gebraucht werden, wenn es als Wort nicht ent-bergende Herausstellung wäre. So wie auch die Erscheinung als etwas bezeugend Erscheinung und gerade insofern wiederum bloßer Schein sein kann.« Im darauffolgenden und zugleich letzten Passus geht er aber über diese eher phänomenalisierende Auffassung, über den gegenständlichen Verweis hinaus
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selbst verbergende Sprache hat also gegenüber der (Selbst-)Reflexivität einen Preis: Sie fällt mit dem problematischen Zug der Wahrheit des sprachlichen Zeugnisses zusammen. Das sich selbst verbergende Wort wäre formal in Zusammenhang mit dem inneren Wort zu bringen, während seine »Entbergung« dem äußeren Wort zuzuordnen wäre – das Zusammenspiel von Verbergen und Entbergen könnte vor dem Hintergrund der Frage nach der Aufrichtigkeit ebenfalls auf die Problematik von innerem und äußerem Wort zurückgeführt werden. Gadamer macht bei der Erläuterung der spekulativen Seinsweise der Sprache – nach einem Abschnitt, in dem erneut die Figur des Zeugen auftaucht (im Zusammenhang mit dem Verhör) – die viel zitierte Feststellung: »Sagen, was man meint, sich Verständlichmachen, hält« – im Gegensatz zum »entstellte[n] Sinn« des Protokolls – »das Gesagte mit einer Unendlichkeit des Ungesagten in der Einheit eines Sinnes zusammen und läßt es so verstanden werden«. Danach folgt eine Passage, die als herausragendes Beispiel für die integrativen Bemühungen Gadamers dienen könnte. »Wer in dieser Weise spricht« – fährt Gadamer fort – mag nur die gewöhnlichsten und gewohntesten Worte gebrauchen und vermag doch eben dadurch zur Sprache zu bringen, was ungesagt ist und zu sagen ist. Insofern verhält sich, wer spricht, spekulativ, als seine Worte nicht Seiendes abbilden, sondern ein Verhältnis zum Ganzen des Seins aussprechen und zur Sprache kommen lassen. Damit hängt zusammen, daß, wer Gesagtes weitersagt, genau wie der, der Aussagen protokolliert, gar nicht bewußt zu entstellen braucht und doch den Sinn des Gesagten verändern wird. 42
Diese Sätze klingen, als würde Gadamer auf die Befürchtungen Heideggers antworten, dass die Sprache sich selbst eine Gefahr bedeutet (»die gewöhnlichsten und die gewohntesten Worte«, vgl. das sich selbst »gemein machende« Wort bei Heidegger, und hebt den Versprechenscharakter des Wortes hervor, der unerlässlich für die Wahrheit des Wortes ist. Das Problem des falschen Zeugnisses taucht auf dieser Ebene aber nicht mehr auf (wie noch zuvor im Zusammenhang mit dem »Schein«). – Gadamer beschäftigt sich in seiner Studie Von der Wahrheit des Wortes mit der Performativität des Wortes (und bezieht sich auf Austin), indem er den Begriff der »Zusage« in Verbindung mit der Frage des gegebenen Wortes bringt und unter anderem den Ausdruck der »Entbergung« auf das Zeugnis bezieht (obwohl er nicht von »Zeugnis« redet). Die »Entbergung« erhält hier »eine ontologische Bedeutung, d.h. charakterisiert nicht ein Verhalten oder Sich-äußern von jemandem oder von etwas, sondern sein Sein (wie auch ›Aletheia‹ die Charaktereigenschaft der Aufrichtigkeit bedeuten kann).« (Von der Wahrheit des Wortes, in: ders., GW 8, 38). Gadamer stellt hier ausdrücklich das Subjekt des Zeugnisses in den Mittelpunkt. Eine andere Studie thematisiert das Problem der »Zusage« auch in Verbindung mit dem Versprechen, das nur dann ein erfolgreiches Versprechen ist, wenn es als solches angenommen wird, wenn ihm Glauben geschenkt wird (Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, in: ders., GW 8, 74). Interessanterweise genügt die Sprache auch bei Humboldt aller Unzulänglichkeit zum Trotz »jedem dazu, insofern überhaupt immer dürftig bleibende Worte dem Drange des Ausdrucks der innersten Gefühle zusagen«. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 137. Die synthetische »Kraft« des Verbums hat sich aber im Sanskrit »den ihm allein zusagenden Ausdruck, einen rein symbolischen geschaffen, ein Beweis seiner Stärke und Lebendigkeit.« Ebd., 176. 42 | WM, 473.
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der Hölderlin paraphrasiert). Der Zeuge, der nun zwischen wahrer und falscher Zeugenschaft oszilliert, scheint die spekulative Dimension der Sprache jedoch zu überschatten oder zu verdunkeln (obwohl er ohne sie keine sprachliche Anwesenheit hätte), und er tut dies zudem nicht einmal »bewusst«. Seine Beziehung zur Sprache ist also nicht-reflexiv, er spricht als authentischer Sprachbenutzer, der im Einklang mit der sich selbst verbergenden Sprache ist, und doch kann ein falscher Zeuge aus ihm werden, ja er ist es schon, wovon er, wenn überhaupt, aber erst im Nachhinein Kenntnis erlangt. Gerade weil das Sprechen als performatives Sagen funktioniert, weil es keine (in erster Linie) referenziellen Interessen bedient (vgl. »Abbildung«), kann die Zerbrechlichkeit sprachlichen Geschehens zu Tage treten. Oder gerade die spekulative Relation, die Unendlichkeit des Unausgesprochenen, verantwortet das falsche Zeugnis, in dem das Unausgesprochene sich zugleich entzieht und den Spiegel des spekulativen Bezugs entleert oder verdunkelt.43 Der falsche Zeuge bedeutet also den Bruch der spekulativen Spiegelung, die ihn erst zum Vorschein bringt, die Unterbrechung der Beziehung zum Sein als Ganzes, den Hiatus in der Bezeugung des inneren Wortes, die Verdoppelung der furchtbaren Nähe der Sprache. Wäre er damit eine Spielart der »Unterbrechung«, mit der Derrida die Unendlichkeit, die Ununterbrechbarkeit des hermeneutischen Dialogs konfrontiert?44 Gadamer führt in seinem späteren Werk gegenüber den performativen Verwicklungen der Mitteilung und seiner Absicht nach jenseits dieser das Beispiel des poetischen Textes an, dessen Wesen, in sich selbst zu bestehen, dessen eminenter Charakter, ja dessen selbstauthentifizierende Seinsweise falsche Mitteilungsabsichten und damit das Problem des falschen Zeugen entkräfte, über sie hinausgehe.45 Die These, dass der poetische Text in sich selbst besteht, gerät jedoch in einen nur schwer zu lösenden Widerspruch zu einer anderen wichtigen Prämisse Gadamers selbst, wonach die poetischen Texte nur im Zurückkommen auf sie anwesend und gegenwärtig werden.46 Das heißt, der poetische Text findet sich in seinem Ausgelie43 | Vgl. das Dilemma Figals im Verhältnis zwischen dem Einen und dem Vielen, möglicherweise entspringt dieses aber einer räumlichen Sicht und kann insofern auch nicht Rechenschaft über die Geschehnishaftigkeit des sprachlichen Ereignisses und seine Komplikationen ablegen (gerade weil das Ausgesprochene auf irgendeine Weise immer auf das Unausgesprochene verweist, kann es sich auch entziehen). Zugleich fragt Figal zu Recht auch – in Verbindung gerade mit dem o.g. Zitat zum Weitersagen – nach der »Ungreifbarkeit des Zusammenhanges«, »in dem eine sprachliche Äußerung steht, und dessen sie sich nicht versichern kann?« Figal, Das Tun der Sache selbst, 81. 44 | Vgl. Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht, in: Jacques Derrida/Hans-Georg Gadamer (Hg.), Der ununterbrochene Dialog, Frankfurt a.M. 2004. 45 | »Das dichterische Wort ist also in dem Sinne Aussage, daß diese Sage sich selbst bezeugt und nichts anderes, das sie verifiziert, zuläßt.« Über den Beitrag der Dichtkunst bei der Suche nach der Wahrheit, 75. Vgl. auch Von der Wahrheit des Wortes, 55, ferner GW 10, 77. Am Ende von Sprache und Verstehen erscheint das Wort als »Bürge«, und »wir sind […] besonders im dichterischen Sprachgebrauch« »in ihm zuhause.« (GW 2, 198). 46 | Text und Interpretation, GW 2, 351. Gerade die Befreiung dieser Texte von jedem vorgängigen pragmatischen Kontext (sie können in sich selbst bestehen), sagt Gadamer, öffnet sie wesentlich dem Zurückkommen auf sie. Man könnte hinzufügen, dass aber genau diese ursprüngliche Offenheit, dieses Angewiesensein auf Beglaubigung, sie nicht davor schützen kann, falsch gelesen zu werden.
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fertsein an das Lesen erneut im Dilemma der Zeugenschaft wieder, dem Dilemma zwischen dem Text und (seiner) Lektüre. Als Beispiele können dafür einzelne Gedichte dienen (von denen einige im weiteren Verlauf behandelt werden sollen), die wichtige Momente der Dichtungsgeschichte artikulieren. Die hermeneutische Notwendigkeit des Zurückkommens auf den Text basiert auch dann auf der textuellen Seinsweise, wenn der Gegenstand ein mündlicher »Text« ist, da die Iterabilität, die gewährleistet, dass er weitergesagt werden kann, ihn von Anfang an zu einem Text macht.47 Das Weitersagen des Gesagten im oben zitierten Beispiel Gadamers zitiert das Gesagte also schon als potentiellen Text und verändert zugleich auch dessen Sinn.48 Gerade das bedeutet den Komplex der Bezeugung des inneren Wortes: Das innere Wort wird im Weitersagen des äußeren Wortes gleichsam textualisiert. Die Feststellung des inneren Wortes kann so aber immer nur nachträglich sein, was bedeutet, dass es untrennbar mit dem äußeren Wort verbunden ist, und das heißt radikal verstanden, dass die Kraft, die Insistenz des Unausgesprochenen (oder der Virtualität) des inneren Wortes von der Nachträglichkeit des äußeren Wortes her denkbar oder erfahrbar ist. Insofern stimuliert, genauer: intensiviert das Medium der Textualität sozusagen die Potentialität des inneren Wortes.49 Gleichzeitig birgt gerade dieses äußere Wort als Folge seiner Äußerlichkeit die Gefahr des Vergessens, ferner die nie auszuschließende Möglichkeit der Verfehlung des inneren Wortes, die Möglichkeit des falschen Zeugnisses, selbst dann, wenn dieses »nicht bewusst« abgelegt wird, ja sogar das Interesse des Textes (seines inneren Wortes) ist. Der Text als das Medium der Nachträglichkeit und die ursprüngliche Iterabilität des Zeugnisses prägen sich wechselseitig.
47 | Humboldt hat im Zusammenhang mit dem Staunen über den gelungenen Ausdruck, das Gefallen, das sich darin manifestiert (ein wichtiger Effekt der Bezeugung des inneren Wortes) formuliert: »Die Bewunderung und das Gefallen wenden sich nun zu Einzelnem glücklich ausgedrückten. Lieder, Gebetsformeln, Sprüche, Erzählungen erregen die Begierde, sie der Flüchtigkeit des vorübereilenden Gesprächs zu entreißen, werden aufbewahrt, umgeändert und nachgebildet.« Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 136. 48 | Der von Lipps zitierte Hebbel-Satz bezieht sich auch auf diese hermeneutische und artikulatorische Gleichzeitigkeit: »… dass wir den Gedanken in dem Augenblick, wo wir uns seiner bewusst werden, schon zu etwas gemacht haben.« 49 | Es ist kein Zufall, dass bei Augustinus (Bekenntnisse) das Lesen zum medialen und hermeneutischen Paradigma der Erfahrung des inneren Wortes wird. Vgl. hier zur Beziehung von Text und persönlichem Aufruf Herzog: »Non in sua voce«, 222-223 u. 226-231, zur Textdeutung und zur komplexen Interrelation autobiographischen Formulierens ebd., 246-247. Vgl. auch Attila Simon, Lesen und Bekenntnis. József Baloghs Interpretation des Heiligen Augustin, in: Ernő Kulcsár Szabó/Dubravka Oraić Tolić (Hg.), Kultur in Reflexion. Beiträge zur Geschichte der mitteleuropäischen Literaturwissenschaften, Wien 2008, 219-234. Kreuzer zufolge ist das innere Wort nicht aussprechbar, man kann sich seiner nur im Medium des äußeren Wortes erinnern sowie es übersetzen (Die Sprachlichkeit der Erinnerung, 197-199). Es ist sozusagen eine Sprache vor der Sprache, die sich nicht als solche ergibt, sondern nur in der Übersetzung in das äußere Wort als Zielsprache. Diese Denkfigur kann über Benjamin (in den Sprach- bzw. Übersetzungsstudien und im Proust-Essay: »Bilder, die wir nie sahen, ehe wir uns ihrer erinnerten«) bis zu Derrida verfolgt werden (vgl. Die Einsprachigkeit des Anderen).
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Diese Wechselseitigkeit macht die späte Hinwendung Gadamers zum Problem der Schriftlichkeit vielleicht verständlicher. Die Motivation der Versprachlichung nennt er mehrmals den »Drang zum Wort«,50 der als der o.g. Ruf oder Anspruch identisch mit dem inneren Wort wäre. Über das einzelne Wort hinaus kommt Gadamer zur Artikulation der Rede (genauer: kehrt zu ihr zurück)51 und konstatiert im »Gebrauch der Wörter«, im »Geschehen sprachlicher Wiederholung« den »Drang zur Fixierung«,52 indem er sich auf die Identität von Phrasen und Formeln (»Gebet, Segen, Fluch«) beruft, wobei, könnte man sagen, der Drang oder Impuls selbst – als der (vorgängige) Effekt der (quasi-nachträglichen) Wiederholbarkeit – das eigentliche Geschehen ist.
D as dichterische Z eugnisgeben und der falsche S chwur (H ölderlin) In der Testimoniopoetik Hölderlins spielt die Redesituation der Bezeugung in einem seiner wichtigsten Gedichte, das vielen Meinungen zufolge den Wendepunkt seiner Dichtung markiert, eine bestimmende Rolle. Die dritte Strophe der Hymne Wie wenn am Feiertage … verknüpft die Geschehnishaftigkeit der Rede mit der Sagbarkeit des Ereignisses auf chiastische Weise: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort«.53 Das, »[w]as ich sah«, muss zum »Wort« werden, dem Wort des Ich. Zur Funktion dieses Sprechens wird das Zeugnisgeben selbst, für dessen Gelingen gibt es aber keineswegs eine Garantie, denn die Anwesenheit des »Heiligen« ist hier einer Bemerkung Paul de Mans zufolge nicht gegeben, und insofern sind diese Zeilen eher als eine Art Gebet zu lesen,54 das das Kommende antizipieren, aber nicht schaffen kann. Die Grammatik des Satzes spiegelt das auch wider, indem sie mindestens zweimal, mit zwei Pronominalformen, auf das »Heilige« verweist, zuerst mit dem unbestimmten »es«, dann mit dem relativen »was«, während es den Namen des »Heiligen« im eigenen »Wort« benennt, genauer: diktiert (»sei«). Diese anaphorisch-transferierende Grammatik wirkt auch in der Präsentation der »Natur« in den nächsten Zeilen, wo der Text sie zuerst nur in der deiktischen Form des Pronomens, bei50 | Z.B. GW 8, 143. Ferner: ders., Europa und die Oikoumene, GW 10, 273. Der »logos« lässt sich hier vom bezeichnenden Wort (»onoma«) abgrenzen, insofern »seine eigenste Bedeutung« einen »Zusammenhang« voraussetzt, womit »wir [aber] schon auf dem Wege zur Schrift sind und zu so etwas wie Grammatik. ›Grammatik‹ heißt ja wörtlich ›Schriftkunst‹ …« 51 | Ein weiteres Humboldt-Zitat: »In der Wirklichkeit wird die Rede nicht aus ihr vorangegangenen Wörtern zusammengesetzt, sondern die Wörter gehen umgekehrt aus dem Ganzen der Rede hervor«. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 68. 52 | Unterwegs zur Schrift?, GW 7, 258-261. Die Heidegger-Allusion des Titels könnte zu weiteren Implikationen führen. 53 | Die Zitatgrundlage ist die Ausgabe von Knaupp, Sämtliche Werke und Briefe I, 262-264. 54 | De Man hat diese Möglichkeit in der Kritik der Hölderlin-Lektüre Heideggers untersucht, vgl. Heidegger’s Exegeses of Hölderlin, in: ders., Blindness and Insight, Minneapolis 1983, 258. Vgl. ferner Hans-Jost Frey, Das Heilige und das Wort, in: Thomas Schestag (Hg.), »geteilte Aufmerksamkeit«. Zur Frage des Lesens, Frankfurt a.M. 1997 (Debrecener Studien zur Literatur. 3).
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nahe stotternd (»sie, sie selbst«), antizipierend-ahnend erwähnt und zwei Zeilen weiter beim Namen nennt.55 In dieser Artikulation inszeniert der Text gleichsam die Übertragung des inneren Wortes in das Sprechen: Die Bezeichnung, der »actus signatus«, mündet im Gebet oder im Versprechen und identifiziert sich mit dem »Wort«, wobei das »Heilige« gleichsam als gegebenes Wort oder als Gabe des Wortes angezeigt wird.56 Eine Gabe jedoch, die durch die vielfältige Lesbarkeit des »sei« in einer proleptischen Perspektive verharrt. Das »(eigene) Wort« selbst erfährt eine grammatische und mit der Mehrdeutigkeit des »sei« eine performative Verschiebung, es weist einen Unverfügbarkeitsaspekt auf: Das »Wort« der Bezeugung existiert nur im Kommen. Die Kontamination von Versprechen und Bezeichnung deutet auf die zerbrechliche performative Seinsweise des Zeugnisses, dessen Wahrheit – gerade hinsichtlich der Konstituierung ihres Objektes durch die Rede – an-künftig bleibt, d.h. gegensignaturabhängig ist. Denn »das Heilige sei mein Wort« kann als Moment der Selbstermächtigung oder der Selbstbeglaubigung des Diskurses (als eine Art Schwur wie etwa: »Ich schwöre beim Heiligen«), als die Gabe des eigenen Wortes (»mein Wort«) gelten, die jedoch eher als Aufruf oder Versprechen zu deuten ist (im Modus des Gebets), wobei einerseits das »Heilige« für das eigene Wort bürgen müsste, andererseits ein nicht näher bestimmbares Du, vor dem das Ich einen Schwur ablegt. Dieses Sprechen kann sich – als Bezeugung – nicht selbst begründen, es kann nur an die Authentifizierung durch verschiedene Instanzen appellieren, wobei diese auch zu Zeugen des eigenen Sprechens werden. Der Zeuge gibt das Wort also nicht nur, mindestens im selben Maße bekommt er es auch, diese Wechselbeziehung deutet auf die Seinsweise des Zeugnisses (und es ist kein Zufall, dass gerade die flektierte Form des Seinsverbs, das »sei«, die Ursache dieser Verwicklungen ist). Denn es ist das Heilige selbst, das das »Wort« gibt, das nur dadurch zur Gabe wird, dass es heilig ist und nicht umgekehrt (man nennt nicht die Gabe durch ihren Erhalt heilig).57 Diese Asymmetrie zwischen der Gabe und dem Empfänger der Gabe (der die Gabe nicht sich selbst gibt) zeigt an, dass die Syntax des »das Heilige sei mein Wort« nicht umgekehrt werden kann. Zugleich kann das Heilige nicht ohne die Bezeugung erfahren werden, die sich im Empfang der Gabe vollzieht, man kann über es nur in Bezug auf diese Gabe sprechen, was potentiell aber auch eine Abkehr vom Heiligen bedeutet. So verharrt die Gabe im Kommen, d.h. sie kann letztendlich nicht benannt werden. Hölderlins Zeilen bedeuten gleichsam die poetische Variante des spekulativen Satzes: Das »Heilige« existiert nicht als Subjekt in sich, um dann mit einer Aussage versehen zu werden, sondern es kann sich nur im Medium des »Wortes« manifestieren. Offenbar be-
55 | Vgl. Rainer Nägeles genaue Beschreibung der »Eigenart des poetischen Prozesses bei Hölderlin«: ›Uneßbarer Schrift gleich‹. Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung, Stuttgart 1985, 175. 56 | Vgl. die berühmte Formulierung der siebenten Strophe zur Aufgabe der »Dichter«: »… dem Volk‹ ins Lied/Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen.« 57 | Gadamer ringt an einer Stelle den Formeln von »formale[r] Kraft und Fähigkeit« eine Deutung der Sprache ab (die Sprache ist »ein vorgängiges Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen«) und stellt die Frage: »Ist nicht die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der Dinge?« Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge, GW 2, 72-73.
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deutet das nicht die Identität des Heiligen und des Wortes, hängt doch auch ihre Beziehung selbst vom Versprechen ab, dem im Wort gegebenen Versprechen. Das Kommen des Zeugnisses – mit linguistischen Termini: die Unmöglichkeit der referenziellen Bezeichnung (als die Basis des Zeugnisses) – bedeutet, dass der Zeuge sich auf das durch das Heilige gegebene Wort selbst nur in der Form eines Schwurs berufen kann, den das Heilige autorisieren muss, zugleich ist dieses gegebene Wort an ein unbestimmtes Du gerichtet oder verlautet ihm gegenüber, impliziert dieses Du, das aus dem Raum des Sprechens aber ausgeschlossen ist. Die An-Kunft bedeutet also nicht bloß ein in der Zukunft einlösbares Versprechen, sondern auch die Offenheit dieses Versprechens für das Zeugnis, im Sinne der Unverfügbarkeit des Anderen aber auch für das falsche Zeugnis. Konkret ist es die Referenz auf das Heilige, das Bedürfnis der Autorisierung, die in Bezug auf den Schwur, der vor dem Anderen geleistet wurde, mit dem falschen Zeugnis droht, insofern die Gegenzeichnung des Schwurs diesem Anderen überlassen werden müsste. Freilich kann eine Rede nicht anders verfahren, die das eigene Wort als Gabe des »Heiligen« versteht und nicht als ihr Eigentum, dessen Gabe sie nur bezeugen kann. Gleichzeitig macht gerade eine gewisse Unhintergehbarkeit, die referenziell-rechtliche Unbegründbarkeit dieses Zeugnisses, das Bedürfnis nach einer Gegenzeichnung durch einen nicht näher bestimmbaren Adressaten akut, auf eine Weise allerdings, die beide in Spannung zueinander bringt. Eine der wichtigsten metafigurativen Zeilen des Gedichtes komprimiert diese Zweiheit (»… dem Volk’ ins Lied/Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen«). Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Ich sich am fragmentarischen Schluss (oder Neuanfang?) des Gedichtes den Titel des »falsche[n] Priester[s]« gibt und der Text inmitten der Erfahrungen der Gefährlichkeit der Sprache unabgeschlossen bleibt. Das sich als »falscher Priester« apostrophierende Ich wird die Herausforderung und Funktion der Vermittlung der »himmlischen Gabe« kaum leugnen können, eher kann es den Charakter des »Gefährlichen« der Wahrheit, der sich darin offenbart, in den Vordergrund stellen (analog zur Gefährlichkeit der Sprache, die hier eine positive Bedeutung erlangt).58 In diesem Sinne ist die Seinsweise der Wahrheit nicht nur als veritas lucens, als »einleuchtende« Wahrheit, zu verstehen, sondern ebenso als veritas rearguens, die den Sprecher in seinem Sein, in seinem Verhältnis zur Wahrheit des bezeugenden Wortes charakterisiert und beurteilt.59 Das 58 | Die Gefährlichkeit der Sprache ist gerade deswegen von so entscheidender Bedeutung, weil dieser Gefahr keine eindeutig positive oder negative Bedeutung zugeeignet werden kann (was die Konsequenz davon ist, dass die Sprache sich selbst »gemein macht«, sich der Stabilisierung oder Identifikation als der Form des Zeichens entzieht). 59 | Über das Verhältnis dieser zwei Arten der Wahrheit (das auch die Redesituation der Autobiographie bestimmt) denkt Augustinus in seinen Bekenntnissen nach: »Daher hassen sie deshalb die Wahrheit, was sie als Wahrheit lieben. Sie lieben nur die aufklärende Wahrheit und hassen die strafende. Denn sie wollen nicht getäuscht werden und wollen doch täuschen, und darum lieben sie die Wahrheit, wenn sie sich offenbart, und hassen sie, wenn dieselbe sie selbst anzeigt. Darum wird sie ihnen vergelten, so daß sie die, welche sich nicht von ihr aufdecken lassen wollen, trotzdem aufdeckt und doch selbst dabei verborgen bleibt.« Augustinus: Bekenntnisse, Buch 10, Kap. 23. Vgl. Bernhard Casper, Der Sprache Tun. Beobachtungen zu den letzten Büchern der Confessiones Augustins, in: Gerhard Buhr/Friedrich A. Kittler/Horst Turk (Hg.), Das Subjekt der Dichtung, Würzburg 1990, 32. (Die Unterscheidung
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Subjekt, das die Sprache dieser Wahrheit spricht, stellt sich dadurch, dass es diese Sprache spricht, selbst in Frage, »straft sich Lügen«, »verurteilt sich«. Dieser Zusammenhang – sozusagen die Autoimmunität des Zeugnisses – entspringt nichts anderem als der Asymmetrie von Gabe und Empfänger (ihrem Zeugen) oder der Unmöglichkeit, sich die Gabe anzueignen, sie zu beherrschen. Es besteht hier eine Verbindung zum Nichtwissen, das mit dem Bezeugten assoziiert wird (wenn der Zeuge weiß, und sei es im Sinne des »Sehens«, wovon er eigentlich Zeugnis ablegt, ist dies kein wirkliches Zeugnis mehr), oder dem Glauben, der im wahrhaft offenen Zeugnis (das hinsichtlich des Bezeugten, seiner Wahrheit nicht über allgemeine Begriffe, Beweise usw. verfügt) wirkt.60 Gerade dieser Glaube kann als Gabe (im Sinne von »Glauben schenken«) das Wissen (oder die Intention) Lügen strafen, das zu seiner referenziellen oder kognitiven Begründung benutzt wird. Das entspricht im Hinblick auf die gabeabhängige Seinsweise des Zeugnisses der Struktur der veritas redarguens. Und hat weitere Konsequenzen: Die Lügen strafende (und nicht nur einsehbare) Wahrheit verhilft dem Moment des Verdachts innerhalb der Hermeneutik, aus der es mehrfach verbannt worden war, wieder zu seinem Recht, aber nicht von einer vorgängig gesetzten ideologiekritischen Attitüde her, sondern gerade als Folge der Unmöglichkeit, sich die Wahrheit als Gabe anzueignen. Freilich kann eine authentisch lesende Dekonstruktion nie auf eine Ideologiekritik oder auf eine programmatische Hermeneutik des Verdachts, z.B. das gestenhafte Insistieren auf der Differenz, reduziert werden, das diskontinuierliche Ereignis der veritas redarguens kann nämlich mit dem »Bruch« in Verbindung gebracht werden, den Derrida akzentuiert hat,61 freilich auf eine eher hermeneutische, nämlich auf das Selbstverständnis bezogene Weise. Dieser Bruch verfügt (im Prinzip) also über einen Wahrheitsindex und geht weit über die formale Affirmation der »Brüche« hinaus. Die veritas redarguens verlangt nicht nur eine urteilende Einsicht, sondern auch eine Entscheidung: Die Akzeptanz der Lügen strafenden Wirkung der Wahrheit hinsichtlich einer gewissen Intentionalität, einzelner Begriffe des Verstehens interesses. Diese Entscheidung stellt die Wahrheit nicht her, sondern sie selbst vollzieht sich auch als eine Art Gabe, als die Entscheidung des (auch potentiell) Anderen (zu dem z.B. der Verstehende im Angerufensein durch die Wahrheit wird, ohne ihn aber je besitzen zu können, da er ihn immer nur bezeugen kann), man könnte sagen, als Sein-Lassen, und insofern hat sie den Charakter des Nachträglichen (als eine Art unmögliche Applikation). Über diesen Anderen gibt es nämlich keine Gewissheit, deshalb mündet die Erfahrung der veritas redarguens notwendig in einer Art Bekenntnis62 als Rechtfertigung (die zwischen Selbstapologie und der Nietzsches zwischen »überzeugend« und »wahr« kann vermutlich auf diese Tradition zurückgeführt werden.) 60 | Vgl. Derrida, ›A Self-Unsealing Poetic Text‹. Zur Poetik und Politik des Zeugnisses, in: Peter Buhrmann (Hg.), Zur Lyrik Paul Celans, München 2000, 158-159. Augustinus: »[D]enn wenn selbst Moses uns sagte, ›dies habe ich gemeint‹, wir würden auch dann den Gedanken nicht so erkennen, sondern müßten wir nicht wiederum glauben?«, Bekenntnisse (Buch 12, Kap. 25). 61 | Vgl. Derrida, Der ununterbrochene Dialog, 13-25. 62 | Vgl. Joeri Schrijvers zu Marion und Lévinas auf den Spuren von Augustinus, In (the) Place of the Self: a Critical Study of Jean-Luc Marions ›Au lieu de soi. L’approche de SaintAugustin, in: Modern Theology 2009, 661-686.
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Artikulation der Inadäquatheit gegenüber dem Anspruch dieses Anderen schwanken kann und insofern mit referenziellen Mitteln nicht zu kontrollieren ist, weswegen auf dieser Ebene auch das Problem der intentionalen Unentscheidbarkeit von Sprechakten auftaucht). Das Verbergen der »himmlischen Gaabe« im »Lied« ist für seine (Weiter-)Gabe unerlässlich, insofern das Wissen um die Gabe selbst das Zeugnis einschränken kann, da es so auf Verifizierung oder Beleg reduziert und der kognitiven Potenz des Subjekts unterworfen wird. Zugleich ist die Gabe nicht in sich selbst, nicht einmal als das exklusive Eigentum der Dichter, gegenwärtig, sondern sie existiert in Abhängigkeit von ihrer Weitergabe oder ihrem Weitersagen (als Bezeugung), deshalb kann sie sich strenggenommen nur im Medium des »Liedes« ergeben (»im Liede wehet ihr Geist« in Zeile 37). Verknüpft man diese zwei Spezifika, wird deutlich, dass gerade das Nicht-Wissen um die Gabe, die Nicht-Bewahrung der Gabe, die Notwendigkeit ihrer Weitergabe bedingt und umgekehrt. In diesem Sinn ist das textuelle Medium in Bezug auf die Gabe kein Zusatz, sondern der Effekt ihres (Weiter-)Gebens, man könnte auch sagen, dass in gewissem Sinne das Geschenk als Text zu verstehen ist.63
D as poe tische Z eugnis und die Tr auer arbeit (G eorge) Georges berühmtes, auch von Heidegger analysiertes Gedicht Das Wort kann im Sinne der bereits zitierten und am Ende des Gadamer’schen Hauptwerkes befindlichen Bemerkungen auch als die Inszenierung des Zeugnisgebens gedeutet werden. Zum Auftakt spricht das Gedicht vom »Wunder von ferne oder traum«, es beginnt also mit dem Moment des Wunders, das traditionell in Verbindung mit dem Zeugnis steht; die Norne der zweiten Strophe ist möglicherweise eine Figur,
63 | Dieser Text muss nicht unbedingt ein geschriebener, lesbarer Text sein, er kann auch in einer Art Schweigen oder – was nicht ganz dasselbe ist – einer Art »Nicht-Aussprechen« bestehen. Das äußere Wort kann als der Zeuge oder das Zeugnis des inneren Wortes keine Kongruenz zu diesem herstellen, selbst im Falle einer noch so evidenzgesteuerten Intentionalität nicht, ja hier vielleicht sogar am wenigsten. Hauptsächlich dann, wenn der Andere das verschwiegene, unausgesprochene innere Wort des einen bezeugt, dieses Zeugnis aber auch unausgesprochen bleibt oder nicht im äußeren Wort verdinglicht wird: »Ich antwortete nicht, preßte die Zähne zusammen, die Wörter wollten weder raus noch rein«, mit dem kindlichen Erzähler Esterházys gesprochen: »Nur Fancsikó sagte etwas, freundlich und schwerfällig, er nämlich wußte, wie man lieben kann, aber gleichzeitig auch sehen«. Péter Esterházy, Fancsikó und Pinta (Übers. von Zsuzsanna Gahse), Berlin 2002, 135. In der Lesart Zoltán KulcsárSzabós: »Die Sprache der Liebe ist wirklich schwerfällig: sie darzustellen oder sie zu zitieren fällt schwer […], denn u.a. muss gerade der potentielle Mangel der Entsprechung ausgeglichen werden, der im gegebenen Fall […] zwischen dem in der Rede implizierten Versprechen und den illokutiven Werten des vollzogenen Aktes nicht zu finden ist.« Tetten érhetetlen szavak, 338. Dieses stumme Zeugnis bleibt wortwörtlich auf halbem Weg zwischen dem inneren und dem äußeren Wort, d.h. die frühere Problematisierung der Aussprechbarkeit ist nicht das Ergebnis intentionalen Verschweigens, sondern der Zweifelhaftigkeit der Bestätigung durch das äußere Wort des Anderen.
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die bei der Figuration des Schwurs eine wichtige Rolle spielt.64 Der von der Norne gefundene »name« würde das Zeugnis des poetischen Subjekts gleichsam autorisieren oder beglaubigen (»Drauf konnte ichs greifen dicht und stark«). Von der fünften Strophe an geht diese Beglaubigung verloren und führt zur Erfahrung des »verzicht[s]« am Schluss: »So lernt ich traurig den verzicht:/Kein ding sei wo das wort gebricht.« Die Suche nach Worten fördert im Zeugnis – oder in der Übersetzung65 – Synonyme zu Tage, deren Differenz den Unterschied zwischen Denken und Sprechen, zwischen Vorverständnis und kognitivem Akt auf der Ebene der Rede auf materiale Weise wiederholt, während sie das Moment oder die Intentionalität der Bezeichnung als Benennung im »ding(s)« auflöst. Es gibt kein eindeutiges Nomen für die Erfahrung der Zeugenschaft, für das innere Wort, dafür also, ob es in einem (wesentlichen) Wort oder in vielen Wörtern greif bar wird.66 Der Mangel des bezeugenden Wortes ist jedoch selbst auch keine einfache Feststellung: Die Zweideutigkeit des »sei«, sein performatives Moment, bewahrt die Gültigkeit des Zeugnisses.67 Es bleibt die Frage, was es bezeugt: das »ding« oder die Unmöglichkeit (Unabschließbarkeit) des Zeugnisses? Der Bruch zwischen den zwei Bedeutungen von »sei« sowie der benennenden Funktion von »ding« und dem supplementären Rauschen von »dings« entzieht dem endgültigen Zeugnis (als Aussagbarkeit) den Boden (d.h. er bringt erneut die sich selbst der Bewertung entziehende Verdopplung der Gefährlichkeit der Sprache zur Geltung). Dennoch kann es hier kein negatives Wissen geben, denn zwischen den korrespondierenden Synonymen von »verzicht« und »gebricht« gibt es auch eine »zerbrechliche, aber klare Differenz«: Die Intentionalität von »verzicht« antwortet immer auf die Erfahrung des »gebricht« und ist insofern nachträglich. Zwischen beiden vermittelt die im »traurig« angezeigte Trauerarbeit, eine Art Schweigen (durch den Entzug des Rufs des Wortes), ohne sie einen zu können und damit die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses wiederherzustellen. 64 | Vgl. z.B. in Kleists Drama Hermannsschlacht aus dem Mund Dagoberts: »Nun, bei den Nornen!« (Zeile 239). In Georges Gedicht Der Eid wird die performative Kraft des Schwurs (in einem Zitat) in einer lexikalischen Umgebung dialogisiert, die an Das Wort erinnert: »›Mächtig ich durch euren schwur‹./Wir die durch dein atmen glühn und blühn./›Ich von eurem marke kühn‹.« 65 | Der Interpretationsvorschlag Zoltán Kulcsár-Szabós zum Gedicht konzentriert sich in der Übersetzung, die über die szenischen Charakteristika hinaus (die Figuren der »Übertragung«) die auffällig häufigen synonymischen Strukturen zu einer funktionalen Frage machen. Vgl. Szinonímiák. Heidegger és George [Synonymien. Heidegger und George], in: Miklos Nyírő (Hg.), Filozófia mint de(kon)strukció: Heidegger és Derrida [Philosophie als De(kon) struktion: Heidegger und Derrida], Budapest 2012, 85-108. 66 | Dieses Dilemma war immer der Punkt, an dem die Fragen zum verbum interius aufeinandertrafen. Das »Wunder« am Anfang des Gedichtes schwankt zwischen Singular und Plural, von der dritten Strophe an ist von ihm im Singular die Rede (»es«), in der Vierten wird es durch das »kleinod« angezeigt, währenddessen gebraucht das Gedicht aber kontinuierlich doppelte Bezeichnungen. 67 | Das »sei« entspricht als Konjunktiv dem actus signatus, während es als Imperativ mit dem actus exercitus korreliert, d.h. genau mit dem quasi-inkarnativen Moment des Aussprechens. Das Wort wird auf die Weise des letzteren ausgesprochen, es behält aber seine Supplementarität, ein unsichtbarer Bruch geht durch es hindurch.
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Es gibt keine scharfe Trennung zwischen innerem und äußerem Wort, und doch können sie einander zerstören, sie decken sich nicht: Das Fehlen des Wortes (das »gebricht«) ist grundsätzlich als das Fehlen des inneren Wortes zu verstehen, denn der Entzug seines Rufes (nicht sein Verschwinden) führt zur Ununterscheidbarkeit von »ding« und »dings« (was, im Geiste der Tradition des verbum interius formuliert, der Effekt des formbaren, nicht permanenten Charakters des Wortes ist). Zugleich überschreibt der Aufruf des Imperativs des »sei« dieses Fehlen, er transformiert es zum Fehlen des äußeren Wortes. (Gerät aber der bezeichnende Charakter des »sei« – actus signatus – in den Vordergrund, dann zerstört das Fehlen des Wortes – »gebricht« – ihn am Ende der Zeile.) Dieses Fehlen ist kein einfaches Nichtsein, sondern die Subversion (das Heideggersche »zerbricht«) des »ding(s)«, wobei gerade die Bezeichnung (die die deiktische Geste von »dingsda« ausdrückt) von etwas als etwas, die Bezeichnung des »als solchen« problematisiert wird.68 In diesem Sinne erscheint das Wort hier – wieder auf die theologische Terminologie Bezug nehmend, die das innere Wort umgibt – als das Akzidens des Geistes (in einer nicht-wesentlichen Zugehörigkeit, einer reinen Aktualität zu ihm bzw. mit ihm).69 In dieser Kontingenz sind es »sehr oft Akzidenzien, von denen die Allgemeinbedeutung eines Wortes sich ableitet«, zugleich gelangt »der Anspruch zwischen der Tendenz auf begriffliche Allgemeinheit und der anderen auf pragmatische Bedeutung in keiner lebendigen Sprache je zu einem vollständigen Ziele«.70 Dagegen ist das »dings« gleichzeitig das allgemeinste und das am ehesten von der Pragmatik abhängige sprachliche Element, eine Art Übergang zwischen dem Nomen und der Konjunktion, der die Möglichkeit der Unterscheidbarkeit der syntagmatischen von der paradigmatischen Ebene der Sprache (eine Art Programmierung des Zeugnisses) nicht bietet. Wenn das Zeugnis die Erfahrung des Unmöglichen oder ein Zeugnis des Unmöglichen als Aporie ist (hier das gleichzeitige Bezeugen und Nicht-Bezeugen der Sprache, vgl. den Dualismus von »sei«),71 dann zerstört das an die Grenze-Stoßen die verschiedenen im Gedicht als Übertragungen inszenierten Grenzübertretungen, z.B. die Autorisierung des Rufes durch das Wort (als Entzug) durch die Norne oder durch eine andere Instanz – als die Grundlage der Bezeichnung (d.h. der Eingrenzung). Georges Version der Gefährlichkeit der Sprache besteht darin, dass die Sprache als die Zeugin des Menschseins gerade das innere Wort entziehen und dessen Mangel (und auch des »Menschlichen«) zugleich mit supplementären Surrogaten ausgleichen kann, jedoch ohne die Möglichkeit, dass diese Selbstzerstörung der Sprache (wie auch die Intonation des »sei«) auf eine eindeutig negative oder positive Formel gebracht werden könnte. Gerade das Moment der Wertung würde die Idee des souveränen Subjekts wieder einschleusen, so zielt die Trauerarbeit weder
68 | Vgl. Derrida, Aporien. Sterben – Auf die ›Grenzen der Wahrheit‹ gefaßt sein, München 1998, 121-122. 69 | Vgl. WM, 428. 70 | WM, 440. An anderer Stelle kommt Gadamer in Verbindung mit der Sprache, vor allem mit den deiktischen Ausdrücken, auf das »Problem der Okkasionalität« zu sprechen und verweist auf Lipps und Austin, vgl. Sprache und Verstehen, 195-196. 71 | Die »Aporie« trägt im Griechischen die Bedeutung einer Begegnung mit einem Hindernis, der Blockade des Weges, vgl. Derrida, Aporien.
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auf die eine noch auf die andere Sache (»ding«), sie stellt eher die Absage an die Rückbestätigung des »Mensch(lich)en) durch die Sprache dar.
D as U nausgesprochene , der A ndere und das R auschen der S pr ache (K leist) In der neueren Literatur ist Kleists Essay Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden der berühmteste Text, der sich mit der Beziehung von Denken und Sprache beschäftigt und eine signifikante Fachliteratur hervorgebracht hat (auch Gadamer hat sich oft auf ihn berufen, wenn auch eher zu Zwecken der Illustration). Hier können nur einige Züge hervorgehoben werden.72 Der Text empfiehlt dem angesprochenen »Freund« bekanntlich, über eine noch unbekannte oder unverstandene, nur als »dunkle Vorstellung« gegenwärtige Sache nicht zu »brüten«, sondern mit dem erstbesten Bekannten einfach darüber zu reden.73 Dieses Gespräch muss kein platonischer Dialog sein (der »durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt«), der Andere spricht eigentlich gar nicht, er schweigt nur, schaut den Sprechenden dann an (und versucht währenddessen vergeblich, selbst zu Wort zu kommen) und »schenkt« ihm so den Ausdruck der »andere[n] Hälfte« des Gedankens. Der Ursprung des ganzen Prozesses ist ein willkürlicher Anfang, »die Überzeugung [oder eine Art Glaube], daß er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde«. Es ist also nicht von einem inhaltlichen Glauben die Rede, nur von dem Glauben, dass sich zum arbiträren, »in der Not hingesetzte[n] Anfang« später Fortschritt und eventuell Abschluss gesellen. Das sprachliche Geschehen setzt sich so gleichsam selbst fort, es wird gegenüber dem Sprecher souverän, beraubt ihn seiner sprecherischen Souveränität.74 Der inszenierte Sachverhalt, dass das sprechende Subjekt unter der Mitwirkung des Anderen das Wort und damit auch den Gedanken selbst gleichsam von der Sprache bekommt, ist schlüssig. Der ganze Prozess erstreckt sich gleichsam dreistufig von der »Überzeugung« (die hier noch nicht von der »Idee« getrennt wird) über die »Erregung« bis zur Formulierung als der Gabe des Wortes. So eine Rede »ist wahrhaft lautes Denken«, wobei die »Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen [
] nebeneinander fort[gehen], und die Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren.« In dieser gleichzeitigen Artikulation von Gedanke und Wort ist die »Sprache […] alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, 72 | Vgl. die gründliche Analyse Ervin Töröks, die in mehreren Punkten auch das unten Gesagte berührt: A másik adománya. Heinrich von Kleist, A gondolatok fokozatos kialakulásáról beszéd közben [Die Gabe des Anderen], Filológiai Közlöny, 2007, 227-252. 73 | Vgl. Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, in: Helmut Sembdner (Hg.), Sämtliche Werke und Briefe I-II, München 2001, 319 (im Folgenden: Verfertigung). 74 | Ein Beispiel des Essays ist die indirekte (!) Konfrontation Mirabeaus mit dem Monarchen, dem er die »Nation« entgegenhält, die aber bekanntlich »Befehle [gibt] und […] keine [empfängt]« (Verfertigung, 321), das ist seine »souveräne« Definition. So wie der Monarch seine Souveränität an die Nation übergeben muss, so übergibt der Sprecher die seine an die Sprache, jedoch nicht auf deklariert-intentionale (eine gewisse »performative«) Weise, sondern – während des Sprechens.
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sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse.«75 Die Untrennbarkeit von Denken und Sprechen setzt zugleich die Ununterscheidbarkeit von Tat und Täter voraus, wobei der Sprecher erst im Nachhinein auf seine quasi handelnde Natur aufmerksam wird. Wozu braucht es den Anderen, wenn die allmähliche Ausbildung der Gedanken im Sprecher vor sich geht und die Gegenwart oder die Vermittlung des Anderen ihm im Grunde nur die Gelegenheit dazu bietet? Man könnte meinen, dass auch der Sprecher selbst die sprachlichen Ereignisse nicht nur vollstreckt, sondern sie gleichsam auch bezeugt (in einer Art nicht-zeitlicher Nachträglichkeit, d.h. auf nicht reflexive Weise)76, und in dieser anakoluthischen Rolle ist das Gegenzeugnis des Anderen unumgänglich. Damit hängt zusammen, dass die Exteriorisierung, die sich im äußeren Wort vollzieht, notwendigerweise die Perspektive des Anderen voraussetzt,77 ja der Sprecher selbst wird bezogen auf sich selbst nach dem Ereignis zum Anderen. Dieser nachträglichen Zeugen-Rolle muss hinzugefügt werden, dass der Ausdruck »allmählich« offenbar eine Katachrese ist, es geht nämlich nicht um eine diskursive Sukzessivität, sondern um einen plötzlichen Übergang (im Sinne von »Umschlag«). Die »Beispiele« fungieren in den meisten Fällen auch als politische Allegorien (Mirabeau, später die Tierfabel), d.h. der Rollencharakter der Subjekte des sprachlichen Handelns wird ins Zentrum gestellt. Hier wird die erfolgreiche – die Verbindung von Intention und Zeichen herstellende – Vermittlung als politisches Handeln gedeutet (Widerstand, bzw. falsche Beschuldigung). In beiden Fällen geht den Verwicklungen ein Ausnahmezustand (das Performativum) voran oder löst diese aus (der König ordnet die Aufhebung der Stände an, bei den Tieren bricht die Pest aus), bis dahin gültige (gesellschaftliche) Verträge werden aufgelöst, und dadurch kommt es zu neuartigen sprachlichen Ereignissen, die der radikalen Fiktionalität der Sprache entspringen, und zwar mittels Sprecherrollen, die nicht ausschließlich intentional angenommen werden, sondern die im Geschehen der Sprache, das durch frühere Rollenmuster und pragmatische Regeln nicht mehr kontrolliert wird, quasi zufällig zustande kommen und gleichzeitig einen performativen, ja gewaltsamen Charakter78 annehmen (d.h. sie wirken gleichzeitig unentwirrbar defensiv gegen den Ausnahmezustand und potenzieren zugleich dessen subversiven Zug, gleichsam als Übergang ins Performative).79 D.h. die »Überzeugung«, die Grund75 | Verfertigung, 322. 76 | »… dergestalt, daß die Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode (dem Satz) fertig ist.« Verfertigung, 320. 77 | Vgl. Humboldt: »der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat«, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, 48. 78 | Die beiden politischen Gleichnisse stellen den Dritten als Zeugen dar: Mirabeau verkündet dem König, dass sein Versprechen wie eine Drohung klingt, und der Fuchs spricht in seiner Verteidigungsrede – die dem Löwen gilt, aber auch über ihn eine Falschaussage (falsches Zeugnis) macht – dem Esel vor den anderen Tieren einen falschen Verdacht zu, was wortwörtlich in Gewalt mündet. 79 | Das sind die grundlegenden Themen Kleists, von Michael Kohlhaas bis zum Nicolo des Findling sind die Protagonisten im Grunde die Produkte und Subjekte solcher Ausnahmezustände.
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lage der Suche nach dem Gedanken und dem Wort, ist nicht subjektiv, sondern sie ist eine Antwort auf den Ruf des Notstands oder sein zufälliger Effekt, zumindest ist ihr Ursprung nicht erkennbar. Der indexikalische Charakter des Zeugnisses (seine Seinsweise des Überlebens) entstammt immer einer solchen sprachlichen Bedrängnis (Gefahr), weniger irgendeiner Freizügigkeit. Und hier erschließt sich die Radikalität Kleists: sowohl das Angewiesensein auf den »Gedanken« als auch auf den Anderen als Zeugen sind Forderungen dieses Notstands.80 Der Sprecher schöpft die (willkürliche) Entscheidung hinsichtlich der sprachlichen Artikulation als Konsequenz der Untrennbarkeit der Sprache und ihres Rauschens aus dem (sogar stummen) Zeugnis des Anderen, die Entscheidung kommt in gewissem Sinne also von dem Anderen. Gerade deswegen kann auch er selbst nie sicher sein, ob er durch seine Rede nicht ein falsches Zeugnis ablegt (wie äußerst eklatant der Fuchs, der den Löwen verteidigt und dem Esel gegenüber einen falschen Verdacht äußert), da seine »dunkle Vorstellung«, d.h. seine Intention (die Vergewisserung darüber) und ihre Äußerung gegenüber dem Anderen nicht voneinander zu trennen sind – was der Intention selbst erlaubt, durch die nicht beherrschte Rede im (sprachlichen) Raum zwischen dem Sprecher und dem Anderen gleichsam zu entstehen (was bedeutet, dass ihr Ursprung – sobald man zu reden beginnt – nicht lokalisierbar ist). Um auf der sprachlichen Ebene des Problems zu bleiben: Dieser Notstand ist nämlich auch ein Notstand der Sprache, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass die semiologische und die materiale Dimension, Zeichen und Rauschen, nicht voneinander getrennt werden können. Der Benutzer der Sprache gerät also selbst weniger als anthropologisches Subjekt, sondern man könnte sagen: als animalisches Wesen in die Macht nicht einfach der »Sprache«, sondern des sprachlichen Geschehens, er liefert sich ihm aus: »Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen«.81 Die andere paradigmatische Linie des Essays bilden neben den politischen Allegorien die Beispiele (Gleichnisse) und Metaphern aus der »physischen Welt«, die bis zu den Vorstellungen der Maschinenhaftigkeit und des mechanischen Verfertigtseins reichen (auch die »Verfertigung« des Titels steht der »Fabrikation« näher als der »Bildung«). Beide Gleichnisse berühren sich in der Untrennbarkeit der »Sache« selbst vom »Beispiel«,82 der Ununterscheidbarkeit der Artikulation und des 80 | Ein Beispiel ist die Entladung, die der elektrischen Spannung entspringt, oder die Rede ist »die – nicht gezielte – Entladung der Spannung« (Török, A másik adománya, 248). Kleist benutzt das Wort »Entladung«, die mit der Intensität des »Blitzes« bei Humboldt verwandt ist, ferner mit der »Entladung« Nietzsches im dionysisch/apollinischen Ereignis (vgl. z.B. Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak, 21). 81 | Verfertigung, 320. Vgl. zur Macht der Sprache über den Sprecher Davide Giuriato, Kleists Poetik der Ausnahme, in: Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes (Hg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2005, 224-240. 82 | Der Erzähler Kleists spielt ironisch mit den Erwartungen des Lesers in Bezug auf die Trennbarkeit von Gleichnis und Sache: »Doch ich verlasse mein Gleichnis, und kehre zur Sache zurück.« Verfertigung, 321. Woraufhin die Tierfabel, das fiktional stärkste Beispiel, folgt – ein »Beispiel« für die allgemeine Subversion der Leserempfehlung.
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Rauschens auf der sprachlichen Ebene. Dieses Oszillieren zwischen dem wesentlichen Wort und sprachlicher Pluralität, Bezeichnung und Rauschen, Hypothese und Experiment suspendiert nämlich im semiologischen Sinn die Trennbarkeit der paradigmatischen Ebene von der syntagmatischen (auf der pragmatischen und der performativen Ebene zwischen dem Anderen und [dem] Dritten). Deswegen gibt es keinen benennbaren Unterschied zwischen dem Beispiel und der Sache, der tropologischen (»illustrierenden«) und der performativen (»überzeugenden«) Funktion des »Beispiels«, letztlich zwischen Ereignis und Maschinenhaftigkeit. – Während sich kaum ein radikaleres Beispiel für das »Tun der Sache selbst« bieten dürfte, taucht, wenn man zu Gadamer zurückkehrt, die Frage auf, ob das Tun nur das Tun der »Sache selbst« ist, oder ob gerade die aporetische Untrennbarkeit der »Sache« und der (sprachlichen) »Umstände« als eine Art »unvordenkliches« (und einen Bruch herbeiführendes) Geschehen verantwortlich für die Dimension ist, in der »nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß«? Die Qualität des »Unvordenklichen« ist nicht einfach nur den »Umständen« zu eigen,83 sondern dem unbeherrschbaren Zusammenhang mit der »Sache« selbst (wie auch die Verbindung von Ausnahmezustand und »Überzeugung«). Bei Gadamer bedeutet das »Erleiden« im Zusammenhang mit dem »Tun der Sache selbst« jenen Modus des Ereignisses,84 der gleichzeitig mit dem nicht-reflexiven Gebrauch der Sprache in Verbindung gebracht werden kann. Es überrascht vielleicht nicht mehr, dass dieser Zusammenhang erneut radikal in der Dimension des Zeugnisses deutlich wird: Wo der Zeuge selbst gleichsam seine eigene Zeugenschaft erleidet (die Nähe des »unheimlich«), ist er zugleich ihr Subjekt und ihr Objekt.85 Die Nicht-Reflektierbarkeit bedeutet hier gleichsam eine Indexikalität, die sowohl den Wirkungskreis des Zeugen als auch dessen Sprache zerstört, wobei im Extremfall das Geschehen selbst, genauer: dessen Spur bezeugt wird. Damit wird das Zeugnis zum Testament des Zeugen, und für welches echte Zeugnis als Index des Überlebens oder Nachlebens trifft das nicht zu?86 Das Zeugnis zwischen sprachlicher Rolle und Testament: Wieder kann Kleists Essay für die gewisse Unlesbarkeit dieser Verdopplung ein Beispiel liefern. Die Problematisierung der Aussprechbarkeit hinterlässt hier ein echtes Rätsel, wobei also der Status des »Beispiels« selbst problematisch bleibt. Kleist zufolge bedeutet 83 | Das »Unvordenkliche« kann Figal zufolge nicht mehr »Sein« genannt werden (vgl. Das Tun der Sache selbst, 85), eher vielleicht, mit Derrida gesprochen, eine Art Vergangenheit, die nie Gegenwart war. 84 | Vgl. WM 469, 478. Die Frage (Befragung) selbst gilt auch dem Frager, er »stellt« sie nicht autonom, vgl. WM, 372. Török bemerkt in Verbindung mit der metareflexiven Ebene zu Kleists Essay, der »bestimmte Behauptungen nicht nur ›formuliert‹ (das würde der Vorstellung von der Geschehnishaftigkeit der Herausbildung der Gedanken widersprechen), sondern in gewissem Sinne auch die Verfertigung dieser Gedanken erleidet.« A másik adománya, 243. (In einem Gedicht Gottfried Benns ist es auch der Fragende, der über die Frage nicht verfügt, sondern die sich ihm stellt [die er »erleidet«]: »Ich trage ihn –: doch wer das ist,/ist nicht die Frage dessen, der sie leidet …«, Der Traum.) 85 | Vgl. Shoshana Felman, The Juridical Unconscious. Trials and Traumas in the Twentieth Century, Cambridge (Mass.) 2002, 106-130. 86 | Bei den ungarischen Texten lässt sich das vielleicht am ehesten in Péter Nádas’ Buch Saját halál [Der eigene Tod] verfolgen.
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die Unklarheit des Ausdrucks nicht in jedem Fall die diffuse Natur der gedachten Idee (ein Beispiel, das insbesondere Seminarleitern anempfohlen sei): »… Leute, die sich, weil sie sich der Sprache nicht mächtig fühlen, sonst in der Regel zurückgezogen halten, plötzlich, mit einer zuckenden Bewegung aufflammen, die Sprache an sich reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen. Ja, sie scheinen, wenn sie nun die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben, durch ein verlegnes Gebärdenspiel anzudeuten, daß sie selbst nicht mehr recht wissen, was sie haben sagen wollen. Es ist wahrscheinlich, daß diese Leute etwas recht Treffendes, und sehr deutlich, gedacht haben. Aber der plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang ihres Geistes vom Denken zum Ausdrücken, schlug die ganze Erregung desselben, die zur Festhaltung des Gedankens notwendig, wie zum Hervorbringen, erforderlich war, wieder nieder.«87 Die Unverständlichkeit der Artikulation lässt die Intentionalität des Sprechers, im Modus der Scham, im Dunkeln. Die Sprache selbst schneidet dem Sprecher, im Geschehen des plötzlichen Übergangs,88 das (innere) Wort ab, einerseits also dort, wo die Wörter nicht aus dem Gedächtnis hervorkommen, sondern wo sie gleichsam erstmals gesagt werden und insofern vertraut und fremd gleichzeitig sind. Andererseits zerschneidet die Berührung von Sprache und Rauschen die Verbindung von Intention und Bezeichnung, wodurch erstere unbekannt bleibt und die Äußerung zum Anakoluth wird. Die vorgängig in Besitz genommenen Wörter setzen nämlich den Besitz des Gedankens, die Macht über sie aber wieder umgekehrt die Beherrschung der Kommunikation voraus.89 Kleist formuliert hier vor Nietzsche: »Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus«,90 dass also gerade das Aufgeben der Beherrschbarkeit der Sprache die aporetische Voraussetzung (oder der Begleiter, der Effekt) der Bezeugung des inneren Wortes ist. Nietzsche zufolge ist das »Bewusstsein […] eine Oberfläche«, die Sprache aber – »scheint es« – hat man »nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mitteilsames erfunden«,91 was im gegenwärtigen Zusammenhang die Verallgemeinerung der Singularität, ihre Ernennung zum »Beispiel« bedeutet. Auch die Scham selbst ist ein Effekt der Sprache, z.B. die implizite Einsicht dessen, dass die Unumgänglichkeit der Rederolle (und der sprachlichen Macht), ferner die Zeugenschaft des Anderen (oder Dritten) das Gesagte unwillkürlich umschreiben. Oder aber Artikulation und Rauschen, die im Sprechakt ineinander übergehen, die Nicht-Mitteilbarkeit und das Zeugnis, das so akut zum falschen Zeugnis wird, werfen das Aussprechen auf das Schweigen zurück, wobei dessen Index, die unbeherrschbare Automatik der Scham, gleichsam den Effekt des sprachlichen Mechanismus wiederholt.92 Die Allgemeinheit der Rederolle und die Singularität des »Beispiels« (das Testament des Zeugen) stehen hier in einer Spannung zueinander und machen einander unlesbar, was auch daran erkennbar wird, dass die machttheoretische Bedeutung dieses Gesellschafts-Beispiels, die der Essayschrei87 | Verfertigung, 323. Hier gesellt sich zur »Erregung« ein Possessivpronomen (»desselben«), dessen Besitzer charakteristischerweise nicht bestimmbar ist, sie kann sowohl zum »Denken« und »Geist« wie zum »Ausdrücken« gehören. 88 | Zu dessen Temporalität vgl. Gadamer, Geschichtlichkeit und Wahrheit, in: GW 10, 256. 89 | Eine Beispielfrage bei der Prüfung: »was ist das Eigentum?« Verfertigung, 323. 90 | Götzendämmerung, KSA 6, 128. 91 | Ecce homo, KSA 6, 294 u. Götzendämmerung, 128. 92 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak, 305.
Das »innere Wor t« zwischen Gabe und Zeugnis
ber ihm gibt, es offensichtlich auf ein allegorisches Niveau verlegt. Denn gerade die Redegeschwindigkeit versieht sich als Fähigkeit und diskursiver Vorteil am ehesten mit den Zügen des Automatischen und des Programmiert-Seins (und ist so schon im Voraus jenseits der »ganze[n] Erregung […], die zur Festhaltung des Gedankens notwendig, wie zum Hervorbringen, erforderlich war«). Insofern stellt sich nun die Frage, ob dieses Gleichnis überhaupt noch ein Beispiel für die »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« ist, ob es davon zeugt, ob es auf solche Weise zu beglaubigen ist (durch den Erzähler oder den Leser), und ob nicht eher die Lesart des Erzählers ein Beispiel aus einer Art unzugänglicher Singularität fabriziert, insofern er die Aporie der Identität der Vermittlungsabsicht auf der formalen Ebene mittels der Fähigkeit (sozusagen mit einem pragmatistischen Argument) zu eliminieren sucht. Diese Operation ist auch nur auf dem Weg der Gewalt möglich (dem Anschein zum Trotz basiert der Pragmatismus auf Gewalt, zumindest aber auf dem Vergessen). Es ist kein Zufall, dass das letzte Beispiel von Prüfungssituationen und dem mechanischen Aufsagen von Auswendigglerntem handelt, wobei die Öffentlichkeit der Prüfung weder dem Geprüften noch dem Prüfer zum Vorteil gereicht. Tatsächlich wird hier nämlich der Prüfer auf die Probe gestellt, der sich der »Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens« wegen schämen müsste und sich freuen kann, wenn er die Prüfung hinter sich bringt, ohne sich (noch mehr als der Prüfling) geschämt zu haben. Der Text mündet also in der Frage der Gerechtigkeit und der Ethik (das »Examen« bedeutete im Griechischen den Zeiger der Waage). Wenn jede im Voraus fixierte Sprechsituation die Greif barkeit (die Beherrschbarkeit) des sprachlichen Geschehens verspricht, dann kann vor diesem Hintergrund dem Diktum des »nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß« in der Tat nur das entsprechen, was unverortbar zwischen innerem und äußerem Wort spielt: die Scham des Zeugen (als ein Mittel ohne Zweck?).
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Sprache(n)
3. Zeugen der »Weltliteratur«
Geschichtskonzepte und Literaturbegriffe
zwischen den Weltkriegen
M e thodologische P r ämissen : D er K anon und die I mmaterialität der L iter atur Die Tatsache, dass der kanonische Einschlag im Begriff der »Weltliteratur« – wie auch immer dieser definiert sei – nicht entfernt werden kann, mag vielleicht weniger irritieren, wenn man davon ausgeht, dass jede literarische Selbstbeschreibung bzw. Selbstbeobachtung unabdingbar kanonisch funktioniert. Die neuerliche Konjunktur des Begriffs der »Weltliteratur« scheint die Feststellung zu bestätigen, dass die Literatur eine Funktion des Kanons sei und nicht umgekehrt. Mit David Martyn gesprochen, der eines der wesentlichen Motive der Literaturtheorie Paul de Mans zusammenfasst: »Die Literatur ist kein Gegenstand, den man an seinen besonderen Eigenschaften erkennen könnte. Sie ist vielmehr ein Produkt des Kanons«.1 Man kann die kanonische Ebene der »Weltliteratur« aller Anstrengung zum Trotz nicht verlassen, diesen Aspekt in den kommunikativen, interkulturellen oder materiellen Charakteristika der Literatur auflösen, letztlich, die kanonische Dimension hier ausklammern. Sichtlich irritiert zeigt sich etwa Erhard Schüttpelz, Autor der Monografie Die Moderne im Spiegel des Primitiven, von der Unauslöschbarkeit des kanonischen Effekts der Weltliteratur, die als Begriff »immer noch durch normative Konstruktionen verbarrikadiert« wird (im Kapitel Weltliteratur im imperialistischen Zeitalter gegen Ende des Buches,2 das entsprechend resigniert mit einem Zitat des Diktums von Bruno Latour schließt: »Wir sind nie modern gewesen«). Diese kanonische Dimension steht nämlich im Gegensatz zur Zielsetzung Schüttpelz’, die eine »wissenschaftliche Erforschung einer materiell gedachten, buchhändlerischen und textuellen weltweiten Mobilität literarischer Texte seit dem 19. Jahrhundert« anstrebt. Es scheint, als würde das Versprechen einer vertrauenswürdigen referenziellen Beschreibung, die die materiellen Bedin1 | David Martyn, Die Autorität des Unlesbaren: Zum Stellenwert des Kanons in der Philologie Paul de Mans, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.), Ästhetik und Rhetorik: Lektüren zu Paul de Man, Frankfurt a.M. 1993, 23. 2 | Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960), München 2005, 352.
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Zeugnisgaben der Literatur
gungen, Kulturtechniken und Prozesse der Generalisierung der »Weltliteratur« untersuchen will, vom immateriellen, auf deskriptivem Weg nicht zugänglichen Aspekt des Kanonischen Lügen gestraft.3 Dieses Versprechen eines materiellen, wertungsfreien Zugangs zur weltliterarischen Kommunikation und vornehmlich zu ihren Verschriftlichungsprozessen (der mündlichen »Literatur«) kann selbst als ein Effekt des Kanons betrachtet werden, der immer gegen sich selbst arbeitet. Die Literatur verspricht – gerade in der Moderne – immer, dass sie über sich oder das bloß »Literarische« hinausgeht oder -führt, gerade dadurch wird sie aber kanonisch, im Widerstand gegen den Kanon, bzw. ist »auch die Untergrabung des Kanons letztendlich kanonbildend«.4 Wenn die Ursache dafür die Nichtexistenz der gegenständlichen Spezifität der Literatur ist, so kann man tatsächlich sagen, dass die »Literatur« »stets die vorhergehende Stufe in der Entwicklung einer sich ewig dekonstruierenden kanonischen Lesart bezeichnet«.5 So konditioniert der Begriff der »Weltliteratur« seinen eigenen Widerpart oftmals in einer Literaturvorstellung, die bestimmte kanonische und kulturelle Grenzen einer nationalen Literaturgeschichte nicht zu überschreiten vermag. Welche methodologischen Implikationen birgt dieser Sachverhalt noch? Er kann hinsichtlich schnell hergestellter Analogien zwischen der Kulturgeschichte, ja der Politikgeschichte (Imperialismus) und der Literaturgeschichte zumindest zur Vorsicht gemahnen. Die These von Schüttpelz, dass die Kolonialzeit bessere Bedingungen zur Schaffung einer »wirklichen« Weltliteratur bietet, bindet die literarische Kommunikation an bestimmte historische Voraussetzungen und ist zutiefst problematisch. Diese Vorstellung basiert in erster Linie auf einer räumlichen Logik, während die zeitlichen Implikationen der literarischen Wirkungsgeschichte aber wichtiger sind, da gerade sie nicht vollständig unter dem Einfluss von mate3 | Schüttpelz spricht auf der folgenden Seite vom »Versprechen einer wirklichen Weltliteratur«, das »im Zuge des ersten großen Globalisierungsschubs vor dem Ersten Weltkrieg eine vielversprechende materielle, kategoriale und schriftliche Basis« hatte (353-354). Man könnte fragen, was eine »wirkliche Weltliteratur« bedeutet, ob etwa eine weniger wirkliche Weltliteratur existiert? Wie auch immer, es soll hier keine terminologische Haarspalterei betrieben werden, allein der Umstand ist vielsagend, dass auch Schüttpelz nicht ohne kanonische Kategorien (ja eine in die Vergangenheit projizierte Aussicht als Versprechen) auskommt. Diese »wirkliche Weltliteratur« bezieht sich bei ihm ohnehin auf die »Erweiterung des Literaturbegriffs«, sie bedeutet das »mediale Versprechen der mündlichen Literaturen« und hat so zu Recht einen Zug, der gegen den Kanon »spricht« (ebd., 370). Verglichen mit dieser »Weltliteratur« sei der Schriftbegriff Derridas angeblich »explizit innereuropäisch und antiethnographisch« (ebd., 374). Hätte Derrida, der algerisch-jüdisch-französische Autor von z.B Die Einsprachigkeit des Anderen, demzufolge einen engeren Begriff von Literatur als jeder offenere Literat der Kolonialzeit? Im Hintergrund von Verzerrungen solchen Ausmaßes steht im Allgemeinen das Nicht-Lesen (und eine Art kulturwissenschaftliche Ideologie), er ignoriert z.B., dass der Schriftbegriff Derridas jenseits der Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit steht, was denn auch den Verdacht Schüttpelz’ erregt (ebd., 367). Der Begriff der »Ur-Spur« in der Grammatologie, auf die er sich auch bezieht, konzeptualisiert nichts anderes, als was Schüttpelz – aus einem bestimmten Blickwinkel – penibel, auf den Spuren der Empirie, belastet von vielerlei Widersprüchen schließlich eher verfehlt als erreicht. 4 | Martyn, Die Autorität des Unlesbaren, 22. 5 | Ebd., 23.
Zeugen der »Weltliteratur«
riellen Bedingungen und Verbreitungsmechanismen stehen (auch wenn sie nicht unabhängig davon sind). Freilich wird die Betonung auch bei Schüttpelz – wenn auch nicht auf die translatorische Natur, so aber – auf die Temporalität weltliterarischer und interkultureller Begegnungen (auf die es noch zurückzukommen gilt) verlagert.
Z ur H istorizität des B egriffs der »W eltliter atur « Die strukturelle Semantik der »Weltliteratur« weist gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gebrauch des als Kollektivsingular verstandenen Begriffs der »Geschichte« auf, eine Ausprägung, die um 1800 entstanden ist bzw. sich verfestigt hat. An die Stelle einzelner, exemplarischer Historien tritt »die Geschichte« (die »Geschichte schlechthin«, die »Geschichte an und für sich«), die gleichzeitig auch verzeitlicht wird, die zum Subjekt und Objekt ihrer selbst wird, insofern »Historie« und »Geschichte« einander kontaminieren. Von nun an umfasst die Geschichte den Handlungsraum bzw. den reflexiven Raum der geschichtlichen Zeit: »Die Zeit wird dynamisiert zu einer Kraft der Geschichte selber«.6 Die Erfahrung der Zeit wird nun geprägt von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Geschichte wird zu einem Begriff der Bewegung, die »fortschreitende […] Zeit« löst sich vom Vergangenen ab, das somit in seiner »grundsätzliche[n] Andersartigkeit« fassbar wird (327, wodurch auch der Historismus ermöglicht wird). Damit korreliert »die aufreißende Differenz zwischen der eigenen Zeit und der künftigen, zwischen bisheriger Erfahrung und Erwartung des Kommenden«, infolgedessen die eigene Zeit »als Übergangszeit« erfahren und artikuliert wird (328). U.a. die stetige Öffnung der Staatsgrenzen, die transmarinen Wirtschaftsbeziehungen ließen »das Postulat […] einer neuen Weltgeschichte« aufkommen (333). Es ist anzunehmen, dass die »Weltliteratur« nur vor diesem Hintergrund historischer Episteme (Foucault) ihren Sinn erhält, da sie sich zu einem ähnlichen Metabegriff entwickelt wie die »Geschichte schlechthin«. Einerseits weisen darauf die auffällig temporalen Indizes der berühmten Formulierung Goethes hin, die scheinbar der Struktur einer neuen Historizität entspricht: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen«.7 Andererseits wird nun das Bewusstsein einer jeweiligen literarischen Gegenwart von der Dimension der »Weltliteratur« – als ein Prozess des Werdens – beeinflusst oder wachgerufen, wobei sich dieses Bewusstsein seiner Determiniertheit auch bewusst ist. Das (welt-)literarische Bewusstsein wird dadurch zum Subjekt und Objekt seiner eigenen (welt-) literarischen Erfahrung.8 In dieser Perspektive bezeichnet die »Weltliteratur« ein 6 | Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 321. Die weiteren Seitenzahlen erscheinen im Haupttext in Klammern. 7 | Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, Stuttgart 1994, 238. Vgl. Koselleck: »Die Differenz zwischen allen bisherigen Geschichten und der Geschichte der Zukunft wurde zu einem Prozess verzeitlicht, in den handelnd einzugreifen menschliche Pflicht sei.« Geschichtliche Grundbegriffe 2, Stuttgart 1975, 676. 8 | Vgl. Ernő Kulcsár-Szabó, Az irodalomtörténet(írás) problémája. Megírható-e egy hozzáférhetetlen ›mibenlét‹ története? [Das Problem der Literaturgeschichte und ihres Schrei-
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Zeugnisgaben der Literatur
wirkungsgeschichtliches Potential, dem das jeweilige literarische Bewusstsein nun ausgeliefert ist, ferner eine spezifische geschehnishafte Stellung dieses Bewusstseins. In dieser doppelten Perspektive bzw. Erfahrung wird die Unbeantwortbarkeit der Frage nach dem Wesen der Literarizität noch weiter verschärft. Die Diskursivität dieses Wesens kann es nämlich nicht restlos historisieren, da seine ästhetische Virtualität und Erfahrung dann stabilisiert würden. Die starke Gegenwarts-, ja Zukunftsemphase in Goethes Worten bezieht sich also nicht einfach auf irgendeine Entwicklung,9 sie bedeutet viel eher die virtuelle Gegenwart der Lektüreerfahrung. Zugleich kann der stark kanonisierende Impetus in Goethes Diskurs, in dem die Griechen als eine Art Maß (nicht so sehr als ein Beispiel, dem es zu folgen gilt) für die historische Gegenwart erscheinen (»… im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen […] Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen«, ebd.), nicht übersehen werden. Schon die deutsche Frühromantik hat bekanntlich eine Historisierung des Begriffs des Schönen unternommen, die dann selbst historisch geworden ist (nicht nur durch ihre Stellung in der Zeit, sondern durch ihre zeitliche Seinsweise). Das Hegelsche Diktum der Ästhetik, wonach »die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes [bleibt]«,10 führt diese Tendenz zu ihrer radikalen Konsequenz und verfestigt den ästhetischen Historismus des 19. Jh. (der von Herder bereits inauguriert worden war). Hegel sagt dies freilich auch von einer kanonischen Annahme her, in deren Mittelpunkt die von ihm so genannte »klassische« Kunstform – als die Versöhnung des Äußeren mit dem Ideellen – steht (so wie für Goethe das »Bedürfniß von etwas Musterhaftem« nur von den Griechen gestillt werden kann, »alles übrige müssen wir historisch betrachten«). Es scheint sogar so, dass das Konzept der »Weltliteratur« gewissermaßen die Stelle des zeitlos Schönen einnimmt oder umbesetzt, zumindest in seiner kanonischen Valenz, während es gleichzeitig die Erinnerung an das zeitlos Gültige temporalisiert. In der Poetologie hat sich während der Kunstperiode wohl nur Friedrich Hölderlin radikal von der klassizistischen Nachahmungsästhetik entfernt, wie seine wichtigen dichtungstheoretischen Briefe an Böhlendorff zeigen. Hier wird das Verhältnis zwischen Antike und Moderne als ein Übersetzungsregime dargestellt, als eine wechselseitige Transposition: Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deswegen werden diese eher in schöner Leidenschaft […] als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgaabe zu übertreffen sein. Es klingt paradox. Aber ich behaupt’ es noch einmal […] das eigentlich nationelle wird im Fortschritt der Bildung immer der geringere Vorzug werden. Deßwegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgaabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug bens. Lässt sich die Geschichte eines unzugänglichen ›Wesens‹ schreiben?], in: Alföld 2012, 37. 9 | Die »unzeitgemäße Geschichte« Goethes würde das auch nicht ermöglichen, vgl. Koselleck, Goethes unzeitgemäße Geschichte, Heidelberg 1997. 10 | Georg W.F. Hegel, Werke 13. Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a.M. 1989, 25.
Zeugen der »Weltliteratur« war, um die abendländische Junonische Nüchternheit für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt. Deßwegen ists auch so gefährlich sich die Kunstregeln einzig und allein von griechischer Vortrefflichkeit zu abstrahiren. Ich habe lange daran laborirt und weiß nun daß außer dem, was bei den Griechen und uns das höchste seyn muß, nemlich dem lebendigen Verhältniß und Geschik, wir nicht wohl etwas gleich mit ihnen haben dürfen. Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. Deßwegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserm Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist.11
In diesem Chiasmus wechselseitiger Verflechtung von Moderne und Griechen ist es immer das Eigene, über das man am wenigsten verfügt, demgegenüber kann das Fremde angeeignet werden, um das Verhältnis zum Eigenen zu vermitteln, das keinen direkten Zugang bietet. Das »heilige Pathos« der Griechen (ihre Orientalität) konnte ihnen als solches nicht kenntlich werden, nur in einer Medialisierung durch die »Darstellungsgaabe«, die sie lernen, sich aneignen mussten, um ihr Eigenes in diese zu übersetzen (die dann die abendländische Rationalität hervorgebracht hat). Den Modernen ist hingegen die »Klarheit der Darstellung« natürlich, die sie als solche nicht reflektieren können, sie wird ihnen nur durch das heilige Pathos erfahrbar: in einer Übersetzung also, in der das Eigene nicht einfach zurückgewonnen, das Fremde nicht einfach historisiert wird (indem man es auf hegelsche Art als Vorgeschichte des Eigenen einordnet), sondern beide werden in ihrer Wechselseitigkeit gelesen (also, mit Hölderlins Worten, nicht einfach »gebraucht«, sondern »gelernt«). Die Übersetzung ergibt sich also zwangsläufig aus zwei Gründen: einerseits ist das »Eigene« als solches nicht gegeben, andererseits können die Modernen die Antiken in dem, was diese sich angeeignet haben, nicht erreichen – gerade das ist nämlich zum Eigenen der Modernen geworden (und insofern ist nur dem Anschein nach von zwei Gründen zu sprechen). Die Übersetzung hat also notwendigerweise auch eine dekanonisierende Wirkung (und aus dieser Sicht ist die Polemik Hölderlins gegen die Absolutheit eines griechischen Musters zu verstehen). In einem anderen Brief an den Verleger Wilmans geht Hölderlin so weit, dass er behauptet, er würde in der Übersetzung der Griechen ihre Fehler korrigieren, aber nicht von einer normativen Ästhetik her, sondern um das Eigene der Griechen durch die Darstellung hindurchschimmern zu lassen, d.h. den der Darstellung inhärenten Übersetzungsaspekt in seiner Übersetzung zu vollziehen, ihn zu lesen: Ich hoffe, die griechische Kunst, die uns fremd ist, durch Nationalkonvenienz und Fehler, mit denen sie sich immer herum beholfen hat, dadurch lebendiger, als gewöhnlich dem Publikum darzustellen, daß ich das Orientalische, das sie verläugnet hat, mehr heraushebe, und ihren Kunstfehler, wo er vorkommt, verbessere.12
11 | Brief an Casimir Böhlendorff vom 4. Dezember 1801, in: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe II (Hg. Michael Knaupp), München 1992, 912-913. 12 | Brief an Fr. Wilmans vom 28. Sept. 1803, ebd., 925. Der »Fehler« bedeutet hier also keine Devianz von einer normativen Schönheit, sondern dem nicht objektivierbaren Eigenen nicht zu entsprechen.
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Dieses Verfahren der Übersetzung kann auch als Arbeit an den kanonischen Aspekten des Originals gefasst werden, hier am kanonischen Vorrang der »Nüchternheit der Darstellung«, um an oder hinter ihm Spuren des Unbewältigten aufzuzeigen, die, indem die Übersetzung sie aktiviert, eben diese Darstellung zum Eigenen der Modernen hin verschieben oder verändern.13 Um zu zeigen, dass – mit den Worten von Paul de Man – »das Original nicht rein kanonisch«, nie mit sich selbst identisch war. Denn: »Die Übersetzung kanonisiert ein Original, lässt es erstarren und lässt im Original eine Beweglichkeit, eine Instabilität erkennen, die man zunächst nicht bemerkte.«14 Ein Beispiel aus der deutschsprachigen Dichtung kann das illustrieren: die zentrale Figur der vielbesprochenen Zwei Segel von C. F. Meyer ist die Harmonie in der Bewegung der zwei Segel, die den Interpreten zufolge die Einheit des Symbols inszenieren soll. Dabei weist die zweite Strophe des kurzen Gedichtes bei genauerem Hinsehen mit »Wie eins in den Winden« eine eigentümliche textuelle Redundanz auf, da die Zeile sich mit der Überspringung von »eins« bloß aus der Wiederholung des Wortes »Winden« zusammensetzt.15 Gerade diese mechanische, anagrammatische Wiederholung hebt die herrschende Ideologie des Gedichtes auf, indem sie die symbolische Einheit (das »eins«), ferner die analogische Präsentation des »wie« eliminiert. Dieses Moment verrät die Instabilität des Textes, indem es im Zusammenprall von »Wort« und »Satz« Wörtlichkeit aktiviert und das figürlich-semantische Verhältnis zwischen der »Art des Meinens« und dem »Gemeinten« (Benjamin) zerstört. De Man spricht hier vom Aufsatz Walter Benjamins, Die Aufgabe des Übersetzers von 1923, der die interlineare Übersetzung, eine spezifische Wörtlichkeit favorisiert. Diese Wörtlichkeit soll bei ihm die »reine Sprache« hervorbringen, die jedoch weder im Original noch in der Übersetzung alleine vorkommt, sondern sich sozusagen im Zwischenraum der beiden manifestiert (so wie bei Hölderlin weder die Antike die Moderne mit etwas beschenkt, worüber diese nicht schon verfügte, noch die Moderne jene einfach in ihre Vorgeschichte integriert, sondern im Chiasmus von Übersetzung und Übersetztem eine Konstellation entsteht, die zu keiner der beiden ausschließlich gehört). Diese »reine Sprache« gibt es als solche nicht, sie erscheint, als Korrelat der »monströsen« Wörtlichkeit der Übersetzung, nur zwischen dem »Gemeinten« und der »Art des Meinens«, zwischen Wort und Satz, zwischen Trope und Bedeutung.16 Die Übersetzung liest »das Original aus der Perspektive einer reinen Sprache« (197), fasst de Man jenen Sachverhalt zusammen, den Benjamin mit 13 | Hölderlin kehrt zu dem Problem in den Kommentaren zu seiner Antigone-Übersetzung zurück: Die »Haupttendenz [der Griechen] ist, sich fassen zu können, weil darin ihre Schwäche lag, da hingegen die Haupttendenz in den Vorstellungsarten unserer Zeit ist, etwas treffen zu können, Geschick zu haben, da das Schicksallose, das δυσμοϱον, unsere Schwäche ist« Anmerkungen zum Antigonä, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe II, 374. Im »Übertreffen«, der Überwindung der Griechen hallt das »treffen« wieder. In »sich fassen« kann man auch »etwas in Worte fassen« hören. 14 | Paul de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997, 195. 15 | Vgl. Thomas Böning, Allegorisieren/Symbolisieren, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft – Einführung in ein Sprachspiel, Freiburg i.Br. 1999, 172. 16 | Vgl. Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Gesammelte Schriften IV.1, Frankfurt a.M. 1974, 17. Vgl. Carol Jacobs, The Monstrosity of Translation: Walter Ben-
Zeugen der »Weltliteratur«
dem Wort »Übersetzbarkeit« bezeichnet, und der nicht einfach in Opposition zur »Unübersetzbarkeit« gebracht werden kann. Man kann also keine eindeutige Unterscheidung zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit einführen (»Wörtlichkeit« und »Freiheit« »müssen sich [in der Übersetzung] vereinigen«).17 Die dekanonisierende (und ent-auratisierende) Bewegung der Übersetzung bringt Benjamin im rätselhaften Schluss folgendermaßen auf den Punkt: »Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin. Nicht mehr freilich um seinet-, sondern allein um der Sprachen willen.«18 Die Übersetzbarkeit des dichterischen Textes führt diesen in ein Mitteilungsgeschehen ein, wo seine Grenzen aufgelöst werden, seine vermeintliche Gegenwart von einer quasi-messianischen Zeit gekreuzt wird, die sich aber in keinen eschatologischen Horizont einfügen lässt. Könnte es sein (und diese Frage kann unbeantwortet bleiben), dass man die »Weltliteratur« (nicht) in einer solchen nicht-zeitlichen Konstellation suchen muss? Könnte es sein, dass die »Weltliteratur« nicht einfach aus Texten und ihren kanonischen Figuren besteht, sich vielmehr, als eine Art Nachleben (nicht Zeitlosigkeit) in solchen Übersetzungs- und Interpretationsereignissen zu Wort meldet, die die »reine Sprache« als einen virtuellen Infratext der Weltliteratur, besser gesagt, des Weltliterarisch-Werdens anzeigen? In der fortschreitenden Historisierung des Schönen heißt die nächste Etappe Baudelaire, in seiner »geschichtlichen Theorie des Schönen« besteht dieses bekanntlich aus zwei Hälften: aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird. Ohne dieses zweite Element […] wäre das erste Element unverdaulich, unbestimmbar, der menschlichen Natur unangepaßt und unangemessen.19
Im Verständnis Baudelaires hört – mit den Worten von Hans Robert Jauß – die Moderne nun auf »sich einer bestimmten Vergangenheit epochal entgegenzusetzen«. Das hat zur Folge, dass »die große historische Antithese zwischen den Alten und den Neueren, zwischen antikem und modernem Geschmack, ihre Geltung« verliert. Der Innovationsdrang der Moderne führt dazu, dass der welthistorische Gegensatz des Romantischen und des Klassischen sich auf den relativen Gegensatz zwischen dem für die Zeitgenossen Aktuellen, für die nächste Generation aber schon wieder Überholten und Vergangenen [reduziert]. Und in der Reflexion auf diesen Prozeß eines sich beschleunigenden geschichtlichen Wandels der Kunst und des Geschmacks jamin’s ›The Task of the Translator‹, in: ders., Telling Time, Baltimore 1993, 136-137. Jacobs macht auf die verborgene Anwesenheit von »treffen« bei Benjamin aufmerksam, ebd., 136. 17 | Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, 21. 18 | Ebd. 19 | Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe V (Hg. Friedhelm Kemp/Claude Pichois, Übers. von Guido Meister/Wolfgang Drost/ Friedhelm Kemp/Bruno Streiff/Ulrike Sebastian/Dolf Oehler), Darmstadt 1989, 215.
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Zeugnisgaben der Literatur kann sich jetzt ein Bewußtsein von Modernität ausbilden, das sich am Ende nur noch von sich selbst abhebt. 20
Die Historisierung des Modernen wird also von keiner »autoritativen Vergangenheit« bewirkt, sondern das Ewige oder Dauernde konstituiert sich erst darin, dass es sich vom Vorübergehenden oder Historischen abhebt, es steht aber nicht einfach für sich, sondern muss jeweils aus den Leerstellen des Momentanen, des Modernen herausgelesen werden. Kanonisierung und Dekanonisierung finden also zur gleichen Zeit statt. Die klassisch-moderne Einsicht in die transitorische Seinsweise des Schönen ist in diesem Zusammenhang aber noch nicht das letzte Wort der Moderne. In der Zwischenkriegszeit, der zweiten Welle der Moderne, wird der Begriff weiter radikalisiert und erscheint unter Namen wie Werden, ewige Wiederkehr, Intensität, das »Unaufhörliche«, das Nichts, das Außerzeitliche usw.21 Die Allochronie als die Dimensionen und Figuren eines zeitlichen Ausnahmezustandes – so könnte man diesen Aspekt nennen, der gleichwohl erst ansatzweise erforscht ist. Die Verschärfung der Kulturkrise der Jahrhundertwende im und nach dem Ersten Weltkrieg, der Wegfall sämtlicher metaphysischer Garanten des europäischen Weltbildes, führt zur erneuten Thematisierung der Zeitlichkeit in Philosophie und Literatur. Im Hintergrund dieser Entwicklungen steht natürlich das Verblassen des christlichen Zeitverständnisses, aufgrund dessen der unendliche Horizont der Zeit sich von der erlösten Zeit nicht mehr ausfüllen oder konkretisieren lässt (gerade so aber die Frage nach der authentischen Zeit aufwirft). In der Folge erfahren Vergänglichkeit, Endlichkeit, das unaufhörliche Vergangenheit-Werden eine intensive Aufmerksamkeit, wobei Chiasmen etwa zwischen Dauer und außerzeitlicher Permanenz zu beobachten sind, die eher – wenn auch nur fiktiv – als ein Nach- oder Überleben denn als Endfigur oder Zielvorstellung denkbar sind. Dadurch erscheint die gesteigerte Relevanz des Primitiven, d.h. des Prähistorischen als noch wesentlicher für die Moderne. Die erwähnte Monographie von Schüttpelz weist auf »das Zerbrechen der biblischen Chronologie« hin, »durch das sich ein ganz neuer geologischer und archäologischer ›Abgrund der Zeit‹ öffnete, in dem für sehr viel längere Genealogien, Spaltungen und Ungleichzeitigkeiten der Einheit des Menschengeschlechts Platz (also Zeit) war.«22 Der Ausbruch aus der biblischen Chronologie gilt in geologischer, astronomischer, archäologischer bzw. biologischer Hinsicht und hat globale Ausmaße. Schüttpelz berichtet von den imperialistischen und ideologischen Begleiterscheinungen der europäischen Expansion, wobei das Monopol auf Geschichtlichkeit häufig den Europäern, die Stagnation hingegen den Primitiven zugeschrieben wird (Schriftlichkeit und Mündlichkeit, schriftliche und mündliche Überlieferung fallen in die entsprechenden Kategorien). Interessant sind hier die Figuren des »Survival«-s, die die Figur der Latenz im säkularen Zeitregime darstellen, indem sie aus prähistorischen Zeiten in die moderne Gegenwart hineinragen. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen 20 | Hans Robert Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a.M. 1970, 50-51. 21 | Vgl. zum Folgenden Zoltán Kulcsár-Szabó, Kereszteződések. Az időbeliség mintái a későmodern költészetben [Kreuzungen. Muster der Temporalität in der spätmodernen Dichtung], in: Alföld 2008/4, 39-62. 22 | Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 394.
Zeugen der »Weltliteratur«
war schon eine der Hauptkonsequenzen des Kollektivsingulars der »Geschichte«23, hier wird sie jedoch auf unvorhersehbare Weise radikalisiert. Dabei muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Öffnung der Zeit auf ihre prähistorischen oder gar außerzeitlichen Abgründe – ein zeitliches Erhabenes, könnte man sagen – das Bedürfnis nach einer wie auch immer gearteten »authentischen« Zeitlichkeit noch weiter verstärkt hat. Das ist ein Zusammenhang, den man mit Verweis auf imperialistische Kulturalisierungstechniken nicht hinlänglich beschreiben kann, wie der von Schüttpelz zitierte Fritz Kramer schreibt, der »die Ungleichzeitigkeit in der Anthropologie als imperialistisch-ideologische Ausgrenzung« bezweifelt: »Könnte man nicht sagen, daß es – und zwar in jeder Gesellschaft, in der ›modernen‹ nur auf eine ihr eigene Weise – ein Bedürfnis nach Anachronismus gibt? […] Könnte es also nicht sein, daß der ›allochronistische‹ Diskurs weniger imperialistischen Legitimationsbedürfnissen dient als vielmehr unserem Bedürfnis nach Anachronismus?«24 Schüttpelz vermag die Frage nach eigenem Bekunden nicht zu entscheiden, zieht dennoch die etwas verblüffende Konsequenz, dass das »Bedürfnis nach Anachronismus« »kein Spezifikum der Moderne« sei. Allgemein betrachtet natürlich nicht, aber gerade das von ihm ins Feld geführte Zerbrechen der biblischen Chronologie war der prominente geschichtsbildende Faktor der Moderne, ja er fällt mit dieser zusammen und ist somit sehr wohl einer ihrer entscheidenden historischen Indizes. Ob das »Bedürfnis« am Horizont der Spätmoderne noch eine sinnvolle Kategorie darstellt, die mit der unbegreiflichen außerzeitlichen Dimension in Beziehung zu bringen ist, sei dahingestellt, jedenfalls wird hier die Problematik einer authentischen Zeit konnotiert. Zugleich wird die »authentische Zeit« bzw. »Gegenwart« laut Schüttpelz gerade im ethnologischen Diskurs der Zwischenkriegszeit den Primitiven zugeschrieben. Man könnte also in systematischer und methodologischer Hinsicht folgenden Vorschlag machen: Es gälte m.E., dass in der Diskursivierung der literarischen Leistung der Texte nicht nur kulturelle Umformungsphänomene auf ihre machttechnischen und ideologischen Potenziale und Verfahrensweisen hin zu untersuchen seien, sondern bereits die medialen, aber auch kanonischen Prinzipien und Dispositive der eigenen Kultur, die jene Kulturalisierungsexzesse ermöglichen und steuern, diese also nicht einfach nur als Instrumente einsetzen. Wir erinnern uns an die These von Schüttpelz, laut der bereits die Verschriftlichung der primitiven mündlichen Literatur Kolonialisierungseffekte in Gang gesetzt oder erzeugt hat. Die Unterwerfung der kolonialen Sub-jekte und ihrer »Literatur« fängt also bereits mit dem Schriftmonopol an. Derselbe Analytiker stellt nun aber einen materiellen Literaturbegriff in den Vordergrund und bedauert die Kanonizität der Texte. Es gibt hier also einen schwer auflösbaren Widerspruch oder eine zwiespältige Isomorphie zwischen Literaturbegriff und kritischem Verfahren, was erneut auf die Aporien eines ausschließlich »materiell gedachten« (dieser Ausdruck ist in mehr als einer Hinsicht äußerst interessant!) Literaturbegriffes verweist. Dass die maßgeblichen Autoren der Spätmoderne nicht einfach die Instrumentalität des Medialen und dessen ideologische Effekte kritisierten, sondern über23 | Vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, 336. Schüttpelz scheint darüber gleichsam hinwegzugehen, wenn er »Koselleck und anderen« nur die These der Beschleunigung der modernen Zeitlichkeit zuerkennen will (Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 396). 24 | Ebd., 406.
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haupt nach den Grenzen der medialen Fixierung fragen, bezeugt ein tiefgehender schriftkritischer Diskurs (der bereits bei Nietzsche sehr präsent ist, später von Carl Schmitt und Freud über Paul Valéry und Heidegger bis Musil reicht). Dieser Diskurs erstreckt sich vor allem auf die Frage nach dem Lesen (ihn motiviert also nur zum Teil eine kulturkritische Stimme). Näher betrachtet ist es die Zeugnisfunktion des Lesens, die dieser Diskurs reflektiert, da die Schrift im Vergleich zur Mündlichkeit grundsätzlich stärker verallgemeinert, universalisiert, normiert (deshalb kann sie mit der Theorie des »allgemein Menschlichen« in der europäischen Kolonial-Ideologie in Verbindung gebracht werden.) Die Kritik der Schrift(-lichkeit) ist auch eine Konsequenz des Misstrauens gegenüber den geschichtslosen Formeln einer anthropozentrisch-humanistischen Kulturauffassung, dem Menschenbild, das sie begründet haben, da es nun keine »allgemeine« Gesetzmäßigkeit mehr ist, die die Wahrheit, ja die Garantie literarischer Zeugenschaft bedeutet, sondern die Entdeckung der geschehnishaften Relativität, Unverortbarkeit des Singulären. Vielleicht erstreckt sich die Schriftkritik noch auf ein weiteres Feld: wenn nicht alles schreibbar ist, was die Literatur sagt (oder sagen kann), dann ergibt sich zwischen dem Rauschen des Ungesagten qua Ungeschriebenen eine strukturelle Analogie zur Dimension des Außerzeitlichen (wie die Buchstaben am Schluss von Lőrinc Szabós Gedicht Sivatagban [In der Wüste], die das Ich in den Sand geschrieben hat und die sich »im Wind der tollgewordnen Zeit verlieren«). Wie dem auch sei, der europäische Horizont kann sich nur in der Problematisierung seiner selbst der Andersheit öffnen, dem »Prähistorischen« usw., da »[d]urch den Imperialismus, durch den Kolonialismus und durch jede weitere Verbreitungsweise des westlichen Denkens […] im allgemeinen nicht nur Normen, Errungenschaften oder Positionen exportiert« werden, sondern »auch Krisen, zerbrechlich machende Befragungen«. Impulse, die im Zeichen der potenziellen »Auto-Hetero-Dekonstruktion«, ja der »Auto-Immunität« des europäischen Erbes wirken.25
C hiasmen von G eschichtskonzep t und L iter aturbegriff, A nthropologie und K ulturbegriff z wischen den W eltkriegen (aus ungarischer und kompar ativer S icht) Die verstärkte Reflexion auf die »Geschichte« in der Zwischenkriegszeit hat naheliegende Gründe, es lohnt sich aber, die de Mansche Parallele zwischen der Geschichte und so »zweitrangigen« Tätigkeiten wie der Kritik oder dem Übersetzen über die historisch-empirischen Tatsachen, aber auch die kulturkritischen Stimmen des Verlusts der Totalität, des Ganzen und des Synthese-Defizits hinaus zu erwähnen.26 Anders gesagt, setzt die Intensivierung des Übersetzungsproblems von Benjamin bis Kosztolányi eine Veränderung des interpretatorischen oder kognitiven Horizonts der Geschichte voraus. Auch weniger renommierte Intellektuelle als die beiden oben genannten werden von dieser Relation berührt. Antal Szerb etwa behauptet von der literarischen Epoche seiner Zeit: »Sie entspricht eher der Kri-
25 | Jacques Derrida/Élisabeth Roudinesco, Woraus wird morgen gemacht sein?, Stuttgart 2006, 293-294. 26 | Vgl. de Man, Schlußfolgerungen, 194-196.
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tik als dem schöpferischen Schaffen«.27 Nun war ein Rückgriff auf das Erbe oder die Prozesse der »Weltliteratur« in dieser Epoche keine Seltenheit, auch nicht bei denen, für die es keinen »Neoklassizismus« am Horizont gab. Hier mag die Wasserscheide liegen, die jene, die qua kanonisches Prinzip der »Weltliteratur« gerade die Krise der »Geschichte« zu kompensieren versuchten (so jedoch die Interpretierbarkeit der Geschichte teleologisierten) von denen trennt, die der Interpretation und Inszenierung der Beziehungen zwischen Texten und Literaturen angesichts der Bewegtheit des Lesens, ferner der Geschichte zumindest nicht ausgewichen sind, indem sie sich mit dem Problem der Übersetzung auseinandersetzten.28 Kritik und Übersetzung sind de Man zufolge dekanonisierende, d.h. grundsätzlich historische Tätigkeiten, die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit, ja die bloße Feststellung ihrer gesteigerten Verbreitung steht schon von vornherein in einer Spannung zu den dehistorisierenden oder geschichtsphilosophischen Figuren der kanonischen Form der Literatur (und den anthropologischen Ideen, die jene begründen).29 Welcher Zusammenhang besteht aus diesem Blickwinkel zwischen der kanonischen Funktion der Literarizität und der »außerästhetische[n] Heteronomie«30 (hier in erster Linie die »Geschichte«)? Man kann sich hier vor allem auf die – in der hier behandelten Epoche in vielen Formen vorkommende – stark kanonisierende Formel konzentrieren, derzufolge die ungarische Literatur als Singularität das Europäische als allgemeine, womöglich universale Entität bezeugen soll. D.h., das Singuläre zeigt das Allgemeine, ja im Verständnis des ungarischen Neoklassizismus das Universelle, wobei allerdings eine auffällige Asymmetrie bestehen bleibt.31 Der singuläre Zeuge deckt immer das allgemeine Spezifikum auf, am deutlichsten bei Babits, bei dem die literarische Individualität Ausdruck oder Manifestation des Humanen, der Idee des Menschen
27 | Antal Szerb, A világirodalom története [Geschichte der Weltliteratur], Budapest 1962 (1941), 880. Diese Beobachtung ist nicht originell, da Thomas Mann schon 1924 in Bezug auf Spengler, auf den auch Antal Szerb oft Bezug genommen hat, feststellt: »Deutlich tritt die im engeren Sinne ›schöne‹ Literatur im öffentlichen Interesse zurück hinter die kritischphilosophische …« Über die Lehre Spenglers, in: ders., Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt a.M. 1953, 143. 28 | Vgl. die Bemerkung Jan Assmanns, dass das Gleichnis des babylonischen Turmbaus auch im Zeichen eines Antihistorismus deutbar wäre, insofern ihn »Gedächtnisstiftung« und »eine kollektive Identität […] auf Dauer zu stellen« motivieren. Zeitkonstruktion und Gedächtnis als Basisfunktionen historischer Sinnbildung, in: Jörn Rüsen (Hg.), Westliches Geschichtsdenken, Göttingen 1999, 89. 29 | Zum Zusammenhang von Anthropologie und Geschichtskritik der Zeit vgl. auf der Grundlage deutscher Beispiele Gregor Streim: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik in der deutschen Literatur zwischen 1930 und 1950, Berlin/ New York 2008. 30 | Vgl. Schüttpelz, Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 374. Er schafft hier hinsichtlich der Ausdehnung und Problematisierung des Literaturbegriffs eine überzeugende Verbindung zum »mediale[n] Versprechen« mündlicher Literaturen, das bereits erwähnt wurde. 31 | Vgl. György Poszler, Eszmék, eszmények, nosztalgiák [Ideen, Ideale, Nostalgien], Budapest 1989, 368.
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als solchen und seines anthropozentrischen Erbes, ist.32 Die Beispiele zeigen aber, dass diese exemplifizierenden Verfahren als Antworten auf die Herausforderungen der modernen Geschichte gelesen werden können (die Skala dieser Herausforderungen reicht von den Folgen der Verbreitung der Massenmedien über die Gefahren der Nationalismen bis zum Schock der Friedensdiktate von Versailles). Die Affirmation der kanonischen Einheit des europäischen Erbes darf jedoch nicht mit der Singularität und dem riskanten (diskontinuierlichen) Wesen der Zeugenschaft verwechselt werden, das schließt nämlich die kontinuistische Auffassung der Geschichte und die kanonorientierte Auffassung der Literatur von Anfang an aus. Um über das Ereignis oder zumindest die Motivation der Zeugenschaft reden zu können, muss eine Sicht der Geschichte aufgegeben werden, die Musil folgendermaßen charakterisiert: »Es erklärt sich leicht, daß eine Zeit, die das Neue, das sie selbst ist, nicht begriffen hat, schmerzlich glaubt, etwas verloren zu haben, das früher zum Besitz gehörte.«33 Dieses »Neue« ist keine emphatische Qualität, es ist als solches nicht erkennbar (gerade da es die Gültigkeit der früheren historischen Inhalte und Formeln suspendiert), es prägt eher die Lage des historischen Zeugen als eines Überlebenden, deutlich z.B. in der spezifischen narrativen Situation und Modalität von Der Mann ohne Eigenschaften.34 Der Erzähler, dieser »Überlebende« kann nicht auf der Basis von humanistischen Universalien definiert werden, da die 32 | Mihály Babits, Az európai irodalom története [Geschichte der europäischen Literatur], Budapest 1979, 10. Einen ähnlichen Ausgangspunkt hat auch die Geschichte der Weltliteratur von Ford Madox Ford von 1938 (»The quality of literature, in short, ist the quality of humanity. It is the quality that communicates, between men and men, the secret of human hearts and the story of our vicissitudes.« The March of Literature. From Confucius to Modern Times, London 1947, 15), bei ihm liegt der Schwerpunkt im Vergleich zu Babits – die zentrale These: »Jede Nationalliteratur ist bis zu einem gewissen Grad das Produkt der Literaturen, die ihr vorangegangen sind« (ebd., 26) – eher auf der Historizität und dem kommunikativen bzw. nicht homogenen Wesen der Literatur (ohnehin liegt hier eine wesentlich gründlichere Arbeit vor), deshalb reflektiert er auch das Voraussetzungssystem bzw. die Institutionen der Fixierung und Übermittlung literarischer Schreibweisen. Zur Gegenüberstellung der Bücher von Madox und Babits vgl. Mihály Szegedy-Maszák, Irodalmi kánonok [Literarische Kanons], Debrecen 1998, 15-31. 33 | Der deutsche Mensch als Symptom (1923), in: ders., Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches, Essays und Reden. Kritik, Reinbek bei Hamburg 2000, 1385. An anderer Stelle beruft sich Musil auf Nietzsche: »Der Sieg eines moralischen Ideals wird durch dieselben unmoralischen Mittel errungen wie jeder Sieg: Gewalt, Lüge, Verleumdung, Ungerechtigkeit.« Er kommentiert: »Wir verstoßen gegen diese Beobachtung von großem Wahrheitsgehalt jedesmal, wenn wir uns über die Rohheit und Verkehrtheit des Neuen nicht nur empören, sondern diese persönliche Empörung auch mit den Gesetzen der Schöpfungsgeschichte verwechseln. Es liegt dabei nahe, das Gewohnte für das Notwendige zu halten.« Vor dem Internationalen Schriftstellerkongress (1935), in: ders., Prosa und Stücke …, 1263. 34 | »Ich. Ich erzähle die Geschichte meines Freundes Ulrich. Aber auch, was mir mit anderen Personen des Romans begegnet ist. Dieses Ich kann nichts erleben und erleidet alles, woraus sich Ulrich befreit und woran er dann doch zug runde geht. Aber tatlos, unvermögend zu einer klaren Erkenntn is und zu einer Aktivität zu kommen, wie es der diffusen, un übersehbaren Situation von heute entspricht. Mit Reflexion von meinem Standpunkt aus. Wie von einem letzten, weise, bitter und resigniert gewordenen Überlebenden der Katakom-
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Einschreibung der Geschichte in den Zeugen die Wirksamkeit jener untergräbt. Der Zeuge bezeugt also ein Erbe, das vom Geschehen der Geschichte aktiviert wurde, und über das der Zeuge nicht verfügen kann, insofern es z.B. nur als Fragment existiert. Anders ausgedrückt schlägt die Singularität, die Unvorhersehbarkeit, die Beispiellosigkeit der Gegenwart, das Unvorhersehbare als solches, auf einmal auf das Erbe zurück, fragmentiert es zugleich, die Identität seiner Gestalt und damit der Zugang zu ihm sind nicht mehr gewährleistet. Die Untersuchungen Valérys zur Krise des europäischen Geistes35 kreisen beständig um die Kategorie des »Unvorhersehbaren«, ferner um die Exemplifizierbarkeit des Universellen,36 auch Derrida hebt mehrfach darauf ab: Die nationale Hegemonie präsentiert sich, beansprucht ihr Recht, legitimiert sich im Namen eines Privilegs, das ihr dort zukommt, wo es um die Verantwortung gegenüber dem Allgemeinen, dem Über-, ja Transnationalen und um dessen Gedächtnis geht – dort letztlich, wo das Transzendentale und das Ontologische auf dem Spiel stehen. 37
Dahinter steht – bei Valéry – die folgende Struktur: »… die regionale oder partikulare Notwendigkeit des [kulturellen] Kapitals [führen] zur stets bedrohten Hervorbringung des Allgemeinen oder Universellen. Die europäische Kultur gerät in Gefahr, wenn die ideale Allgemeinheit, die Idealität des Allgemeinen als Hervorbringung des Kapitals bedroht wird«.38 Zugleich sind das Allgemeine und das Universelle auf das Zeugnis des Einzelnen angewiesen: »Keine kulturelle Identität stellt sich als der undurchlässige Leib oder Körper eines Idioms dar, im Gegenteil: jede erscheint immer als die unersetzbare Einschreibung des Universellen in das Singuläre, als das einzigartige Zeugnis des menschlichen Wesens und des Eigentlichen des Menschen«.39 Derrida macht hier und an anderer Stelle noch darauf aufmerksam, dass – bei der Frage nach dem »Menschen« – eine durchaus tiefe Verwandtschaft zwischen nationaler und internationaler Unilateralität, zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus, »eine[m] gewissen Humanismus, eine[m] gewissen Nationalismus und
be aus erzählt«. Robert Musil, Nachgelassene Fragmente, in: Adolf Frisé (Hg.), Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1957, 1635. 35 | Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erschien diesbezüglich eine Arbeit Valérys auch auf Ungarisch, vgl. Paul Valéry, Európa nagysága és hanyatlása, Budapest 1945, vgl. Derrida: Das andere Kap, Frankfurt a.M. 1992, 18. 36 | Zur Krise des »Unvorhersehbaren« (hier löst sich die Gegenwart gleichsam von sich selbst ab), zur Beispiellosigkeit der »Gegenwart« (oder des Kommenden?), wo wir »rückwärts in die Zukunft« gehen (die Ähnlichkeit dieser mehrfach wiederholten Formulierung zum Gleichnis Benjamins vom »Engel der Geschichte« ist interessant), Paul Valéry, Werke 7. Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt a.M. 1995, 103, 106, 280, 519-523, 535-537. (Valéry macht hier einen Unterschied zwischen den Kategorien des »Unvorhersehbaren« und des »Unvorhergesehene[n] von einst«.) Zur Frage des Zeugnisses in Fotografie und Literatur vgl. ebd., 499-500. (Zur Kritik Valérys und Benns am Geschichts- und Anthropozentrismus vgl. Max Rychner, Moderne Dichter als Gegner der Geschichte, München 1963.) 37 | Derrida, Das andere Kap, 37. 38 | Ebd., 49. 39 | Ebd., 54.
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eine[m] gewissen europäozentrischen Universalismus«40 besteht. Jaspers hat neben anderen 1930 darauf hingewiesen, worin diese Verwandtschaft u.a. bestehen kann: Die Nationalisierungsbestrebungen auf der ganzen Welt sind intoleranter als je, aber Nation ist in ihnen nur die Durchschnittlichkeit der Sprache in Assimilation an einen nivellierenden Typus […] Umgekehrt lehnen viele die Nationalität als falsche Front ihnen fremder Interessen ab, um an eine ungeschichtliche Schicksalsverbundenheit der durch alle historischen Völker hindurch verwandten Massen zu glauben. 41
Musil ist der einzige, der sich unter Literaten darum verdient gemacht hat, diesen kulturkritischen Diskurs im Rahmen seines »Theorem[s] der menschlichen Gestaltlosigkeit«42 mit der Frage nach der Definierbarkeit des »Menschlichen« als solchen zu verknüpfen. Ein symptomatisches Beispiel kann in diesem Zusammenhang Stefan Zweigs Einschätzung sein, die er in seinen Memoiren von 1941 (in der der Name des Landsmannes Musil nicht vorkommt, vielmehr finden die Namen belgischer und englischer Autoren Erwähnung), Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, macht, wobei er sich in Bezug auf eine Geschichtsschau, die mit der Ant hropologie vermittelt werden soll, im Grunde in unauflösbaren Aporien verstrickt. Zweig meint mit Blick auf die Exzesse des 20. Jh., dass das Mittelalter an Brutalität von der Moderne noch übertroffen würde (das wäre die Kategorie des Beispiellosen, des Unvorhersehbaren).43 An anderer Stelle fürchtet er dagegen den Rückfall der Moderne auf ein prähistorisch-anthropologisch primitives Niveau (die Zeit der Höhlen). Abgesehen von der naheliegenden Frage, ob denn nun ein Beispiel für die Grausamkeiten der Moderne existiert oder nicht, ist es interessanter, darauf hinzuweisen, dass die synthetische Lektüre dieser beiden Meinungen von Zweig eine Logik ergibt, wonach das historisch Neue oder Beispiellose das – Primitive oder Prähistorische wäre. In dieser Relativierung des modernen, auf dem Fortschrittsprinzip gründenden Geschichtsbegriffes taucht die Unlesbarkeit der (modernen) Geschichte auf – was hinsichtlich der Möglichkeiten, geschehende Geschichte zu bezeugen, ernsthafte Zweifel aufkommen lassen kann. Es gibt kein universelles Spezifikum, das die Exzesse der modernen Geschichte beispielhaft darstellen könnte (wodurch sie denn auch bezeugbar wären), dieses Spezifikum ist das Vorgeschichtliche (oder 40 | Derrida, Heideggers Hand, in: ders., Geschlecht (Heidegger), Wien 1988, 56. Vgl. auch Derrida, Das andere Kap, 38. 41 | Die geistige Situation der Zeit, Berlin/New York 1979, 101. Musil nimmt zu der Frage in dem Essay Die Nation als Ideal und Wirklichkeit (1921) Stellung, in: ders., Prosa und Stücke …, 1059-1075. 42 | Hier kann nicht darauf eingegangen werden, es kann nur auf den Komplex hingewiesen werden, den bereits der Titel von Musils großem Roman in den Mittelpunkt stellt (Der Mann ohne Eigenschaften). Eine essayistisch-diskursive Annäherung bietet z.B. der bereits erwähnte Essay Der deutsche Mensch als Symptom. Vgl. dazu Wolfgang Schraml, Relativismus und Anthropologie. Studien zum Werk Robert Musils und zur Literatur der zwanziger Jahre, München 1994, 205-230. 43 | Zweig, Die Welt von gestern, Frankfurt a.M. 1990, 460. Einige Seiten zuvor spricht Zweig denn auch davon, wie zweifelhaft die Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit (der Wahrnehmung) historischer Augenzeugen ist, vgl. ebd., 437-440. Proust thematisiert dasselbe Problem, vgl. Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt a.M. 2002, 220.
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Außergeschichtliche) selbst, das sich höchstens dadurch bekundet, dass es jegliche Möglichkeit einer Zeugenschaft blockiert oder abbaut. Es ist aber unwahrscheinlich, dass Zweig solche Schlüsse zieht (insofern er eher nicht-bewusst, symptomatisch auf die o.g. Aporien aufmerksam machen kann), es ist Musil, der die Relativität des anthropozentrischen Geschichtsbildes reflektiert. Desgleichen Kosztolányi, der souverän die Aporien des fortschrittsbasierten Geschichtsbildes aufzeigt, wobei er Sendung und Rolle, die Transzendierung der Literatur ablehnt: Doch auch der Prozess des Lebens ist nicht vernünftig. Jede Gemeinschaft ist eigentlich ein unbegreifliches Geheimnis. Eine Millionen Menschen und die Gesamtheit von einer Millionen Individuen sind nicht dasselbe, es sind nicht eine Millionen Hirne und eine Millionen Herzen, diese Millionen Menschen bilden vielmehr eine besondere Persönlichkeit, in deren Handeln es etwas zu entdecken gibt, das gar nicht menschlich ist – etwas übermenschliches oder etwas untermenschliches, egal – etwas fernes und interstellares, auf das die Gesetze von Ratio und Moral nicht mehr anwendbar sind. 44
In einem Passus von Der Mann ohne Eigenschaften werden der geschichtemachende Mensch und das Tier in Analogie gebracht: »Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte?«45 Wenn der Ausgangspunkt die Geschichtslosigkeit des Tieres im Gegensatz zum Menschen ist, dann wird auch deutlich, dass der Mensch Geschichte nie aus eigenem Entschluss, autonom macht, sondern man könnte sagen, er macht Geschichte aus Zwang, aus dem Zwang zu überleben (jedoch nicht so sehr im Interesse der Selbsterhaltung als) infolge eines Angriffs gerade der Geschichte auf ihn, in einer Art Ausnahmezustand – d.h. er beherrscht sie nicht, sondern ist ihr ausgeliefert. Die Entscheidung, die von der Notwendigkeit erzwungen wurde, bedeutet also keine dezisionistische Haltung, sondern eher eine Art Herausforderung oder ein Ausgeliefertsein.46 In dieser Struktur wird nicht nur 44 | Mit tegyen az író a háborúval szemben? (1934) [Was soll der Schriftsteller im Angesicht des Krieges tun?], in: ders., Nyelv és lélek [Sprache und Seele], Budapest 1999, 572. Auf der folgenden Seite spricht er von den Tieren: »Die Bibel, die das Fundament unserer Moral bildet, spricht nur von der Nächstenliebe, und in ihrer anthropozentrischen Sicht vergisst sie die Liebe zum Tier. Tiere, seelenvolle Wesen, werden von uns getötet, und wir ernähren uns von ihrem Fleisch, ihrem Blut. Ich will das nicht missbilligen, ich stelle es nur fest.« Ferner: »Im Krieg aber sah man keinen Irrsinn [im Gegensatz zum doch arglosen Gang auf vier Beinen], denn er war menschlich. Mich schaudert, was ich schreibe. Es ist aber die Wahrheit.« 45 | Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1981, 362. Vgl. Schraml, Relativismus und Anthropologie, 179. 46 | Darin mag auch der tiefere Sinn der Politischen Theologie von Carl Schmitt liegen, den die meisten Schmitt-Kritiken von Anfang an übersehen, da sie Schmitt als den Vertreter eines voluntaristischen Dezisionismus (der angeblich die Antwort auf die unverbesserliche Natur des Menschen wäre) missverstehen. Offensichtlich geht es hier nicht bloß um irgend eine anthropologische Vorausbestimmung des Menschen (was immer noch ein Anthropomorphismus wäre), sondern darum, dass der Mensch der Geschichte ausgeliefert ist, um das Ernstnehmen dieses Umstandes. Die Schmitt-Kritik ist zumeist unreflektiert gestenhaft
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die Opposition von Mensch und Tier verunsichert, unlesbar, vielmehr kommt nun die radikale Zirkelhaftigkeit zum Tragen (und ist verantwortlich für die Entkräftung jenes Gegensatzes), in der der von der Geschichte stigmatisierte Mensch gezwungen ist, ebendiese Geschichte zu gestalten, was im Grunde jedoch die Logik der Autoimmunisierung freilegt: die Kraft der Geschichte wird hinsichtlich der Verwundung, der Beeinträchtigung, der Verunsicherung des »Menschlichen« gesteigert. Vielleicht ist hier gar nicht so sehr eine dialektische Logik am Werk, als vielmehr die radikale Unentscheidbarkeit, ob der Mensch die Geschichte gestaltet, oder ob er indirekt eher ihre (selbst-)zerstörerischen Kräfte steigert. Die Ansichten Musils über die literarische Wirkung gehen bekanntlich davon aus, dass »man […] ersichtlich nur dort von Originalität sprechen [kann], wo es eine Überlieferung gibt«.47 Die Beispielhaftigkeit der Originalität wird hinsichtlich des Allgemeinen oder des Universellen – die grundlegende Prämisse der Genieästhetiken48 – gerade deswegen modifiziert, weil die Tradition gleichsam die Rolle des Allgemeinen einnimmt. Diese Überlieferung ergibt sich jedoch nicht einfach als kanonisches Muster, ja nicht einmal als Kontinuität, sondern als Zitat, d.h. als Fragment, und als solches eignet sie sich dem Lesen zu – ja einer Art experimenteller textueller Praxis. So erfährt die Seinsweise der Überlieferung eine Veränderung, da sie von einer Art zitationeller Performativität nur wiedererschaffen werden kann, was in Musils Darstellung sogar in Bezug zum Paradigma der Zeugenschaft stehen kann: Und sie ist nicht eine Überlieferung, die von Hand zu Hand gegeben werden kann, sondern dabei ist ein merkwürdiger, vorderhand nicht aufgeklärter Vorgang im Spiel: Die schöpferischen Menschen übernehmen nicht sowohl das Vergangene (oder von anderen Orten Kommende) als daß es vielmehr in ihnen geboren wird, wodurch uralte Geschichte immer wieder sowohl neu belebt als auch persönlich verändert wird. 49
Dieser Seinsweise schreibt Musil zu, dass die Kultur »etwas Überzeitliches« ist und nicht auf eine Nationalkultur beschränkt werden kann, nicht aber aus der Sicht eines idealtypisch Allgemeinen (an dem sich sodann die Nationalkultur wie an einem Muster auszurichten hätte), sondern aufgrund ihres historischen Charakters und ihrer gleichzeitigen temporalen Diskontinuität. Die Bezeugung des Überzeitlichen ist ein Ereignis, und es folgt keinem programmierten Muster. Das politisch, d.h. wertend, Musils Unterscheidung sollte hier in Betracht gezogen werden: »[E]s liegt in jedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen«. Das hilflose Europa, in: ders., Prosa und Stücke …, 1088. Einer der Hauptgedanken der dritten Hölderlin-Vorlesung Heideggers (1942) ist, dass die »Unheimlichkeit […] nicht erst zufolge des Menschentums [entsteht], sonders dieses kommt aus der Unheimlichkeit und bleibt in ihr«. Hölderlins Hymne ›Der Ister‹, GA 53, Frankfurt a.M. 1984, 88-89, 107. 47 | Literat und Literatur. Randbemerkungen dazu (1931), in: ders., Prosa und Stücke …, 1207. 48 | Vgl. Musils ironische Anspielung, Bücher und Literatur, in: ders., Prosa und Stücke …, 1162-1164, 1167. 49 | Vor dem Internationalen Schriftstellerkongress, in: ders., Prosa und Stücke …, 1264-1265.
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Übernationale ist also keine metasprachliche Konstruktion, die das Idiomatische oder das Singuläre zu einem bloßen Beispiel herabsetzen würde (und insofern ein Programm vollziehen würde). Gerade die Zitathaftigkeit offenbart also die nicht-autoritative Seinsweise der Überlieferung und kann für sich eine dekanonisierende Funktion geltend machen,50 wobei sie z.B. mit den Figuren der Universalität konfrontiert wird, die Musil »allgemeine Überzeugungen« nennt (dazu zählt er im Zusammenhang mit der »Literatur zwischen 1890 und 1910« z.B. das Ideal der ›sittlichen, humanen Persönlichkeit‹, aber auch die Aufwertung des »Gefühls«, das denn auch auffallend leicht vom Kitsch pervertiert wurde).51 Er stellt der ästhetischen Ideologie, die jene steuern, jedoch nicht einfach die »Lektüreerfahrungen« gegenüber, die in der literarischen Wirkung von grundlegendem Interesse sind und die er als ein Phänomen der Energie und der Intensität beschreibt. Die »Mißverständnisse« können nämlich »den gleichen Dienst [leisten]«, wie das Verstehen, »sie helfen die Suggestion verstärken, durch die [die] Eindrücke [des Lesers] in ein System der gegenseitigen Erleichterung und Energievermehrung kommen, das wirkungsvoller ist« als die o.g. Anthropomorphismen.52 Die Wirkung erscheint immer als »persönlich anzueignende[r] Wert« (Musils differenzierter Darstellung kann hier nicht nachgegangen werden), und bedeutet nicht zuletzt, im Modus der »Bewahrung«, ein Zusammenspiel von Nicht-Schreibbarem und Formulierbarem: [M]an bewahrt auch das Ungewisse und Unbeschreibliche der Werke – den Rhythmus, die Gestalt, den Gang, das Physiognomische des Ganzen – entweder eine Weile rein mimetisch, so wie man von einem eindrucksvollen Menschen nachahmend angesteckt wird, als innere Gebärde sozusagen, oder macht den Versuch, es in Worte zu fassen. 53 50 | Vgl. in Bezug auf das »Beispiel«: »Die schöne Literatur hat keine Ordnung außer einer historischen und vereinzelten Bruchstücken einer kritisch-ästhetischen. Sie hat keine Logik, sondern besteht nur aus Beispielen für ein geheimes Gesetz oder Chaos. Man könnte sagen, daß ihre geistige Natur aus Erinnerungen ohne begrifflich-faßbaren Zusammenhang besteht, und für ein solches Gebiet ist das Zitieren (die Berufung auf das runde Wort der Meister, statt der herausgelösten Bedeutung) konstitutiv und drückt nicht bloß ein rhetorisches Schmuckbedürfnis aus.« Danach folgt das prägnante Gleichnis, in dem das Zusammenspiel von historischem Vergessen und Aktualisierung spürbar wird: »[D]ie ganze schöne Literatur gleicht einem Zitatenteich, worin sich die Strömungen nicht nur sichtbar fortsetzen, sondern auch in die Tiefe sinken und aus ihr wieder aufsteigen.« Ders.: Prosa und Stücke … 1206. »Literatur in solcher Absicht gebraucht, heißt das Interesse nicht auf die Summe und auf das Museum der Werke richten, sondern auf die Funktion, das Wirken, das Leben der Bücher, ihre Zusammenfassung zu einer fortdauernden und sich steigernden Wirkung.« Ebd., 1167. 51 | Die Zitate: ders., Prosa und Stücke …, 1178, 1166, 1179. An der letzten Stelle bemerkt er, dass »[d]ie Sprache des Gefühls […] konservativ [ist], selbst wenn das Gefühl es nicht ist; denn sie ist schwerfällig wie eine Bilderschrift und setzt einen gewissen Kanon bekannter Erlebnisformen, Wertungen und Grundsätze voraus, mit dessen Hilfe sie verstanden wird. Vermeintlich war dieser Kanon ein ewig menschlicher, in Wahrheit der einer bestimmten Gesellschaft.« Zum Kitsch als Ersatz des »Gefühls« vgl. Unfreundliche Betrachtungen, in: ders., Prosa und Stücke …, 502. 52 | Bücher und Literatur, in: ders., Prosa und Stücke …, 1166. 53 | Ebd., 1168.
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In einer anderen Schrift, dem Aufsatz Ansätze zu einer neuen Ästhetik (1925), deren Ausgangspunkt bekanntlich das Buch über den Film von Béla Balázs (Der sichtbare Mensch) ist, sind die Spezifika des »Unbeschreiblichen« die Indizes jener »sehr alten Kulturzustände«, die Lévy-Bruhl beschrieben hat.54 Es geht hier also nicht nur um die Phänomenologie ästhetischer Erfahrung, sondern um eine Dimension des Nicht-Hermeneutischen, die zugleich auf eine nicht-zeitliche, nie gegenwärtig gewesene Vergangenheit weist, die sich nur in einer »Wiederkehr« ohne »Dauer« ergibt, und die keine Entwicklung kennt.55 Wiederum schlussfolgert Musil, dass das Zusammenspiel zwischen der »Bewahrung« und dem »Versuch, es in Worte zu fassen« nicht zu einem synthetischen Ganzen gefügt werden kann, so wie die Literatur als »eine ungeheure Sammlung von [bloßen] Beispielen« sich nicht zu einem Ganzen zusammensetzen lässt, sondern dass die Werke und die »verarbeiteten Leseerfahrungen« – in der paradigmatischen Exemplifizierung der syntagmatischen Beispiele, oder anders gesagt, in deren Bezeugung – eher eine Art »Gewebe« bilden.56 Der »Inbegriff« dieser Erfahrungen ist die »Kritik«, die Musil mit der Moral vergleicht, insofern »sie ein System besitzt, welches zugleich wandelbar und fest ist. Kritik in diesem Sinn ist nichts über der Dichtung, sondern etwas mit ihr Verwobenes«. Die Kritik übt also nicht nur eine metasprachliche Funktion aus, sie ist eher das Zeugnis eines Allgemeinen, in dem sie selbst ihre Lesbarkeit erlangt, da das Zeugnis nur im individuell-»persönlichen« Lesevorgang geleistet werden kann. Die Ausdeutung der Literatur und des Lebens gehen hier ineinander über, wobei »[e]ine solche Übersetzung des teilweise Irrationalen ins Rationale […] nie völlig [gelingt]«, da sie, könnte man hinzufügen, ein Oszillieren zwischen dem Nicht-Schreibbaren und dem Formulierbaren ist. Diese Übersetzung ist kein bloßes Übertragen, sondern eine Bezeugung im Modus des Allegorischen: »So ist sie ein Weniger und ein Mehr, bleibt wie jede ideologische Ordnung dem Leben, das sie umfaßt, viel einzelnes schuldig und verleiht ihm dafür etwas Allgemeines.« Die Zeugenschaft schwankt hier also zwischen dem »Unbeschreiblichen« (als »innere Gebärde«) und dem in Worten Fassbaren, das eine bezeugt das andere, jedoch so, dass weder das eine noch das andere anwesend ist, weswegen das Ereignis des Zeugnisses auch nicht abschließbar ist, denn es schließt die metasprachliche Distanz aus. Die Konzeptionen des Verhältnisses von ungarischer und Weltliteratur der Zwischenkriegszeit sind bekannt, hauptsächlich, was die Praxis und die Prinzipien der Geschichtsschreibung betrifft. Der gemeinsame Anspruch der Mehrzahl dieser Konzeptionen ist die Neubestimmung der Autonomie der Literatur auf der Basis der »Selbstbetrachtung« oder der Selbstbeschreibung der Literatur. Die Bruchlinien scheinen zwischen zwei Positionen zu verlaufen, einerseits zielt diese Autonomie auf die nationale Literaturgeschichte, das »Artistische« und das »literarische Bewusstsein« (János Horváth), andererseits wird sie auf der Basis eines transkulturellen weltliterarischen Kanons formuliert (Mihály Babits). Im Endeffekt pflegen beide Formationen jedoch ein evolutives Konzept historischer Bedeutungsbildung, 54 | Ansätze zu neuer Ästhetik, in: ders., Prosa und Stücke …, 1141. 55 | Ebd., 1144, 1154. 56 | Ders., Prosa und Stücke …, 1169. Alle weiteren Zitate von dieser bzw. den folgenden Seiten.
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beiden eignet eine geschichtsphilosophische Tendenz der Teleologie, die Rückkehr des nationalen oder des transkulturellen Geistes zu sich selbst.57 Der vergleichsweise alternative Kulturbegriff László Némeths war zum Teil, wenn auch ohne große Erfolgsaussichten, an der Ergründung kulturell-anschaulicher Ursprünge interessiert,58 daneben war Németh zur damaligen Zeit aber praktisch der einzige Essayist von Format, der mehrfach darum bemüht war, die Begegnung zwischen ungarischer und Weltliteratur als dialogische Beziehung begreiflich zu machen.59 Horváth und Thienemann haben im Zusammenhang mit der kommunikativen Seinsweise der Literatur die historische Veränderlichkeit des Literaturbegriffs betont, wobei man weniger von Literatur als von einem »literarischen Grundverhältnis« sprechen sollte (»dem geistigen Verhältnis von Schriftstellern und Lesern durch die Vermittlung von geschriebenen Werken«). Der Germanist Thienemann stellt diese Literaturdefinition in den Zusammenhang mit dem Weltliteraturbegriff Goethes: Für Goethe ist die Weltliteratur nicht einfach ein kanonisches, zeitloses Arsenal, sondern die Mobilität der Texte ermöglicht eine »größere und universellere Leserschaft als die nationale« und verhilft einem »übernationalen literarischen Leben« zum Sein. Dieser Gedanke setzt anstelle des »älteren Objekt-Begriffs« der Literatur einen »viel abstrakteren Relationsbegriff« voraus, wobei das »publizierte Werk nur ein Produkt der Literatur, jener Wechselseitigkeit ist, die durch die Kontinuität der Tradition Autor und Leser wechselseitig aufeinander angewiesen sein lässt«.60 Babits hat die Horváthsche Auffassung im Namen eines zeitlosen und universellen Erbes, das, als Kanon, die europäischen Klassiker versammelt, abgelehnt und die Individualität der Autoren und Werke betont, die er archetypisch setzt, und die nicht in kollektiven Zusammenhängen aufgelöst werden kann und mehr oder weniger rezeptionsunabhängig ist. Er stellt zwar fest, dass »es keine vollkommene Originalität« gebe,61 dennoch würde die transepochale Autorität kanonischer Werte 57 | Vgl. Ernő Kulcsár Szabó, Irodalom és hermeneutika [Literatur und Hermeneutik], Budapest 2000, 302. 58 | Es ist festzustellen, dass sowohl der Universalitätsgedanke von Babits als auch das Volkstümlichkeitsprinzip Némeths (sowie ihre verschiedenen Anhänger) auf die desintegrierenden Impulse der historischen Gegenwart reagieren, wie man das aufgrund von österreichischen Beispielen folgendermaßen formulieren kann: »Das beliebte Genre der Kulturgeschichte mit dem Anspruch auf universalhistorische Gültigkeit und die oft detailbesessene Leidenschaft für die Erforschung des Volkstümlichen antworten somit demselben Bedürfnis, nämlich sich der deprimierenden Gegenwart zu entziehen und für sie aus der Vergangenheit die Chance zu beziehen, allmählich zu sich selber zu kommen.« Wendelin Schmidt-Dengler, Abschied von Habsburg, in: Bernhard Weyergraf (Hg.), Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München/Wien 1995, 526. Der Horizont der in der Zeit vermehrt auftretenden Biographien (z.B. die Biographien bedeutender historischer Persönlichkeiten von Stefan Zweig) kann als Parallele zu Babits’ Individualitätsglauben gesehen werden. Zu den historischen Ansprüchen, die sie entstehen lassen, vgl. ebd., 519-524. 59 | Vgl. die Rezension gerade z.B. von Antal Szerbs Magyar Irodalomtörténet [Ungarische Literaturgeschichte], Két nemzedék, Budapest 1970, 491-496. 60 | Thienemann Tivadar, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs 1931, 41. 61 | Zitat aus der Einleitung zur Az európai irodalom története, 7-13.
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diese gewährleisten, womit er von der Definition Goethes abweicht (der eher Thienemann folgt), da er nun das lateinisch-christliche Erbe zum Träger der Weltliteratur macht, anstatt sie als werdenden, in die Zukunft weisenden Wirkungszusammenhang zu verstehen.62 Wenn Babits die »Weltliteratur« mal als »Blutkreislauf«, mal als »Strom« charakterisiert und letzterer die metaphorischen Grenzen eines einheitlichen Organismus durchbricht (man könnte sagen, wenn er eine energetische Bedeutung annimmt), dann wird gleichsam ikonisch der Widerspruch aufgezeigt, der sich bei Babits zwischen der Weltliteratur als einer Gesamtheit unveränderlicher Werke und der Weltliteratur als Prozess ergibt.63 Babits hat das Europäertum im Grunde als Handlungssubjekt definiert, als das autarke Erbe der erwähnten Kultur (den Träger des Europäertums), das letzten Endes von metaphysisch verstandenen Autoren-Individualitäten überliefert wird. Die Jüngeren haben das Europäische eher als Referenzsubjekt oder als Berufungssujet spezifiziert, die Metaphern der Einleitung der Magyar irodalomtörténet (Ungarische Literaturgeschichte) von Szerb schwanken zwischen den beiden Begriffen: einmal erwähnt er die »christlich-europäische Kultur« als »gut einstudiertes Orchester« (der Aspekt der Performanz), kurz danach erscheint die ungarische Literatur als »Miniaturausgabe der europäischen Literatur« (referenzielles oder mimetisches Sujet).64 Im letzten Kapitel von Antal Szerbs Geschichte der Weltliteratur wird der kulturkritische Ton prägnanter. Die »Zivilisation« löst die »Kultur« in der damaligen Gegenwart ab, genauer gesagt, baut sie diese ab, die Zivilisation ist die »Dekomposition« der Kultur.65 Worin besteht nun diese Zergliederung? Insofern die »Kultur« auf der Achse der Innovation66 in einer organischen oder zumindest einer motivierten Beziehung zur Geschichte (dem geschichtlichen »Bedürfnis«) steht, zeichnet diese Notwendigkeit die Kultur letzten Endes aus, sodann besteht die negative Wirkung der »Zivilisation« wohl – der immanenten Logik dieser Krisenkritik zufolge
62 | Auf diesen Unterschied hat Poszler aufmerksam gemacht, vgl. Eszmék, eszmények, nosztalgiák, 311. 63 | Vgl. Szegedy-Maszák, Irodalmi kánonok, 18. 64 | Szerb Antal, Magyar irodalomtörténet [Ungarische Literaturgeschichte], Klausenburg 1934, 15, 17. 65 | Szerb, A világirodalom története, 878-879. Szerb übernimmt dieses Modell offensichtlich von Spengler, der in der Zivilisation einer organischen Formel zufolge den notwendigen Abbau der Kultur erblickt, vgl. Der Untergang des Abendlandes, München 1979, 43-47. Vgl. in diesem Zusammenhang Musils Schrift von 1921, Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind, in: ders., Prosa und Stücke …, 1042-1059. Er definiert die »Zivilisation« als »den diffus gewordenen Kulturzustand«, vgl. 1057-1058. Der Ton von Musils Schrift ist denn auch einerseits objektiv, andererseits ironisch (wie schon der Untertitel andeutet). (Zu Spengler und anderen vgl. z.B. Peter Sloterdijk, Weltanschauungsessayistik und Zeitdiagnostik, in: Bernhard Weyergraf [Hg.], Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, 327-328. Zum Verhältnis von Musil und Spengler vgl. Schraml, Relativismus und Anthropologie, 157-183) 66 | »Es gehört zur Natur der ›Zivilisation‹, bewusst und aus Prinzip Neues schaffen zu wollen, während zur Zeit der Kultur das Neue von selbst kam, wenn die Notwendigkeit dazu bestand.« (Szerb, A világirodalom története, 879)
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– darin, dass sie diese motivierte oder programmierte Beziehung zersetzt.67 »Kultur« und »Geschichte« entfernen sich unter Einwirkung der »Zivilisation«, die die »Kultur« dekomponiert, voneinander, was »Anarchie« bzw. eine Katastrophe, man könnte also sagen: Geschichte selbst, bedeutet. Insofern steht die »Zivilisation« in viel größerer Nähe zur Geschichte als die »Kultur«, sie fällt als Zergliederung dieser sogar mit jener zusammen. Die »Geschichte« zeigt in der syntagmatischen Ausbreitung und zergliedernd-abbauenden Wirkung der »Zivilisation« also ihre fremde, unbeherrschbare Physiognomie. Entgleist nun die Geschichte selbst dadurch, ist die »Zivilisation« dafür verantwortlich und verdeckt dies gleichzeitig, könnte man ferner davon ausgehen (auf den Spuren Musils), dass die Besitzbarkeit der »Kultur«, d.h. ihre (symbolisch musterhafte) Koinzidenz mit der historischen Aktualität doch schon immer als eine nachträgliche Vorstellung, ja Illusion hätte bezeichnet werden müssen? Abgesehen von dem naheliegenden Widerspruch, dass die historisch zeitgenössische Notwendigkeit (Programmiertheit) des »Neuen« eine selbstdestruktive Figur ist, könnte man sagen, dass der Bezug einer derartigen Konstruktion eine erwartete Zukunft ist, und die Geschichte von ihr – ohne jegliches menschliche Eingreifen – zum Subjekt des Geschehens gemacht wird.68 Die Entgleisung der Geschichte im Modus der »Zivilisation«, ihr Übergang in die Unbeherrschbarkeit, bedeutet die Aufhebung des Subjektcharakters, den Verlust der motivierten Beziehung, die sie mit sich selbst unterhalten hat. Die vorausgesetzte Koinzidenz des »Neuen« mit der geschichtlichen Notwendigkeit (die die Koinzidenz, das Auftreten des »Neuen«, freilich totalitär, legitimieren oder bezeugen) kompensiert nachträglich diese Aufhebung der Motiviertheit. Anders ausgedrückt, produziert die Aporie der Nicht-Bezeugbarkeit der Gegenwart die Fiktion der exemplarischen Bedeutung der Vergangenheit (um dann, im freundschaftspolitischen Sinne der »kleinen Bruderschaft wahrer Leser«, dem Humanitätsideal des universellen Menschen gemäß, einen latent zukunftsweisenden, heilsgeschichtlichen Erwartungshorizont aufzubauen).69 Freilich ist die Lesbarkeit dieser Zukunft nicht gegeben, sie kann nämlich auch auf eine nahende Katastrophe deuten, und die 67 | Die »Zivilisation« setzt nach Szerb aber Bewusstheit voraus, man kann also eine Intentionalisierung der Geschichte beobachten. Zugleich ist Szerb zufolge die Entwicklung der »Bewusstheit« das einzig Beständige der Kulturgeschichte (vgl. A világirodalom története, 924), ein Prinzip, das zum Teil freilich schon Thienemann zu eigen war (vgl. im geschichtsphilosophischen Sinne Babits: »In der Weltliteratur erwacht das Bewusstsein der Menschheit.« Az európai irodalom története, 12). Würde die Entwicklung des literarischen Bewusstseins, eher noch ihre Bewusstwerdung demnach bloß die »Zivilisations«-Bewegung nachvollziehen? Szerbs Antwort darauf wäre, dass im einen Fall von einem motivierten, im anderen Fall von einem freiwilligen Verhältnis die Rede wäre, womit man wieder bei der anfänglichen Figur ankäme und die Frage weiterhin ungeklärt bliebe. 68 | Zu den politischen Implikationen (z.B. die Freiheit betreffend) siehe Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt a.M. 2010, 339. 69 | Zu letzterem vgl. Gábor Ambrus: A világirodalom szociológiája. Esztétizmus kontra cse lekvés Szerb Antal A világirodalom története című művében [Soziologie der Weltliteratur. Ästhetizismus vs. Handeln bei Szerb], in: Szabolcs Oláh/Attila Simon/Péter Szirák (Hg.), Szerep és közeg. Medialitás a magyar kultúratudományok 20. századi történetében [Rolle und Medium: Medialität in den ungarischen Kulturwissenschaften im 20. Jh.], Budapest 2006, 117.
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Rhetorik der Nachträglichkeit kann, als defensive Operation, die Funktion der Abwehr des aus der Zukunft ankünftigen Traumas übernehmen.70 Wie man sieht, kommt die Affirmation der künstlerischen Innovation jedem Autonomieprinzip zum Trotz nicht ohne eine entsprechende Definition des Geschichtsbegriffs aus, deshalb tauchen aus dieser Perspektive hinsichtlich der Szerbschen Interpretation ästhetischer Erfahrung auch Punkte auf, bei denen die Beziehung der ästhetischen Erfahrung zur allgemeinen Welterfahrung die ästhetizistische Autarkie der literarischen Autonomie zersetzt. Die Erwähnung des Rilke-Gedichts Archaischer Torso Apollos ist so ein Punkt,71 an dem Szerb charakteristischerweise »archaisch« und »antik« miteinander vertauscht (bei Rilke spielt »archaisch« aber gerade auf die Zeiten vor der reflektierten Geschichtsbildung an und schließt damit die Bestimmbarkeit historischer Identität aus).72 Szerb: Eine Gemeinsamkeit von Dostojewskij und Tolstoi ist aus der Sicht des Lesers, dass man ihre Werke anders liest als die anderer Schriftsteller, man »genießt« in ihnen nicht die Literatur, man hat vielmehr den Eindruck, sich mit einer viel seriöseren und verantwortungsvolleren Sache zu beschäftigen. Einer Art Gewissensprüfung. Von Rilke gibt es das wunderbare Gedicht über einen antiken Apollo-Torso; als würde aus jedem Winkel der Statue ein geheimnisvolles Auge auf uns blicken und sagen: Du musst dein Leben ändern (i.O. dt.).« 73
Die Fremdheit des Torsos ist nicht nur kulturell fundiert, sie konnotiert nicht nur die Spannung von Geschichtsphilosophie und prähistorischem Moment, sondern sie bringt auch die Interaktion des Menschlichen und des Animalischen zum Vorschein. Der Torso »flimmert« wie »Raubtierfelle«, die Blicke des Torsos können also sogar den Raubtierblick konnotieren (der weniger eine reziproke Bestätigung des menschlichen Blicks ist als vielmehr seine Blendung).74 Diese animalische Konstruktion ästhetischer Erfahrung kann die humane und moralisierende Rhetorik der Mensch70 | Vgl. eine der Schlussfolgerungen Poszlers in Verbindung mit den ohnehin diametral entgegengesetzten Positionen von Babits und Németh: »… beide sind Gesten der Abwehr vor der Katastrophe.« Eszmék, eszmények, nosztalgiák, 246. 71 | Worauf Ambrus aufmerksam gemacht hat, vgl. ebd., 126. 72 | Vgl. Peter Horst Neumann: Rilkes Archaischer Torso Apollos in der Geschichte des modernen Fragmentarismus, in: Lucien Dällenbach/Chr. L. Hart Nibbrig (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt a.M. 1984, 272. 73 | Szerb, A világirodalom története, 691. 74 | Dieses Moment kann hier zahllose Beziehungen bilden (insbesondere im Zusammenhang mit anderen Gedichten Rilkes, wie z.B. Der Panther, Schwarze Katze usw., aber auch dem »Bestienblick« aus Verlorenes Ich von Benn, ja sogar dem »Flimmertier Lid« aus Celans Sprachgitter). Die Bedeutung der Animalität – und die Zusammenhänge gerade mit der (physiologischen) Deutung ästhetischer Erfahrung sowie dem Geschichtsbild – gilt in der modernen Dichtungsgeschichte als noch unerschlossene Dimension, trotz der überaus starken wirkungsgeschichtlichen, ja historisch anthropologischen Differenziertheit dieser Dichtungsgeschichte. Die Beantwortung dieser Frage kann z.B durch die anthropologische Überzeugung verhindert werden, dass das paradigmatische Andere des Menschen, der anthropologischen Kulturalität grundsätzlich die Natur sei und weniger das Tier. Der Natur eignet jedoch kein Blick, während er dem Tier durchaus zu eigen ist (von nichts anderem handeln die soeben erwähnten Gedichte Rilkes).
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werdung gerade nicht legitimieren (interessanterweise wechselt Szerb hier vom Subjekt des »Lesers« der vorangehenden Sätze zum »Menschen« über, dessen Bedeutung zwischen dem konkreten Leser und einem allgemeinen Subjekt schwankt.) Das bekannte Modell Szerbs zum Verhältnis von ungarischer und Weltliteratur, von ungarischer und europäischer Kultur bringt die auch historisch nicht bestätigte These in Umlauf, wonach jeder wesentliche oder wertvolle Zug bzw. Ertrag ungarischer Kulturalität ursprünglich europäisch ist.75 Schon aus systematischer Sicht ist das Prinzip (unabhängig von historischen Fakten) eigentümlich, da es das »Ungarische« als solches im Grunde als Leerstelle definiert, die das Europäische (»metaphysisch dazu berufen«, d.h. wieder nur im eschatologischen Sinne) ausfüllen soll. Die tautologische Struktur ist offensichtlich, daneben legt die Formalisierung des Prinzips einen verblüffenden Widerspruch in Szerbs Diskurs frei. Man kann nämlich folgende Beobachtung machen: Aus dem Blickwinkel des transzendenten Europäertums gibt es im Grunde nichts, das den »Ungarn angeboren« (dem »Ungarn« als solchen) wäre, vielmehr muss dieses als – bereits europäisches – äußeres Moment, d.h. Prothese beschafft oder angeeignet werden. Das Ungarntum soll es also erlernen, in sich implementieren, von außen nach innen übernehmen – d.h. mechanisch, technisch programmieren.76 Die Logik dieser Sicht der interkulturellen Übertragung entspricht strukturell dem von Szerb verpönten Mechanismus der »Zivilisation«, stellt sogar dessen Wiederholung dar. Ferner ahnt man hinter der Opposition von »angeboren« und »erlernt« den geistesgeschichtlichen Gegensatz von Freiheit und Automatisierung – und Koselleck hat die These der (geschichtsphilosophisch axiomatisierten) Notwendigkeit des historischen Ereignisses gerade als den ideologischen Effekt der Aufhebung der Freiheit behandelt (vgl. Fußnote 68). Der Szerbsche Diskurs ist in solchem Maße inkonsistent und ideologisiert, dass er als Symptom des ungarischen diskursiven Kontextes der Zwischenkriegs75 | »Die großen Umwälzungen der ungarischen Geschichte kamen alle von außen und quasi ohne den Einspruch der Ungarn.« Magyar irodalomtörténet, 18. Vgl. dazu Szegedy-Maszák, Az újraolvasás kényszere, Bratislava 2011, 311. 76 | Es zeugt vom feinen hermeneutischen Sinn László Némeths, dass er gerade an dieser Stelle Szerb eine grundlegende Frage stellt: »… wenn sich das Spiel aber dreht, und [der Geisteswissenschaftler] will nicht mehr nur den Gegenstand aus sich heraus verstehen, sondern sich selbst aus dem Gegenstand …«, »Szerb ist der Ursprung des ›Mißverständnisses‹ wichtig, mir ist das System, das sich im Mißverständnis offenbart, ebenso wichtig …« Két nemzedék, 495-496. Anders ausgedrückt, interessiert ihn, auf welche Weise die Bezeugung des »Europäertums« sich vollzieht, wobei der Ausgangspunkt dieser Frage ist, dass der Zeuge in der Dimension des Zeugnisses niemals eliminierbar oder neutralisierbar ist, wie es auch keine Vorannahme des durch ihn Bezeugten vor dem Ereignis des Zeugnisses geben kann. Die interpretatorischen Prinzipien und Praktiken Némeths werden zwar von mehreren fragwürdigen Motivationen belastet, die Wechselseitigkeit des Verstehens hat er in der hier behandelten Zeit aber am adäquatesten zur Sprache gebracht. Benjamin zufolge muss die Praxis der Literaturgeschichtsschreibung die Korrelation von Gegenwart und Vergangenheit aktivieren: »Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden sind, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organon der Geschichte […]« Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft (1931), in: ders., Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M. 1972, 290.
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zeit nachdenklich stimmt.77 Sowohl das Paradigma des nationalen als auch das Paradigma des europäischen Geistes suspendieren hier die Freiheit, um dadurch Meistererzählungen (»grand récit«) zu legitimieren. Gleichzeitig ist das Bild des Europäertums als (Ursprungs-)Prothese freilich nicht die einzige Antwort der damaligen ungarischen Kulturwissenschaften. Wesentlich umsichtigere und ausgeglichenere Modelle als das Szerbsche geben jedoch auch zu erkennen, dass die Struktur ihrer Ökonomie von Momenten des Nationalen und Transnationalen, des Idiomatischen und Universalen, des Regionalen und Europäischen genauso auf der Basis von im Voraus festgelegten Prämissen gebildet wird. Im Schlusswort seines Buches betont Thienemann, dass sich die komparative Prüfung zweier Literaturen (hier der ungarischen und der deutschen) nicht auf die Prüfung »der Frage der Korrelation, der Aneignung, der Wirkung« beschränken kann, sondern die »zu jeder Zeit identische Natur spontaner Entwicklungen« aufzeigen muss.78 Sein Buch ist nach eigenem Bekunden das Produkt einer solchen komparativen Prüfung, es nimmt seinen Gegenstand also weder bloß auf der Basis nationaler philologischer noch ausschließlich transdiskursiv-kanonischer Prinzipien ins Visier. Die Erforschung der kulturtechnischen Voraussetzungen der Literatur und ihrer Geschichte, der Korrelation von Schriftmedien und Lektürepraktiken von der mündlichen Literatur über die Verbreitung des Buchdrucks bis zur modernen Massenkommunikation bilden die materiale Basis der Komparatistik. Horváth hat in dieser Prüfung eher die Fixierung betont, während Thienemann sich stärker auf die medialen Vermittlungsaspekte der Literarizität konzentriert.79 Diese komparative Praxis erlaubt die Einsicht, dass die »Entwicklung der ungarischen Literatur nicht anders verlaufen kann als die der deutschen, französischen oder englischen Literatur, sie kann sich nicht anders entwickeln als die europäische Literatur«. Die Prüfung der Grundbegriffe der Literaturgeschichte führt also zur Erkenntnis der europäischen, mit Goethe gesprochen, der Weltliteratur. Ja, die ungarische Literaturgeschichte kann »die von fremden Einflüssen freie und spontane Entwicklung der ungarischen Literatur« nur dann erkennen, wenn sie »universell gültige Gesetzmäßigkeiten und das Europäische auch im unauslöschbar 77 | Man könnte hier noch zwei Punkte anführen: Zum einen spielt die »Bruderschaft« der Leser auf den Brüderlichkeitsgedanken Paulus’ an, von dem auch eine Lesart existiert, die ihn an einer Art protoglobalem Horizont verortet (vgl. Derrida, Negotiations, Stanford 2002, 374), zum anderen erscheint der »metaphysische« Sinn des Europäertums bei Szerb als Sendung, der das Ungarntum seine geistlich-kulturelle Überlegenheit gegenüber seinen Nachbarn zu verdanken hat (Magyar irodalomtörténet, 18, das europäische geistige Kapital qualifiziert das Ungarntum also ebenso wie der Diskurs der ungarischen Rechten: »anstelle der zersetzten ost-europäischen politischen Suprematie« der Treuhänder der »neugewonnenen ost-europäischen geistigen Suprematie«, vgl. Poszler, Eszmék, eszmények, nosztalgiák, 342). Sendungsbewusstsein und Kolonialismus sind bekanntlich eng verbundene Erscheinungen. (Trotz allem – oder gerade deswegen – sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass sich hinter dem Diskurs von Szerb (und anderen) offenbar das Trauma von Versailles verbirgt.) 78 | Beide Zitate auf der letzten Seite des Thienemann-Buches, Irodalomtörténeti alapfogalmak, 251. 79 | Vgl. Zoltán Kulcsár-Szabó, Das »Grundverhältnis« bei János Horváth und Theodor Thienemann, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Wissen – Vermittlung – Moderne. Studien zu den ungarischen Geistes- und Kulturwissenschaften um 1900, Köln/Weimar/Wien 2016, 243-261.
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Ungarischen der ungarischen Literatur erblickt.« Der Ausgeglichenheit und Legitimität dieses Anspruches wäre wenig hinzuzufügen, in der Interdependenz dieser Konstruktion sind aber zwei geisteswissenschaftliche Methoden mitcodiert, denen Thienemann sich verschrieben hat, der Positivismus und die Geistesgeschichte, die Axiomatisierung der Gesetze und der Gedanke der (geistigen) Individualität. Das Ungarische als solches ist demnach eine (historisch-kulturelle) Individualität, deren universelles, transzendierendes Gesetz (dessen Meistererzählung?) das Europäische als solche schafft, oder anders: das beispielhafte Singuläre bezeugt das Universelle, das sich zugleich in jenem als eine Art (beglaubigende) Signatur einschreibt. Mithilfe des »Europäertums« erfasst Thienemann hier also auf paradoxe Weise die Autonomie der nationalen literarischen Entwicklung, ja der literarischen Evolution überhaupt. Fraglich bleibt freilich, ob dadurch die Autopoiesis der Literatur nun beschreibbar ist, die gegenseitige europäisch-ungarische Spiegelung Thienemanns kann kritisch gesehen jedoch auch als ein Signal verstanden werden, dass es illusorisch ist, die Unzugänglichkeit des Wesens der Literatur durch die universalisierende Idee, die kanonische Anwesenheit der »Weltliteratur« umgehen oder kompensieren zu können. Das gilt insbesondere, wenn man die Beobachtungen des Thienemann-Buches hervorhebt, die dem Zwang der Teleologie zum Trotz sowohl das Primat der Entwicklung als auch das kanonische Prinzip der ästhetischen Autonomie der Literatur relativieren. Thienemann sieht die Geschichte der Literatur spätestens seit der Aufklärung als das Produkt des Widerstreits von literarischen und »antiliterarischen Kräften«.80 Im Allgemeinen geht es um eine Art »anästhetische Heteronomie«, die Schüttpelz zufolge die Moderne im Primitiven auf die Probe stellt.81 Musil und Benn zufolge ist die Kunst »nichts Ästhetisches« 82 (also keine Versöhnung von Geist und Sinn, von Kognition und Wahrnehmung, der natürlichen und kulturellen Konstitution des Menschen), Heidegger schreibt in seinem Ursprung des Kunstwerkes bekanntlich entschlossen gegen die Tradition der Ästhetik an bzw. über sie hinaus. Bereits diese Feststellung kann das Konzept geistiger Entwicklung (der kontinuierlichen Steigerung des Bewusst-Seins und der Abstraktion) problematisch machen. Laut Thienemann haben der Sensualismus, die Volkstümlichkeit der Romantik, später der Realismus und der Naturalismus mindestens genauso zur Entwicklung der Literatur beigetragen wie die entschlossen buchstabentreuen Strömungen (wie 80 | »Die Literaturgeschichte hält zumeist nur die Bewegungen der Verbreitung von Literatur fest und achtet nur selten auf das Spiel der antiliterarischen Kräfte, da diese öffentlich äußerlich auch literarisch erscheinen. Die Geschichte der neueren Literatur wird von den Konfrontationen und Übereinkünften der Kräfte gewoben, die für und wider die Schrift auftreten. […] wie der Kampf ausgehen wird, kann nicht gesagt werden […] der antiliterarische Geist gewinnt immer mehr an Boden.« Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak, 192. Vgl. ebd., 165. 81 | Thienemann verwendet auch das Attribut »heteronom«, vgl. ebd., 174. 82 | Vgl. Musil, Der Dichter und diese Zeit (um 1921), in: ders., Prosa und Stücke …, 1351. Vgl. mit dem Programm von Benn aus der ersten autobiographischen Schrift von 1934: »Es ist der fast religiöse Versuch, die Kunst aus dem Ästhetischen zum Anthropologischen zu überführen …« Lebensweg eines Intellektualisten, in: ders., Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 2006, 343.
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der Rationalismus, die Frühromantik usw.). Dieses Paradox ist im Grunde das Paradox des Kanons (insofern dieser nur in der Selbstzerstörung seine Gültigkeit und Wirksamkeit aufrechterhalten kann). Babits hat das auf seine Weise auch in seiner Geschichte der europäischen Literatur registriert, wobei er »die Auflösung der Weltliteratur« den »kunstfeindlichen Tendenzen« – nicht nur die Politik, sondern […] auch die »rein literarischen Kräfte wirken in dieser Richtung« (!) – zuschreibt, die »dem Leben huldigen«.83 Zugleich erkennt oder anerkennt er aber auch, dass gerade diese Tendenzen das Themengebiet der Literatur erweitert hätten, dass »deren interessanteste Werke diesen Bestrebungen erwachsen sind«. Dieser Befund gegen Ende des Buches steht natürlich im Gegensatz zu den enthistorisierten kanonischen Schemata, die die Grundlage der Literaturauffassung von Babits bilden. Eine andere Version des gegenliterarischen Impulses erblickt Thienemann bei Goethe selbst, der »sich bewusst gegen die enervierende Wirkung des Buchstabens geschützt hat: er schrieb immer diktierend, er selbst pflegte seine Arbeiten vorzulesen und adelte das Gespräch als literarisches Genre«.84 Nietzsche hat die Gespräche mit Eckermann als das reifste Werk der neuzeitlichen Literatur gelobt und sich selbst und sein Denken als »bücherfeind[lich]« qualifiziert. Angesichts der zunehmenden Verbreitung der literaturfeindlichen Kräfte schlägt Thienemann der Literaturgeschichtsschreibung vor, sie solle ihre Grenzen überschreiten und zu einer »Geschichte des geistigen Lebens«, also zu einer Art Kulturwissenschaft werden.85 Dadurch sollte die Einbeziehung des Rezipienten in die literarische Kommunikation begründet werden, die antiliterarischen Kräfte, zu denen das Zeitungswesen einen immer größeren Beitrag leistet, gefährden aber ebenjene Autonomie der Literatur, die durch die Gleichrangigkeit des Lesers gewährleistet wäre. Denn das Publikum kann die Literatur nur als Gemeinschaft, in einer Kohäsion mit dem Autor »zur Literatur« werden lassen.86 Die Beschleunigung des Lesetempos infolge der flüchtigen, zugleich endlosen Produktion der Tagespresse macht aus dem Publikum eher eine Masse, als eine Gesellschaft oder gar Gemeinschaft. An dieser Stelle wäre vielleicht eine Funktionalisierung oder Interpretation des Wechselspiels der literarischen und antiliterarischen Kräfte vorstellbar, die eine Art Beglaubigungs- oder Gegenzeichnungs-Verhältnis in dieser Beziehung entdeckt (damit würde Thienemann systematisch über das Denken von Babits und Szerb hinausgehen, die in den textuellen Effekten der nicht-ästhetischen Heteronomie nur die syntagmatische Expansion der thematischen »Gebiete« der Literatur erblickten). Einerseits erscheinen, wie Thienemann festhält, auch die antiliterarischen Kräfte »öffentlich im literarischen Gewande«, sie geben sich also gleichsam die Gestalt der Literatur, d.h. sie erheben auf diese Art von Authentizität Anspruch. Andererseits inszeniert das Antiliterarische, z.B. die Gattung der »mündliche[n] Unmittelbarkeit, die frei vom Literarischen ist« (Interview, Feuilleton, Report),87 gleichsam die beglaubigenden Momente der literarischen Kommunikation. Hierher gehört auch die 83 | Az európai irodalom története, 463, 466. 84 | Irodalomtörténeti alapfogalmak, 189. 85 | Vgl. dazu und dem Folgenden Kulcsár-Szabó: Das »Grundverhältnis« bei János Horváth und Theodor Thienemann, 160. Vgl. eine ähnliche Stellungnahme Benjamins von 1931: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, 289-290. 86 | Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak, 234. 87 | Ebd., 185. Thienemann hebt hier wieder Eckermanns »Gespräche mit Goethe« hervor.
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»Literarische Kritik«, die »ein weiteres Zeichen der Spezialisierung«, »eine bewusste Reaktion der Zeit-Presse gegenüber der Buchliteratur ist« (ebd.). Zugleich relativiert die »Zeit-Presse« »langsam, aber sicher« die Funktion der »Literatur für sich«, oder anders gesagt, problematisiert gerade die Selbstbeschreibung des literarischen Systems deren Autonomie. Das Literarische ist nicht in der Lage, sich selbst, seinen eigenen Mitteilungsanspruch als solchen zu beglaubigen, darum überantwortet es sich solchen gegenzeichnenden oder bezeugenden Instanzen, die seine Autonomie gleichzeitig stützen und untergraben. Die Paradigmen von Kritik und Übersetzung hat zur damaligen Zeit in Ungarn Dezső Kosztolányi am intensivsten durchdacht.88 Für ihn sind weder die Teleologie noch die Logik der Ursprungsprothese entscheidend, sondern vielmehr eine Struktur, die man als »das Fremde im Eigenen« bezeichnen könnte. Für Kosztolányi, den unerbittlichen Kritiker künstlicher Sprachen, gibt es keine Metasprache, die die »Babylonische Sprachverwirrung«, die Effekte sprachlicher Idiomatizität oder Singularität kontrollieren könnte. Vielmehr interessiert ihn, wie von mehreren Seiten festgestellt wurde,89 die Dimension der Zielsprache in der Begegnung mit dem Übersetzten, die ein Ereignis ist, das nicht stabilisiert oder abgeschlossen werden kann (da die Übersetzung immer nur zum Teil erfolgreich sein kann). Das Übersetzen ist für ihn »in erster Linie eine kritische Arbeit«,90 sie repräsentiert also keine symbolische Einheit von Quell- und Zieltext (in letzterem). Gleichzeitig offenbart sich nun ein Widerspruch zwischen der anschaulichen Grundlage dieser Übersetzungscharakteristik und den sehr präsenten organischen Metaphern (z.B. »lebender Organismus«)91 in der Sprachbeschreibung Kosztolányis. Ja sie steht sogar im Widerspruch zur kratylischen Sprachauffassung, die die sinnliche Seite des Signifikanten in den Vordergrund stellt. Damit hängt vielleicht zusammen, dass es weniger üblich ist, die Metapher der Arbeit der »Kritik« hervorzuheben, denn diese beschreibt die Übersetzung als naturwissenschaftliches »Experiment«: »Die Übersetzung ist in der Kunst, was das Experiment in der Wirklichkeit ist, und das natürliche Phänomene auf künstlichem Wege hervorruft.«92 Das Übersetzen 88 | Zu Kosztolányis Sprachauffassung vgl. mein Kapitel: Ästhetisierung der Sprache. Klassische Moderne zwischen Metaphysik des Artistischen und Neusituierung des Subjekts (um 1895-1932), in: Ernő Kulcsár Szabó (Hg.), Geschichte der ungarischen Literatur, Berlin/Bos ton 2013, 305-307, 331-335, 358-368. 89 | Vgl. Szegedy-Maszák, Irodalmi kánonok, 53. Die »Dignität einer Metasprache« kann als Gegeneffekt zur Problematik der Übersetzung funktionieren, vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 362. 90 | Diese Äußerung erscheint schon 1919, vgl. Nyelv és lélek, 504, 509. 91 | Ebd., 193. 92 | Ebd., 503. Diese Metapher kehrt in den späteren, übersetzungsbezogenen Schriften wieder, vgl. ebd., 510, 515. In der Arbeit zu Kazinczy wird mit Bezug auf das Übersetzen die »Sprache als Versuchsmaterial« charakterisiert, vgl. Kosztolányi: Látjátok, feleim, Budapest 1976, 100. Der bedeutsame Essay mit dem Titel Tanulmány egy versről greift bei der Goethe-Analyse ebenso auf naturwissenschaftliche Metaphern zurück: »Die Methode möchte – und mag das Experiment auch noch so rudimentär sein – das System der Naturwissenschaften in die Ästhetik hineintragen.« Nyelv és lélek, 409. Hier ist das Experiment (und das wird im Späteren wichtig) sowohl Subjekt als auch Objekt, das Übersetzen selbst stellt in grundsätzlicher Weise ein Experiment dar, aber auch die dieses thematisierende methodi-
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ist also keine ursprünglich-originale Tätigkeit, sie bringt nichts aus eigener Kraft hervor, sie ist aber auch nicht als Metasprache auf das Original bezüglich (denn sie ist ein Ereignis), zugleich impliziert gerade diese sekundäre Seinsweise, dass das experimentelle Ereignis auch dem Original, dem Quelltext nicht verfügbar ist. Ferner kann das »Experiment« nicht nur darin bestehen, die Wirkungsästhetik des Originals besser zu kennen – wie Kosztolányi schreibt, was ein wenig an das Umkehrprinzip (von der Schrift zur Rede und umgekehrt) der romantischen Hermeneutik erinnert93 –, sondern sein Ereignischarakter geht darüber hinaus, da es auch das Original verändert, es sozusagen, gerade aufgrund der mangelnden Ähnlichkeit mit ihm sowie seiner Künstlichkeit, gewaltsam demontiert.94 Die Veränderung ist hier aber nicht bloß das Ergebnis einer artifiziellen Konstruktion, da sie etwas aufdeckt, das sie nicht hervorgebracht, das aber vorher als solches gar nicht existiert hat, sie hat also gleichzeitig einen artifiziell-interventionellen und einen nicht-künstlichen Charakter.95 Sie kann sich aber nur in der gleichzeitigen sche Operation (gleichsam in metaexperimenteller Weise). Szegedy-Maszák weicht auf den Begriff des »Experiments« aus, den er einerseits im Sinne des »Essays« versteht, andererseits hebt er dessen Geschehnischarakter hervor (Irodalmi kánonok, 53). In dieser Arbeit wird der Schwerpunkt dagegen auf die Materialität des Übersetzungsereignisses verlagert. 93 | Nyelv és lélek, 409. 94 | Heidegger betont die Gewaltsamkeit der Übersetzung indirekt in seiner dritten Hölderlin-Vorlesung, die als eine Art Infratext für den hier behandelten Problemkomplex (einer gewissen Unverstehbarkeit des »Menschen« und der Geschichte, des Verhältnisses von Sprache und Übersetzung) dienen kann. Nachdem er feststellt, dass die Übersetzung als Folge ihres Interpretationscharakters »ein Übersetzen innerhalb [der eigenen] Sprache« ist«, geht er in der Analyse des Chorliedes der Antigone zur Übersetzbarkeit des τò δεινόν (im Sinne von beängstigend, riesig, schrecklich, »Gewaltiges«) über, das metafigurativ auch auf die »Monstrosität« der Übersetzung selbst bezogen werden kann (Hölderlins Hymne ›Der Ister‹, 75-80). Das übersetzerische Verhältnis wiederum, das mit der Fremdsprache (Heidegger zufolge ist ohnehin jede Sprache »übersetzungsbedürftig«) unterhalten wird, bezeichnet auch er konsequent als »Auseinandersetzung«, vgl. ebd., 78-80. Ganz im Sinne Hölderlins (dessen Brief an Böhlendorff er selbst auch berührt, vgl. 168-170) formuliert er: »Aus der geschichtlichen Besinnung gedacht ist das Übersetzen die Auseinandersetzung mit der fremden Sprache umwillen der Aneignung der eigenen« (ebd., 80). Die übersetzerische »Entscheidung«, die bezüglich der Fremdsprache getroffen wurde, ist »in Wahrheit eine Entscheidung über unsere eigene Sprache« (ebd., 81). Die Übersetzung selbst ist also eine Art sprachlicher (experimenteller) Ausnahmezustand, in dem auch supplementäre Entscheidungen getroffen werden (rhetorisch im Sinne der Katachrese). Wir können hier deshalb von einem Ausnahmezustand sprechen, da die grammatischen, semantischen, literarischen Konventionen der Zielsprache über die idiomatische sprachliche Herausforderung des Originals nicht entscheiden können, daher ist die Übersetzung auf eine prekäre Entscheidung angewiesen, in welcher sie über die eigene Sprache entscheidet. Die Gestalt des Übersetzers erinnert somit an den gebrochenen barocken Souverän (wäre es ein Zufall, dass der Verfasser der Aufgabe des Übersetzers über das barocke Trauerspiel geschrieben hat?). 95 | Zur Performanz und Epistemologie des Experiments jenseits des instrumentellen Prinzips der Bestätigung von Hypothesen (eher zwischen Entdeckung und Erfindung) vgl. Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, 137-210.
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Veränderung der Propositionen des »Eigenen«, einer anderen Art seiner Artikulation, im Medium des Nachlebens des Originals, seines »über den eigenen Tod hinaus [L]ebens« vollziehen.96 Diese Duplizität konditioniert auch die Spezifik des »Experiments«, immer experimentell, d.h. vorübergehend zu sein, nicht wie das Original einen Anspruch auf Endgültigkeit erheben zu können. In diesem Sinne hat Walter Benjamin über die Übersetzung geschrieben,97 und das ist der – bisher an mehreren, manchmal falschen Orten gesuchte – Punkt, an dem Kosztolányi in der größten Nähe zum Autor der Aufgabe des Übersetzers steht und das Prinzip ästhetischer Totalisierung (der derartigen »Rechtfertigung« des Seins) der klassischen Moderne am ehesten hinter sich lässt. In der Philosophie Nietzsches spielt das »Experiment« eine wichtige Rolle, er nennt sein eigenes Denken »Experimental-Philosophie«, eine Relation, die in Verbindung mit dem »gefährlichen Vielleicht«, dem Brennpunkt seiner Philosophie, steht.98 Die Übersetzung birgt auch ein Risiko, zugleich kann ihr Ergebnis nur vorläufig oder virtuell sein. Man kann die Behauptung riskieren, dass gerade die Erfahrung des »gefährlichen Vielleicht« der Geschichte während der Zwischenkriegszeit – z.B. die Antizipation einer Art Nachleben – die Übersetzungsfrage aufwertet. Wenn die Aufopferung vorausgesetzter Gewissheiten im Experiment eine wichtige Rolle spielt (insofern ist es riskant-gefährlich),99 dann wird das Moment der Autoimmunität, das die Fremdheit des Eigenen birgt, in der Korrelation von Übersetzung und Opfer100 verständlich. Es ist kein Zufall, dass das Experiment in Nietzsches Deutung auf den Begriff des »Menschen« (des Menschlichen) selbst, auf seine anthropologisch-kulturellen Vorstellungen (als Katachresen) gerichtet ist.
96 | Vgl. de Man, Schlußfolgerungen, 198. 97 | »… alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen« Die Aufgabe des Übersetzers, 14. Die juristische Bedeutung von »sich auseinandersetzen« ist »eine Einigung erzielen«, damit steht eine Ebene des Übersetzungsbegriffes Kosztolányis in Verbindung, den er 1919 folgendermaßen definiert: »Offenbar ist jede Übersetzung nur eine Einigung, ein Kompromiss zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit. In diesen Verhandlungen ist der Übersetzer der Richter, und seine Arbeit meiner Auffassung zufolge in erster Linie die des Kritikers.« Nyelv és lélek, 504. 98 | Vgl. Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Berlin/New York 1980, 17. (»Philosophen des gefährlichen Vielleicht«, vgl. ebd., 142) Ein Aphorismus von Die fröhliche Wissenschaft spitzt die Notwendigkeit und das Risiko der Selbstinterpretation in der folgenden Äußerung zu und identifiziert dabei Subjekt und Objekt des Experiments, während es die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen verunsichert: »Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein« (KSA 3, 551). Vgl. auch KSA 13, 492. Schon Jaspers hat das Experimentelle bei Nietzsche hervorgehoben, vgl. Karl Jaspers, Nietzsche, Berlin 1981, 383385, 445-446. Aus diesem Blickwinkel erhalten Nietzsche-Titel wie z.B. Jenseits von Gut und Böse oder Die Fröhliche Wissenschaft eine besondere Bedeutung. 99 | In Nietzsches Diskurs sind das »Experiment« und das »Opfer« miteinander verbunden, vgl. Morgenröthe, KSA 3, 294. 100 | Vgl. Derrida, Heideggers Ohr, in: ders., Die Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, 491. Hier geht es, als idiomatische »Auseinandersetzung« (Derrida benutzt im Zusammenhang mit Heidegger dieses deutsche Wort, das bei letzterem als Übersetzung von »polemos« erscheint), um die Trennung von »Sinn« und »Klang« als Opfer.
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Die eigentliche Dimension des Ereignisses erstreckt sich zwischen dem Original und dem »Experiment«, empirisch findet es zwar in letzterem statt, doch keinem der beiden kann es, als Subjekt, zugeordnet werden. Aus diesem Blickwinkel hat es vielleicht eine Bedeutung, dass Kosztolányi in der Beschreibung des »Experiments« einen Bezug zum Blitz herstellt: »siehe da, unter der Glasglocke schimmern Lichtbündel, man hört es donnern, wie ein Donner im Tal oder in den Bergen, und obwohl ich weiß, dass der Blitz Bernsteinplatten entspringt, muss ich zugeben, dass er echt ist«.101 Freilich gesellt sich zu den akustischen und visuellen Effekten auch noch der olfaktorische (»ich kann sogar das Ozon riechen, wenn auch nur im Physik-Kabinett, im Anschluss an Experimente mit elektrischem Strom«), auch hier überschreibt die Betonung des sinnlichen Aspekts also beinahe die Bedeutung der Artifizialität. Wenn der Ausgangspunkt der Übersetzungstheorie Kosztolányis (schon 1913) die »Verschiedenheit der sprachlichen Materie« ist,102 dann lohnt es sich, die material-kritischen Effekte der Übersetzung jenseits ihrer sinnlich-symbolisierenden Figuren zu verfolgen. Neben der Metapher des Experiments hat auch der Vergleich mit der »Spur« einen Bezug zu diesen Effekten (»ich kann jeder seiner Spuren auf dem Pfad des Schaffens folgen und dabei beobachten, was er von der ihm gestellten Aufgabe aufgegeben hat und was er davon realisiert hat«, gerade weil er es hier schon im Voraus mit einem Text zu tun hat und keiner immaterialen »Inspiration« oder »Stimmung«).103 Die Spur setzt ein indexikalisches (kein ikonisches oder symbolisches) Zeichenverhältnis voraus, diese Spur hinterlässt aber erst die Übersetzung, sie folgt ihr nicht bloß, genauer gesagt, kann man zwischen Nachfolgen und Hinterlassen keinen Unterschied machen (gleichsam im Sinne ästhetischer Distinktion zwischen »Schönheit« und »Treulosigkeit«, denn die Leistung der Übersetzung als »Schaffen« besteht gerade darin, »Falsches« zu schaffen, das »doch wahr ist«).104 Diese Problematik kann auch Übersetzungstheorien nach Kosztolányi betreffen, wie das Beispiel Gadamers zeigt, der in einer einschlägigen Studie die Leistung der Übersetzung zuerst als ein Verdienst des »inneren Ohrs« 101 | Vgl. Fußnote 90, alle drei Seiten. 102 | Nyelv és lélek, 495. 103 | Hervorh. Cs.L. (Dieser Vergleich kehrt wortwörtlich auf den Seiten wieder, die in Fußnote 97 angegeben sind, die »Inspiration« auf Seite 510.) In der Ausdeutung Paul de Mans kann das Wort »Aufgabe« im Titel von Benjamin auch das »Aufgeben« meinen, der Übersetzer gibt sozusagen seine uneinlösbare Aufgabe auf. Wie man sieht, spielt Kosztolányi mit genau dieser Zweideutigkeit. 104 | Ebd., 496. Nicht so eindeutig ist jedoch, ob Kosztolányi im Sinne seines Diktums, dass »[es] meine höchste Ambition [ist], schöne ungarische Gedichte abzuliefern«, nicht an die Konstitution (ja, die ästhetische Totalisierung) des ästhetischen (in sinnlichen Effekten sichtbar werdenden) Charakters denkt, der sozusagen keine Rücksicht auf semantische Momente nehmen muss. Diese Äußerung spielt nämlich deutlich auf das romantische Prinzip vom Übersetzer als Dichter an, dem gerade Benjamin mit seiner Übersetzungstheorie widersprochen hat (»Es ist daher, vor allem im Zeitalter ihrer Entstehung, das höchste Lob einer Übersetzung nicht, sich wie ein Original ihrer Sprache zu lesen.« Die Aufgabe des Übersetzers, 18). Insofern kann dieser Zweifel sogar das Prinzip kontaminieren, wonach »ich […] die Übersetzung als Schöpfung [sehe], nicht als Kopie«. Kosztolányis Ansichten können nicht an jedem Punkt restlos von ihrem Impetus ästhetischer Unterscheidung befreit werden (es ist vielleicht kein Zufall, dass Szegedy-Maszák sich emphatisch auf diese beiden Dikta beruft).
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(einer mehr oder weniger metaphysischen, zumindest aber dematerialisierten oder immedialisierten Instanz) zu fassen bestrebt ist, um dann am Schluss derselben Studie von »des Übersetzers mitdichtender Spur« zu sprechen.105 Kosztolányi war zutiefst von der Sprache des Kalevala in der Übersetzung des Sammlers von Volksmärchen und -liedern und Dialektkenners Béla Vikár fasziniert, die er auch ausführlich gewürdigt hat.106 Intensiv hebt er die Präsenz sprachlicher Performativität – nicht »Schönheit«! –, ihre weltbildliche Bedeutung und Wirkung im finnischen Volksepos (in der Form verschiedener magischer Sprüche, Verfluchungen, Zauberworte, Segnungen) in Formulierungen hervor, die an Kornél Esti erinnern: das Kalevala »kündet davon« (als »größte und tiefste Botschaft«), dass »Wort und Tat […] eins [sind]«.107 Diese sprachlichen Handlungen sollen als mythische, nicht-repräsentationsbedingte Gesten108 offensichtlich keinerlei Individualität ausdrücken (das wird von Kosztolányi stark betont). Auch hier birgt die Frage der Übersetzung das größte Dilemma, denn da es unmöglich war, das Kalevala zur Gänze in einer »heutigen Sprache« wiederzugeben, die »rauhe, rasselnde Altertümlichkeit der Grabrede oder der Chroniken« aber auch nicht so recht in Betracht zu ziehen war, hat Vikár zu einer Art sprachlichen Synkretismus bzw. zu Konjekturen gegriffen (er hat den »raffinierten Wort- und Phrasenschatz von heute« mit »dialektalen Wörtern konterkariert«, die »aus allen Landesteilen« stammten, ferner hat er ausgestorbene Wörter der Kodizes wiederbelebt und, »ab strahierend«, neue Wörter gebildet), und so »eine meisterhaft-künstliche, dennoch natürlich fließende, zauberhafte Sprache« geschaffen.109 Die »magische« Sprache des Kalevala ruft so gleichsam die ungarische Sprache an bzw. fordert diese heraus, die dieser Forderung aber – gleichzeitig als »experimentelles« Subjekt und Objekt – nur entsprechen kann in einer Art inexistentem, virtuellem Zustand, in einer Zitathaftigkeit, einer virtuellen Synchronie, die keinen vorhandenen, sondern einen ungeschriebenen, zumindest aber emendierten 105 | Lesen ist wie Übersetzen, in: ders., Gesammelte Werke 8, Tübingen 1993, 284-285. 106 | Diese Würdigung zeugt schon als Fakt von einem Literaturbegriff, der sich deutlich von Babits’ oder Antal Szerbs Literaturbegriff unterscheidet, da er die Mündlichkeit nicht ausschließt (wie Szegedy-Maszák bemerkt, Irodalmi kánonok, 42). 107 | Ércnél maradóbb [Beständiger als Erz], Budapest 1975, 422. Oder: »Sprechen bedeutete handeln, zaubern, ›Taten tun‹, betören, leben.« Ebd., 416. Genau hier erlaubt sich Kosztolányi auch einen Seitenhieb auf Babits: »Man darf nicht denken, dass hier haufenweise jämmerliche wartburgische Sängerkriege ausgetragen wurden oder der leidige Wettstreit um Vorrang, um den dichterischen Lorbeer in einem literarischen Kaffeehaus. Hier ging es um Leben und Tod.« Die Betonung der »Tat« kann auch an das Benjaminsche Prinzip der Wörtlichkeit erinnern (freilich sogleich auf einer anderen sprachlichen Ebene). 108 | André Jolles hat den Mythos in der referierten Epoche als »Sprachgebärde« definiert, vgl. Einfache Formen, Tübingen 51974, 114. Zu den behandelten sprachlichen Phänomenen in der späteren Fachliteratur vgl. Paul Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung, Berlin 1990, 175, 184, 205. In der Zwischenkriegszeit hat sich aus systematisch sprachtheoretischer Sicht vielleicht nur Hans Lipps mit der »Potenz« des Wortes (Geste, Versprechen usw.) beschäftigt (und Austin vorweggenommen), vgl. Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt a.M. 1938, 15, 89, 136, 141-142. 109 | Ebd., 412. In bestimmten Elementen dieser Beschreibung – die »zweiundfünfzig Komitate« – klingt offensichtlich auch die Aufteilung Ungarns in Trianon 1919 an.
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Text zitiert.110 Das Ereignis der nicht-historischen, »primitiven« sprachlichen Performativität steht nicht im Widerspruch zu dem künstlichen »Experiment« (das »Wahre« im Gegensatz zum »Falschen«), das aus den verschiedenen historischen, medienbedingten, dialektalen und idiomatischen Zuständen des Ungarischen eine nicht-historische, supplementäre sprachliche Medialität als das Medium eines Erbes generiert, das auf keine bestimmte Zeitlichkeit zurückzuführen ist. Das Medium selbst wird zum Effekt, zum Supplement des Experiments, es hat nicht bloß eine Mittlerfunktion (was nur in der Sprache als dem Ineinander von Materie und Medium möglich scheint).111 Das Ereignis der Übersetzung – als nicht-identi110 | »Diese Sprache existiert nicht, sie ist dennoch durch und durch ungarisch, und dann lässt uns ihre obskure Erbfolge noch die unbekannte Vergangenheit unserer Sprache erspüren, und wir glauben, dass unser Kalevala nur so hätte gedichtet werden können, wäre es nicht irgendwo in den Hochebenen Asiens untergegangen. In der Sprachwissenschaft werden abgeleitete Wortformen, über deren Dasein man kein gesichertes Wissen hat, es lediglich für wahrscheinlich hält, dass sie so sein könnten, wie es die Wissenschaft annimmt, mit einem Stern gekennzeichnet. Die Sprache des ungarischen Kalevala ähnelt diesen Derivationen, mit dem Unterschied, dass sie nicht vom wissenschaftlichen Abwägen zusammengestellt wurde, sondern von der dichterischen Inspiration erträumt.« Ebd. Zu den Schwierigkeiten der Übersetzung primitiver »Texte« vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven, 360. Die Frage ist berechtigt, ob die Emendierung (deren Affirmation) des virtuellen Ganzen der ungarischen Sprache seitens Kosztolányi die klassisch-moderne Operation der ästhetischen Neuschaffung oder Rechtfertigung der Welt bedeuten würde. Der Autor von Kornél Esti betont gleichwohl sehr stark die fiktionale Weise dieser »Sprache«, was den affirmativen Akzent verkomplizieren könnte (die Wörtlichkeit der magischen Sprache und der Synkretismus bzw. die Fiktionalität der ungarischen Übersetzung treten somit in ein interessantes Verhältnis). 111 | Das Verhältnis zwischen der Epistemologie des Experiments und der Literatur, das sich in letzter Zeit eines starken Interesses erfreut, ist bis jetzt eigenartigerweise noch nicht auf das Phänomen der Übersetzung ausgedehnt worden (vgl. die von Michael Gamper verantworteten Sammelbände, z.B. Experiment und Literatur, Göttingen 2010). Hans-Jörg Rheinberger (der seine Karriere als Derrida-Übersetzer begann), der die erkenntnistheoretische, ja kulturelle Bedeutung der naturwissenschaftlichen Praxis des Experiments mit bestimmten Begriffen der Grammatologie zu deuten versucht hat (vgl. zuerst ders., Experiment – Differenz – Schrift, Marburg an der Lahn 1992), hat diese Forschungsrichtung auf den Spuren von Latour, Hacking und anderen auf deutschem Sprachgebiet eingeführt. Es handelt sich hier um einen Komplex, der nach einer eigenen Studie verlangt, indes können nur ein paar Bemerkungen dazu gemacht werden, ob die Anwendung dekonstruktivistischer Begrifflichkeit auf biochemische Experimente wirklich an jeder Stelle überzeugt. Rheinberger operiert mit dem Begriff des »Überschusses«, den jedes Experiment ihm zufolge schafft. In der Dimension der Sprache kann dagegen grundsätzlich die Ununterscheidbarkeit von Experiment und Apparat auftauchen (während die Unterscheidung des Systems und dessen Überschusses eine wichtige Voraussetzung wissenschaftstheoretischer Beschreibung ist), das wirklich weittragende Problem ist nicht so sehr die Produktion des Überschusses (evtl. des »Neuen«). Für den späten Derrida, der in den Figuren der Spur, der différance usw. über die Übersetzung nachdenkt, erscheint das radikal areferenzielle Denken der Dekonstruktion in der Vorstellung einer Übersetzung ohne Quellsprache, in gewissem Sinne einer absoluten Übersetzung (»es gibt nur Zielsprachen«) erneut. Die Frage ist hier, ob das Ziel einer derart
Zeugen der »Weltliteratur«
sches Ensemble von Singularität und Programmiertheit112 – konfrontiert uns hier hinsichtlich der Alternative angeboren vs. angeeignet mit der Unverortbarkeit der eigenen Sprache. Ferner damit (was dasselbe ist), dass die Partialität der Übersetzung nicht nur hinsichtlich des Originals besteht, sondern auch in Bezug auf die eigene Sprache als Medium dieses nicht-objektivierbaren Erbes (die ungarische Sprache des Kalevala kann z.B im Sinne der Ähnlichkeit und Verschiedenheit von Wortformen und Synonymen verglichen mit sich selbst auch ein potentielles Synonym ihrer selbst darstellen). Das ist der Grund dafür, dass die Fremdheit der eigenen Sprache in der Übersetzung erfahrbar wird. Die Übersetzung kann nur eine gewisse Konkretisierung dieses virtuellen Erbes festhalten, das Erbe bleibt als solches ungeschrieben, dennoch ist die Übersetzung unerlässlich, um dessen (zitative) Effekte, dessen supplementäres Nachleben erfahrbar zu machen. Eine Vorgängigkeit als Nachleben (eine der grundlegenden sprachanthropologischen, poetologisch-textuellen und geschichtskonzeptuellen Einsichten der Spätmoderne) konditioniert gerade das »Experiment« als Ensemble von Affirmation und Supplementarität.113 Die »Logik« der Gabe liegt auch hier allem zugrunde, insofern obiges gleichsam als Gabe der Übersetzung aufgefasst werden kann, die gleichzeitig, als eine Art unmögliches Opfer, nicht im Besitz des Gebers (Spenders) ist.114 Sie ergibt sich eher gleichsam als Versprechen, die Gabe ist das Versprechen der Gabe (im Sinne von »vorläufig«), über das (auch) der Gebende nicht verfügt. Folglich stehen auch Gabe und Experiment nicht im Widerspruch zueinander, da für beide z.B. die Relativierung der Kausalität charakteristisch ist. Die Vorläufigkeit, die Supplementarität des Experiments kann aber mit der »Nicht-Bewahrung« der Gabe – Derrida zufolge eine der wesentlichen »Bedingungen«115 der Gabe – zusammenhängen (es bewahrt die Gabe also nicht bloß in ihrer vermeintlich identischen Form, es nimmt sie aber auch nicht einfach in Besitz und objektiviert sie – trotz ihres augenscheinlichen Gegensatzes sind beide Paradigmen an der Besitznahme interessiert –, sonunmöglichen Übersetzung darin besteht, den übersetzerischen Prozess aufrechtzuerhalten, dessen Autopoiesis rekursiv zu sichern (wie hinsichtlich des experimentellen Überschusses bei Rheinberger zu lesen ist, vgl. ebd., 56, über »Rekurrenz«). Es ist nicht sicher, ob die Erfahrung des Unmöglichen, z.B. einer Art sprachlichen Gemurmels in der Übersetzung, restlos an die Bewegung der Selbstreproduktion anknüpfen kann (vgl. zu solchem sprachlichen Rauschen z.B. die blinde, »dings« implizierende Deixis von »Ding« in Zoltán Kulcsár-Szabós Aufsatz zu George: Szinonímiák: Heidegger és George [Synonymien: Heidegger und George], in: Miklós Nyírő [Hg.], Filozófia mint de(kon)strukció. Heidegger és Derrida, Budapest 2012, 85-108). 112 | Zwischen Ereignis und Programm (Maschine) besteht also ebensowenig immer ein Widerspruch wie zwischen Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit (letzteres ist eine der Hauptlehren der Übersetzungsstudie von Benjamin). 113 | Vgl. dazu eine wichtige Notiz in Musils Tagebuch: »Der faktische Grundsatz der Literatur ist die Wiederholung […] Aber eine Wiederholung liegt schon im Gebrauch der Sprachwendungen und im Sprachgeist […] Offenbar sagt man auch unendlich seltener Neues, als man etwas neu gestaltet.« Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Reinbek bei Hamburg 1955, 440. 114 | Hier kehrt das Problem des Opfers also erneut zurück, vgl. zum Gedanken der Gabe als unmögliches Opfer Derrida: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, 68. 115 | Vgl. ebd., 27.
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dern es entdeckt sie als Subjekt und Objekt einer Art Experimentierens als offenes Geschehen). In der Erfahrung der »Einsprachigkeit« Kosztolányis nimmt also jene Duplizität Gestalt an, die Derrida im Zusammenhang mit dem aporetischen Chiasmus der Übersetzung formuliert hat (»Man spricht immer nur eine einzige Sprache. – Man spricht niemals eine einzige Sprache«).116 In diesem Sinne verlegt sich die ungarische Übersetzung des Kalevala auf eine Übersetzung innerhalb der Zielsprache, um die Wahrheit oder die Erinnerung von/an etwas zu schaffen (im Sinne der »Invention« zu erfinden), das nie existierte – als der Sprache des Anderen (und nicht als universale Metasprache). Die mögliche Sprache einer Übersetzung des Kalevala gibt es nicht (es gibt nur eine inventionsabhängig zustande gekommene Sprache der Übersetzung bzw. der Zielsprache), deshalb ist die Sprache der Übersetzung gleichsam das Versprechen dieser Sprache, einer »Sprache vor der Sprache« (in der Erforschung der Erinnerung, der Spuren einer Vergangenheit, die nie gegenwärtig war, die nie stattgefunden hat).117 Darum gibt es keinen Widerspruch zwischen Nachleben und Versprechen oder – in Nietzsches unübersetzbaren Worten über das moralische Experiment – zwischen »vorläufige[m] Dasein« und »nachläufige[m] Dasein«.118 Dieses potentielle Versprechen auf der Ebene der Übersetzung hallt in der Kosztolányi-Deutung des primären Zeugnisses des Kalevala wider: »Wort und Tat sind eins«. Dieses »Allgemeine«, die (emphatisch formulierte) Wahrheit des Zeugnisses, ist also nicht das Ergebnis einer Verallgemeinerung, die induktiv bewerkstelligt wurde, sondern sie entstammt einer sprachanthropologischen Dimension, die derartige Übergänge nicht kennt, gerade weil sie das über das »Ich« hinausgehende Allgemeine nicht vom »Ich« aus abstrahiert, sie vermag nämlich die Grenzen zwischen diesen nicht zu ziehen.119 Dieses o.g. »quasi-transzendentale oder quasi-ontologische« Allgemeine schreibt sich – als das Versprechen der Übersetzung (als Kommen der Sprache des Anderen) – in den Körper der ungarischen Sprache ein und erhebt diese zur Beispielhaftigkeit, aus diesem Grund kann man »gleichzeitig« sagen: »Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige/die gehört nicht mir«.120 Die Übersetzung entspringt dem Zeugnis, wie auch das Zeugnis immer schon Übersetzung ist 121 – zwischen beiden besteht eine indexikalische Zugehörigkeit im Ereignis der Erfahrung des »Man spricht immer nur eine einzige Sprache. – Man spricht niemals eine einzige Sprache«. Die Wandlung von Texten zu Weltliteratur ist also kein Prozess, sie ist kein Weg, der vom Singulären zum Allgemeinen führt (gleichsam im Sinne einer ka116 | Vgl. dazu und dem Folgenden Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen, Frankfurt a.M. 1997, 15-41. Vgl. Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003, 40-41, 103-111. 117 | Ebd., 34-35. 118 | Vgl. Nietzsche, Morgenröthe, 274. 119 | Kosztolányi setzt als Grundlage sprachlicher »Taten« das Nicht-Sein oder eine Art Fehlen gerade der Figur des »Ich« voraus, ebd., 414. 120 | Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen, 23. 121 | Benjamin hat die Übersetzung als die »höchste Bezeugung« des »Leben[s] der Werke« definiert, vgl. Die Aufgabe des Übersetzers, 15.
Zeugen der »Weltliteratur«
nonischen Vorschrift), sondern eine Art ungeschriebener Text taucht im Modus des Lesens als Bezeugung in ihnen auf, der sie gleichzeitig kanonisiert und dekanonisiert. »Europäertum« würde deshalb die Offenheit gegenüber dem Lesen des Anderen bedeuten: die Verantwortlichkeit für ein Erbe (die Bezeugung dessen als Gabe), das nie unser Eigentum war, wobei gegebenenfalls sogar das sogenannte präexistente Erbe und seine Grenzen in Zweifel gezogen werden können. So kann Europa – mit den Worten Derridas – vielleicht wirklich »das schönste Beispiel und auch die Allegorie der Auto-Immunität [als Überleben]« sein.122
122 | Derrida/Roudinesco: Woraus wird morgen gemacht sein?, 294. Zum Europa-Begriff Derridas vgl. Rodolphe Gasché, Europe, or the Infinite Task. A Study of a Philosophical Concept, Stanford 2009, 265-338. Das Buch von Gasché beschäftigt sich dessenungeachtet weder mit der Frage der Übersetzung noch mit der (damit auch in Verbindung stehenden) Figur der Autoimmunität.
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Text(e)
4. Beispielhaftigkeit – zwischen Philologie und Poetologie
Hölderlin, Heidegger, Szondi
Das epistemologische Interesse des Immanenzideals der modernen Philologie kann – angesichts der Herausforderungen der Rekonstruktion oder sogar Herstellung des »Textes« – als Erforschung oder Konzeptualisierung eines Text-Gesetzes begriffen werden, das gleichsam als textgenerierendes (morphologisches, ästhetisches, semantisches) Moment oder zumindest als ein Faktor bestimmt wird, der die Lesbarkeit des Textes ermöglicht. Die verschiedenen Elemente, Bedeutungen, Isotopien oder diskursiven Züge, aber auch die »Leerstellen« eines Textes können dementsprechend als Beispiele, als Exemplifikationen dieses – sie gleichsam autorisierenden – Gesetzes erscheinen. Die methodologischen Formeln der philologischen Gegenstands- und Selbstbestimmung folgen auch dieser Tage – nicht selten von einem gewissen Pathos begleitet – dem induktiven Prinzip und stellen die Singularität des Textes in das Zentrum ihrer philologischen Aktivität, genauer gesagt, machen sie zu ihrem Ausgangspunkt. Man müsse vom singulären Moment ausgehen, von dem, was nicht auf allgemeine Prinzipien zurückzuführen ist, sondern was die Singularität des Textes – weniger seine textuell-sprachliche Konfiguration und seinen Mitteilungsanspruch, als vielmehr den idiosynkratischen Charakter seiner Genesis – gleichsam bezeugt.1 Der Ausgangspunkt ist also nicht (einfach) das Beispiel eines Allgemeinen, sondern etwas, das sozusagen ein Beispiel seiner selbst ist. In diesem Sinne kann nur vom Text auf generative Zusammenhänge oder Bedingungen geschlossen und nicht umgekehrt das Singuläre entdeckt werden, indem man jene deduzierend vorwegnimmt. Die Sprache der Logik postuliert freilich immer Gesetzmäßigkeiten, und auch in diesem Fall verharrt die vorausgesetzte Singularität des Textes nicht in irgendeinem So-Sein, sondern sie ist berufen, den exemplarischen Status des Textes hervorzuheben. Man könnte auch folgendermaßen formulieren: Alles, was im Text als singulärer Zug, Isotopie, Spur, Fragment usw. im Horizont des philologischen Interesses erscheint und als 1 | Vgl. z.B. Louis Hay, Den Text gibt es nicht, in: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hg.), Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, 78. Vgl. dazu die These von Clifford Geertz, die sich aus einer anderen Tradition speist: Die dichte Beschreibung strebt »keine allgemeinen Aussagen [an], die sich auf verschiedene Fälle beziehen, sondern nur Generalisierungen im Rahmen eines Einzelfalls« (Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M. 1983, 37).
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Zeugnisgaben der Literatur
solcher bzw. solches identifiziert wird (z.B. in der Zueignung an die Vergangenheit)2, geht sogleich in eine Art Wiederholbarkeit, Iterabilität über, die die Effekte des Allgemeinen, der Gesetzmäßigkeit erzeugt – selbst wenn diese Allgemeinheit das Gesetz des singulären Textes selbst ist. Unter Umständen manifestiert sich diese Wiederholbarkeit auch in der gegenseitigen Spiegelung oder Verdoppelung, bei der einzelne Elemente des Textes Beispiele oder Referenten des Textnomos sind, und zugleich kann der singuläre Text als Beispiel von Zusammenhängen auftreten, die über ihn hinausgehen. Das singuläre, fragmentarische Moment ist also immer auf vielfältige Weise programmierbar3, es ist sogar anzunehmen, dass es nur in der Dimension dieser Programmierbarkeit als solches erscheint oder wahrnehmbar ist.4 Es ist die Iterabilität selbst, die diese textuell-diskursiven Züge oder Signifikate programmiert, deshalb können sie Indizes des Singulären sein, aber auch Kopien historischer Aufschreibesysteme – d.h. wiederum Beispiele eines Allgemeinen (wie die von der Medienarchäologie Friedrich Kittlers beeinflusste These Hoffmanns zeigt). Doch auch hier wird die Frage nach der Sprachlichkeit der Textartikulation nicht beantwortet, da der Text auch weiterhin im Grunde als das Dokument seiner eigenen Entstehung gelesen oder gedeutet wird, wobei man freilich versucht, diese nicht nur mit den Mitteln des traditionellen Logozentrismus zu erschließen, sondern auch auf der medialen Ebene kommunikativer Materialitäten. Die Immanenz des Textes als Singularität gibt in beiden zeitgenössischen Axiomen der philologischen Aufgabe, die beide den gleichen zwingenden Charakter haben, sich aber auf einer bestimmten Ebene diametral entgegenstehen, paradoxerweise indirekt Rechenschaft von der eigenen Iterabilität – die die Auto-Nomie des Textes behauptet und sie zugleich unvermeidlich auf andere Texte überträgt (selbst, wenn diese anderen Texte als z.B. als Aufschreibesysteme bestimmt werden). Das »Beispiel« bezieht sich hier also nicht mehr einfach auf irgendein Allgemeines, sondern seine Phänomenalität, seine Isolation – das lateinische »exemplum« ent2 | Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Die Macht der Philologie, Frankfurt a.M. 2003, 12-13. 3 | Vgl. dazu den etwas bombastischen Vorschlag Christoph Hoffmanns, dass »Stuttgarter Programmen und Pariser Theorietrends auf jeden Fall ein Zugriff auf Texte [gemeinsam ist], der sich nicht an den manifesten Aussagen, sondern an ihrer Regelmäßigkeit orientiert. Der nicht erläutern will, was geschrieben steht, sondern beschreiben, was geschrieben werden kann.« KEIN HAUS IST NAH, Philologische Programme 1960, in: Weimarer Beiträge (2008), 496. Vgl. dazu die ähnliche, aber zurückhaltendere und genauere Formulierung von Nicolas Pethes: »Die Philologie dient dann nicht mehr allein der Tradition von und Sinnbildung aus Texten, sondern der Rekonstruktion der Bedingungen beider«. Zwischen ›Anthropologisierung‹ und ›Rephilologisierung‹. Das Menschenbild der Literaturwissenschaften 18001900-2000, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart/Weimar 2004, 59. Interessanterweise hat Paul de Man das trans zendentale Pathos der »Bedingungen« kaum berührt, ihn interessierten »die Modalitäten der Produktion und Rezeption von Sinn […]« (Hervorh. CsL), und er fügte noch hinzu: »das hängt damit zusammen, daß diese Erscheinungsweisen so problematisch sind, daß sie eine autonome Disziplin zu ihrer kritischen Untersuchung verlangen, die deren Möglichkeiten und deren Status bedenkt.« Der Widerstand gegen die Theorie, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik, Literatur und Philosophie: internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1987, 87. 4 | Vgl. Zoltán Kulcsár-Szabó, Philologie vor der Literatur?, in: Pál Kelemen/Ernő Kulcsár Szabó/Ábel Tamás (Hg.), Kulturtechnik Philologie, Heidelberg 2011, 209-235.
Beispielhaf tigkeit – zwischen Philologie und Poetologie
springt dem »eximere«, was »herausnehmen«, »wegnehmen« bedeutet – setzt selbst eine Zeichenhaftigkeit, Markierung, im weiteren Sinne eine Medialität voraus, deren Identifizierung immer von Kommentaren, Apparaten, Texterkennungsprogrammen, anderen Texten abhängt.5 Wie kann man diese textuelle Singularität als ein Gegen-Beispiel situieren, in dem Singularität und Exemplarität so verwoben sind, dass man nicht in die Falle der erwähnten Alternative gerät? Inwiefern kann man in der Textur des GegenBeispiels den Bruch, die Wunde, die Fragmenthaftigkeit des Textes voraussetzen,6 ohne dass diese von z.B. transzendentalen »Voraussetzungen« wie historischen, textuellen oder medialen Autoritäten überschrieben wird? Dieses Kapitel will das Verhältnis von Historizität und Öffentlichkeit in der philologischen Praxis und im reflexiven Horizont untersuchen und stellt dabei in erster Linie den paradigmatischen Begriff der Exemplarität in sein Zentrum.7 Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die moderne Verbindung von Historizität und Öffentlichkeit wohl gerade auch von der eigentümlichen, paradoxen Exemplarität des Gegen-Beispiels angezeigt wird. Eine Möglichkeit eröffnet hier Peter Szondis bekannter programmatischer Aufsatz Über philologische Erkenntnis, der einer Reihe von Versuchen zur philologischen Selbstvergewisserung als paradigmatisches Beispiel gilt. Diese Selbstreflexion im Raum zwischen der Tradition des 19. Jh.s und den geisteswissenschaftlichen Herausforderungen der Postmoderne erweist sich aus der Sicht des hier besprochenen Themas als lehrreich. Darüber hinaus steht mit dem komplizierten Verhältnis der beiden Gedichte Hölderlins, das Szondi in der Nachfolge des soeben erwähnten Aufsatzes in den HölderlinStudien zu analysieren versucht, ein konkretes literarisches »Beispiel« im Zentrum der Untersuchung. Am Anfang sollen aber noch einige zusammenfassend-rekapitulierende historische Bemerkungen zum Status und Verhalten der Exemplarität hinsichtlich der Herausbildung des Verhältnisses von Historizität und Öffentlichkeit um 1800 stehen. Die Veränderung des disziplinär-methodologischen Selbstverständnisses und der Praxis der philologischen Wissenschaften um 1800 steht höchstwahrscheinlich im Zusammenhang von allgemeinen historischen und epistemischen Prozessen. Die von Foucault und Koselleck beschriebene, von der Entdeckung von Sprache und Historizität geprägte Zeit hat tiefgehende Auswirkungen auf die kulturtechnische und hermeneutische Dimension der Philologie. Zudem ist hier gelegentlich auch der damalige Strukturwandel der gesellschaftlichen Öffentlichkeit relevant, z.B. die wachsende und mehrschichtige Publizität der Schriftkultur, aber zugleich auch die sich verbreitende Vorstellung der privaten bürgerlichen Individualität. Die Konsequenzen des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Historizität, die sich in den philologischen Wissenschaften niederschlagen, das implizite Wissen um sie und ihre Reflexion sind freilich zu vielschichtig, um sie hier erörtern zu können. Es ist bekannt, dass die Auf- bzw. Ablösung des traditionellen Geschichtsbegriffs, ferner der Wissensordnung von Rhetorik und Topik am Ende des 18. Jh. mit der 5 | Vgl. ebd., 250. 6 | Vgl. ebd., 226-228. 7 | Zur anthropologisch verstandenen und zugleich als temporales Muster fungierenden Exemplarität bei Wolf und Grimm s. Nicolas Pethes, Zwischen ›Anthropologisierung‹ und ›Rephilologisierung‹, 51.
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Zeugnisgaben der Literatur
Erschütterung der epistemischen und weltbildlichen Rolle einer gerade im historischen Sinn verstandenen Exemplarität einhergeht, was in der »Auflösung« des Topos der »historia magistra vitae« deutlich wird.8 Die von Koselleck vorgestellte Verzeitlichung der Geschichte suspendiert die an gewissen Vorbildern, Topoi oder Exempeln orientierten Paradigmata des historischen Verstehens und seine applikativen Voraussetzungen. Im Zusammenhang damit wird nun der »Singular« der Geschichte betont, die Nichtwiederholbarkeit historischer Prozesse. Gerade die Ausbildung des Begriffs und des temporalen Horizonts der Geschichte als »Kollektivsingular« (51), die Inkommensurabilität von Vergangenheit und Zukunft, die Offenheit der Zukunft, entzieht der traditionell verstandenen »wiederholbare[n] Exemplarität« (51) ihre Grundlage. Die Geschichte geht über letztere gleichsam hinaus, ferner beginnt mit dem Evidenzverlust, der Abwertung der moralischen Exempla die Fiktionalisierung des historischen Wissens (insofern der Begriff der »Geschichte« nicht nur einen Handlungs-, sondern auch einen Bewusstseinsraum – die Darstellung der Geschichte bzw. das über sie gebildete Wissen – markiert). Parallel dazu verläuft der Wertverlust, ja sogar die Diskreditierung der Kommunikationsmodelle, die von rhetorischen Wirkungsästhetiken, ja der Rhetorik selbst garantiert worden waren, wobei die rhetorische Exemplarizität als Beispiel bestimmter angebbarer Regeln Raum für z.B. den Begriff des Genies macht, der frei von Regeln ist, diese transzendiert. Hier beginnt die Bewegung, die den Akzent von der vorgegebenen, etablierten, kodifizierten Exemplarität auf ihr Befolgen verschiebt, bei der das Beispiel – einfach gesagt – durch das Befolgen zum Beispiel wird und nicht von vorneherein als Beispiel gegeben ist. Auch Kant – gleichsam auf halbem Weg zwischen Wirkungs- und Genieästhetik – unterscheidet in der Kritik der Urteilskraft zwischen den Momenten der »Nachahmung« und der (freien) »Nachfolge«.9 Auch die Wende der Hermeneutik zu dieser Zeit erweist sich aus dieser Sicht nicht als zufällig; das Diktum des »einen Autor besser zu verstehen, als er selbst von sich Rechenschaft geben könnte«10 verdeutlicht die Verschiebung des Akzents auf die Ebene des Verstehens als Nachahmung. Freilich verweist die Exemplarität im Sinne des romantischen Individualitätsideals nicht auf irgendein vorgegebenes Allgemeines, auf das man die Exemplarität übertragen müsste, sondern man muss die individuelle Rede aus der Gesamtheit der Sprache verstehen;11 auch deshalb wird das Moment des hermeneutischen Zirkels wichtig. Die Aufwertung der Individualität verläuft parallel zur Akzentuierung der historischen Einzigkeit, die Fiktionalisierung des historischen Wissens findet ihre Parallele in der Theorie des Verstehens und der Interpretation wiederum darin, dass Schleiermacher das eigentliche Gebiet der Hermeneutik nicht mehr im mehrfachen Schriftsinn ausmacht, sondern in der Unterschiedlichkeit der Verstehensweisen selbst.12 So 8 | Vgl. Reinhart Koselleck, Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1992, 38-66. 9 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1963, 196-197 (§ 32). 10 | Vgl. bei Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a.M. 1977, 325. 11 | Nach der bekannten These Schleiermachers, vgl. Hermeneutik und Kritik, 78. 12 | Nach Peter Szondis Beobachtung, vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1975, 189-190. Nach Jauß ist Szondis Feststellung, dass »die Lehre von den verschiedenen Interpretationsweisen die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn nicht bloß er-
Beispielhaf tigkeit – zwischen Philologie und Poetologie
sehr die romantische Hermeneutik auch für die dynamischen Zusammenhänge des Verhältnisses von Exemplarität und sprachlicher Totalität (das Gebiet der grammatischen Interpretation) spricht, so sehr versteht sie sie in nicht nur einem Punkt einengend, wofür der Gedanke der Divination das beste Beispiel ist. Obwohl es auch hier darum geht, dass sich die paradigmatische Exemplarität nicht von selbst versteht, dass sie nicht von vornherein gegeben ist, darum, dass die Auflösung der Beispielordnung der Topik mit der Aufwertung der Sprachlichkeit, der Öffnung der Texte und überhaupt des hermeneutischen Terrains zur Sprache und zur Rede hin13 nach sich zieht, dass die grammatische Interpretation notwendigerweise durch die psychologische Deutung ergänzt werden muss, deren applikatives Moment im Horizont der romantischen Hermeneutik aber unklar bleibt.14 Die psychologische Interpretation privatisiert sozusagen den Prozess der Deutung in der späteren Verbreitung des »Erlebnisses« und trennt ihn zugleich von den vorgegebenen »objektiven« Rahmenbedingungen, von der durch rhetorische Prinzipien kodifizierten Dimension der öffentlichen Repräsentation, womit sie ihn den »nachahmenden« Motivationen bzw. Verfahren des Verstehens ausliefert (und das Moment der Applikation eliminiert, das Kants Auffassung zufolge aber auch über das ästhetische Urteil gegeben ist, insofern dieses auf die Zustimmung anderer angewiesen ist).15 Das heißt, in gewissem Sinne macht sie ihn der Öffentlichkeit zugänglich, macht ihn nicht nur zum Beispiel seiner selbst, sondern auch der Divination (als Nachfolge) und trägt so auch einen konstruktiven Zug.16 Damit bleibt der applikative Zug der philologischen Tätigkeit und der Interpretation auch weiterhin ein neuralgischer Punkt, bekanntermaßen hat Nietzsche das dem Fach in Wir Philologen auch zum Vorwurf gemacht.
setzt, sondern bestimmt negiert« (ebd., 179), durchaus fraglich, da man eher von einem Funktionswechsel reden könnte, vgl. Das Grenzverhältnis der literarischen Hermeneutik, in: ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1982, 371. 13 | Gewöhnlich sieht man hierin die zeitgenössische Bedeutung Schleiermachers, vgl. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Gesammelte Werke I), Tübingen 1985. 14 | Die psychologische Deutung zielt auf den Stil des Textes, seinen idiosynkratischen Zug. »Die divinatorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den anderen verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht« – ergänzt aber durch die »komparative« Methode, die »erst den zu Verstehenden als ein Allgemeines [setzt] und dann das Eigentümliche [findet], indem mit andern unter demselben Allgemeinen Befaßten verglichen wird […] Beide weisen aufeinander zurück, denn die erste beruht zunächst darauf, daß jeder Mensch außer dem, daß er selbst ein eigentümlicher ist, eine Empfänglichkeit für alle andere[n] hat. Allein dieses selbst scheint nur darauf zu beruhen, daß jeder von jedem ein Minimum in sich trägt, und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich selbst.« (Hermeneutik und Kritik, 169-170) Der Vergleich markiert hier gleichsam die Leerstelle der Applikation, sie auszufüllen ist er berufen. 15 | Kant hält die »Notwendigkeit« des Gefallens nicht für »die notwendige Folge eines objektiven Gesetzes«, sondern er nennt sie exemplarisch: »d.i. eine Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil, was wie Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird«. Kritik der Urteilskraft, 122 (§ 14). 16 | Vgl. die Bemerkung von Jauß: Das Grenzverhältnis, 372.
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Der Wandel des kulturellen Status der Exemplarität steht im 19. Jh. tatsächlich in Verbindung mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit und kann im Allgemeinen dadurch charakterisiert werden, dass er sich vom topischen Vorgegebensein des Beispiels weg zur exemplifizierenden Leistung der »Nachahmung« hin bewegt17 – bis zu dem Punkt, wo es, um mit dem ungarischen Philologen Theodor Thienemann zu sprechen, notwendig wird, zwischen einem »aktiven« und einem »passiven« Führer zu unterscheiden. Der letztere ist bekanntermaßen ein »Führer«, den die Öffentlichkeit zum Führer macht, ohne dass er selbst daran mit Tat oder Absicht beteiligt wäre, und der so zu einem Wegbereiter oder Vorkämpfer der Geschichte wird.18 In der Dynamisierung der kulturellen Semantik und Pragmatik des Exemplarischen kann also die Verbindung von gesellschaftlich-politischer Öffentlichkeit und Historizität beobachtet werden, was wichtige Konsequenzen auch für die literarische Kommunikation hat, ist doch diese eines der wichtigsten Medien des Vollzugs und der Reflexion der angegebenen Bewegungen. Um aber zu Peter Szondis Aufsatz Über philologische Erkenntnis zurückzukehren – diese programmatische Schrift will die interpretatorische Bedingtheit des philologischen Verhältnisses, deren Grundlage die Textstellen sind, belegen. Dabei widerspricht sie der zweigeteilten Epistemologie des Beispiels bzw. des allgemeinen Gesetzes oder der allgemeinen Regel, und reiht dieses Modell unter den Erkenntnisstrukturen der Naturwissenschaft ein. Der grundlegende Bezugspunkt ihrer Beweisführung ist die metaphorische Natur der dichterischen Sprache, was bedeutet, dass ihre Seinsweise ursächlich von der Deutung abhängt. Szondi zeigt das alles an einem Beispiel aus der Lyrik, der ersten Strophe von Hölderlins Friedensfeier: Minutiös untersucht er die Ablehnung Friedrich Beissners, des bekannten Hölderlin-Philologen, gegen eine Lesart der architektonischen Inszenierung als Naturbeschreibung. Beissner beruft sich darauf, dass »[w]äre [mit diesem Bild] eine Metapher gemeint […], so stünde sie in Hölderlins gesamtem Werk ohne Beispiel da«.19 Nun wird aber seiner Ansicht nach bei Hölderlin die Präsentation von Werkentitäten als Naturmetaphern als »ausgeführte[r] Vergleich […]« realisiert wie z.B. in Brod und Wein: »Festlicher Saal! der Boden ist Meer! und Tische die Berge …«. Oder aber per Denomination, wie in Patmos, wo auf die Figuration »Von tausend Tischen duftend« in der nächsten Zeile die Bezeichnung »Asien« folgt und dadurch der Inszenierungscode des Gedichtes determiniert wird. Das wären die »Gegenbeispiele« zur metaphorischen Lesart der genannten Stelle von Friedensfeier. Szondi zufolge kann obiges aber nur eine objektivistische Vorannahme aufrechterhalten, die nicht »von der einzelnen Stelle aus[geht], auch nicht von der stilistischen Eigenart des ganzen Gedichts, sondern von einem Stellenkatalog« (16). Sie unterbricht 17 | Vgl. Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes, Zur Systematik des Beispiels, in: dies. (Hg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007, 43, 52. Vgl. jedoch die grundlegende Studie Karlheinz Stierles, die auf den Spuren Kosellecks entstanden ist, derzufolge schon bei Montaigne Exempla nicht so sehr »Beispiele für Handlungen sind, sondern Beispiele für Reaktionen auf Handlungen«. Text als Handlung, München 1975, 44. 18 | Theodor Thienemann, Irodalomtörténeti alapfogalmak [Literaturhistorische Grundbegriffe], Pécs 1931, 240-241. 19 | Peter Szondi, Über philologische Erkenntnis, in: ders., Hölderlin-Studien: mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt a.M. 1970, 18. Die weiteren Seitenzahlen erscheinen in Klammern.
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also gleichsam den hermeneutischen Zirkel und meint, die Notwendigkeit der Interpretation mit einer bloßen Bezugnahme abhandeln zu können, wobei aber nicht nur die einzelne Stelle, sondern auch der Beleg selbst der Deutung bedarf. Ohnehin ist die Bezugnahme negativ, die Rede ist von einem Defizit, davon, dass »Beweiskraft […] hier also nicht Belege [haben], sondern die Tatsache, dass es Belege nicht gibt« (22). Diese Möglichkeit hätte also kein Beispiel, sie wäre die Beispiellosigkeit selbst, die sich in den Konfigurationen des Allgemeinen oder der Regel als Defizit zeigt. Diese Leere ist jedoch kein faktisches Defizit, sondern ein Defizit der Lektüre, die Blindheit des Philologen, denn Logisierung und Grammatisierung der dichterischen Sprache bewirken oder supponieren hermeneutische Blindheit, wenn »solche [metaphorischen] Stellen vom sichtenden Blick als mögliche Belege gar nicht erkannt [werden]« (ebd.). Die Frage, ob man eine Stelle (Beschreibung, Figur, Bedeutung) metaphorisch lesen soll oder nicht, entfaltet das komplexe Muster von Beispiel, Allgemeinem und Gegenbeispiel. Der hermeneutische Zirkel von »Beispiel« und Allgemeinem entsteht demnach in der grundlegend metaphorischen Natur der dichterischen Sprache. Diese Interdependenz von Rhetorik und Hermeneutik dürfte kaum in Frage gestellt werden, und Szondis Schrift hat ihre lang anhaltende Wirkung und ihren kanonischen Charakter der Veranschaulichung dieses Umstandes zu verdanken. Aber auf welche Vorannahmen, auf welches Vorverständnis und auf welche vorausgesetzten Instanzen beruft sich Szondi selbst bei der Darstellung, genauer, dem Beweis der Komplementarität von Hermeneutik und Philologie? Wie aktiviert er seine Vorannahme der Metaphorizität der poetischen Sprache, und in welcher Beziehung steht die Exemplarität der Texte bzw. Textstellen zu ihr? Vielleicht ist es nicht ganz illegitim, den Beissner betreffenden Fragehorizont Szondis auch auf ihn selbst anzuwenden. Die These der latenten Metaphorizität der poetischen Sprache wird kaum in Frage gestellt werden können: Sie ist der Zug der Poetizität, in dessen Folge jede gegebene oder faktische Entität im Code der literarischen Inszenierung als Beispiel von etwas anderem erscheinen kann. Sie schafft, auf der Achse der Kombination, syntagmatisch gleichzeitig ein Beispiel für sich selbst und auf paradigmatische Weise für etwas anderes – in der Unentscheidbarkeit von buchstäblicher und metaphorischer Bedeutung. Szondi bezeichnet diese metaphorische Dimension gleichsam als das Wesentliche, das Gesetz der Dichtung, und vor diesem Hintergrund »muß [gerade die] »Ausdrücklichkeit [des Vergleichs] als Ausnahme gelten« (Hervorh. Cs.L.). Die »Einheit« der Metapher ist im Gegensatz zum »Dualismus« des Vergleichs (17) das dichterische Moment par excellence. Die »Einheit«20 des metaphorischen Sinns deutet zugleich auf seine Lektüreabhängigkeit, darauf, dass der Sinn mit bzw. in der Lektüre (ihrer Modalität) aktualisiert wird, ohne dabei einer im Voraus bekannten Bedeutung zu entsprechen oder identisch mit ihr zu sein. In Szondis Darstellung bedeuten Poetik und Hermeneutik also dasselbe. Wie exponiert oder exemplifiziert Szondi diese zweifellos einnehmende These aber auf den Ebenen der Textualität? Es erscheinen hier nämlich mehrere Momente, die auf den klassisch-modernen Aspekt seiner Sprachauffassung verweisen, wodurch eine Spannung zu seinen hermeneutischen Prinzipien entsteht. Für Szondi scheint die – zumindest in den Hölderlin-Beispielen – exklusive Anwesenheit dich20 | Vgl. auch Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, 179-180.
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terischer Bilder, die Sinnlichkeit der Sprache, ein Beweis des literarischen Codes der Sprache im Gegensatz zur diskursiven Sprache.21 Die Leistung der Metaphorisierung ist die Verdoppelung der Referentialität als Effekt der Poetizität, sie äußert sich als Substitution und wird von einer Analogie gesteuert, die auf der Basis eines sinnlichen Moments zustande kommt. Damit arbeitet Szondi, der den ästhetischen Charakter der Texte (der hier grundsätzlich das Sinnliche der poetischen Sprache bedeutet) später zur Prämisse der Interpretation erhebt, im Grunde schon hier eher an der Vereinbarung von Philologie und Ästhetik22 und drängt sozusagen gestenhaft auf die Vermittlung zwischen Philologie und Hermeneutik. Insofern wird Szondis Vorschlag doch von Erwartungen der Phänomenalität beherrscht: Die Analogie des inszenatorischen Codes zu einem Moment der Architektur oder der Natur folgt dem Paradigma der Vorstellbarkeit, Szondi geht der Disjunktion von Bild und Vorstellung aus dem Weg (und ersetzt die »ursprüngliche« visuelle Gestalt durch ein anderes Bild), womit er die Effekte des Eigennamens oder der allegorischen Prädikation ausschließt.23 In dieser Sprachauffassung, die an die Romantik gemahnt, ist Buchstäblichkeit also eine Ausnahme vom Gesetz der Metaphorizität – Szondi beruft sich hier sozusagen performativ – zumindest aber ziemlich wörtlich – auf das Prinzip der Metaphorizität und erhebt es damit gleichsam zum Gesetz. Der Kritiker philologischer Normvorstellungen denkt in derselben Struktur von Gesetz und Ausnahme wie die Ziele seiner Kritik. Seine Überzeugungskraft gewinnt dieser diskursive Schritt ferner aus dem Verweis darauf, dass Hölderlins Sprache im Spätwerk gerade auf die genannten Vergleiche und Identifikationen verzichten kann. Der moderne Zug der lyrischen Sprache Hölderlins – die Teleologie der Historizität – untermauert also gleichsam Szondis Argument.24 21 | Sollte man die Bildlichkeit als eines der »kompensatorischen Medien« des Lyrischen wirklich an der Stelle der Diskursivität und nicht eher an der der Referentialität verorten? Vgl. Zoltán Kulcsár-Szabó, Metapoétika. Önprezentáció és nyelvszemlélet a modern költé szetben [Metapoetik. Selbstpräsentation und Sprachauffassung in der modernen Lyrik], Bratislava 2007, 25. 22 | Vgl. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik, 14, 24-25. Bekanntermaßen betont Gadamer demgegenüber die Asymmetrie von Ästhetik und Hermeneutik, vgl. Wahrheit und Methode, 81-87. Ferner ders.: Gesammelte Werke 8, Tübingen 1993, 1-17. 23 | Szondi bemerkt in Verbindung mit Friedensfeier mit spürbarer Genugtuung, dass das »Stilgesetz« dieser Hymne: »weder substantivische noch adjektivische Eigennamen kennt« (18). Gegen Ende des Aufsatzes findet man folgenden, aus diesem Blickwinkel bedeutsamen Vergleich: »das manchmal objektiv mehrdeutige Wort und das kaum je eindeutige Motiv« (29) – könnte man ergänzen, während das Wort manchmal objektiv mehrdeutig ist, ist das Motiv subjektiv nicht eindeutig? (Zu Szondis Bedenken gegenüber dem Allegoriebegriff von Hegel vgl. de Man, Hegel über das Erhabene [Übers. Jürgen Blasius], in: Christoph Menke [Hg.], Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 1993, 62. Neu zu der Frage s. Claudia Brodsky, Szondi and Hegel: The Troubled Relationship of Literary Criticism to Philosophy, Telos 140 [Fall 2007], 45-63.) 24 | Fraglich bleibt freilich, ob z.B. die »Metapher« des »Ein Zeichen sind wir« (Mnemosyne, Entwurf ) wirklich noch als solche zu bezeichnen ist, denn ihre Explizitheit verhindert mehr oder weniger ihre Einordnung in die symbolistische Metapherntheorie Szondis. Das Moment des »deutungslos« kann hier gerade das Defizit der übertragenen Bedeutung der Metapher signalisieren – die Nicht-Existenz des Codes, der eine Entscheidung darüber erlaubt, ob es
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Die Individualität poetischer Texte (wobei diese »Individuen, nicht […] Exemplare« sind, 20) ist die nächste grundlegende Vorannahme Szondis, »die Subjektivität der Dichtung«, »[der] individuelle […] Vorgang, dessen Ergebnis die Stelle ist«, die von der Philologie als einer Wissenschaft als »Objekt nach deren eigenem Gesetz zu erkennen [ist]« (16, genetisches Entstehen und Gesetz sind hier also austauschbar, ersteres übernimmt die Rolle des letzteren, auf der vorangehenden Seite hat Szondi die Prämisse der »allgemeinen Gesetze« im Zusammenhang mit der philologischen Methodologie, die mit der naturwissenschaftlichen Methodik in Verbindung gebracht worden war, dennoch kritisiert). Die Individualität ist keine kontingente Einzigartigkeit, sondern sie verfügt über ein eigenes Gesetz (in diesem Sinne kann man sie sogar universell nennen). Diesem Gesetz muss der Philologe folgen, was im weiteren Sinne bedeutet, dass die Interpretation auf einen genetischen, »konkreten Vorgang[…]« zurückgreifen muss, dessen »Ergebnisse [die Texte]« sind, »nicht [auf] eine[…] abstrakte[…] Regel« (20). Die genetische Konstitution der textuellen Einzigartigkeit fördert auch die Metaphorizität zu Tage, wie sie in einer abweichenden Interpretation Szondis der zitierten Stelle des Patmos und in den Vorbemerkungen des Manuskripts erscheint. Die Metaphorizität ist also doch nicht von Anfang an vorgegeben, sondern das Produkt eines genetischen Prozesses. Der Glaube an die wörtliche Bedeutung, die am Ende eines zeitlichen – also nicht sprachlichen – Prozesses in einer Metapher resultiert, scheint doch erhalten zu bleiben.25 Die Prozessualität der Metapher fällt mit dem »individuellen« genetischen Prozess der Textbildung zusammen, der das Medium oder der Urheber der »Subjektivität der Dichtung« ist, und der gleichsam in einer Art Spiegelbeziehung zur »subjektiven Evidenz« steht (hier sind wir nicht weit vom Erlebnis-Begriff Diltheys, vom Divinationsprinzip der romantischen Hermeneutik im Allgemeinen).26 Es ist nicht nebensächlich, dass Szondi grundsätzlich von »Stellen« spricht, während er, auf der Basis der von ihm gewählten induktiven Logik, die Metaphorisierung der Textstelle als genetischen Prozess beschreibt, wie auch die Texte Ergebnisse eines »konkreten Vorgangs« sind. Eine gewisse Isolation der Textstelle tritt in eine weitere symmetrische Beziehung mit der Isolation der Werke, ihrer ästhetischen Unterscheidung vom (rezeptions-)geschichtlichen Prozess, wobei sich der Interpret mit einer Metapher oder einer wörtlichen Äußerung – evtl. mit einem allegorischen Effekt – zu tun hat. Hier fehlt das bildlich-phänomenale oder sinnliche Moment (vgl. »schmerzlos«), ohne das der – gegenüber der Sprache etwas misstrauische – Poetizitätsbegriff Szondis schwerlich wirksam werden kann. 25 | Vgl. dazu die Implikationen der Zeit des metaphorischen Prinzips, auf die Derrida aufmerksam macht (die »Abnutzung«, die »kontinuistische Voraussetzung«), die hier zwar die genetische Sicht Szondis umkehren, das Prinzip ihrer zeitlichen Struktur ist aber unabhängig von ihrer Richtung dasselbe. Jacques Derrida, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1999, 236. 26 | Besonders die neueren, offeneren philologischen Konzepte erinnern mit der Freiheit, die der Empfänger im genetischen Entstehungsprozess eines Werkes – durch die Autorität des Werkes und seines Autors! – erhält, an das divinatorische Erbe, vgl. die vielzitierte Schrift Gunter Martens’, wo der Leser im »Entstehungsprozeß gleichsam den Weg einer eigenen Umsetzung in eigene Produktivität vorgebildet« findet. Gunter Martens, Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie, in: Stephan Kammer/Roger Lüdeke (Hg.), Texte zur Theorie des Textes, 107.
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für den Literaturhistoriker im Grunde nur das »Instrument des Vergleichs« anbietet. Der Überblick über ein Autorenkorpus, eine Epoche oder eine historische Entwicklung kann nur aus der Gesamtheit verstandener einzelner Werke hervorgehen (und, fährt er fort, »keineswegs sollte die Erkenntnis des Besonderen verwechselt werden mit dessen Subsumtion unter ein historisch Allgemeines«, 21), das heißt, er spricht dem hermeneutischen Zirkel seine Bilateralität ab, indem er die Induktion zu einer einfachen Addition macht, während er die quälende Frage offen lässt, was das literaturhistorische Verstehen (die Zirkelhaftigkeit) denn rezeptionsgeschichtlich tatsächlich rechtfertigt.27 Man könnte es auch so formulieren: Szondi »verwechselt die philologische Idee der ›Textstelle‹ mit der ästhetischen Idee des ›Kunstwerks‹.«28 Oder: Er tauscht das Induktionsprinzip der positivistischen Philologie (das Szondi anficht, 23) gegen das Postulat der Autonomie der ästhetizistischen Idee des Kunstwerks ein. In dieser Operation wird der isolierte (d.h. letztlich syntagmatisch beispielhafte) Status, das derartige Fixiertsein der Textstelle im Verborgenen kompensatorisch verallgemeinert, exemplifiziert. Diese Generalisierung basiert auf einer Art Analogie oder Parallele (und vollzieht so die von Szondi heftig kritisierte Operation der Parallelstellen), die an die Teleologie der Metaphorizität (in Richtung der begrifflichen Bedeutung) erinnert (vgl. weiter unten, FN 37). Diese Art Verallgemeinerung als syntagmatische Erweiterung (von der Textstelle zum Kunstwerk) ist dem hermeneutischen Zirkel offenbar fremd, und der Austritt aus ihm geht im Wesentlichen damit einher, dass Szondi die Interpretationsmotivation, die historisch-sprachlichen Impulse, die in ihr am Werk sind, nicht erhellen kann, weswegen ihre Bedeutung eher im »[S]ubjektiven« verharrt (23). Szondi lässt im Zusammenhang mit gewissen Elementen der hermeneutischen Interpretationsauffassung im Grunde eine ästhetizistische Sprach- und Poesieauffassung walten, die latente Spannung zwischen ihnen kann er jedoch nicht abbauen.29 Das Axiom von den »Individuen, nicht […] Exemplare[n]« formuliert den Unterschied, die Kluft zwischen dem einzelnen Werk und der Literaturgeschichte, der Geschichtswissenschaft und der Literaturwissenschaft, insofern kein Werk Exemplar oder Beispiel allgemeiner historischer Zusammenhänge sein kann, ohne dass damit dessen Individualität verraten wäre. Szondi ist nach eigenem Bekunden nicht um die Dehistorisierung der Werke bemüht, und er sagt, dass zur Besonder27 | Einige Seiten später verurteilt Szondi in Verbindung mit der »Interdependenz von Beweis und Erkenntnis« die linearisierende Verfälschung des hermeneutischen Zirkels (24). 28 | Nach einer prägnanten Wendung von Gábor Tamás Molnár, die er in einer E-Mail an mich formuliert hat. Andrzej Warminski hat eine ähnliche Wahrnehmung im Zusammenhang mit Szondis Erklärung des Böhlendorff-Briefes Hölderlins (Hölderlin-Studien, 95-118), wo die poetische Praxis, die in der Techne empfangen wurde, abweichend von Hölderlins Sprachgebrauch als ästhetische Praxis identifiziert wird (»from art as craft to art as aesthetic object, from a category of poetics to a category of aesthetics«, Andrzej Warminski, Readings in Interpretation: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Minneapolis 1987, 34). 29 | Die These, dass Szondi jedem historisch-vermittelnden Verdienst zum Trotz im wirklich theoretischen Sinne größtenteils nur auf der Ebene gewisser Gesten als der Erbe der Hermeneutik bezeichnet werden kann, verblüfft sicherlich. Aus diesem Blickwinkel ist es vielleicht kein Zufall, dass keiner der Beiträge der Szondi-Ausgabe der Zeitschrift Telos von 2007 Szondis Engagement für die hermeneutische Theorie zum Gegenstand hat (eine Erklärung dafür liefern freilich auch die schematischen Züge des Hermeneutikbegriffs der Autoren).
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heit der Werke ihre Historizität gehört, ihre historischen Indizes seien so aufzufassen, dass die Geschichte im Werk, nicht das Werk in der Geschichte erscheinen müsse. Auch diese Feststellung ist ambivalent: die historizistische Rahmung der Texte durch die Geschichte ist tatsächlich ein formaler Standpunkt, dessen Kritik zumindest legitim ist, gleichzeitig bleibt aber die Frage offen, ob nicht eine Art Aggregation des genetischen, historischen Prozesses im Werk zum Interpretanten der Formel »Geschichte im Kunstwerk« wird.30 Im teleologischen Sinn des Aufgehobenseins der Genesis in ihrer Vollendung – eine Gedankenstruktur Hegels, auf die Szondi sich, angewandt auf die Beziehung zwischen dem Lesartenmaterial und dem Werk, explizit beruft (23). Diese latente symmetrische Parallele zwischen Genese und Werk, zwischen Geschichte und Werk kann auf eine totalisierende Vorstellung dieser Beziehung hindeuten. Nicht zu sprechen davon, dass die unvorhersehbare allegorische Supplementierung – nicht einfach Metaphorisierung – der Text-Sprache gerade das unkontrollierte Einbrechen der Geschichte ins Werk zum Vorschein bringt, wie es in Benjamins Interpretationen barocker Trauerspiele sowie der Werke Goethes und Baudelaires erscheint.31 Das Szondi-Axiom verliert seine Selbstverständlichkeit insbesondere am thematischen Horizont der ersten Hölderlin-Studie, die auf das philologische Traktat folgt: Das Gedicht Wie wenn am Feiertage … ist bekanntermaßen nicht einfach unabgeschlossen geblieben, sondern aus seinem fragmentarischen Schluss entsteht das spätere Gedicht Hälfte des Lebens, mit dem die vorausgesetzte Eigengesetzlichkeit des vorangehenden Textes untergraben wird. Der »individuelle« Text wird von einem anderen Text penetriert, sei es auch nur potentiell, er ist zumindest nicht von jenem zu trennen – womit die Frage aufgeworfen wird, inwiefern sich diese (inter-)textuelle Beziehung in die Figur der »Individualität« des Textes einfügen lässt. Die Exemplarität von Texten ergibt sich nicht aus einer Referenz auf das Allgemeine oder die Norm, die Texte exemplifizieren sich gleichsam selbst, insofern sie Individuen sind (genauer gesagt, sich als solche präsentieren), gleichzeitig ist ihre Textur grundsätzlich metaphorisch, d.h. sie basiert auf Substitution. Diese Substitution vollzieht sich nach dem Metaphernprinzip entlang des Vergleichs, so bedeutet der metaphorische Charakter der poetischen Sprache im Grunde die Äquivalenzbeziehung von Text und Leser als einer Relation von Beispiel und Nach30 | So wie die Induktion die Aufwertung des Individuellen zum Ausgangspunkt bestimmt hat, so kann darauf nur die Deduktion als Gegenoperation oder als bloße Umkehrung folgen: »Es gehört zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft, vom Einzelwerk abstrahierend zur Übersicht über eine mehr oder weniger einheitliche Periode der historischen Entwicklung zu gelangen.« Über philologische Erkenntnis, 20. Bei Szondi wird der hermeneutische Zirkel also zu einem Mechanismus zweier aufeinander folgender gegenläufiger Bewegungen vereinfacht und damit das Prinzip der Zirkelhaftigkeit im Grunde logisiert oder grammatisiert. Damit im Zusammenhang steht seine unkritische Affirmation des hermeneutischen Prinzips von Schleiermacher, in dem das Verstehen als die Umkehrung der Rede aufgefasst wird. (Zum Zusammenhang von »Werk« und »Geschichte« bei Szondi vgl. Jean Bollack, Zukunft im Vergangenen. Peter Szondis materiale Hermeneutik, DVjs 1990/2, 379.) 31 | Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt a.M. 1982; ders., Charles Baudelaire, in: ders., Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a.M. 1972; ders., Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften I.1.
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ahmung, was letztlich eine autobiographische Figur des Verstehens ist.32 Wobei auch die Metaphorisierung des Vorbilds oder Musters und so überhaupt ihre Sublimierung zu einem paradigmatischen Exempel das Resultat des Lesens sind. Die Argumentation Szondis präsentiert die Individualität des Textes zugleich als vorgegebene, unhinterfragbare Singularität und als Ergebnis der Metaphorisierung, wobei sie durch das Lesen in ihre exemplarische Lage gerät. Das heißt, die Einzigartigkeit erweist sich in der Aktualisierung durch den Leser, in der Identifizierung der metaphorischen Bedeutung als Paradigma. Einerseits ist der Text als Kunstwerk eine in sich geschlossene Singularität, »es will ein Ganzes, ein Mikrokosmos sein«33, andererseits wird er in der Metaphorisierung durch den Leser dennoch zu einem paradigmatischen Muster.34 Singularität und Parabelhaftigkeit des Textes bilden für den Leser im Grunde das Modell des Dualismus von wörtlicher und metaphorischer Bedeutung, projiziert auf die zeitlich-genetische Achse. Damit scheint der hermeneutische Zirkel in Szondis Händen doch zu einem kontrollierten, gar zielgerichteten Prozess zu werden. Offenbar muss er letztere Operation durchführen, um den Widerspruch zwischen Individualität und metaphorischer Supplementierung oder die Kluft, die sich zwischen ihnen auftut, zu überwinden.35 Diese zwei Modellbildungen entsprechen möglicherweise zwei in der Philologie verbreiteten kulturtechnischen Praktiken:36 die Lektüreabhängigkeit der Texte hebt diese mit der Aktualisierung ihrer metaphorischen Bedeutung gleichsam aus der Eventualität der referenziellen Bedeutungen heraus bzw. stellt sie diese auf,37 gleichzeitig »renaturalisiert« sie auch den Text mit dem Bezug auf seine von vornherein gegebene Individualität. Die aporetische Verknüpfung der zwei Techniken 32 | Vgl. de Man, Autobiographie als Maskenspiel, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, 133-135. 33 | Diese Singularität bezieht sich nicht so sehr auf die Individualität der sprachlichen (sprach-künstlerischen) Konfiguration und deren Mitteilungsanspruch, sie ist eher im kompositorisch-gegenständlichen Sinne zu verstehen. 34 | Demnach würde – mit Derrida gesprochen – das »Vermögen [des Lesers] zur Metapher« die »Erfindung der Metapher« als »Vermögen des Ersetzens« (ja als eine Art natürliche »Generosität«) bedeuten – in dieser Figur werden Natürlichkeit und Humanismus miteinander verknüpft. Vgl. Die Weiße Mythologie, 264. 35 | In Verbindung mit den temporalen Figuren fällt auf, dass Szondi am Ende von Einführung in die literarische Hermeneutik das Axiom Schleiermachers affirmiert, das sich als eine der zweifelhaften Setzungen der romantischen Hermeneutik herausgestellt hat: »Wenn er sowohl die Sprachwissenschaft als auch die Poetik seiner Zeit mit kühnen Vorgriffen auf Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts gesprengt hat, so gelang ihm das, wie mir scheint, dank dieser Konzeption von Hermeneutik als Umkehrung der Grammatik und Poetik«. Einführung, 190. Gadamer hat diese Gedankenfigur Schleiermachers schon in seinem Hauptwerk problematisiert, vgl. Wahrheit und Methode, 192. 36 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Philologie vor der Literatur?, 228. 37 | Szondi hält die metaphorische Bedeutung auf den Spuren von Chladenius für die Entstehung »eines neuen allgemeinen Begriffs«, grundsätzlich dank des »Plus an Bedeutung« im Vergleich zum »verbum proprium« (Einführung in die literarische Hermeneutik, 90-95). Szondis Auffassung von der Metapher und dem durch sie induzierten Erkenntnisvorsprung ist strukturell mit der diesbezüglichen Theorie Paul Ricœurs verwandt (Die lebendige Metapher, München 1991).
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zeigt sich freilich gerade in der klassisch-modernen autoritativen Konstruktion des »Gesetzes«, der Souveränität der Individualität. Die Rhetorik und die Tropologie des Exemplarischen schwanken also zwischen Auf-Stellung, Stabilisierung und der Voraussetzung ihrer »ursprünglichen« individuellen, naturgemäßen Integrität. Das heißt, die den Text erzeugende Leistung der Interpretation kommt bei Szondi nicht ohne die Autorisierung durch den hergestellten Bezug auf das Gesetz der von vornherein gegebenen Individualität aus, was die Schlussfolgerung erlaubt, dass die Begegnung mit dem Text für ihn doch kein Ereignis des Verstehens ist, sondern ein semantisch-ikonisches Aktivieren. Konsequenterweise stellt der konkret-genetische Prozess – dessen »Ergebnisse« die Texte als »Individuen« sind (351) – das Geschehen des Textes gleichsam als etwas Privates dar, während der gedruckte, publizierte Text eher mit dem Index des Öffentlichen versehen ist. In Verbindung mit Hölderlin wird allerdings sichtbar, dass Szondi diese Relation – wieder – umkehrt: aus dem »konkreten« Prozess des Manuskripts wird eine generalisierende Emergenz, während der autorisierte, in einem Almanach erschienene Text den privat-empirischen Part des Ich repräsentiert. Die eigentümliche Mischung aus Gesetz und Imperativ, gar aus Voluntarismus und der Rhetorik der Ethik, verleiht – als eine Art »philologische Zwischensprache«38 – den bisher erläuterten Zusammenhängen in Szondis Diskurs einen besonderen Nachdruck, kompliziert sie damit vielleicht auch. Die Annahme der Metaphorizität der poetischen Sprache ist als Vorschrift eine Art Befehl für den Leser, dem er im Widerspruch zum empirischen Zustand, zur Wortwörtlichkeit des Textes Folge zu leisten hat. Zugleich »will« der Text selbst ein unvergleichbares »Ganzes sein«, er »verfügt« über einen »monarchischen Zug« und einen »Absolutheitsanspruch«, er verbietet den Vergleich mit anderen Werken (21). Das Begehren des Textes ist ein negativer Wille, er schließt die Beispiele aus, die ihm ähneln, wie auch Beissner andere potentielle Textstellen Hölderlins ausgeschlossen hat, die eine Ähnlichkeit mit der ersten Strophe der Friedensfeier aufweisen konnten. Der Interpret findet sich in einem Zustand, der zugleich von der Freiheit und dem gesetzlichen Befehl oder der ethischen Forderung bestimmt wird – der Text kennzeichnet seine metaphorische Lesemöglichkeit nicht als solche, dennoch soll das Lesen die Metaphorisierung als die grundlegende Eigenheit des Textes praktizieren. Warum muss solch eine fundamentale Seinsweise von Gesetzen und Imperativen unterstützt oder autorisiert werden? Leistet Szondi möglicherweise Widerstand gegen seine eigene Erkenntnis der metaphorischen Natur der poetischen Sprache, die eine Gefahr für die Einzigartigkeit der Werke wäre? Gleichsam im Sinne einer Prüfung, der die Tropologie der Texte auf der Grundlage gesetzlicher Autorisierung unterzogen werden müsste. Genauer gesagt, postuliert er (im Rahmen einer ästhetizistischen Sprachauffassung) die Substitution, die die referenzielle Funktion durch die metaphorische Bedeutung erfährt.39 Eigentlich besteht in Szondis Modell noch vor dieser Autorisierung ein starker Zusammenhang zwischen Individualität und Metaphorizität: der metaphorische 38 | Vgl. Heinz Schlaffer, Poesie und Wissen: die Entstehung des ästhetischen Bewusstseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt a.M. 2005, 188. 39 | Die »Arbeitshypothese« der metaphorischen Lesart von Textstellen als ein »Interpretationsinteresse« bestätigt ein allgemeines Gesetz: »[D]enn je metaphorischer der Text, um so reicher bekanntlich die Bedeutung.« Einführung in die literarische Hermeneutik, 133.
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Zug wäre – aus ästhetizistischer Sicht – der individuelle, dichterische Gebrauch der Sprache, das, was die Individualität begründet, genauer: was sie in eine Lage bringt, die beispielhaft ist. Diese Exemplarität ist hier jedoch überaus ambivalent: einerseits kann sie eine singuläre, gar paradigmatische, »beispielgebende« Exemplarität sein, andererseits ein bloßes syntagmatisches Beispiel des übergeordneten Gesetzes der Metaphorisierung (als Ästhetisierung). Gleichwie, die »Individualität« scheint als eine solche äußerst unfassbar: man kann (muss) sie nur postulieren (und zugleich trotzdem mit einem Gesetz versehen), freilich schlägt sie sogleich in ihr metaphorisches Duplikat um. Wenn die Individualität per se existiert (und zwar mit ihrem eigenen Gesetz), wieso muss ihr eine metaphorische Seinsweise zugeeignet werden, die dann noch in einem weiteren gesetzlichen Imperativ fixiert wird? Dieses zweite Gesetz könnte sogar eine implizite Antwort auf die eventuelle Angst sein, dass sich der »individuelle«, metaphorische Sprachgebrauch vielleicht doch eher nur als Katachrese offenbaren kann (z.B. das »Zeichen« als Katachrese des »wir« in Mnemosyne) – wo (auf sinnvolle Weise) kein Unterschied mehr zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung festgestellt werden kann –, als eine Art Kopie gar, die der nachträglichen Autorisierung bedarf. Diese Kopiehaftigkeit löscht die angenommene Individualität aber gerade aus und legt eher Wiederholbarkeit frei oder entstammt ihr. Als hätte die Individualität von Anfang an nicht als solche existiert oder sich ergeben, setzt sie sich in diesem metaphorischen »reentry« aber nur der Gefahr der Supplementierung aus. Sowohl das »Vorher« als auch das »Nachher« zeigen potentiell, aus rhetorischer Sicht ein Defizit auf: den Mangel eigentlicher oder referenzieller Bedeutung. Diesen Mangel kompensiert Szondi mit dem Postulat der Metaphorizität (ersteres funktioniert demzufolge sozusagen als philologische Konjektur), ferner mit der Sprache des Gesetzes – beides, die Potenzierung und das »performative« Moment selbst, sind insofern nachträgliche Akte, als sie der impliziten Einsicht der Unsicherheit entstammen können, dass die Metaphorizität der Texte nicht unbedingt der Bestätigung bedarf, da sie nicht einfach der vorausgesetzten eigentlichen Bedeutung gegenübersteht, sondern einen quasi-metaphorischen Charakter hat.40 Die ästhetizistische Teleologie kann sich also in letzter Konsequenz in ihr Gegenteil verkehren, eine inverse Bewegung tut sich auf – letztlich ist das im Grunde defensive Manöver Szondis bestrebt, diese Konsequenz abzuwehren. Die performative Autorisierung ist epistemologisch motiviert, sie entstammt der Ununterscheidbarkeit von eigentlicher und metaphorischer Bedeutung bzw. der Unerkennbarkeit ersterer, ferner autorisiert sie letztere. Die heiß ersehnte metaphorische Bedeutung muss also trotzdem autorisiert werden (von »allgemeinen Begriffen«, »Reichtum«, Lesefähigkeit, d.h. einer latenten Anthropologie her). Die Temporalität des Vorher–Nachher lässt zugleich den zeitlichen Dualismus der Exemplarität erahnen: das Beispiel ist immer das vorangehende (»er geht mit gutem Beispiel voran«, zugleich ist es ein Beispiel für etwas, das es nicht selbst produziert, sondern gleichsam auf exemplarische Weise wiederholt, nur die Vorlage dieser Wiederholung ist als solche nicht nennbar, sondern sie ist in der Singularität des Beispielgebenden eingeschrieben und steigert damit dessen Individualität, formt es somit um.) Dasselbe Verhältnis spiegelt sich in der Relation des Beispiels 40 | Vgl. Derrida, Der Entzug der Metapher, in: Volker Bohn (Hg.), Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a.M. 1987, 218.
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und seines Nachahmers, wo die Vorläufigkeit des Beispiels als solche nicht gegeben ist, sondern das Beispiel wird in der Nachahmung zu einem solchen: Ohne eine (potentielle) Nachahmung gibt es keine Exemplarität. Um zu Szondi zurückzukehren: der Wechsel in den ethischen Diskursmodus ist tatsächlich das Resultat einer Sprachverwirrung in Über philologische Erkenntnis, die der gleichzeitigen Behauptung der Identität und des Unterschieds von wörtlicher und metaphorischer Bedeutung, dem (Selbst-)Widerspruch, der darin liegt, entspringt. Dieser Widerspruch bedroht nämlich das Äquivalenzprinzip der Metapher, und die Sprache des Imperativs scheint zu versuchen, die nicht vorhandene Ähnlichkeit auf performative Weise zu schaffen, die Kluft zu überbrücken, die sich eventuell im Mangel der metaphorischen Bedeutung auftut. Derselbe Widerspruch erscheint auch auf der Ebene des Textbegriffs, zwischen dem Text als Singularität und als Exempel, als Individualität und als metaphorischem Seienden, letztlich zwischen Hermeneutik und Poetik – diesen scheinbar nicht aufzulösenden Widerspruch muss der Imperativ auflösen. Eine derartige Verflechtung von exemplarischem Beispiel und Gesetz verrät eine symptomatische Inkonsistenz: Das Beispiel bedeutet eben nicht Gesetz, sondern es setzt Freiheit voraus, ob ich ihm nämlich folge oder nicht, im Gegensatz zum normativen Befehl des Gesetzes oder dem kategorischen Imperativ der Ethik. Dass die Texte dem Lesen, jenem Prozess ausgesetzt sind, gleichzeitig zur Ausnahme und zum Beispielhaften zu werden – ein Prozess, der auf der Grundlage vorausgesetzter Gesetze oder Regeln nicht überprüf bar oder autorisierbar ist – kann auf eine Ereignishaftigkeit deuten, die den Rahmen der vorgängigen Sprachauffassung sprengt oder ihn (die Regeln dieser) eher noch entleert, indem sie den Sachverhalt einsichtig macht, dass sowohl die Axiomatisierung der Metaphorizität, als auch die ersatzweise Autorisierung dieses Axioms im Grunde die Indikatoren einer defensiven Reaktion auf den Mangel an eigentlicher Bedeutung und den supplementären Charakter metaphorischer Bedeutung sind. Die hermeneutische Großzügigkeit Szondis wird also von der Rhetorik des Ausschlusses, des Gesetzes, des Befehls durchkreuzt, gar kontaminiert, was Aufschluss über das zumindest nicht vollständig geklärte Wesen seiner Voraussetzungen geben kann. Seine Schrift treibt die romantische Polemik – die nach dem Zeitalter des Topos ihm gegenüber bestimmend wurde – gegen die Suche und die Parallelstellung von affirmativen Text- bzw. Belegstellen so weit, dass er die Parallelstellenmethode im Großen und Ganzen als eine Haltung verbucht, die von der Herrschaft der »Norm« beeinflusst ist. In einem solchen »Stellenkatalog« – schreibt Szondi – »[stützen] sich die verwandten Belege gegenseitig […], [verfemen aber] den Einzelgänger« (16).41 Demgegenüber formuliert Szondi das Gesetz der Singularität der Texte sowie der »Einheit der Metapher«: »Denn die Texte geben sich als Individuen, nicht als Exemplare« (20) bzw.: in der Dichtung muss »gerade 41 | Szondi nimmt den Ausdruck der »Königsburg« im Kleist-Beispiel, die syntaktisch als falsch darstellbar, tatsächlich aber zweideutig ist, als den Fluch des Sosias wahr (Über philologische Erkenntnis, 26-27). Der Eigenname als »Objekt der Verfluchung« – wie die denominierenden Vergleiche Hölderlins, die als Identifikation der Prosa aus der »echten« metaphorischen Dimension der poetischen Sprache ausgeschlossen werden. (Zur Opposition von individuell und exemplarisch vgl. kritisch Stefan Willer/Jens Ruchatz/Nicolas Pethes, Zur Systematik des Beispiels, 30-31.)
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[die] Ausdrücklichkeit [des Vergleichs] als Ausnahme gelten« (17, Hervorh.: Cs.L.). Im ersten Fall muss dem »Beispiellosen«, das nicht auf irgendeinen generalisierbaren Zusammenhang zurückverweist, Gerechtigkeit zuteilwerden, im zweiten Fall dagegen erhält vor dem Gesetz der Dichtung ein Effekt der Prosa den Status der »Ausnahme«. Texte sollten also als außerhalb der Norm bzw. des Gesetzes stehende Individuen aufgefasst werden, die Ausnahmen von der Norm (zugleich aufgrund ihres eigenen »Gesetzes« von anderen Ausnahmen zu unterscheiden) und gleichsam in der Dimension eines Ausnahmezustands anzusiedeln sind. Szondi eröffnet sozusagen mit der Aufwertung des »Einzelgängers«, des Singulären, des Beispiellosen den Kontext des Ausnahmezustands, in dem Gesetz und Norm entmachtet werden, zugleich gibt er den Texten den Status eines Souveräns (vgl. »monarchisch«, »Absolutheit«), beide propagieren gleichsam den Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand ist nichts anderes als der Mangel oder die Außerkraftsetzung der eigentlichen oder der normativen Bedeutung (als eines »Beispiels«). Die Philologie ist also die Wissenschaft des textuellen Ausnahmezustands, sie soll der singulären Stelle, der Gestalt, der Bedeutung oder dem individuellen Text Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie wieder in ihre Rechte einzusetzen (womit sie sie wiederum von den diskursiven Instanzen abhängig macht, die sie in den Status des »Rechts« gesetzt hat). Die Widersprüchlichkeit dieser Formulierung ist beabsichtigt: auf welches Recht könnte im Ausnahmezustand zurückgegriffen werden, wenn dieser gerade die Aufhebung des Rechts bedeutet? Carl Schmitts politischer Theologie zufolge ist dieser Moment die Stunde der Souveränität, die »über den Ausnahmezustand entscheidet«,42 in dem es keine Beispiele, einzelnen Fälle mehr gibt, die das Gesetz exemplifizieren, genauer gesagt, existieren nur diese Einzelfälle – die dann den Überlegungen Giorgio Agambens zufolge umso effektiver der Macht souveräner Entscheidung unterworfen werden können, wobei u.a. der Unterschied zwischen Individuum und Beispiel sowie Ausnahme verschwindet.43 Die Singularität bringt im Ausnahmezustand also entweder den Philologen in die Position des Souveräns, indem dieser die Rechte jener Singularität reklamiert, um sie dann paradoxerweise umso mehr seiner Macht zu unterwerfen, oder aber ein Recht wird ins Leben gerufen oder sich darauf berufen (womit aber wieder die Gefahr der Normativität droht), zumindest wird die Frage der Verfügbarkeit dieses Rechts aufgeworfen. Dieser Dualismus ist zugleich inventio und elocutio, er verortet das statuierte Exempel der textuellen Individualität im Dualismus der Rhetoriken des Arguments und der Tropen. Szondis Polemik gegen die Macht der philologischen Norm ist also zumindest ambivalent. Eine Philologie zu problematisieren, die sich über die singulären Effekte von Texten legt und auf ihnen die Software von Norm und Bedeutung installiert, muss wohl kaum gerechtfertigt werden, doch hält auch der Textbegriff, auf dem sie auf baut, die Erinnerung an das Gesetz latent wach, da er von Individuen spricht, was die Texte aber gegen jede Verallgemeinerung verschließt (wiewohl diese Individualität in einem gewissen Sinn auch vom Recht garantiert wird), am ehesten bleibt seine Philologie aber zumindest die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Kommunikation zwischen diesen Individualitäten schuldig. Die Texte (Textstellen) 42 | Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin 2004, 13. 43 | Vgl. Giorgio Agamben, Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 1995.
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sind nicht auf andere Texte (Textstellen) angewiesen, zugleich muss ihnen trotzdem die Autorität eines Rechts – d.h. eine Art Text – gutgeschrieben werden. Wie treten diese Texte aus dem Gesetz heraus: indem sie für außergesetzlich erklärt werden (wodurch das Urteil der Normativität nur wiederholt wird), während man sich zugleich auf ihre Individualität beruft, oder eher dadurch, dass diese Texte Beispiele, im paradigmatischen Sinne Exempel von etwas sind (etwa eines Wahrheitsanspruchs), das vor ihnen als solches nicht existiert hat, dem sie aber dennoch »nachfolgen« und sich so der Macht des Gesetzes entziehen, es in eine Ambivalenz stellen und dadurch den Gegensatz von Beispiel und Singularität verunsichern, den gerade das Gesetz reglementiert? In diesem Sinne gibt es jedoch keine vorgängige – weder aufgrund des Rechts, noch souverän sich vollziehende – Entscheidung darüber, was beispielhaft wird, wie die Exemplarität des Textes entsteht. Das beispiellose Beispiel des Textes, sein Gegen-Beispiel öffnet ihn der Singularisierungsbewegung, die nicht vorausgesetzt werden kann, denn dann beriefe man sich schon auf das Gesetz, würde jenen damit kodifizieren. Zugleich sollte das lektüreabhängige Entstehen oder der lektürebedingte Vollzug der Metaphorisierung als Ausgangspunkt nicht vollständig verworfen werden. Die Herausforderung besteht darin, ihn in einer weiteren Umgebung zu verorten, um ihn der Macht der ästhetizistischen Teleologie Szondis zu entziehen. Ein gewisses Nicht-Sein der Parallelstellen, genauer gesagt, ihr rein potentielles, lektüreabhängiges Gegebensein geht mit der Lehre einher, dass sie in einer gleichzeitig tropologischen und zitativen Operation aktiviert oder aufgerufen werden (d.h. in einem grundsätzlich sprachlichen, nicht aber einem Divinationsmoment). Für diesen Dualismus kann gerade die rhetorische Ambivalenz des Beispiels modellhaft sein: der doppelte Status des Beispiels verdeutlicht die Trennung von Rhetorik und Grammatik, einerseits im Sinne von Beispielen grammatischer Paradigmen, andererseits im Modus der Exemplarität, der rhetorisch aktiviert wird. Dieser Dualismus von Syntagma und Paradigma wird im Modell der Literarizität Jakobsons bekanntermaßen zugunsten des letzteren verlagert, wobei die poetische Funktion, der Austausch des Äquivalenzprinzips gegen syntaktische Strukturen mindestens zweifelhaft ist. Aber auch innerhalb der Rhetorik verhält sich das Beispiel janusköpfig, es selbst macht in gewissem Sinne die Trennung von tropischer bzw. argumentativer Rhetorik notwendig: Auf der Ebene der elocutio signalisiert das der analogisch-substitutive Aspekt der verschiedenen Metaphern, auf der Ebene der inventio die Authentizität, die das Beispiel herstellt, die Operation der Legitimation oder Autorisation. Diesen Dualismus bringt am ehesten das Zitat zum Vorschein, dessen Gebrauch, der in der Absicht der Autorisation gemacht wird, zugleich auch auf ein tropologisches Moment verweist, auf die Operation des Gesicht- und Stimme-Verleihens. Das Zitat als Beispiel fungiert zugleich auch als Ausnahme, da es aus seinem früheren Kontext gerissen und als »fremdes« Element in den aktuellen Textzusammenhang versetzt wird. Die Isolation des Beispiels (als »Beispiel«) im sprachlichen Zusammenhang offenbart als eine performative Operation, in der das Beispiel zugleich auch eine Ausnahme ist, dessen Zitathaftigkeit.44 Oder: das Zitat ist eine sprachliche Entität, die gleichzeitig als Beispiel und als Ausnahme fungie-
44 | Vgl. ebd., 32.
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ren kann, und die ferner über eine potentiell performative Kraft verfügt,45 mit der gerade ihr Dualismus korreliert. Szondis Schwanken zwischen Singularität und Gesetz versinnbildlicht also diese duale, iterative Seinsweise der Zitathaftigkeit.46 Dass »jede einzelne Illustration – bevor man ihr Beweiskraft zuspricht – selbst genauso sorgfältig interpretiert werden muss, wie die Stelle, zu deren Verdeutlichung sie als Prinzip oder Gegenprinzip in die Prüfung einbezogen wird« (350) – eine ausgesprochen rhetorische Situation (die Dialektik von »Prinzip« und »Gegenprinzip« oder auch »Beispiel« und »Gegenbeispiel«) –, würde die Bereitschaft voraussetzen, auch die rhetorische Bedingtheit des interpretatorischen Verhältnisses zu den verschiedenen Textstellen zu beleuchten. Aber auf welche Weise treten Szondis Prämissen in der Hölderlin-Analyse in Erscheinung, die auf seinen Aufsatz zur philologischen Interpretation folgt und sich mit der Hymne beschäftigt, die mit Wie wenn am Feiertage … beginnt und als Fragment endet?47 Die oben gemachte Vorannahme ist nicht leicht zu durchschauen, sie kann sich verborgen z.B. in den begrifflich-semantischen Operationen der Interpretation manifestieren. Bekanntlich ist hier von einem Text die Rede, den der Autor nicht publizieren ließ, der sogar unabgeschlossen geblieben ist, wie auch Shelleys The Triumph of Life, den auszeichnet, »dass er keine Hinweise auf den Status der Intention seines Autors anbietet.«48 (So existiert bezüglich der fragmentarischen Seinsweise des Gedichtes eine Vielzahl interpretatorischer Erklärungen, von denen einige weiter unten zur Sprache kommen.) Später hat Hölderlin jedoch durchaus auf die Fragmente des unfertigen Schlusses von Wie wenn … zurückgegriffen, das berühmte Gedicht Die Hälfte des Lebens ist daraus entstanden, und zwar so, dass Hölderlin – um die treffliche Formulierung Mottels zu gebrauchen – es nicht auf den Schriftträger nieder-, sondern aus diesem »herausgeschrieben« hat, gleichzeitig existiert dieser Text zumindest dort nur als imaginär vorhandener (für jeden Hölderlin-Leser aber trotzdem gegenwärtiger) Text.49 Dieses Moment macht den Schluss des früheren Gedichts noch ambivalenter, insofern es sozusagen in einem anderen Text »abgeschlossen wird«, trotzdem kann daraus mit Blick auf das Dilemma des früheren Gedichtes kein eindeutiger semantisch-poetologischer Hinweis gewonnen werden. Hälfte des Lebens wiederholt eher gewisse Elemente der
45 | Szondi spricht im folgenden Passus von »Beweiskraft«, Einführung in die literarische Hermeneutik, 350. Zur Performativität des Zitats vgl. Paul de Man, Hegel über das Erhabene, 70. 46 | An der Schwelle der beiden hier behandelten Abschnitte bezieht sich Szondi in Verbindung mit der »Treue der Zitatoren« in einer Fußnote auf die zweite Akademierede Schleiermachers, vgl. Über den Begriff der Hermeneutik, in: ders., Hermeneutik und Kritik, 330. 47 | Zitiert auf der Grundlage der Ausgabe von M. Knaupp, vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe I, München 1992, 262-264. Szondis Interpretation: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils, in: ders., Hölderlin-Studien, 33-54. Ausführlicher in: Einführung in die literarische Hermeneutik, 217-323. 48 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Philologie vor der Literatur?, 214. Im Falle Hölderlins bezieht man sich grundsätzlich auf die Pindarische (dreiteilige, neunstrophige) Ode als Gattungsmuster. 49 | Helmut Mottel, ›Apoll envers terre‹ – Hölderlins mythopoetische Weltentwürfe, Würzburg 1998, 23, 27.
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Fragmente, die sich um den Schluss des früheren Gedichtes gebildet haben, man könnte sagen, das Unabgeschlossene selbst, potenziert es womöglich. Man tut jedoch gut daran, vorher einige textuell-poetische Eigenheiten von Wie wenn … zu erwähnen: die Figuration des »Feiertags« bedeutet die Außerkraftsetzung der im Alltag herrschenden Normen, was sich hier in der Totalität der »Natur« manifestiert, die die Momente der organischen Natur, der Geschichte, des Geistes, der Taten der Menschen umfasst und die Dimension des »Heiligen« trägt, sie ist »älter denn die Zeiten«, nähert sich zugleich aber als das Ereignis des »[K]ommen[den]«, das im Grunde im Medium des »Wort[es]« erscheint und so auf mehrfache Weise die Komplexität seines performativen Aspekts steigert, insofern z.B. der fixierende Zug der Benennung verschoben und verunsichert wird.50 Diese Ereignishaftigkeit erscheint im Moment des »Feiertage[s]« oder seiner Rahmung. Das Heilige ist in der Deutung Heideggers das »Unmittelbare« selbst, das für die Menschen und die Götter nur als das »Vermittelte« erfahrbar werden kann. Hier sind die »Dichter« in der Vermittlersituation, im exemplarischen Sinne, zugleich vermittelt zwischen ihnen und dem »Heiligen« der »heilge[…] Strahl« (Zeile 47),
50 | Der Anfang der dritten Strophe inszeniert selbstreflexiv das Wort des Ereignisses: »Jezt aber tagts! Ich harrt und sah es kommen,/Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort«. Das »was ich sah« oder die Visualität wird zum Wort (»sei mein Wort«), was den Zeugnischarakter dieser Rede hervorhebt. Im Sinne einer Bemerkung Paul de Mans sind diese Zeilen zugleich auch als Gebet lesbar (vgl. Heidegger’s Exegeses of Hölderlin, in: ders., Blindness and Insight, Minneapolis 21983, 258. Vgl. Hans-Jost Frey, Das Heilige und das Wort, in: Thomas Schestag (Hg.), »geteilte Aufmerksamkeit«. Zur Frage des Lesens, Frankfurt a.M. 1997), das das Kommende zwar antizipieren, nicht aber aufrufen kann. Weder die »Natur« noch das »Heilige« werden sofort genannt, zuerst zeigt die deiktische Form ihrer Pronomen sie auf anaphorische Weise an (im Sinne von »ahnend«), und erst zwei Zeilen später erklingt ihr Name (zu dieser »Eigenart des poetischen Prozesses bei Hölderlin« vgl. Rainer Nägele, Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung: ›Uneßbarer Schrift gleich‹, Stuttgart 1985, 175; ferner, im Zusammenhang mit Textvarianten und ihrer Zeitlichkeit, vgl. Frey, Der unendliche Text, Frankfurt a.M. 1990, 86-87). Diese Benennung bedeutet im Sinne des »sei« einen Sprechakt, es kommt zur Identifikation des »Wort[es]« und der Benennung: Das »Heilige« erscheint in der Gabe des Wortes. Im Sinne der Vielzahl der Lesarten des »sei« eine aufgeschobene, man könnte sagen proleptische Gabe. »Mein Wort« – das Wort des Zeugnisses – bleibt im Kommen, Versprechen und Denomination kontaminieren sich gegenseitig. Zugleich macht es sich von der Gegenzeichnung des Zeugnisses abhängig: Das »das Heilige sei mein Wort« ist sowohl als eine Art Schwur lesbar als auch als die Gabe des eigenen Wortes (»mein Wort«), was auch ein Aufruf ist (in der Weise des Gebets), in dem das »Heilige« das eigene Wort verbürgen müsste. Dieses Wort kann sich selbst nicht begründen, deshalb ruft es den Anderen zur Beglaubigung (was wiederum zu einer autorisierenden Instanz geraten kann). Die denominativen, referenziellen und performativen Funktionen des »Wort[es]« verunsichern einander so, dass die Nicht-Anwesenheit des zu Bezeugenden mit der Versetzung des Zeitlosen in die Vergangenheit – in der Denomination – in die Bezeugung übergeht und zugleich, abhängig vom Versprechen, im Kommen bleibt. Dieser Versprechenscharakter bedeutet jedoch nicht bloß einen Aufschub, sondern einen Ruf, die konstitutive Unselbstständigkeit des Zeugnisses, sein Angewiesensein auf die ihn Bezeugenden.
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»[d]es Vaters Strahl« (Zeile 58),51 der als »himmlische Gaabe« (Zeile 60) erscheint: diesen »reichen« die Dichter »dem Volk‹ ins Lied/Gehüllt« (Zeile 59). Die Syntaktik der Zeile legt nicht eindeutig fest, ob der »Strahl« von Anfang an eine »Gaabe« ist, oder ob er durch die Vermittlung des »Liedes« zur »Gaabe« wird, oder aber ob umgekehrt das »Lied« ihn neutralisiert (im Sinne des »Gehüllt«).52 Diese Frage ist freilich nur möglich, indem zunächst eine Differenz zwischen »Lied« und »Gabe« statuiert wird, was nicht unbedingt ihre Trennung oder Unterscheidung bedeutet, geht es doch hier um die Beleuchtung ihrer Korrelation. Auch deswegen sind die Dichter die ausgezeichneten Vermittler dieser Gabe, denn sie »sind nur reinen Herzens,/Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände«. Neben der Beziehung der Dichter zum »[K]ommen[den]« und ihrem Ausgesetztsein gegenüber dem »Feuer« passt ihre Unschuld wohl am besten zum ano mischen Chrakter des (potentiellen) Feiertages, der das Regelwerk des Alltags überschreitet. Sie treten aus der Ökonomie des Alltags heraus, ferner erlangt das »[F]assen« des »Strahl[s]« nicht auf die Weise des absichtlichen Erwerbs oder der Stabilisierung von Eigentum seinen Sinn, sondern in seinem »[R]eichen«. Da die Dichter das Ereignis des »[K]ommen[den]« »ahnen« und sozusagen in einer metonymisch-indexikalischen Beziehung mit der Dimension der »Zeichen, [der] Taten der Welt« stehen, gelten für sie weder die Einschränkungen noch der Schutz der rechtlich moralischen Ordnung, nicht aber als das Ergebnis einer Aussonderung, sondern der Wirkung des Berührtseins vom Ereignis, in der der Wille und das (Selbst-)Bewusstsein suspendiert werden. Ihr Handeln ist keine Tat, die aufgrund jener Ordnung beurteilt werden könnte: Deswegen stehen sie »mit entblößtem Haupte« »unter Gottes Gewittern«. Zugleich verweist die Figur des »Feiertage[s]« auch auf den Zustand, der auf das Ereignis folgt, und bildet einen Vergleich von Dichter und Landmann oder nimmt diesen als Beispiel für jenen.53 Der Dualismus der Situierung der Dichter (im Sturm, als Landmann, in der Nachzeitigkeit) bildet nun eine Parallele zur Seinsweise des Liedes, die gleichzeitig Gabe und Hülle (die Hülle der Gabe), »fassen« und »reichen« ist und die Doppelung des performativen Gebens und der Präsentation in sich vereint. Die »Unschuld« der Hand des Dichters bestünde demnach darin, dass diese nicht zwischen »fassen« und »reichen«, Gabe und Präsentation, »Lied« und »Gaabe«, Werkzeug und Ziel unterscheidet (so hat z.B. das Enjambement »ins Lied/Gehüllt« das Moment der Verhüllung auch materiell zum Vorschein gebracht). Das Motiv der »unschuldigen Hände« kann diese Bedeutung in51 | Vgl. Martin Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1996, 69. Heidegger zufolge ermöglicht der »Strahl« den Dichtern das »Nennen«, wozu sie von sich aus nicht fähig wären. 52 | Die Isotopie von »ins Lied/Gehüllt« »umhüllt« die Sätze auf materiale Weise durch das Enjambement. 53 | Szondi liegt an diesem Punkt bekanntermaßen im Streit mit Heidegger, indem er die Dichter im Sturm verortet und so der Parallele Dichter–Landmann widerspricht. Er bemüht sich interessanterweise, die Parallele Dichter–Landmann auszuschließen, zudem unter Anwendung der Parallelstellenmethode als Beweismittel, die er in Verbindung mit Beissner verurteilt hat (Einführung in die literarische Hermeneutik, 242). Ohnehin hat Heidegger in einer Vorlesung (1934) die Dichter gerade im Sturm verortet, vgl. Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein (GA 39), Frankfurt a.M. 1989, 30-31.
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sofern konnotieren, als nämlich diese Hände nicht instrumentell im Dienste eines von ihnen unabhängigen Ziels stehen. Das »[F]assen« der »himmlichen Gabe« ist zugleich auch das »dem Volk« »[R]eichen«, da das Lied »der Götter und Menschen Werk« »[be]zeuge«, trotzdem ist ihr Verhältnis nicht ohne Spannung: Die Geste des Reichens löscht die fassende Hand aus (man könnte sagen, opfert sie), denn es ist von einem Geschenk die Rede, nicht von Eigentum, andererseits macht der Aspekt der Verborgenheit des »Liedes« die Geste – und die Gabe selbst – unsichtbar. In einer Übertragung kehrt hier der Ausspruch Jesu – »so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut« – wieder. Der vorangehenden Strophe zufolge soll das »Lied« »der Götter und Menschen Werk« »[be]zeuge[n]«. Diese doppelte Zeugenschaft kann nur mit »unschuldiger« Hand durchgeführt werden, d.h. als ein Zeuge, der an der Vermittlung zwischen den beiden Zonen interessiert ist, ohne einer der beiden Seiten verpflichtet zu sein (er ist keiner Seite etwas »schuldig«, vgl. »schuldlos«). In diesem Sinne ist die Unschuld des Dichters exemplarisch, nicht per se (im Sinne einer Subjektivität oder einer sich selbst genügenden Individualität), was er verantworten könnte, sondern weil er zwischen »Gaabe« und »Lied« (im Sturm bzw. als Landmann) siedelt und gleichsam mit seinem Dasein deren Ununterscheidbarkeit rechtfertigt bzw. diese gleichzeitig fragwürdig macht. Ihre Verantwortlichkeit ist im Sinne dieser Verortung nicht selbstverständlich, deswegen sind die Dichter auch »schuldlos«. Die »himmlische Gaabe« ist nicht das Eigentum oder die Gabe der Dichter, denn ihnen selbst wird diese auch gegeben, zugleich geben sie sie in ihren Werken, im »Lied« auch an das »Volk« weiter. »Lied« und »Gaabe« sind aufeinander angewiesen, zugleich gibt es einen Unterschied zwischen ihnen, einen Unterschied, der aus philologischer Sicht nicht uninteressant ist: möglicherweise entspricht dieser der Differenz zwischen dem materialen Text und dem »Werk«, dem stofflichen »Lied« und der immaterialen »Gaabe«, die hier als der Dualismus von »fassen« und »reichen« erscheint. Das »Lied« ist bei Hölderlin bei Weitem kein Medium irgendeiner sich selbst genügenden solitären Subjektivität, denn es bedeutet ein Zeugnis, und seine Wiederholbarkeit, seine Mnemotechnik erhält auch als strukturelles Merkmal des Zeugnisses einen Sinn (demzufolge es immer, unter allen Umständen wiederholbar sein muss). Dieses Zeugnis hängt jedoch nicht vom Vermögen des Subjekts ab, sondern jenes Kommende macht zum Zeugnis, worüber das Gedicht ununterbrochen spricht: die »Natur« bzw. deren »Erwachen«, das der Dichter an »den Zeichen, den Taten der Welt« ablesen muss. Das Zeugnis bedeutet aus dieser Sicht (Auf-)Ruf und – umgekehrt – das Medium des Rufes durch das Ereignis (»das Heilige sei mein Wort«, die Benennung ist bei Hölderlin grundlegend ein Ruf),54 insofern wird es auch zu einem Versprechen, d.h. so wird es zur »Gaabe«. Dieser Zeugnischarakter der dichterischen Rede birgt jedoch gewisse Komplikationen, die mit der vieldiskutierten Unabgeschlossenheit des Gedichtes zu tun haben könnten. Es sei auch angemerkt, dass sich auf derselben Seite des Stuttgarter Foliobuches, auf der das hier behandelte Gedicht zu lesen ist, am Rand das prosaischer gehaltene Gedicht mit dem Titel Im Walde findet, demzufolge der Mensch eine Sprache erhielt, »damit er zeuge, was/er sei geerbet zu haben …«.55 54 | Das ist eines der wiederkehrenden Motive (nicht nur) der Hölderlin-Interpretationen Heideggers. 55 | Hölderlin, Sämtliche Werk und Briefe I, 265.
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Das »Lied« bzw. die Dichter sind die Medien der Übermittlung des »Heiligen« durch den »Stral«, der auch als »Blitz« erscheint, d.h. das »Lied« ist auch das Medium einer Art »Entladung«, die eine Einschreibung vornimmt. Mit ihr tut sich auch eine Spaltung, man könnte sagen, ein »Riss« zwischen dem materialen »Lied« und der immaterialen »Gaabe« auf, während zur gleichen Zeit »fassen« die Bedeutung von »reichen« erhält. Diese Differenz schließt zugleich auch einen Rest ein, die Gabe ist demzufolge eine Art Rest, keine Gegenwart. Das »Beispiel« steht also in einem indexikalischen Verhältnis zu dem von ihm Exemplifizierten (ist abhängig vom Ereignis), es bedeutet etwas Überflüssiges (im wörtlichen Sinne des Bei-Spiels), es steht nicht in einer Beziehung, die auf einem analogisch-repräsentativen Prinzip basiert, wiewohl es als solches missdeutet werden kann (als Element der Selbstpräsentation des »Liedes«, wie sich im Folgenden herausstellt). Auf diese Weise hinterlässt des »Vaters Stral« gleichsam sein eigenes Testament im »Lied«, ist Bedeutung seines Unausgesprochenen, wobei die Artikulation oder das Ausgesprochene immer schon als Zitat zugänglich wird. Der Text wechselt deshalb in die mythische Redeweise um und stellt, was die aktuelle Rede unausgesprochen lässt, in einem mythischen »Beispiel« dar, dem »wie Dichter sagen«, was im Bereich der eigenen Rede nur ein Zitat artikulieren kann.56 Der Charakter des Semele-Gleichnisses ist selbstzerstörerisch, da es den Aspekt der Analogie der Exemplarität abbaut (die Geschichte der Semele handelt von der Hybris der Begierde nach Sichtbarkeit und deren Bestrafung). Zugleich signalisiert sein zitationeller Aspekt das 56 | Einer textgenetischen Prüfung unterzogen: in der Prosafassung von Wie wenn am Feiertage war es noch nicht da, vielmehr tritt in dessen »Lücke […] der Mythenkern des Semelegleichnisses« (vgl. Mottel, ›Apoll envers terre‹, 27, 42), was die interessante Frage aufwirft, ob der Philologe einen Text nicht aufgrund nachträglicher Einschübe als Fragment, als »defizitär« wahrnimmt. – Dieses Zitat unterstreicht die ursprüngliche Zitathaftigkeit des Textes, die ihm noch »vor« identifizierbaren Intertexten zugehört. Denn das Semele-Gleichnis hat eine Zeugnisstruktur (»wie Dichter sagen«), ist ein zitiertes Zeugnis, darum ist es wiederholbar (»wie Dichter sagen«), und in dieser Zitierbarkeit macht es das Ereignis zum Zitat seiner selbst (diese Zwischenschaltung war Szondi zufolge »einmalig« in der Dichtung Hölderlins, vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, 238). Diese Verdoppelung ist selbst ambivalent, das Korrelat der Unterbrechung des Zeugnisses, das in »Der Gesang, damit er beiden zeuge, glükt« erscheint. Wenn dieses Syntagma grammatikalisch zweideutig ist (bezeugt es beide oder bezeugt es beiden etwas anderes?), dann zeigt sich hier die Möglichkeit des falschen Zeugnisses, das auf die zitationelle Seinsweise des Zeugnisses zurückgeführt werden kann. Bezeugt der »Gesang« »der Götter und Menschen Werk«, oder ist er ihnen das Zeugnis von etwas anderem, z.B. von einem anderen Text (dessen mythopoetisches Zeugnis)? – Es ist kein Zufall, dass die Meinungen über den Status dieses eingeschobenen mythopoetischen (von Euripides und Ovid übernommenen) Gleichnisses auseinandergehen: Heidegger hält es für ein »Gegenspiel« (Erläuterungen, 70), da er das Narrativ einer Strafe darin erkennt, Szondi dagegen weist darauf hin, dass es auch als Beispiel der poetischen Genesis gelesen werden kann, lässt schließlich aber – unter dem Rückgriff auf philologische Prinzipien (wonach die früheren Formulierungen Hölderlins auch das Moment des gewaltsamen Todes betont hätten) – die Frage offen, ob von einem »Vorbild oder […] Gegenbild«, einem »Beispiel oder […] Gegenbeispiel« die Rede ist (ebd., 278-281). Interessanterweise zitiert Szondi Heideggers »Gegenspiel« als »Gegenbeispiel«, er schließt die Möglichkeit der Deutung von »Gegenspiel« als »Gegenimpuls« aus.
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Moment des Zeugnisses, dessen iterativen und nicht-autonomen Charakter – das Testament des zu Bezeugenden schreibt sich gleichsam in das Zeugnis ein (im Sinne der Metaphorik von Blitz und Asche) und stellt dessen Unausgesprochenes (im Sinne von Rest) dar. Dieses Unausgesprochene gehört zum Zeugnis selbst, zugleich bedeutet es jedoch auch den Bedarf des Bezeugten an Zeugenschaft (das Bezeugte entzieht sich der Archivierbarkeit, denn so würde es in die Ordnung des Wissens eingegliedert). Diese Über-Kreuzung entspricht dem grundlegenden doppelten Charakter der Zeugenschaft: wenn das, was tatsächlich Zeugnis ablegt, das Unausgesprochene selbst ist, dann muss die Zeugenschaft, will sie gerecht sein, eben dieses Unausgesprochene bezeugen.57 Dieser Chiasmus verweist auf den doppelten Charakter der Gabe des (gegebenen) Wortes, das auch ein Wort ist, das man aufgrund des Vertrauens des Anderen erhält. Die Korrelation des Unausgesprochenen des Bezeugenden und des zu Bezeugenden ist identisch mit dem Chiasmus der Gabe. Oder anders: Der Bezeugende wiederholt oder liest gleichsam das Zeugnis (und gibt es nicht von sich aus auf souveräne Weise), das vom Unausgesprochenen selbst abgelegt wird. Dieser Zusammenhang kann nicht zur Alternativkonstruktion der zwei »Konzeptionen« der Dichtung hinzugezählt werden, die Binder in Wie wenn am Feiertage … sieht, und die er als die unlösbaren Probleme des Gedichtes charakterisiert, die auch für dessen Unabgeschlossenheit verantwortlich sein können.58 Beide »Konzeptionen« von Binder setzen eine räumliche Bewegung voraus: einerseits die Manifestation des Verborgenen, andererseits die Delegierung des Unmittelbaren in das Verborgene – womit das Ereignis der Zeugenschaft verfehlt wird, dessen originären Chiasmus (den das Unausgesprochene selbst mit sich bringt) das Gedicht auch auf der tropologischen und der semiotischen Ebene, in den Momenten des »Feuers« und des »Zeichens«, anzeigt. In diesem Sinne treffen die beiden Aspekte der Verborgenheit – die Offenbarung des Verborgenen und das Verbergen des Unmittelbaren – im Chiasmus der Zeugenschaft aufeinander. Diese um das Verborgene herum angeordnete Struktur der Zeugenschaft deutet nicht auf eine dialektische Bewegung hin,59 sondern grundsätzlich auf das Ereignis des Kommenden, in dem sich das Unausgesprochene (weil An-Künftige) darreicht. Oder: 57 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 336. Zur Bezeugung des »Geheimnis[es]« als des strukturellen Zugs jeder Zeugenschaft vgl. Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 28-31. 58 | »Wie wenn am Feiertage spricht zuerst von den anonymen Götterkräften, die den Dichter brauchen, um in seinem Geist sich zu fühlen und in seinem Wort sich zu offenbaren, dann vom Strahl des Vaters und himmlischen Feuer, das die Erdensöhne brauchen, aber nur in der Verhüllung des Liedes aushalten. Dort ein verborgen Göttliches, das durch menschliches Bemühen offenbar wird, hier ein unmittelbarer Gott, der für menschliches Ertragen in die Mittelbarkeit gehüllt werden muß. Beides reimt sich nicht zusammen, und vielleicht ist das Gedicht darum unvollendet geblieben. » Wolfgang Binder, Friedrich Hölderlin, Frankfurt a.M. 1987, 53. 59 | Vgl. Binder, der auch die Bedeutung des Semele-Beispiels hervorhebt: »[D]as Erscheinen des Gottes im Blitzstrahl, den der Dichter zu fassen und in der Verhüllung des Liedes weiterzureichen hat. Das ist der Umschlag der Dialektik ins Paradox. Die Peripetie liegt im Semelegleichnis der sechsten Strophe«. Friedrich Hölderlin, 72.
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im Kommenden wirken zugleich Verbergen und Aufdecken: das Kommende muss auf irgendeine Weise bezeugt werden (weil es nicht als solches erscheint), zugleich muss es in seinem Kommen bezeugt werden, d.h. nicht als Unmittelbarkeit. Damit bedeutet die Testamentarität als Bleiben kein Da-Sein, vor allem kein in der Vergangenheit angesiedeltes, sondern die Gabe des Kommenden, das Kommen selbst.60 In diesem Kontext oszilliert die Zeugenschaft zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit, wodurch sich ihr Abstand zur Intentionalität vergrößert. Im Prinzip muss der Bezeugende stets und wiederholt für seine Zeugenschaft bürgen können, obwohl er nicht im ganzen Umfang wissen kann, was er eigentlich bezeugt. Er kann das von ihm Bezeugte nicht als einen Gegenstand des Wissens betrachten (nicht einmal im Falle eines persönlichen Bekenntnisses), denn dann geriete die Zeugenschaft zu einem Beweis (einer Referenz) oder einem Beispiel dieses Wissens. Wäre er sich vollständig darüber bewusst, was er eigentlich bezeugt, dann wäre dies keine Zeugenschaft, sondern der Beweis der Erkenntnis, das Beispiel eines generalisierbaren Zusammenhangs. Deshalb kann nur das Unausgesprochene im tieferen Sinne des Wortes – und das bedeutet: als das An-Künftige! – eine Zeugenschaft leisten, wenn und insofern das Zeugnis nicht die Verifizierung, die Bestätigung von vorher Bekanntem bedeutet. Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Konkretisierung von Ereignissen, die im (»heiligen«) Kommenden liegen, durch des »Vaters Stral« als einer »himmlischen[n] Gaabe« im Gedicht im Sinne des »Hüllen«, des Verbergens zum Unausgesprochenen des »Lied[es]« wird. Das »Lied« müsste im Prinzip das Unausgesprochene exemplifizieren, zugleich kann es das nicht, denn im Verbergen der »Gaabe« zeigt sich jenes gerade nicht als solches, sondern es bleibt unausgesprochen.61 Eben insofern bedeutet das Lied ein Gegen-Beispiel und zugleich ein nicht repräsentierendes (nicht repräsentierbares) »Beispiel«. So exemplifiziert das Unausgesprochene selbst den Text, das Beispiel repräsentiert nicht einfach das Unausgesprochene, wie es typisch im diskursiven Gebrauch der Exemplarität ist. Das »Lied« zeugt von »Götter[n] und Menschen«, aber die »Gaabe« selbst leistet die wahre Zeugenschaft (als sein) unausgesprochen(es), und insofern ist eher sie exemplarisch als das »Lied«, gleichwohl es unausweichlich ist, es als Beispiel, als das Beispiel des Unausgesprochenen zu missdeuten. Das Exemplarische des Unausgesprochenen ist nämlich eine Beispielhaftigkeit, die das »Lied«, das es im Prinzip exemplifiziert, abschafft, zumindest aber die Exemplarität des Subjekts dieses Liedes (so wie auch Semele durch den Blitz des Zeus zu Asche wird). Die Versuchung, das »Lied« in ein analog-synekdochisches oder performatives (Autorisations-)Verhältnis mit der »himmlische[n] Gaabe« zu stellen, ist groß, doch das »Lied« soll nicht an sich oder für sich bezeugt werden, sondern das Unausgesprochene (das zugleich kein identifizierbar-referentialisierbares Beispiel sein kann), das sich in ihm darreicht, soll bezeugt werden – nur so wird das »Lied« in seiner Bedeutung und Singularität bezeugt. Zwischen dem »Lied« und (seinem) Unausgesprochenen gibt es indes weder eine tropologische noch eine performative Kontinuität oder 60 | Vgl. Heidegger, Erläuterungen, 75. 61 | Vgl. Dazu die Bemerkung Gottfried Benns: ») daß zum Beispiel die Verse Hölderlins substanzlos sind, nahezu ein Nichts, um ein Geheimnis geschmiedet, das nie ausgesprochen wird und das sich nie enthüllt.« Die neue literarische Saison, in: ders., Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 1989, 440.
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Beziehung (vgl. »Gehüllt), noch auch ein ökonomisches Verhältnis, die Hand des Dichters ist auch deswegen »unschuldig« – andererseits verlagert sich die Zeugenschaft in Bezug auf dieses Defizit kompensatorisch zum »Lied« selbst hin, doch das muss als falsches Zeugnis gelten, denn damit weicht sie der Herausforderung oder dem Anspruch des Unausgesprochenen aus. Die wahre Zeugenschaft muss also etwas bezeugen, wofür es kein identifizierbares »Beispiel« gibt, etwas, das das Gegen-Beispiel selbst darstellt. Das Unausgesprochene wird in dem Moment geopfert oder in die Ferne gerückt, in dem ein referenzielles, identifizierbares oder wissensbezogenes Beispiel aus ihm erstellt wird. Oder es wird in das Paradigma der »Tat« eingefügt, für die (der vorausgesetzte Täter) dann zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Bereitschaft des Dichters zur Identifikation mit der »Tat«,62 zur Gegenwärtigkeit, die dadurch ermöglicht wird (»das sie sichtbar/Den Gott zu sehen begehrte …«), besteht dennoch. Darin liegt seine Hybris, denn damit wird latent die Struktur der Verantwortung ermöglicht, was freilich im Widerspruch zum Moment des »schuldlos« steht. Wichtig ist jedoch, dass er sich gegen keine vorgängig festgelegte Verantwortlichkeit versündigt, sondern gerade die Bestimmung des Tatsubjekts – und dadurch die Definition der Tat selbst – macht das Moment des »schuldlos« zunichte. Dieser Subjektcharakter ist unumgänglich, nicht aber von Anfang an als empirisches, individuelles Ich, als vorausgesetzte Immanenz des Subjekts, sondern eben als Singularität oder Eigenheit, die durch die Gabe aufgerufen wird, wie das Moment der »eigne[n] Hand« anzeigt. Nicht das empirische Ich per se (oder seine Fähigkeiten), sondern dessen Status, der Gabe würdig zu sein oder seine Reinheit (»reinen Herzens«) sind hier entscheidend. Die Übernahme oder der Empfang der Gabe können allerdings nicht in die (historische) Kategorie der »Tat« eingeordnet werden, die Gabe setzt zwar eine Gegengabe voraus, grundsätzlich begegnet sie aber trotzdem einer Art Passivität, der sie sich, als eine Art Erleiden, einschreibt (»tieferschüttert, die Leiden des Stärkeren/Mitleidend …«, aber auch das »Denn sind nur reinen Herzens,/Wie Kinder, wir …«, denn diese Einschreibung kann sich nur in einem »rein[en] Herz[en]« als einer Art Empfänglichkeit, Antastbarkeit vollziehen). Demgegenüber ist die Voraussetzung des individuellen Ich als solchen die Grundlage dafür, dass die Tat identifiziert werden kann (sowie für die Sonderung von Tat und Täter), was im Falle des Dichters zumindest nicht selbstverständlich ist (»wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände …«). Das Paradigma des geschichtlichen Handelns schließt auch das Selbstopfer ein, die Handlung als heroische Opfertat – diese Rollenmöglichkeit erweist sich aber in der dichterischen Sphäre als irrtümlich, da das Selbstopfer des Ich erneut dieses Ich in den Vordergrund rückt und Gewalt voraussetzt, was erneut der Forderung des »schuldlos« entgegensteht. Die poetische Strategie kann sich gerade in der Rhetorik des »Beispiels« nicht davon frei machen, die Tat oder die Handlung auf der sprachlichen Ebene zu simulieren. Wie besprochen kann die performativ-autorisierende Komponente der Rhetorik des Beispiels, in vielfältigem Sinne, gerade ein solches Handlungssurrogat bedeuten: die Exemplifizierung des Unausgesprochenen, wobei dieses unwillkürlich zu einem (im Voraus bekannten) Fall des Gesetzes, zu einer Verbindung von Handlung und Sprache wird und gerade so das Recht des Sprechers auf sprachli62 | Vgl. Paul de Man, Patterns of temporality in Hölderlin’s »Wie Wenn am Feiertage …«, in: ders., Romanticism and Contemporary Criticism, Baltimore 1993, 68.
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ches Handeln stärkt, auch indem die Rhetorik des Beispiels die Autorität des Sprechers repräsentiert, durch sie ihre Autorisierung erhält. So kommt die analogische Kraft des »Beispiels« gerade in der Semele-Parabel zum Einsatz, die aber genau die Problematik der Sehnsucht des »sichtbar zu sehen« aufzeigt. Ferner ist auch die bezeugende Funktion des »wie Dichter sagen« ambivalent: Zeugt die Parabel vom Dichter, oder bezeugt die Parabel selbst in der Sprache des Dichters etwas? Diese referenzielle Zweideutigkeit signalisiert, dass die Rhetorik des Beispiels sich im Gedicht grundlegend in die Dimension der Zeugenschaft verlagert. Ebenso doppeldeutig ist die Darstellung der »Dichter«: Das Gedicht erwähnt sie in der dritten Person, gleichsam unpersönlich, aber bereits in der folgenden Strophe spricht es sie an, d.h. dass gleichsam ein Exempel statuiert wird, obwohl sie vorher zitiert wurden. Das Zitat kann die Funktion der Apostrophe, Gegenwart und Präsenz zu suggerieren, zu einer Wiederholung, zur Verdopplung seiner selbst umschreiben. Dieser duale Modus kann wiederum schon die strukturelle Voraussetzung des falschen Zeugnisses sein (da die Zeugenschaft nichts vom Hörensagen Bekanntes reproduziert, ihr Inhalt stammt »aus erster Hand« und muss trotzdem wiederholbar sein). Das »sichtbar zu sehen« ist insofern die ideologische Umkehrung der Blindheit des Zeugen – dass er nämlich nur mit Worten Zeugnis ablegen kann, die das Sehen ersetzen, ja auslöschen.63 Andererseits steht das Gebot der strukturellen wörtlichen Wiederholbarkeit des Zeugnisses (durch die die Mnemotechnik des »Lied[es]« bestimmt wird) potentiell auf einer Stufe mit der Kontamination durch die Technik, hier durch die Zitathaftigkeit.64 Es gibt kein Beispiel, keine Parabel für das Unausgesprochene als solches, es selbst ist das Gegen-Beispiel, und gleichzeitig impliziert die Zitierbarkeit seines Zeugnisses eine Exemplifizierung: das Unausgesprochene wird zu einem Beispiel gemacht, ferner wird das Zeugnis auf eine Weise exemplifiziert, die die Erinnerung an das Unausgesprochene, letztlich die Zeugnisfunktion in ihm auslöscht (das dichterische Subjekt soll als Zeuge das Geheimnis als das Unausgesprochene übermitteln – der Verrat dieser paradoxen Aufgabe ist in der Rhetorik des Exemplarischen allerdings unumgänglich, deshalb gibt es einen »falsche[n] Priester«). Genau das ist, auf der sprachlichen Ebene, die »himmlische Gaabe«: Sie kann mit dem Entzug des Versprechenscharakters, des performativen Wertes der Rede des Zeugen einhergehen (das Fragment mit dem Titel »Die Rose« – einer der Prätexte zum zweiten Teil des späteren Hälfte des Lebens – beklagt in der Nachbarschaft der Hymne den Verlust der verschiedenen Gabensymbole, der »Kränze den Himmlischen«, der »Liebeszeichen«).65 Die materiale-immateriale Einschreibung des »Stral[s]« bedeutet nämlich auch Vergessen, was unerlässlich für das Zeugnis des Unausgesprochenen ist, das gleichzeitig gerade davon bedroht wird. Das dichterische Ich apostrophiert sich selbst im fragmentarischen Schluss, der einen grundlegend anderen Ton anschlägt, als »falsche[n] Priester«, was die Rolle des falschen Zeugen bedeuten kann. Oder es lenkt die Aufmerksamkeit in 63 | Vgl. Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden, München 1997, 105. 64 | Vgl. Derrida, Bleibe, 33. 65 | Das »Liebeszeichen« bildet an einer Stelle des späteren Friedensfeier, das in mehrfacher Hinsicht auf die Hymne Wie wenn … verweist, in Bezug auf die Götter sogar explizit eine Parallele zum »Zeugnis«: »Das Liebeszeichen, das Zeugniß/Daß ihrs noch seiet, der Festtag)« Sämtliche Werke und Briefe I, 364.
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der quasi-juridischen Konstellation von »Zeugenschaft« und »Unschuld«, im zweifachen Sinne, auf die legalisierende Funktion der Rhetorik des Beispiels: einerseits die prädikative Exemplifizierung des allgemeinen Zusammenhangs mit dem singulären Fall, andererseits – parallel dazu – kann ihr Effekt die Selbstautorisierung des Sprechers sein. Und das lenkt die Aufmerksamkeit auf das interpretative Moment der Beispielhaftigkeit: Hölderlin bemerkt zu Ödipus’ Deutung des Orakels von Delphi, dieser spreche hier »priesterlich«, da er das rätselhafte Orakel »argwöhnisch ins Besondere deutet«.66 Der »falsche Priester« stellt also den latenten theologisch-juristischen Aspekt der Exemplifizierung her. Dieses falsche Zeugnis erscheint, als innere Bedrohung, in der Rhetorik der Exemplarität – die Semele-Parabel hat das Exempel (wie besprochen) nicht einfach als zitierbares Muster gezeigt, sondern der aktuelle Text selbst war als Zeugnis der Index seiner zitathaften Seinsweise (auf chiastische Weise: zuerst zitiert das Semele-Gleichnis gewisse Elemente des vorangehenden Textes, später, am Schluss zitiert der Text dann die Worte des – zitierten – Gleichnisses).67 Das heißt, dass auch hier eine Inversion oder ein Chiasmus erscheint – motivisch drückt sich das darin aus, dass die Semele-Parabel am Schluss beinahe wörtlich wiederholt wird (vgl. die Wiederholbarkeit des Zeugnisses), die »Strafe« sich dagegen auf das Ich selbst zurückrichtet. Die »Strafe« droht nicht per Gesetz, sondern sie kommt im Ereignis der Exemplifizierung als Zeugenschaft selbst (und umgekehrt) zustande, wobei die Materialität der Wiederholung das Ich traumatisiert, ihm eine Art Stigma einschreibt, in dessen Folge auch die Tragweite seines Zeuge-Seins für es unbeherrschbar wird. Das kann die Vorstellung der »selbstgeschlagne[n] Wunde« der Prosaversion, die im Bezug hierzu steht, erklären. Ferner kann angenommen werden, dass das Oszillieren zwischen Ausgesprochenem und Unausgesprochenem, »Lied« und »Gaabe«, Zitat und Zeugnis, Mimesis und Poiesis68 im Spiegel der gleichzeitig zitationellen wie textgenerierenden Leistung der Semele-Parabel auch die Dimension des Schwankens zwischen Beispiel und Gegenbeispiel ist, sowohl auf der textuell-zitationellen als auch der pragmatisch-semantischen Ebene. Szondis Interpretation dieser Zusammenhänge ist von lehrreichem domestizierendem Charakter. Die Frage, ja die Problematik der Selbstverortung des Dichters hängt ihm zufolge mit der Fragmentarität des Schlusses zusammen, damit, dass Hölderlin das Gedicht nicht abschließen konnte. Szondi führt dieses kompositorische und philologische Problem auf den Defekt des lyrischen Ichs Hölderlins zurück, nämlich auf die Unfähigkeit, sich von bestimmten empirischen Elemen66 | Bemerkungen zum Ödipus, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe II, 311. 67 | Insofern stammt die exemplarische Unentschiedenheit des Semele-Gleichnisses daher, dass diese Situiertheit immer schon für den Dichter galt (wenn das emphatische »Jezt« die Sprechsituation des Gedichtes bestimmt hat), aus diesem Grund ist sie unentscheidbar. Somit erklärt die idealtypische Hymnen-Vorstellung Szondis diese Situation nicht, ebensowenig seine symptomatisch räumliche Annäherung an das Problem (vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, 296, über Kerényis Analyse). 68 | Vgl. Mottel, ›Apoll envers terre‹, 36. Die letztere Verdopplung zielt auf die gleichzeitig tropologische und persuasive Qualität des Beispiels. In diesem Dualismus situiert sich das Zeugnis und wird im Grunde unabschließbar oder: Das poetische Gelingen (das Wesen des »Gesang[s]« als Zeugnis, vgl. »glükt«) ist nie garantiert.
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ten, die ihm die dichterische Unpersönlichkeit ermöglicht hätten, befreien oder die individuelle Komponente und deren elegische Modalität aufgeben zu können, die das Erlebnisprinzip birgt. Es scheint, als wolle Szondi das persönliche Ich opfern, jeden Überrest von ihm verschwinden lassen, damit der Text sein poetisches Leitprinzip, das hymnische Ideal erlangt – und dadurch einen adäquaten Abschluss erhält, d.h. dass er das Fragmentarische hinter sich lässt. Dadurch stellt Szondi die Intention des Autors wieder her, aus deren Blickwinkel er die Fragmentarität zugleich erklärt und beurteilt. Man könnte auch sagen, dass der Text so zu einer eigengesetzlichen Entität wird, auch, indem die Opferung einer gewissen kontingenten Individualität des lyrischen Ich sie konditioniert. Auf jeden Fall fällt dieses Ich Szondi zufolge »dem hymnischen Ich am Ende ins Wort und [verlangt] sein Recht. Daran scheiterte die Vollendung der Hymne«.69 Szondi selbst bezieht also den juristischen Diskurs erneut (nach dem philologischen Traktat) in die Interpretation ein. Deren Leitprinzip kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der Dichter »ist allein mit seinem Werk: er kämpft nur noch gegen die Versuchung durch sich selber, gegen die eigenen Zweifel, gegen die eigene Schwäche »(35), wobei das Ich sogar »ins Gericht über sich selbst« geht (36). Der Dichter soll »im Gegensatz zu den übrigen Menschen das Göttliche unvermittelt, nicht gemildert durch die Verhüllung ins Wort, ertragen« (43).70 Die Vermittlung dieser Erfahrung kann nur gelingen, wenn er – Szondi führt auch das mit dem quasi-juristischen Ausdruck des »verlangt« ein – eine »Offenheit, eine Empfänglichkeit« besitzt, die »vom eigenen Ich absieht« (44).71 Den Tausch vom »Aber wenn von anderem Pfeile das Herz mir blutet« zum »Aber wenn von selbstgeschlagener Wunde das Herz mir blutet« erklärt Szondi so, dass an die Stelle des Mitgefühls mit dem Leiden des stärkeren Gottes das »Leiden an sich selber, an der eigenen Schwäche« (45) tritt. Das ist eine klassische postromantische Figur, das Problem der Immanenz des Ich, das nicht auf das Allgemeine oder das Gesetz projizierbar ist, das nicht ohne weiteres sublimiert werden kann. Nichts ist weiter von Hölderlin entfernt als diese Ideologie der Lyriklektüre, die bestimmte romantische bzw. ästhetizistische Erwartungen bedient. Doch welche Vorschläge macht Szondi noch? Die »Verschuldung« war immer schon da, und Hölderlin ist deshalb mit der metrischen Variante ge69 | Der andere Pfeil, 54. Bei Benjamin fällt das »Ausdruckslose« dem Dichter ins Wort (auf Hölderlin bezogen), oder es geht gerade um ein umgekehrtes Verhältnis (Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders./Jan Philipp Reemtsma [Hg.], Wahlverwandtschaften: Aufsätze und Reflexionen über deutschsprachige Literatur, Frankfurt a.M. 2007, 85). 70 | Dennoch hat gerade der Dichter, darauf macht de Man aufmerksam, zuerst mit der Sprache zu tun, und gerade das ist der Unterschied zwischen ihm und den historisch Handelnden. Der Szondi-Schüler Rainer Nägele erklärt die Unabgeschlossenheit der Dichtung folgendermaßen: »Zwischen dem objektiven Bild der Dichter und der existentiellen Situation des schreibenden Dichters besteht eine Kluft, die im Prozess des Textes sich weiter öffnet anstatt schließt.« (Text, Geschichte und Subjektivität, 182) Die »existenzielle Situation des schreibenden Dichters« ist eine eigentümliche Konstruktion – man ist nirgends weiter von der Existenz entfernt als beim Schreiben. 71 | Die Funktionalisierung der Offenheit durch den Imperativ ist ebenfalls eine nicht unproblematische gedankliche Figur. Vgl. demgegenüber Derridas Auffassung, dass das Zeugnis zugleich immer auch eine autobiographische Figur darstelle, was auf die Singularität des Zeugen zurückzuführen sei (Bleibe, 46).
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scheitert, weil »er die Wahrhaftigkeit der Verse steigern, das bislang als Möglichkeit Ausgegebene als Wirklichkeit bekennen sollte. Damit sprach er aber seiner Hinwendung zum Göttlichen, die im hymnischen Gedicht selbst Wirklichkeit geworden wäre, das Urteil. Die Hymne Wie wenn am Feiertage …, die die Stellung des Dichters zur Sphäre der Götter bestimmen will, steht in ihren fragmentarischen Schlußversen an dem Abgrund, wo sie sich selber verbieten, sich selber aufheben muß« (51, Hervorh. CsL). Szondis Lösung nach so vielen Opfern (das »Opfer« kommt auch wörtlich vor, z.B. 45) und so viel Negativität ist im Grunde – und konsequenterweise, könnte man hinzufügen – das Moment des Selbstopfers: Er zitiert zustimmend die These Karl Viëtors, wonach die Menon-Elegie »im Pathos dessen [mündet], der seine Person hingegeben hat an den göttlichen Auftrag«, er weicht dahin aus, dass der elegische Ton (den bereits der Schluss der Elegie »vorschreibt«, 53) in der hymnischen Sphäre aufgegeben werden muss, »nur der darf ihn […] wagen, dessen Wunde genesen, dem das eigene Leid zum Traum geworden ist« (54). Nur so wird das unpersönliche Lob der Götter möglich, wobei jeder Überrest einer elegischen Stimme, meint Szondi, den Dichter für Hölderlin zum »falschen Priester« macht. Die Befreiung von den eigenen, persönlichen Leiden, von der selbst geschlagenen Wunde – diese Sublimierung führe zur Hymnendichtung. Da das im hier behandelten Gedicht nicht restlos gelinge, blieben die Leiden des persönlichen Ich erhalten, »[e]rst nach diesem Scheitern, einem Scheitern, das zugleich Erkenntnis und Läuterung gewesen sein mag, konnte Hölderlins eigentliche Hymnendichtung, sein Spätwerk, beginnen« (ebd., die frühere genetische und teleologische ZeitFormel ist hier bereits dialektisch gewendet). Das »persönliche Leid« (»Oh weh mir, wo nehm‹ ich …«), von dem Hälfte des Lebens in der zweiten Strophe spricht, kommt dagegen zu »sein[em] Recht« (ebd.), da es einen eigenen Text zu seiner Artikulation erhält. Man könnte sagen, dass die »Läuterung« auf der philologischen Ebene mit der Annahme einer Autorenintention, die nach dem Allgemeinen strebt (und gegenüber dem bloßen Ich gleichsam einen öffentlichen Charakter hat), vom privat-elegischen Gesang zur Fiktion des integren, nicht fragmentarischen, »rekonstruiert[en]«, öffentlichen Textes führt.72 Szondi autorisiert demzufolge die Fragmentarität der Hymne von Hälfte des Lebens als fertigem Text her, was auf eine eschatologische Gedankenstruktur im Hintergrund schließen lässt.73 Die Unabgeschlossenheit ist im Diskurs Szondis also im Wesentlichen kein Geschehen, sondern die Konsequenz eines quasi-juridischen Sprechaktes (Befehl, Verbot, Vorschrift). Zugleich mündet die Sprache der Gewalt in die Notwendigkeit der »Genesung«, in das Postulat des Ausgleichs oder der Aussöhnung, was wiederum nur auf Gewalt, der Opferung des Ich (seiner Eigentümlichkeit, seines Leids usw.) basiert. Die Einheit von Kognition (»Erkenntnis«) und Performativität (»Läuterung«) prägt das Motiv der Genesung, die also in der Aussöhnung der Spannung zwischen den beiden bestünde und die Gewalt, die sie im selben Moment vo72 | Zur Metaphorik Lachmanns, nach der die Aufgabe der Philologie die Therapierung der Fehlstellen, der Krankheiten der Texte wäre, vgl. Kai Bremer/Uwe Wirth, Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie, in: dies. (Hg.), Texte zur modernen Philologie, Stuttgart 2010, 18-19. 73 | Vgl. dazu die Kritik Mottels, der Szondi die »Mythisierung« des späteren, abgeschlossenen Gedichtes, die Programmierung des Scheiterns der Hymne, im Grunde die Programmierung (Kodifizierung) der Fragmentarität vorwirft: ›Apoll envers terre‹, 22, 27, 45.
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raussetzt, die Gewalt des Selbstopfers, vergessen machen würde. Dazu muss aber die »Schuld« – das persönliche Leid oder die persönliche Schwäche – affirmiert werden, wodurch nun das Gesetz des göttlichen Auftrags bejaht wird. In diesem Sinne entspricht die Formel der »selbstgeschlagne[n] Wunde« – von der »genesen« werden, die sublimiert werden muss, damit das »selbstlose Lob der Götter« verwirklicht wird – in Szondis Diskurs im Grunde der Figur des schlechten Gewissens. Eines schlechten Gewissens, das – in der Analyse Nietzsches – sich im Leid am Selbst manifestiert, das im Ideal der »Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung« wirkt, aus dem »Lust« erwächst, die aber – »gehört zur Grausamkeit«.74 Das schlechte Gewissen macht im Selbstopfer die ihm zugrunde liegende »Selbst-Vergewaltigung« deutlich, die ihre Wurzeln in der Gewaltsamkeit der Bestrafung hat, die die Schuld herstellt, von der sie selbst legitimiert wird.75 Anders ausgedrückt, ist die Gewalt die Grundlage für den kognitiven Zug des schlechten Gewissens, weswegen Szondi das Selbstopfer, das in der Einheit von »Erkenntnis und Läuterung« besteht, als Entpersönlichung bejaht. Vielleicht wird hier zumindest spürbar, wie weit Szondi von einem Text entfernt ist, der in Bezug auf die Dichter gerade die Momente des »schuldlos«, des »reinen Herzens«, des »wie Kinder« in den Vordergrund gestellt hat, eine Unschuld, deren ökonomisch begründete Missdeutung, die sich an Begriffen des Rechts entlang vollzieht, dem Text mehrfach Gewalt antut. Hölderlin selbst hat die Fragwürdigkeit einer solchen Sicht in seiner frühen Schrift Über den Begriff der Straffe verdeutlicht, der zufolge das Leiden nur dann auftritt, wenn das Sittengesetz unserem Willen entgegensteht, das Leiden aber kein Wissen bedeutet, sondern das Leiden an diesem Widerstand, als »die Folge von dem, daß wir etwas wollten, das dem Sittengesetz entgegen ist.« Ferner »bestimmen [wir] nach dieser Folge den Wert unseres Willens; weil wir Widerstand litten, betrachten wir unsern Willen als böse, wir können die Rechtmäßigkeit jenes Widerstandes, wie es scheint, nicht weiter untersuchen, und wenn dies der Fall ist, so kennen wir ihn nur daran, dass wir leiden.« Die Schlussfolgerung: »Alles Leiden ist Strafe.«76 In diesem Sinne kann »unmöglich ein für sich bestehendes Kriterium der bösen Handlungen angegeben werden. Denn, wenn sie konsequent sind, muß nach ihnen die Folge den Wert der That bestimmen« (ebd. 47). Auch für Szondi besteht das Problem nicht darin, dass das dichterische Ich an der eigenen Schwäche leidet, sondern darin, dass es sich damit den Weg zur Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit der Hymnendichtung versperrt. Dadurch isoliert er die Tat vom Körper (das Leid vom höheren Selbstbewusstsein des Dichters) und schreibt damit das poetische Ich Hölderlins zur Figur eines unglücklichen Bewusstseins um – und hat ihm nun schon Gewalt angetan, sein Wunsch nach dem Selbstopfer verstärkt oder wiederholt sich aber dem sublimierenden Zug seiner Operation zum Trotz. Demgegenüber steht, dass der Bezeugende, das Subjekt, das die Gabe empfängt, nicht mit irgendeiner Art Gesetz korreliert, sondern dass nur im Empfang der Gabe von seiner Singularität gesprochen werden kann, wobei die Gabe diese Singularität nicht einfach affirmiert, sondern auch öffnet, ja sogar spaltet. Der Bezeugende ist die Exemplarität selbst, aber nicht einfach als Beispiel des Allgemei74 | Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke (KSA) 5, Berlin/New York 1980, 326. 75 | Ebd., 316-321. 76 | Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe II, 48.
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nen (das wäre ein kognitives Muster), sondern als die von sich selbst verschiedene Singularität, was zugleich auch die Iterabilität der Zeugenschaft – eine Art quasi-Allgemeinheit (Allegorizität) – bedeutet. (Nicht das empirische, immanente Ich ist das Problem, sondern, im Zeichen des Verweises auf die Gabe, die autoritative Behandlung der Singularität, die durch die Gabe aufgerufen wird.) Dieser Gleichzeitigkeit geht keine irgendwie festzustellende Vorgeschichte voraus – die Gabe ist keine Antwort auf Schuld, auch wenn die Semele-Geschichte das suggeriert, wiewohl es auch dort im Grunde unmöglich ist, aus der Asche zur Figur des Semele zurückzukehren. Es gibt also keinen Unterschied zwischen der Tat und dem Tätersubjekt, zugleich kann für die Gabe als Unausgesprochenes, für die Bezeugung des Unausgesprochenen der Gabe, kein performativer Wert angegeben werden, sie verunsichert diesen vielmehr (in der Verdopplung von »fassen« und »reichen«, »Lied« und »Gehüllt«). Die Erosion der Performativität des Beispiels verläuft parallel zur fortschreitenden Unbestimmbarkeit der »Tat«.77 Das von Szondi gesetzte empirische oder individuelle Ich ist keine unhinterfragbare anfängliche oder immanente Gegebenheit, sondern das nachträgliche Produkt einer Kollision (die als Konsequenz das Leid hat) mit dem Gesetz als einer Allgemeinheit, das heißt, das Subjekt einer gewissen Rede oder eines gewissen Diskurses, das Subjekt einer Rolle. Interessanter ist jedoch die Frage auf theoretischer Ebene, ob die Individualität des Textes nicht des Opfers des empirischen Ichs bedarf. Diese Individualität steht den oben gemachten Feststellungen zufolge als paradoxes Allgemeines im Zusammenhang mit der Metaphorizität, was – auf der inzwischen skizzierten performativen Ebene – auch als Dispens fungieren kann, als Legitimation des dichterischen Subjekts oder der Souveränität des Textes (dass er das empirische Ich, dessen Leid opfern kann), als latente Autorisierung der ursprünglichen Gewalt sprachlicher Bezeichnung (so wie auch das Opfer durch eine höhere Beziehung zu den Göttern legitimiert oder sublimiert wird), ferner – was genau dasselbe ist – als ein Ausgleich des Mangels an eigentlicher Bedeutung (im metaphorischen Sinne der heilenden »Wunde«). Dabei ist das Leiden des immanenten Ich ein Beispiel, ein isolierter Fall auf dem Weg zur Überwindung des elegischen Tons, das heißt, die Metaphorizität ist auch von der Rhetorik des Beispiels abhängig (nicht zufällig verirrt sich Szondis Sprache am ehesten ins metaphorische Erzählen, spricht sie von den Überresten des immanenten Ich: »selbstgeschlagne Wunde«, »Traum«, »Heilung«). Wenn die Iterabilität des Zeugnisses eine Art Wortwörtlichkeit bedeutet (nicht seiner Bedeutung, sondern seiner Inskription), dann kann der Ursprung von Szondis Projekt der Metaphorisierung auch in der Abwehr des performativen Problems der Zeugenschaft liegen (das er an mindestens einem Punkt auch wahrnimmt, vgl. oben in Verbindung mit »Wahrhaftigkeit« und »Bekenntnis«). Oder es ist als Reaktion darauf eine Missdeutung, eine Art Kompensation des Mangels an eigentlicher Bedeutung sowie der Unaussprechbarkeit, der Inkommunikabilität der Aufrichtigkeit. In Szondis Hermeneutik war die übertragene Bedeutung die Sachwalterin des »allgemeinen Begriffs«, d.h. dass sie für die »Wahrheit« tropologisch gefärbt ist (eine paradigmatische Kombination als Resultat der Generalisation) – dieselbe Struktur erschien auch auf der Ebene der dichterischen Subjektivität (im Übergang vom empirischen Ich zum hymnisch77 | Vgl. zur Unaussprechbarkeit des Ichs der Aussage Nägele, Text, Geschichte und Subjektivität, 182.
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unpersönlichen Subjekt), ferner auf der Ebene philologischer Prämissen (die idealtypisch zu überwindende Unabgeschlossenheit, »Wunde« des Textes). Auf dieser letzten Ebene kann ein besonderer, tatsächlich rhetorischer, nicht bloß strukturell verursachter Chiasmus beobachtet werden: Während Wie wenn … ein handschriftlicher, fragmentarischer Text geblieben ist, wurde Hälfte des Lebens zusammen mit anderen Gedichten vom Autor zur Publikation gegeben, dennoch weist Szondi zufolge der erste Text den Weg zur unpersönlich-allgemeinen Hymnendichtung, die sich vom empirisch-privaten Ich entfernt, während letzterer das »persönliche Leiden« ausdrückt (worauf das Ich ein »Recht« hat). Der nicht publizierte, fragmentarische Text ist auf der poetologischen Ebene öffentlicher, eher als das Medium der Öffentlichkeit zu betrachten als das in einem Almanach, in einem gesonderten Gedichtzyklus verbreitete (d.h. in einer gesteigerten Intertextualität befindliche), autorisierte, »abgeschlossene« Gedicht. Szondi macht das fragmentarische, handschriftlich überlieferte Gedicht (das so zum Beispiel eines Allgemeinen wird) auf der poetologischen Ebene also – gewaltsam – publik und trägt ihm damit das Guthaben der Autorität des endgültigen Textes ein, während er den publizierten Text sozusagen reprivatisiert, was freilich durch das »Recht« autorisiert wird (der öffentliche Text wird zum Beispiel der vorausgesetzten Subjektivität herabgestuft). Eine doppelte Defensive (die sogar für gegenseitigen Ausgleich sorgt): die Behauptung der Publizität des fragmentarischen Textes kompensiert gleichsam dessen (auch im philologischen Sinne verstandene) Fragmentarität, während die Rückschreibung des später veröffentlichten Textes in die Empirizität des subjektiven Autors als Abwehr der textuellen Komplexität von Hälfte des Lebens (die weit über die Figur der lyrischen Subjektivität hinausgeht) gedeutet werden kann, wobei zugleich eine Art Kontinuum entsteht, da die elegische Stimme des empirisch-persönlichen Ich am Ende von Wie wenn … in Hälfte des Lebens weiterspricht (bzw. der Ton derselbe bleibt), dessen Publizität also gleichsam das »Recht« jenes Ich autorisiert und einlöst. Für die Fragmentarität von Wie wenn … hat Szondi die persönliche Stimme, die am Schluss erklingt, verantwortlich gemacht, genauer gesagt: die Kollision oder die Inkompatibilität dieser Stimme mit dem unpersönlichen Lob der Götter. Diese Fragmentarität würde die Teleologie und die Dialektik, die vom Privat-Persönlichen und Elegischen zum Unpersönlich-Allgemeinen und Hymnischen führt – als philologische Fiktion der Entstehung, der Genesis des Textes! –, gefährden. Hier kann man die Frage stellen, inwiefern Szondis kausale Erklärung in Verbindung mit der Fragmentarität der früheren Hymne Gültigkeit hat, wenn der persönliche-elegische Ton trotz allem einen gesonderten, abgeschlossenen Text hervorbringt, den der Autor (zudem auf Ersuchen) auch publiziert. Freilich ruft die Ich-Rede die Fragmentarität hervor, weil sie im allegorischen Sinne eine nicht autorisierbare Seinsweise des Textes selbst bedeutet (in Ermangelung des unpersönlichen Allgemeinen), jene »Wunde«, die in der Prosa-Version im selben Wortlaut an derselben Stelle erscheint wie im metrischen Fragment. Abgesehen davon, dass die Ich-Rede von Szondi her gesehen auf postromantische Weise doch ganz gut zurechtzukommen scheint (denn was braucht es mehr als den gesonderten, geschlossenen Text, den sie hervorbringt?), stoßen wir einerseits auf einen Selbstwiderspruch, andererseits auf eine versteckte Konversion (vergleichbar mit dem Austausch von philologischem und ästhetischem Moment), da sich die pragmatische Kategorie der Ich-Rede sowie die modale Kategorie der elegischen Rede latent
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zu texttheoretischen Kategorien wandeln.78 Die Medialität des gedruckten Textes, die Marken seiner Publizität, die die persönliche Redesituation überschreiben, finden hier keine Beachtung, die Reduktion des gedruckten Textes auf die Ich-Rede kann sogar als seine Renaturalisierung verstanden werden.79 Der widersprüchliche Chiasmus von persönlichem und öffentlichem, handschriftlichem und verlegtem Text bringt im Grunde die Trennung der Zeugenschaft (die immer eine Öffentlichkeit impliziert, im selben Moment aber tatsächlich ein Geheimnis bezeugt) von ihrem Subjekt, das Problematische in deren Verhältnis ans Licht. Hier zeigt sich also erneut die Inkonsistenz, der ambivalente Zug von Szondis Textbegriff: die Texte sind sozusagen auf natürliche Weise Individuen, zugleich bedürfen sie aber des Rechts, das diese Individualität – genauer gesagt, deren textuelle Figur – autorisiert.80 Letztlich ist dieser Dualismus das Symptom eines Widerstands gegen das Lesen sowie der Chiasmus von privat und öffentlich gegenüber der Fragmentarität bzw. der Textualität des Textes. Hinter der Teleologie des Schwankens zwischen Privatem und Allgemeinem, der Ich-Rede und dem unpersönlichen Lob, der Handschrift und dem gedruckten Text erscheint bzw. ist auf der performativen Ebene folgendes Moment verantwortlich: die Feststellung, die Isolation des bezeugenden Subjekts noch vor dem Ereignis der Bezeugung. Deshalb kann Szondi die Vorstellung der »selbstgeschlagne[n] Wunde« nicht im inneren Geschehen des Gedichts verorten (er isoliert sie vielmehr voneinander), das »Mitleiden« aber – das bei Hölderlin kein Mitgefühl bedeutet, sondern »die Leiden des Stärkeren/Mitleidend« im Zeichen einer Art Erhabenheit81 – ist gerade der Index des Ereignisses der Zeugenschaft, das sich im Modus des »tieferschüttert« vollzieht, was seinerseits auf die Attribute »schnellbetroffen«, »göttlichgetroffen« verweist, d.h. auf das Fundament der Redesituation im Gedicht, von dem das Subjekt sich nicht einmal im heuristischen Sinne freimachen kann, das aber auch nicht unabhängig von seiner Rede, seinem Zeugnis ist.82 Es kann hier nicht die Rede von einem Leiden wegen eines isolierten »Eigenen« sein. Im 78 | Auch im dichtungsgeschichtlichen Sinne: hier wird die postromantische Formel des Wortes einer sich selbst genügenden Subjektivität von der klassisch-modernen Figur des als »ästhetisches Phänomen« (Nietzsche) verstandenen dichterischen Textes kontaminiert. 79 | Die »materiale Hermeneutik« Szondis birgt insofern kein großes Potential bezüglich des Problemkreises der Medialität, als der Text auf seine morphologische Gegenständlichkeit, sein sprachliches Material und seine künstlerische Form beschränkt wird (vgl. Bollack, Zukunft im Vergangenen, 384). 80 | Auf quasi-dialektische Weise übersteigt und verfestigt diese Rechtmäßigkeit zugleich die Vorstellung der Individualität – die Zweifelhaftigkeit der dialektischen Überwindung des elegischen Tons zeigt sich ohnehin in der philologischen Inkonsequenz (im selbstdestruktiven Chiasmus von öffentlich und privat). Zur Problematisierung der dialektisierenden Hölderlin-Lesart Szondis (des zweiten Böhlendorff-Briefes) vgl. Warminski, Readings in Interpretation, 32-37. 81 | Der treffenden Bemerkung Szondis zufolge, vgl. Einführung in die literarische Hermeneutik, 290. (Man könnte hinzufügen, dass Hölderlin an diesem Punkt Rilke vorausnimmt, vgl. Der Schauende.) 82 | Ansonsten könnte man nicht erklären, warum Hölderlin anstelle von »Aber wenn von/ selbgeschlagener Wunde das Herz mir blutet« zuerst »Aber wenn von anderem Pfeile das Herz mir blutet« geschrieben hat, wobei der »Pfeil« Szondi zufolge dem »Blitz«, dem »himmlischen
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Lichte der bisherigen Erkenntnisse ist anzunehmen, dass der Konflikt von Individualität und Allgemeinheit in Szondis Lesart die exemplarische Konstellation des Zeugen wiederholt bzw. missdeutet: die Singularität des Zeugen bedeutet keinen idiosynkratischen Zug, sondern seine virtuelle in das Zeugnis eingeschriebene Substituierbarkeit, Universalisierbarkeit (ein anderer an seiner Stelle hätte dasselbe Zeugnis abgelegt).83 Die Medialität des Öffentlichen des Gedichts als Zeugenschaft bedeutet also diesen gleichzeitig singulären und universalisierbaren Zusammenhang (die Kontamination der – »singulären« – Referenz der Zeugenschaft durch einen allegorischen – »allgemeinen« – Zug). Die Gabe selbst bleibt jedoch stumm, das »hüllen« bedeutet aber zugleich zu verschweigen (in etwa im Sinne von »sich in Schweigen hüllen«), der Nicht-Phänomenalität der Gabe zu entsprechen, und gerade deswegen auch seine Vermittlung, die Ermöglichung seiner Erfahrbarkeit. Das ist die gleichzeitige Dyade von Ruf und Verschwiegenheit, für die man keinerlei referenzielle, repräsentative oder phänomenale Garantie beibringen kann. Die Zeugenschaft ist also die Bezeugung der Gabe, wobei der Zeuge, das lyrische Subjekt, kein autonomes Subjekt der Zeugenschaft, sondern dem zu Bezeugenden – weil das subjektivierende Moment nur durch dieses zustande kommt – gleichsam traumaartig ausgeliefert ist. Insofern ist die Rückkehr des Semele-Beispiels zum Ich bzw. dessen Wiederholung am Schluss keine Bestrafung, sondern die Situation, in der das lyrische Ich sich als Zeuge schon immer befunden hat (das »schnellbetroffen« hallt z.B. in »göttlichbetroffen« wider, zuerst in Bezug auf die Dichter, zuletzt auf Semele): Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen, Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich Das warnende Lied den Gelehrigen singe.
Das Ich wird genau dann zum Beispiel bzw. verstärkt die Exemplarität des Beispiels, wenn seine Seinsweise von einem gewissen Ausgeliefertsein, einem Unvermögen geprägt wird, nicht aber in seiner Souveränität (was gerade das Selbstopfer beweisen würde). Wie sollte es auch, wenn die Gabe es selbst erreicht oder anspricht und kein übergeordnetes unpersönliches (Über-)Ich. Das Bezeugte wird nur in der Bezeugung (aber gerade vom Unausgesprochenen her) exemplarisch, zugleich ist die Beispielhaftigkeit des Bezeugenden nicht seine Tat, nicht das Ergebnis seines intentionalen Tuns, sondern eher der Index seines Unvermögens, etwas, das ihm widerfährt.84 In diesem Sinne darf man diese Situiertheit nicht auf eine Schuld zurückführen, denn gerade das »schuldlos« hat deren Nicht-Sein betont; dass sich das Subjekt dem exemplarischen Zusammenhang ausliefert, bedeutet nämlich die zugleich materiale und immateriale Markierung (vgl. »Asche«) durch das Unausgesprochene. Wenn das Unausgesprochene sein Zeugnis in der Hybridität von Ruf und Verschweigen ablegt, dann bleibt es »schuldlos«, d.h. nicht Feuer« entspräche (Einführung in die literarische Hermeneutik, 292). Ebensowenig nebensächlich ist, dass in der metrischen Version beide Ausdrücke verschwinden. 83 | Vgl. Derrida, Bleibe, 43. 84 | Im späteren Gedicht Germanien prägt die folgende Trias den Zeugnischarakter der dichterischen Rede: »Scham« – »Ungesprochenes« – »Unschuldige«.
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zu verrechtlichen, als das Prädikat des Subjekts oder des »Lieds«, als sein Bewusstseins-, sein kognitiver Inhalt.85 (Diese Verrechtlichung bedient sich in der Isolation des Beispiels der Gewalt, zugleich erhebt sie im kognitiven Sinne auch einen Anspruch auf das Beispiel.) Demzufolge bedeutet die Struktur des falschen Zeugnisses, dass das Zeugnis an die Stelle des Bezeugten tritt, was im Grunde den Tausch von »Lied« und »Gaabe« bedeutet (eine Art tropologische Totalisierung, insofern die immateriale Gabe, das Geheimnis durch das materiale Lied, das Moment des Öffentlichen ersetzt, darauf reduziert wird – offensichtlich ist das zugleich auch die Allegorie der philologischen Reduktion).86 Dieser Drang läuft z.B. dem fixierend-mortifizierenden Wirkungsmerkmal der Denomination, die im Gedicht umgekippt, verschoben wird, bzw. dem Moment des »Gehüllt« zuwider.87 Dabei handelt es sich nicht bloß um eine kognitiv-manipulative Missdeutung (oder um den Mangel an entsprechenden Fähigkeiten), sondern eben um den Effekt der Untrennbarkeit von Zeuge und Bezeugtem, was auch bedeutet, dass das Ich nicht nur vom zu bezeugenden Ereignis, sondern auch von der (Leistung der) Zeugenschaft selbst markiert, ja traumatisiert wird (vgl. Indexikalität), was nicht voneinander zu unterscheiden ist. Ferner kann diese Markierung – vgl. die Figur des Rests als der mnemotechnischen Rolle des »Beispiels« – gerade auch das Vergessen fördern (die Hades-Metaphorik steht nicht zufällig am fragmentarischen Schluss, »im Dunkeln«) es kann auslöschen, dass dieser Rest kein Verweis auf etwas Vorhandenes ist, sondern von der Zukunft zum Dasein gebracht wird, dass die Zukunft sich in ihn einschreibt (und als solche ist sie die Grundvoraussetzung und zugleich die Subversion jeder Philologie). In diesem Sinne bewirkt die Phänomenalisierung des zu bezeugenden Unausgesprochenen – das Verlangen, »sichtbar zu sehen«, das den Gegensatz zum Mo85 | Das Verhältnis von Unausgesprochenem und Unschuld erscheint in diesem Sinne in Germanien: »Muß zwischen Tag und Nacht/Eins mals ein Wahres erscheinen./Dreifach umschreibe du es,/Doch ungesprochen auch, wie es da ist,/Unschuldige, muß es bleiben.« Frey identifiziert dieses Unausgesprochensein als die Seinsweise des Anagramms (Der unendliche Text, 101-102), das Unausgesprochene ist also der materiale Rest, von dem weiter ober die Rede war, etwas, das gleichzeitig für das Beispiel (den Code der Äquivalenz und das Erscheinen) und das Gegen-Beispiel (die nicht codierte Zufallsmäßigkeit, das nicht-Phänomenale) offen steht. 86 | Der Szondi-Schüler Nägele sieht die »Gefahr« des Zeugnisses mit dem Hinweis auf das Semele-Gleichnis, aber auch in Bezug auf Der Rhein darin, dass der Bezeugende in Versuchung gerät, sich mit dem Bezeugten zu identifizieren (Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft, Basel 2005, 60). Das erklärt die Unabgeschlossenheit von Wie wenn … funktionaler als Szondi, entstammt aber doch der formalen Struktur der Subjektivität, da die quasi-paraphrasierenden Ausdrücke von »Sehnsucht«, »innig«, »Versuchung« an die Stelle der kommunikativ-texttheoretischen Termini treten und so keine Rechenschaft über die tatsächlichen material-performativen Komplexe der Zeugenschaft ablegen. 87 | Vgl. die vielzitierten Zeilen von Der Rhein: »Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch/ Der Gesang kaum darf es enthüllen«. Würde es enthüllt, hätte der »Gesang« das »Räthsel« identifiziert, dann wären sie gegeneinander austauschbar, dagegen bedeutet gerade die Wahrung der nicht-gegenwärtigen, nicht-identifizierbaren Differenz zwischen ihnen die Reinheit (»Rhein«–»Reinentsprungenes«) als das Moment des »unschuldig[…]« und »ungesprochen« (im Sinne von Germanien).
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ment des »schuldlos« bildet – ein falsches Zeugnis, aber parallel dazu, bezogen auf das Bezeugte, auch den falschen Schwur des individuellen Ich, das das Zeugnis ablegt, da das Subjekt die Setzung des »Beispiels«, die Mobilisierung dessen autorisierender Funktion von seiner performativen Strategie abhängig macht. Wie zu sehen war, ist diese exemplifizierende rhetorische Bewegung nicht gänzlich zu umgehen, so leitet die Wiederholung der Semele-Parabel das falsche Zeugnis des Subjekts aus seiner paradoxen Situierung, nicht aus einer Irreführung ab. Diese Situierung ergibt sich aus der Überkreuzung von Exemplarität und Iterabilität, die das Wirken einer Zeugenschaft ist, die das zu Bezeugende (und damit sich selbst) nicht auf der Basis eines Allgemeinen autorisieren kann. Die Trennung der Singularität des Bezeugenden von sich selbst – seine Beispielhaftigkeit – bringt in der Iterabilität des Zeugnisses auch die Unterscheidung des Bezeugten von sich selbst ins Spiel. Diese Wiederholbarkeit ermöglicht so, im Zeichen der Fiktion, gleichzeitig die Zukünftigkeit von Bezeugtem und Bezeugung wie auch die Falschheit ihres Zeugnisses.88 Dieses Dilemma kann das Problem von Wie wenn am Feiertage … sein: Die Ankunft des »Heiligen« kann sich in der Wiederholbarkeit des Zeugnisses in eine Zukünftigkeit einschreiben, die es fiktionalisiert und ein falsches Zeugnis bedeutet (wie auch der lyrische Diskurs gezwungen ist, die »Dichter« zu zitieren und so ihre Zeugenschaft zu relativieren). Vielleicht tauchen deshalb am fragmentarischen Schluss der Hymne bzw. im Fragment Die Rose bedrohliche Zukunftsbilder auf, die beide die zweite Strophe des späteren Hälfte des Lebens vorwegnehmen. Genau diese Zukunft ist zugleich vom Semele-Gleichnis, dem Prozess des Zitierens, vorweggenommen worden! Beim Austritt aus dem Diskurs des lyrischen Ich wird die Parabel hinsichtlich dessen gleichsam referentialisiert, sie wird appliziert, der Zeuge wird vom eigenen Zeugnis determiniert. Diese Zukünftigkeit zerstört die Gegenwärtigkeit, so wie auch die Ankunft des »Heiligen« nicht an eine bestimmbare zeitliche Gegenwart gebunden werden konnte (ihre Seinsweise wurde zuerst durch das »ahnen«, dann durch die »Tiefen der Zeit«, die »Erinnerung« bzw. durch ihr Verhältnis zu diesen charakterisiert). Dieses Kommen bedeutete eine Art indexikalisch-metonymische Kraft oder Gewalt, die sich zugleich im Falle des Dichters und eben durch die Übermittlung der »Zeichen« (man könnte sagen durch Telepathie oder Tele-Poesie), nicht aber unmittelbar, manifestiert hat. Gerade die Dichter können am wenigsten darüber verfügen, da die »Gabe« im Medium des »Lieds« im Kommen bleibt (»reichen«) und nicht erscheint (»gehüllt«). Dagegen erscheinen die Dichter erst in einer konstativen, später in einer zitathaften Perspektive und werden in der siebenten Strophe vom Ich, das im Namen des »wir« spricht, auch angesprochen, was den Effekt der Gegenwärtigkeit mit sich bringt. Dieser doppelte sprachliche Aspekt verbindet Gegenwart und Gemeinschaft, dennoch kann das Wort der Dichter (»wie Dichter sagen«) im Modus des Zitats gerade die Gegenwart und die vorausgesetzten kommunikativen Rahmen überschreiten. Das aber korreliert mit der Iterabilität der Zeugnisses – als deren Effekt der erwähnten Zukünftigkeit – und drückt so in seiner eigenen Ordnung ebenso eine sprachliche, nicht als Moment der Gegenwart definierbare Kraft aus. Wie wenn am Feiertage … ist nicht einfach halbfertig oder ein Fragment geblieben, sondern aus seinem fragmentarischen Schluss entsteht Hälfte des Lebens. Es scheint, als sei das Gedicht, das das »Heilige« bezeugt, auf das Zeugnis eines weite88 | Vgl. Derrida, Bleibe, 44-45.
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ren Textes angewiesen, da es selbst nicht in der Lage ist, seine Zeugnisfunktion auf befriedigende Weise zu gewährleisten. Das bedeutet auch, dass der Text – oder dessen Singularität – nicht als Beispiel isoliert werden kann, das Unausgesprochene, das er verbirgt, kann nur ein anderer Text bezeugen, er selbst nicht. Das Verhältnis des späteren Gedichtes zum früheren ist recht ambivalent, man könnte auch sagen, dass es die Unmöglichkeit der Bezeugung des »Heiligen« darstellt, die es selbst noch steigert. Es schreibt den Bruch (erneut), als eine Art Rauschen, in den früheren Text ein. Also legt es nicht nur Zeugnis von der Unabgeschlossenheit von Wie wenn … ab, sondern das spätere Gedicht selbst schreibt dieses Fragmentarische, das sich auf es selbst erstreckt (vgl. »Hälfte«).89 Die Wiederholung einiger bestimmter poetischer und pragmatischer Eigenheiten des früheren Gedichts belegt das: Auf die Anrede im ersten Gedichtabschnitt (»Ihr holden Schwäne«, eine mögliche Anspielung sowohl auf die Dichter als auch auf den eigenen Namen), folgt in der zweiten Strophe auch hier, in einer Art verzögerndem, problematisiertem sprachlichen Modus, eine Ich-Rede.90 Auch hier setzt eine Art Antizipation der Zukunft ein (»wenn/Es Winter ist«), die in den letzten Zeilen bereits in eine Gegenwart umzuschlagen scheint, wobei alle möglichen anthropomorphen und rationalen Faktoren ausgelöscht werden und in der Berührung beider mit dem »Wind« nur das »sprachlos« und zugleich der Lärm (»Klirren die Fahnen«) zurückbleiben.91 Die nicht gegenständliche Berührung und die indizierte Gewalt des Rauschens, das sich daraufhin erhebt – zu dieser Bedrohung wird die Antizipation der Zukunft des früheren Gedichtes umgeschrieben. Zwei Aspekte wären möglich: die Bedrohung, die sich in Wie wenn … einschreibt – die den Text zum Fragment macht –, ist nicht einfach eine anthropomorphe oder imaginative Vision, sondern die latente Anwesenheit eines anderen Textes (genauer gesagt, seine Zukünftigkeit). Andererseits erklärt dieser andere Text infolgedessen nicht den Bruch im früheren Gedicht, vielleicht ergänzt er ihn, am ehesten intensiviert er ihn. So sehr Hälfte des Lebens auch ein abgeschlossener Text ist, poetologisch-textuell ist es dennoch ein Fragment, da in ihm einerseits die deiktischen Grundlagen seiner Visualität beseitigt, andererseits die zeitlichen Verhältnisse des Textes verunsichert werden. Demzufolge ist vor allem der Schluss nichts anderes als ein Trauma aus der Zukunft,92 ein virtuelles Fragment, das die Grenzen des Textes in Richtung »Rauschen« relativiert (die
89 | Das Fragment wird sozusagen auch auf der deiktischen Ebene fortgesetzt: wird dort das Ich, der »falsche[…] Priester« von den Himmlischen »ins Dunkel« geworfen, so kann auch der Titel des Zyklus (Nachtgesänge), in dem Hälfte des Lebens später erschien, bedeutsam sein. (Das frühere Gedicht endet im Großen und Ganzen mit dem Wort »Dort«, das sich auf das »Dunkel« bezieht, in das das Ich gestoßen wird. Dieses deiktische Moment wird aber nicht weiter ausgeführt.) 90 | Man könnte sagen, dass das »schaffend, zerstörend, und/untergehend, und wiederkehrend«, das man in Im Walde lesen kann, sich auf die sprachliche Thematik von Hälfte des Lebens bezieht (vgl. Mottel, ›Apoll envers terre‹, 72) Vgl. meinen ausführlicheren Aufsatz: Haptopoetik: Bilder an der Grenze (Hälfte des Lebens) in: Ralf Simon/Nina Herres/Csongor Lőrincz (Hg.), Das lyrische Bild, München 2010, 181-221. 91 | Der »Wind[…]« ist grammatisch sowohl den »sprachlos[en]« und »kalt[en]« »Mauern«, als auch den »Fahnen« zuzuordnen, er berührt sie beide. 92 | Vgl. Derrida, Schurken. Zwei Essays zur Vernunft, Frankfurt a.M. 2003, 147.
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Figur der Grenze wird offensichtlich vom Bedeutungskreis der »Hälfte«, ferner von dem unüberbrückbaren Bruch zwischen den beiden Strophen aufgerufen).93 In der zweiten Strophe ist die Rede von der Zeugenschaft, von der Unmöglichkeit, die Gabe zu übernehmen (»wo nehm‹ ich …«), die von den sprachlichen Akten, die eine Gemeinschaft schaffen (Apostrophe), ermöglicht würde. Wie am Schluss von Wie wenn … gelangt auch hier das Ich auf irgendeine Weise als das singuläre Subjekt der Zeugenschaft (nicht als ein irgendwie geartetes empirisches Ich, wie Szondi meint) in den Vordergrund. Das Ich taucht in der Artikulation der Unmöglichkeit auf, in der Unfähigkeit der zweiten Strophe, Zeugnis über die vorangehende abzulegen, deren bildliche Isotopien unter dem Verlust ihrer Prädikate (ihrer Referenten, ihrer Deixis) in der zweiten Strophe als allegorische Namen wiederkehren, als »die Blumen«, »[der] Sonnenschein«, »Schatten der Erde« (ohne angebbare figurative Autorität). In Wie wenn … ist die Denomination (als eine Art Versprechen) vom Kommenden zum Zeugnis gemacht worden, hier zerstört die sprachliche, nicht die zeitliche Ankunft des Winters94 die referenziell-deiktischen Grundlagen des Zeugnisses und bezeugt damit etwas, wofür sich keine Metapher (aber freilich auch keine Referenz), nur Katachresen ergeben. Es gibt für das Kommende keine Beispiele oder Metaphern, in deren Rhetorisierung das Ich seine Zeugenschaft (pragmatisch) an das Ihr oder das Wir bzw. (auf tropologische bzw. performative Weise) an die Allgemeinheit übermitteln könnte.95 Hälfte des Lebens ist also im gewissen Sinne noch weniger ein Gedicht des empirischen Ich (auf das es Szondi zufolge gleichsam ein »Recht« hätte)96 als Wie wenn…, deswegen enträtselt es das Ich, dessen Unabgeschlossenheit, weniger, als es vielmehr in seine Textur einsinken lässt, bzw. (er)schreibt das Gedicht diese Un93 | Dieses »Rauschen« kann hier – wenn die zweite Strophe die alsbald beginnende Phase des Wahnsinns implizit im Emblem des »Winter[s]« zu antizipieren vermag – als die geistige Störung Hölderlins begriffen werden, was zwar einer repräsentativen, Privatheit herstellenden Allegorese gleichkäme, eine gewisse Unumgänglichkeit derselben (dass spätere Texte aufgrund der schwerer werdenden Krankheit Fragmente geblieben sind) kann trotzdem auf den Zerfall der Autorität des Autors aufmerksam machen, auf die Abspaltung des Textes vom Bewusstsein, deren Beziehungen zu seiner Dichtung, die im Laufe der Rezeptionsgeschichte hergestellt wurden, schon in ihrer schieren Zahl unfassbar sind (Hölderlins Krankheit hat auch mehrere widersprüchliche Spekulationen inspiriert, Walter Muschg z.B. sieht in ihr aus Hölderlins Blickwinkel eine »Strafe der Götter«, vgl. Szondi, Der andere Pfeil, 42). Diese Krankheit bzw. die entsprechende Phase der Lebensgeschichte wird für gewöhnlich als »Umnachtung« apostrophiert, was auf gespenstische Weise an den Titel der Nachtgesänge erinnert (aber auch an gewisse Elemente der zweiten Strophe von Hälfte des Lebens). 94 | Der »Winter« kann die tropologischen Beziehungen nicht autorisieren, der unentscheidbare temporale Status der letzten Zeilen macht die Anwendung des Naturzyklus auf den inszenatorischen Code unmöglich. (Die Verunsicherung der Zeitlichkeit wird übrigens auch durch den fehlenden »Schatten der Erde« angezeigt.) 95 | Die Frage »wo nehm’ ich« kann in Bezug auf die Etymologie des Wortes »exemplum« auch eine wörtliche Bedeutung erhalten: »woher nehme (eximo) ich die Beispiele?«, im Sinne der Deixis. 96 | Die Rhetorik der Exemplifizierung schaltet immer auch Legitimation oder Autorisierung ein, das »Beispiel« exemplifiziert, wenn auch implizit, immer irgendein Recht (das das Beispiel, die Exemplifikation selbst, autorisiert).
Beispielhaf tigkeit – zwischen Philologie und Poetologie
abgeschlossenheit eher als es sie identifiziert. Durch seine Verwandlung in Rauschen macht das indexikalische Geschehen die »Zeichen […] der Welt« von Wie wenn … unlesbar. Tatsächlich offenbart sich dieses Rauschen – das Klirren der Fahnen (was im Deutschen auch die Assoziation mit »Eis« erlaubt und also den »See« des ersten Abschnitts einfriert) – als das Oszillieren zwischen dem Zeichen (»Fahnen«) und dem Rauschen (»Winde«)97 (als temporale Parallele dazu schwankt der Schluss des Gedichtes zwischen der bedrohlichen Zukunft und dem Zustand, der als Gegenwart identifiziert, als solcher benannt wurde). Dasselbe wird auch im Zitat des Sappho-Metrums offenbar – das zugleich einen Gegensatz zum »Klirren« bildet, und dessen Index gerade der Abstand zur antiken Tradition sein kann,98 ferner kann sich auch der Rhythmus selbst als eine Art Maschine manifestieren (so wie in den Gedichten aus Hölderlins dunkler Phase vor allem die Monotonie auffällt – im Gegensatz zur reichen Tonalität in seinem Frühwerk). Was zum Zeichen wird, hängt also vom Zeugnis ab, zugleich kann die Figur des »Zeichens« aber gerade das Kommende als Geschehen, das die Zeugenschaft herausfordert, ersetzen, ja sogar verfälschen. Die oben erwähnte ursprünglich testimoniale Mnemotechnik des »Lied[es]« kann die Zeugnisfunktion auslöschen, und gerade dieses Vergessen bildet eine Parallele zum Rauschen als gleichzeitig aktuellem und ankünftigem Geschehen in Hälfte des Lebens. Es scheint, als wäre gerade die (deiktische, apostrophische, intertextuelle) »Vereitelung« des Zeugnisses – die freilich nicht von außen erreicht wird (sondern sich als eine Art Selbstberührung überträgt) – die treueste Bezeugung der unlesbaren (unsichtbaren, außerzeitlichen) Berührung, für die es im Grunde keine Worte gibt, die sie in ein Zeichen – ein Beispiel, ein Paradigma – übersetzen könnten. Oder: das Zeugnis kann die Gegenwart, die Anwesenheit des Textes nicht fixieren (wie auch die Deixis in beiden Texten scheiterte) – d.h., dass die philologischen Schwierigkeiten in Bezug auf Hölderlins Werk, seine Fragmentarität einer textuellen Dynamik entstammen.99 Das Verhältnis zwischen dem fragmentarischen Textgemenge in bzw. am Schluss von Wie wenn … und dem späteren Hälfte des Lebens macht mit exzeptioneller Radikalität deutlich, dass ein anderer, »abgeschlossener«, »öffentlicher« Text als Zeuge eines fragmentarischen Textes die Grenzen von Zeichen und Rauschen, von Beispiel und Gegenbeispiel im »vorangehenden« Text determiniert, diese währenddessen jedoch gerade in der eigenen Poetik, im eigenen Text unterminiert, wodurch er paradoxerweise sich selbst – die eigene Instabilität, Unabgeschlossenheit – als wahre Exemplarität bezeugt. Diese Instabilität ist das Ereignis des Kommenden im Text, ein virtueller Bruch, ein aus 97 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Philologie vor der Literatur, 232. 98 | In Verbindung mit »Klirren die Fahnen« vgl. Winfried Menninghaus, Hälfte des Lebens, Frankfurt a.M. 2005. Das sapphische Metrum kann das Emblem der »Junonische[n] Nüchternheit« sein, die im denkwürdigen Böhlendorff-Brief Hölderlins das Feuer bei den Griechen als deren eigenes transformiert – während bei den Modernen gerade diese Nüchternheit als das Eigene verstanden werden kann, das die Ereignishaftigkeit bzw. hier das Rauschen (?) überschreibt. 99 | Heidegger zufolge ist die Fragmentarität von Wie wenn … keine bloße Unabgeschlossenheit, sondern gerade der – möglicherweise fiktive – Zustand vor und nach der Fixierung: »Aber alle Unvollendung ist hier nur die Folge des Überflusses, der aus dem innersten Anfang des Gedichtes quillt und das bündige Schlußwort verlangt.« (Erläuterungen, 75). Szondi nennt diese elliptische Aussage Heideggers »rätselhaft« (Der andere Pfeil, 42).
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Zeugnisgaben der Literatur
der Zukunft kommendes Trauma. Die Fragmente, die die Philologie identifiziert hat, werden daher in Wirklichkeit über das Ereignis der Ankunft zu Fragmenten, das Zukünftige macht sie zu Fragmenten, zu den Fragmenten einer textuellen Zukunft.
5. Zwischen Heißen und Entzug
Zum Verhältnis von »Dichten« und »Denken« bei Heidegger
I Warum insistiert der spätere Heidegger nach seiner »Kehre« auf der Verwandtschaft, besser: »Nähe« von Literatur und Philosophie oder – wie er sagt – »Dichten« und »Denken«? Wie bringt Heidegger diese »Nähe« in seinen Textexegesen ins Spiel? Was ist aus diesem Verhältnis für die Literaturwissenschaft zu lernen? Welche Einsichten in die Medialität des Literarischen sind zwischen Hölderlin und Heidegger im Spiel? Und zwar einmal ungeachtet der Aversion gegenüber Heidegger in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft, einer Aversion, die sich zum großen Teil unreflektierten Vorurteilen verdankt. Im Folgenden seien einige einleitende Überlegungen zum Thema versucht, bevor stärker auf die Gedanken Heideggers abgehoben wird. Denken und Dichten, Philosophie und Poesie sind sprachliche Mitteilungsformen und Vollzüge, die sich mit dem logisch-epistemologischen Gegensatz von Wahr und Falsch nicht erfassen lassen. Diese logischen Kategorien lassen sich nicht auf sie anwenden, auch nicht solche der Induktion bzw. Deduktion. Man ginge fehl, wollte man sie auf ihre vermeintliche logische Verfasstheit befragen und ihnen jeweils unterschiedliche Formen des Denkens im Sinne der Logik, der logischen »Plausibilität«, attestieren.1 Diese laufen oft auf Feststellungen der Angemessenheit gegenüber einem logisch-erkenntnistheoretischen Maßstab oder einer Wahrheitsinstanz hinaus und basieren auf einer Wahrheitsauffassung der adaequatio rei et intellectus, der Übereinstimmung von den Dingen und dem Verstand, die von Heidegger zeitlebens bekämpft wurde. Beide sprachlichen Erscheinungsformen besitzen jeweils einen Wahrheitsanspruch, der sich der Verifizierung bzw. Falsifizierung im Vergleichen mit ihnen äußerlichen Gegebenheiten entzieht. Wenn sie also nicht »bloß überzeugend«, sondern wahr sein sollen, so stehen oder fallen sie damit, ob sie diesen Wahrheitsanspruch einzulösen imstande sind, ob sie diesen treffen, ob sie dabei gelingen. Nun wäre es aber ebenso verfehlt, würde man sie miteinander vergleichen, um herauszufinden, was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen 1 | Vgl. Nietzsches Anmerkung für Esel: »… eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend.« Werke in drei Bänden II, Karl Schlechta (Hg.), München 1982, 583.
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sind.2 So würde man sie vergegenständlichen und gerade ihren Anspruch verfehlen, der sie jeweils in das Andere einlässt, ohne die Differenz der beiden zu tilgen. Dichten und Denken werden immer wechselseitig voneinander durchdrungen, dem Denken ist immer etwas Dichterisches eigen, das Dichten denkt auch. Poetisiertes Denken, die Poetisierung von Begriffen ist jedoch meistens schlechte Poesie, philosophische Poesie: die Verbegrifflichung eines poetischen Stoffs schlechte Philosophie. Die Relation der beiden sollte man nicht als ihre Addition oder die Repräsentanz des einen im anderen auffassen. Sie finden ihren Ursprung in einem besonderen Verhältnis zur Sprache, beide sind Modi des Sagens von der Sprache her. Die sie charakterisierende sprachliche Dimension – als ihre eigene »Herkunft« – spielt sie im selben Moment dem Nach-Denken und Nach-Dichten zu. Sie gehören in einem wesentlichen Sinne zusammen: »Denken und Dichten zeigen aber eine noch engere Verwandtschaft als Denken und Malen. Denken und Dichten bewegen sich ausschließlich im Bereich der Sprache. Ihre Werke und nur ihre sind sprachlicher ›Natur‹« (DD, 139). Das bedeutet, dass Dichten und Denken Weisen des Sagens und keine diskursiven Gattungen sind, denen man jeweils spezifische »morphologische« Eigenschaften zuschreiben und sie so identifizieren könnte. Genau diese Weise des Erkennens ist es, zu der die beiden sich heterogen verhalten. Man verstehe sie, so Heidegger, und habe in diesem Sinne erst ein Wissen von ihnen, wenn man im Stande ist, »den Denker nach- und mit ihm zu denken, den Dichter nach- und mit ihm zu dichten.« (DD, 140) Denken und Dichten hängen beide von der Sprache ab, sie machen spezifische Erfahrungen mit der Sprache durch, bewegen sich in ihrem Element. Sie sind nicht als einzelne Formen oder Kommunikationsweisen sprachlicher Art funktional-diskursiv zu verstehen und zu beschreiben, sondern als Weisen des Sagens, der »Sage«,3 die sich nicht zuletzt dem Ungesagten oder Ungesprochenen verschreiben. In diesem Sinne können sie sich nicht gegenseitig repräsentieren oder enthalten – beide sind vielmehr auf das Ungesprochene geöffnet, sie hängen von diesem ab, sie sagen sich diesem zu.4 Sie sind Zu-Sagen des Ungesagten und erst in diesem Sinne ein Sagen. Diese Öffnung oder dieses interne Fehlen tut ihre Angewiesenheit auf das Nach- und Mitdenken und das Nach- und Mitdichten kund bzw. legt nahe, warum man nur in diesen Modi mit ihnen in Berührung kommen kann. Es gibt nicht nur keine pragmatischen Regeln ihrer Aufnahme, sondern letztendlich auch keine konventionellen Lektüremodelle oder Autoritäten, die ihr Sagen und Nach- bzw. Mitsagen zuverlässig regeln und begründen könnten. Die Gefahr besteht eher darin, dass sie füreinander zu Autoritäten werden. Dieser Zug, sogar Zwang der Selbstautorisierung vom anderen her macht ihr internes Fehlen, die Spur des Ungesagten 2 | Vgl. Martin Heidegger, Denken und Dichten (1944), in: ders., Gesamtausgabe (GA), Bd. 50, Frankfurt a.M. 1990, 136-138. (Im Folgenden im Lauftext durch DD gekennzeichnet.) 3 | Die »Sage« »meint: das Sagen und sein Gesagtes und das Zu-Sagende« (Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, 145, vgl. noch detaillierter 253). (Im Folgenden im Lauftext durch UzS gekennzeichnet.) Die »Sage« lässt sich als eine Art Begriff für den »Text« auffassen, indem sie zwischen dem »Aufriß« – einer Inskription – und der »Zeige« – dem Referentialität heraufbeschwörenden Diskurs – vermittelt (s. UzS, 251-254). Dieser Zusammenhang kann hier nicht ausgeführt werden. 4 | Zum Ungesagten oder Ungesprochenen vgl. Unterwegs zur Sprache, 251-253.
Zwischen Heißen und Ent zug
in ihnen akut. Die Akzentuierung der Verwandtschaft oder Nähe von Dichten und Denken um 1800 hängt mit der Relativierung traditioneller Autoritäten in Dichtung und Philosophie zusammen. Unabhängig von einer detaillierteren Untersuchung der historischen Ereignisse lässt sich feststellen, dass Dichten und Denken nicht freiwillig oder absichtlich in eine Nachbarschaft oder Nähe gelangen oder einander »kreuzen«5 –, sondern abhängig von der Ereignishaftigkeit. Ein sprachliches oder die Sprache betreffendes Geschehen zieht sie in die Nähe des jeweils anderen und bringt sie dazu, sich zu kreuzen. Damit hängt zusammen, dass Dichten und Denken nicht jedes für sich einen eigenen Platz haben und daher gewissermaßen nur in dieser Nachbarschaft oder Nähe, in der Anziehung auf diese zu, interpretierbar sind (jedenfalls einige nicht unwesentliche ihrer Aspekte). Wie erfahren Dichten und Denken die Sprache oder das Wort? Wir haben vom Ungesprochenen oder Ungesagten gesprochen – diese Ausdrucksweise könnte die Vermutung oder den Verdacht nahelegen, dass man da mit verborgenen, gar mystischen Inhalten zu tun habe, die als Substanz hinter dem Sagen oder dem Gesprochenen zu denken und zu identifizieren wären. Das Ungesagte ist aber laut Heidegger nicht »hinter« dem Sagen versteckt; man kann seiner nicht durch besondere – angeblich »hermeneutische« – Anstrengungen habhaft werden, sondern es ist eine Gabe des Wortes. Das Ungesagte wird gegeben, zugleich auch verborgen (also nicht ausgesagt) durch das Wort. Es ist nicht positivierbar, es wird weder im Sagen repräsentiert noch hinter dem Sagen gedacht – da es vom Wort abhängt, ohne es nicht zu denken ist. »Das Wort, das Sagen, hat kein Sein«, schreibt Heidegger, da »das Wort: das Gebende« ist. Und weiter: »Dann hätten wir denkend in jenem ›es, das gibt‹ das Wort zu suchen als das Gebende selbst, aber nie Gegebene.« (UzS, 192-193) Warum kann das Wort nicht einfach »etwas«, warum kann es nur das Ungesagte geben? Weil es selbst gegeben, nicht vorgefunden wird, und zwar durch den »Zuspruch« der Sprache6 – das Wort kann zum Gebenden werden, wenn es von der Sprache gegeben, geschenkt wird. Wir haben nicht zuerst das Wort und dann das von ihm Gegebene, sondern das Wort wird gewissermaßen mit seinem Geben zusammen gegeben, und kennte man dieses Wort auch noch so gut. Man kann also das Wort von dem von ihm Gegebenen nicht trennen, z.B. ein »dichterisches« Wort von seinem »philosophischen« Inhalt als von ihm Gegebenen; das Gebende 5 | Heidegger verwendet die Metapher der Parallelen, die sich im Unendlichen schneiden, um die Kreuzung von Dichten und Denken zu charakterisieren (Unterwegs zur Sprache, 196). Vgl. die Ausführungen von Jacques Derrida, Der Entzug der Metapher, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, 226-228, bzw. Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a.M. 1988, 108-109. 6 | Das Ungesprochene wird von Heidegger mehrmals als Index des Zugesprochenen bezeichnet: »Alles sinnende Denken ist ein Dichten, alle Dichtung aber ein Denken. Beide gehören zueinander aus jenem Sagen, das sich schon dem Ungesagten zugesagt hat, weil es der Gedanke ist als der Dank.« Und vorher: »Das Zugesprochene spricht als Spruch im Sinne des Zugewiesenen, dessen Sprechen nicht einmal des Verlautens bedarf.« Unterwegs zur Sprache, 267, 253. Die Semantik des »Zuspruchs« ist besonders vielschichtig: Neben dem »Versprechen« trifft in ihr auch das »jemandem etwas zueignen« mit Wendungen zusammen wie beispielsweise »jemandem Trost zusprechen«. In unserem Kontext kann es wohl am ehesten »das Versprechen/die Gabe, das das Eigene von jemandem durch jemanden anders/ etwas anderes gibt« bedeuten.
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des Wortes fällt mit seinem Geben von und mit der Sprache (als einem Ganzen) zusammen. Denn die Sprache selber gibt sich als Wort (als »Sage«) oder im Wort – diese Identität birgt in sich zugleich auch eine Differenz, insofern die Sprache in diesem Geben nicht nur »vor«, auch nicht einfach in dem Wort sich versammelt, da sie durch dieses Geben des Wortes – durch seinen »Zuspruch« (s. weiter unten) – auch geöffnet wird.7 Das Ungesagte und Ungesprochene ist – um es nochmals zu betonen – auch ein Zugesprochenes, nur in diesem zu denken, nicht als verborgene Bedeutungssubstanz. Nur in diesem Geben auch der Sprache kann das Wort zum Gebenden werden. Das Wort steht also nicht zur Verfügung, um dann zum Akteur eines Gebens geweiht zu werden, sondern in seinem Sich-Ergeben gibt es das Sagbare. Da dieses erst im Geben des Wortes aufscheint und artikulierbar wird, kann man sagen, dass das Wort immer auch etwas entziehe oder verberge, da es nicht auf seinen »Inhalt« referiert, sondern diesen als Sagbares gibt. Das Wort lässt sich nicht ganz von dem Gesagten trennen, zugleich kann es dieses Geben selbst nie ganz zur Sprache bringen, um es zu objektivieren. Von kardinaler Bedeutung in diesem Sinne ist Heideggers Bemerkung, das Wort könne niemals zu einem rein »gegebenen«, also (z.B. im Sinne technischer Anlagen) als Signifikant objektivierbar oder beobachtbar (nicht einmal als »sprachliche Handlung«) werden, denn so geriete der im zweifachen Sinne verstandene Gabecharakter des Wortes außerhalb des sprachlichen Horizontes. Würde das Wort zu etwas Gegebenem, dann verdeckte oder löschte es geradezu die Bewegung oder das Moment des Gebens, weil die Gabe nicht einfach im Wort besteht, sondern im Ineinander des Sagbaren und Ungesagten, dessen Index das Wort ist. Das Vergessen des Gegebenseins des Wortes ist die Möglichkeitsbedingung der Gabe (des Wortes als Gabe, der Gabe des Wortes).8 Das Wort als Gebendes und Gabe – in dieser Differenz entfaltet sich das Sagen, zugleich verbirgt sich hier auch das Ungesagte. Gerade das Ungesagte kann sich als Entzug des Wortes, z.B. als Schweigen oder als ein Vergessen seiner für gesichert gehaltenen Inhalte und Bedeutungen kundtun. Das Geben ist folglich ein Im-Kommen-Bleiben und das heißt, das Ungesprochene bleibt im Kommen 7 | Das ist eine Schwierigkeit in Heideggers Sprachauffassung, die allerdings auch schwer zu vermeiden ist: Der Zuspruch gibt nicht einfach das Wort, sondern zugleich auch die Sprache. Er »verlautet« sowohl vor als auch in der Sprache – infolge dieser Zirkularität neigt Heidegger öfters dazu, die Sprache, den »logos« als »Versammlung«, sein Sprechen als »AutoHeterologie« (Derrida) zu denken (vgl. Jacques Derrida, Heideggers Ohr, in: ders., Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, 482.) Da der Zuspruch, das »Ereignis« (Unterwegs zur Sprache, 196, 259) aber nicht ganz auf die Sprache als monologische Größe zurückzuführen, sondern ihr gewissermaßen auch vorgängig sind, so öffnen sie die Sprache mindestens im selben Maße, wie sie diese im Geben auch versammeln. Heideggers Sprachauffassung lässt sich aber auf diesen Punkt nicht einschränken, da er auch die Differenz betont, z.B. im dichterischen »Rufen«, das zwischen Nähe und Ferne situiert ist und einem »Einladen« gleicht (21-22). 8 | Diese paradoxe Möglichkeitsbedingung der Gabe entwickelt er in »Was heißt denken?«, wo es darum geht, »die Vergessenheit des Bedenklichsten zu[zu]lassen« (Was heißt Denken, 155), die gerade die Bedingung für die »Verwahrnis« des »Bedenklichsten« ist. Derrida nimmt im Wesentlichen diesen Gedanken in Falschgeld. Zeit geben I. auf, wo er die unmöglichen Möglichkeitsbedingungen der Gabe zusammenfasst (»Vergessen, Nicht-Erscheinen, NichtPhänomenalität, Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Bewahrung«, München 1993, 27).
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vom Geben her. Würde das Ungesagte vollständig da sein oder erscheinen, wäre es kein Ungesagtes mehr. Ungesagtes und Geben im Wort gehören also zusammen in einer Temporalität des Kommens.9 Wie verbinden sich Dichten und Denken in der Erfahrung des Ungesagten? Man könnte thesenhaft sagen, es gehört nicht zu ihnen, was sie als Ungesagtes in der Sprache aufgeschlossen haben, daher sind sie aufeinander angewiesen. Präziser formuliert: gerade die Unverfügbarkeit des (Angehens vom) Eigenen führt sie in diese Nähe, in die Nähe des anderen. Sie verfügen nicht über dieses Eigene – das würde ein schrankenloses Vertrauen auf sie voraussetzen –, so ist das wechselseitige Angewiesensein auf das andere ein Index des Entzugs des Eigenen, die Bewegung der Depropriation, die das »Ereignis« zugleich zum »Enteignis« macht.10 Die Verweigerung des »Sagens« und damit das Ungesprochene ist nicht bloß Mangel, sondern kann auch der Verweis auf das Ungesprochene als Ereignis einer Gebundenheit an dieses sein – was wiederum nur seine Zugehörigkeit zur »Sage« bestärkt, insofern das, was überhaupt zur Sprache gebracht werden kann, sich nur durch die Sage ansagt, zusagt oder versagt. Im anderen Aufsatz von Unterwegs zur Sprache wird diese Anlage so formuliert, dass »die Sprache selbst als Sprache« dort zur »Sprache kommt«, wo wir »das rechte Wort nicht finden«. (UzS, 161) Dann »lassen wir, was wir meinen, im Ungesprochenen« – was Heidegger das Gestreiftwerden vom Wesen der Sprache selber nennt. Geradezu mit ihrem Ungesprochenen berührt die Sprache, nicht mittels ihrer gewöhnlichen Nutzung. Deshalb ist das »Sagen« auch nicht gleich dem »Sprechen«, weil das Gedachte (»was wir meinen«) in einem gewissen Sinne eben nur in einem Fernbleiben aus der sprachlichen Mitteilung zu Wort kommt, was aber wiederum nicht einfach nur ein Fehlen bedeutet, sondern eine notwendige Selbstverweigerung oder ein Ansichhalten der Sprache gegenüber dem Diskurs der »Aussagen«.11 Die Sprache entzieht sich der Umsetzung in den Modus der Aussage, doch dies ist kein eigenmächtiges Entziehen, sondern vielmehr ein Moment des notwendigen Rückzugs, des Verbergens ihres Operationsmodus.12 9 | Zur Temporalität des »Kommens« vgl. bereits Sein und Zeit: »Wenn zum Sein des Daseins das eigentliche bzw. uneigentliche Sein zum Tode gehört, dann ist dieses doch nur möglich als zukünftiges […]. ›Zukunft‹ meint hier nicht ein Jetzt, das, noch nicht ›wirklich‹ geworden, erst einmal sein wird, sondern die Kunft, in der das Dasein in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt.« Sein und Zeit, 325. 10 | Dieser Gedanke wird im Vortrag »Zeit und Sein« auf explizite Weise formuliert (in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 23), wo – allgemein gesagt – »die Endlichkeit – und zwar nicht nur die des Menschen, sondern die des Ereignisses selbst – gerade sichtbar gemacht« wird (53). Der Gedanke der Endlichkeit wird von Christopher Fynsk in seiner Interpretation von Heideggers Denken konsequent genutzt, vgl. Heidegger: Thought and Historicity, Ithaca 1986. 11 | »Manches spricht dafür, dass das Wesen der Sprache es gerade verweigert, zur Sprache zu kommen, nämlich zu der Sprache, in der wir über die Sprache Aussagen machen. Wenn die Sprache überall ihr Wesen in diesem Sinne verweigert, dann gehört diese Verweigerung zum Wesen der Sprache.« Unterwegs zur Sprache, 186. 12 | »Nur dadurch, daß im alltäglichen Sprechen die Sprache selber sich nicht zur Sprache bringt, vielmehr an sich hält, vermögen wir geradehin eine Sprache zu sprechen, von etwas und über etwas im Sprechen zu handeln.« Ebd., 161.
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Darüber hinausgehend zitiert Heidegger den »Fall des Dichters«, eine Situation, in der »alles daran liegt, ob die Sprache das geeignete Wort schenkt oder versagt«, wo man »etwas zur Sprache zu bringen« hat, »was bislang noch nie gesprochen wurde« (186). Gerade in Dichten und Denken, bei den Sprachmeistern zeigt sich die tiefer verstandene Unverfügbarkeit der Sprache. Hier existiert das Gesprochene nicht unabhängig vom Wort oder der »Sage«, in der es sich ergibt. Dies ist aber dennoch nicht nur die andere Ebene des Sprachgebrauchs, wo die Probleme der alltäglichen pragmatischen Dimension geglättet werden, sondern verstärkt vielmehr die auch hier gegenwärtige Zweiheit der Gabe und der gleichzeitigen Verweigerung der Sprache. Und eben dies bedeutet eine Herausforderung, in der dem Ungesprochenen keine geringe Rolle zukommt, ja ihm sogar eine konstitutive Bedeutung zufällt, handelt es sich dabei doch um einen Selbstentzug der Sprache aus der Logik der Aussagen. Dieses Ungesprochene ist die permanente Berührung oder Nähe der Sprache, ohne dass es einer eindeutigen Form zugeführt werden könnte. »Somit«, sagt Heidegger, »hält die Sprache nicht nur dort an sich, wo wir sie gewöhnlich sprechen, sondern dieses ihr An-sich-halten wird von daher bestimmt, daß die Sprache mit ihrer Herkunft an sich hält und so ihr Wesen dem uns geläufigen Vorstellen versagt« (186). »Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen« – dieser Weg führt zu keinem »Wesensbereich« der Sprache, sondern kreuzt die Bewegung der Selbstverweigerung des Sprachlichen und wird von dieser gleichsam versperrt. Angesichts dieser betonten Grenzerfahrungen mit und in der Sprache wäre es übrigens übereilt, Heidegger vorschnell eine wie immer auch geartete »Ontologisierung« nachzusagen. Die Nähe bewirkt die Erfahrung von etwas, das sie beide – Dichten und Denken – als eines, obzwar auf verschiedene Weise, angeht. Dies könnte die Erfahrung des Unnennbaren sein13, das sich nicht außerhalb der Sage befindet, sondern der »Zuspruch« selbst ist14 – es ist abwesend (aber nicht im Sinne einer Autorität), insofern es sich nur von dem von ihm veranlassten Angehen Rechenschaft ablegen lässt. So ist das Unnennbare im Wesentlichen eine Nähe, und Dichten und Denken begegnen sich (selber) immer schon in ihr. Die nicht-gegenwärtige Anwesenheit des Unnennbaren, die Konzentration auf dieses, das Angehen durch es ist das, was das Nachsagen oder Wiedersagen der Sage notwendig macht – da man kurz 13 | Zu dieser Vermutung gibt eine flüchtige Bemerkung Gadamers Anlass: »Gerade das Unnennbare, das die dichterische Kunst so gut wie die Begriffe des Denkens übersteigt, ist das, was es ständig zu wagen und festzuhalten gilt.« Dichten und Denken im Spiegel von Hölderlins Andenken, Gesammelte Werke 9, Tübingen 1993, 53. 14 | Ein stellvertretendes Zitat: »Wenn wir bei der Sprache anfragen, nämlich nach ihrem Wesen, dann muss uns doch die Sprache selber schon zugesprochen sein. Wollen wir dem Wesen, nämlich der Sprache, nachfragen, so muss uns auch, was Wesen heißt, schon zugesprochen sein. Anfrage und Nachfrage brauchen hier und überall im voraus den Zuspruch dessen, was sie fragend angehen, dem sie fragend nachgehen. Jeder Ansatz jeder Frage hält sich schon innerhalb der Zusage dessen auf, was in die Frage gestellt wird.« Unterwegs zur Sprache, 175. Diese Grundgeste des Denkens beim späten Heidegger wurde am treffendsten von Derrida erörtert, vgl. Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a.M. 1991, 148-155. Vgl. ferner Zoltán Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 311-312.
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gefasst nicht mit dem unnennbaren Zuspruch – dem Geben –, sondern nur mit der sagbaren Sage – der Gabe – in Verbindung ist, nur über letztere in bestimmtem Sinne verfügen kann. Unnennbar ist der »Zuspruch« nicht aus dem Grund, da seinem Geben kein Subjekt vorausliegt, sondern weil das Geben des nicht als Eigenschaft oder Bestand verstandenen Eigenen ein Wahrheitsmoment impliziert, das nur in der Transgression des verfügbaren Eigenen (das nur gegenständlich, also äußerlich sein kann) zustande kommt. Diese Wahrheit ist unnennbar, da sie sich der Vermittlung durch die »Sage« widersetzt, zugleich ihr Sagen auf diese Weise be-wëgt (UzS, 261). Sie ist nichts anderes als die »Unverborgenheit« oder Manifestierung der »Sage« oder des Sagens – die aber nicht ihre Objektivierung (im Sinne einer Oberfläche) oder auch nur einen Effekt bedeutet, sondern grundsätzlich die Anwesenheit des Ungesagten im Sagen. Das Ungesagte ist das Geben des Zuspruchs, das Versprechen der Wahrheit – die vom »Ereignis« eröffnete Dimension. Daher wird das dichterische Nennen in der Lauf bahn von Heidegger vom »Stiften«15 zum »Rufen in das Wort« (UzS, 21), was man zweifelsohne auch als eine Art Herabsetzen verstehen kann, noch mehr aber als das Umdenken des NameGebens. Diese Benennung ist kein Versehen von etwas mit einem Namen, sondern vielmehr ein Rufen in der Weise des Entbergens – ein Rufen, das gleichsam auf den »Zuspruch« antwortet und nicht als transitive Tätigkeit zu verstehen ist. Seine Singularität besteht gerade in diesem Rufen als »Gegen-Sage«, nicht im Geben des Namens als solchen, das/der immer schon wiederholbar wird. Das Nennen bleibt der ausgezeichnete Akt des dichterischen Sprechens,16 es wird aber der Sagbarkeit zugeführt, in dem Sinne, dass es aus dem Ungesprochenen kommt. Dieses Ungesprochene ist im Falle der Dichtung auch ihr Sagen selbst, das sie nicht besitzen (da es sie selber ist), sondern nur als Sage (und nicht als solche) darstellen kann. So kommt das Benennen zugleich der Rückkehr in das Ungesagte gleich, es entspricht dem Zuspruch des Ungesagten, es ist Name-Geben als Rufen, also eine Art »Zusage«. Die »Nähe« selber ist die Erfahrung des Unnennbaren oder Ungesagten – wo diese sich zugleich auch in einer Rückkehr befindet, da sie das Ungesagte bewahrt und bezeugt. Dichten und Denken verpflichten sich zu dieser paradoxen, unmöglichen Aufgabe – die als Bezeugen immer schon der Gefahr der Fiktion(alisierung) ausgesetzt ist,17 im Grunde deshalb, da es bereits in diesem Ungesagten steht, auf dieses zurückkommt, das das Bezeugen schon angesprochen hat. Das Ungesagte hat das Bezeugen durch den »Zuspruch« angesprochen, als An-Spruch des Un15 | Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1936), in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1996, 41-42. 16 | Seine These »Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige« (Nachwort zu »Was ist Metaphysik?«, in: ders., Wegmarken [GA 9], 312) hat Heidegger vermutlich nicht zurückgenommen (jedenfalls hätte er wohl kaum einen Grund gehabt, dies zu tun). Interessant ist jedoch die Neusituierung der Namensgebung in der Eröffnung von Unterwegs zur Sprache, wo von der Annäherung des dichterischen Ereignisses an den Gesang die Rede ist (auch Unterwegs zur Sprache spricht vom melos, von der Klangweise). Dem entspricht die zunehmende Betonung des Gedanken der »Weile«, des »Verweilens« beim späten Heidegger. Hier soll der punktuelle Hinweis darauf genügen, dass auf das Konzept von der Benennung als Ruf in Die Sprache das »Verweilenlassen« folgt, s. Unterwegs zur Sprache, 22. 17 | Zu dieser Problematik vgl. Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 25.
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gesagten – daher entzieht es sich auch, gleichsam als Nicht-Besitz, und nicht, als ob es irgendwo verborgen liege. So wird sichtbar, dass Dichten und Denken von dieser Rückkehr und diesem Wahrheitsmoment miteinander verbunden werden: die Dichtung bewahrt jenes Ungesagte, das ihre singuläre sprachliche Konstitution provoziert – in der das Nennen nicht das Benennen von etwas, sondern den Vollzug des Sagens als Bezeugen des Ungesagten darstellt, im Rufen des Namens. Eine Danksagung ist dies (im Sinn der späten Hymnen Hölderlins) und zugleich ein Ruf (keine Benennung und deiktische Adressierung), und insofern entspricht es dem Ereignis des Zuspruchs, das sich selbst nicht ohne diesen Ruf geben könnte. Der literarische Text als Medium der Gabe des Ungesagten ist vor allem an der Materialität des Ereignisses (des Diktats) des Gebens als Erfahrung interessiert, die sich in der materialen Wiederholung – in einer Art Aufführung – gibt. Dennoch wird das Wort hier nicht zu etwas »Gegebenem«, denn zugleich kann sich das Gedächtnis des Ungesagten selbst von derselben potentialen Wiederholung her (diese voraussetzend) als ein quasi-materiales Medium melden, denn Gabe und Geben sind nicht voneinander zu trennen, und ihre Differenz bietet zugleich die Chance der Interpretation. Die Chance, das zu bewahren, was nicht die Gabe als solche bewahrt, sondern mit dem nicht Erscheinenden, nicht Wahrnehmbaren der Gabe rechnet. Heidegger definiert das Gedächtnis als Medium des »Gedachten«, das Denken als Andenken und als Dank, der das Bedenklichste nicht nur in sich selbst bewahrt, sondern auch in seiner »Fragwürdigkeit«.18 Die Fragwürdigkeit des Bedenklichsten zu bewahren, ist die eigentliche Aufgabe des Denkens als danksagenden Gedächtnisses. Das Denken kehrt seinerseits zum Ungedachten zurück, das eine latente Sprache ist (kein bloßer Hiatus der Kognition oder der Begriffsbildung), die die Artikulation der Worte und Begriffe des Denkens, ihr wechselseitiges Verhältnis überhaupt ermöglicht – wenn auch nur zukünftig, im Modus des Versprechens.19 Das Zurückkehren ist immer Rückkehr zu einem Zukünftigen, kein Erforschen eines bereits Bestehenden. Dazu werden sie von der Erfahrung der unnennbaren Nähe veranlasst – die zugleich auch Transgression ist (im Sinne der Gabe), und zwar in gegenseitiger Weise: Die erwähnte Rückkehr als Verpflichtung und Auf-SichNehmen der Nähe meint wiederum die Transgression des anderen. Das Dichten schreitet in das verweilende Behalten seines eigenen Textes über, während das
18 | Was heißt denken?, 151. Vgl. Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak, 348-354. 19 | In der Hölderlin-Vorlesung von 1934: »In einer wirklich philosophischen Vorlesung z.B. kommt es nicht eigentlich darauf an, was unmittelbar gesagt wird, sondern auf das, was in diesem Sagen erschwiegen wird.« Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, GA 39, Frankfurt a.M. 1980, 41. Beim späten Heidegger: »An-denken, nämlich das gewesene Geschick, besagt jedoch: bedenken, und zwar das im Gewesenen noch Ungedachte als das zuDenkende. Diesem entspricht das Denken nur als vor-denkendes. An-denken das Gewesene ist Vor-denken in das zu-denkende Ungedachte«. Der Satz vom Grund, GA 10, Frankfurt a.M. 1997, 140. »Allein wir suchen die Kraft (des früheren Denkens) nicht im schon Gedachten, sondern in einem Ungedachten, von dem her das Gedachte seinen Wesensraum empfängt. Aber das schon Gedachte erst bereitet das noch Ungedachte, das immer neu in seinen Überfluß einkehrt« Identität und Differenz, GA 11, Frankfurt a.M. 2006, 57.
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Denken in das Diktat der latenten Sprache des Ungedachten20 transgrediert (die die Worte/Begriffe des Denkens ermöglicht und getragen hat) und versucht dieses auszusprechen, wenn auch um den Preis der Durchstreichung seiner Leitbegriffe, des Verwerfens seiner gebrauchten Worte.21 Ihre eigene Transgression als Überschreitung (nicht Verlassen) des anderen – dies bedeutet die Gegenseitigkeit und Gleichzeitigkeit von Nähe und Ferne im Verhältnis von Dichten und Denken.22 Wenn die Dichtung doch auf ihre eigene singuläre Selbstpräsentation angewiesen ist, diesen Anspruch nicht aufgeben kann, die Philosophie hingegen ihren eigenen Text gewissermaßen aufgeben muss, so waltet auch eine tiefgründige Differenz zwischen ihnen. Folglich weist der Unterschied von Dichten und Denken, ihre Mehrzahl schlechthin vor allem (noch vor jeglicher inhaltlicher Thematisierung) darauf hin, dass es in der Sprache keine absolute Gabe gibt – sie stellt immer schon ein Opfer, ihr eigenes Opfer dar. Das Opfer (z.B. die es markierende oder sich in ihm produzierende »Zeige«) bedeutet die Endlichkeit der Gabe. Obwohl Dichten wie Denken im Dienste der Sprache stehen, »am reinsten sich gleichen in der Sorg-
20 | Die Figuration des Rufes oder der Anrede des Ungedachten (bzw. Ungesprochenen) begegnet beim späten Heidegger an mehreren Stellen, hier soll nur auf zwei besonders vielsagende Beispiele hingewiesen werden: Auf den Brief über den Humanismus: »Das Denken bringt nämlich in seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache« (GA 9, 361) und auf Was ist das – die Philosophie?: »Das Entsprechen zum Sein des Seienden ist die Philosophie.« »Das eigens übernommene und sich entfaltende Entsprechen, das dem Zuspruch des Seins und des Seienden entspricht, ist die Philosophie.« Die Philosophie: »ein Entsprechen, das den Zuspruch des Seins des Seienden zur Sprache bringt.« Identität und Differenz, 21, 25, 26. 21 | Daher ist die Dekonstruktion von philosophischen Texten mithilfe literarischer Mittel für möglich und legitim zu halten (was nicht unbedingt ihre Gleichsetzung mit der Literatur mit sich zu ziehen braucht) – der Abbau jener (vorgängigen und unreflektierten) sprachlichen Setzungen (oder das Auftrennen ihrer Gewebe in der Weise von Penelope), die »die begriffliche Artikulation unserer Denkintentionen« beeinträchtigen können (das Zitat aus Gadamer, Philosophie und Literatur, in: Gesammelte Werke 8, 256). Darüber hinaus erfordert das SichEinlassen auf den hinter diesen Denkintentionen tätigen Zuspruch das potentielle Auftrennen des philosophischen Textes an jedem möglichen Punkt. Zur Selbstüberschreitung der philosophischen Texte über ihre vermeintlich eigene Sprache hinaus und im Allgemeinen zum Verhältnis von Philosophie und Literatur vgl. István M. Fehér, Kunst, Ästhetik und Literatur in der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, in: Ernő Kulcsár Szabó/Mihály Szegedy-Maszák (Hg.), Epoche−Text−Modalität. Diskurs der Moderne in der ungarischen Literaturwissenschaft, Tübingen 1999, 1-49. 22 | Heidegger verwendet mehrfach Ausdrücke, die auf die Transgression als Strukturmoment der Gabe deuten, vgl. »Die Stiftung ist ein Überfluß, eine Schenkung« (Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a.M. 1950, 63, vgl. die Umkehr dieser These in Hölderlin und das Wesen der Dichtung, 41-42, wo von einer »freie[n] Schenkung« die Rede ist). In seiner Interpretation von Wie wenn am Feiertage… heißt es: »Das Heilige verschenkt das Wort und kommt selbst in dieses Wort«, Holzwege, 76). Vgl. zuletzt den Schluss von Was ist das – die Philosophie?: »Zwischen beiden, Denken und Dichten, waltet eine verborgene Verwandtschaft, weil beide sich im Dienst der Sprache für die Sprache verwenden und verschwenden«. Identität und Differenz, 26.
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samkeit des Wortes, sind beide zugleich am weitesten in ihrem Wesen getrennt«.23 Ihre Differenz zeigt die Unmöglichkeit der Versammlung der sprachlichen Gabe an.24 Die Grundabsicht von Der Weg zur Sprache variierend: für die Eigentümlichkeit der Sprache gibt es nicht nur einen einzigen Zeugen, die Sprache kann nie nur von einem einzigen Zeugen freigestellt werden – die dazu am meisten Befähigten sind bereits zu zweit, wo diese Doppelheit keine einfache Mehrzahl, sondern vielmehr die Unauflösbarkeit der Spannung ihrer Nähe bedeutet. Wenn es keine absolute Gabe gibt, so kann das Freistellen der Sprache nie restlos gelingen – immer gibt es einen Rest, eine Spur oder eine unvorhersehbare »Zeige«, die das Alibi der Sprache durchstreicht. Die »gefährlichste« Seinsweise der Sprache (Hölderlin) lässt sich nicht einmal durch das Ethos der Gabe vergeben. Dichten und Denken weisen daher jeweils die Übersetzbarkeit des anderen – und das heißt auch: die Unvermeidlichkeit des Mit-Denkens und Mit-Dichtens – auf. Das Denken ist im Dichten heimisch, das Dichten denkt, insofern das Ungesagte, das sich im (und als) Zuspruch ergibt, die vermeintliche Autonomie oder Selbstidentität der Dichtung auftrennt. Diese war – das wird hier vom Denken als Übersetzung aufgedeckt – immer schon von dieser ungesagten Zusage geheißen und markiert, infolgedessen kann der dichterische Text nicht mit sich selber zusammenfallen, keine Bürgschaft für sich selber garantieren, sich selbst nicht beglaubigen. Umgekehrt, dem Denken wird seine ursprüngliche Motivierung vom Dichten wiedergeschenkt, dass also seine Begriffe nicht nur kognitive Konstruktionen sind, die einfach dem logisch-grammatikalischen Auf bau der Sprache gehorchen, diesen nachzeichnen, sondern vielmehr in der ursprünglichen Identität von Sprach- und Denkbewegung verankert sind, die die Begriffe trägt (und deren Vergessen gewissermaßen auch zulässt), und nicht diese »repräsentieren« jene Bewegung, die vom Zuspruch des Zu-Denkenden veranlasst wird.
II Heideggers Deutung der ersten drei Zeilen des Mnemosyne-Entwurfs von Hölderlin in seiner Schrift Was heißt Denken? zielt in den Kern der hier verfolgten Problematik: Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.
Bevor wir Heideggers Deutung kurz vorstellen und kommentieren, sollen einige textnahe Bemerkungen zu diesen Versen gemacht werden. Die apodiktische Formulierung der ersten drei Zeilen des Entwurfs scheint die Möglichkeiten der Semantisierung nur im Sinne einer Allegorese, gleichsam »hinter« den Zeilen, zu gestatten. Noch davor gilt es aber darauf zu achten, dass sich die Wege der Referentialisierung bereits bei der Syntax scheiden müssen: »sind wir« »Zeichen« 23 | Nachwort zu Was ist Metaphysik?, in: Wegmarken, GA 9, Frankfurt a.M. 1976, 312. 24 | Zum »Opfer« als Opfer der Übersetzung, das bei Heidegger vielleicht nicht in Kauf genommen, gar verdrängt wird, vgl. Derrida, Heideggers Ohr, 491.
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einer eigentümlich semiotischen Seinsweise wegen und dann dementsprechend auch noch »deutungslos«, oder werden »wir« erst zum »Zeichen« infolge dieser Deutungslosigkeit? Die grammatische Wiederholung – »Ein Zeichen sind wir, deutungslos/Schmerzlos sind wir …« – räumt den Momenten »deutungslos« und »schmerzlos« eine vergleichbare Wichtigkeit ein, wie dem Sagen von »Ein Zeichen sind wir«. Auch wenn es gleichsam direkt behauptet wird, ist das »Zeichen-Sein« des »wir« nicht automatisch vorauszusetzen, da es möglich ist, dass dies erst in einem übergreifenderen Kontext eintritt oder wahrnehmbar wird. Dieser Kontext wird vor allem durch das Moment von »deutungslos« angerissen, das im Falle von »Zeichen« schwerlich von sekundärer Natur sein kann. Wenn das »Zeichen« über eine wohldefinierte oder erkennbare Bedeutung verfügt oder ihm eine entsprechende Deutung zugeordnet und etwa institutionell verfestigt wird, achtet man nicht auf es als auf ein »Zeichen«. Das »Zeichen« als Zeichen, als semiotische Größe, wird erst auffallen, wenn es bar der Bedeutung, also »deutungslos« wird. Das heißt, das »Zeichen« ist nicht als solches gegeben, wonach man auch noch entscheiden könnte, ob es nun die »Bedeutung« hat oder nicht hat: Die Emergenz des »Zeichen-Seins« erfolgt erst im Vergessen seiner »Inhalte«, in der Deutungs losigkeit. Das »Zeichen« als Zeichen ist also von Hermeneutik, wenn auch vom Ausfall von Hermeneutik, bedingt, es steht in diesem Sinne gerade nicht zur Verfügung als eine jederzeit interpretierbare oder auch nicht-interpretierbare Entität, vielmehr wird es erst in seinem Entzug manifest (vgl. »Es ereignet sich aber/Das Wahre«). Auch »schmerzlos« lässt sich – im Zuge der treffenden Bemerkung von Mottel25 – als das Fehlen einer Realdeixis dieser »Zeichen« interpretieren, demzufolge erscheint das »Zeichen-Sein« nicht als eine observierbare semiotische Größe, sondern delegiert sich in eine fiktive Materialität. Dieser Zusammenhang ist also zu beachten, bevor eine referenzielle Auslegung der Verse versucht wird.26 In diesem Sinne ist das Verlieren der »Sprache in der Fremde« auch eine Enteignung der Bedeutung der »Zeichen«, ein Vergessen, das daraus resultiert, dass diese »Zeichen« keine autorisierte und auf konventionellem Wege gewährleistete Verantwortung für ihre Bedeutungen übernehmen können. Sie – ihre »Sprache« – sind immer schon auf eine andere »Sprache«, auf die »Fremde« angewiesen, die aber von ihr – als die sie interpretierende Sprache – nicht zu trennen ist. Erst von 25 | »›Schmerzlos‹ sind diese Zeichen für das ›erinnernde Erinnern‹ als Zeichen, die als solche den Schmerz ihrer Einschreibung nicht mehr mit sich führen und jetzt eine Gedächtnisspur ausbilden.« (Helmut Mottel, ›Apoll envers terre‹. Hölderlins mythopoetische Weltentwürfe, Würzburg 1998, 271). 26 | Etwa Mottel verfährt so, daß er sich sofort anschickt, die »Zeichen« (merkwürdigerweise spricht er stets im Plural über »Das Zeichen«) erstens als die »auf dem Schriftträger versammelte«, zweitens als im »Sozialisationsprozeß« produzierte und drittens die »Fremde« als die »Fremde« der dritten Strophe bzw. im Sinne des ersten Böhlendorff-Briefes zu »verstehen« (271, sein Ausdruck). Charakteristischerweise bleibt das Moment von »deutungslos« gänzlich außer Betracht, zudem werden die Zeilen einigermaßen auf äußerliche Weise »verstanden«: nach graphisch-selbstreferenziellen (»Schriftträger«), allegorisierenden (»Sozialisationsprozeß«) und referenzialisierenden (Brief an Böhlendorff) Kriterien. Die zwei wirklich interpretatorischen (d.h. deutungsmäßigen) Vorschläge von Mottel beziehen sich auf »schmerzlos« (die »Zeichen« frei vom »Schmerz ihrer Einschreibung«) und auf den Konnex der »Fremde« mit der »Fremde« der dritten Strophe.
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diesem Sich-Verlieren in der Fremde her zeigen sie sich als »Zeichen«, erst im Scheitern der »Deutung« kommt es zur Erfahrung ihres Übergehens in die Materialität, was gerade auch einen Entzug bewirkt.27 »Schmerzlos« würde dann das Nicht-Fühlen als Index ebendieser Materialität meinen – dem ließe sich auch das Moment von »blind« drei Zeilen weiter unten zuordnen (»blind ist die Treue dann«, aber auch »eine/Last von Scheitern«). Das »Zeichen« findet man laut den Überlegungen von Heidegger nicht vor, sondern es wird von einem Entzug eingeschrieben, der gleichzeitig auch ein Anziehen und »Ereignis« ist. Wir erinnern uns, dass das Wort bzw. das Sagbare und das Ungesagte auch nicht einfach da waren, sondern erst im Geben durch den Zuspruch in der Sprache sich er-geben hatten. Hier liegt eine strukturelle Analogie vor: Das »Zeichen« wird vom Sichentziehenden, von seinem Entzug eingeprägt. »Als die so Geprägten weisen wir selber auf das Sichentziehende. Wir sind überhaupt nur wir und sind nur die, die wir sind, indem wir in das Sichentziehende weisen. Dieses Weisen ist unser Wesen. Wir sind, indem wir in das Sichentziehende zeigen. Als der dahin Zeigende ist der Mensch der Zeigende.«28 Wenn das Zeichen vom Sichentziehenden im Ziehen eingeprägt wird,29 dann ist das ein Vergessen, das das Zeichen hinter- oder übriglässt und dadurch gewissermaßen als Zeichen hervortritt. Diese Zeichenwerdung korreliert mit dem Verlust der »eigenen« Sprache, die zum stummen Zeichen ihrer selbst wird, ihre Verstimmlichung gekappt wird (es begegnet kein Musenanruf im Text). Die Äußerlichkeit des Zeichens als Vergessen tut sich in ebenjenem Ziehen oder Zug auf, der das Zeichen überhaupt eingeschrieben hat. Eine seltsame Zirkularität, die am ehesten noch einer ihr Original ermangelnden Übersetzung gleicht.30 27 | Kardinal in diesem Zusammenhang ist die Rolle von »fast«, das ja den Zeilenbruch markiert, eine Art stammelnde Zäsur (als ob der Sprecher »fast/Die Sprache« verlieren würde). Zu diesem materiellen Bruch gesellt sich der ambivalente referenzielle Status von »fast«, der eine Art »vielleicht« oder »als ob« bedeuten kann. Wenn nun – als dritte Möglichkeit – sein syntaktischer Index dank der materiellen Zäsur nicht weniger doppeldeutig erscheint (wird »Die Sprache« »fast« »verloren« oder wird »Die Sprache« »fast« »verloren«?), so wird die Vermutung schwerlich von der Hand zu weisen sein, daß das Verlieren der Sprache dieser nicht von außen zukommt, sondern in den Verhältnissen ebendieser Sprache (etwa in ihrer »Deutungslosigkeit«) wurzelt. Denn auch wenn sich »fast« logischerweise auf »verloren« beziehen sollte, tritt es auf emphatische Weise durch die alternative Betonung vornehmlich mit »Die Sprache« in Zusammenhang. 28 | Was heißt Denken?, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 129. Und: »Was in sich, seinem Wesen nach, ein Zeigendes ist, nennen wir ein Zeichen. Auf dem Zug in das Sichentziehende ist der Mensch ein Zeichen. Weil dieses Zeichen jedoch in das Sichentziehende zeigt, deutet es nicht so sehr auf das, was sich da ent-zieht, als vielmehr in das Sichentziehen. Das Zeichen bleibt ohne Deutung.« (130) 29 | Das Ziehen und das von ihm eingeschriebene oder hinterlassene, gerade im Ziehen selbst jedoch gewissermaßen auch ausgelöschte, zumindest aber de-phänomenalisierte Spur (als Ereignis) könnte »Dichten und Denken« sogar vorgängig sein. Vgl. Derrida, Der Entzug der Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, 227. 30 | »Die Sprache« »in der Fremde« zu verlieren – »vielleicht in einer Übersetzung«, merkt Derrida an, vgl. Jacques Derrida, Heideggers Hand, in: ders., Geschlecht (Heidegger), Wien 1988, 55.
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Man könnte sagen, das »Zeichen« bezeuge das Sichentziehende nicht durch dieses oder jenes Merkmal, geschweige denn durch diese oder jene Bedeutung, sondern durch sein Dasein, das ein Übrigbleiben und keine identifizierbare Gegenständlichkeit ist. Ein stummes Zeugnis,31 das als solches die »Botschaft« darstellt, ein Medium, das erst in seinem Übrigbleiben zu einem solchen wird. Wenn »wir« »ein Zeichen« »sind«, das Menschliche also zum Zeichen wird, dann ist es nur in seinem Zeichen-Sein überhaupt da, »schmerzlos«, das heißt, ohne auf kausale Weise determinierende referenzielle Kontexte und ohne einen direkten kommunikativen Bezug (»und haben fast/Die Sprache in der Fremde verloren.«). Dieses »wir« ist zum »Zeichen« seiner selbst geworden, zu einem Monument oder Denkmal, das das »Wir« ist. In seinem Zeichen-Sein bezeugt es gleichsam sich selbst, dass es da ist als das Zeichen, zu dem es geworden ist – das ist seine »Botschaft«.32 Das »Zeichen«, das Medium ist also die Botschaft – dass das »Zeichen« übriggeblieben ist, dass es dieses Übrigbleiben trägt, besser gesagt, das Übrigbleiben selbst ist.33 Ein Zeugnis, das eine Art Rest darstellt und diese Restlichkeit als seine Botschaft an sich trägt.34 Diesem »Zeichen« als Botschaft eignet 31 | »Zeuge« ist etymologisch mit »ziehen« verwandt, vgl. Duden Bd. 7, Mannheim/Wien/ Zürich 1989, 829. 32 | So könnte man sagen, der Bote selbst würde zur Botschaft, zum »Zeichen« – so aber, dass diese Zeichenwerdung erst das »Wir« zu einem Boten bereite. 33 | Im Sinne der letzten Zeile von Andenken: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« Das ist auch eine Zirkularität der Nachträglichkeit: Erst vom »Bleiben« her kann man vom »Stiften« reden – das ist kein Stiften, das dann auch noch zu »bleiben« vermag. Der Satz setzt daher eine paradoxe temporale (?) Struktur voraus: diese stiftet kein Etwas, sondern vielmehr den Rest von diesem Etwas (das »bleibet aber« bewirkt eine Unterbrechung, eine Art anakoluthische Zäsur, wo also das »bleiben« kein Teil oder Strukturmoment eines zeitlichen Prozesses darstellt, sondern einen übriggebliebenen Rest markiert). Eine Stiftung aus der Zukunft, Stiftung des Restes der Zukunft. Das »bleiben« ist daher ein Ereignis, kein Indiz oder Index (im semiotischen Sinn), das bzw. der bloß übriggeblieben ist. Der Satz ist aber noch komplexer: Der Bedeutungskreis von »stiften« trägt ja auch einen immateriellen Zug an sich, einen subversiven Sinn mobilisierend (»Unheil/Aufruhr stiften« oder »anstiften«). Demnach geht es in »Was bleibet aber, stiften die Dichter« nicht so sehr um das Übrigbleiben einer faktischen (graphischen?) Materialität, sondern vielmehr um die Nicht-Identität des Übriggebliebenen mit sich selbst. Diese wird von den Dichtern »gestiftet« oder bewahrt: die Nicht-Identität der übriggebliebenen Inskription, ihre Differenz mit/in sich selbst, ohne die es (wiederum die Zirkularität) auch (ihr) Bleiben nicht gäbe. Die Frage der Stiftung oder Bewahrung dieser Nicht-Identität bleibt unentscheidbar, diese stehen erneut in einem zirkelhaften Verhältnis, so kann die Dimension der Nicht-Identität auf keiner der beiden Ebenen verankert werden, so wie hier Vergangenheit und Zukunft auch nicht gegeneinander ausgespielt werden können. 34 | In diesem Sinne ruft Mnemosyne einen älteren Text von Hölderlin auf (aus dem Jahr 1800), der den Titel Im Walde trägt: »Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet/sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger/ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist,/ wie die Priesterin die himmlisch Flamme, diß ist sein Verstand./Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht/zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen,/der Güter gefährlichstes, die Sprache/dem Menschen/gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und/untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden,/zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was/ er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, ihr/Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.« (Knaupp,
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demnach eine paradoxe Singularität, die erst im Entzug seiner Bedeutungen erfahrbar wird. Man liest im Zeichen immer schon den Entzug, bzw. dieser lässt sich nur im Zeichen oder als Zeichen wahrnehmen, besser: lesen, dennoch kann man Entzug und Zeichen nicht zur gleichen Zeit fassen. Zusammenfassend: Im dreifachen Verhältnis von Zeichen–Rest–Zeugnis wird das Zeichen so zum Zeugnis, dass es einen Rest darstellt, so bildet es sich aus oder wird eingeschrieben, und dieser Restcharakter vermittelt zwischen Zeichen und Zeugnis: Das Zeichen wird in seinem Restcharakter zum Zeugnis, über seine vermeintlichen semiologischen Funktionen hinaus. Daher ist die Äußerlichkeit des Zeichens die von einem Rest (nicht von einem Gegenstand), also bedeutet sie keinen äußeren Abdruck des signifikativen Prozesses. Das Zeichen ist nicht einfach ein Indiz, sondern es ist ein Zeugnis, da es von einem Ereignis zeugt, das man nicht voraussetzen oder mit anderen Mitteln rekonstruieren kann, das sogar ein Ereignis des Entzuges darstellt und in diesem Sinne ein nicht-stattgefundenes oder virtuelles Ereignis ist. Die Sprache der Poesie wird im »Zeichen« immer schon ihrer Übersetzung zugetrieben, d.h. es handelt sich mitnichten um einen »Verlust«, der sich etwa geschichtsphilosophisch artikulieren ließe. Darum ist hier »fast« als eine Art »vielleicht« wichtig: Es geht also um keinen reinen Verlust, sondern vielmehr um die Ambivalenzen einer Transposition der Sprache in die »Fremde« als Effekt des »Zeichens«, der sehr wohl die eigene, quasi-immanente Absenz ebendieser Sprache hervorruft.35 Also gibt es die poetische Sprache nur in übersetzter Form, die genau dem in der Ambiguität der referenziellen Funktion lauernden Vergessen (dem »Abgrund« in Vers 14) zu verdanken ist. Dieses Vergessen schreibt sich der »Sprache« ein, sie wird also fremd infolge der ent-eignenden Seinsweise der dichterischen 265) Das Verhältnis von Mensch-Erbe-Bezeugen wird von Heidegger folgendermaßen kommentiert: »Was ist der Mensch? Jener, der zeugen muss, was er sei. Zeugen bedeutet einmal ein bekunden; aber zugleich meint es: für das Bekundete in der Bekundung einstehen. Der Mensch ist der, der er ist, eben in der Bezeugung des eigenen Daseins. Diese Bezeugung meint hier nicht einen nachträglichen und beiherlaufenden Ausdruck des Menschseins, sondern sie macht das Dasein des Menschen mit aus. Aber was soll der Mensch bezeugen? Seine Zugehörigkeit zur Erde. Diese Zugehörigkeit besteht darin, dass der Mensch der Erbe ist und der Lernende in allen Dingen«. In Mnemosyne wird diese Problematik des Zusammenhangs von Eigenem und Erde verschärft: »Wenn nemlich ein Streit ist über Menschen/Am Himmel, und gewaltigen Schritt/Gestirne gehn, blind ist die Treue dann, wenn aber sich/Zur Erde neiget der Beste, eigen wird dann/Lebendiges, und es findet eine Heimath/Der Geist.« In »Zur Erde neiget« ist anagrammatisch das Wort »eigen« verborgen, die Instanz der »Erde« (und nicht das Zurückneigen zu sich selbst) setzt also auch textuell das Finden (Aneignen) des »Eigenen« voraus, in der Bewegung zu ihr gibt sich das Eigene, nicht als Substanz. Dies führt das berühmte »Lang ist die Zeit/Es ereignet sich aber/Das Wahre« weiter, wo »eigen« – im Kontext des Ereignisses – ebenfalls aufscheint. 35 | Gemeint ist die Oszillation zwischen den beiden möglichen Intonationen von »haben fast/Die Sprache in der Fremde verloren«: Der Akzent kann ja sowohl auf »Die Sprache« als auch auf »in der Fremde« fallen. Im ersten Fall konnotiert es ein Verstummen, im zweiten eher das Moment des Übersetztwerdens. Die Verschränkung dieser beiden Bedeutungsnuancen legt die Folgerung nahe, dass sich das Fehlen in der »Sprache« in ihrer Übersetzbarkeit dartut bzw. Effekt dieses Übersetzens ist (das Übersetzen fügt der Sprache durch die Entdeckung ihres immanenten Fehlens ebendieses Fehlen im selben Zuge zu).
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Sprache als »Zeichen«. Diese suspendiert nämlich den semantischen (»deutungslos«), referenziellen und sprechakttheoretischen (»schmerzlos«)36 Geltungsbereich der »menschlichen« Sprache hebt dadurch ihren nicht-menschlichen Aspekt hervor (»Ein Zeichen sind wir«). »Zeichen« und »Sprache in der Fremde« lassen sich also voneinander nicht trennen: Das »Zeichen« meint die Seinsweise der »Sprache in der Fremde«, die Übersetzbarkeit der dichterischen Sprache, wo das Fehlen ihres transzendentalen Signifikats eine Leere oder Absenz in der Sprache kundtut. Wenn das Zeichen als Zeugnis laut Heidegger eigentlich das Gedächtnis eines Ungesagten (des Zu-Bedenkenden) darstellt und die Singularität mit dem »Zeichen« als Botschaft zusammenfällt, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die Singularität oder Idiomatizität des dichterischen Textes nicht nur seine Selbstpräsentation meint oder bestätigt, sondern vor allem das Heißen des Ungesprochenen. Dieses ist nicht zu (er-)fassen, sondern lässt das Zeichen, seine Äußerlichkeit (Nüchternheit) zurück und treibt die »eigene« sowie die »poetische« Sprache ihrer Übersetzbarkeit zu. Diese Äußerlichkeit steht in keinem Gegensatz zur Poetisie36 | Insofern im »schmerzlos« das Berühren, die Auto-affektion als Akt aufgehoben wird. Wenn es schon um Blindheit geht, so ist »Deutung« auch wörtlich zu nehmen, als Ableitung aus »Deuten«, d.h. »Zeigen«. Die »Zeichen« sind »deutungslos«, es lässt sich nicht auf sie zeigen in einem ikonisch-anschaulichen Sinne. Das Vergessen der Bedeutung der »Zeichen« ist ein Vergessen auch der »Bilder«, die in diesen Zeichen für das Vorhandensein oder für die Aktivierbarkeit, für die Erinnerung der Bedeutungen gebürgt hätten. »Deutungslos« meint demnach das Scheitern einer Mnemotechnik der sprachlichen Semantik, die sich an ikonischen Beständen orientierte. Der Materialität der »Zeichen« läßt sich auf sinnliche Weise nicht beikommen. Nun impliziert »schmerzlos« auch die Bedeutung von »fühllos«, folglich gilt der Entzug auch für das Berühren, das eine Identifizierung des »Zeichens« ermöglichen würde. Das Fehlen von Berührung schreibt sich dem »Zeichen« ein, besser: das »Zeichen« ist dieses Fehlen, es wird vom Zeichen selber eingeschrieben. Dieses Fehlen hat das Vergessen als seine Implikation: Die »Trauer« richtet sich also auf das Vergessen als das Fehlen oder den Entzug des Berührens (zur textuellen Trauerarbeit vgl. Anselm Haverkamp, Archäologie des Lyrisch-Individuellen, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp [Hg.]: Individualität, München 1988, 369-383). Indessen meint das Vergessen keinen bloßen Mangel, sondern vielmehr die Materialität (die »Fremde«) der Zeichen, ihren nicht-signifikativen Charakter als einer gleichsam materialisierten Leere (vgl. »Abgrund« im Vers 14). Nicht minder schwerwiegend ist der Sachverhalt, dass in »schmerzlos« auch die Unmöglichkeit der Selbstberührung angezeigt wird. Dem »wir« – das ja zweimal vorkommt – wird die Möglichkeit der Selbstidentifikation, für die die Autohaptik bürgen würde, entzogen oder suspendiert. Das Berühren verliert sich somit buchstäblich »in der Fremde«, es lässt keinen kontinuierlich-reziproken Rückbezug auf das Berührende zu, dieser Bezug wird unterbrochen, was als »Vergessen« akut wird. Für diesen gesamten Zusammenhang steht das »Zeichen«, und zwar nicht einfach als eine semiotische Entität, sondern das Berührend-Berührte wird, durch Aufhebung der Kontinuität, der Symmetrie oder des Parallelismus, die ihm unterstellt sind, zum »Zeichen«. Folglich wird das eigentlich Zu-Berührende dem berührenden Subjekt auch nicht zu seiner Selbstaffektion verhelfen, in der letzteres zu seiner Identität, zum »Eigenen« finden könnte (wenige Zeilen darauf wird ja eine ganze Problematik des »Eigenen« eröffnet, über die Tatsache seines Impliziertseins von der »Fremde« hinaus). Das »Zeichen« subvertiert das – auch als »performativ« verstandene – Berühren, das im Dienste einer metonymisch-referenziellen Identifikation oder einer Autoaffektion stehen würde.
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rung, lässt sich nicht in einem solchen Gegensatz verorten. Sie meint die Spur des ungesagten (Ver-)heißens in der poetischen Selbstpräsentation des Textes. Zwischen Singularität und Heißen situiert ist der literarische Text referenziell unselbständig. Das heißt auch oder vor allem: der Text ist nicht restlos zu vergegenständlichen oder zu programmieren, weder auf morphologische oder semiotische noch auf medientechnische Art. Eine eigenständige poetische Sprache gibt es also nicht, sie ist nur in den genannten Effekten zu ertappen – was zugleich heißt, dass die Sprache der Dichtung keine »ursprünglichere«, nun historisch vergessene (Mutter-)sprache neu zum Leben erwecken kann.37 Daher begegnet man keiner Musenanrufung im Text, nur Namen, deren »Behalten« vom Text anvisiert wird. Nichts anderes als diese Einsicht prägt die Textur des späten Hölderlins – eine »Einsicht«, vor der wohl sämtliche Früh- und Spätromantiker erschrocken wären.38 Das Eigene ist ein »Zeichen«, dessen temporalisierte Seinsweise das Eigene zwischen Vergessen und Erinnern (Wiederholen) situieren lässt. Heidegger kommt wenig später, nach seiner Besprechung der Verse aus Mnemosyne, zum »Gedächtnis«. In der Tat, man wird das Zeichen als Zeugnis auch und vor allem als das Gedächtnis des Ungesagten – des Zu-Bedenkenden – fassen können. Dieses Gedächtnis wiederum bewahrt also keine Substanz, keine Bedeutung, auch nicht die »eigene« Sprache, sondern den Entzug des »Zu-Bedenkenden«, in dem sich das Ungesprochene überhaupt ergeben kann. Nur in diesem Bewahren tut sich die Äußerlichkeit, die Materialität des »Zeichens« auf – ihre »Nüchternheit« (um mit dem ersten Brief Hölderlins an Böhlendorff zu sprechen). Der zweite Brief an Böhlendorff spricht dies sehr prägnant aus: Der Anblick der Antiquen hat mir einen Eindruck gegeben, der mir nicht allein die Griechen verständlicher macht, sondern überhaupt das Höchste der Kunst, die auch in der höchsten Bewegung und Phänomenalisierung der Begriffe und alles Ernstlichgemeinten [also des Philosophischen im thematischen Sinne, Cs.L.] dennoch alles stehend und für sich selbst erklärt, so dass die Sicherheit in diesem Sinne die höchste Art des Zeichens ist. 39
Diese Nüchternheit ist ein Prosaischwerden der »dichterischen« Sprache40, die Entdeckung eines latenten prosaischen Kerns im Gedicht, der immer schon vor oder
37 | Das wäre noch das Paradigma des »rükwärts«-Sehens, zu dem sich das Gedicht kritisch verhält: »Vieles aber ist/Zu behalten. Und Noth die Treue./Vorwärts aber und rükwärts wollen wir/Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie/Auf schwankem Kahne der See.« Das Motiv des Kahns auf dem See ist ein Zitat aus Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire, vgl. Haverkamp, ebd., 376. 38 | Selbst noch der von dem phantasmagorischen Sog der anagrammatisierten Eigennamen gebannte Saussure hat versucht, an die Vorstellung der – durch die Aufdeckung von Hypogrammen – »wiederentdeckte Sprache« zu glauben, vgl. Sylvère Lotringer, The Game of the Name, in: Diacritics (2/1973), 8. 39 | Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe II (Hg. Michael Knaupp), München 1992, 921. 40 | S. Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920), in: ders., Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt a.M. 1974, 103-109.
Zwischen Heißen und Ent zug
hinter dem Lyrischen als dessen Infratext jenem eingeschrieben war.41 Die Sprache der Lyrik nimmt sich beim späten Hölderlin zurück, sie ist keine »schöne«, »höhere« Sprache gegenüber der alltäglichen oder auch philosophischen Sprache, vielmehr eignet ihr eine Nüchternheit oder Äußerlichkeit, die gerade nicht die Autonomie oder Isolierbarkeit dieser Sprache bezeugt, sondern sie in die ambivalente Herausforderung stellt, die vom Bewahren eines Ungesagten, seines Zuspruchs im spurhaften Ent-zug ausgeht. Diese »Nüchternheit« öffnet die poetische Selbstpräsentation der Dichtung auf eine elementarere und mächtigere Weise, als es mit intendierten »prosaischen« Mitteln des Sprachgebrauches möglich wäre. Die Öffnung ist sowohl ein (Ver-)heißen als auch ein Entzug, angesichts deren die Interpretation vor dem Text zurückzutreten hat.42 Vor einem Sagen, in dem das Ungesagte nachhallt (wenn auch nicht laut), das durch die vermeintliche Autonomie der dichterischen Selbstpräsentation, durch deren noch so gelehrte Würdigung nicht verdeckt werden sollte.
41 | Vgl. die Bemerkung Paul de Mans: »Das Prosaische ist jedoch nicht im Rahmen einer Opposition von Poesie und Prosa zu begreifen […] Auch wären dann Baudelaires Prosafassungen von einigen seiner Gedichte aus den Blumen des Bösen im Vergleich zu der metrisierten und gereimten Diktion der Originale nicht prosaisch; man könnte dann nur sagen, dass sie das prosaische Element ausdrücken, das quasi als erste Gestalt den Gedichten zugrunde lag.« Paul de Man, Hegel über das Erhabene, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt a.M. 1993, 78-79. 42 | »Um des Gedichteten willen muss die Erläuterung des Gedichtes danach trachten, sich selbst überflüssig zu machen. Der letzte, aber auch der schwerste Schritt jeder Auslegung besteht darin, mit ihren Erläuterungen vor dem reinen Dastehen des Gedichtes zu verschwinden.« Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 8.
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Die Singularität der Zeugenschaft
6. Sprache und Zeit der Gastlichkeit Kleist: Die Verlobung in St. Domingo
Viele Erzählungen von Kleist inszenieren bekanntlich Geschichten der Gastlichkeit und der Ungastlichkeit. Sie spielen diese beiden Momente zuweilen bis zur Ununterschiedenheit ineinander über. Oft wird der Gast aus einem »kontingenten Anderen« zu einem »privilegierten Du«,1 in der Weise der Liebe, des Heiratens oder der Adoption, wo also noch zusätzliche Kommunikationscodes und Konventionen in Prozessen der Stellvertretung des Gastes ins Spiel kommen. Der Gast schillert von vornherein in einem (auch für ihn selbst) beunruhigenden Zwischen von Fremdheit und Bekanntheit (sogar von Leben und Tod), er ist weder einfach fremd noch vertraut – somit den grundlegenden Zügen der Gastsemantik entsprechend.2 Diese Ambivalenz des Gastes bei Kleist entspringt jedoch in hohem Maße seiner nicht weniger zweideutigen Temporalität, insofern der Gast hier so gut wie immer den wiederkehrenden Gast, den Gast als Wiedergänger und umgekehrt meint. Der Graf in Die Marquise von O. wird erst nach seinem eigentlichen Eindringen förmlich eingeladen und als Täter erst viel später, im Nachhinein, erkannt. Die Einladung, ihr performatives Ritual, erweisen sich als Wiederholungen und höhlen den (an Intentionen und erkennbare Sprechakte gebundenen) Handlungsaspekt der Sprache aus.3 Der Gast scheint gewissermaßen immer schon da gewesen zu sein, wie das in Der Findling mit Nicolo-Colino der Fall ist, oder geistert weiter wie die Titelfigur der knappen Erzählung Das Bettelweib von Locarno. Auch die Anagrammatik der beiden Namen legt nahe, dass die Gastlichkeit in ihren iterativen und abgründigen temporalen Effekten bei Kleist stets mit sprachlichen Momenten einhergeht, in einer sprachlichen Dimension stattfindet, die sie sowohl ausführt und erinnert 1 | Vgl. Hans Robert Jauß, Das privilegierte Du und der kontingente Andere, in: ders., Probleme des Verstehens, Stuttgart 1999, 136-187. 2 | Vgl. Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes, Leipzig 1994; ders., Die Befremdlichkeit des Gastes, Wien 2007. 3 | »Ein solcher Besuch ist nicht die Antwort auf einen Einladungswink, sie übersteigt jede Dialogbeziehung zwischen Gastgeber und Gast. Er muß seit jeher über sie hinausgegangen sein. Sein traumatisierendes Hereinbrechen muß dem vorausgegangen sein, was man unbesorgt als Gastlichkeit bezeichnet – und selbst den Gesetzen der Gastlichkeit, wie störend und umkehrbar diese auch immer schon erscheinen mögen.« Jacques Derrida, Adieu – Nachruf auf Emmanuel Lévinas, München/Wien 1999, 86-87.
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wie auslegt. Die Frage nach der Sprache und der Zeit der Gastlichkeit sollten in der folgenden Analyse eines anderen Textes von Kleist, Die Verlobung in St. Domingo, folglich im Mittelpunkt stehen. Um diese Zusammenhänge zu beleuchten, wird es nötig, relativ viele thematische, motivische, narratologische und textuelle Motive wie Effekte und deren Verflechtung im Text aufzuzeigen. Ferner treten hier vor allem Momente der sog. »performativen« Sprache ins Zentrum der Interpretation, insofern der Nachweis zu erbringen ist, dass in diesem Text der prekäre Status des sprachlichen Handelns und seine gleichwohl einschneidenden Wirkungen im Vordergrund stehen. Vertrauen, Schwur, Eid, Vergeben – diese Wörter und ihre Antonyme bestimmen das Textgewebe. Es geht kurz gesagt um den Gabecharakter von Sprache (und im Zusammenhang damit um die Gastlichkeit) und die verschiedenen, ihr gewissermaßen eigenen oder aufgepfropften Ökonomien. Bereits die erste Erzählsequenz bringt Kontexte der Treue, der Rechtschaffenheit und der Dankbarkeit sowie deren Gegensätze ins Spiel. Die Ökonomie der Gaben von Guillaume von Villeneuve an seinen befreiten Sklaven, Congo Hoango, und seine Dankbarkeit wird im Ausnahmezustand des Aufstandes aufgehoben und in einen negativen Tausch verkehrt: er nimmt seinem Herrn das Leben, das er ihm früher gerettet hatte. Als Erwiderung der damaligen Rettung hat der Herr den Sklaven Hoango mit »unendlichen Wohltaten« überhäuft, vor allem aber mit einem eigenen oikos (»Haus und Hof«) beschenkt.4 Dieser Zug nimmt das spätere Versprechen des Fremden namens Gustav an die Tochter der alten Babekan, Toni, vorweg – dieser will der Retterin seines Lebens auch mit ähnlichen Gaben danken. Dann tötet er sie aber, mit der Pistole, wie auch Hoango seinem Herrn »die Kugel durch den Kopf jagte« (160). In diesen einleitenden narrativen Beschreibungen werden also wesentliche Ereignisse der späteren Handlung vorweggenommen. Wichtig ist hier festzustellen, dass der Zusammenhang von »Wohltat« und »Dankbarkeit« wie »Verräterei« mehrmals im Text zurückkehrt (»schlecht« wird gar zum Synonym von »undankbar«). Interessant wird 1., wie die Verschwörung von Babekan und Toni gegen die Fremden sprachlich-inszenatorisch exekutiert wird, und 2. ihre narrative Darstellung. 1. Die Selbstinszenierung der Protagonisten in der ambivalenten Situation von Gast und Gastgeber ist überdeterminiert. Da die Ankunft des Ankömmlings antizipiert wird, wird dementsprechend die ganze Szene mit verschiedenen Mitteln inszeniert. Toni, dem Mädchen, wird von der alten Babekan – wie von einer Regisseurin – eine Laterne mitgegeben. Über die pragmatische Funktion hinaus eignet dieser Laterne eine spezifische Leistung: »›Geschwind!‹ sprach sie, indem sie seine Hand ergriff und ihn nach der Tür zog: ›hier herein!‹ Sie trug Sorge, indem sie dies sagte, das Licht so zu stellen, dass der volle Strahl davon auf ihr Gesicht fiel.« (163) Das Hereinmanövrieren des Gastes in das Haus geht mit dem Sprechen und der Belichtung der sprechenden Person einher. Dieses Sprechen erfolgt hier wohlgemerkt im Modus des Befehls. Der Vollzug des Sprechaktes wird vom Licht, wie in einem Bühnenauftritt, beleuchtet, um ihm einen besonderen Nachdruck zu ver4 | Die Zitate stammen aus der zweibändigen Ausgabe von Helmut Sembdner (Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, München 1993, 9., vermehrte u. revidierte Aufl. [Hg. Helmut Sembdner]). Die Seitenzahlen werden im Folgenden in Klammern angegeben. Hier: 160.
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leihen.5 Die intentionale Selbstbeleuchtung von Toni legt auf der metaphorischen Ebene Zeugnis von ihrer Aufrichtigkeit ab, sie bekräftigt diese. Sie ist gleichsam ein Pfand für die Wahrhaftigkeit ihrer einladenden Geste, ihrer Gastfreundschaft, und ist dazu bestimmt, das Vertrauen zu erzeugen bzw. zu bestätigen, das zur Aufnahme ihrer Einladung, zu jeglicher Kommunikation überhaupt, notwendig ist. Das Empfangen des Gastes hat demnach eine performative Dimension, es muss das Vertrauen erzeugt werden, das auch sein Brechen (des gegebenen Wortes) ermöglicht. Denn an dieser Stelle der Erzählung gilt noch – zumindest hypothetisch – die Verschwörung von Babekan und Toni, die auf Anweisung von Congo Hoango entsteht, folglich vollzieht sich die Einladung als ein Falschschwur dem Fremden gegenüber – um die vorgängige Verschwörung nicht zu verraten. Um den Fremden zu beruhigen und sich selbst Vertrauen schenken zu lassen, erzählt Babekan, dass sie und Toni gleichsam auch Gäste (oder besser: Geiseln) im Hause von Hoango und folgerichtig ihm ausgeliefert seien. Die Positionierung ihrer Beziehung als Gastgeberinnen und Gustavs als Gast strukturiert sich demnach gleichsam spiegelsymmetrisch auf der Achse des Mitleids – ein Wort, das in dieser Szene mehrmals mit Nachdruck gebraucht wird. Zunächst hat der Fremde Anspruch auf ihr Mitleid erhoben (»Ihr seht den elendsten der Menschen, aber keinen undankbaren und schlechten vor Euch!« 164), die Alte dreht das nun in ihrer Erzählung so, dass dadurch der Fremde selber aufgerufen wird, in die Subjektposition des Mitleids zu treten und ihnen damit Vertrauen zu schenken. Denn Mitleid bringt man nur Personen gegenüber auf, von deren moralischen Qualitäten man überzeugt ist. Eine Politik der Gemeinschaft, die auf der Vertauschung der Rollen, der Stellvertretung, beruht und von beiden Seiten in diesem Sinne diskursiv-adressativ berechnet wird.6 Diesem Tausch ging die Beteuerung der Gemeinsamkeit durch den Fremden voraus: »Euch kann ich mich anvertrauen; aus der Farbe Eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von den meinigen entgegen.« Da das Licht hier nicht einfach im Sinne der Hautfarbe und der anthropologischen Quasi-Verwandtschaft, sondern – in Erinnerung an die Bibelworte – unter anderem als Index der Schuldlosigkeit und der Wahrhaftigkeit zu verstehen ist, so eta5 | Das ist eine biblische Anspielung – bei Lukas liest sich Folgendes über das Bild des beleuchteten Gesichts, unter dem Titel Das Gleichnis vom Auge: »Niemand zündet ein Licht an und setzt es an einen heimlichen Ort, auch nicht unter einen Scheffel, sondern auf den Leuchter, auf daß, wer hineingeht, das Licht sehe. Das Auge ist des Leibes Licht. Wenn nun dein Auge einfältig ist, so ist dein ganzer Leib licht; so aber dein Auge ein Schalk ist, so ist auch dein Leib finster. So schaue darauf, daß nicht das Licht in dir Finsternis sei. Wenn nun dein Leib ganz licht ist, daß er kein Stück von Finsternis hat, so wird er ganz licht sein, wie wenn ein Licht mit hellem Blitz dich erleuchtet.« (Lukas 11, 33-36) Im Kontext der Erzählung konnotiert diese Metaphorik in Hinsicht auf die Figur neben ihrer Hautfarbe mindestens zwei Aspekte: die Empfangsbereitschaft der Gastgeberin und die Transparenz ihrer Sprache. 6 | Die Stellvertretung im Mitleid als Paradigma moralischen Verhaltens beruht auf dem Konzept der Ähnlichkeit, mithin des Wissens von dieser Ähnlichkeit wie des Gehalts vom Leiden. Zu diesem rousseauistischen Thema vgl. Christian Moser, Verfehlte Gefühle. Wissen−Begehren−Darstellen bei Kleist und Rousseau, Würzburg 1993, 63-70. Zum Mitleid als »Modell einer primären Gesellschaftsfähigkeit« vgl. Hans-Jürgen Schings, Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner, München 1980, 19.
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bliert die Feststellung der rassischen Gemeinsamkeit durch Gustav das Vertrauen, und zwar unter Berufung auf anthropologische Konstanten, die auf transzendente Weise verbürgt werden: »Der Himmel, wenn mich nicht alles trügt, fuhr er fort, indem er die Hand der Alten drückte, hat mich mitleidigen Menschen zugeführt …« Und später: »Der Himmel, der Menschlichkeit und Mitleiden liebt, antwortete der Fremde, wird Euch in dem, was Ihr einem Unglücklichen tut, beschützen!« (165) Der Kontext der »Menschheit«, der »Menschlichkeit« werden – kantisch-rousseauistisch – als Berufungsgründe für die Gabe, für die Gastfreundschaft aufgerufen und die von ihnen implizierte Verwandtschaft auch im Hinweis auf die rassischen Züge gesetzt.7 7 | Hier liest Gustav den früheren uneigentlichen Ausdruck von Babekan gleichsam wörtlich: »›Ei, mein Himmel!‹ rief der Alte, indem sie, unter mitleidigem Kopfschütteln, eine Prise Tabak nahm.«, resp. »›Beim Himmel!‹ erwiderte die Alte …« (164, Hervorh. CsL) Dieser war wiederum die Aufnahme der Worte vom Fremden: »Gott und alle Heiligen, erwiderte der Fremde, haben mich beschützt.« Zugleich wird der Ausdruck »mitleidig« aus dem Erzähldiskurs in die als erlebte Rede wiedergegebenen Worte von Gustav transponiert. Seine Rede wird vom Erzähldiskurs gewissermaßen zitiert – im Unterschied zu den jeweils mit Anführungszeichen markierten Äußerungen von Babekan –, zugleich zitiert Gustav auch Momente des Erzähldiskurses, folglich stellt der Erzähldiskurs auch einen Prozess der Selbstzitierung im Medium der Protagonistenrede dar. »Mitleid« kann auch als Interpretant der Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit des Erzählers (als sein Wort für Gustav) fungieren, dabei ist aber der Meineid nicht auszuschließen, was die Autorität des Erzählers problematisch erscheinen lässt. Insgesamt ergeben sich aus der zitathaften Permutation der Reihe von »Himmel«–»mitleidig«–»Mensch« merkwürdige Effekte: der Himmel wird sowohl als Akteur (er »führt« ihn den beiden »zu«) inszeniert wie als Berufungsinstanz (»der Himmel« als Bürge von »Menschlichkeit« und »Mitleiden«) angeführt. Dabei ist die grammatikalische Ambivalenz im Satz »Der Himmel, wenn mich nicht alles trügt […] hat mich mitleidigen Menschen zugeführt« auch von Interesse: das »wenn mich nicht alles trügt« lässt sich nämlich sowohl auf die Subjektposition von »Himmel« als auch auf »mitleidig« beziehen. Der Himmel selber könnte ihn laut der ersten Lesart den beiden zugeführt haben, also verschiebt sich der Akzent bereits hier auf das transzendentale Prinzip, das von Gustav etwas später als Berufungsinstanz und als Zeuge in Anschlag gebracht wird. Die Sprache vom Fremden nimmt immer wieder die providenzielle Legitimierung und Autorisierung in Anspruch – als ob er selber seiner Sprache nicht trauen würde und sich auf transzendentale Autoritäten berufen müsste. Einerseits weist er auf das Äußere – die Hautfarbe und rassische Züge – hin, andererseits beruft er sich auf übersinnliche Instanzen: so ist er doppelt fern vom Inneren der Anderen, dessen er sich vergewissern möchte. Sowohl die referenzielle Vergewisserung (durch den anthropologischen Index) als auch die transzendentale Berufung auf die Autorität sind Effekte der ambivalenten, nicht-transparenten Sprache, wobei die Schwurformeln in der Berufung nach dem transzendentalen Zeugen diese Ambivalenz erst recht (mit-)erzeugen (sofern ihr performativer Wert wegen ihrer Unverifizierbarkeit nicht unproblematisch ist). Gustav baut seine ganze Politik der Gemeinschaft auf eine fragwürdige referenzielle Basis – besser gesagt: Er ist gleichsam dazu genötigt, eine solche Politik zu verfolgen, ist ja der referenzielle Wert von Babekans Aussagen nicht zu verifizieren, sondern ihr Sprechen ist im Empfang nur zu beteuern und ihm Glauben zu schenken. Daher ergibt sich die Politik der Gemeinschaft für Gustav in der Sprache selbst, wie wir das oben gesehen haben, in der der Erzähldiskurs und sprachpragmatisch markierte bzw. unmarkierte Aussagen der Protago-
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Mindestens drei Aspekte werden da also ins Spiel gebracht: die Verwandtschaft, das Mitleid und die Berufung auf den »Himmel« als Schwur. Die Betonung der Gemeinsamkeit im Zeichen der Verwandtschaft und der Menschlichkeit ist eine konstative Aussage (aufgrund der Hautfarbe), sie beruft sich indes auf die transzendentale Instanz als auf einen beglaubigenden Zeugen. Dieser Schwur als Aufrufen der Zeugenschaft eines Dritten soll die Gemeinschaft autorisieren, die beschworene Vertrautheit sichern. Und auch umgekehrt: die Wahrhaftigkeit des Schwörens soll von der konstatierten Verwandtschaft verbürgt werden, einer Verwandtschaft, deren handlungsrelevante moralische Geltung von Babekan freilich auch bezweifelt wird: »Der Schatten von Verwandtschaft, der über unsere Gesichter ausgebreitet ist, der, könnt Ihr sicher glauben, tut es nicht!« (165) Die konstativen und performativen Aspekte der Sprache sollen für Gustav dennoch zu einer Einheit verschmolzen werden. Diese Einheit gilt auch in anthropologischem Sinne: die Kognition, die Erkenntnis der Verwandtschaft, soll mit dem Affekt, dem Mitleid (das eigentlich auf Wissen basiert), in Verbindung gebracht werden. Das Mitleid ist jedoch nicht performativ zu nennen, da dieses den inneren Akten des Sprechenden, des Schwörenden einen referenziellen Zug und, wie wir gesehen haben, einen wechselseitigen ökonomischen Aspekt hinzuzufügen berufen wird. Nicht zuletzt diese Einheit als solche soll von der performativen Berufung auf den »Himmel« als einen Dritten verbürgt werden (»Der Himmel, der Menschlichkeit und Mitleiden liebt …«). Überhaupt wird in der Einforderung des Mitleids die Aufrichtigkeit des Gastes (und der Gastgeber) auf indirekte Weise postuliert. 2. Das Sprechen von Babekan wird im Modus des Berichts, als direkt zitierte Rede wiedergegeben, die Äußerungen des Fremden und Tonis hingegen als indirekte, erzählte Rede. (Dadurch wird auf der narrativen Ebene bereits ihre spätere Verbindung angedeutet.) In der ersten Szene des Empfangs bestimmt diese Verteilung die narrativ vermittelten Stimmen, einmal als Bericht, das andere Mal als Erzählung. Es scheint, als ginge der Erzähler auf Distanz zu Babekan und begleitete die beiden anderen Protagonisten hingegen mehr bezeugend-beglaubigend. Denn Babekan »heuchelt« ja (165), der Erzähler markiert mit dieser narrativen Distanz, dass er ihre Worte nicht ihrem Inhalt gemäß beglaubigen und mit ihnen in keine Gemeinschaft treten kann. Dennoch ist man näher an Babekan, da man ihre Bewusstseinsinhalte kennt, hingegen beim Fremden, aber auch bei Toni nicht sicher ist, was sie eigentlich denken, was ihre Gedanken und Absichten sind. Beiden haftet bereits hier eine Art Geheimnis an,8 das die Transparenz ihrer Sprache in Zweifel zieht. Der Code des Verhältnisses von Erzählen und erzählten Wahrheitsinnisten miteinander verflochten werden. Die Strategie von Gustav ist sowohl als referenziell (»Mitleid«) wie performativ (»Himmel«) zu kennzeichnen. Er referentialisiert figurale Momente (das Kopfschütteln) und beruft sich dabei auf Zeugeninstanzen, um den illokutiven Wert der Äußerungen der beiden zu stabilisieren. So ergibt die Aussage »Der Himmel […] hat mich mitleidigen Menschen zugeführt« einen dritten Sinn: beim Vermeinen des »Mitleids« kann er sich wirklich nur auf den »Himmel« berufen, in diesem Sinne ist die oben vorgeschlagene alternative Lesart über die aktantionale Rolle des »Himmels« als Subjekt zu verstehen. Zugleich wird da auch eine Bestimmung der »Menschlichkeit« generiert – als einer axiologischen Figur, die auf der Farbe »weiß« und ihrer Symbolik aufbaut. 8 | Dies wird später noch verstärkt: »Toni, welche den Kopf gedankenvoll auf ihre Hand gelegt hatte, fragte den Fremden …« (169). Überhaupt korreliert die Betonung ihres schamhaf-
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halten organisiert sich also zu einem Chiasmus: berichtende und erzählende Rede stehen in Spannung, gleichwohl kreuzen sie sich auch, insofern der »von außen« berichtete Diskurs für den Leser doch transparenter ist als die »unmittelbarer« erzählte Kommunikation und Handlung. In der Exposition der Rede der einzelnen Protagonisten, ausgewiesen durch Anführungszeichen, geht der Erzähler gleichsam auf eine Distanz zum Gesprochenen, anderswo begleitet er die Protagonisten im Modus der erlebten Rede, in der die Differenzen zwischen Erzähldiskurs und Figurenrede viel unscheinbarer sind. Oft, wenn die Figuren gleichsam vorgefertigt-zitathafte Diskurse tätigen, erscheinen ihre Äußerungen in Anführungsstrichen, die spontaneren Aussagen hingegen verbleiben im Modus der erlebten Rede. Dieses System gilt allerdings nicht in jedem Fall. Bis zur Befragung des Mädchens durch den Fremden, ob »sie schon einem Bräutigam verlobt wäre?« werden die Äußerungen der beiden Frauen auffallend konsequent durch Anführungsstriche gerahmt, um gleichsam die Distanz des Erzählers zu signalisieren, als ob dieser ihre Verschwörung und vorgetäuschte Aufrichtigkeit nicht unterschreiben, das falsche Zeugnis vermeiden möchte. Er scheint vielmehr Gustav zu begleiten, seine Worte und Gedanken zu bezeugen, ihm gleichsam näher zu stehen, ihn zumindest zu supplementieren, indem die pragmatisch-zitationelle Einrahmung seiner Aussagen ausbleibt. Dies ändert sich in der Befragungsszene, wo plötzlich seine Fragen markiert, dafür die Äußerungen von Toni in erlebter Rede vermittelt werden. Meistens sind nicht beide Stimmen zu gleicher Zeit durch Anführungsstriche codiert und so wiedergegeben, sondern jeweils nur die eine, die andere verbleibt im anderen narrativen Modus. Die erlebte Rede scheint eine Nähe zum Protagonisten zu suggerieren, insofern seine Stimme und Sprechakte nicht eigens wahrzunehmen sind, sondern ihre Bekanntheit vom Erzähler als Zeugen gewissermaßen vorausgesetzt wird. Der Erzähler gibt uns sein Wort, die sprachlichen sowie inneren Akte der Figuren treu wiederzugeben oder zu vermitteln. Zugleich gibt er sein bzw. das Wort ebendiesen handelnden Figuren, deren so vermitteltes Sprechen – und darin all die Schwüre und Versprechen – auf dieses Wort als zweifach gegebenes Wort angewiesen bleibt. Diese narrativen Züge werfen also die Frage nach der Zuverlässigkeit des Erzählers auf und zwar nicht nur im Sinne des Wissens um die Umstände des Geschehens, sondern auch im Sinne der Wahrhaftigkeit, selbst wenn man ihm unterstellt, er bezeuge die narrativen Momente, die Geschehen ihren referenziellen Wert betreffend, auf zuverlässige Weise.9 Gerade in der Kreuzung von Erzähldiskurs und erlebter Rede ist aber die Möglichkeit der falschen Zeugenschaft von vornherein gegeben, wo die Worte der Figuren vom Erzähldiskurs her bzw. dieser Diskurs selbst in seiner Kontamination durch die bezeugten Sprechakte und Intentionen vom Leser nicht ganz zu beglaubigen sind. In diesem Sinne bewirkt die problematische erlebte Rede – Rede des Protagonisten oder des Erzählers? – eine merkwürdige Ferne zu den berichteten Ereignissen, Sprechakten und inneren Vollzügen. In den Interferenzen zwischen ten Verhaltens mit dem Geheimnis. Das Wort »unaussprechlich« kommt auch mehrmals vor (185, 192). 9 | Den Zusammenhang der Unentscheidbarkeit von mimetischer und diegetischer Rede mit dem Problem der Beglaubigung bei Kleist hat Paul de Man deutlich dargelegt, vgl. Ästhetische Formalisierung: Kleist’s Über das Marionettentheater, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, 216-217.
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Erzähldiskurs und Protagonistenrede laufen komplexe Bezeugungsprozesse ab, die in der Frage münden: wem gehört das Wort? Das Wort wird hier gewissermaßen vom Erzähler weitergegeben oder weitergeschenkt wie die »Liebesgabe« vom Fremden – wie oben in Bezug auf die zentralen Interpretanten »Mitleid« und »Himmel« zu sehen war. Der Erzähler kann das Gesagte der Protagonisten substituieren, statt ihrer reden – so wie Babekan auf die Frage an Toni statt dieser antwortet (168) –, er kann ihnen aber auch sein Wort geben, um die Aufrichtigkeit der Versprechensakte der Protagonisten zu beteuern. Zeugenschaft als Supplement und gegebenes Wort – in dieser nicht ganz auflösbaren Spannung werden gewisse Momente des Textes doppelt lesbar. Zu dieser Spannung gehören nämlich fundamentale, sich mehrfach kreuzende Differenzen im Text: wie der Unterschied zwischen Reden und Schweigen, Verkünden und Geheimnis, Aussprechen und Scham, Öffentlichem und Privatem, und nicht zuletzt zwischen Kennen und Nicht-Kennen oder kognitiver und performativer Sprache. Um statt jemandes zu reden, muss man voraussetzen oder die Voraussetzung vortäuschen, dass man diese Person kennt. Um ihr sein Wort zu geben bzw. an ihr Vertrauen in dieses Wort, in seine Aufrichtigkeit, zu appellieren, setzt man voraus, dass man diese Person nicht restlos kennt.10 Kennte man sie im Sinne einer referenziellen Gewissheit (und nicht eines Glaubens), bräuchte man nicht nach ihrem Vertrauen zu rufen (den Glauben an dieses Vertrauen zu haben)11 – sei es, weil eine referenzielle, positivierbare Festigkeit gegeben ist, sei es, weil man nach Enttäuschungen sich auf negative Weise sicher ist, dass dieses Wort so oder so gebrochen wird. Das Wort zu geben, sei es im Schwur oder im Versprechen, und es somit zugleich vom anderen zu erhalten, der diesem Wort überhaupt Glauben zu schenken vermag – dieses Geben wird möglich, gar notwendig, nur von seiner potentiellen Gefährdung, also von der Lüge, vom Meineid her. Wenn hier die Unentscheidbarkeit von Sprache und Geheimnis, Wissen und Nicht-Wissen, Bekanntheit und Unbekanntheit, Fremdheit und Vertrautheit eine so starke Rolle spielt – ihr Zwischen ist ja der Ort des Gastes –, dann akzentuiert die Sprache des Gastes die performative Funktion, die ohne referenzielle und kontextuelle, gar konventionelle Absicherungen auskommen muss. Der Gast wird nicht einfach zum Gast, weil er an einem schönen Tag ankommt und man nun die Umstände dieser Ankunft und des Empfangens oder auch Ausstoßens mimetisch beschreiben kann, sondern weil mit ihm ein Sprachgeschehen (das zum Teil auch im Modus des Schweigens erfolgen kann) vonstatten geht, das gewissermaßen ohne konventionelle Begründungen und referenzielle Autoritäten (des Erzählens) 10 | Die Oszillation zwischen den Benennungen »Gustav« und »der Fremde« setzt genau diese Spannung in Szene. Sie wird womöglich noch einmal gedreht vom doppelten Eigennamen »Gustav« bzw. »August«, wie das seit Roland Reuß’ Entdeckung in der Fachliteratur immer wieder diskutiert wird. Was hier aber wichtig ist: auch die Interpretation kann der performativen Sichverpflichtung nicht entgehen, man sagt nämlich jeweils etwas anderes über die Figur und a fortiori über den Text aus, man bezeugt jemanden oder etwas anderes, verwendet man »Gustav« oder den Ausdruck »der Fremde«. 11 | »Vertrauen, als die Hypothese künftigen Verhaltens […] ist […] ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen. Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen.« Georg Simmel, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, in: ders., Soziologie, Frankfurt a.M. 1992, 393.
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stattfindet, ein starkes wie schwaches sprachliches Ereignis. Sogar ist der Gast selbst der Gast dieses Sprachereignisses, wie der Gastgeber auch, von hier aus werden sie zu Gästen (auch für einander), von diesem ihnen vorgängigen, ohne sie freilich nicht eintretenden sprachlichen Ereignis her. Daher insistieren die kulturwissenschaftlichen Interpretationen der Gastlichkeit auf der wechselseitigen Substitution, auf dem gegenseitigen Rollenwechsel von Gast und Gastgeber. Die Gastrolle meint hier zugleich die Funktion des Zeugen, der Gast des sprachlichen Ereignisses ist auch dessen Zeuge. Sowohl das Sprechen als auch die Erkennbarkeit werden von diesem Ereignis verschoben, im Weiteren soll also dessen Vorrang im Auge behalten werden. Die »Verlobung« repräsentiert somit einen prekären Sprechakt, ein Gelübde, ein gegenseitig gegebenes Wort, das außer dem personengebundenen Vertrauen und dem Versprechen (der Ausharrung) keine konventionelle Autorisierung erhält. Sie modelliert die sprachliche Problematik, die hier zentral ist. Gast zu sein in der Sprache – das meint hier die Suspendierung von referenziellen Konventionen und Autoritäten, von Pakten und Codes, ohne die die Sprache im Alltag gleichwohl nicht funktionieren kann. Gastlichkeit als Ausnahmezustand der Sprache – dieses Thema bezeugen auch andere Texte von Kleist (Die Marquise von O.; Der Findling). Bekanntlich gibt es keinen Gast oder keine Gastlichkeit ohne Gastgeschenk oder eine Art von Mitgift, generell ohne irgendeine Gabe – und das heißt, solche Sprachereignisse, die einer pragmatischen und konventionellen Grundlegung oder Geltung entbehren, sind als Gaben zu denken, die einen eigenen Ort, einen oikos, ein Zu-Hause oder gar einen Grund vermissen bzw. diese suspendieren. Den Gast gibt es streng genommen nur in einem Ausnahmezustand bzw. ruft der Gast zumindest potentiell einen solchen – hier vor allem – der Sprache hervor. Dieser setzt die Regeln der symbolischen Wiedererkennung außer Kraft, ferner auch Modelle des Sichverstehens, die von den Figuren praktiziert werden. Der Gast induziert die Krise des Selbstverständnisses, zugleich verschärft er sie auch, bringt sie überhaupt zum Vorschein – in dieser metaleptischen Konfiguration ist er sowohl Ankömmling als auch Wiedergänger in einem (wie in einem »déjà-vu«). Die Wiederkehr des Vergangenen – der eigenen Vergangenheit, über die man nicht verfügt (im Falle von Gustav gespendet durch den Tod des Anderen) – ereignet sich hier aus der Zukunft, im Modus des Versprechens der Gastlichkeit. So kann man sagen, gerade im Modus der erlebten Rede könne sich eine Fremdheit, ein Nicht-Wissen, eine Differenz oder Kluft – eine Art »Anakoluth« – auftun, die aber nicht von kognitiven Kurzschlüssen oder manipulativen Strategien verursacht wird, sondern vielmehr von der impliziten performativen Beschaffenheit der Narration herrührt (und in diesem Sinne weder einfach zur Geschichte – fabula, story, histoire – noch zur Erzählung – sujet, discourse, récit – gehört). Der Erzähler gibt sein Wort der Leserinstanz, zugleich den Figuren, indem er sie begleitet und bezeugt, für sie spricht (im doppelten Sinne des Wortes), zugleich sein Wort gewissermaßen von ihnen erhält.12 Es gibt Stellen in der Erzählung, wo die akolytische 12 | Zum Erzähler als »acolyte« vgl. Jacques Derrida, ›Le Parjure‹, Perhaps: Storytelling and Lying (›abrupt breaches of syntax‹), in: Carol Jacobs (Hg.), Acts of Narrative, Stanford 2003, 213-217, im Anschluss an J. Hillis Miller, The anacoluthic lie, in: ders., Reading Narrative, Norman 1998, 149-157. Zum Anakoluth bei Kleist s. Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche, in: ders., Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a.M. 31944, 296-298.
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Rolle des Erzählers ambivalent wird und ein implizites Anakoluth den Diskurs auftrennt, wo das Wort ohne Beglaubigung erscheinen kann. Wie man sieht, produziert die Ambivalenz der performativen Dimension des Sprechens verschiedene Besetzungen in referenziellem Sinne, die den Hiatus zwischen der konstativen und performativen Sprache resp. zwischen Handeln und Moral überbrücken sollen.13 Die Neutralisierung dieser Zäsur soll von der Berufung auf die transzendente Instanz, im Modus eines Eids, gesichert werden. Insgesamt kann man sagen, dass die providentiellen Bezugnahmen auf diesen Eid nicht einfach vom Sprecher wegweisen (auf transzendente Bereiche hin), sondern vor allem als ein Rufen nach einer Zeugenschaft ertönen, die die Wahrhaftigkeit des Gesagten beglaubigen möge. Der Diskurs des Fremden wird ab der Szene, in der er gleichsam Probefragen an das Mädchen stellt, im berichtenden Modus – also nicht mehr in indirekter Rede – wiedergegeben, der Erzähler geht auf Distanz zu ihm, was wohl der Eigenart des diskursiven Rituals entstammt, das hier vom Fremden ausgeübt wird. Gustav ist gewissermaßen ein Supplement seiner selbst, er trägt das Trauma der uneinholbaren Verantwortung (im Zuge der nicht-erwiderbaren Gabe des To13 | Dass hier diese Zäsur, die referenziell niemals unmittelbar zu gewährleistende Glaubwürdigkeit bzw. Wahrhaftigkeit und der Meineid, die Lüge, das falsche Zeugnis im Mittelpunkt stehen, bezeugen die beiden Binnenerzählungen, die gleichsam »mise en abyme«-Effekte vollziehen. Die Vorgeschichte, sogar die Gegenwart und die Zukunft von Babekan sind von einem falschen »Eidschwur« markiert, sie selber ist davon stigmatisiert, zum lebendigen Gedächtnis dieses Meineids gemacht. Etwas komplizierter ist dies in der Vorgeschichte von Gustav, in der wiederum ein öffentlich exekutierter Falschschwur die Hinrichtung seiner Braut Mariane veranlasst, wodurch sie ihm das Leben rettet: »Doch sie, die schon auf dem Gerüste der Guillotine stand, antwortete auf die Frage einiger Richter, denen ich unglücklicher Weise fremd sein musste, indem sie sich mit einem Blick, der mir unauslöschlich in die Seele geprägt ist, von mir abwandte: diesen Menschen kenne ich nicht!« (174) (Eine doppelte Fremdheit, sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten – unter Anspielung auf den biblischen Petrus.) Eine nicht-restituierbare, nicht zurückzugebende Gabe, das Geben des eigenen Todes als Rettung des Lebens des Anderen. Die Gabe als Trauma, das Trauma als Gabe – diese werden hier in einer Kreuzung der öffentlichen und privaten Aspekte des Sprechaktes verschränkt. Gustav als Lebendiger ist also (»unauslöschlich«) von diesem Meineid gezeichnet, sein bios, seine Lebensgeschichte trägt das Anakoluth des Eidbruchs und der durch diesen ermöglichten Gabe in sich, zugleich wird sein Narrativ überhaupt von diesem Bruch erzeugt. In diesem Sinne ist Gustav, »der Fremde«, ein Doppelgänger seiner selbst, er ist lebendig wie unlebendig, sich selbst der Bekannte wie der Unbekannte im Zuge dieses Falschschwurs (»diesen Menschen kenne ich nicht!«), der der Ermöglichungsgrund seiner Narration ist, zugleich aber auch ihre Blockierung, insofern er diese Szene nur noch reproduzieren und wiederholen kann. Nicht minder wichtig ist zugleich auch das Motiv der verspäteten Erkenntnis: »Sie starb, antwortete der Fremde, und ich lernte den Inbegriff aller Güte und Vortrefflichkeit erst mit ihrem Tode kennen.« Das vermeintliche Erkenntnismoment geht dem Schwur und dem von ihm implizierten Tod nach, es erfolgt nachträglich. Dieses Motiv nimmt evidenterweise die ungeheuere Tat von Gustav und die späte Realisierung seines Fehlers vorweg (der Zwangscharakter des Traumas, die Wiederholung, die Quasi-Notwendigkeit aus der Nachträglichkeit kommen in Ausdrücken wie »musste«, »Opfer haben musste« vor). Gleichwohl bringt er sich selbst auch um – er opfert sich nun doch, was ihm damals nicht gelungen ist.
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des von Mariane) als ein unsichtbares Stigma auf oder besser: in sich selbst. Sein Bedürfnis nach der Beichte ist nach seinem verkannten und gekappten Selbstaufopferungsversuch nur zu verständlich. Nicht zufällig ist die Erzählung seiner Vorgeschichte kein bloßer autobiographischer Bericht, sondern vielmehr eine Beichte, die gleichsam von Toni als wahrhaftigem Zeugen gegenzeichnet werden sollte.14 Gleichwohl meint er »eine wunderbare Ähnlichkeit« zwischen Mariane und Toni gemerkt zu haben, die als äußeres Merkmal wiederum für das Innere gelten sollte.15 D.h., seine Beichte wird von vornherein an sie als eine bestimmte Person mit vorweggenommenen Eigenschaften adressiert, indem er meint, den richtigen Zeugen für sein Bekenntnis gefunden zu haben. In dieser Kreuzung von Bekanntheit und Unbekanntheit nun auf der Seite Tonis ist der illokutiv-performative Wert der Erzählung von Gustav nicht mehr zu bestimmen, da sie auch Züge einer Rhetorik der Überzeugung an sich tragen und mobilisieren kann, um die Gegenzeichnung Tonis auch referenziell zu beeinflussen.16 Das falsche Zeugnis sucht also diese »Beichte« von vornherein heim, sie könnte ohne die Wahrnehmung oder Halluzination einer Vertrautheit (»Ähnlichkeit«) vielleicht gar nicht erfolgen. Das Vertrauen des Anderen in Anspruch zu nehmen scheint ohne eine referenzielle Illusion nicht möglich zu sein, zugleich entstellt diese Referenz von Anfang an die Wahrhaftigkeit des Geständnisses. Der Fremde nimmt Toni nämlich nicht nur als einen Zeugen, sondern gleich als potentielle Figur seiner eigenen Narration in Anspruch und diese referenzielle Gewalt nimmt evidenterweise seine sexuelle Offensive auf Toni vorweg (bis er dann ihr Leben nimmt). Dennoch sind seine Beweggründe für die sexuelle Tat höchst ambivalent. Handelt er hier wirklich absichtlich, sogar überlegt,17 oder gerät er in ein Geschehen hinein, dem keine vorgängigen »Überlegungen« vorangehen, wird also erst von jenem her auf diese geschlossen? So kopiert die Unentscheidbarkeit der Handlung diejenige der Sprechhandlung. Diese Mehrdeutigkeit stellt wiederum die Ambiguität des gegebenen Wortes dar.18 Des Wortes, 14 | In dieser Kreuzung der Rollen von Gastgeber und Gast wird die von Simmel erwähnte »Objektivität des Fremden«, also als Zeuge eine Art Dritter zu sein und sein Ohr dem Einheimischen zu leihen, hier umgekehrt, Toni wird zum Zeugen der Konfession Gustavs. Unter der »Objektivität des Fremden« versteht Simmel Folgendes: »dass ihm oft die überraschendsten Offenheiten und Konfessionen, bis zu dem Charakter der Beichte, entgegengebracht werden, die man jedem Nahestehenden sorgfältig vorenthält. Objektivität ist keineswegs NichtTeilnahme, − denn diese steht überhaupt jenseits von subjektivem und objektivem Verhalten – sondern eine positiv-besondre Art der Teilnahme …« Simmel, Das Geheimnis, 767. 15 | Diese, da allerdings noch »entfernte Ähnlichkeit« fällt ihm »schon bei seinem Eintritt in das Haus« auf, wobei »er noch selbst nicht recht [wusste] mit wem.« (172) Ein déjà-vu prägt seine Wahrnehmung bereits beim Betreten des gastgebenden Hauses. 16 | Dass dies in der Tat ambivalent bleibt, wird auf der szenischen Ebene durch die Unsichtbarkeit von Gustavs Gesicht angezeigt: »… sein Gesicht sehr gerührt in ein Tuch drückte«. (175) Das Gesicht Tonis ist nach der sexuellen Vereinigung ebenfalls nicht ganz sichtbar (Tränen). 17 | Zu diesem Unterschied vgl. John L. Austin, Drei Möglichkeiten, Tinte zu verschütten, in: ders., Gesammelte philosophische Aufsätze. Stuttgart 1986, 351-369. 18 | Die Aggressivität vieler – merkwürdigerweise männlicher – Interpretationen, dem Fremden eine wohlüberlegte Absicht zuzuschreiben, ist ein Symptom dieser abgründigen Ambivalenz der Ermittelbarkeit jeglicher Intention, ferner der doppeldeutige Aspekt, dass
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das nicht einmal als solches gegeben wird, um die eigenen Intentionen zu bezeugen: es kommt ja, seine Verlobung betreffend, nicht zur Erklärung seitens Gustavs an Babekan.19 Der (halb-)öffentliche Sprechakt an den Dritten verlautet nicht, Deklaration und Öffentlichkeit kommen nicht überein, gleichwohl ist der Dritte da, als Schwur- und als Erzählinstanz (s. weiter unten).20 ihm einmal die bloße Absicht, ein andermal die strategische Überlegung als »Ursprung« der Tat zugeschrieben wird. Diese Unklarheit verstärkt nur den Eindruck, dass die Interpreten die Ambivalenz der Geschichte nur so determinieren können, dass sie Gustav die Intention des Verführers zuschreiben. Die Schuldzuweisung an Gustav hat mindestens zwei Gründe: zum einen sind seine Absichten größtenteils unbekannt und die Determinierbarkeit seiner »Sprechakte« fraglich, zum anderen lässt sich dadurch die Geschichte, das Opfer ökonomisch – aufgrund der »Schuld« – erklären. Der Schuldzuweisung an Gustav – die die latent ökonomische Struktur der Auslegungen verrät (Suche nach dem Täter) – wurde am entschiedensten von zwei Leserinnen widersprochen (Stefanie Marx, Beispiele des Beispiellosen. Heinrich von Kleists Erzählungen ohne Moral, Würzburg 1994, 18-48; Christine Lubkoll, Soziale Experimente und ästhetische Ordnung. Kleists Literaturkonzept im Spannungsfeld von Klassizismus und Romantik, in: dies./Günter Oesterle (Hg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, Würzburg 2001, 119-135). Man kann im Grunde vor dem Liebesakt nicht entscheiden, ob Gustav eine aufrichtige Beichte ablegt oder ob er Toni dadurch »nur« verführen möchte. Die sprachlichen Handlungen bleiben zu ambivalent, um eindeutig bestimmen zu können, ob Gustav hier in existentiellem oder instrumentellem Sinne handelt. Handelte es sich nur um einen Verführungsakt, so könnte man seine furchtbare Tat, die Ermordung von Toni, vor allem aber seinen Selbstmord, nicht erklären. »Misstrauen« als Drama legt hier sowieso einen veränderten Code der Liebessemantik nahe: die Figur des Verführers war noch im 18. Jh. für die Liebe emblematisch, zu der Zeit Kleists sind vielmehr die »Inkommunikabilität« und die »romantische Liebe« charaktergebend für Liebe »als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium«. S. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1982, 153-182. 19 | (Wie beim Grafen in Die Marquise von O.) Austin stellt die problematische Verifizierbarkeit der Absichten durch die Deklaration gerade am Heiratsantrag fest: »Oder, wir bitten den jungen Mann, der unserer Tochter Aufmerksamkeiten erweist, seine Absichten zu erklären. Was sind seine Absichten? Sind seine Absichten ehrbar? Würde es hier einen Unterschied machen, wenn wir ihn fragten, was der Zweck seiner Aufmerksamkeiten sei, ob er es auf einen bestimmten Zweck abgesehen habe, ob er etwas damit bezwecke oder einen Zweck im Auge habe? Dies läßt sein Verhalten eher berechnend erscheinen und stellt ihn als Abenteurer oder Verführer hin. Heißt das jetzt nicht, er solle eine geheime Schuld preisgeben, statt daß wir ihn bitten, seine Position – in seinem eigenen Interesse vielleicht ebenso wie in unserem – klarzustellen?« Austin, Drei Möglichkeiten, 355-356. Zu den »inneren Akten« bei Austin vgl. übrigens Bahr, Die Sprache des Gastes, 151. 20 | Das Moment der Halluzination, des »déjà-vu«, kommt auch auf der diskursiven Ebene der Narration vor und verkompliziert die Interpretierbarkeit der Szene. Der Fremde nähert sich Toni immer mehr und kurz nach der Befragungsszene liest man: »Der Fremde, von ihrer Anmut und Lieblichkeit gerührt, nannte sie sein liebes Mädchen, und schloß sie, wie durch göttliche Hand von jeder Sorge erlöst, in seine Arme. Es war ihm unmöglich zu glauben, dass alle diese Bewegungen, die er an ihr wahrnahm, der bloße elende Ausdruck einer kalten und grässlichen Verräterei sein sollten.« (173, Hervorh. CsL) Hier ist die Perspektive, die
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Wenn es sich um einen transzendenten Zeugen handelt, dann ist die Intimität der beiden gekappt, der Dritte ist da – der Erzähler oder der Besitzer der »göttlichen Hand« (oder sogar beide). Die Sprache der transzendenten Autorität spielt hier auf mehreren Ebenen eine Rolle: In der Selbstwahrnehmung des Fremden könnte sie eine Quasi-Halluzination konnotieren (bald kommt er auf die »Ähnlichkeit« zurück), zugleich die Bewahrheitung seines (bevorstehenden) Geständnisses – und auf der Erzählebene die (eigene) Beglaubigung des Erzählers, dessen Zuverlässigkeit auch nicht über alle Zweifel erhaben ist.21 Auf der inhaltlichen Ebene – doch Zuordnung des hervorgehobenen Nebensatzes nicht zu entscheiden. Ist das eine Aussage von Gustav, besser: vom »Fremden« – schließlich ging ihr das »nannte« fast unmittelbar voraus –, oder ist das nur sein Bewusstseinsinhalt – oder ein Kommentar des Erzählers? Die indirekte Rede und der transzendente Bezug würde den Satz auf den Fremden, auf seinen providenziellen Diskurs referieren lassen, doch ist dies keine gewöhnliche Figurenwahrnehmung und könnte mithin auch als Zusatz des Erzählers gelesen werden (die grammatische Struktur des Satzes erlaubt es, den Nebensatz auch auf Toni zu beziehen). Dieser scheint gewissermaßen der Sprache des Fremden zu verfallen, sich für ihn zu substituieren (die epische Distanz wird nicht gewahrt). Gehört dieser Nebensatz also zum Erzähldiskurs oder zur erzählten Geschichte? Da es im nächsten Satz auch um den Glauben geht, wird der Status der »göttlichen Hand« denkbar verkompliziert: sie sollte gleichsam für den inneren Glauben einstehen, diesen beglaubigen, sei es als impliziter Schwur des Erzählers oder des Fremden. (Kurz vorher las man, noch lange vor der eigentlichen Schwurszene nach dem Liebesakt: »[E]r hätte, bis auf die Farbe, die ihm anstößig war, schwören mögen, dass er nie etwas Schöneres gesehen.« 172) Im ersten Fall, als Glaube Gustavs, wird aber die frühere Serie der Beteuerungen fortgesetzt bzw. wiederholt, die die Autorität des »Himmels« aufrufen und die eigentlich von Babekan stammen, wobei sie die Wendung »Ei, mein Himmel!« auch als bloße Redezutat gebraucht oder aber gerade als falsches Zeugnis eingesetzt haben könnte und sie vom Fremden fehlgelesen wird. In der Berufung auf die »göttliche Hand« wird der Glaube als solcher erzeugt (»von jeder Sorge erlöst«), der aber potentiell Selbstlüge ist, und zwar nicht einfach wegen der bösen Absicht der Gastgeberinnen, sondern weil Gustav sie von einer transzendentalen Autorität abhängig macht (und dadurch den intimen Rahmen sprengt, was wiederum Meineid impliziert). Wenn der Status dieser Bemerkung zwischen reell vollzogener Äußerung und bloßem Glauben schwankt, so deswegen, weil ihr z.B. vom Erzähler wohl kein Glaube geschenkt wird. Dennoch kann das auch eine Zwischenbemerkung des Erzählers sein, er zeichnet gewissermaßen jene gegen, und folglich ist er entweder an der Selbstlüge von Gustav beteiligt oder bezeugt ihn auf unwahrhaftige Weise. Unschwer zu erkennen, dass dieser ambivalente Status des Wortes die aporetische Konstellation der »Verlobung« wiederholt oder kopiert bzw. vorwegnimmt. 21 | Es ist zweifelhaft, ob man solche Unentscheidbarkeiten durch die »Gemeinsamkeit von Erzähler und Rezipient« heilen kann, wie dies Reuß annimmt (Roland Reuß, ›Die Verlobung in St. Domingo‹ – eine Einführung in Kleists Erzählen, in: Anton Philipp Knittel/Inka Kording [Hg.], Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2009, 74). Sonst stellt man den Leser in die Position jener Autorität, die den prekären Status der quasi-performativen Momente im Text beglaubigt und autorisiert oder gar eine Brüderlichkeit mit dem Erzähler voraussetzt. (Vgl. dagegen den Vorschlag, Gustav für den Leser – oder umgekehrt – zu substituieren bei Timothy J. Mehigan, Text as contract. The nature and function of narrative discourse in the Erzählungen of Heinrich von Kleist, Frankfurt a.M. 1988, 222. S. vor allem die differenzierte Deutung bei Moser über die ambivalente Rolle des Lesers »als Ankläger«:
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können hier »Inhalt« und »Sprache« bzw. histoire und récit noch getrennt werden? – präfiguriert diese Verschränkung von Figurenwahrnehmung und Erzählstimme die Verbindung zwischen Intimität und dem Dritten, die für die Struktur der Verlobung konstitutiv ist.22 Diese Art von Diskursführung lässt sich als sprachlicher Anlass der potentiellen Verlobung interpretieren, wie das im abrupten Verlassen der infradiegetischen Ebene erscheint. Dem Anderen – sei es das Du oder die Erzählinstanz – wird hier gleichsam ein Doppeltes aufgebürdet, das doch dasselbe meint: das Bekenntnis zu beglaubigen und die problematische Identität des Bekennenden wiederherzustellen, d.h. nicht nur die Kontinuität zwischen Intention und Sprechakt zu sichern, sondern den inneren Akt als solchen zu identifizieren. Dies geschieht jedoch erst über den Sprechakt, über das Versprechen, den man als solchen nur mithilfe einer Konvention oder eines Kontraktes identifizieren und stabilisieren kann.23 So tritt der Kontrakt als Sprachmuster aus diesem Grund auf den Plan: wo übersinnliche Instanzen und auch die Aufrichtigkeit gescheitert sind, übernimmt der Kontrakt – auch als Friedensschließung – die regulierende Funktion.24 Der Kontrakt wiederum Verfehlte Gefühle, 193-198.) Die Analyse des problematischen Charakters der Gemeinschaftsstiftung weiter oben gilt für das angebliche Kollektiv von Erzähler und Leser (für ihr gegenseitiges Zu-Gast-Sein) erst recht. Der Vertrag zwischen Erzähler und Leser ist nicht unbedingt gesicherter als die »Verlobung«. Ähnlich problematisch – im Zeichen des (bei ihnen buchstäblichen) Autorisierungszwanges – argumentieren Jochen Schmidt und Gernot Müller, die den fragwürdigen Erzähler, die Ambivalenz der »Unzuverlässigkeit« mittels Autorprinzip heilen, die Brüderschaft zwischen Autor und Leser auf Kosten des Erzählers bemühen möchten (Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist, Darmstadt 2003; Gernot Müller, Prolegomena zur Konzeptualisierung unzuverlässigen Erzählens im Werk Heinrich von Kleists, in: Studia Neophilologica 77 [2005], 41-70). Die abgründige Unzuverlässigkeit des Erzählers soll »vom Autor strategisch eingesetzt« (Müller, ebd. 60.) werden! Das kann man freilich nur tun, indem man »Unzuverlässigkeit« nur auf die Attributionen der Protagonisten seitens des Erzählers beschränkt, sie letztlich mimetisch versteht. 22 | In den Worten von Gerhard Neumann: Die Verlobung ist »das Paradigma eines bastardisierten Kontrakts; weder ganz heimlich noch ganz öffentlich vollzogen, weder nur intim noch ganz offiziell zu verstehen und sozial zu funktionalisieren.« Gerhard Neumann, Anekdote und Novelle: Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists, in: Anton Philipp Knittel/Inka Kording (Hg.), Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2009, 181. 23 | In der »Rache des Himmels« (171) wird die Zeitverkürzung im Sinne der Apokalypse anvisiert, das Versprechen von Gustav an Toni stellt auch eine säkularisierte Zeitbeschleunigung dar, die hauptsächlich im Interesse des (autonomen) Handelns steht. Nach dem Kantschen Schema: Die Moral verkörpert jenes Versprechen, das Handeln zu seinem Ziele führen zu können/sollen (vgl. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, 191-192; 204-205). Gustav gibt Toni die Zeit durch sein Versprechen, indem er sie ihr auch nimmt und jenes Warten aufhebt (durch das Handeln und die »Verlobung« in der gemessenen Zeit), das einer Gabe ohne Kontrakt entspräche. 24 | Durch den Kontrakt als paradigmatisches Modell wird auch das Nicht-Kennen des Anderen eingeräumt. Zugleich werden die Teilnehmer als Rechtssubjekte vom Vertrag inauguriert, aber auch schon vorausgesetzt, wie in einem halluzinatorischen déjà-vu (hierzu vgl. Ekkehard Zeeb, Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte. Ausschreitungen
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ist aber rechts- und öffentlichkeitsbedingt und basiert auf der Restituierung der »Schuld« und der Identifizierung des »Täters«, die – wie die »Tat« – erst durch den Kontrakt erzeugt bzw. kenntlich gemacht werden. Wenn übersinnliche Instanzen der Aufrichtigkeit verloren gegangen sind, ist man vor dem Meineid nicht gefeit, die noch so sehr beteuerte Gemeinschaftlichkeit (auch im Sinne der »Menschheit« und »Menschlichkeit«) wird brüchig, und so ist der (potentielle) Feind da (der zum »Unmenschen« gestempelt wird).25 Der Meineid ist nicht zu rechtfertigen, zugleich birgt der Ausfall der übersinnlichen, aber dann auch der rechtlichen Instanzen den Meineid in sich.26 Die Feindschaft kann im (vermeintlichen) Meineid folglich auch einen sprachlichen Grund (Verknüpfung von Täter und Tat, gar Erzeugung der Letzteren) haben, und so ist auch weniger zu berechnen, wie dem »Misstrauen« Gustavs die Opferung Tonis entspringt. Der Kontrakt ist hier sowohl ökonomischzukunftsorientiert als auch als Friedensschließung zu verstehen (eine metaleptische Struktur), er soll jedoch auf einer tieferen Ebene den sprachlichen Akt als solchen ausweisen. Dem Versprechen ist der Kontrakt gewissermaßen inhärent, insofern in ihm die Identifizierung der Tat und des Täters erfolgt. Das Nicht-Kennen meint radikaler gefasst nicht einfach die Unkenntnis der Intentionen des Anderen – sie sind auch für diesen selbst nicht einfach da –, sondern die Unkenntlichkeit des sprachlichen Aktes. Dieser als Handlung lässt sich nur erkennen, insofern er eine Konvention, gar einen Kontrakt erfordert, um als solche identifiziert zu werden.27 In kompensatorischer Wendung zum Nicht-Kennen, der Ambiguität, wird des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists, Würzburg 1995, 179-180). Hinter dem bei Kleist so dominanten Vertragsmodell stehen ideen- und rechtsgeschichtlich gesehen eine epochale und eine »lokalere« Tendenz: die Vertragskonzepte des Naturrechts, die alle transzendentalen bzw. tradierten Legitimationsgrößen brüchig werden ließen, ferner der »Rechtswandel von Haus und Familie« in Preußen, in dem ihre ständische Begründung in die individualisierende »häusliche Gesellschaft« überführt wurde, »hinter der […] die Vertragsfigur [steht]«. Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, 471. 25 | Zu deren ideengeschichtlichen Hintergründen zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie vgl. Marquard: »… angesichts des perennierenden Übels auf der Suche nach dem anderen Täter entdeckt die Geschichtsphilosophie, indem sie von Gott nicht mehr spricht und von der Natur nicht mehr sprechen will, von den Menschen aber sprechen muß, als entscheidende Figur die anderen, die das menschlich gewollte Gute verhindernden Menschen: also die Gegner, die Feinde. […] Die Geschichtsphilosophie: sie hat die Pflicht zum Gottesbeweis durch die Pflicht zum Feindesbeweis ersetzt, das Proslogion durch das Kapital, die Theodizee durch die Revolution, die mißlingende Theodizee durch den Bürgerkrieg.« Odo Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973, 78-80. Zu den »asymmetrischen Gegenbegriffen« vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 244-259, der Hinweis auf Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Werkausgabe Band XI, 247. 26 | Die impulsivste Empörung des Fremden galt ja dem falschen Versprechen: »daß, nach dem Gefühl seiner Seele, keine Tyrannei, die die Weißen je verübt, einen Verrat, so niederträchtig und abscheulich, rechtfertigen könne. Die Rache des Himmels …« (170-171). 27 | Der »Vertrag« soll hier die Handlung bzw. ihre Intentionalität wieder herstellen – dass jedoch gerade dieser »Vertrag« sich im Text von Kleist entzieht oder unkenntlich/unerkennbar bleibt, kann als seine metareflexive Pointe gelten. (Zur Problematik der Erzeugung von »Tat«
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so die Erkennbarkeit des Aktes als Handlung, als »Tat«, postuliert. (Nichts anderes geschieht heute in den »Performanztheorien«.) Die Grenzen genau dieser Kompensation und ihrer ideologischen Wurzel werden jedoch bei Kleist aufgezeigt.28 Gastfreundschaft kann laut Kleist keine »Handlung« und weder auf Aktivität noch auf Passivität abzuwälzen sein. Das Nicht-Kennen meint folglich ein Nicht-Wissen als Geheimnis, »die Erfahrung eines Geheimnisses ohne Tiefe, eines Geheimnisses ohne Geheimnis«,29 das sich erst in einer Öffnung ergibt (wie ein »déjà-vu«) und sich jenseits der dialektischen Struktur von Öffnung und Verschließung, im Empfang des Gastes, konstituiert. Hier ist der Gastgeber kein Besitzer seines Hauses mehr. (Die unentscheidbaren Kreuzungen von indirekter Rede und Erzähldiskurs produzieren auch solche Geheimniseffekte.) Der berühmte Wechsel auf die extradiegetische Ebene – »Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest.« – statuiert nämlich den Leser als Zeugen und Dritten (»testis«/»terstis«) in der Szene der beiden Figuren, wobei seine Beteiligung, mit Nachdruck vermittelt, höchstens imaginativ ist (so wie die Zeugenschaft Tonis bei Hoangos nächtlicher Rückkehr).30 Im Augenblick des privatesten, geheimnisvollsten Geschehens meldet – zur Etablierung einer Beziehung zwischen Handeln und Bewusstsein, die zur postulierten »moralischen Identität« unerlässlich ist – in anderen Texten von Kleist, vor allem in Das Bettelweib von Locarno, der mehrere Ähnlichkeiten zur Verlobung aufweist, vgl. Moser, Verfehlte Gefühle, 189; 194-198.) Ganz wichtig ist festzustellen, dass Gustavs »Tat« – die öffentliche Beschimpfung des »furchtbaren Revolutionstribunals« (174) – erst später zur »Tat« im Sinne der »Schuld« wird, nämlich im Zuge der (vom selben Tribunal veranlassten) Exekution seiner Verlobten. 28 | Wie das Kommerell – in der besten Studie zu Kleist bis heute – auf den Punkt brachte: »Man kann verhören über das, was jemand tat, nicht über das, was jemand ist.« Die Sprache und das Unaussprechliche, 247. 29 | Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, 126. Vgl. Bahr: »Wie, wenn die Gastlichkeit das offene Geheimnis wäre, das sich nie offenbarte, weil es nie verborgen war?« Die Befremdlichkeit des Gastes, 56. 30 | Die Verschränkung von medialer Supplementierung und Zeit wird bei der Rückkehr Hoangos, die Toni im Gästezimmer aufschreckt, in signifikanter Weise reinszeniert und in den prinzipiellen Zusammenhang der Zeugenschaft übersetzt. Hier hört Toni die Worte Babekans, die Hoango von ihrem Verrat berichtet: »Sie versicherte dem Neger, dass das Mädchen eine Verräterin …« (184) Sie scheint nur durch das Hören Zeuge der Szene im Hof gewesen zu sein: »Sie stürzte, den Mondschein, der sie zu verraten drohte, sorgsam vermeidend [Hier meidet Toni das Licht – im Unterschied zur Empfangsszene –, das einen »verraten« kann. Ein subtiles Signal dafür, dass die Lesbarkeit im Zeichen der Phänomenalität, der Erscheinung nicht weniger problematisch ist als das Hören auf die Sprache.], hinter die Vorhänge des Fensters, und hörte auch schon die Mutter, welche dem Neger von allem, was während dessen vorgefallen war, auch von der Anwesenheit des europäischen Flüchtlings im Hause, Nachricht gab.« (Hervorh. CsL; hier steht Babekan in der Position des Erzählers). Es scheint, dass Toni nur durch das Hören im Geschehen involviert ist (eine Stellvertretung der Sinne: Hören statt Sehen, Sprache statt Wahrnehmung). Umso befremdender ist die Eröffnung der nächsten Sequenz, wo es heißt: »Toni, vor deren Augen sich, während weniger Minuten, dieser ganze Auftritt abgespielt hatte, stand, gelähmt an allen Gliedern, als ob sie ein Wetterstrahl getroffen hätte, da.« (184-185, Hervorh. CsL) Hat nun Toni den »Auftritt« nur gehört oder auch
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sich das am meisten Öffentliche – der gedruckte Text. Das Private gleitet gleichsam in den öffentlichen Raum, zumindest in die testimoniale Dimension, über, dem publizierten Text wird hingegen das Moment des Verschweigens, des Geheimnisses, eigen. Als Anakoluth unterstreicht diese Zwischenbemerkung umso mehr die Rolle ähnlicher potentieller Momente im Text, darunter das Beispiel der »göttlichen Hand«. Dabei bereitet dieses Anakoluth den abermaligen Wechsel in die indirekte Rede vor, in den Anschein der Distanzlosigkeit, wobei dadurch gerade gesehen? Hören und Sehen, Sprache und Erscheinung stehen hier in einem Konflikt, der der Spannung zwischen Erzählen und Berichten, indirekter und direkter Rede, Schwören und Sagen entspricht und diese modelliert. Ein »mise en abyme« des Erzählens als Zeugenschaft, die potentiell immer auch falscher Zeuge ist: Toni hört eigentlich der Erzählung Babekans zu (so wie sie Gustav im Spiegel zusieht). Der Zeuge wird von einer »Lähmung« ergriffen: Toni befindet sich nach dem Mitleid nun ein zweites Mal im Affekt, in der Furcht, hierzu s. Kant: »Im heftigen, plötzlich erregten Affekt (des Schrecks, des Zorns, auch wohl der Freude) ist der Mensch, wie man sagt, außer sich, (in einer Ekstasis, wenn man sich in einer Anschauung, die nicht die der Sinne ist, begriffen zu sein glaubt) seiner selbst nicht mächtig und für den Gebrauch äußerer Sinne einige Augenblicke gleichsam gelähmt.« (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Kants gesammelte Schriften, Hg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1907, 166). Die Zeugenschaft erfolgt nicht durch eine direkte Begegnung mit dem Zu-Bezeugenden, mit einem empirischen Bestand, sondern durch die Einbeziehung in sprachliche Ereignisse. In diesem Sinne könnte man hier lesen: »vor deren inneren Augen«. Wenn sie die Szene zu imaginieren genötigt ist, so ist das wiederum ein »déjà-vu«, wo sie die Worte hört, die eigentlich Bekanntes vergegenwärtigen, ohne aber die eigentliche Szene zu sehen. Dieses Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart (im »déjà-vu«) wird nochmals gewendet und virtuell in die Zukunft transponiert bzw. da wiederholt: »teils auch sah sie voraus, dass […] Zubodenstreckung unmittelbar sein Los würde.« (185, Hervorh. Cs.L.) Zugleich verbindet sich mit diesem Voraussehen auch eine »Rücksicht«: »Ja, die entsetzlichste Rücksicht, die sie zu nehmen genötigt war, war diese, dass der Unglückliche sie selbst […] für eine Verräterin halten […] würde.« (Hervorh. Cs.L.) Für eine Verräterin gehalten zu werden ist die schlimmere Angst, die zudem »unaussprechlich« ist (ebd.) – der also mit keinem Schwur zu entgegnen ist. Ein »déjà-vu« aus der Zukunft, die aber nicht einfach vorweggenommen, sondern vielmehr in der Gegenwart als Gegenwart erlebt wird und zugleich eine ganze (nicht nur narrative) Vergangenheit umschreibt (»Rücksicht«) – die zeitliche Struktur des (potentiellen) Meineids in der Gastlichkeit. – Gleich im selben Satz taucht wieder eine unentscheidbare Formel auf: »In dieser unaussprechlichen Angst fiel ihr ein Strick in die Augen, welcher, der Himmel weiß durch welchen Zufall, an dem Riegel der Wand hing. Gott selbst, meinte sie, indem sie ihn herabriß, hätte ihn zu ihrer und des Freundes Rettung dahin geführt.« (Hervorh. Cs.L.) Wieder ein expliziter Wahrnehmungsakt (»in die Augen«), der jedoch mit einem Kommentar versehen – und dadurch seiner konstativen Funktion (des bloßen Sehens) auch beraubt – wird, dessen sprachpragmatischer Ursprung ambivalent bleibt (stammt er vom Erzähler oder von Toni?), gleichwohl die bekannte Schwurformel vom Fremden heraufbeschwört. Die alltägliche Wendung »der Himmel weiß« wird bei Toni gleichsam wörtlich genommen – als Gegeneffekt zu ihrer »unaussprechlichen« Sorge, als Heilmittel für die performative Instabilität der Sprache (dass ihr Gustav kein Wort mehr glauben würde). Ferner zeigt diese Wendung an, dass die Verpfändung in der Geiselnahme gerade von der Berufung auf die transzendentale Autorität gesichert werden soll, die auch vom Erzähler herbeigerufen werden kann.
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der vermittelnde, »private« wie bezeugende Charakter der indirekten Rede hervorgehoben wird − jener Aspekt, in dem der Erzähler als »acolyte« agiert, als Begleiter oder Zeuge, der in einem Bund mit der Figur erscheint, zugleich diesen Bund referenziell, aber auch performativ nicht zu stabilisieren vermag, auch – und gerade –, wenn beide auf ein Glauben-Schenken angewiesen sind.31 Nach diesen Beobachtungen der sprachlich-thematischen Zusammenhänge der Gastlichkeit wird es nötig, sie zusammenfassend zu modellieren bzw. zu interpretieren. Um es kurz zu machen: Die Figur der Stellvertretung scheint hier auf allen Ebenen, d.h. zwischen den einzelnen Figuren wie zwischen den Figuren und dem Erzähler, bestimmend zu sein. Diese Stellvertretung spielt sich auf der Ebene der Sprache und der Subjektrollen ab, wo letztere als Geiseln positioniert werden. (Dieses Motiv tritt auch thematisch in der Geschichte auf, die erst durch das Pfand der Geisel zum Abschluss kommt.) Babekan und Toni geben zunächst vor, als Geiseln im Hause von Hoango zu sein, dabei wiederum ist (oder wird) letztlich Toni die Geisel der Verschwörung der Älteren. Die Szenen, in denen Babekan statt Toni, ihr die Worte aus dem Mund nehmend, spricht,32 führen ihr Geisel-Sein auf der Ebene der Sprachlichkeit auf. Gustav seinerseits versucht durch sein Geschenk als Liebespfand (zu diesem s. weiter unten), Toni als seine Geisel für die verlorene Mariane einzusetzen. Er verpfändet die (materiale) Erinnerung an Mariane, um Toni an sich zu binden und zuletzt über ihr Leben zu verfügen. Durch dieses Pfand wird gleichsam ihr Eid von ihr eingefordert (dies war bereits durch das probenhafte Befragen des Mädchens der Fall), der wiederum als Pfand fungiert. Nun ist aber Gustav selber (als bios) die Geisel der uneinholbaren Erinnerung und Verantwortung von Mariane – gezeichnet vom Trauma dieser Vergangenheit stellt sein Geisel-Sein seine Subjektivität als Subjekt dar, ist kein bloßes Attribut von ihm.33 Seine Geschichte mit Mariane ist ja eine der gekappten und wiederum geglückten, also verschobenen Stellvertretung: er kann sich nicht opfern für sie, sie sich aber 31 | Das Moment des unverbürgten, gleichwohl unumgänglichen Glauben-Schenkens wird ja explizit thematisiert (zusammen mit dem zahlreichen Gebrauch von »versicherte«), an der folgenden Stelle: »doch da sie […] ihrem Gedächtnis, mehrerer ähnlichen Vorfälle wegen, mißtraute: so blieb ihr zuletzt nichts übrig, als der Meinung, die ihr die Tochter geäußert, Glauben zu schenken.« (182) Das Glauben-Schenken muss also ohne das Gedächtnis referenzieller Grundlagen auskommen und das Misstrauen in die Referenz in Kauf nehmen können. 32 | »Der Fremde fragte sie: wie alt sie wäre? und wie ihre Vaterstadt hieße? worauf die Mutter das Wort nahm und ihm sagte …« (168); »›Schwerlich‹, versetzte die Alte …« (169); »›Es wird alles besorgt werden‹, fiel ihm die Alte ein …« (180); »Doch da dieser […] nichts hervorbrachte […] so nahm die Mutter das Wort …« (186) Die Figur von Babekan könnte durch diese Vertauschungen gewissermaßen die Allegorie des Erzählers darstellen (eine ironische Stellvertretung, ist ja Babekan die am wenigsten zuverlässige Figur in der Erzählung). Babekans sprachliches Weltbild der Stellvertretung ist auch in ihrer Benutzung eines Sprichworts zu beobachten, das ja meistens die eigenen Worte für eine referenzielle Gegebenheit gleichsam auf allegorische Weise ersetzt. »Die Mutter sagte mit einem Seufzer: ›mein Kind, der Gebrannte scheut, nach dem Sprichwort, das Feuer.‹« (167-168) 33 | S. die Ausführungen Derridas über den engen Zusammenhang von Subjekt, Gastgeber und Geisel bei Lévinas, wo auch das Traumatische mehrmals den Konnex dieser Zusammenhänge bildet. Adieu, 77-80.
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für ihn, sie stirbt an seiner Stelle. Er trägt ihren Tod in sich, in seinem Leben, das er für den ersteren erhielt. Das alles wird durch einen Falschschwur verursacht, dessen Bedingung das Nicht-Kennen darstellt. Es ist nicht auszumachen – ebenso wenig wie das Original eines »déjà-vu« –, ob die Erinnerung an Mariane erst in der Begegnung mit Toni stark wird oder ob sie von vornherein aktiv war und nach einer stellvertretenden Besetzung suchte.34 Gleiches gilt für die Entscheidung zwischen Beichte und bloßer Erzählung. Jedenfalls kehrt für ihn in der Gestalt Tonis die verlorene Mariane wieder. Als Tonis Gast nimmt er sie unterschwellig als Geisel in Anspruch, zugleich ist er auch ihre Geisel (inszeniert in der Fesselung im Bett), nicht nur im Sinne der Gefahren im Haus, sondern ursprünglicher in der Annahme seines Geständnisses (auch seiner Entschuldigung nach dem vom Erzähler ausgesparten Akt) und der angebotenen/erwarteten Verlobung. In diesem Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart, gegebenem und erwarteten Wort, Entschuldigung und Versprechen wird die »Verlobung« in der Tat zum zentralen Interpretanten (nicht nur) der Handlung. Insofern Gustav die Rolle Tonis als Geisel durch ihr Töten gewissermaßen erst vollendet hat, sich dabei aber an den potentiellen »Eidschwur« erinnert, der gerade ihn (als eine Art Geisel) band, so erscheint es konsequent, sich selbst dabei auch umzubringen. Damit schreibt man aber die Kausalität in die Handlung wieder ein, wohlgemerkt durch eine performative Operation oder mit performativem Effekt, insofern man dadurch den Selbstmord Gustavs entschuldigt. Freilich so, dass man ihn auch für schuldig befindet oder befand und dann seiner Schuld gleichsam enthebt. Als Leser verfügt man über Gustav in derselben Weise, wie er über Toni verfügte – eine weitere Warnung, in der Leserfigur nicht unbedingt die heilende Instanz der sprachlichen Ambivalenzen sehen zu wollen. Vor der verzweigten Struktur der Stellvertretung ist auch der Erzähler nicht gefeit: wie an einigen Beispielen zu sehen war, agiert er grundsätzlich als Substitut für die Wahrnehmung, Gedanken und Sprache der Figuren. Er wird vom textuellen Geschehen, von dem Spiel der Stellvertretungen in der Gastlichkeit, erfasst, daher kann er kein konsequentes Erzählverhalten entwickeln bzw. ausführen. Auch das berühmte Spiel mit dem Namen Gustav vs. August macht nur die abgründige Ambivalenz der Differenz »Gustav«–»der Fremde« expliziter. Das merkwürdige Spiel des Namen und das Namenlosen könnte den Gegenstand einer detaillierten Analyse darstellen, hier genügt es vielleicht darauf hinzuweisen, dass der Name »Gustav« im Grunde als Katachrese funktioniert, die statt des sich der Benennung auch entziehenden »Fremden« steht (und somit auf einer primären Ebene der den ganzen Text durchwebenden Prozesse und Muster der Stellvertretung situiert wird). Das wechselseitige Verhältnis von Vertrautheit und Fremdheit in der Gastlichkeit, also der Zwischenstatus des Gastes, wird markiert von der Spannung zwischen dem vom Namen, von der Benennung, gesetzten Paradigmatischen und 34 | Diese Frage hat Konsequenzen für die Narrativierbarkeit – die Etablierung der »kausalen« Bezüge – dieser »Geschichte« überhaupt. Das von Babekan zitierte Sprichwort – »der Gebrannte scheut das Feuer« – interpretiert übrigens das Schicksal Gustavs: nach einem so folgenreichen Falschschwur möchte er gleichsam zwanghaft vor den Intentionen seiner Gastgeberinnen sicher sein. Andererseits verfällt er aber genau der Wiederholung, indem er Toni für Mariane eintauschen möchte. Nicht-Wiederholung und Wiederholung sind zur gleichen Zeit im Spiel.
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der Andersheit oder Kraft der über die Person oder Personalität auch hinausgehenden Namenlosigkeit. So kann die katachretische Operation der Benennung auch performativ aufgefasst werden, die zwischen der Singularisierung des Gastes und seiner Einschreibung in ein semiotisches System oszilliert und genausosehr schwer zu fassen ist wie andere ähnliche Effekte im Text. So wird nämlich die Engführung von erzählender und berichtender Rede von einem diegetischen Problem zum Dilemma der Interpretation: wen bezeugt man hier, Gustav oder den Fremden? Die beiden Benennungen haben nicht dieselben Implikationen. Wem gewährt man also Gastfreundschaft in der Auslegung? Dem unbekannten »Fremden« oder dem quasi-bekannten Gustav? So verpflichtet sich auch die Interpretation jeweils dem »Fremden« oder »Gustav«, was natürlich nicht dasselbe ist und weitreichende Implikationen für die Deutung hat. Denn Gustav mit seinem bios, mit seiner Vorgeschichte zu identifizieren, würde ihn als bekanntes Subjekt setzen (und dem Textgeflecht dabei wohlgemerkt ein kausales, zeitdeterminierendes Muster mit all seinen performativen Folgen einschreiben) – die Bezeichnung »der Fremde« deutet aber darauf hin, dass er trotz dieses Sinnangebots doch fremd bleibt, aus seiner – im »déjà-vu« gewissermaßen nur potentiellen! – Vorgeschichte also nicht restlos zu erklären ist; eher treibt die Fremdbegegnung diese Erinnerung hervor. In diesem Spiel zwischen Vertrautheit und Fremdheit, Namen und Namenlosen ist also Gustav–der Fremde ein Gast. Die weiter oben erwähnten unvermeidlichen Fragen des Interpretierens – Für wen legt man jeweils Zeugnis ab: für den »Fremden« oder für Gustav? – machen auf die Grenzen der Metasprache aufmerksam, die laut maßgeblichen Theoretikern eine Grundvoraussetzung der Einsicht in die Gastfreundschaft ist.35 Zwischen Metasprache und Verbrüderung (von Erzähler und Leser) als zwei Polen36 wären also die Wege einer gerechten, freilich sowohl möglichen wie unmöglichen Bezeugung des Gastes oder der Gastlichkeit zu verorten. Die Strukturen der Stellvertretung im Geisel-Sein werden dadurch möglich, dass die performative Funktion der Sprache, die hier im Mittelpunkt steht,37 35 | Vgl. Bahr, Die Sprache des Gastes, 21. Jacques Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen, München, 133. Bei Lévinas stehen »Gastlichkeit« und »Thematisierung« in Spannung, vgl. Derrida, Adieu, 41. 36 | Diese beiden haben wohlgemerkt auch eine prinzipielle Gemeinsamkeit (wie so oft die beiden Glieder scheinbar so starrer Oppositionen): beide basieren auf dem erkenntnistheoretischen Paradigma, auf einem Vorrang des Wissens. 37 | Spätestens hier fällt die Partialität einer der besten Analysen zu Kleist im Allgemeinen und zur »Verlobung« im Besonderen auf, des Aufsatzes von Gerhard Neumann, der die Problematik der Erzählung lediglich im Wahrnehmungsproblem, im »Kennen« bzw. »Verkennen«, der »Erkundung«, letztlich also epistemologisch-kognitiv sieht (vgl. Anekdote und Novelle). Seine Arbeit kommt ohne die geringste Bezugnahme auf den Komplex um den »Eid«, »Wahrhaftigkeit«, »Vertrauen«, »Glauben-Schenken« aus, der bereits von Anthony Stephens in seiner zentralen Rolle erkannt wurde (vgl. Anthony Stephens, ›Eine Träne auf den Brief‹. Zum Status der Ausdrucksformen in Kleists Erzählungen, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), 331-334). Immerhin zitiert Neumann eine Briefstelle von Kleist (Anekdote und Novelle, 201), in der genau das Problem des Kredits im Vordergrund steht, nicht einfach die Frage der referenziellen Gewissheit, wie von Neumann suggeriert wird: »Daher kann ein Wechsler die Echtheit der Banknote, die sein Vermögen sichern soll, nicht
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selbst diese Figuration produziert: der Andere, der dem gegebenen Wort Glauben schenkt, wird dadurch zu dessen Geisel.38 Und auch umgekehrt: das gegebene Wort kommt ohne die Gegenzeichnung des Anderen nicht aus (sonst gelingt es von vornherein nicht), folglich ist es selbst gewissermaßen Geisel des Anderen. Dieses Geiselnehmen ist die Figuration der Performativität, die auch den Feind oder den Gegenbegriff setzt. Wenn man den Anderen nicht ganz kennen kann und die Möglichkeit des Betrugs potentiell immer besteht (dieser grundsätzliche Sachverhalt wird in der Gastlichkeit verschärft), so lässt sich von diesem Aspekt des Glaubens, des Vertrauens, folglich der Geisel (in) der Sprache nicht absehen. Wenn also Babekan statt Toni spricht, tut sie dies vielleicht nur, weil sie selber sich Toni betreffend nicht ganz sicher ist. Auch die Vortäuschung des Kennens des Anderen als Effekt der Rhetorik der Überzeugung versucht, die Unsicherheit der performativen Funktion auszugleichen, nicht einfach den Anderen zu beherrschen (wobei die beiden gewissermaßen das Gleiche meinen). Dieses Nicht-Kennen kommt auch im zeitlichen Index der sprachlichen Geiselnahme zum Vorschein: es produziert das Versprechen, das den Anderen in der Annahme dieses Versprechens bindet (als Liebesgeschenk gar zum Pfand wird). Das Versprechen statuiert in der eigenen Schuld den Anderen auch als Geisel, die diese Schuld erwartet. Die Stellvertretung im Versprechen als Geiselnahme macht jedoch auch den Versprechenden zur Geisel – exponiert in der Figuration des Kontraktes, der zugleich auch die Gegenreaktion zur Performativität des Geiselnehmens darstellt – und dies kann von ihm genauso wenig beherrscht werden (er verstrickt sich darin) wie vom Anderen. Daher wäre es verfehlt, Gustav als Subjekt, Toni als Objekt begreifen zu wollen, da diese Rollen sich auch umkehren (vgl. die Fesselung von Gustav im Bett). Ein Chiasmus (de-)strukturiert somit ihr Verhältnis und die Geschichte: Gustav nimmt Toni beim (eigentlich nicht gesagten) Wort, interessanterweise aber infolge seiner Fesselung, also der Quasi-Geiselnahme. Gerade das Beim-Wort-Nehmen des Anderen (in der Stellvertretung) übt Verrat an diesem, an seinem Versprechen. Gustav wendet das auf Toni zurück (sie soll Verrat begangen haben), somit ist er eigentlich sein eigener falscher Zeuge, er übt Verrat auch an sich selbst. Dieser Chiasmus wird auch im Doppeltöten exekutiert: somit ist Gustavs Selbstmord sowohl konsequent als auch sinnlos, da er u.a. den Begriff des Feindes auf sich selbst überträgt (keine Selbstopferung, wie er das für Mariane versuchte).39 Vielleicht erkennt er nicht ängstlicher untersuchen als ich Deine Seele.« (Brief an Wilhelmine von Zenge vom 11. Januar 1801) Überhaupt fallen wichtige Momente wie »Ohnmacht«, »Rührung«, »Scham« usw. wegen der einseitigen Betonung des epistemologischen Orientierungsproblems der Kleistschen Protagonisten unter den Tisch, wie das Stehen am Fenster und das Hinausschauen (als Metaphern für die Orientierungssuche laut Neumann) von vielfältigen Verborgenheitsaspekten konterkariert werden, von der Unsichtbarkeit der Gesichter (in entscheidenden Situationen) bis zu der der Ereignisse. 38 | »Wer die fidēs besitzt, die ein Mann in ihn gesetzt hat, hält diesen Mann in seiner Gewalt. Deshalb wird fidēs beinahe gleichbedeutend mit diciō et potestās.« Emile Benveniste, Indoeuropäische Institutionen: Wortschatz, Geschichte, Funktionen. Frankfurt a.M. 1993, 97. 39 | »Der Selbstmord Gustavs besiegelt den seltsamen Pakt zwischen Gastgeberin und Gast und hebt ihn zugleich auf: Die Gastfreundschaft Tonis provoziert den eigenen Tod des Gastes, der sein Recht an ihr ausübt und so zu dem Feind wird, zu dem er bereits eingangs erklärt worden war.« Achim Geisenhanslüke, Hostilitäten. Literatur und Gastrecht bei Kleist,
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bloß, dass Toni ihm verbunden war, sondern dass er seine eigene Protogeschichte in der doppelten Nachträglichkeit der Verspätung wiederholte. Erkenntnis und Handlung können nur im Tode zusammenfallen, wobei ihr Ineinander auch im Geheimnis verbleibt, das gerade vom Tode versiegelt wird. Das Nicht-Kennen bezeichnet freilich nur auf negative Weise das ursprüngliche positive Moment des Gebens oder der Gabe (ohne Grund), die zugleich auch empfangen werden – vom Gebenden selbst. Wenn der Gast ohne irgendeine Gabe oder ein Beschenken kein Gast ist, sei er selber die Gabe – so ist eigentlich das NichtKennen (als Geheimnis) des Anderen die Möglichkeit und zugleich die Unmöglichkeit der Gabe. Gerade das prekäre Verhältnis von Nicht-Kennen und Geben ruft nach epistemologischen Programmen, nach Erkenntnisbestrebungen, nicht einfach die Unkenntlichkeit in sich. Denn: das Kennen des Anderen, des Beschenkten, zu wissen, was er/sie braucht, was seine/ihre Bedürfnisse sind (vgl. »häuslich« 172), wie seine/ihre vermeintlichen Sprechakte performativ-referenziell zu kontrollieren sind, würde niemals zu einer Gabe führen – diese wäre vielmehr ein falsches Zeugnis des Anderen.40 Das gegebene Wort ist auf das Glauben-Schenken angewiesen, es wird gleichsam vom Anderen (zurück-)gegeben. Das ist der sprachliche Grund der Stellvertretung von Gast und Gastgeber, der wesentlichen Struktur der Gastlichkeit. Die Stellvertretung kommt zumal bei Kleist auch dem Opfer nahe – ihr Verhältnis ist eine »gewaltige Frage«41 –, indem sie durch mehrfache Opfer zustande kommt bzw. diese impliziert. Eine weitere zeitliche Unentscheidbarkeit von Vor und Nach, Ursache und Folge: Nimmt die Stellvertretung im Geiselnehmen das Opfer, d.h. die Ökonomie, von vornherein in Anspruch oder ist das Letztere ihr kontingenter Effekt? Es ist möglich, dass Gustav Mariane nicht nur zu verdrängen versucht, sondern sie in der Stellvertretung auch besitzen oder sich wiederaneignen möchte. Die Ununterscheidbarkeit von Geiselnehmen und Opferung wird hier zum Problem. Kleists Erzählung gibt den doppelten Charakter des Opfers kund: seinen ökonomischen wie gewaltsamen Aspekt, in dem die beiden letztlich aufeinander verweisen. Sich dessen – der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens – vergewissern, in das Wissen, in die Wiedererkennbarkeit einführen zu wollen, was man nur empfangen kann, opfert genau dieses Zu-Empfangende.42 Die Stellvertretung im gegebenen Wort ohne transzendentale (oder öffentliche) Beglaubigungsinstanz impliziert das Opfer, wo dieses zugleich im Namen der – von Gustav in Anspruch geE.T.A. Hoffmann, Flaubert und Kafka, in: Peter Friedrich/Rolf Parr (Hg.), Gastlichkeit. Erkundungen einer Schwellensituation, Heidelberg 2009, 285. 40 | Kleists Essay Von der Überlegung. Eine Paradoxe lässt sich sehr wohl auf diese Problematik anwenden. Jede Erkenntnis der Gabe oder des Gebens kann nur nachträglich, als eine Figur erfolgen und jene (mit-)erzeugen. 41 | Derrida, Adieu, 169. 42 | »So findet etwa Gustav […] kein anderes Mittel, die moralische Wahrheit der ›Mestize‹ Toni in Erfahrung zu bringen – ›zu erprüfen, ob das Mädchen ein Herz habe oder nicht‹ (II, 172) –, als sie zu verführen und ihr im körperlichen Liebesakt die Unschuld zu nehmen, die er doch bewahrheiten möchte.« Christian Moser, Prüfungen der Unschuld: Kleist und Rousseau, in: Tim Mehigan (Hg.), Heinrich von Kleist und die Aufklärung, Rochester 2000, 107. Die Stellvertretung verwandelt sich im Mord buchstäblich ins Opfer: er opfert das Vertrauen, das er meint (zu wissen), nicht erhalten zu haben. Er opfert Toni für das verlorene Vertrauen (auch eine nachträgliche Stellvertretung) – eine gewaltsame Trauerarbeit.
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nommenen – transzendentalen Autorität auch zu legitimieren wäre. Wenn man die Gabe intentional versteht (in Sätzen wie »ich gebe«), so wird die Gabe latent – ökonomischen Mustern gehorchend – immer schon als Opfer gedacht, etwas, auf das man überlegt Verzicht tut. Die Intention zu geben opfert ebendiese Gabe selbst.43 Zusammenfassend kann man festhalten, dass Gustav das eigene Selbstverständnis mit sprachlichen Mitteln oder Verfahren aufrechterhalten möchte (z.B. Verhör),44 die gerade beim traumatischen Ereignis seines Lebens versagt haben. In diesem Sinne ist er im Grunde in eine Selbstlüge verstrickt, und zwar in doppeltem Sinne: insofern er meint, das Innere Tonis (ihre Gedanken, sogar ihre Bedürfnisse) zu kennen und sich dabei auch auf überpersönliche Instanzen berufen zu können, zweitens zu vermeinen, dass seine eigenen Sprechakte steuerbar sind (wobei er zwischen der Sprache der Rechtfertigung und der der Entschuldigung hin und her gerissen wird). Dabei waren beide Annahmen von seiner eigenen Vorgeschichte dementiert, gerade darin bestand seine Tragödie. In diesem Sinne kennt er nicht nur die Andere nicht, sondern nicht einmal sich selbst – dadurch fällt ihm die Rolle des Petrus (als des falschen Zeugen seiner selbst) in einem tiefgründigeren Sinne zu als Mariane, die den Falschschwur eher in formeller Hinsicht exekutiert.45 Daher ist er Wiedergänger in oder für sich selbst, situiert in einer double-bind auch in zeitlicher Hinsicht. So ist das Sprichwort »gebranntes Kind scheut das Feuer« in Bezug auf ihn sowohl wahr als auch falsch.46 Damit stellt sein Gast-Sein die Chan43 | Vgl. Derrida, Falschgeld, 21-30. 44 | Er stellt Toni die Frage, »ob sie wohl einer solchen Tat fähig wäre?« (170) Vgl. Kommerells prägnante Bemerkung zur Grenze des Verhörs: »Man kann verhören über das, was jemand tat, nicht über das, was jemand ist.« Die Sprache und das Unaussprechliche, 247. Zur Lüge bei Kleist, die vor allem eine Selbstlüge ist, noch bevor sie an andere herangetragen wird, vgl. ebd. 312-315. 45 | Die Priorität der Selbstlüge vor der an andere adressierten Lüge wird übrigens auch von Kant erkannt (freilich angesichts der Autorität des »Gewissens«), in der »Schlussanmerkung« zu seinem Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, nachdem er Probleme wie »Geständnis«, »Bekenntnis«, »Eid«, »Aufrichtigkeit« diskutierte: »Ich halte mich hier hauptsächlich an der tief im Verborgnen liegenden Unlauterkeit, da der Mensch sogar die innern Aussagen vor seinem eignen Gewissen zu verfälschen weiß. Um destoweniger darf die äußere Betrugsneigung befremden; es müßte denn dieses sein, daß, obzwar ein jeder von der Falschheit der Münze belehrt ist, mit der er Verkehr treibt, sie sich dennoch immer so gut im Umlaufe erhalten kann.« (Immanuel Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: ders., Werkausgabe Band XI, Frankfurt a.M. 1968, 123.) Das »Falschgeld« der Intention, der Äußerung, des Bekenntnisses – diese geben potentiell immer »Falschgeld« – mit der Selbstlüge in Verbindung zu setzen, kommt bei Derrida (vgl. Falschgeld) übrigens nicht vor, vgl. Hillis Miller, The anacoluthic lie, 154-156; ferner Zoltán KulcsárSzabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 330. Es könnte sein, dass die oben thematisierte Feindschaft gegen andere ihre Wurzeln vor allem in der Selbstlüge, im Nicht-Kennen seiner selbst (nicht nur der Anderen) hat. 46 | Dem Sprichwort eignet ein prognostischer Aussagewert, zugleich basiert es als Erfahrungssatz auf applikabler Wiederholung (vgl. Koselleck, Zeitschichten, 218-219). Dieses Sprichwort zieht aber gerade die Wiederholungsstruktur, »die Erwartung ähnlicher Fälle« (Kant, Anthropologie, 186), metafigurativ in Zweifel, es stellt sich selbst, seine sprachlich-
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ce für ihn dar, sein problematisches Selbstverständnis zu überwinden (Beichte) wie auch die Blockierung seiner sprachlichen Operativität (Scheitern des Verhörs). In einem tieferen Sinne wird er deshalb von »déjà-vu«-s heimgesucht. Gerade im Gast-Sein als einem Ineinander von Öffnen und Verschließen wird diese – sprachliche wie zeitliche – double-bind hervorgetrieben. Die Spannungen zwischen Bericht und Beichte im Diskurs vom Fremden suchen in der Verdopplung von Bericht und Zeugnis auch den Erzähldiskurs heim und sind Figuren nicht zuletzt einer zeitlichen Unentscheidbarkeit. Wenn der Bericht sich vor allem auf Vergangenes, vormalig Gewesenes bezieht, die Beichte aber auch auf emphatische Weise Gegenwart (als Versprechen der Wahrhaftigkeit) impliziert, so sind die Interpenetrationen zwischen den beiden auch temporaler Art. Sie produzieren in ihrer Verschränkung eine Art »déjà-vu«. Man kann sogar sagen, die Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede und die Aporien des Erzählers sind ein Signal dafür, dass die Protagonisten ihre eigenen Intentionen auch nicht restlos kennen und sich selbst verborgen bleiben. Wie zu sehen war, ist keineswegs ausgemacht, dass in der Vereinigung von Gustav und Toni nur die Machenschaft der Verführung zu sehen ist: Gustav ist Toni gegenüber vertrauensselig und misstrauisch zugleich (beides mehr als anderen Leuten gegenüber), er ist interessiert am Erkennen ihrer Persönlichkeit. Dies kann bereits als »Symptome« eines angehenden Verliebtseins gewertet werden, vor allem aber der Liebesakt als gewißheitsspendendes Moment in Bezug auf die Aufrichtigkeit des Mädchens (welches Moment sich im nachhinein freilich wiederum als brüchig erweisen kann und so mündet die Geschichte tatsächlich in einem erneuten »Mißtrauen«). Wo also das Vertrauen gewissermaßen hergestellt werden muss, da es nicht auf natürliche Weise gegeben ist. Nach dem Liebesakt als dem Sich-Geben Tonis kehrt die ganze Konstellation in die Ökonomie zurück bzw. wird diese gestärkt: Gustav schenkt ihr »das kleine goldene Kreuz, ein Geschenk der treuen Mariane, seiner abgeschiedenen Braut« (175).47 Eine Zirkulation der Gabe, die zwischen den beiden Narrativen vermittelt und die hier gleichsam zu einem Liebespfand wird, um das Gästeverhältnis umzukehren und Toni auf der Achse
anthropologische Fundierung in Frage. In diesem Sinne wird es – da seine prognostische Perspektive gleichwohl beibehalten bleibt – zu einer Art Versprechen, das ohne Rückbestätigung in der Wiederholung verbleibt, dieser indes ausgesetzt wird (wie ein Versprecher im Versprechen selbst). Dieses Versprechen ist dem narrativen Diskurs inhärent, zumal Babekan die Erzählerfigur repräsentieren kann, in einem Text, der die Kennzeichnung »moralische Erzählung« trug. Der moralisierende Prätext des Sprichworts wird durchgestrichen, aber auch bejaht; die Wiederholung kann unerwartet den Platz des Versprechens einnehmen, die erwartete Wiederholung kann in der Virtualität des Versprechens verharren. So nimmt das Versprechen – die »Ahndung« – den Platz der auf Kausalität basierenden »Vorhererwartung« ein (ebd. 187). Kant spricht kurz vorher von einer Art »Neujahresversprechen« oder Gelübde, dessen Bruch gerade mit der Wiederholung des Früheren, dem Rückfall in es, zusammenfällt (und als Selbstlüge erscheint). 47 | Eine doppelsinnige Beschreibung: Gustav bleibt mit dem Weiterschenken des ehemaligen Geschenks der »treuen« Mariane gerade nicht mehr treu, zugleich gibt er doch das, was ihm das Teuerste ist. (Zu diesem Punkt vgl. Michael Wetzel, Liebesgaben, in: ders./JeanMichael Rabaté (Hg.), Ethik der Gabe, München 1993, 223-247.)
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der Wiederholung seiner Vorgeschichte nun auch in seinen oikos einzuführen.48 Dieses Pfand macht sie auch auf der symbolischen Ebene zu seiner Geisel – Pfand und Geisel werden in der ökonomischen Struktur des Kontrakts miteinander verknüpft. Gerade dieses Besitzemblem nimmt zugleich ihre Tötung vorweg, die Opferung der Geisel.49 48 | »Er beschrieb ihr, welch ein kleines Eigentum, frei und unabhängig, er an den Ufern der Aar besitze; eine Wohnung, bequem und geräumig genug, sie und auch ihre Mutter, wenn ihr Alter die Reise zulasse, darin aufzunehmen; Felder, Gärten, Wiesen und Weinberge; und einen alten ehrwürdigen Vater, der sie dankbar und liebreich daselbst, weil sie seinen Sohn gerettet, empfangen würde.« (175) Das Versprechen wird hier nicht mehr von der transzendent-providentiellen Instanz, sondern von der Vaterfigur autorisiert, die die Familie vor allem ökonomisch zusammenhält (zum »Weg vom standespolitisch definierten Hausvater zum ökonomisch definierten Hausbesitzer« vgl. Koselleck, Begriffsgeschichten, 475). In der Familiarisierung wird auch das Kennen des Anderen erzeugt oder garantiert. 49 | »Er nahm sich das kleine goldene Kreuz […] von der Brust; und […] hing er es ihr […] um den Hals.« (175) Die tödliche Kugel geht Toni »mitten durch die Brust« (192): das kleine Kreuz macht aus Toni eine Zielscheibe, lädt geradezu dazu ein, sie ins Visier zu nehmen. Die Verknüpfung von Geschenk und Opfer könnte nicht krasser sein – das Zeichen der Wiedererkennung zwischen Gast und Gastgeber funktioniert im Grunde nicht (und hier sind sowohl das »Wieder« als auch das »Erkennen« von Belang). Das Geschenk wird dergestalt zu einer Erinnerung des Versprechens, zu seiner Mnemotechnik, die laut Nietzsche die »Vergesslichkeit« in »Verantwortlichkeit« umkehrt und sogar leiblich zu denken ist (»Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt …«), wie das Kreuz durch den Schuss buchstäblich in Tonis Körper eingeprägt wird. Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5 (Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari), Berlin/New York 1980, 291-313. Wichtig ist hier noch Folgendes: der Schmuck als privater Gegenstand, der seinen Besitzer aber – laut der unvergesslichen Analyse von Simmel – vor der Öffentlichkeit exponiert und nur vor dieser Bedeutung hat, lässt sich als Emblem der doppelten Seinsweise der Verlobung lesen (s. Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft, 414-421). Gustav führt sein Versprechen bereits hier öffentlich vor, er ver-öffentlicht sein Wort, das er Toni gegeben hat, möchte dieses von der Öffentlichkeit legitimiert sehen. Er agiert im Sinne der Ethik Kants. Als »gebranntes Kind« drängt er dennoch auf die öffentliche Exekution von Sprechakten, wobei gerade die Öffentlichkeit diese nicht a priori schützen kann (s. die Hinrichtung von Mariane und ihren Falschschwur). In der Mordszene ist vor allem die auffällige Symmetrie der tödlichen Verwundungen zu interpretieren: Toni geht die Kugel »mitten durch die Brust«, Gustav jagt sich die Kugel »durchs Hirn« (194). Herz und Verstand, Affekt und Kognition sind da emblematisch im Spiel, im Allgemeinen Romantik und Aufklärung. Keiner der beiden anthropologischen Faktoren gewinnt hier Oberhand über den anderen, was auch heißt, dass beide in sich von partiellem Charakter sind. Sowohl das Handeln im Affekt als auch der Vertrag scheitern – und zwar an der prekären performativen Funktion der Sprache, an einem (potentiellen) Versprechen, das weder als Handlung noch als Kognition oder Affekt identifizierbar und etwa durch Kontrakte zu zügeln ist. Das Glauben-Schenken dem (vermeintlich) gegebenen Wort gegenüber ist als Vertrauen weder affektiv noch kognitiv – aufgrund von solchen anthropologischen Parametern nicht ergründbar. (Daher ist es irrig, das Vertrauen dem Wissen zu unterstellen [da es mindestens im selben Maße auch Nicht-Wissen enthält, mehr noch: vom Nicht-Wissen notwendig gemacht
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Die Gabe von Mariane konnotiert ihre eigentliche Opfergabe an Gustav – ihr Leben als Singuläres im Zeichen des Gebens des eigenen Todes als unersetzlicher, nicht-rückzahlbarer Gabe –, so übt er mit dem Weiterschenken gleichsam ein falsches Zeugnis an dieser Singularität und dadurch an sich selbst (insofern er sein Leben dieser Gabe zu verdanken hat). Gustav möchte dadurch gewissermaßen die Unwiderruf barkeit, die Unersetzlichkeit oder Unvergeltbarkeit der Gabe von Mariane rückgängig machen bzw. im ökonomischen Kreis ausgleichen und sich wiederaneignen. Man kann das eine Verdrängung nennen, zugleich auch ein Vergessen. Die Protogeschichte von Gustav wird wiederholt bzw. ausagiert, zugleich soll sie auch vergessen werden, das Opfer von Mariane soll seinerseits auch geopfert werden. In diesem Sinne möchte Gustav letztlich sein Eigenes opfern – er tut das also von sich aus, bevor er von seinen Gastgeberinnen geopfert werden könnte. Die strukturelle Analogie zwischen der Trauerszene und der Liebeszene stellt die Figur der unrestituierbaren Gabe dar: einmal den eigenen Tod geben, das andere Mal die Unschuld geben. Beide Akte des Gebens sind paradoxerweise nur durch je einen Falschschwur möglich. Gustav möchte nun die zweite Gabe auf ihren vermeintlichen Ursprung hin stabilisieren, d.h. sie legalisieren, also öffentlich machen und durch dieses Pfand sein Recht auf sein Eigentum sichern. Dieser Akt der berechtigenden Ankündigung soll merkwürdigerweise mit dem Anbruch des nächsten Tages, also mit dem Wiedereintritt in die gemessene Zeit, erfolgen (»… dass er bei ihrer Mutter am Morgen des nächsten Tages um sie anhalten wolle« 175). Wohlgemerkt spricht nur Gustav während der ganzen Szene, das Mädchen hört »seine Worte« womöglich gar nicht, jedenfalls antwortet sie auch am Ende nicht auf sie. Warum sie vom Weinkrampf überfallen wird, bleibt im Dunkeln: sie kann dabei sowohl die verlorene sexuelle Unschuld wie ihren Verrat an der gemeinsamen Verschwörung mit Babekan sowie an ihm selbst beweinen, insofern sie ihr eigener falscher Zeuge ist. Allen gegenüber ist sie nun falscher Zeuge, sich selbst mit einbegriffen – alle hat sie belogen. Ihr Verhalten steht im Zeichen der wird]: »Das naive Nicht-wissen-wollen, das hingebungsvolle, vorbehaltlose Akzeptieren des anderen erweist sich […] als ein Je-schon-alles-wissen, ein Je-schon-alles-begriffen-haben. Man gibt sich nur demjenigen hin, dem man vertraut. Vertrauen ist jedoch eine Modalität des Vorauswissens, eine antizipierte Kenntnis des anderen.« Moser, Verfehlte Gefühle, 16. Man sieht, dass bereits auf der Ebene der Wortwahl Widersprüche auftreten: sind »Akzeptieren« und »Sich-Geben« bzw. »Vertrauen« wirklich äquivalent?) So ist die Rolle der Sprache in der Anthropologie Kleists eine besonders intrikate – wie dies vom Verfasser einer Schrift mit dem Titel Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden vielleicht auch nicht anders zu erwarten ist –, sie ermöglicht gewissermaßen die Anthropologie (den Affekt, die Scham, die Rührung usw.) und blockiert diese auch. Kleist zweifelt damit latent das große anthropologische Projekt des 18. Jahrhunderts an, »den ganzen Menschen« hervorzubringen bzw. zu definieren (s. hierzu Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994), indem er die Unvordenklichkeit und Abgründigkeit der Sprache, ihren begründenden, gleichwohl aber subversiven Status in jeglicher Anthropologie stark macht. Zugleich entlarvt er die Komplizenschaft zwischen Anthropologie und Geschichtsphilosophie, die Veranlagung des Fortschritts in die Richtung der Zukunft in der vermeintlichen Natur des Menschen (vgl. Marquard, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie), als eine nicht ganz durchschaute Versprechensleistung der Sprache, die u.a. den ewigen Frieden verspricht.
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Scham und des Schuldbewusstseins, wem gegenüber auch immer. Der sprachliche Sündenfall geht jedenfalls dem körperlichen voraus: z.B., dass sie den Worten des Fremden Vertrauen schenkt und die referenzielle Rolle im als Wiederholung auftretenden Geschehen annimmt. Die Zeugenschaft gegenüber der Beichte von Gustav reproduziert eine strukturelle Rolle, die in der referenziellen Lesart dieser Beichte angeboten und persuasiv vermittelt wird (auf der Achse der körperlichen »Ähnlichkeit«). In diesem Sinne ist sie kein »neutraler« Zeuge mehr, sondern Protagonistin; sie tritt gleichsam in einen Rollentausch mit der verstorbenen Mariane ein (da der narrative Knoten in beiden Malen von der Lebensrettung motiviert wird) und partizipiert am falschen Zeugnis Gustavs, insofern sie das Geschenk annimmt (wobei dies auch nicht ganz eindeutig ist). Es ist nicht auszumachen, ob Toni dem kognitiven (»Ähnlichkeit«) oder dem performativen Effekt (»Beichte«) aufsitzt, sogar ob sich Gustav der performativen Komponente seiner Rede überhaupt bewusst ist. Eine denkbar komplexe Konstellation, wie dem aber auch sei: Diegesis (Rettung des Lebens) und Referentialität (physiologische Ähnlichkeit) sind also vom Kredit abhängig, vom Kredit einmal für die vermeintlichen Gastgeberinnen, das andere Mal für Gustav selbst – zugleich wird dieser Kredit auch durchgestrichen. Der Rückbezug auf die Protogeschichte wird durch das falsche Zeugnis ermöglicht (Schenken des Kreuzes), das Toni stillschweigend unterschreibt. Diese Liebesgabe verbindet und trennt die beiden zugleich. Gustav wechselt nach seinem Geständnis, das indes bereits eine Beichte sein konnte, auch von der Scham (»Rührung«) betroffen in die Sprache der Entschuldigung (»was er ihr zu Leide getan und ob sie ihm nicht vergeben könne?«), nachdem seine Konfession unerwartete (?) referenzielle Wirkungen zeitigte, die die Glaubwürdigkeit seiner Beichte noch nicht unbedingt sichert. Sein Handeln kann diese Glaubwürdigkeit gerade aufheben, um folglich die gefährdete Konvergenz zwischen Sprechen und Intention wiederherzustellen, ihm bleibt nichts übrig, als sich zu entschuldigen.50 Die Sprache der Entschuldigung ist aber erst recht ambivalent, da sie ein Doppeltes versucht: sich wegen der potentiellen Unaufrichtigkeit der Äußerungen zu entschuldigen, zugleich nach dem Vertrauen des Anderen zu rufen, er/sie möge ihm Glauben schenken.51 Aufrichtigkeit kann nur versprochen werden, auch die Aufrichtigkeit jener Entschuldigung, die sich wegen des potentiellen Meineids der eigenen Äußerung entschuldigt. So kann er sein Versprechen »nur« mit dem eigenen Schwur beglaubigen oder umgekehrt, seinen ursprünglichen Schwur mit seinem Versprechen beteuern, zugleich ihre Treue durch Versprechen binden (»Er schwor ihr …«, unmittelbar nach der Bitte ihm zu vergeben).52 Seine 50 | Dies wurde bereits durch folgende Momente vorweggenommen: »[E]r schalt sich, ihr Herz nur einen Augenblick verkannt zu haben, und […] drückte er, gleichsam zum Zeichen der Aussöhnung und Vergebung, einen Kuß auf ihre Stirn.« (173, Hervorh. CsL) Es handelt sich hier um die Scham Gustavs und in der Narration ist es unentscheidbar, ob wir Äußerungen von Gustav oder seine Gedanken erfahren. 51 | Zu dieser Problematik vgl. Paul de Man, Excuses, in: ders., Allegories of Reading, New Haven/London 1979, 279-301, Jacques Derrida, Das Schreibmaschinenband. Limited Ink II, in: ders., Maschinen Papier. Wien 2006, 35-138 und Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak, 282-314. 52 | Dieser Doppelung entspricht der Sachverhalt, dass Toni später darum betet, dem Fremden ein ehrliches Geständnis ablegen zu können, damit dieser ihr vergebe (183).
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Worte bleiben aber gewissermaßen nichtig, gehören ihm nicht zu, da Toni nichts sagt und den Ruf nach dem Kredit nicht erwidert – folglich bleiben die Worte Gustavs gleichsam in der Schwebe. Es sind leere Worte, nicht seine Worte, denn sie würden erst zu seinen Worten, würde er sie von Toni (zurück-)bekommen im Sinne des Glauben-Schenkens. Hier wird deutlich, dass seine Worte nicht sein Eigentum sind, dass ein Mangel in ihnen aufklafft (die ausbleibende Gegenzeichnung dieser Worte), folglich das von ihm angebotene Pfand des Kreuzes, überhaupt die »Verlobung« gewissermaßen ungültig wird. Umso mehr versucht er dieses Fehlen auf der referenziellen Ebene auszugleichen (»ein kleines Eigentum, frei und unabhängig …«), womit er sich wieder auf der Ebene des Versprechens wiederfindet.53 Die ganze von ihm anvisierte Ökonomie (»Eigentum«, »Wohnung«, »Felder, Gärten, Wiesen und Weinberge«) hat ihren tieferen Grund in diesem Fehlen, nicht einfach in einer Erwiderung der Wohltaten. Seine Beichte wie Entschuldigung bleiben ohne Rückbestätigung, zumindest bleibt diese ambivalent. Wohl deswegen drängt Gustav auf eine Veröffentlichung, Legalisierung und Institutionalisierung ihres gemeinsamen Geheimnisses. Dabei opfert er dieses als Geheimnis, dadurch gleicht er sein Schuldbewusstsein freilich eventuell auch aus, indem er den referenziell kontrollierbaren Sprechakt als das wahre Zeugnis seiner kundgegebenen Wahrhaftigkeit ins Feld führt. Ob er das alles intentional steuert, ist fraglich: Man darf zudem auch nicht vergessen, dass er bereits mit Mariane »heimlich verlobt« war und er sein Leben eigentlich diesem Geheimnis zu verdanken hat. In der Protogeschichte war aber genau die Öffentlichkeit ein Ort, an dem die Wahrhaftigkeit mit einer eigenen fürchterlichen Logik umgedreht wurde. Darüber hinaus, dass es Toni vorläufig nicht möglich ist, ihr Geheimnis vor der Mutter gleich zu lüften,54 kann ein 53 | Seine Versprechen sind eigentlich auch Beteuerungen seines ursprünglichen Schwurs (zu diesem gewissermaßen unendlichen Regress siehe Manfred Schneider, Die Inquisition der Oberfläche. Kleist und die juristische Kodifikation des Unbewussten, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist: Kriegsfall-Rechtsfall-Sündenfall, Freiburg i.Br. 1994, 108-109). 54 | Gleichwohl stellt sie sich Gustav am nächsten Tag auf indirekte Weise als Geisel zur Verfügung, wohlgemerkt auf der sprachlichen Ebene der Stellvertretung, insofern sie seinen Diskurs aktiviert: »Unrecht« (zweimal) und »Gottes Rache«, ferner das Schwören. »… um mir Gottes Rache wegen alles, was vorgefallen, zu versöhnen, so schwöre ich dir, dass ich eher zehnfachen Todes sterben, als zugeben werde, dass diesem Jüngling, so lange er sich in unserm Hause befindet, auch nur ein Haar gekrümmt werde.« (177) Babekan merkt dies auch: »[S]o magst du das Mitleiden, das dich bewog, ihn gegen das ausdrückliche Gebot wieder abziehen zu lassen, verantworten.« Das »Mitleid« war ja ein wichtiger Berufungsgrund des Fremden. Sie macht ihren Platz als Zeuge, dann Figur im Narrativ des Fremden nun fest – sie schwört auf implizite Weise auf die Verlobung mit ihm, freilich nicht ihm, sondern der Mutter gegenüber. Das halb(öffentliche) Moment des Kontrakts wird dadurch ausgeführt. Dies führt zu der Verfestigung ihrer Bindung an den Fremden: »Denn sie sah den Jüngling, vor Gott und ihrem Herzen, nicht mehr als einen bloßen Gast, dem sie Schutz und Obdach gegeben, sondern als ihren Verlobten und Gemahl an …« (181) Diesem Moment ging noch ein theatralisch inszenierter Falschschwur vor der Mutter voraus, welcher diesmal nicht vom Vergessen abhängt, sondern vom »Gedächtnis« (Stigma) ermöglicht wird. (Hier ist wiederum das Verbergen des eigenen Gesichtes zentral, gerade umgekehrt zum Empfangen des Fremden: »… ein Blick jedoch auf die Brust ihrer unglücklichen Mutter, sprach sie, indem sie sich rasch bückte
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tieferer, vielleicht unbewusster Grund ihrer Weigerung genau darin liegen, dass sie die Ambivalenz der öffentlichen Verkündigung erkennt, die ihre Scham so oder so nur potenzieren würde (wie die der Marquise von O., die versucht, ihre Schande zu veröffentlichen und sie aber gerade auf diesem Wege zu heilen). Eines aber ist sicher: eine doppelte Lesbarkeit sucht jegliche Begebenheit in der »aktuellen« Geschichte von der alten her heim und verdoppelt die Temporalität der Gastlichkeit, fügt sie in eine metaleptische Konstellation ein. Das Gespenst der Wiederholung der Protogeschichte ist potentiell in jedem Moment der Erzählung präsent und lässt alle noch so aufrichtigen Äußerungen bzw. Verhaltensformen kontaminieren.55 Bezeugt man hier die eigene Intentionalität oder wiederholt man ein bereits dagewesenes Muster? – das ist die Frage, die der Szene eingeschrieben ist. Die zeitlichen Implikationen der Szene, überhaupt der ganzen Geschichte zu analysieren wäre ein lohnendes Unterfangen. Die Komplikationen in der Struktur der performativen Sprache, in der Kreuzung zwischen Geständnis und Entschuldigung, Beichte und Schwur erhalten auch zeitliche Koordinaten oder Kontrollmomente und zwar in engster Verbindung mit der Liebessemantik (der Bedeutsamkeit der Worte wie »Verlobung«, »Ehe«, »Treue« und dergleichen, die im Text mehrfach überdeterminiert vorkommen). Im Zeichen der romantischen Liebe geht es auch hier darum, – mit Luhmann gesprochen – den »Startmechanismus Zufall« in den Code der Liebe einzufügen, ihn mit dem »Schicksal« zu vermitteln.56 Die Plötzlichkeit soll für die »Entstehung einer dauerhaften Liebe« bürgen, wozu Luhmann noch anmerkt: »Bemerkenswert ist die Wendung von einer temporalen (Plötzlichkeit/Dauer) zu einer modaltheoretischen (Zufall/Notwendigkeit) Fassung (z.B. bei Friedrich Schlegel).«57 Die Versprechen Gustavs nach dem sexuellen Zwischenfall verheißen die Dauer nach dem abrupten Ereignis und das heißt, seine Treue, die gleichsam die Sprache der Entschuldigung beglaubigen und das Vertrauen wiederherstellen soll (»Er schwor ihr, dass die Liebe für sie nie aus seinem Herzen weichen würde …«).58 Der Schwur impliziert ja Beständigkeit, Standhaftigkeit, eben und ihre Hand küßte, rufe ihr die ganze Unmenschlichkeit der Gattung, zu der dieser Fremde gehöre, wieder ins Gedächtnis zurück: und beteuerte, indem sie sich umkehrte und das Gesicht in ihre Schürze drückte, dass, sobald der Neger Hoango eingetroffen wäre, sie sehen würde, was sie an ihr für eine Tochter habe.« 179) Dass ihre Sicht vom Fremden wortwörtlich vermittelt ist, deutet die Spiegelszene an: »… Toni, die, dem Fremden den Rücken zukehrend, vor den Spiegel getreten war …« (180) Sie schaut sich ihn im Spiegel an, sie sieht ihn und sieht ihn wiederum auch nicht. »Sieht« sie ihn erst im Spiegel der performativen Sprache? (Zum Zusammenhang der Spiegelmetapher und sprachlicher Kommunikation bei Kleist vgl. Mehigan, Text as contract, 52-61.) 55 | Die Ansteckung – beliebtes Kleistsches Motiv – fehlt ja auch in dieser Erzählung nicht und zwar in engster Verbindung mit dem Meineid, mit einer in böser Absicht übermittelten Einladung. 56 | »Die Kombination Zufall/Schicksal besagt dann: dass das voraussetzungslose Beginnen die Bedeutung der Liebesbeziehung nicht beeinträchtigt, vielmehr als Unabhängigkeit von jeder Außenprägung diese Bedeutung gerade steigert, sozusagen in sich verabsolutiert«. Luhmann, Liebe als Passion, 181. 57 | Ebd. 180-181. Es handelt sich um eine Fußnote bei Luhmann. 58 | Die etymologische Verwandtschaft von »Treue« und »Vertrauen« analysiert Benveniste, Indoeuropäische Institutionen, 85.
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Treue, und in diesem Sinne verspricht er Dauer. Gerade in der Beteuerung suggeriert er die Notwendigkeit im Sinne der Kausalität (»… und einen alten ehrwürdigen Vater, der sie dankbar und liebreich daselbst, weil sie seinen Sohn gerettet, empfangen würde«).59 Die gleichsam zwingende Kausalität würde entgegen dem Zufall die Dauerhaftigkeit hervortreiben, diese würde gleichsam die Realisierung der Kausalität darstellen.60 Die Zeitlichkeit im Sinne der Kausalität ist aber nicht mit der Standhaftigkeit, dem Ausharren im Zeichen des Schwurs, zu verrechnen (das sieht man schon daran, dass ein Beweis – als Ursache – nie ganz ausschlaggebend sein kann für die positive oder negative Wendung des Vertrauens). Welche Zeit wird von einem Schwur gegeben? Ist diese noch auf kausale Verbindungen zurückzuführen? Gibt es eine »Ursache« – oder ein Unterpfand – für die Standhaftigkeit des Schwurs oder Versprechens? Wenn man diese Ursache z.B. in vermeintlichen Charaktereigenschaften der schwörenden Person lokalisieren würde, so würde man diese Person als bekannt voraussetzen. Die Problematik der Kausalität und der referenziell nicht zu verbürgenden Performativität verschränken sich mit der Frage nach dem Kennen und Erkennen. Und zugleich auch mit der Frage nach Recht und Gesetz: das Gebot, seinen Schwur unter allen Umständen zu halten, ihn autonom zu verantworten, wäre ein Gebot der Moralität als Gesetz, das die zeitliche Determinierung des Schwörenden, überhaupt der performativen Prozesse in diesem Sinne, gewährleisten würde. Man könnte sagen, dass Gustav die Gastfreundschaft gewissermaßen verrechtlichen, ihr das Gesetz einschreiben möchte. Die Notwendigkeit wird auch im Sinne der Vorzeitlichkeit, mit der schon erwähnten »Ähnlichkeit« zwischen Mariane und Toni, aufgezeigt oder generiert. In dieser Kausalität oder narrativen Verkettung würde Toni als das Supplement von Mariane eingesetzt. Wie aber zu sehen war, implizierte dieses narrative Manöver das falsche Zeugnis (und zwar sowohl an Mariane als auch an Toni), die narrative Verkettung oder Analogiebildung war ein Effekt oder Resultat des Meineids. (Die Geschichte von Gustav und Toni kopiert oder wiederholt auch auf dieser Ebene die Geschichte von Gustav und Mariane, die ebenfalls vom Falschschwur ermöglicht und zugleich in eine repetitive Temporalität eingeschrieben wurde.) Die Notwendigkeit im Zeichen der Kausalität übt Verrat an der Standhaftigkeit im Sinne des Schwurs. Zwei Zeiten also, die sich gegenwendig kreuzen, gleichwohl heterogen zueinander bleiben: die Zeit der notwendigen, zwingenden, kausalbedingten (letztlich ökonomischen) Dauer und die Zeit des Schwurs als eines Gebens, das, wenn es keine Ökonomie oder Tausch als Ziel hat, eine Art Beständigkeit dimensioniert. Wenn aber die Beständigkeit des Schwurs nur von den subjektivierten Eigenschaften als epistemologischer Größe abgeleitet oder vom Gesetz her autorisiert werden kann – Autoritäten und Berufungsinstanzen braucht man dort, wo die referenzielle Kausalität nicht gegeben ist –, so kann man sagen, dass die potentielle Unhaltbarkeit des Schwurs oder Versprechens diese dem Anschein einer falschen Ewigkeit 59 | Hervorh. CsL. Gustav verspricht also eine Gastfreundschaft, die als Gegenleistung einer vergangenen Wohltat erfolgen und dabei die familiäre Ökonomie sichern würde (Beziehung zwischen Vater und Sohn als Garantie für die Dankbarkeit des Ersteren für sie). 60 | Für Gustav hat seine Geschichte nachträglich ja quasi-notwendige Züge angenommen (s. Fußnote 13). Zur Verbindung von Kausalität und Narrativität bei Kleist s. Cynthia Chase, Decomposing Figures. Rhetorical Readings in the Romantic Tradition, Baltimore 1986, 141-156.
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als endloser Dauer auch entzieht.61 Der »ewige Frieden« von Kant wäre nur möglich, wo das Gesetz die Moralität beeinflusst und prägt bzw. kontrolliert. Die sprachperformative Konstellation, in der Toni zur Zeugin (Beichte) und zugleich zur Figur (Narrativ) der Äußerungen vom Fremden wird, kopiert die aufklärerische Legitimierung des politischen Handelns durch die Einsicht in seine moralische Notwendigkeit im Zeichen des »Fortschritts«, welche Einsicht zugleich die Bedingung des Handelns ist.62 Politik und Moral im Sinne der »allgemeinen Hospitalität« zu verbinden, war bekanntlich das Ziel der Schrift Zum ewigen Frieden von Kant. Diese Pflicht, die eine Schuld, die aus der Zukunft (der Perspektive des »ewigen Friedens«) ihr entgegenkommt, zu begleichen bestrebt ist, wird eigentlich im Modus des Gesetzes statuiert,63 das jedes Versprechen von vornherein zu einem falschen macht, in doppeltem Sinne: sie schreibt das Versprechen in den Zustand des Wissens um, zugleich vertagt sie seine Einlösung immer weiter in die Zukunft.64 So paradox es klingt, diese Annahme hebt die Möglichkeit eines Wartens auf (so wie Gustav auch nicht warten kann). Eine Pflicht, die – als Gesetz – im Vorhinein statuiert wird, macht aus dem Gast einen Bekannten (oder über61 | Sein Wort halten zu müssen, weil man das gesagt hat – hier verbinden sich Schuld und die notwendig-programmierte Kausalität. (Der »Himmel« wäre eine solche transzendentale Autorität der Dauerhaftigkeit – und Gustav gebraucht das Wort »ewig« als Attribut seiner – versprochenen – Dankbarkeit, 165.) Die »Verlobung« hat eine komplizierte Temporalität; Gustav meint sie erst im Nachhinein – und das heißt, zu spät – erkannt zu haben. Das Ausbleiben des zu gebenden Wortes Tonis, ihr Schweigen angesichts des ökonomischen Kontrakts und der auf Kausalität basierenden Dauer von Gustav markiert womöglich den Abgrund zwischen der performativ-gabebedingten und der ökonomisch-kausalen Zeit. – Der »Eidschwur« selber erscheint im Modus eines »déjà-vu« – Gustav identifiziert ihn erst im Nachhinein, nach seiner Mordtat, deren Bedingung also gewissermaßen das Vergessen war. Ob er sich wirklich daran erinnert oder ihn nur nachträglich für einlösbar hält (»Gustav raufte sich die Haare«), ob er den Verrat Toni bereits für ihr ganzes Verhalten von vornherein (also Meineid) oder als nach der »Verlobung« erfolgten Eidbruch attestierte, bleibt offen. Ob er sich wegen seiner Amnesie oder wegen einer Schuld richtet, bleibt ebenfalls offen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass er das Problematische seiner eigenen Tat- und Verantwortungskonzeption realisiert, das ihn in die Verderbnis brachte (für ihn gelten beide, Tat und Verantwortung, nur dann, wenn sie – wie bei Kant – öffentlich legitimierbar oder beurteilbar sind). Das »Misstrauen« ist jedenfalls eine mögliche Lesart der Ereignisse, es ist nichts anderes als eine nachträgliche Kausalisierung (Genealogisierung) der Geschichte. Wichtig ist, dass die sittliche Beurteilung der ansonsten unbestreitbaren Tat und ihrer Verbindung mit einem individuellen Bewusstsein wegen einer sprachlichen Komplikation (»Eidschwur« und »Verrat« faktisch oder imaginär, vorzeitig oder nachträglich?) denkbar ambivalent bleibt. 62 | Hier ist »die menschliche Gattung als Subjekt und Adressat des Fortschritts, solange es den Hiatus als Bedingung des Vorauseilens oder des Nach- und Aufholens gibt, eine geteilte Menschheit.« Reinhart Koselleck, Fortschritt, in: ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, 398. 63 | Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 312. 64 | Daher erscheint am Ende der Erzählung der »ewige Frieden« in einer ironischen Brechung (»… senkte man sie unter stillen Gebeten in die Wohnungen des ewigen Friedens ein.« 195). Ein solches, immer in die Zukunft hinausgezögertes Versprechen ist nämlich genauso wahrscheinlich wie die Auferstehung der Toten, auf die man wartet.
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springt gerade die Unergründlichkeit des Gastes, seiner Sprache, der Gastlichkeit überhaupt),65 wobei selbst diese Pflicht vom Gast in Frage gestellt wird. Überhaupt korreliert die Verspätung, die Eile, das Nicht-Warten-Können mit dem »Misstrauen«, mit dem Fehlen des Vertrauens, mit dem vermeintlichen Eidbruch. Was ist also die Zeit einer Gastfreundschaft, die die Erzählung von Kleist auf negative Weise bezeugt? Welche Zeit gibt die Gabe der Gastlichkeit? Ausharren und Geduld, impliziert im Schwur, im gegebenen und zurückgegebenen Wort, könnten nicht so sehr eine Dauer (die ohnehin von einer übergeordneten Instanz garantiert würde) als ein Seinlassen, eine Gelassenheit bedeuten, die Vertrauen als verhaltenes Warten auf den Anderen vollzieht, auch wenn dieser als Gast bereits da ist. Selbst wenn der Gast anwesend ist, wartet man noch auf ihn – im Modus eines »komm«, das die Belegung des Vertrauens, seinen Beweis, gar seine Restitution nicht erwartet. Gerade dieses Warten entspricht der Endlichkeit des Zu-GastSeins, in dem eine Vergangenheit aus der Zukunft zurückkehrt – als solche also nicht da war. Ein Warten auf das, was dennoch bereits geschehen ist, ein Warten als Gedächtnis im Zeichen einer Wiederkehr. Dieses Warten wird sowohl von der Wiederkehr als auch von der Ankunft diktiert. In ihrer Unentscheidbarkeit ist man immer schon in eine Trauerarbeit involviert, die sich sowohl auf den Gast (auf sein endliches Verweilen) als auch auf den Gastgeber selbst richtet (Warten auf den eigenen Tod, der in der nicht beherrschbaren Konstellation der Gastlichkeit aus der unverfügbaren »eigenen« Vergangenheit zurückkehrt). Die Konstruktion der Kausalität wäre gerade der Index des Nicht-Warten(-Können)s, wo das wenn auch nur im Schweigen gegebene oder als Sprechhandlung zu tätigende, aber dennoch hinausgeschobene Wort nicht als Moment oder Funktion einer Gesetzeserfüllung eingefordert oder via epistemologischer Befragung ausgekundschaftet wird, sondern vielmehr als wenn auch unscheinbare Gabe gewährt, als wenn auch nur stummes Wort sein gelassen wird, ohne (auf) seine ausweisbare Erfüllung als künftige Gegenwart zu (er-)warten.
65 | »Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit usw.).« Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965 (Hg. v. d. Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, Berlin 1907), 20.
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7. Im Netz der Schwüre
Ereignis, Versprechen und Vertrag in Kleists
Die Marquise von O.
Die Figurationen von Öffentlichkeit und Geheimnis spielen in den Erzählungen von Kleist bekanntlich eine kardinale Rolle. Diese Figuren werden öfters mit Momenten der (verletzten) Intimität sowie der sexuellen, rechtlichen, gesellschaftlichen Immunität und der Problematik der Familie und der Ehe eng geführt. Um 1800 wird die Trennung zwischen öffentlicher und Privatperson, zwischen der repräsentativen Öffentlichkeit und der Sphäre der Autonomie des Privaten auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens maßgebend. Die Sphäre des Privaten verkörpert sich für die sich selbst bildende bürgerliche Gesellschaft in der Intimität der Liebesehe und der Familie. Ferner wird die Öffentlichkeit ab der Aufklärung als Vermittlungsterrain zwischen dem Staat (dem Souverän) und der Gesellschaft zu einer kommunikativen Dimension, deren geschichtsphilosophische Politisierung im Zuge der Kontamination von »Geschichte« (als Kollektivsingular) als Handlungs- und Reflexionsraum sich entfaltet.1 Bei Kleist wird die Frage aufgeworfen, wie denn Geschichte sich ereignet, deren Geschehenscharakter sich zwischen Handeln und Reflexion der Akteure ansiedelt, sich gleichwohl im selben Zuge einem medial-institutionellen Zusammenhang einschreibt. Ferner: wie wird diese Virtualität des Ereignisses in der literarischen Kommunikation aktiviert oder herauf beschworen, welche Konsequenzen hat das etwa für die performative Dimension des Textes? Zu dieser Fragestellung wird in diesem Beitrag Kleists Erzählung Die Marquise von O. herangezogen, in der durch die bekannte öffentliche Annonce der Marquise eine double-bind-Struktur erzeugt wird, die mit vielfachen Implikationen beladen ist. Der Akt des öffentlichen Aufrufs der Marquise – in dem sie Amphytrion und 1 | Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973; Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009; Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1972. Zu wesentlichen Korrekturen an den Thesen der beidletzten Autoren vgl. Gerhart von Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit: Aspekte deutscher »bürgerlicher« Literatur im frühen 18. Jahrhundert, in: DVjS 49 (1975), Sonderheft, 1-82.
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Alkmene in sich vereint, auf der Suche nach der Wahrheit, die sowohl zu ihr als auch nicht zu ihr gehört – untergräbt jegliche intime Gemeinschaftlichkeit mit dem durch ebendiesen Aufruf zu finden gehofften Zeugenden ihres Kindes. Diese Aporie wirft im Kleistschen Text zahlreiche Fragen auf: die (gar religiös eingefärbte) Problematik der Unschuld und der Verantwortung, die Frage von Gemeinschaft und Intimität, die Beziehung von Geheimnis und Öffentlichkeit, Geheimnis und Wissen oder Nicht-Wissen, ferner die genealogische Eingliederung des Geheimnisses, also seine Opferung. Im vorliegenden Beitrag steht zunächst die Annonce der Marquise im Vordergrund, da diese im Zuge der double-bind-Struktur die wesentlichen diskursiven Verflechtungen und semantischen Konstellationen gleichsam in sich enthält.2 Die Novelle von Kleist inszeniert bzw. reflektiert grundlegende Eigenschaften der Gattung Novelle im Zuge ihrer Verschiebung. Die »unerhörte Begebenheit« ruft in der theoretischen Reflexion der Gattung (bei August Wilhelm Schlegel und anderen) wie in der novellistischen Praxis (so bereits in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten) zunächst in der Vorstellung der rahmengebenden Ge-
2 | Anzumerken ist jedoch, dass der Text in vielfacher Hinsicht eine Allegorie der gesellschaftlich-politischen Umwälzungen um 1800 herum, zwischen Aufklärung und Bürgertum, darstellt. Etwa der Vater (der »Kommandant«) figuriert ursprünglich als ein absolutistischer Souverän, der gar den Ausnahmezustand ausruft (»Der Obrist erklärte gegen seine Familie, daß er sich nunmehr verhalten würde, als ob sie nicht vorhanden wäre.« Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe II, 9. vermehrte u. revidierte Aufl. [Hg. Helmut Sembdner], München 1993, 105; die Seitenzahlen aus den Werken von Kleist im Folgenden in Klammern). Seine Hausherrschaft wird vom öffentlichen Dispositiv und seiner moralischen Funktion beeinträchtigt, danach mutiert er zum bürgerlichen Familienvater, der die privatrechtlichen Verträge arrangiert (und dabei seine Gewalt doch teilweise bewahrt, dem Preußischen Landrecht getreu: »Bei aller Einschränkung der hausväterlichen Gewalt blieb diese aber ein integrierendes Moment nicht nur der sozialen, sondern auch der politischen Verfassung im Sinne des Ständestaates«, Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, München 1989, 64). Die Standesgrenzen sind im Begriff, von der Berufung auf das Innere, auf das Gewissen als Grundlagen des Versprechens auch aufgelöst zu werden – andererseits durch die steigende Rolle der Presse, des öffentlichen Kommunikationswesens (die mit dem Versprechen in einem verwickelten Zusammenhang stehen, dem in vorliegender Arbeit nachgegangen wird). (Die »Strukturanalogie von Staat und Familie« wird von der Ehe als Vertrag, als Gesellschaftsvertrag in Szene gesetzt. Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland [Hg. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck], Bd. 2, Stuttgart 1972ff, 280-284. Zum Übergang von der Hausherrschaft zur Rechtsfigur des Vertrages vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. VIII [Hg. Wilhelm Weischedel], Frankfurt a.M. 1977, 397-400.) Auf der Ebene der weltanschaulichen Zusammenhänge handelt es sich um den Wechsel, wie die Stelle von transzendentalen Autoritäten (die etwa das Versprechen autorisieren und beglaubigen sollten) vom Vertrag und der öffentlichen Meinung eingenommen wird. Im Kontext einer medientheoretischen Fragestellung steht die medial-archivarische Bedingtheit des Geschehens in der Geschichte und seiner Wissensfiguren, ihrer Überschneidung wie Differenz im Vordergrund.
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selligkeit institutionalisierende Einbettungen und Zuschreibungen hervor.3 Diese verschwinden nicht, sondern werden umbesetzt und umfunktionalisiert, um die »unerhörte Begebenheit« (oder ihre Kulturalisierung) mit inszenierten rechtlichen, öffentlichen oder politischen Instanzen zu legalisieren oder zu legitimieren. Die Einführung der unerhörten Begebenheit in die Historie bzw. in das kulturelle Wissen sind von bestimmten medialen Dispositiven und Aufzeichnungsmechanismen immer weniger zu trennen. Dies zeigt sich bei Kleist schon darin, dass der Erzähler als legitimierende Instanz seine Funktion nicht dadurch erhält, dass »er Selbstgehörtes berichtet«4, sondern ein Gelesenes – die Annonce – am Anfang seiner Erzählung steht. Dadurch wird gerade die Legitimierung auch einem Lesepublikum (als der Figur des Dritten) überantwortet,5 in der narrativ-medialen Selbstpräsentation des Textes ist bereits eine unbestimmte Öffentlichkeit involviert. Die eigentliche Geschichte wird von vornherein von diesem öffentlichen Rahmen, im Medium des Zeitungswesens von der veröffentlichten Zeit eingerahmt. Wie ist nun die Annonce in diesem Geflecht von Geschichte, Historie und Kultur zu verorten? Die Annonce der Marquise wiederholt gewissermaßen das für sie traumatische Ereignis, ihr eignet eine »ihr innerstes Gefühl verletzende Natur« (127; der eigent3 | A.W. Schlegels Novellendefinition wird von Die Marquise von O… gewissermaßen verfolgt, um sie dann freilich auch umzustülpen. Laut Schlegel besteht das »Verdienst« der Novelle darin, »etwas zu erzählen, was in der eigentlichen Historie keinen Platz findet, und dennoch allgemein interessant ist. Der Gegenstand der Historie ist das fortschreitende Wirken des Menschengeschlechts; der jener wird also dasjenige seyn, was immerfort geschieht, der tägliche Weltlauf, aber freylich damit er verdiene aufgezeichnet zu werden.« Ferner: »Die Novelle ist eine Geschichte außer der Geschichte, sie erzählt folglich merkwürdige Begebenheiten, die gleichsam hinter dem Rücken der bürgerlichen Verfassungen und Anordnungen vorgefallen sind.« August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, in: Josef Kunz (Hg.), Novelle, Darmstadt 1973, 44-45, 50. Laut Lockemann besteht die Wirkung des novellistischen Erzählens und seiner Einrahmung darin, »der Auflösung der Gesellschaft, dem drohenden Chaos entgegenzuwirken«, welche Leistung »durch die Opfertat Einzelner abgerungen wird«. Fritz Lockemann, Die Bedeutung des Rahmens in der deutschen Novellendichtung, in: Kunz, Novelle, 339, 344. Diese »Opfertat« ist selbstverständlich eine moralische, wie bereits bei Goethe: »daß der Mensch in sich eine Kraft habe, aus Überzeugung eines Bessern, selbst gegen seine Neigung, zu handeln« (Johann Wolfgang von Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Hg. Reiner Wild), Bd. 4.1, München 1988, 495). Zum Bezug der Erzählung von Kleist auf Goethes Unterhaltungen und die dort vertretene Moral vgl. Klaus Schwind, Heinrich von Kleist: Die Marquise von O… Grundlagen und Gedanken zum Verständnis erzählender Literatur, Frankfurt a.M. 1991, 28-30. 4 | Lockemann, Die Bedeutung des Rahmens, 337. 5 | Dass diese Lesefigur keine unschuldige oder neutrale ist, zeigt die latente Parallele zwischen dem Erzähler und dem Grafen, da letzterer als Bote (»Engel«) für die Marquise erscheint, aber auch als Lesender (wie Schreibender). Dem Grafen eignet eine fundamentale Verdopplung: er ist sowohl Täter als auch Bote (Zeuge) dieser Tat (als »Engel«), d.h. Handlung und Nachricht fallen gewissermaßen zusammen. Der Graf schreibt bekanntlich sehr oft in der Erzählung (auch in Gedanken), vorwiegend Briefe. Der Verdopplung von Täter und Bote entspricht die Konstellation von Schreiben und lesendem Bezeugen, diese lassen sich genauso wenig voneinander trennen.
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liche Schmerz wird ihr nicht vom Täter – da befindet sie sich in Ohnmacht –, sondern von ihrem eigenen Versprechen zugefügt). Wie oft bei Kleist, handelt es sich um ein Doppel des Ereignisses bzw. um das Doppel als Ereignis. Das Ereignis wird wiederholt, dabei aber vor allem archiviert, durch die Archivierung wiederholt, es wird zugleich zu einem archivierten Ereignis. Ohne dieses archivierte Ereignis könnte man vielleicht gar nicht vom »ursprünglichen« Geschehen reden, das aus dieser Sicht auch als archivierendes Ereignis gefasst werden kann, im Vergleich zu seinem archivierten Pendant in der Zeitung.6 Das Ereignis wird also durch seine Archivierung zu einem Ereignis, ohne aber dadurch selbstidentisch zu werden. Diese Verflechtung entspricht der grundlegenden Figur der neuen Historizität, die laut Koselleck als die Kontamination von Handlungs- und Reflexionsraum erscheint.7 Oder medientheoretisch gewendet: die Aufzeichnung des Ereignisses (die überhaupt Wissen von diesem ermöglicht) ist vom Ereignis selbst nicht zu trennen.8 Die eigentliche »Handlung« bleibt ohne die Aufzeichnung, ohne die Archivierung verborgen bzw. gerade auch in der Archivierung (auch) verhüllt (und diese Pointe braucht schon eine dekonstruktive Wendung, da sie über medienhistorische und -theoretische Prämissen hinausgeht). Die ganze Erzählung von Kleist buchstabiert letztlich die Komplikationen dieser Struktur aus. Im Folgenden wird also davon ausgegangen, dass den eigentlichen novellistischen Kern der Erzählung, den Novellen-Text, die Zeitungsannonce (bzw. die Antwort auf sie) darstellt (aber als Wiederholung),9 die ja mit den Attributen »sonder6 | Zum Verhältnis von archivierendem bzw. archiviertem Ereignis vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, 33. 7 | Bei J.G. Droysen folgendermaßen formuliert: »Die Geschichte ist nicht die Summe der Geschehnisse, nicht aller Verlauf aller Dinge, sondern ein Wissen von dem Geschehenen.« Johann Gustav Droysen, Historik (Textausgabe von Peter Leyh), Stuttgart/Bad Cannstatt 1977, 397, s. noch ebd., 484. 8 | Vgl. die wiederholten Bezugnahmen von Vismann auf Droysen (nicht aber auf Kosellecks diesbezügliche Arbeiten): Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, 245, 250. Zur Verzeitlichung von Herrschaft (herausgelöst aus der Dimension der Ewigkeit) vgl. ebd., 142-143. 9 | Vgl. bereits M. Kommerell: »Das erste rätselhafte Faktum eröffnet die Novelle. Eine Zeitungsnotiz, wie sie nie durch die Blätter ging.« (Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche, in: ders., Geist und Buchstabe der Dichtung. 3., durchgeseh. u. vermehr. Aufl. Frankfurt a.M. 1944, 255). Vgl. ferner Gerhard Neumann, Skandalon. Geschlechterrolle und soziale Identität in Kleists Marquise von O… und in Cervantes’ Novelle La fuerza de la sangre, in: ders., Heinrich von Kleist, 162. Auch Christa Bürgers Feststellung, die »unerhörte Begebenheit« umfasse bei Kleist »beides, die erzählte Geschichte und die dargestellte Geselligkeit«, deutet in diese Richtung, vgl. Christa Bürger, Statt einer Interpretation. Anmerkungen zu Kleists Erzählen, in: David Wellbery (Hg.), Positionen der Literaturwissenschaft, München 1985, 97. Sie zitiert auch Herders Adrastea über die wissenspoetische Relevanz öffentlicher Memoiren: »Leben ist Äußerung seiner Kraft; von dem aber was Seele und Hand wirkt, will auch das bewegliche Ruder der Vernunft, die Zunge, reden. Durch dies Sprechen über sich klärt sich der Handelnde selbst auf; er lernt sich als einen fremden im Spiegel beschauen, und was Shaftesburi so hoch anrät, teilen. Zwei Personen werden aus ihm, Der gehandelt hat und Der seine Handlungen jetzt erzählt oder beschreibet.« (Zitat fortgesetzt – Cs.L.) Johann Gottfried Herder, Adrastea, in: Werke in zehn Bänden (Hg. Günter Arnold), Bd. 10, Frankfurt
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bar« bzw. »unerhört« charakterisiert wird. Somit wird eine Inversion, mehr noch: ein Chiasmus zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, Rahmen und Eingerahmtem, Privatem und Öffentlichem inszeniert,10 in dem die Novelle den Rahmen oder den Hintergrund bildet zum Text des Aufrufs, aber auch umgekehrt (diese Verschränkung von Hintergrund und Vordergrund findet statt etwa auch auf der narrativen Ebene zwischen der Erzählstimme und den einzelnen Figurenreden). Dieser Novellen-Text als mise en abyme verdichtet in sich mehrere Aspekte der Gattungsproblematik: die schon behandelte Rahmengebung, die relativierte Autorität des Erzählers (er selber zitiert den Text ja auch), die (problematische) referenzielle Identifizierbarkeit des eigentlichen Geschehens und den Komplex der zeitlichen Konstellationen (unbekannte Vergangenheit; verdoppelte Zukunft: des Treffens bzw. der Ehe). So kommt es hier darauf an, die sprachliche Strategie, die illokutiven und diskursiv-textuellen Strukturen (der Annonce) und ihre referenziellen wie performativen Konsequenzen und Implikationen bzw. Widersprüchlichkeiten zu analysieren, weniger über mögliche Motivationen der Marquise nachzudenken, was ja letztlich spekulativer Art bleiben muss. Die Annonce – die Selbstsimulation der »Novelle« – erscheint genauer genommen als ein Zeugnis, das zwischen dem überzeitlichen Exemplum (der »unbefleckten« bzw. »unbewußten« Empfängnis) und der veröffentlichten, sogar aufgeschriebenen Zeitlichkeit (der »Vergänglichkeit«) situiert ist bzw. zwischen diesen vermitteln soll. Die Annonce als Nachricht über eine unerhörte Begebenheit bezieht sich auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft (als Verkünderin eines »aevum«), zugleich ist sie datiert. Diesen Polen lassen sich ferner zuordnen die Instanzen des auf transzendente Weise verbürgten Glaubens (das die Marquise für sich in Anspruch nimmt) und der ambivalenten, auf Versprechen angewiesenen
a.M. 2000, 212. Zum »alles zu sagen« bei Rousseau und der »Profanisierung von Beichtpraxis und Absolution« vgl. Hans Robert Jauß, Wege des Verstehens, München 1994, 53-54. Zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis vgl. Manfred Voigts, Thesen zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis, in: Aleida Assman/Jan Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Offenbarung. Archäologie der literarischen Kommunikation V.2, München 1998, 65-80; Hans-Jürgen Lüsebrink, Öffentlichkeit/Privatheit/Geheimnis – begriffshistorische und kulturanthropologische Überlegungen, in: Assmann/Assmann, Schleier und Schwelle 1, 111-123. 10 | B. Theisen hat diesen quasi-paratextuellen Zusammenhang formalisierend aufgezeigt und dabei von der »Verschiebung des gesellschaftlichen Erzählerkreises auf die anonyme Öffentlichkeit der einsetzenden Massenkommunikation« gesprochen, welche Verschiebung hier jedoch auch in die »unerhörte Begebenheit« führe und nicht nur als Rahmentechnik zu werten sei. Vgl. Bianca Theisen, Gerahmte Rahmen: Kommunikation und Metakommunikation in Kleists »Marquise von O…«, in: Tim Mehigan (Hg.), Heinrich von Kleist und die Aufklärung, Rochester 2000, 160-164. Dass aber gerade dieses Ereigniswerden des öffentlichen Rahmens mit Kategorien der »Metakommunikation« nicht zu fassen ist, wird in dieser Arbeit gezeigt. Ferner vermag Theisen letztlich nicht zu erklären, warum es zu den »Erklärungen« über Erklärungen in der Erzählung kommt, sie lässt diese Serialität einem reflexiv-metakommunikativen Moment entspringen, wobei sie jedoch einem tieferen Fehlen – der Unbeweisbarkeit (oder »Nichtkommunizierbarkeit«) von Wahrhaftigkeit – zu verdanken ist.
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Glaubwürdigkeit der profanen und mediatisierten Redeakte.11 Der Novelle – zumindest aber der Marquise – obliegt es gewissermaßen, die transzendente Verkündigung (vgl. Graf als »Engel«)12 im profanen und öffentlichen Medium zu lesen. Das Lesen selbst wird demnach als Korrelat eines Versprechens, des gegebenen Wortes, stattfinden und sich in dessen Komplikationen verwickeln. Von hier aus gesehen werden die Textualität und Interpretierbarkeit des Textes vom folgenden Zusammenhang geprägt: Die Zeugnisstruktur der Annonce steht mit der Narration in Spannung, insofern das Zeugnis auf die Narration, auf das Erzählen von Geschichten nicht zu reduzieren ist,13 sich vielmehr auf eine präsentische Seinsweise richtet, diese intensiviert. Die Narration ergibt sich nicht auf eine unmittelbare, organische Weise aus dem Zeugnisgeben, sie ist von einem weiteren Vermittlungsmoment, dem Vertrag, bedingt. So wird das Narrative (das Moment der Kausalität) von der konventionellen Instanz des Vertrags ins Leben gerufen, damit wohl auch in Gegensatz geratend mit der performativen Dimension des Zeugnisses. Die »unerhörte Gegebenheit« induziert das Erzählen einer Geschichte, sie untergräbt jenes aber auch. Der Aufruf inszeniert sowohl ein performatives wie auch ein referenzielles Interesse, er kontaminiert demnach zwei Aspekte, einerseits die performative, andererseits die kognitive Dimension der Sprache, d.h. das Versprechen und den Vertrag. In erster Linie ist der Aufruf ja ein Geständnis, um nicht zu sagen eine Beichte einer wirklich »unerhörten Begebenheit« als eines unmöglichen Ereignisses, die vor der Öffentlichkeit abgelegt wird, und der die Funktion der Selbstrechtfertigung zukommt, um die Ehre der Marquise (und der Familie) wiederherzustellen. Es ist ein Eid, durch den geschworen wird, dass sie von dem Vorfall nichts wisse, und somit ihrer Glaubwürdigkeit Glauben zu schenken sei. In diesem Sinne ist das ein Zeugnis, das gerade ein Nicht-Wissen mitteilt, von einem Widerfahrnis zeugt, das die Zeugin nicht in eine konstative Aussage umformen kann, was für sie selbst traumatisch sein kann (der Text präsentiert somit eine Urszene der Zeugenschaft).14 Wohlgemerkt entspringt dieser Eid keiner performativen Potenz oder Vermögen, vielmehr einem un-möglichen Ereignis. Ferner könnte man mit Freud sagen, das Bewusstsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur, einer Spur, 11 | Bezüglich der »Beichte« der Marquise könnte wohl die Problematisierung pietistischer Motive zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit verfolgt werden (der Pietismus war ja für die Erziehung von Kleist prägend gewesen, sein Einfluss zeigt sich auch in seinen Jugendschriften). Zum letztgenannten Komplex vgl. Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit. 12 | Zur Engelfunktion als Vermittlerin zwischen Ewigkeit und profaner Zeitlichkeit im Zeichen des »aevum« vgl. Vismann, Akten, 154. 13 | Vgl. Jacques Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 39-40. 14 | »›Passion‹ konnotiert, stets im Gedenken an die christlich-römische Bedeutung, das Martyrium, das heißt, wie sein Name es anzeigt, das Zeugnis. Es ist immer eine Passion, die Zeugnis ablegt. Selbst wenn das Zeugnis stets den Anspruch erhebt, in der Wahrheit von der Wahrheit für die Wahrheit zu zeugen, besteht es um des Wesentlichen willen nicht darin, eine Kenntnis mitzuteilen, wissen zu lassen, zu informieren, das Wahre zu sagen.« Und: »Wenn der Märtyrer Zeugnis ablegt, erzählt er keine Geschichte, sondern gibt sich preis. Er zeugt von seinem Glauben, indem er sich preisgibt oder indem er sein Leben oder seinen Körper preisgibt, und dieser Zeugnisakt ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern verweist auf nichts anderes als auf seinen gegenwärtigen Moment.« Derrida, Bleibe, 25, 40.
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die jedoch nur in ihren Folgen und Wiederholungen da ist, da sie nicht als solche erlebt wurde.15 Gerade ein Rätsel bzw. Geheimnis wird bezeugt, aber öffentlich. Es geht ja um die (sexuelle) Unschuld, die von der Aufrichtigkeit dieses Geständnisses umso mehr unterstrichen werden soll (wo also die eigentliche Unschuld von einem sprachlichen Akt – einem »sincerity act«16 – gleichsam ausagiert werden soll).17 Da dies aber nur in der Öffentlichkeit betätigt werden kann, wird der Beichtenden im gleichen Zuge eine Rolle (der Selbstapologie) zugemessen. Für ihre Glaubwürdigkeit gibt es kein Alibi18 und keinen wahren Zeugen in der Öffentlichkeit, dieser ist eben der Täter, der durch denselben Aufruf gefunden werden sollte.19 Nur er 15 | Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M. 1974, 235. Da das Zeugnis der Marquise sofort in den Vertrag (mit all seinen rechtlichgesellschaftlichen Implikationen) überformt wird, wird sich der Satz Freuds bestätigen, dass »Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind.« Ebd. 16 | Vgl. dazu neuerdings den Band The Rhetoric of Sincerity. Die Aufrichtigkeitsakte werden in diesem Band aber vorwiegend als (semiotischer) Ausdruck eines Inneren (als »Phänomenalismus der inneren Welt«, mit Nietzsche gesprochen) oder als im – näher liegenden – Sinne vom »doing sincerity« (»veritatem facere« von Augustin nach Joh. 3,21), jedoch vornehmlich als Handlungen verstanden (im letzten Fall analogisch zur etwas überbewerteten »Performanz« in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften; vgl. dagegen die nachhaltige Kritik Derridas am Begriff des »Performativen«, z.B. Jacques Derrida, Countersignatures, in: Paragraph 27 [2004], 39, ferner Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M. 2001, 71-74). Oder aber als medialer Inszenierungsakt, bei dem es überflüssig werde, nach inneren Akten zu fragen. In all diesen Vorstellungen kommt letztlich das Wesentliche der Problematik zu kurz, nämlich dass solche Akte vordergründig (ob ausgesprochen oder nicht ausgesprochen) Versprechen darstellen und auf das Bezeugen eines Anderen angewiesen sind, somit den Meineid, das falsche Zeugnis immer schon auf beiden Seiten implizieren. – Im Folgenden geht es darum, dass die pietistische Forderung der Extroversion (»die Wahrheit tun« als »ans Licht kommen«, vgl. Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit, 10) in der Novelle im Öffentlichkeitsdispositiv als ambivalent erscheint, sowohl in epistemologischer als auch in ethischer Hinsicht. 17 | Wenn der Graf seinen »Ruf« – den personalen »Ruf« überhaupt – als »die zweideutigste aller Eigenschaften« charakterisiert, schwört er nachher, dass seine »Versicherung wahrhaftig sei«, die der Obrist auch »unterschreibe[n]« würde (112). 18 | Dieses Motiv führt auch Der Zweikampf weiter, wo Littegarde ihre Ehre ohne Alibi verteidigen muss und dabei eine Beichte ablegt, der Herr Friedrich gerade in Entbehrung eines Beweises Glauben schenkt (252-254). Sie wird zwischen dem Wissen bzw. Glauben an die eigene Unschuld und die göttliche Gerechtigkeit situiert. 19 | Der Text schreibt sich damit in eine alte politische Problematik ein: »Was Sokrates und Machiavelli politisch beunruhigte, war nicht die Lüge, sondern das Problem des vor aller Welt verborgenen Verbrechens, von dem keiner erfährt außer dem Verbrecher selbst« (Hannah Arendt, Über die Revolution, Hamburg 1987, 129). Der Graf versucht ja, ein solches Verbrechen der Kenntnisnahme anderer (da gerade dem Opfer) zu entziehen, indem er kurz nach dem Vorfall energisch um die Hand der Marquise wirbt. Hören wir aber Arendt weiter: »In unserem Zusammenhang ist ausschlaggebend, daß der sokratische Täter in sich selbst einen Zeugen mitführt, vor dem er sich nicht verbergen kann, daß es also Taten, die von niemandem gesehen werden und darum überhaupt nicht in Erscheinung treten, nicht gibt.« (ebd., 130)
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könnte die Marquise ihrer verwickelten Lage entheben, sie von ihrer potentiellen Schuldigkeit freisprechen.20 Bekanntlich versucht der Graf diese Beichte auf indirekte Weise zu leisten (z.B. mit seiner Traumerzählung, 116), ohne aber von der Marquise in seiner Funktion als Zeuge (an-)erkannt zu werden. Das ist hier exakt die Lacansche Konstellation: »das Unbewußte des Subjekts [also der Marquise] ist der [quasi-performative] Diskurs des anderen [also des Grafen]«, gewissermaßen auf telepathische Weise miteinander verbunden (gerade durch einen Traum dargestellt und akzentuiert).21 Die Ermittlung der referenziellen Umstände der Tat und des Täters soll also mit der Entschuldigung der Marquise zusammenfallen: Epistemologie und (öffentliche) Moralität sollen so zur Deckung kommen. Der Tat muss ferner ein Zweck gegeben (nicht nur die Person des Täters, die Referenz soll ermittelt werden), sie muss in die Rechtsordnung zurückgeholt werden (über die Identifizierung des
Das ist das alte Postulat der Sichtbarkeit der Gewalt, mit dessen Erfüllung man überhaupt von Gewalt reden kann (vgl. Anselm Haverkamp, Kritik der Gewalt und die Möglichkeit von Gerechtigkeit: Benjamin in Deconstruction, in: ders. [Hg.], Gewalt und Gerechtigkeit: Derrida – Benjamin, Frankfurt a.M. 1994, 33). Dass das z.B. im Falle des Holocaust nicht zutrifft, sollte evident sein (vielleicht deswegen gibt es auch Leugner des Holocaust). Und so wird Arendts idealistische Schlussfolgerung auch brüchig: »Wie weit auch ein Mensch sich aus der Gesellschaft seiner Mitmenschen entfernen und was immer er, verlassen von Menschen und Göttern, anstellen mag, ihm bleibt ein ›Publikum‹, das sich wie jedes andere Publikum jederzeit in einen Gerichtshof verwandeln kann, dem er Rede und Antwort stehen muß. Spätere Zeiten haben dieses Tribunal, dem keiner entfliehen kann, ›Gewissen‹ genannt, aber sie haben nicht bedacht, daß dieses Gewissen, wenn es nicht als Gottes Stimme im Menschen verstanden ist, nicht funktionieren kann, wenn Menschen sich weigern zu denken bzw. sich weigern, mit sich selbst zu sprechen und Umgang zu pflegen« (Arendt, Über die Revolution, 130-131). Hier spielt das Gewissen die Rolle des Dritten, der im Bewusstsein des Täters implementiert wird und durch diese Adressierung die »Tat« wiederherstellt, d.h. ihre Beziehung zum Täter festschreibt. Der Haken bei Kleist ist natürlich, dass der Graf gerade nicht einfach wegen seiner selbst schweigt, sondern um den guten Ruf der Marquise nicht zu gefährden. Also handelt er sowohl ethisch (und diese Ethik richtet sich hier auf den Anderen, im Unterschied zu Arendts Tribunal) als auch nicht-ethisch, und wer würde da eine klare Gewichtung wagen! Darüber hinaus kann gerade die innere Stimme des Täters als Autorisierung der Tat, als Berufungsgrund des Täters fungieren, vor dieser Depravierung ist keine innere Stimme des kategorischen Imperativs (gerade als eines Diktats) gefeit – genau dieses Dilemma könnte ein Thema der Erzählung von Kleist sein (darauf kommen wir zurück). 20 | Der Graf verkörpert hier die Figur des Dritten, ihm eignet die dieser Figur charakteristische Verdopplung: als Täter stellt er die »Irritation«, als Zeuge die »Institution« dar (vgl. Albrecht Koschorke, Institutionentheorie, in: Eva Eßlinger/Tobias Schlechtriemen/Doris Schweitzer/Alexander Zons [Hg.], Die Figur des Dritten, Berlin 2010, 49). Er steht innerhalb wie außerhalb der kulturell-politischen Ordnung (wie ein Parasit) und zeigt eine Verschränkung von institutionellen (Vertrag) und informellen (Familie) Triaden an. Die Öffentlichkeit wird in der Annonce unvermeidlich auch als Dritte adressiert, wobei ihr mehr die Rolle der Institution, dem Täter hingegen vordergründig die Rolle der Irritation zukommt. 21 | Vgl. Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: ders., Schriften I (Hg. Norbert Haas), Berlin/Weinheim 1986, 104.
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Täters hinaus)22, und dies wird vom Vertrag – auch als einer legitimierenden wie legalisierenden Ermächtigung zum Versprechen – vollzogen.23 Dieser leistet zugleich eine Vergesellschaftung des Nachfahren als eines Individuums,24 sogar im Sinne einer Biopolitik.25 Die Person, nach der gesucht wird, erscheint von vornherein als ein referenzieller Zeuge, eben als Täter, ferner als Vertragspartner, d.h. in beiden Fällen als ein Rechtssubjekt, kein singuläres Individuum, sondern in 22 | Zur Verbindung von Strafe und öffentlicher Gewalt – im Unterschied zur Gewalt des Souveräns (sogar antagonistisch zu ihr) – vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, 103-104. Zur Beziehung von Strafgewalt und Gesellschaftsvertrag vgl. ebd., 114-119. Der genealogische Blick von Foucault ist evidenterweise an Nietzsche geschult (vgl. Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und Zur Genealogie der Moral). Zur »Ökonomie der Öffentlichkeit« nach dem Souverän vgl. Foucault: »Jetzt ist der Träger des Exempels die Lektion, der Diskurs, das lesbare Zeichen, die Inszenierung und Abbildung der öffentlichen Moralität. Die Zeremonie der Züchtigung beruht nicht mehr auf der schreckenerregenden Wiederherstellung von Souveränität, sondern auf der Wiederinkraftsetzung des Gesetzbuches, auf der kollektiven Festigung des Bandes zwischen der Idee des Verbrechens und der Idee der Strafe […] Die öffentliche Bestrafung ist die Zeremonie der unmittelbaren Wiederherstellung des Codex/Code« (ebd., 141-142). Im Text von Kleist wird der Code aber wohl erst etabliert, nicht einfach wiederhergestellt, und dieser Aspekt markiert den Übergang zur Technologie der Individualität (ebd., 165). 23 | Auf diese Weise nimmt die Marquise einen doppelten Vertrag auf sich, im Sinne des »double rapport« von Rousseau: als Partizipantin der Gesellschaft als Macht verpflichtet sie sich gegenüber den Privatpersonen (hier: dem Grafen als Täter oder Verbrecher), und als Mitglied der Gesellschaft gegenüber der (Macht der) öffentlichen Meinung. S. ferner Kant, Metaphysik der Sitten, 382. 24 | In Übereinstimmung mit der historischen Funktion der Vertragsfigur in der bürgerlichen Gesellschaft in Preußen am Anfang des 19. Jh.s, vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M. 2006, 471-472. 25 | Am Ende der Erzählung geht die Ehe der Marquise und des Grafen bekanntlich in eine regelrechte Lebensproduktion über (»Eine ganze Reihe von jungen Russen folgte jetzt noch dem ersten«, 143), vorhin wurde der ihr damals noch unbekannte Täter von der Marquise als »zum Auswurf seiner Gattung« gehörend bezeichnet (127). Die Erzählung inszeniert dadurch den Übergang zum modernen Dispositiv der biopolitischen Kontrolle im Zeichen des Kollektivsubjekts »Bevölkerung«, über das bekanntlich Foucault handelte, vgl. jüngst: Michel Foucault, Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, 65-88. In dieser Hinsicht weist der Vertrag auf das von Foucault so genannte »Allianzdispositiv« hin, das durch die Familie mit dem Sexualitätsdispositiv verknüpft wird: »Die Familie ist der Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz: sie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualitätsdispositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und die Intensität der Empfindungen in das Allianzregime.« (Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a.M. 1977, 131.) Folgender (freudianischer) Punkt ist noch relevant für Die Marquise von O…: »Diese Verhäkelung von Allianz und Sexualität in der Familie macht einige Tatsachen verständlich: daß die Familie im seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gefühlen, Liebe geworden ist; daß die Sexualität ihre bevorzugte Brutstätte in der Familie hat; und daß sie sich aus diesem Grunde ›inzestuös‹ entwickelt« (ebd.). Die Aussöhnung der Marquise mit ihrem Vater findet bekanntlich in einer quasi-inzestuösen Szene statt (138).
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einer Rolle situiert. Durch den ethisch-rechtlich-politischen Vertrag wird geradezu das (ursprüngliche) sprachliche Versprechen (der Wahrhaftigkeit) kontraktualisiert und dadurch als solches bestimmt, auf der anderen Seite wird der Täter als Vertragspartner determiniert.26 In diesem Sinne kann man sagen, dass die Erzählung als Narrativität – die auf dem Vertrag basiert – zwischen Kognition und Moralität, Natur und Kultur, ferner zwischen Wissen und Handeln, zwischen Wort und Tat vermittelt und diese Verbindung privatrechtlich absichert.27 Weder die Narrativität noch die Verbindung zwischen den genannten Bereichen und diese selbst sind als solche gegeben, sie konstituieren sich erst in ihrer wechselseitigen Verbindung, ohne aber eine restlose Kontinuität errichten zu können. Zusammengefasst: die Marquise versucht, Tun und Täter, das eigene (wahre) Versprechen und sich selbst zu verknüpfen (als Prinzip ebendieses Versprechens), dieses Postulat wird gleichsam von der Suche nach dem (männlichen) Täter gespiegelt bzw. modelliert. Ihr Zusammengehören wiederum soll vom Vertrag gewährleistet werden (was freilich auf die prekäre Seinsweise dieser Verbindung[en] hindeutet). Im gleichen Moment stellt der Aufruf aber den Vertrag dar, im Sinne der in Aussicht gestellten Eheschließung »aus Familienrücksichten«. Dieser Vertrag wiederum verdoppelt sich, so wie die Position des komplementären Zeugen zwischen individuellem Täter und transindividueller Öffentlichkeit sich entzweite, da bereits das Anbieten der Eheschließung ein Vertrag ist (für das Sich-Melden des Vaters), der wiederum im Ehevertrag münden soll. Der Aufruf zeigt also einen Vertrag in Bezug auf die Wahrhaftigkeit des »Bekenntnisses« an, indem diese durch jenen unterstützt werden soll im Sinne eines Pfandes. Die Marquise verpfändet ihre eigene Zukunft, sie institutionalisiert sie sogar, um die Glaubwürdigkeit ihres Bekenntnisses zu sichern. Als ob man sich der (vermeintlich privaten) Vergangenheit nur durch eine (angeblich öffentliche) Politisierung der Zukunft vergewissern könnte. Wohlgemerkt geht dieses Versprechen durch den Vertrag oder in ihm bereits mit einem Meineid einher, da die Marquise nach dem Tod ihres Mannes sich und ihrer Familie versprochen hatte, nicht mehr zu heiraten.28 Dies bedeutet hier 26 | Der Graf verharrt ja während der gesamten Erzählung in der Anonymität, der Buchstabe für seinen Namen – »F« – wurde gar als Deckname für »fecit« ausgelegt, also die juristische Bezeichnung für den Täter. 27 | Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurden im Kontext des Eherechts die Vermögensrechte der Frau besonders geschützt, auch die Rechte der unehelichen Kinder (vgl. am Ende der Erzählung die »Schenkung von 20000 Rubel an den Knaben« und das »Testament«, in dem die Mutter zur Erbin seines Vermögens wird). Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichten, 473. 28 | Sie bekräftigt diese Entscheidung nach dem Werben des Grafen ihrer Familie gegenüber. Gleich darauf nimmt sie sie aber auch zurück, in einer merkwürdig stotternden Rede: »… wie würdest du dich, falls er alsdann seinen Antrag wiederholte, erklären? In diesem Fall, versetzte die Marquise, würd ich – da in der Tat seine Wünsche so lebhaft scheinen, diese Wünsche – sie stockte, und ihre Augen glänzten, indem sie dies sagte – um der Verbindlichkeit willen, die ich ihm schuldig bin, erfüllen.« (117) Klaus Schwind weist zu Recht darauf hin, dass diese Szene »ein kleines Lehrbeispiel für die Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« darstellen könnte (Schwind, Heinrich von Kleist, 56). Interessanterweise mündet diese allmähliche Verfertigung gleich in die Vertragsstruktur hinein, diese scheint gewissermaßen mit jenem Vollzug zusammenzufallen, oder vielleicht anders: gleichsam im
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nichts weniger, als dass der Vertrag das Versprechen (der Unschuld) in den Sündenfall hineinverwickelt.29 Der Ehevertrag ist auch doppelsinnig: Die »Familienrücksichten« können sich ja sowohl auf die Familie der Marquise beziehen, die in der Tat mit Entrüstung auf den »anderen Umstand« der Marquise reagiert, aber auch auf die Zukunft des Nachkömmlings und die Konstitution der Familie mit dem gefundenen Vater.30 In diesem zweiten Fall spricht die Marquise in der Rolle der künftigen Ehefrau, aus der Sicht der »bürgerlichen Gesellschaft«, der familiären Intimität.31 Somit könnte Nachhinein wird diesem Versprechen die ökonomische Konstellation der Schuld und ihrer Aufhebung untergeschoben als eine Art Legitimationsakt. Die Marquise scheint ihrer Sprache doch nicht ganz mächtig zu sein, und so bleibt es unentscheidbar, ob die ökonomische Fundierung ihres Versprechens ihr unterläuft oder ob sie intentional erfolgt. 29 | In Kleists Drama Die Familie Schroffenstein etwa stellt der Erbvertrag »die entmythologisierte Form des Sündenfalls« dar, vgl. Joachim Pfeiffer, Die zerbrochenen Bilder. Gestörte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists, Würzburg 1989, 39. 30 | Sie lässt »jene sonderbare Aufforderung in die Intelligenzblätter von M… rücken«, nachdem sie auf den »unerträglichen Gedanken« kommt, dass »dem jungen Wesen […] ein Schandfleck in der bürgerlichen Gesellschaft ankleben« würde (126-127). Andererseits ist auch diese Begründung – in Bezug auf welche Familie auch immer – nicht überzubewerten (d.h. eine weitere Möglichkeit der Allegorese wird vom Text suspendiert), da am Ende der Vater schlicht mit der Berufung auf ihr gegebenes Wort die Umsetzung des Heiratsvertrags initiiert. Die Annonce als Vertrag wird zu einem Totem und in diesem Sinne zu einem Kulturalisierungsdispositiv: »Das totemistische System war gleichsam ein Vertrag mit dem Vater […] Es lag auch ein Rechtfertigungsversuch im Totemismus […] So verhalf der Totemismus dazu, die Verhältnisse zu beschönigen und das Ereignis vergessen zu machen, dem er seine Entstehung verdankte.« (Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1974, 428) Überhaupt könnte die Suche nach dem Vater als eine Allegorie der Kulturalität gelesen werden, vgl. noch einmal Freud: »… diese Wendung von der Mutter zum Vater bezeichnet […] einen Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, also einen Kulturfortschritt, denn die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut« (Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1974, 560). Kulturelle und rechtliche Gewalt lassen sich bei Kleist voneinander schwer trennen – dazu gesellt sich die gouvernementale Gewalt, die die Subjekte »charakterisiert, klassifiziert, spezialisiert« (Foucault, Überwachen, 286), hier: sie zu Subjekten der erwähnten Lebensproduktion macht. Kleists Erzählung buchstabiert also diesen grundlegenden historisch-politischen Übergang im frühen 19. Jh. aus (zu diesem Komplex um 1800 vgl. Friedrich Kittler, Dichter, Mutter, Kind, München 1991). Alle drei institutionellen Gewalten aber antworten in seinem Text (und auch in anderen Texten von ihm) auf ein Ereignis, dessen unvordenkliche Gewalt und ihre Verschwisterung mit der Sprache jenen vorausgehen und die jene sowohl wiederholen als auch – sogar durch Autorisierungsstrategien – verdecken. 31 | Auf der Ebene der politischen Allegorie erscheint diese vorweggenommene Rolle als eine geschichtsphilosophische Legitimation der sich durch die Öffentlichkeit formierenden bürgerlichen Gesellschaft (zur Geschichtsphilosophie als »politischer Macht« vgl. Koselleck, Kritik und Krise, 112-113). Ihr Ziel ist letztlich die Aufhebung noch der Vertragsfigur und die utopische Etablierung des Naturzustandes: »… the second wedding seems called for to overcome the contract of the first. Then there is perhaps no contract in effect, which implies
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man sagen, dass das Hinaustreten der Marquise in die Öffentlichkeit – das Rollenmuster des sich im gleichen Zuge entschuldigenden Zeugnisses – nur erfolge, um sich gleich darauf »in ihr Innerstes« zurückziehen zu können (hier könnte eine Kritik der bürgerlichen Öffentlichkeit bei Kleist angedeutet werden).32 Der öffentliche Aufruf wäre in dieser Hinsicht berufen, die ethische Immunität, den Selbstschutz der Marquise herbeizuführen, folglich kommt der Öffentlichkeit hier eine sowohl existentielle als auch instrumentale Bedeutung zu, um die Zukunft (via Vertrag) – auch die Zukunft des Versprechens – zu beherrschen. Der öffentliche Aufruf als Versprechen konnotiert einen Ausnahmezustand, insofern seine referenzielle und konventionelle Basis aufgehoben ist und auch der Täter sich nicht mit absoluter Gewissheit identifizieren und legitimieren kann (vgl. den Fall der Stellvertretung mit Leopardo, dem Jäger, der dabei zu einem QuasiOpfer wird – vielleicht daher der Tiername für den Jäger von Tieren?). Überhaupt die öffentliche Meinung als Medium für die Aufklärung der rätselhaften Begebenheit zu benutzen, inauguriert oder wiederholt den Ausnahmezustand, insofern die Reaktionen oder Taten Einzelner ausschlaggebend sein können. Dieser Ausnahmezustand wiederholt gewissermaßen die Szene des Ansturms33 und wird zu einem echten Schock, in doppelter Hinsicht: die Veröffentlichung des Aufrufs und dann das Erscheinen des Grafen als Täter. Die Referenz, die durch das Medium der öffentlichen Kommunikation ermittelt wird, wiederholt den Schock, sie bestätigt keineswegs nur die Überzeugung der Marquise (dafür aber die Überzeugung von anderen, der Hebamme, des Vaters usw.). Öffentlichkeit oder öffentliche Meinung können hier also nicht nur als Reizschutz funktionieren,34 sondern auch als dessen unvorhergesehene Durchbrechung. Auf diesen Effekt antwortet der Vertrag – angeboten freilich wiederum in derselben öffentlichen Kommunikation –, der mit seiner normativen Funktion den eigentlichen Reizschutz garantieren soll (für die Zukunft).
that the family remains in the state of nature« (Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome, Chicago/London 1990, 122). 32 | In der Fachliteratur wurde auch wiederholt festgestellt, dass die Marquise sich nach dem Publizieren der Annonce fast ausschließlich auf ihrem Besitz, völlig zurückgezogen aufhält (gleichsam à la Rousseau). Zur Korrespondenz von öffentlicher Präsenz und dem Rückzug auf den Besitz vgl. die These von Jürgen Habermas über die ökonomische Grundlage der Öffentlichkeit: Strukturwandel, 121. Die familiäre Individuumproduktion kann nur über den »Umweg« durch die gesellschaftliche Öffentlichkeit erfolgen, in der kulturelle und politische Dispositive wirksam sind und die sich schwer unterscheiden lassen von der familiären Intimität und ihrer Triangulation (Vater, Mutter, Kind). Vgl. die bekannte Kritik an der Ödipalisierung bei Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 1974. 33 | Wohlgemerkt aber viel subversiver: die Sturmszene war noch ein regelrechter gesellschaftlicher Repräsentationsprozess mit seinen normierten Verhaltensformen im Vergleich zu den wiederholten Szenen, in denen die Marquise ihre Selbstkontrolle völlig verliert. 34 | Zur Öffentlichkeit als defensivem Dispositiv oder Reizschutz vgl. Norbert Bolz, Weltkommunikation. Über die Öffentlichkeit in Werbung, in: Rudolf Maresch (Hg.), Medien und Öffentlichkeit, München 1996, 77-88; Bernhard Siegert, Es gibt keine Massenmedien, in: Maresch (Hg.), Medien und Öffentlichkeit, 108-115.
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Im Grunde kommt die Annonce einem An-akoluthon (nicht einfach einem »Skandalon«)35 gleich, einem performativen Akt, einem Versprechen, das nach seinem Zeugen ruft, nach einem Begleiter,36 hier auch wortwörtlich, indem der Zeuge zum Lebensgefährten der Marquise werden soll. Ein solcher Aufruf, der sich selbst, seine Performativität nicht selber – und anhand keiner Konvention – fundieren kann, sondern auf eine gegenzeichnende Zeugenschaft angewiesen ist, ist sowohl privat wie öffentlich.37 Dieser Anruf ist das Korrelat jenes Fehlens, das vom Zeugnis selbst aufgerufen wird (ein Zeugnis für das Fehlen einer Bezeugung)38 – das auch den Zeugen verdoppelt, in eine Rolle der sich entschuldigenden und rechtfertigenden Rede (bar referenzieller Beweise) und in den eigentlichen Zeugen, der als »Objekt« des Widerfahrnis bezeugt wird. Das Zeugnis selbst treibt dieses Fehlen hervor, in der Rolle ist der Zeuge immer schon auch der Dritte – welche Figur hier von der öffentlichen, schriftlichen Annonce noch verstärkt wird. Das heißt natürlich auch, dass das »Unerhörte« in jeglicher Hinsicht (z.B. auch medial) vom Zeugnis selbst mit veranlasst wird. Die implizite Fiktionalität des Zeugnisses wird somit aktiv (wegen der testimonialen Ambivalenz)39, und es finden Kreuzungen zwischen fiktiv und nicht-fiktiv, geheim und öffentlich statt. Mit den Worten Kants über die Vertragsstruktur gesprochen: Das ursprüngliche Versprechen ist »das Versprechen (promissum)«, die Realisierung des (Ehe-) Vertrags vom Anderen hingegen »die Annehmung (acceptatio)«.40 Dass die Annonce bei Kleist in Versprechen und Vertrag zerfällt, sogar den Vertrag auch verdoppelt (ökonomischer Tausch bzw. Ehe), wirft ein interessantes Licht auf die Kantsche Bestimmung, wie diese auch die Einsätze bei Kleist klären kann. Das Ineinander von Sich-Melden und dem Eingehen der Ehe – diese beiden setzen sich wechselseitig voraus – entspricht der Einheit von »Schließung und Vollziehung«, der Vertrag »schließt alle Zwischenzeit« zwischen diesen, ihre Aufeinanderfolge aus (denn »durch den Vertrag also erwerbe ich das Versprechen eines anderen (nicht das Versprochene) und doch kommt etwas zu meiner äußeren Habe hinzu …«, 386). Dies kann gewissermaßen auch das Versprechen charakterisieren: das Geben und Nehmen des eigenen Wortes gehören zusammen, wenn ein gegebenes Wort (ein Versprechen) zurückgewiesen wird, so ist es nichtig. Bei Kant hingegen geht es um eine Totalisierung – er argumentiert länger gegen die Einführung einer »bestimmten Zeit« zwischen den beiden Komponenten des Vertrags –, die aus »einem einzigen gemeinsamen Willen«, »(welches durch das Wort zugleich ausgedrückt wird)«, hervorgeht (385). Persönliches Recht und dingliches (Sachen-)Recht sollen im Vertrag so nahtlos zur Deckung kommen (auch wenn Kant eine Zeitdifferenz zwischen ihnen u.U. einzuräumen bereit ist und sagt, diese solle wieder durch einen zweiten Vertrag überbrückt werden), Kant bietet zugleich aber eine unbe35 | Vgl. Neumann, Skandalon, 149-192. 36 | Vgl. Derridas performativ-testimonial orientierte Ausdeutung des Begriffs Anakoluthon: Jacques Derrida, ›Le Parjure‹, Perhaps: Storytelling and Lying (»abrupt breaches of syntax«), in: Carol Jacobs (Hg.), Acts of Narrative, Stanford 2003, 195-234. 37 | Vgl. nochmals Jacques Derrida, Die Postkarte I, Berlin 1982, 227. 38 | Vgl. Derrida, Bleibe, 30-31. 39 | Derrida schärft wiederholt ein, dass das Zeugnis vor der Fiktion nie gefeit sein kann, vgl. ebd., 84-85. 40 | Kant, Metaphysik der Sitten, 383. Weitere Seitenzahlen in Klammern.
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dingte Instanz an, die diese Einheit überhaupt fundiert: »das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person« (389). Dieser Sachverhalt wurde von ihm etwas früher gerade in Bezug auf die Frage »warum soll ich mein Versprechen halten?« ausgeführt, die er folgendermaßen beantwortet: »Denn daß ich es soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen […] Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahierenden) Vernunft, und die Lehre der Möglichkeit der Abstraktion von jenen Bedingungen, ohne daß dadurch der Besitz desselben aufgehoben wird, ist selbst Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag …« (385) Auch »der Ehevertrag« – als Gesellschaftsvertrag – wird »durchs Gesetz der Menschheit« zu einem »notwendigen Vertrag« (390). Mit texttheoretischen Termini könnte man sagen, das persönliche Recht – der Text – werde mit dem dinglichen Recht – mit der Referenz bzw. dem Handeln – verschmolzen oder identisch. Diese – vom Vertrag garantierte – Einheit wiederum wird verbürgt vom kategorischen Imperativ und dem Recht der Menschheit (Ethik und Gesetz werden identisch, wobei wir gesehen haben, dass wenn die erstere sich auf den Anderen richten muss, dies aus der Sicht des zweiten als unmoralisch erscheinen kann). Damit aber tilgt Kant die Differenz zwischen Versprechen und Vertrag (Verpflichtung), die bei Kleist wichtig wird, er totalisiert sie, und zwar durch die Berufung auf die Moralität (kategorischer Imperativ) und das Recht der Menschheit, also mit Größen, die anderswo bei ihm mit den Begriffen der Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung besetzt werden und die auch (als der »Leumund der Welt«, 124) in der Erzählung eine implizite, gleichwohl kardinale Rolle einnehmen. Jene Differenz ist aber auch eine zeitliche (sie reißt entgegen den Vorkehrungen von Kant eine gespensterhafte »ZwischenZeit« auf), aus ihrer Ambivalenz resultieren die zeitlich-narrativen Komplikationen der Erzählung, indem z.B. unentscheidbar wird: hat denn die Marquise bereits bei der Ankündigung der Annonce ihr Versprechen (der Ehe) nicht ernst gemeint oder es beim Erkennen des Grafen als des Täters quasi zurückgenommen oder nicht einlösen können (bis sie der Vater drängt, ihr Wort zu halten)? Bei Kleist scheint ein gewisses Nicht-Wissen (in referenzieller Hinsicht) die Bedingung für das Versprechen darzustellen, zugleich kann das Versprechen erst durch die Überführung dieses Nicht-Wissens in eine referenzielle Gewissheit mit einem Pfand versehen werden. So wird aber auch die Performativität des Versprechens eingeschränkt, für die das Nicht-Wissen konstitutiv ist: Könnte man die Unschuld, die Glaubwürdigkeit usw. beweisen, so bräuchte man das Versprechen nicht mehr. Die Gegenzeichnung des Versprechens durch den paradoxerweise einzig wahren Zeugen, der der Täter ist,41 ist nämlich auch auf eine Glaubwürdigkeit seinerseits angewiesen. Denn auch er – erst recht er – ist entzweit: als Täter und Zeuge, der aber im Späteren gerade von seiner Tat nicht zeugen kann; sein angeblich unwissendes »Glaubensbekenntnis« über die Unschuld der Marquise wird aber wohlgemerkt nicht angenommen: d.h. die Marquise glaubt letztlich nicht an die eigene Beichtehandlung (ohne referenziellen Garanten), insofern sie die selbe 41 | »Der Graf erwiderte, daß […] ihre Erklärung über ihre Unschuld vollkommenen Glauben bei ihm fände …« (128) »Der Zeuge ist an der Hervorbringung des Sündenfalls beteiligt« – schreibt Ch. Moser mit Blick auf Das Marionettentheater. Christian Moser, Prüfungen der Unschuld: Kleist und Rousseau, in: Mehigan, Heinrich von Kleist und die Aufklärung, 102.
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Handlung dem Grafen – dass er von ihrer Unschuld ohne Wissen überzeugt sei – anscheinend nicht zutraut.42 So nimmt auch die Beichte oder das Geständnis selbst das Attribut »unglaublich« an, nicht nur das rätselhafte Geschehen an sich. Die beiden Hauptfiguren stehen sich in einem spiegelsymmetrischen Chiasmus gegenüber: die Marquise bekennt ohne referenzielles Wissen, der Graf legt seine Beichte nicht (bzw. nur indirekt) ab, dabei ist er sich über die referenziellen Umstände des Vorfalls sehr wohl im Klaren. Wissen und Bekennen, Erkennen und Handeln kommen nicht zur Deckung, zugleich finden Stellvertretungen zwischen den beiden Figuren statt, insofern die Marquise nicht als eine Zeugin des eigentlichen Geschehens gelten kann und gerade deswegen ein (paradoxes und ambivalentes) Zeugnis ablegt, das der Graf zu bezeugen hat. In diesem Sinne aber stellt der Vertrag auch die Aufrichtigkeit des Täters auf die Probe, nicht nur stützt er die Wahrhaftigkeit des Geständnisses der Inserierenden (Versprechen und Vertrag können aber auch hier in keine pure Kontinuität treten).43 Darüber hinaus wird das Geheimnis – und das macht die paradoxe Ver42 | Sie kann die Versicherung des Grafen freilich auch nicht annehmen, da sie sich vor der Öffentlichkeit verpflichtet hatte, den Vater des Kindes zu heiraten. Zu diesem Moment steht natürlich der Sachverhalt in ironischem Kontrast, dass gerade ihre Familie ihr nicht glaubt (s. die Beweisprobe mit Leopardo, dem Jäger). Glaubwürdigkeit und Unglaubwürdigkeit, Vertrautheit und Fremdheit, Kennen und Nicht-Kennen werden also mit den Polen des Privaten und Öffentlichen chiastisch vertauscht bzw. verunsichert. 43 | Dieser Aspekt lässt sich mit Foucault als Moment der politischen Technologie der Individuen auffassen: Das Geständnis des Grafen ist Voraussetzung für die (ökonomisch strukturierte) »Wiedergutmachung« des Verbrechens, die von der »kollektiven und nutzbringenden Aneignung« determiniert wird (und keine Ausstoßung aus der Gesellschaft zur Folge hat, im Gegenteil). Diese Struktur eignet dem Disziplinarsystem der Gesellschaft (vgl. Foucault, Überwachen, 139-141; 271-292). (Zur »Subjektwerdung« vor dem Gericht des Gewissens und als Folge der autobiographischen Beichte als »Aktenführung« vgl. Vismann, Akten, 235236; zum Übergang auch im Werk Kleists zwischen Naturrecht und Individualität, deren Operationsmodus die Selbstanalyse sein soll, vgl. Moser, Prüfungen der Unschuld, 92-112). Freilich fehlt bei Kleist genau jenes Element, das die Öffentlichkeit wirklich mit einbeziehen könnte: »die Zeichen, die er [der Schuldige] von sich gibt« (Foucault, Überwachen, 141), vor allem das Geständnis seiner Tat, das bekanntlich nicht erfolgt. Dadurch fehlt auch die »Lektion« oder das »Exempel« in der Kleistschen Textur, und gerade dadurch wird seine Erzählung »unglaublich« bzw. »unerhört«, nicht einfach wegen der in der Tat ungewöhnlichen Begebenheit, sondern vor allem wegen des Fehlens der Erschließung des Inneren, d.h. der Intention und der Bedeutung der Beichte! Das Attribut »unerhört« oder »unglaublich« kommt einem Text nicht per se zu, sondern ist hermeneutisch bzw. performativ bedingt. Dieser Tatbestand könnte auch an die Grenzen der Foucaultschen Archäologie führen: Es scheint, dass die politische Technologie der Individuen, die deren Gewohnheiten und Begehren (den »Körper«) zum Ausgangspunkt nimmt, da sie normierend verfährt, letztlich nicht-individuelle Momente an den Individuen beobachtet bzw. instrumentiert. Durch den Aufruf wird die Beichte des Täters erzwungen, er wird einer Prüfung unterworfen, die »die Individualität dokumentierbar« machen sollte (ebd., 243), dennoch gelingt dies nicht restlos, sondern nur in Bezug auf den Täter als Rechtssubjekt. Auch die politische Technologie der Subjekte schreibt diesen doch eine Souveränität zu, die am Kleistschen Horizont – vor allem aus sprachlichen Gründen! – nicht gegeben zu sein scheint. Ferner ist es fraglich, ob
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schränkung von Geheimnis und Öffentlichkeit aus – gerade so gewahrt, dass der Täter ihr verbunden bleibt44, gar in den Vertrag des Performativen hineingelockt wird. So ist der im Aufruf erzeugten Konstellation, dem Archiv des Geständnisses, auch eine theatralische mise-en-abyme-Struktur zu eigen: vor der Öffentlichkeit wird eine Beichteszene inszeniert, in der die »Sünderin« zwar ebendieser Öffentlichkeit gegenüber beichtet, zugleich aber doch nur von einer singulären Person freigesprochen werden kann (die Zeugnis für sie ablegt), die wiederum durch diesen Aufruf gefunden werden soll. Die Annonce spricht also gewissermaßen mit doppelter oder gespaltener Stimme,45 sie ist bereits in ihrer Performativität gedoppelt: Sie stellt einen Ruf nach dem Zeugen ihrer eigenen Glaubwürdigkeit dar, zugleich kann nur in ihrem Zusammenhang überhaupt vom Zeugen, dem ursprünglichen Täter, gesprochen werden (so wie auch nicht einfach von einer sprachlosen Unschuld, sondern von der versprochenen Unschuld die Rede sein kann). Die Divergenz zwischen der testimonialen Rolle der Öffentlichkeit und des singulären Zeugen – ein Kontrast, der in der paradoxen Vorstellung der »öffentlichen Beichte« aufscheint46 – schreibt sich beiden Akteuren ein: Die Öffentlichkeit wird gleichsam adressiert, sie kann aber nicht für die Beichte einstehen, der eigentliche Zeuge kann nicht angesprochen werden, wobei letztlich nur er für die Glaubwürdigkeit der Beichte bürgen könnte.47 Er wird aber, wie gesagt, als referenzieller Zeuge determiniert, als ein Rechtssubjekt, was die Zeugenschaft verrechtlicht und sie infolge dieser juridischen Codierung ihrer Einzigartigkeit beraubt. Zugleich wird gerade die Freisprechung durch den unbekannten Zeugen in der Annonce als
die Bußpraktiken (Beichte) nur in Kontexten der Macht auszulegen sind (wie Michel Foucault suggestiv nahelegt, vgl. Wille zum Wissen, 77-81). 44 | Im Sinne von »Schwöre mir, dass du nicht verrätst, was nicht zu verraten ich geschworen habe.« Vgl. Jacques Derrida, Die Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, 350. 45 | Gleichsam in der Weise der akolytischen Struktur, vgl. wiederum Derrida, ›Le Parjure‹. 46 | So kann man feststellen, dass diese Figuration der Beichte in den Kreuzungen von Innerlichkeit, Familie, Öffentlichkeit und Gesellschaft mit der »Sorge um sich« und ihren Subjektivierungsdispositiven (Foucault) nicht angemessen zu beschreiben ist, diese stellt einen möglichen Aspekt dieser Konfiguration dar. Hier sind vornehmlich auch gemeinschaftlichöffentliche Effekte und Einsätze im Spiel, und dies verkompliziert die Ausdeutung der performativen und referenziellen Implikationen dieser »Beichte« (zu einem ähnlichen Punkt vgl. Frans-Willem Korsten, The Irreconcilability of Hypocrisy and Sincerity, in: Ernst van Alphen/ Mieke Bal/Carel Smith (Hg.), The Rhetoric of Sincerity, Stanford 2009, 69). (Überhaupt scheint Foucault die Institution der Beichte etwas einseitig, eben machttheoretisch auszulegen und nimmt dabei ihr Moment der Zeugenschaft ziemlich restriktiv – als Element einer Strategie – ins Visier.) 47 | Diese Komplikationen zwischen Universalität und Singularität werden in Michael Kohlhaas im Kampf für die »Wahrheit« ausgetragen, welcher Kampf im oder als Ausnahmezustand stattfindet und dadurch die Gewaltsamkeit jeglicher Gesetzgebung aufdeckt: »The appeal to a justice that is private and at the same time universal, a law above the law, is intrinsically violent, even when that appeal is performed in the most nonviolent way, for example, by passive disobedience or by peaceful assembly.« J. Hillis Miller, Laying Down the Law in Literature: Kleist, in: ders., Topographies, Stanford 1995, 93.
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einem Text theatralisch inszeniert oder präsentiert.48 Nun scheint diese Divergenz zwischen der Adressierung und dem eigentlichen Rufen aber strukturell mit dem Meineid verwandt zu sein: insofern die öffentliche und singuläre Funktion des Bekenntnisses und seiner Zeugenschaft miteinander nicht zu verschmelzen sind, so sucht die Verdopplung das Geständnis selbst heim, die aber nicht einfach einer Intention, sondern vielmehr dem Nicht-Wissen zuzuschreiben ist, das Möglichkeit und Unmöglichkeit des Geständnisses impliziert. So wird jedoch gewissermaßen Verrat geübt am erwarteten singulären Zeugnis des vermeintlichen Täters, insofern dieser von vornherein als Rechtssubjekt, als Partner des Vertrags oder als Rollenträger eingeführt wird, bevor man weiß, um wen es sich überhaupt handelt. Man kann sogar sagen, dass die »Versicherung« als Versprechen vom Vertrag, von seinem obligativen Zug aufgelöst werde, da ein Versprechen, das als eine Verpflichtung eingehalten werden muss, letztlich kein Versprechen mehr ist (vielmehr eine Ankündigung).49 So schließt der Vertrag das Geständnis eigentlich von vornherein aus, indem ihm letztlich kein Vertrauen geschenkt bzw. auf den Beweis abgehoben wird. Der Vertrag wird eingesetzt, um das Versprechen als eine Tat (wieder-) herzustellen, seinen performativen Wert zu sichern, es vom Vertrag autorisieren zu lassen. Letztlich glaubt das Subjekt des Versprechens in dieser Konstellation nicht an das (eigene) Versprechen, dennoch vollzieht es seinen Sprechakt – auch diese un-glaubliche Leere im Versprechen selbst soll vom Vertrag ausgefüllt oder neutralisiert werden (neben der Feststellung der Identität des Täters). In der Metalepse zwischen Versprechen und Vertrag wird etwas versprochen, worauf man sich gleichzeitig beruft50 – das ist die latente Gewalt der Vertragsstruktur als solcher,
48 | So erhält die Wiederholung der Hochzeit am Schluss der Erzählung ebendiesen theatralischen Effekt, welche Wiederholung wohlgemerkt vom Vertrag nötig gemacht wird. Hier agieren die Obristin wie der Obrist als Regisseure, als Stellvertreter statt der Marquise und zugleich als Schauspieler im »event«: Die Mutter führt die Handlung gleichsam zum Ende (mit der Betonung der Notwendigkeit des Verzeihens, des Vergessens), während der Vater auf dem gegebenen Wort der Marquise beharrt. Die Frage ist nicht endgültig zu beantworten: wem gegeben, dem Vater des Kindes oder der Öffentlichkeit oder gar der eigenen Familie? Die Stellvertreterfunktion der Mutter in der Auslösung des Verzeihens deutet auf dessen erpressten Charakter hin und legt die Gewaltsamkeit des Vergessens nahe (dies wird betont von Cavell, Conditions, 123-124: »… a denial, a violent forgetting of something whose reappearance is uncanny and may begin and recur as disappointing, hence is not a recovery of a former appearance or presentation«). Zur Theatralik in der Erzählung vgl. noch Schwind, Heinrich von Kleist, 66. 49 | Vgl. hierzu die umsichtige Trennung von Versprechen und Verpflichtung bei Hans Lipps, Bemerkungen über das Versprechen, in: ders., Die Verbindlichkeit der Sprache, Frankfurt a.M. 31977, 97-106. 50 | Dieser Struktur entspricht der Sachverhalt, dass die Subjekte des Vertrags vor diesem nicht da sind.
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die eine Macht inauguriert51 –, und folgerichtig verliert das Subjekt das Recht zu versprechen.52 Hier ist eine systematische Anmerkung angebracht. Die Annonce ist ihrer Verfasstheit nach eine Allegorie des Textes und seiner auf die Lektüre angelegten Seinsweise – nicht umsonst werden der Aufruf und sein Lesen mindestens viermal im Laufe der Erzählung in Szene gesetzt. Ein Modell für den »Text«, der demnach in einer doppelten Perspektive lesbar wird: im Aspekt einer allgemeinen Lesbarkeit aufgrund der sprachlichen Konventionen und Institutionen (der »Grammatik«) und in der Dimension einer Zeugenschaft, die vom Text nicht enthalten werden kann, nach der dieser nur rufen oder sie versprechen kann (die »Referenz«).53 Diese Zeugenschaft richtet sich auf etwas (hier auf das »Unglaubliche«), was von der erwähnten Lesbarkeit nicht einzufangen ist, deren Geltung vielmehr aufhebt (sie aber nicht gänzlich auslöscht) im Zuge eines Alles-Sagen-Könnens (auch dessen, was in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit u.U. nicht sagbar ist), das von führenden Theoretikern für die Literatur als ihr Vorzug reklamiert wird.54 Gerade dieses doppelte Fehlen im Text hebt die Geltung jener Konventionen auf, die aber vom Text als ein supplementärer Text – hier: vom Vertrag – in veränderter Form wiedereingeführt und in einer quasi-theatralischen Weise inszeniert werden, die eine Allegorie des Lesens darstellt. (Einen Aspekt des Lesers könnte hier – in Bezug auf das Schriftstück als solches – der Graf darstellen, des Lesers, der keine neutrale Beziehung zum »Text« haben kann, vielmehr immer schon in ihn eingreift, ohne aber diesen Eingriff letztlich erklären, von ihm Rechenschaft ablegen, ihn bezeugen zu können.55 Ein Nicht-Wissen bei der und über die Tat, das die Nachträglich51 | Der Rechtsvertrag »verleiht jedem Teil das Recht, gegen den andern Gewalt in irgendeiner Art in Anspruch zu nehmen, falls dieser vertragsbrüchig werden sollte. Nicht allein das: wie der Ausgang, so verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt.« Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, in: ders., Gesammelte Schriften II.2, Frankfurt a.M. 1977, 190. 52 | Paul de Man zeigt eine ähnliche Struktur in Bezug auf Contract social von Rousseau auf, vgl. Paul de Man, Versprechen (Gesellschaftsvertrag), in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, 166-167. 53 | Grammatik und Bedeutung/Referenz werden von de Man in Bezug auf Contrat Social von Rousseau als zwei Perspektiven des »Textes« schlechthin dargestellt. Er berührt in diesem Kapitel noch nicht die Frage der Wahrhaftigkeit, die Thema des nächsten, abschließenden Kapitels der Allegories of Reading (Excuses) über die Bekenntnisse von Rousseau bildet (Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke and Proust, New Haven/London 1979, 278-301). Vgl. ferner: »In order to work it [a work of literature] has to appeal to precedent. It cannot authorize itself. It has to claim merely to describe and reinforce pre-existing laws […] But as soon as either Kohlhaas the man or ›Michael Kohlhaas’ the story is authorized from the past and institutionalized for the future, it is no longer novel, unheard-of, original, heterogeneous to what already has been legislated. It confirms an old one.« Miller, Laying Down, 97. Diese Beschreibung gilt aber nicht für die von konventionellen Instanzen ungedeckten Versprechensakte, die vor der juridischen Legitimierung Glaubwürdigkeit überhaupt erfordern. 54 | Jacques Derrida, This strange institution called literature, in: ders., Acts of Literature (Hg. Derek Attridge), London 1992, 36. 55 | Der Graf übt in Bezug auf den Aufruf mehrere redehermeneutische Tätigkeiten aus: Er hört und liest ihn. Im Zusammenhang von Verbrechen und Strafe ist er ein Rechtssubjekt, in
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keit jeglicher »Überlegung« herausstellt.56 Ferner korreliert die spukhafte Präsenz des Aufrufs im Text mit den gespensterhaften Zügen des Grafen, der seine Tat im Verborgenen ausübt, später für tot gehalten wird, dann als Gespenst des Rechts – der Strafe, d.h. ohne Rechte –, gar als Subjekt seines eigenen Testamentes erscheint, d.h. textualisiert wird.57 Beide – Text und Leser – sind Gespenster im Zuge eines abwesenden, unkontrollierbaren Geschehens und seiner Deutung. Die Allegorie des Lesens teilt sich demnach folgendermaßen auf: Die Marquise ist Leserin und paradoxe Zeugin des Geschehens – zunächst des Grafen als eines »Engels«, also eines Boten,58 dann wähnt sie sich das Medium der göttlichen Offenbarung zu sein; der Graf ist seinerseits Leser des gedruckten und veröffentlichten Schriftstücks als eines Zeugnisses. Auch – sogar erst recht – auf der hermeneutischen Ebene also die Kontamination des Geschehens und seiner medialen Figuration.) Diese Verdopplung lässt sich nicht ganz vereinheitlichen, die beiden Aspekte zur Deckung zu bringen, greift der Text auf eine supplementäre Autorisierung zurück, die er inszeniert, wobei – da der Text sich dadurch verdoppelt – jene Differenz aber auch bekräftigt wird. Diese Inszenierung einer Re-autorisierung vermag gerade durch ihre theatralische Macht und Effizienz das Lesen zu beherrschen, in ihren Bann zu ziehen, andererseits gerade eine solche Lektürefigur zu reflektieren, indem sie sie als Schauspiel darstellt. Zwischen diesen beiden Aspekten zu unterscheiden wird dem (kritischen) Lesen aber nicht leicht fallen, die theatralische Performanz des Textes kann – da sie vom Lesen selbst ausagiert wird – demnach sowohl auf eine Schwäche als auch auf eine Stärke des Textes hindeuten. Da die Macht der Öffentlichkeit, des Rechts usw. nicht als Figuren des Dritten – zumindest nicht auf direkte Art und Weise – gelten, simuliert der Text auf intratextuelle Weise legitimierende Instanzen, die etwa für die Glaubwürdigkeit der Erzähler einstehen sollten.59 In der Institutionalisierung des Versprechens (seiner GlaubwürHinsicht auf die vom Aufruf erforderte hermeneutische Fähigkeit hingegen kann man von einer Individualisierung sprechen (vgl. Foucault, Überwachen, 165-167). Die Hermeneutik als Kompetenz lässt sich teilweise auch in die Disziplinierung der Individualität einführen, sie ist vielleicht deren wichtigstes Element, doch auch die performative Kompetenz (die souveräne Fähigkeit der Ablegung der Beichte) kann von dieser Machtdimension einverleibt werden, um das unmögliche Ereignis in ein mögliches zu transformieren (letztlich ohne aber eine »Freiheit« des Grafen zu bezeugen, eher im Gegenteil, die Unverfügbarkeit von Sprache oder besser des Ungesagten). 56 | Vgl. Heinrich von Kleist, »Von der Überlegung. Eine Paradoxe«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe II, 337-338. 57 | Der Graf ist ein Nomade, der ständig unterwegs ist, an vielen Orten auftaucht – das kontraktualistische Dispositiv und weitere Verfahren nötigen ihn zur Disziplinierung und zum Sesshaftwerden (vgl. Foucault, Überwachen, 280). Bedeutsam erscheint hier auch der Sachverhalt, dass die Marquise ihren Mann auf einer Reise verloren hatte. 58 | Dieser Zug wird ja am Schluss aufgenommen, ohne ihn erfolgt auch keine spezifische Referentialität (der »Teufel« wird erst realisiert, nachdem sie sich zunächst dem »Engel« – dem Boten – anvertraute). 59 | Die auffällige Häufigkeit in der Kleist-Rezeption, mithilfe von moralischen Konventionen eine und die selbe Figur je nach Interpret einmal völlig negativ, einmal völlig positiv zu beurteilen oder verurteilen (einige Beispiele kontrastiv zusammengefasst bei Barbara Vinken/Anselm Haverkamp, Die zurechtgelegte Frau: Gottesbegehren und transzendentale
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digkeit) durch den Vertrag ist nicht umsonst eine öffentlich-repräsentative Geste im Spiel, die auf der metaphorischen Achse der Hochzeit (als einem Fest) sogar als eine Art »Medieneffekt« oder »staging« sich verwirklicht – wohlgemerkt als Ausdruck des Inneren (der Wahrhaftigkeit).60 Der Chiasmus zwischen der Marquise und dem Grafen – sie handelt bar referenziellen Wissens, er weiß um die Referenz, kann aber nicht handeln (bzw. sein Handeln misslingt) – modellierte die Divergenz des Textes zwischen Wissen und Handeln, welche Differenz von der von Grammatik und Referenz wiederholt wird.61 Zwischen diesen beiden vermittelt der Vertrag als Trope. Das Versprechen richtete sich auf die Zukunft – in einer bestimmten Gegenwart –, es ist aber gleichermaßen zur Vergangenheit geworden,62 spätestens an jenem »Dritten«, wo die Identität des Täters aufgedeckt wird.63 Der »Text« (die Annonce) situiert sich also Familie in Kleists Marquise von O…, in: Neumann, Heinrich von Kleist, 132-133), zeigt an, wie stark die Bindung der Interpreten an moralische Konventionen und Normen im Lesen durchschlägt, gerade wegen der Unlesbarkeit dieser Normen in den Kleistschen Texten. (Gerade Interpreten, die ansonsten gegen quasi-transzendente Momente im Text polemisieren, stützen sich mit Vorliebe auf moralische Maßstäbe, um bestimmte Figuren – hier natürlich vor allem den Grafen – scharf zu verurteilen.) Man greift in solchen normativen Stellungnahmen stillschweigend auf einen unterstellten Vertrag zurück, den man mit dem Text geschlossen zu haben meint, in Wahrheit aber mit außertextlichen Instanzen ausgemacht hat. Eine ähnliche Struktur ist im Spiel auch bei ansonsten viel umsichtigeren Interpreten, wie z.B. bei Schwind (Heinrich von Kleist, 71), die den Vertrag zwischen Autor und Leser auf Kosten des Erzählers, erst recht aber der Figuren einführen (in der permanenten Rede über »Signale« des Autors an den Leser) und dadurch eine übergeordnete Autorität als Wissensinstanz legitimieren. Das ist die Perspektive der sowohl eingeweihten als auch unpersönlichen, öffentlichen Instanz auf die mit ihrem privaten Kummer beschäftigten Protagonisten und den auf sie konzentrierten unzuverlässigen Erzähler. 60 | Die Hochzeit wird ja am Schluss der Erzählung zweimal gefeiert, durch diese Wiederholung wird ihr theatralischer Zug hervorgekehrt. Das könnte zu einem »feeling of aesthetic satisfaction« (Jill Bennett, A Feeling of Insincerity. Politics, Ventriloquy, and the Dialectics of Gesture, in: van Alphen/Bal/Smith, The Rhetoric of Sincerity, 213) führen, das von einer Unterstellung der Aufrichtigkeit ausgeht, deren Gelingen feiert, zugleich auch mit der öffentlichen Erwartung korreliert (denn wer hätte wohl etwas gegen eine Hochzeit von zwei jungen und gut aussehenden Personen einzuwenden, zumal es sich um Adlige handelt?). In diesem Kontext könnte der Ansatz de Mans, bei Kleist die Kritik der ästhetischen Ideologie (vornehmlich Schillerscher Provenienz) herauszustellen, noch mehr an Gewicht gewinnen (vgl. Paul de Man, Ästhetische Formalisierung: Kleists »Über das Marionettentheater«, in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, 205-233). 61 | Vgl. de Man über Contrat Social: »Es kann keinen Text ohne Grammatik geben: Die Logik der Grammatik generiert Texte nur in der Abwesenheit referenzieller Bedeutung, aber jeder Text generiert einen Referenten, der dasjenige grammatische Prinzip untergräbt, dem er seine Verfassung verdankt.« Versprechen, 162. 62 | Ebd., 166. 63 | Zu dieser Datierung, die ja in den Intelligenzblättern vorgenommen wird, vgl. die Bemerkung Heideggers über die Veröffentlichung der Zeit: »In der Zeitmessung erfolgt daher eine Veröffentlichung der Zeit, dergemäß diese jeweils und jederzeit für jedermann als ›als jetzt und jetzt‹ begegnet.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 18 2001, 417.
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zwischen einem vergangenen, unzugänglichen Ereignis und dem Moment der Referentialisierung als dessen Iteration (oder Wiederkehr), die für die Marquise nicht minder – vielleicht sogar erst recht – von traumatischer Wirkung ist, aber erst in der Nachträglichkeit.64 (Die nachträgliche Aktivierung der Referenz unterstreicht noch einmal die Vermutung, dass der Graf gleichsam als Leser agiert.) Zwischen diesen temporalen Phasen finden Wiederholungen, posttraumatische Symptome statt, die nur dank der Diskrepanz zwischen dem Versprechen und seiner Referen tialisierung existieren und in diesem Sinne »Geschichte erzeugen«.65 Die sprachliche Geschichte wiederholt (und verdeckt) die materiale Geschichte, dabei wird sie selber materiell (aber auch immateriell zugleich) und prägt ihr supplementäre Figuren ein, indem das Subjekt des Ereignisses notwendigerweise in eine Rolle eingeschrieben wird. Die Referenz wiederholt das ursprüngliche Moment des gewaltsamen Ereignisses und verstellt es auch, z.B. insofern das Versprechen der Annonce gerade nachträglich noch einmal zum Ereignis wird, dessen referenzieller wie performativer Status problematisch ist. Denn die Referenz macht das Versprechen der Annonce (den »Text« selbst) unlesbar, verunsichert nicht nur seine Motivation (lagen wirklich – nur – »Familienrücksichten« dahinter?), sondern untergräbt auch seine Intentionalität, seinen performativen Status, seine Wahrhaftigkeit.66 Wie auch immer das Verhältnis zwischen dem gegebenen Wort und dem Gemeinten bestellt sein mag, die Marquise wird (gewaltsam) beim Wort genommen, und dieses bildet am Ende den einzigen Berufungsgrund (zumindest für den Vater als den Dritten).67 Das Versprechen als gegebenes Wort entwickelt einen nicht-referenziellen Überfluss, der gerade auf das Versprechen selbst zurückwirkt, sich gegen dieses wendet, indem es gegen den Willen der versprechenden Person gekehrt – als Tat von ihr abgelöst – und zu einer Verpflichtung gemacht wird (wohl im Sinne von Kants Ethik). Dadurch wird die Marquise zu einer Täterin. Zusammenfassend: die Selbstbezeugung des Textes war auf einen Zeugen ausgerichtet, doch konnte sie nur bar der Referenz, nur in der Abwesenheit des referenziellen Zeugen vollzogen werden. Dieser macht jene Selbstbezeugung auf eigentümliche Weise zunichte bzw. erfordert sie aufs Neue, schreibt sie dem Text noch tiefer ein, macht sie gar allererst nötig. Die Referenz findet statt also sowohl vor als auch nach der Selbstbezeugung (des Textes), sie ist von gespenstischem Cha64 | Nach der Weihwasserszene wird sie krank: »[S]ie lag im heftigsten Fieber, wollte durchaus von der Vermählung nichts wissen, und bat, sie allein zu lassen. Auf die Frage: warum sie denn ihren Entschluß plötzlich geändert habe? und was ihr den Grafen gehässiger mache, als einen andern? sah sie den Vater mit großen Augen an, und antwortete nichts.« (142) Nach der Erlangung des Wissens kann sie auch nicht mehr handeln, erst recht nicht mit der Sprache. 65 | de Man, Versprechen, 170. 66 | »… und nochmals, indem sie alle Engel und Heiligen zu Zeugen anrief, versicherte, daß sie nicht heiraten würde.« (»Engel« als Zeugen …) Darauf handelt der Vater, ihrer Versicherung diametral entgegen: Er »ordnete alles, nach gehöriger schriftlicher Rücksprache mit dem Grafen, zur Vermählung an« (142). Die Gewaltserie geht weiter, gerade mithilfe der »Schriften«. 67 | Zur Ehe als individueller, jedoch von überindividuellen und dritten Instanzen etablierter Konstellation vgl. die bekannte Analyse von Georg Simmel, Soziologie, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. III (Hg. Otthein Rammstedt), Frankfurt a.M. 1992, 108-109.
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rakter (wie der Graf). Zugleich bezeugt der Text den Zeugen auch, indem er hier zum Testament des Zeugen wird (am Ende gibt der Graf sein Testament ab), also wiederum seine potentielle Abwesenheit herausstellt. Überhaupt wird der Text von einem Chiasmus strukturiert: das Verhältnis von Versprechen und Vertrag wird zum Schluss der Novelle gewissermaßen reproduziert oder wiederholt vom Zusammenhang zwischen Vergeben und Vertrag. Denn schließlich soll die Marquise ihrem Schänder verzeihen, zu welchem Akt der Vergebung sich sämtliche Heirats- und Familienkontrakte am Ende der Novelle nicht weniger heterogen verhalten als der Vertrag zum ursprünglichen Versprechen.
Z eugnis und N arr ation , M edialität und »H andlung « Das Aporetische der Kreuzungen zwischen privat und öffentlich, singulär und allgemein resultiert wohl aus der ambivalenten performativen Funktion des Aufrufs: einerseits soll er für die Freisprechung der Marquise, für die Immunisierung des Eigenen sorgen, zugleich setzt er diese andererseits um so mehr der Äußerlichkeit (der Öffentlichkeit) aus und führt somit zumindest potentiell eine Autoimmunisierung, eine Kontaminierung durch das »pharmakon« des Aufrufs herbei. So wiederholt der letztere Effekt des Aufrufs auf der sprachlichen Ebene die Gewalt des vom Äußeren her kommenden Eindringens in die Innerlichkeit oder Intimität, er kann wohl gar nicht anders, sollen die Umstände jenes unsichtbaren Eindringens aufgeklärt werden. Ein double-bind, wo die Öffentlichkeit als Vermittlerin zwischen Politik und Moral (Handeln und Wissen, Tat und Wort, Versprechen und Vertrag) laut dem Kantschen Schema hier in ein ambivalentes Licht gerückt wird. Denn der Vertrag – sich zu verehelichen mit ihrem Schänder – nimmt letztlich die ursprüngliche Gewalt an, der Vertrag wird mit der Gewalt selbst geschlossen. (In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass die auffällig metaphorischen Diskurse, die ja auf einem Vertrag basieren – die Trope ist demnach als ein Text verfasst –, dem militärischen und Jagddiskurs entstammen. Die Tropologie wird hier von einer Konvention oder einem Vertrag autorisiert, so wie die sprachliche Pragmatik der verschiedenen ständischen Höflichkeitsdiskurse.68 Die sprachliche Arbeitsweise der Erzählung besteht zu einem Gutteil in der Verunsicherung solcher tropologischen Pakte, in der Eröffnung ihrer Ambiguität – auf allen Ebenen der Narration.) Noch mehr kopiert oder wiederholt aber der Ehevertrag das gewaltsame Moment: Der Graf wird zum Gespenst des Rechts (Pflichten, keine Rechte bzw. Testament)69 und eines Vergessens der Verzeihung um der »gebrechlichen Einrichtung der Welt« 68 | Die ganze Familie kommt im metaphorischen Sprachgebrauch des Kommandanten überein (»sich ergeben«, Damen »wie Festungen« anstürmen usw.). Die semantische Zweideutigkeit der gegenseitigen Versicherungen und Floskeln (via skandalösen Hintergrund) wurde auch angemerkt, s. z.B. Schwind, Heinrich von Kleist, 50-51. Diese Ambivalenz kontaminiert aber auch den Erzähldiskurs, vgl. etwa folgende Stelle: »Die Mutter sah alle Augenblicke aus dem Fenster, ob er nicht kommen, seine leichtsinnige Tat bereuen, und wieder gut machen werde« (115). Hier können mindestens zwei »Taten« im Spiel sein. 69 | Dies sichert in spiegelverkehrter Symmetrie die Immunität der Marquise, die folglich ihm gegenüber Rechte, aber keine Pflichten hat – das ist die Definition von »Immunität«. Vgl. Roberto Esposito, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens, Berlin 2004, 12.
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willen.70 Zugleich wird der Vertrag auch mit der Öffentlichkeit selber geschlossen, und der so verstandene doppelte Vertrag stellt die Moralität im Sinne Kants dar (als Ineinander von kategorischem Imperativ und öffentlicher Gerechtigkeit, wo die Legalität von der Moralität und nicht umgekehrt, diese wiederum von der Öffentlichkeit abhängen soll). Zu diesem Komplex kehren wir zurück, jetzt sind einige sprachliche Modalitäten der Kreuzung von Singulärem und Öffentlichen kurz zu besprechen. Die Verdopplungen oder Aporien zwischen Erkennen und Handeln, Wort und Tat (und ihren verschiedenartigen Zuordnungen zu den Bereichen des Privaten und Öffentlichen) sind nämlich auf verschiedenen, narrativen, inszenatorischen wie textuellen, Ebenen der Erzählung gegenwärtig.71 Z.B. auf der Ebene der Namen, die als Schnittpunkte zwischen personaler Immunität und öffentlicher Repräsentation gesetzt werden.72 Die vieldiskutierte Namenlosigkeit der Marquise von O. steht mit ihrer ungeschützten Ehre, ihrer »verwundbaren Physis« in Korrelation,73 also sowohl auf einer literalen wie auf einer abstrakteren Ebene. Ihren Vornamen erfährt der Leser jedoch aus einer zitierten Aussage des Grafen, die zudem sein letztes Wort sein soll: »Julietta! Diese Kugel rächt dich!« Ihre Singularisierung und zugleich Immunisierung im Eigennamen widerfährt ihr also seitens des Grafen, der sie aber vorher geschändet hat. Also gerade die Figur, die ihren (adligen) Namen im Gewaltakt wortwörtlich verstümmelt, lässt ihr den singularisierenden Eigennamen zukommen oder restituieren.74 Diese Verdopplung entspricht der paradoxen Verschränkung des Täters und des (der »Schuld« enthebenden) Zeugen. Auch dieses »letzte«, authentische Wort – eine indirekte Beichte des Grafen – wird jedoch von einem Boten übermittelt, also zitiert (im Modus der Stellvertretung)75 und von einem quasi-öffentlichen Zug imprägniert. Dem entspricht auch die Annonce, das »Intelligenzblatt« (»intelligence« – Nachricht, Ankündigung), das wie70 | Er existiert vor dem Vertrag nicht als verrechtlichtes Individuum (sondern als unfassbares Gespenst, bei seiner Tat, später als Un-Toter), er kann sein Geständnis nicht ablegen. Der Vertrag antwortet demnach auf diese Leere des Performativen, sowohl auf ihr Ausbleiben als auch auf ihre referenzielle Dürftigkeit (diese werden sich angenähert), ferner auf die Unsichtbarkeit der Gewalt, die überhaupt die Identifizierung der Gewalt in Frage stellen kann. 71 | Der referenzielle Wert der Beschreibungen und Zuschreibungen verdoppelt sich ja auch (aufgrund der akolytischen Logik), aus der Perspektive des Wiederlesens. 72 | »Einerseits kann der Eigenname Zugang zur Sphäre der Intimität gewähren; andererseits ist er Teil einer sozialen Codierung, die solche Intimität wiederum auszuschließen vermag.« Anthony Stephens, »Das nenn ich menschlich nicht verfahren«. Skizze zu einer Theorie der Grausamkeit im Hinblick auf Kleist, in: Dirk Grathoff/Klaus-Michael Bogdal (Hg.), Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, Opladen 1988, 20. 73 | Walter Benjamin, Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften I.1, Frankfurt a.M. 1974, 265-266. 74 | Dieser Aspekt der Figur des Grafen kommt auch darin zum Ausdruck, dass er ständig Briefe schreibt (also Adressierungen von Eigennamen tätigt), vor und nach seiner öffentlichen Antwort auf die Annonce der Marquise. 75 | Der Marquise erscheint der Graf bekanntlich als ein »Engel des Himmels«, also als ein Bote – seine wirklich an sie adressierten Worte erfährt sie aber nur durch einen zufälligen Augenzeugen, der auch zum Boten wird. Hier also wiederum der Chiasmus zwischen Singularität und Öffentlichkeit (im Zuge der Vermittlung).
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derum als unpersönlicher Bote für die Marquise und dann später für den Grafen fungiert. Die Sprache des Zeugen oder Boten scheint von vornherein in Schriftlichkeit und Iterabilität überzugehen, wenn er die ihm anvertrauten Worte oder sein Zeugnis wörtlich wiederholen muss. Wenn der Graf dann gerade seine Botschaft – das Geständnis – nicht bzw. nur indirekt sagen kann (und in diesem Sinne den Eindruck der Marquise mit dem »Engel des Himmels« dementiert), so ist in der Tat schlüssig zu behaupten, dass die Zeitungsannonce »an der Stelle der ausgefallenen Verkündigung« steht, diese ausstreicht.76 Sie wird wegen der Unmöglichkeit der transzendenten Autorisierung zum Vertrag. Parallelen dazu finden sich auch auf der Seite der Marquise – z.B. wenn ihre Mutter der Hebamme über ihren Zustand berichtet: »Die Frau Marquise schwöre, daß sie sich tugendhaft verhalten habe, und gleichwohl halte sie, von einer unbegreiflichen Empfindung getäuscht, für nötig, daß eine sachverständige Frau ihren Zustand untersuche« (123, Hervorh. CsL). Der Schwur wird auf der narrativen Ebene wiederholt und verdoppelt, seine Singularität in eine Allgemeinheit überführt. D.h., der Schwur verliert seine performative Funktion und wird zum bloßen Wort, das einer Iterabilität ausgesetzt bleibt, in der es dennoch eine gespensterhafte, instabile performative Dimension wiedererlangen kann, die jedoch konträr läuft zur unterstellten Intentionalität. Die wechselseitigen Verdopplungen und Stellvertretungen auf der medialen Ebene – zwischen Schrift und Sprache – variieren auch diese Struktur, so z.B. der berühmte Brief des Vaters an die Marquise, der von ihrer Mutter aufs Papier gebracht wird, allerdings vom Diktat des Vaters her.77 Die diktierende Gewalt wird von der Mutter nicht unterschrieben, nur in ihrem Resultat vollzogen: wieder einmal die Divergenz zwischen einer Machtposition, die zwischen Hausherrschaft einerseits und Öffentlichkeit der »bürgerlichen Gesellschaft« (127) andererseits changiert, und einem singulären Verhalten, das die Macht nicht in ihrem etablierten Sinne bezeugt. So wird die performative Wirkung des Briefes auch relativiert. Die medialen Supplementierungen des lebendigen Sprechens sind als Antwort auf die buchstäblich »unerhörte« Begebenheit, zugleich auch als deren Wiederholungen aufzufassen: vom berühmten Bindestrich über die »ausgefallene Verkündigung« bis zur Unfähigkeit des Grafen, seine Tat einzugestehen, geht es um den Entzug der Repräsentation und der Stimmlichkeit, welcher Entzug von den verschiedenen Schriftstücken sowohl kompensiert wie noch weiter verstärkt wird (dieser Chiasmus strukturiert die medialen Verhältnisse des Textes). Gerade hier gilt die Annonce als Signifikant der »unerhörten« Begebenheit, der das Sprechen, die verstimmlichte Sprache supplementiert, beim Lesen gar aufhebt oder auslöscht (vgl. 131-132). Die Schrift und die mediatisierte Stimme hallen aber immer schon im Bewusstsein der Figuren wider, ohne dass sie faktisch-materiell, mit illokutiver 76 | Vgl. Vinken/Haverkamp, Die zurechtgelegte Frau, 143. Zur Engelfigur als Bote und Vermittler zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit vgl. Vismann, Akten, 154. 77 | Dieses Diktat ist das Ergebnis eines Prozesses, der der Marquise vom Vater und von der Mutter (als Ankläger und Anwältin) gemacht wird. Der Vater setzt sich nachher als Zeuge für die Marquise ein (»Sie hat es im Schlaf getan …«, 131). Dieses Quasi-Gericht zeigt die Erweiterung des Traumas in die Richtung des Kollektiven an. (Ferner könnte der diktierende Kommandant auch als Bote – »Engel« – der Rechtsordnung aufgefasst werden, wo deren immanente Gewalt als eine sprachlich-textuelle Performativität erscheint.)
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Zielsetzung ertönten78 – Nicht-sprechen-können und Schrift stehen in einer chiastischen Verkehrung (das, worüber nicht gesprochen werden kann, wird zur Schrift bzw. ist immer schon Schrift). Die verschiedenen Zeiten des Lesens, Schreibens und Sprechens kontaminieren sich wechselseitig vor allem in der Figur des Grafen, ohne aber zur Deckung zu kommen – sie prägen ihn als Wiedergänger, wo etwa die Zeit des Schreibens in den Zeiten des Sprechens oder des Lesens gespensterartig wiederkehrt (und auch umgekehrt). Auch in der Rhetorik der Narration agiert der Erzähler als eine Art (unpersönlicher) Bote wie (singulärer) Zeuge, sowohl auf unpersönliche wie auf persönliche Art, welche Aspekte wiederum nicht zur Deckung kommen (was ja in der Fachliteratur schon als Gemeinplatz gilt). Die Erzählung beginnt mit der Wiedergabe des Aufrufs, auf eine gänzlich unpersönliche Art, und situiert den Erzähler als einen Scriptor wie Leser oder Boten (also keinen Souverän), welche Rolle für ihn wohl auch mehrfach gilt. Zugleich übernimmt der Erzähler gelegentlich auch die Perspektive der »öffentlichen Meinung« als einer Auslegeinstanz und bricht in solcher Weise – als Bote dieser Instanz – den Stab über gewisse Figuren.79 Doch nimmt die Erzählinstanz auch die Funktion des Zeugen in Anspruch und begleitet etwa die Marquise mit teils identifikatorischen, teils distanzierenden Gesten. Dieser akolytische Status der Erzählinstanz durchläuft mehrere mediale Transpositionen zwischen Zeuge und Bote,80 er befindet sich in einer Oszillation zwischen dem distanzierten Blick und der admirativen Perspektive auf die Marquise, wodurch er den Text in der erwähnten Verdopplung liest, deren ambivalenter Modus den Zeugenstatus des Erzählers in Bezug auf seinen performativen Wert ebenfalls in ein zweideutiges Licht rückt. Das Wissen, überhaupt die Disposition des Erzählers, ist dem fiktiven wie nicht-fiktiven Geschehen nicht weniger ausgesetzt als das Verhalten und problematisierte Selbstverständnis der Figuren. Die Divergenz von Wissen und Handlung, Wort und Tat – für welche Divergenz »unerhört« wiederum als ein Emblem gelten kann – zeigte sich jedoch noch am Anfang und dann durchgehend in der Erzählung darin, dass der Graf sein Ver78 | Vgl. die telepathischen oder telepoetischen Szenen, in denen der Graf Briefe schreibend über Anderes spricht (Psychophysik avant la lettre) bzw. in Gedanken einen Brief »überlegt[e], den er jetzt zu schreiben verdammt war …«, ferner während des Sprechens mit Anderen liest: »Unzweifelhaft! versetzte der Graf, indessen er mit ganzer Seele über dem Papier lag, und den Sinn desselben gierig verschlang« (114; 130). Bezeichnenderweise fragt der Graf plötzlich gerade in einer solchen Szene zwischen Schreiben und Sprechen »nach der Uhr« (114). 79 | Z.B. wo die Marquise »sehr richtig« darauf schließen soll, dass der Schänder »zum Auswurf seiner Gattung gehören müsse« etc. (127) Max Kommerell hat diesen Zug des Kleistschen Erzählers wie folgt beschrieben: »… der Dichter übernimmt geflissentlich Ton und Bezeichnung des weltläufigen Meinens, wenn er, etwa bei den Kohlhaasischen Mandaten, von einer ›Schwärmerei krankhafter und mißgeschaffener Art‹ spricht« (Die Sprache, 305). Laut Kommerell potenziere diese Parteinahme in ihrer Forciertheit nur das »Rätsel« an den Figuren. 80 | Der Marquise »schien« der Graf am Anfang ja »ein Engel des Himmels zu sein« (105) – hier also steht das Sehen im Vordergrund. Im Schluss hingegen das Sprechen: »antwortete sie […] wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel vorgekommen wäre« (143). Hier bleibt es unentscheidbar, welches Moment der Erzählung das andere zitiert.
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gehen nicht eingestehen, seine Beichte nicht vollziehen kann, um die Marquise freizusprechen. Lediglich auf indirekte Weise gelingt ihm das, in der allegorischen Erzählung seines Traums, in dem die Marquise als Schwan figuriert. Dieses Unvermögen des Geständnisses hat sein Pendant darin, dass es der Marquise nicht gelingt, sich bei ihm für seine Rettungsaktion zu bedanken. Ihr Dankbarkeitsanspruch wird im Text permanent mit ökonomischen Termini wie »schulden« umschrieben. Der Zeuge kann seine eigene Tat und damit die Unschuld der Marquise nicht bezeugen, seine »Tat« verbleibt außerhalb der ökonomischen Struktur von Geben und Nehmen im Sinne der ethischen Balance. Die Tat ist eine Leerstelle in dieser Ökonomie, ein Schweigen in der Sprache, dessen performativer Charakter ambivalent bleibt: das ist möglicherweise einer der radikalsten Effekte des Auseinandertretens von Wort und Tat. Vor allem die häufigen Stellvertretungen auf der sprachlichen Ebene zeugen von der spannungsvollen Beziehung zwischen Wort und Tat: Transpositionen zwischen den Figuren, am Übergang vom Schweigen zum Sprechen, vom Sprechen zum anderen Sprechen, vom Sprechen zum Schreiben usw.81 Diese Stellvertretungen entbehren nicht der sprachlichen Gewalt: es scheint so, als könnte das Wort des einen nur durch den anderen zur Tat werden, so wie die Tat einer Figur – z.B. des Schwurs der Marquise in der Nacherzählung der Mutter – zum Wort wird. Sowohl die Mutter wie der Vater kommen gegen Ende der Erzählung in die Rolle des Stellvertreters im Interesse der Versöhnung und Kontraktualisierung, welcher Zug darauf hindeutet, dass die Verknüpfung von Wort und Tat letztlich nur kontraktual möglich ist, im Interesse der Eindeutigkeit,82 um das ambivalente Wort, noch mehr aber sein Fehlen in soziale Zeichenstrukturen zu transponieren bzw. mit diesen zu ersetzen. Um welche »Tat« handelt es sich aber in diesem Zusammenhang? Die Identifizierung der Tat und des Täters scheint ja nicht nur in referenzieller Hinsicht schwierig zu sein (der Täter stellte ja auch die Rettungsinstanz dar), sondern vor allem in der Feststellung der Verantwortung. Die Verantwortung der Marquise entbehrt des referenziellen Wissens, die Verantwortung wird von ihr für eine Tat übernommen, die sie nicht selber begangen hat. Die Tat entzieht sich der Identifizierung, der Vorfall hüllt sich in ein Geheimnis, das aber keine Vorstellung im (reflexiven) Bewusstsein darstellt. Das ist die Beichte einer Tat, die von der Marquise ja nicht begangen wurde, dennoch wird die vermeintliche Sünde von dieser öffentlichen Beichte her postulierbar. In dieser Nachträglichkeit ist die Tat gewissermaßen fiktional (»unerhört«), da man kein referenzielles Wissen von ihr haben kann, dennoch von traumatischer Wirkung für das Opfer. Und genau diese Fiktionalität nimmt textuelle Züge in der Annonce an, die – wie erwähnt – gerade als Schrift von nicht minder traumatischer Wirkung für die Marquise ist, »verletzt« sie doch »ihr innerstes Gefühl«, also ihren Glauben an die eigene Unschuld (127).83 81 | Zur Kommentierung der anfänglichen Szene mit der dreifachen Problematik des Namens vgl. Dirk Grathoff, Die Zeichen der Marquise: Das Schweigen, die Sprache und die Schriften, in: ders./Bogdal, Heinrich von Kleist, 209. 82 | Ebd., 226. 83 | »… das spätere System Bw empfängt aber auch Erregungen von innen her; die Stellung des Systems zwischen außen und innen und die Verschiedenheit der Bedingungen für die Einwirkung von der einen und der anderen Seite werden maßgebend für die Leistung des Sy-
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Das nachträgliche Trauma als Schock oszilliert somit zwischen der unbekannten Vergangenheit und der drohenden Zukunft (als Zukünftiges kehrt es aus der Vergangenheit zurück und als Vergangenes kommt es dem Opfer aus der Zukunft entgegen), zugleich zwischen einer fiktiven Referenz und einem fiktiven Text mit referenzieller Wirkung, welcher Chiasmus jene zeitliche Kreuzung modelliert.84 So wird auch die Verantwortung gespalten in Bezug auf das Vergangene (im Modus des schlechten Gewissens etwa) und auf das Zukünftige (der gesellschaftliche Status des Abkommens, die Gründung der Familie). Das Trauma korreliert dadurch mit dem Nicht-Wissen, mit einer Virtualität als Geheimnis – dessen Auflösung aber das Trauma gewissermaßen noch weiter potenziert und in dessen Folge die Marquise ihr Wort eigentlich nicht mehr einhalten will oder kann. Gerade die Aufrichtigkeit bzw. die dem Vertrag inhärente Gewalt intensiviert das Trauma nachträglich. Diese Komplikationen resultieren letztlich daraus, dass die Tat oder besser: das Ereignis nach der narrativen Logik gewissermaßen ohne Alternative, geradezu schicksalhaft war (wenn der Graf nicht aufgetaucht wäre, wäre es der Marquise möglicherweise noch schlimmer ergangen), ohne aber die Figuration der Schuld (da kein reflexives Bewusstsein im Spiel ist), vor allem aber nicht rückgängig zu machen ist. Diese unfassbare oder, mit dem charakteristischen Wort der Erzählung, »unbegreifliche« bzw. »unerhörte« Gewalt des Ereignisses ist das eigentliche Geheimnis, das Geschehen als Geheimnis und das Geheimnis als Geschehen, beide unheimlich, aus dem Heimischen vertreibend. In diesem Sinne erfolgt hier eine Art Sündenfall (der Graf wird ja von der Marquise nach seinem Erkennen als »Teufel« apostrophiert).85 Vor allem als sprachlicher Sündenfall: die Offenbarung mutiert zu einer Zeitungsannonce (und die Funktion des »Engels« als Boten wird den Massenmedien überantwortet), ferner kann das Versprechen immer schon zu einer Lüge, einem falschen Zeugnis werden, wie dies der Annonce
stems und des ganzen seelischen Apparates. Gegen außen gibt es einen Reizschutz […] nach innen zu ist der Reizschutz unmöglich, die Erregungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in unverringertem Maße auf das System fort […]. Allerdings werden die von innen kommenden Erregungen nach ihrer Intensität und nach anderen qualitativen Charakteren (eventuell nach ihrer Amplitude) der Arbeitsweise des Systems adäquater sein als die von der Außenwelt zuströmenden Reize.« Freud, Jenseits, 238-239. Zum Trauma vgl. ebd., 239. 84 | Diese textuelle Modellierung erlangt wiederum zeitliche Effekte, indem der Aufruf mehrmals und in mehreren Modi im Text zurückkehrt, buchstäblich als ein déjà-vu im Text geistert – merkwürdigerweise teilweise parallel mit dem Grafen, der ja in mehrfacher Hinsicht ein Gespenst ist. 85 | Die Verschränkung von »Engel« und »Teufel«, die im Schluss wieder aufgegriffen wird, ist als Zitat aus dem zweiten Korintherbrief des Paulus lesbar, wo das 12. Kapitel als ein Infratext der Novelle von Kleist fungieren könnte: »Und auf daß ich mich nicht der hohen Offenbarung überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf daß ich mich nicht überhebe« (2 Kor 12,7). In diesem Sinne bleibt die transzendente Deutung der Marquise auch im Schluss, bis zum Ende potentiell aufrechterhalten. Der »Pfahl ins Fleisch« gilt in ihrem Falle ja buchstäblich und kann als ein Interpretant des traumatischen Zusammenhangs gelten. – Zugleich wird gerade die hermeneutische Affirmation in der Deutung der transzendenten wie profanen »Offenbarung«, deren Bote der Graf ist, relativiert. Eine Allegorie des Lesens, wo die Marquise die Leserin darstellt.
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inhärent ist (der biblische Sündenfall beginnt ja mit der Lüge des Teufels).86 Diese Momente sind gewissermaßen in die Welt der Marquise eingebrochen, auch durch ihre Mitwirkung (Aufruf), und sie kann sich nur noch in diesem Kontext auslegen und bleibt getrennt von der transzendenten Instanz und von der Ewigkeit, eingelassen in die profane Zeit der Vergangenheitserkundungen und der Zukunftsantizipationen, welche Zeitlichkeit aber vor allem von der Iterabilität der Annonce als einer Spur des (wiederum erst im Nachhinein, dennoch auch künftigen) traumatischen Ereignisses ausgelöst, strukturiert und destrukturiert wird. Die Figuration des Sündenfalls konnotiert auch die Geschichte, die um 1800 vielfach als »Sündenfall der Natur« angesehen wird.87 Dieses Moment erzwingt die performativen Leistungen der Sprache und zugleich auch deren Kontraktualisierung, die sich zum material-historischen Geschehen wie zu dessen Spur, dem performativen Ereignis der Sprache, gewissermaßen antinomisch verhält. Die Gewalt wird per Vertrag ex post teleologisiert, im Sinne Kants als ein geheimer oder »verborgener Plan der Natur« (und so ist es bedeutsam, dass es in der Erzählung um eine physiologisch-biologische Begebenheit geht),88 der von der Geschichte ausgeführt wird. Kleists Text macht aber darauf aufmerksam, dass zwischen diesem Plan der Natur und der so genannten Geschichte ein Vertrag vermittelt, ihre vermeintliche Beziehung keine kontinuierliche ist, sondern politisch effektuiert wird. Im Zeichen des so verstandenen »Fortschritts« erfolgt auch die Vermittlung von privater und »öffentlicher« Moral in Kants Ethik: »handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstand haben können.«89 Und auch umgekehrt, diese Konvergenz, die vom kategorischen Imperativ diktiert wird, findet als die erwähnte Teleologie statt. In diesem Sinne ist der kategorische Imperativ in doppelter Weise totalisierend – bei Kleist wird sein gewaltsamer Charakter aufgezeigt, dass er also einen Vertrag darstellt zwischen privater und öffentlicher Moral, der auf Gewalt (der Gleichmachung vom Dritten, etwa »der Menschheit« her) basiert.90 Mehr noch: die Trennung zwischen den beiden erscheint als 86 | Kant denkt an einer Stelle über dieses Moment in der biblischen Erzählung nach, vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 564. 87 | Vgl. Koselleck, Kritik und Krise, 155. 88 | Vgl. Kants diesbezügliche Metaphorik: »… dass, nach manchen Revolutionen der Umbildung, endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde.« Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1 (Werkausgabe, Bd. XI), Frankfurt a.M. 1977, 47. Der Natur wird von Kant eine Gewalttätigkeit zugeschrieben: »die Natur will aber …« »Das größte Problem für die Menschengattung, zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft.« ebd., 39. 89 | Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965, 61. 90 | Nietzsche hat diese Komplizenschaft zwischen Handeln und dem Dritten schon früh aufgedeckt, in einem Passus mit dem Titel »Privat- und Welt-Moral«: »Die ältere Moral, namentlich die Kant’s, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend,
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eine ideologische, da die ethische Dimension, die sich auf den Anderen richtet (und nicht nur ein Gesetz oder die Moralität vollziehen möchte, wie das noch bei Arendt der Fall ist), unmöglich als bloß »privat« zu bezeichnen ist. Die Trennung zwischen privat und öffentlich bzw. die Identifizierung des Privaten führt zwangsläufig zu einer Opposition zwischen Moralität und Gesetz, zwischen dem Gesetz als Idiom und als Allgemeinheit, die dann wiederum vom kategorischen Imperativ aufgehoben werden sollte. Die Allegorien des Auseinanderdriftens von allgemeiner Moralität und Ethik im Zeichen des Anderen bei Kleist (etwa in der erzählten Gerichtszene der Verlobung in St. Domingo) zeigen auch die Nicht-Totalisierbarkeit der Geschichte selber und der Zukunft an. Das Idiomatische kam übrigens in der zeitlichen Datierung der Annonce zum Ausdruck, die aber – als Zeitmessung und mediale Vermittlung – gleichzeitig eine »Veröffentlichung der Zeit« (Heidegger) vollzieht und überhaupt die Ausrichtung der singulär-idiomatischen Zeit auf die veröffentlichte Temporalität ermöglicht.
G eheimnis , Tr auma und G eschehen Die Situierung des Geheimnisses zwischen dem Code des Naturhaften und der Konvention wirft bestimmte Fragen auf. Am Ende des 18. Jh.s schreibt man dem Geheimnis »die Würde und die Priorität des Naturrechts«91 zu, welches Geheimnis Index, sogar Funktion der Moral und der Verantwortung sein soll. Das Geheimnis stellt die Menschlichkeit selber dar, die die Moral begründet oder beherbergt. Eine anthropologische Qualität also, die im Zeichen der Geselligkeit die Gesellschaftsbildung in die Wege zu leiten berufen ist. Der Text von Kleist verschärft nun die diesem Geheimnisbegriff inhärente Aporie: Wenn das Geheimnis nie ein naturhaftes oder natürliches Moment darstellt,92 so kann es nicht auf die Natur gegründet werden, sondern ist an Konventionen, Verträge, in diesem Sinne an Öffentlichkeit gebunden, kann also nicht als behütender Garant der privaten Qualität aufgefasst werden. Dadurch wird aber die Auflösung des Geheimnisses ermöglicht. Ein Geheimnis als Menschlichkeit und Moral: Ein öffentlicheres Geheimnis könnte man sich wohl nicht vorstellen. Das ist ein institutionalisiertes Geheimnis, mit einer gemeinschaftsbildenden Funktion, die aber die Aufhebung des Geheimnisses zur Folge hat. Wenn etwas zum Geheimnis wird, so setzt dies bereits einen Vertrag, eine Verpflichtung voraus, was aber der Tilgung des Geheimnisses gleichkommt. dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse.« Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari), Berlin/New York 1980, Band 2, 46. Zum »als ob« in der Bestimmung Kants vgl. ferner Jacques Derrida: »[D]ieses ›als ob‹ erlaubt es, die praktische Vernunft mit einer historischen Teleologie und der Möglichkeit eines unendlichen Fortschritts in Verbindung zu bringen.« Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992, 43. 91 | Koselleck, Kritik und Krise, 65. 92 | »Denn in der Natur gibt es kein Geheimnis, ist keinem je ein Geheimnis begegnet. Ein Geheimnis ist das, wovon man zu wissen glaubt, dass es geheimbleiben soll, weil unter bestimmten nicht natürlichen Bedingungen eine Verpflichtung eingegangen, ein Versprechen gegeben wurde.« Derrida, Politik der Freundschaft, 349.
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Kleist nimmt die natürliche Konstitution des Geheimnisses dennoch wörtlich (vgl. Schwangerschaft, das korporeale Medium des Geheimnisses). Um aber Geheimnis zu werden, braucht es eine »soziologische Technik« im Modus des öffentlichen Aufrufs als eines Boten oder Dritten (es bedarf des Boten, weil es das Geheimnis gibt, das aber ohne den Boten keine Effekte zeitigen kann, dadurch jedoch auch aufgehoben wird). Das Geheimnis aber, das auf dem Wege eines Vertrags, im Interesse einer Gemeinschaft konstituiert wurde, kann in seiner autorisierten Form gerade jene Singularität verdecken, die es im Prinzip bewahren oder sichern möchte.93 So wird hier die Inkompatibilität zwischen dem kontraktualisierten oder institutionalisierten und dem im (wenn auch unausgesprochenen) oder als Versprechen existierenden Geheimnis akut. Eine Inkompatibilität, in der das wahre Geheimnis sich dem Unterschied von privat und öffentlich, Natur und Kultur, Natur und Institution entzieht: ein unaussprechliches und unbegreifliches Geheimnis. Die religiöse Einfärbung dieses Geheimnisses zumindest aus der Sicht der Marquise ist demnach kein bloßer Zufall (wobei bereits ihre Empfindung des Grafen als eines »Engel[s] des Himmels« dies auch vorweggenommen hat, vgl. noch »unwissentliche Empfängnis«, »Geschenk«). Überhaupt steht die unwissentliche Empfängnis für ein überzeitliches Exemplum, dessen Trägerin in diesem Sinne die Marquise wäre, und die darin verkörperte Offenbarung (vgl. Graf als himmlischer Bote) ereignet sich als die göttliche, ewige Zeit in der Gegenwart. Da aber der Einbruch dieser Zeit in die profane Zeit zugleich von den referenziellen Umständen der empirischen Zeit imprägniert wird, vor allem aber der Einbruch selbst nicht als Gegenwart sich ereignet, sondern nur in einer (medialen) Nachträglichkeit, als ein Post-Trauma erfahrbar wird, lässt er die ewige Zeit, die Überzeitlichkeit als Substanz auch als brüchig erscheinen. Die »Zeit« des Ereignisses wird sofort überformt in (zeit-)ökonomische Horizonte, in kontraktualisierte Zeiten, in die Zeit der Verträge (Ehe als Versprechen im Aufruf, der Kontrakt für die tatsächliche Ehe über die »Rechte« und »Pflichten«, dann das Testament). Mit einem Wort: in die Zeit nach dem Sündenfall. Dank dem Grafen – dem »Teufel« ihrer Empfindung nach – wird die Marquise ihrer Immunität entkleidet im Versprechen der göttlichen Gabe, zugleich aber in die Welt und Zeit der Schriften hineinverwebt (dank natürlich auch ihrer Familienmitglieder, nicht umsonst werden alle von ihr mit Weihwasser bespritzt, 141). Die ewige Zeit der Offenbarung und des Exemplums erweist sich als ein nur zu empirisches weltliches Geschehen, das in Ideologiekritik und Verurteilung indes nicht aufgeht (nehmen doch diese Operationen genau die Verträge als ihren Grund und Autorität, die immer schon nach dem Ereignis kommen, auch im Sinne der restituierten Unschuld), sondern – wie weiter oben skizziert – einem materialen historischen Geschehen gleichkommt. Dieses Geschehen ist das Geheimnis, also nicht eine kognitive Substanz, sondern Geheimnis meint das (unmögliche) Ereignis selbst, indem es im Kommen bleibt. Dieses Kommen ist aber von der traumatischen Wiederholung sowie von der Iterabilität nicht zu trennen, wie sich diese in textuellen und medialen Transfers kundgibt und dem Ereignis den Aspekt eines »als ob« aufpfropft. Doch soll auf den quasi-transzendenten Aspekt des Falles der Marquise etwas näher eingegangen werden. 93 | Vgl. Simmel, Soziologie, 451. Zum Recht auf Geheimnis bei Kleist vgl. noch die Stelle in Der Findling (211).
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Ihr Geheimnis kommt ihr wie ein wahres Mysterium vor, sogar und vor allem als ein mysterium tremendum, insofern dieses sie ihrer Heimlichkeit entkleidet.94 Das Geheimnisvolle besteht buchstäblich in seiner erzitternden Wirkung, es bringt das Selbstverständnis und das Heimisch-sein der Marquise inmitten ihrer Familie ins Wanken. Das Verb »zittern« und seine Synonyme beherrschen die Erzählung mehrere Seiten lang im Zuge des langsamen Klarwerdens der Marquise über ihren »anderen Umstand« (123-125). Dieses Zittern geht über das Psychologische hinaus, es ist die Spur jenes Geschehens inmitten des Ansturms, das (nicht nur) ihr Leben verändert, es kommt einem wahren Beben nahe, wie das Erdbeben in einer anderen Erzählung von Kleist, welches dann in der sozial-rechtlichen Dimension weiterzittert. Das Geheimnis der Marquise spaltet sich in das quasi-religiöse Mysterium und in das Erzitternde, das das Traumatische bezeichnet, welches zugleich als posttraumatisches Symptom zwischen Vergangenheit und Zukunft vibriert (im Ineinander von Drohung und Versprechen). Dieses Geheimnis lässt gerade als eine Gabe den Beschenkten erzittern.95 Genau dieses »tremendum« und seine Gabe als unheimliches Geheimnis lässt sich nun nicht restlos in die Dimension der Öffentlichkeit, in deren ethische Vorgaben der etablierten Verantwortung, übersetzen: »Für den gemeinen Verstand und auch für die philosophische Vernunft ist die Bindung der Verantwortlichkeit an die Öffentlichkeit und an das Nicht-Geheime, an die Möglichkeit, ja an die Notwendigkeit, Rechenschaft zu geben, zu begründen und vor anderen die Geste und das Wort auf sich zu nehmen, die bestgeteilte Evidenz.«96 Um der von dem im »tremendum« gezeitigten Geheimnis herausgeforderten Verantwortung Genüge zu leisten, muss man laut Derrida die generalisierbare, »ethische« Allgemeinheit opfern: Sobald ich mit dem Anderen in Beziehung bin, mit dem Blick, dem Verlangen, der Liebe, dem Befehl, dem Ruf des Anderen, weiß ich, daß ich darauf nur antworten kann, wenn ich das Ethische opfere, das heißt das, was mir die Verpflichtung auferlegt, auch und auf dieselbe Weise im selben Augenblick allen anderen zu antworten. 97
Verantwortung im Zeichen der ethischen Allgemeinheit – die öffentliche Verantwortung oder das Öffentliche der Verantwortung – kann gerade gegen die Herausforderung des singulären, erzittern lassenden Ereignisses immunisieren.98 Somit schreibt sich die doppelte Perspektive des Aufrufs als ein Ruf an einen Einzigen vor der Öffentlichkeit – und diese Verschränkung bzw. Divergenz der beiden Aspekte der Adressierung haben wir als Allegorie des Textes erkannt – in den Zusammenhang der Verantwortung zwischen Ethik und Politik, Versprechen und Vertrag ein. Und so erscheint gerade das Öffentliche in einer Ambivalenz, Agent sowohl der Immunisierung wie der Autoimmunisierung. Es ist nämlich auffällig bei Kleist, dass die Momente des »Blicks«, des »Verlangens«, der »Liebe« usw. in der media94 | Zum »mysterium tremendum« aufgrund von Kierkegaard u.a. vgl. Jacques Derrida, Den Tod geben, in: Haverkamp, Gewalt und Gerechtigkeit, 331-445. 95 | Vgl. ebd., 383. 96 | Ebd., 387. 97 | Ebd., 395. 98 | Vgl. Kommerell über Kleist: »Immer steht gegen dies Geheimnis der Versuch einer Selbstauslegung, an dem die Welt noch mitspricht: das ›man‹ im Ich.« Die Sprache, 310.
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tisierten öffentlichen Kommunikation zwischen der Marquise und dem Graf nur asymmetrisch, für den Grafen gegeben sind. Dieser möchte möglicherweise das Geheimnis wahren, die Immunität des Privaten bzw. des Rufes der Marquise gewährleisten, daher kann er nur zu einem indirekten Geständnis kommen.99
K ommunik ation , Ö ffentlichkeit und die »Tat« Für das beispiellose Ereignis kann nur das transzendente Exemplum der unbefleckten (bei Kleist: »unwissentlichen«) Empfängnis als Prätext – und: als Autorisierung ihrer Glaubwürdigkeit – herangezogen werden (durch die Marquise), historisch gesehen steht kein Exemplum zu Gebote, und so übernimmt die Öffentlichkeit hier in der Tat die Funktion der Tradition.100 Zugleich ist sie aber auch ein Medium der tele-pathischen Kommunikation (mit dem Täter) und ihre tele-poetischen Effekte können sehr wohl vorgängige Wissensformen und Überzeugungen auf brechen. In dieser Tele-poetik der öffentlichen Kommunikation ist das Geheimnis von vornherein nicht nur privat, aber auch nicht einfach nur veröffentlicht, sondern ein sich verdoppelndes (also iterativ-temporales) Ereignis von sowohl referenziellem als auch medialem Index. Das Zwischen von ewiger Transzendenz und datierbarer Öffentlichkeit (als medialem Dispositiv) kann nämlich als »Geschichte« definiert werden – als die Kontamination (Stellvertretung) von sich ereignender (d.h.: verborgener) und archivierter Geschichte. Das Geschehen an sich bzw. sein sprachlicher Charakter gehören weder zum Privaten noch zum Öffentlichen, vielleicht verteilen sie sich gerade deswegen auf gespenstische Weise auf beide Bereiche – und sind deshalb sowohl traumatisch als auch Geheimnis. Das fragliche Geschehen ist ja in der Form einer »›unempfundenen‹ Erfahrung« da, »als Tod ohne Tod, den man anders weder sagen noch verstehen könnte, das heißt anders als durch eine Phantasmatizität, also einer Gespenstigkeit gemäß (phantasma heißt das Gespenst auf Griechisch), die davon 99 | Wenn Kant in der Metaphysik der Sitten das Geheimnis diskutiert, so kommt er auch zur Problematik des Geständnisses, des von diesem in Anspruch genommenen Vertrauens und der Möglichkeit des Verrats, also des Meineids: »Der Mensch ist ein für die Gesellschaft bestimmtes (obzwar doch auch ungeselliges Wesen), und in der Kultur des gesellschaftlichen Zustandes fühlt er mächtig das Bedürfnis, sich anderen zu eröffnen (selbst ohne etwas dabei zu beabsichtigen) […] Findet er also einen, der Verstand hat, bei dem er in Ansehung jener Gefahr gar nicht besorgt sein darf, sondern dem er sich mit völligem Vertrauen eröffnen kann […] so kann er seinen Gedanken Luft machen […] Ein jeder Mensch hat Geheimnisse und darf sich nicht blindlings anderen anvertrauen …« Und hier taucht im Juvenal-Zitat der schwarze Schwan auf, die seltene Verkörperung jenes Freundes, der das »ihm anvertraute« Geheimnis zu wahren weiß (611-612). Wie J. Derrida aber bemerkt (Politik der Freundschaft, 349), geht es bei Juvenal um eine Frau: »keuscher als die Sabinerinnen, die sich mit offenem Haar unter die Kämpfenden warfen.« »Sie hat alles: wer würde sie als Gemahlin ertragen?« So kann der Schwan in der Traumerzählung des Grafen als ein Echo von Juvenal/Kant fungieren, da in der betreffenden Szene der Graf geradezu performativ das Geheimnis inszeniert und es zugleich verschweigt. 100 | Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftliche Komplexität und öffentliche Meinung, in: ders., Soziologische Aufklärung 5, Frankfurt a.M. 1990, 170-182.
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das Gesetz selbst ist« und »geht über den Gegensatz zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen, dem Aktuellen und dem Virtuellen, dem Wirklichen und dem Fiktiven hinaus.«101 Nach diesem Ereignis gibt es nur noch ein posthumes Leben. Die Marquise wird vom gespenstischen Geschehen auch gerade durch das implizite Fiktivwerden ihres Geständnisses bzw. Zeugnisses heimgesucht, das eine Art Über- oder Nachleben in Szene setzt (nachdem sie sich in die Rolle der Beichtenden und ihres zeugenden/bezeugten Ichs entzweite).102 Andererseits wird die Heimsuchung der Fiktion (des fiktiven Ereignisses) zur Iterabilität des Zeugnisses, wie das in der Erzählung im erneuten Wiedergeben der Annonce sichtbar wird. Diese Iterabilität ist die Heimsuchung (und nicht einfach eine Reaktion oder Kompensation). D.h. die so genannte Wahrhaftigkeit als nicht-verfügbare Intention oder innerer Akt antwortet dem Rufen dieses Ereignisses (und keinem noch so kategorischen Imperativ der Moralität), zugleich wird sie von diesem auch durchkreuzt. Die Tat des Grafen war in diesem nekrophilienahen Sinne sowohl referenziell wie fiktiv, zumindest wird ihre eindeutige axiologische Zuordnung problematisch. Sie sagt damit einerseits noch nichts Bestimmtes über seinen Charakter aus (der sich ja vor, aber vor allem nach der Tat anders zeigt), und auch das zeigt den problematischen Zug einer Zeugenschaft an, die sich als referenzieller Beweis (d.h. im Dienste einer Rechtsordnung) versteht.103 Ferner ist es fraglich, ob der Tat des Gra101 | Derrida, Bleibe, 109. 102 | »In der ganzen Zeit ihrer Schwangerschaft war die Marquise einer Situation ausgeliefert, die ihre Worte anzeigen: ›Eher … daß die Gräber befruchtet werden, und sich dem Schoße der Leichen eine Geburt entwickeln wird!‹ [II. 121.] Genau dies ist nun aber geschehen: die Gräfin ist als Leiche beschlafen worden, und die Geburt hat postumen Charakter. So erscheint denn auch das spätere Leben mit dem Grafen als ein postumes. Erst die Gestorbene kann, nach einer langen Trennung, das Leben eines liebenden Menschen führen.« Bernhard Böschenstein, Ambivalenz und Dissoziation in Kleists Werk, in: Helmut Arntzen/Pierre Bertaux/Bernhard Böschenstein/Walter Müller-Seidel, Die Gegenwärtigkeit Kleists, Berlin 1980, 45. Anzumerken bleibt, wie schon erwähnt, dass dies auch für den Grafen zutrifft, er kehrt nach seiner Verwundung auch aus dem Tode zurück. 103 | Mit den Worten von Max Kommerell: »Man kann verhören über das, was jemand tat, nicht über das, was jemand ist.« Die Sprache, 247. Hannah Arendt: »Nicht von unseren Intentionen, wohl aber von unserem wirklichen Verhalten können wir wahr oder falsch Zeugnis ablegen, und zwar uns selbst gegenüber. Das Verbrechen des Heuchlers ist, daß er falsch Zeugnis ablegt wider sich selbst.« Über die Revolution, 132. Arendt bezieht sich hier auf das falsche Zeugnis in Bezug auf die ihrer Meinung nach anscheinend erkennbaren (»wirklichen«) Taten, die gleichsam abgestritten werden (dies sollte die Heuchelei bewirken), ohne eine dazugehörige Intention wird aber das »wirkliche Verhalten« selbst unlesbar. Die Selbstlüge bezieht sich also vielmehr auf die Intention selbst, nicht einfach auf die Tat. Freilich kommt diese Intention erst durch eine Interpretation der »Tat« (durch eine Festlegung der Tat als »Tat«) zustande, könnte man dem mit Nietzsche eine gerade nicht unwesentliche Ergänzung hinzufügen. Und bei einer solchen Interpretation sind quasi-juridische Dispositive im Spiel. – Die Tat als Faktum an sich wird erst in einer Interpretation semantisch bestimmt, die dem Performativen (der Handlung) eine kognitive Funktion (Intention) zuschreibt. D.h. nicht einfach die referenzielle Konstatierung der Handlung, sondern vielmehr ihre Interpretation und Kommunikation entscheidet über deren Relevanz in pragmatischen wie semantischen Kontexten. Gerade in Bezug auf das aufgedeckte Geheimnis wurde dies betont: »In ein Geheim-
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fen eine kommunikative Funktion (für einen Dritten) zuzuschreiben ist: Das zeigt sich auch daran, dass er sein »Geständnis« in der Traumerzählung verschlüsselt ablegt, nicht an Dritte zu adressieren scheint. (Gerade die unscheinbare Differenz zwischen übertragener und wörtlicher Bedeutung, sogar das Fehlen der letzteren impliziert jedoch den virtuellen Dritten, also den Interpreten.)104 Das Schweigen des Grafen (als Zeugen) über seine Tat (über sich als Täter) entspricht vielleicht der Unmöglichkeit, auch diese Tat moralisch-wertend eindeutig zu klassifizieren und zu adressieren (und dabei den Zeugen als Autorität über dem Täter zu positionie-
nis im vollen Sinn eingeweiht nämlich sind allein die, denen nicht allein die relevanten Fakten offenbart werden, sondern denen darüber hinaus gestattet wird, an der gemeinsamen Deutung und Bewertung dieser Fakten teilzunehmen. Der Grad, in dem sich eine Gemeinschaft über die Kommunikation von Geheimnissen bildet, ist nicht von dem Wie der Kommunikation über diese Geheimnisse zu trennen.« (Angela Keppler/Thomas Luckmann, Beredtes Schweigen. Kommunikative Formen familiärer Geheimnisse, in: Assmann/Assmann, Schleier und Schwelle I, 220; zur Unterscheidung von ausgesprochenem und unausgesprochenem Geheimnis, Heimlichkeit und Geheimhaltung vgl. Alois Hahn, Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten, in: Assmann/Assmann, Schleier und Schwelle 1, 2339.) In der Erzählung wird die deutende (nicht-neutrale) Funktion der Kommunikation gerade in der metaphorischen Redeweise der Figuren angezeigt, die aber ständig die Disjunktion von Signifikat und Referent in Szene setzt. Die ganze Erzählung stellt in dieser Sicht die Gemeinschaftlichkeit – auch der Interpreten – auf die Probe. 104 | Mag die – von den neueren Kulturwissenschaften in Anspruch genommene (vgl. Koschorke, Institutionentheorie) – These von Reemtsma in vielen Fällen einleuchten (»Jede menschliche Handlung hat einen kommunikativen Aspekt, und man kann das vermutlich sogar für Handlungen annehmen, die ohne Zeugen stattfinden, denn Zeuge ist auch der Handelnde selbst, der mit dem, war er tut, sagt, wer er ist.« Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, 107), bei Kleist ist sie dennoch nicht restlos zu bejahen. Denn bei Reemtsma wird bei aller Notwendigkeit seiner Einsicht doch die Intention der Handlung gerettet, in Form einer kommunikativen (nicht einfach handlungsorientierten) Intention oder Funktion, und so wird die Tat eingesetzt oder definiert. Dies alles geschieht beim Verfasser etwa der Bemerkungen Von der Überlegung. Eine Paradoxe jedoch nachträglich, ist also Effekt einer Interpretation (und keiner »Beobachtung«, dieses Lieblingswortes der genannten Wissenschaften). Das wiede rum ist ein Aspekt, für den sich (nicht nur) Reemtsma nicht zu interessieren scheint, wobei die Feststellung von kommunikativen Funktionen (auch von Handlungen) doch auch den »Empfänger«, den Interpreten solcher Handlungen mit einbeziehen sollte (gerade, aber nicht nur, als Adressaten). Denn bei Kleist werden – wie weiter oben zu sehen war – gerade die Verträge zwischen (Sprach-)handlung und Drittem aufgebrochen und der Interpretation anheim gestellt. Hilfreich zur Verortung des verschlüsselten Geständnisses ist hingegen – bei aller Unterschiedlichkeit der Fälle – folgende Bemerkung: »Es ging nicht darum, ob Eichmann die Wahrheit sagte oder ob er log, sondern dass er nicht zu einem Dritten sprach. Darum wuss te er auch über seine Taten keine sinnvolle Auskunft zu geben.« (ebd., 470) Deswegen ist der Sprechakt des Grafen auch ein Schweigeakt zu nennen, da er nicht zu einem Dritten zu sprechen scheint (»versicherte plötzlich, blutrot im Gesicht, daß er sie außerordentlich liebe: sah wieder auf seinen Teller nieder, und schwieg«, man beachte den Doppelpunkt als QuasiEinleitung einer Aussage, die hier aber das Abwenden des Blicks und das Schweigen meint).
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ren und die ethische Balance wiederherzustellen).105 In Frage steht dabei, ob wirklich nur die Unschuld unbeweisbar ist, die Schuld dagegen als nachweisbar gelten könnte.106 Der Tatcharakter ist jedoch nicht eindeutig zu bestimmen (wenn seine Intentionalität nicht zu überprüfen ist, die zur Feststellung der »Schuld« unerlässlich ist), desgleichen auch seine Wertung ambivalent bleibt. Die »böse« Tat wird durch eine eventuelle Selbstlüge des Grafen nicht bestätigt, in der er seine eigenen vermutlichen Intentionen festschreiben würde – das Fehlen seines Geständnisses lässt die »Tat« gewissermaßen undefinierbar. Tat und Täter zu trennen stößt auf Schwierigkeiten.107 Es scheint so, als ob Kleist hier in der (buchstäblich) »unerhör105 | Das wäre das moralische Prinzip als solches: die Überlegenheit des Zeugen dem Täter gegenüber. Gerade diese vermeintliche Höherwertigkeit des Zeugen (der den allgemeinen Willen mit Rousseau oder den kategorischen Imperativ mit Kant als Adressierungsdispositive an den/des Dritten vertritt) über dem Täter basiert jedoch auf einem gewaltsamen Moment, das die Trennung ins Subjekt einführt, wie dies bei Rousseau gerade mit der Begrifflichkeit des Feindes effektuiert wird. (Das findet im Text von Kleist z.B. im oder als Diktat statt – das das schreibende Subjekt mit sich selbst entzweit –, die Gewalt ist hier eine mediale oder eine Gewalt des Mediums.) Das ist die Politisierung des Zeugen, also gerade die Ethisierung als eine Art Sündenfall – das ist eine der »Botschaften« der Erzählung Kleists. 106 | »… nur Schuld wirklich beweisbar ist, Unschuld dagegen, sofern sie mehr sein soll als ein Nichtschuldigsein, niemals erwiesen, sondern nur auf Treu und Glauben akzeptiert werden kann, wobei die Schwierigkeit darin liegt, daß ein solches Vertrauen sich nicht einmal auf das gegebene Wort zu stützen vermag, das ja immer auch eine Lüge sein kann.« Arendt, Über die Revolution, 110. 107 | Diese Schwierigkeit will Arendt – ob gewollt oder ungewollt – mit der Charakterisierung der Selbstlüge (bei ihr »der Heuchler«) als »Verbrechen« aufheben: Die Selbstlüge als Verbrechen abzustempeln, setzt die Trennung zwischen der sich belügenden Person und sich selbst voraus, wo die belogene Person doch nur als Rechtssubjekt definiert werden kann, will man den Ausdruck »Verbrechen« beibehalten. Die Determinierung des Werdens (in) der »Tat«, des Geschehens kann nur auf rechtlicher Grundlage stattfinden, die aber das Werden zu einem Sein verfestigt und die Schuldhaftigkeit der Handlung setzt (vgl. W. Benjamin: »Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zur Schuld.« Walter Benjamin, Schicksal und Charakter, in: ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M. 1974, 175). Die Opposition bei Kommerell und Arendt, ihr Glaube an die Definierbarkeit der (bei Arendt gar »bösen«) Tat, welcher Glaube bei Arendt von der Autorität des Dritten (ob als »Gewissen« oder anders bezeichnet) gestützt wird, wird von Kleist nicht geteilt, der damit radikaler und moderner ist als die beiden Denker des 20. Jh.s und vielmehr mit der »Unschuld des Werdens« von Friedrich Nietzsche in Verbindung zu bringen wäre: »Was heißt das auch, etwas Böses tun, der Wirkung nach? Was ist böse? Absolut böse? Tausendfältig verknüpft und verschlungen sind die Dinge der Welt, jede Handlung ist die Mutter von Millionen andern, und oft die schlechteste erzeugt die besten – Sage mir, wer auf dieser Erde hat schon etwas Böses getan? Etwas, das böse wäre in alle Ewigkeit fort?« Sämtliche Werke und Briefe II, 683. (Zu beachten ist die Netzmetapher, die einen latenten Zweifel an der Identifizierbarkeit der Handlung ausdrückt.) Kleists Gedanken über Überlegung und Tat (Von der Überlegung. Eine Paradoxe) werden bei Nietzsche vielfach auf den Punkt gebracht: »[…] was man von einer That überhaupt wissen kann, niemals ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntnis zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist?« Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 3, 109.
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ten« Begebenheit (die nicht einfach als Faktum gelten kann), gerade durch ihre mediale Vermittlung jene Unbekanntheit des Handlungswertes in Sicht habe, von der Nietzsche gesprochen hat.108 Sowohl die angebliche Herkunft als auch die (erwünschten) Folgen werden der Handlung im Text durch konventionell-arbiträre Zuordnungen (Vertrag, Ökonomisierung usw.) als »Erkenntniss« zugeschrieben (welche Erkenntnis sich von der »Welt-Moral«, der Synchronisierung und dem postulierten Gleichwert der Handlungen autorisiert). Die Rolle des Bewusstseins (der Kognition) als vorgängiger Etablierung der Handlung (der Performativität) wird bei Kleist angezweifelt (wie auch in Die Verlobung in St. Domingo und in Von der Überlegung), der Glaube an ihre Verknüpfung als Fundament der Moralität wird als das Prinzip der Überzeugung, vor allem der öffentlichen Überzeugung dargestellt. Die Verknüpfung der kognitiven mit der performativen Funktion soll vor allem die Bestimmung der letzteren bezwecken, so wie auch das Versprechen als ein wahrhaftiges hingestellt wurde. Zugleich hat aber das Zeugnis durch seine immer schon (selbst-)entschuldigende Funktion die Zeugin selbst in einen Dritten verwandelt, welche Position zugleich von der öffentlichen Kommunikation vertreten, in diese hinausverlagert wird. Die öffentliche Meinung soll zugleich die entschuldigende Instanz darstellen, dabei war sie in ihrer Struktur von vornherein auf die Verknüpfung von Kognition und Performanz, Wort und Tat beim Subjekt der sich selbst entschuldigenden Bezeugung ausgerichtet. Sie, die öffentliche Meinung, soll also die entschuldigende Funktion übernehmen, damit aber bestreitet sie letztlich die Verknüpfung von Motiv und Handlung, die sie aber vom Zeugen sehr wohl erwartet hat. In der öffentlichen Meinung wird der sich entschuldigende Aspekt des Zeugnisses instrumentalisiert, der Zeuge mit sich selbst als einem Dritten konfrontiert; somit reproduziert die Struktur und Instanz der öffentlichen Meinung denjenigen Meineid, den sie dem Zeugen attestiert oder verbietet.109 Das Dispositiv der medial erzeugten Öffentlichkeit operiert auf der Ebene der Kognition, und gerade die performative Dimension des von ihm selber herauf beschworenen Ereignisses bleibt ihm unerreichbar. Auf diesen Zusammenhang soll noch weiter eingegangen werden. – Wenn das Öffentliche die Immunität der Marquise durchkreuzt, so tut es das in ihrem Selbstverständnis selbst, in der Form des Bewusstseins, das sich gegen ihr »Gefühl« richtet.110 Ihr Selbstverständnis wird 108 | »Daß der Werth einer Handlung von dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausging – wie falsch ist das! – Und man hat die Moralität danach bemessen, selbst die Criminalität […] Man weiß die Herkunft nicht, man weiß die Folgen nicht: hat folglich eine Handlung überhaupt einen Werth? […] Wenn also die Handlung weder nach ihrer Herkunft, noch nach ihren Folgen, noch nach ihren Begleiterscheinungen abwerthbar ist, so ist ihr Werth x, unbekannt …« Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Band 13, 371-372. 109 | Vgl. dazu G.W.F. Hegels Bewertung der öffentlichen Meinung: »Das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre, ist darin mit seinem Gegenteile, dem für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen verknüpft; diese Existenz ist daher der vorhandene Widerspruch ihrer selbst, das Erkennen als Erscheinung; die Wesentlichkeit ebenso unmittelbar als die Unwesentlichkeit.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7 (Hg. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel), Frankfurt a.M. 1970, 483. 110 | Vgl. die Funktionen des »Bewusstseins« und des »Gefühls«: Das Erste »spricht« seinen Träger »rein«, das Zweite kann sich »gegen« ihn richten (121).
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medialisiert, ihre unbewusste Unschuld wird zu einer versprochenen Unschuld, die von der Sprache – gar von einem Text (der Annonce) – bekleidet wird, die sie zugleich auch entblößt (wenn auch auf indirekte Weise, indem sie auf ein Fehlen hindeutet, im Endeffekt eine Verdopplung herbeiführend).111 Dieses Wissen als Bewusstseinsinhalt und als Selbstbewusstsein wird mit der Öffentlichkeit, der öffentlichen Kommunikation verknüpft und in diesem Sinne erweist es sich immer schon als (potentielles) Schuldbewusstsein, das von der öffentlichen Mitteilung und dem somit entstehenden Rechtfertigungszwang generiert wird. Das Postulat der bewussten Verantwortung, die Verknüpfung von Tun und Täter, ist von der öffentlichen Struktur bedingt. Man könnte sagen, dass das, was bewusst wird, in die Dimension des Bewusstseins eintritt (ob aus dem Unbewussten oder anderswoher, ist jetzt wohl sekundär), bereits von einer potentiellen sozialen Kommunikation bedingt ist, einen Index der Öffentlichkeit darstellt. Das bedeutet freilich nicht, dass Kommunikation nur gebunden an das Bewusstsein oder das Bewusste stattfinden kann, aber sehr wohl, dass Kommunikation immer eine öffentliche Relevanz oder Rolle besitzt, die aber schwer einzugrenzen ist. Das Bewusstsein ist hier also Folge der »Mitteilung«, wie dies später von Nietzsche dargelegt wird. Laut einem komplexen, pseudo-genealogischen Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft ist die Herausbildung des (intentionalen) Bewusstseins nicht einem autonomen (anthropologischen) kognitiven Reichtum zu verdanken, der Grund des Bewusstseins ist vielmehr bedingt von der Mitteilung, vom Erkennen von Zeichensystemen als Zeichen: »Nun scheint mir […] die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältnis zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit«. Nietzsche versteht dies folgendermaßen: »[D]enn allein dieses bewusste Denken geschieht in Worten, das heisst in Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand.« Gerade das Bewusstsein ist für Nietzsche das Organ, das »nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist.« Daraus folgt für ihn, dass Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, »sich selbst zu kennen«, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein »Durchschnittliches«, – dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den in ihm gebietenden »Genius der Gattung« – gleichsam majorisiert und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird.112
(Bei Kleist ging es um die quasi-juridische Prozedur der Übersetzung des Versprechens – das vom Trauma induziert wird, dieses zugleich aber auch potenziert – in das Bewusstsein.) Diese Konstellation gilt beim späten Nietzsche auch in Bezug 111 | Vgl. M. Kommerell: »Ehe sie unbegreiflich wurde, hat die rätselhafte Person den Begriff ihrer Umgebung vorbildlich erfüllt. Dieser Begriff (Schablone, Kodex, Einrichtung, Sitte) wirkt manchmal in ihr nach; sie ist gewohnt, sich selbst nach ihm auszulegen, und beginnt also sich mit sich selbst zu entzweien.« Die Sprache, 257-258. 112 | Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke, Bd. 3, 590-592.
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auf die »innere Erfahrung«: »Die ›innere‹ Erfahrung tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht … d.h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände«.113 Man könnte über gar kein Wissen von der »inneren« Erfahrung verfügen, würde sie nicht in »eine Sprache« übersetzt, welche Sprache aber (mit ihrer intentionalen Eigenschaft) ebendiese innere Erfahrung im selben Zuge auch verstellt oder verschiebt, zumindest sie mit sich selber nicht-identisch macht. Gerade diese Übersetzung in die Sprache erweist sich füglich als ein Verrat an der »inneren Erfahrung«, bei Kleist: an einem Wahrhaftig-Sein, das seiner selbst nicht weiß.114 Wenn Aufrichtigkeit als Ausdruck (und nicht als Versprechen bzw. Bezeugen) aufgefasst wird, so gehört das auch noch in das Paradigma des Zeichens (und des öffentlichen Exempels), das Oberfläche und Bewusstsein bzw. Intentionalität impliziert. Aufrichtigkeit oder Wahrhaftigkeit sind aber kein Ergebnis einer bewussten, strategischen Entscheidung.115 Dennoch wird der Dritte aus dem Versprechensvorgang nie ganz auszuschließen sein, sei es in Form von (transzendenten) Beteuerungen oder in der öffentlichkeitsbedingten Medialität von (schriftlichen) Ankündigungen (die letztere übernimmt gewissermaßen die Funktion der ersteren, an diesem – auch historischen – Übergang situiert sich das Kleistsche Werk). Der Dritte bewirkt die öffentliche Festlegung des Versprechens, die gerade mit der Schriftlichkeit zusammenfällt; in dieser Ambivalenz kann aber (ebendieser Dritte) auch zum falschen Zeugen werden, und zwar auch im oder als Bewusstsein der versprechenden Person.116 So stellt das Selbstbewusstsein – von der Öffentlichkeit markiert – den falschen Zeugen der 113 | Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 13, 460. Bekanntlich ist die Leitfigur in dem Nachweis über den »Phänomenalismus der inneren Welt« die Metalepse, die nachträgliche Erstellung einer Ursache für die zeitlich frühere Wirkung (ebd., 459). In den metaphorischen Vokabularien des Obristen, des Forstmeisters – in denen sich der Graf gut auskennt – reflektiert der Text genau diese Übersetzungsmechanismen, die in ihrem Gelingen auf einen Quasi-Vertrag angewiesen sind. 114 | Vgl. Kommerell, Die Sprache, 247; Moser, Prüfungen der Unschuld, 98. 115 | Vgl. Korsten, Hypocrisy and Sincerity, 69. Er leitet diese Unmöglichkeit aus der »conformity of thought and body, the passion of sincerity« ab. Und: »Kleist will zeigen, daß die hier [in Prinz von Homburg] dargestellte Entscheidung eines Wesens zu sich selbst kein Willensakt ist. Dies trennt eine Kleistische Entscheidung von einer in Schillers Dramen.« Kommerell, Die Sprache, 282. 116 | Es ist wohl kein Zufall, dass die Begegnung infolge der Kommunikation im Intelligenzblatt »am Dritten« stattfindet. Wenn die Uhrzeit – »elf Uhr« – ikonisch-numerisch als die Trennung der beiden ausgelegt wurde (die dann von den 20000 Rubeln zu einem Paar gebildet wird, vgl. Schwind, Heinrich von Kleist, 39, das auch als Symbol fungieren kann, das von J. Lacan als Vertrag konkretisiert wird, vgl. Funktion und Feld, 112), so könnte der »Dritte« auf das öffentlich-mediatisierte Moment der Begegnung hinweisen. (Zum Geld als symbolon, »d.h. als Zeichen und Pfand eines Kontrakts« im zeitgenössischen Kontext vgl. Joseph Vogl, 1797. Geld als Versprechen, in: Manfred Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, 314. Es ist schade, dass Vogl das Kreditpotential des Geldes nur ökonomisch versteht – in Bezug auf die garantierte Wertmenge – und es nicht auf den Status des Gelds selbst bezieht, wo dieses seine Echtheit als solche verspricht, gegen das potentielle Falschgeld. Genau diese Überlegung in Bezug auf das Versprechen bildete den Ausgangspunkt dieser Arbeit.)
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inneren Akte des Subjekts dar und impliziert den Zwang der Selbstrechtfertigung (wie weiter oben über die Rollenhaftigkeit des Bekennenden – als eines Dritten zu sich selbst – angedeutet). Die bereits angesprochene geschichtsphilosophische Fundierung der Macht der öffentlichen Meinung erweist sich als eine gewaltsame Operation, indem jene (pseudo-juridische) Macht als die Macht der Zeit und der Geschichte dargetan und somit politisiert wird (als Autorisierung und Rechtfertigung politischen Handelns).117 Dass diese Relation sich als solche – noch bar inhaltlicher Momente – überhaupt aufdrängt, ist ein gewaltsames, nicht restlos erklärbares Ereignis (im Zuge der allgemeinen Verzeitlichung der Geschichte und der politisch-sozialökonomischen Begriffe um 1800 herum, die sich mit gesellschaftlichen, ideengeschichtlichen, politischen und kulturellen Begriffen nicht ausschöpfen lässt, diese vielmehr induziert und provoziert). Gerade der doppelte Zug des Grafen – Täter und Zeuge – deutete auf die Kontamination der »Geschichte« als Handlungs- und Reflexionsraum hin. Die Tat und die Schuld werden erst vor der Öffentlichkeit zu dem, was sie sind, zugleich sollen sie von dieser Öffentlichkeit freigesprochen werden (dieser Doppelung entspricht letztlich die doppelte Eigenschaft des Grafen). Diese Reflexion (Spiegelung) und Umformung des Geschehens im öffentlichen Raum, die so hervorgetriebene Iterabilität des Ereignisses gehört gewissermaßen zu diesem selbst und bleibt ein Geheimnis (wie das Geständnis oder das Versprechen) selbst noch in der schrillsten öffentlichen Mediatisierung. Gerade diese partielle Verborgenheit ruft die Politisierung hervor, fordert sie heraus, wo die Hausherrschaft und Souveränität ablösenden kollektiven Herrschaftsformen118 gerade in der kollektiven Öffentlichkeit ihr Machtpotential, diese als Machtpotential entdecken.119 Auch der Begriff des kategorischen Imperativs – der, wie oben gesehen, Versprechen und Vertrag homogenisieren soll (so wie Macht der Öffentlichkeit und Macht der Geschichte zusammenfallen sollten) – ist Exponent dieser Gewalt (noch laut Nietzsche und Freud), da in ihm ein Imperativ ohne »äußeren imperans« waltet und letztlich frei ist für totalitäre Besetzungen.120 Die Konvergenz von »Privat-Moral« und »Welt-Moral« und die von ihr postulierte, auf addressierender Basis funktionierende Synchronizität bzw. ökonomisches Muster können als Widerstand gegen die Geschichte, gegen das sich in ihr ergeben117 | Vgl. Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 908. Und: »… die geschichtliche Zeit [wurde] selbst zur legitimierenden Instanz für die Herrschaft der öffentlichen Meinung« (ebd., Bd. 4, 453). Zu den Begriffen »volonté générale« (bei Rousseau), »dritte Gewalt«, »öffentliche Gewalt« und »Gesetz der öffentlichen Meinung« vgl. Koselleck, Kritik und Krise, 47. Vgl. noch Arendt, Über die Revolution, 73-146. 118 | Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 64. 119 | Ebd., 901. 120 | Ebd., 76. Gerade Kleist hat dies am deutlichsten gesehen und die auf den inneren Imperativ gegründete Vorstellung der »Verantwortlichkeit« entlarvt, vgl. die oft zitierte Briefstelle: »Man sage nicht, daß eine Stimme im Innern uns heimlich und deutlich anvertraue, was recht sei. Dieselbe Stimme, die dem Christen zuruft, seinem Feinde zu vergeben, ruft dem Seeländer zu, ihn zu braten, und mit Andacht ißt er ihn auf – Wenn die Überzeugung solche Taten rechtfertigen kann, darf man ihr trauen?« (An Wilhelmine von Zenge, am 15. August 1801, 683) Vgl. hierzu Nietzsches Bemerkung: »Die Verantwortlichkeit lange getrennt vom Gewissen!« (Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 10, 330. Auch in Bd. 9, 686).
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de Geheimnis gewertet werden. Die grundlegende Voraussetzung der ethischen Version dieser Operation zielt auf die Feststellbarkeit der Differenz von Täter und Zeugen (als Variation der Handlungs- bzw. Bewusstseinsaspekte der Geschichte), die Überlegenheit des Letzteren als eines »Tier[s], das versprechen darf«121 gegenüber dem Ersteren – als Grund der Moral (und zugleich deren Vollzug). In diesem Zusammenhang wandelt sich das sich auf sich selbst beziehende Zeugnis (Eingeständnis, Bitte um Verzeihung etc.) in dieser Szene zu einer Selbststrafe, zu einem Exemplum vor der Öffentlichkeit, wo der »festliche« Charakter der Strafe hervortritt122 und die Ökonomie des ethischen Gleichgewichts wiederhergestellt wird. Wenn demgegenüber das eigentliche Zeugnis stets ein Geheimnis bezeugt (dem steht seine öffentliche Qualität keineswegs entgegen),123 dann kann dieses nur das Geschehen als Geheimnis, das Geheimnis als Geschehen sein. Die Dimension, in dem das alles sich abspielt, stellt die mediale Unbeherrschbarkeit des Zeugnisgebens dar, in welcher Dimension die Unterscheidbarkeit von Täter und Zeugen, von Handlungs- wie Wissensaspekten der Geschichte relativiert wird.
121 | Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 291. 122 | Ebd. 302. 123 | Vgl. Derrida, Bleibe, 29-30.
8. In der Erprobung der Sprache
Die Ethik des Experiments bei Dezső Kosztolányi
Die Popularität oder Geltung der Kornél-Esti-Novellenzyklen von Dezső Kosztolányi ist auch in Deutschland ungebrochen. Das schönste Beispiel für sein Nachleben ist sicherlich das vor einigen Jahren unter dem Titel Esti erschienene Buch von Péter Esterházy. Die fachwissenschaftliche Rezeption scheint sich nach der Kornél-EstiEuphorie der 90er Jahre zwar eher den Romanen Kosztolányis zuzuwenden – zumindest gab es in den letzten Jahren keine wirklich starken Interpretationen zum hier behandelten Esti-Korpus1 –, daraus jedoch abzuleiten, dass seine Ausdruckskraft schwinden würde, wäre falsch. Kritischerweise muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden, dass das Niveau der Esti-Texte keinesfalls einheitlich ist, etwas zu wortreiche Geschichten einerseits und eher skizzen- oder schwankhafte Texte andererseits geben ein Bild ab, das aus ästhetischer Sicht zu heterogen ist, als dass es einer einheitlichen Interpretation unterworfen werden könnte. Zweifelsohne stellen mehrere Erzählungen aus dem Esti-Korpus aber den Höhepunkt nicht nur der Erzählkunst Kosztolányis, sondern der gesamten ungarischen Erzählkunst des 20. Jh. dar, und ihre Interpretation ist keineswegs in allen Aspekten abgeschlossen oder auch nur befriedigend. Über ihre ziemlich disparate Interpretationsgeschichte, darunter das eher zurückhaltende interesse an der Sprachlichkeit sagt einiges aus, dass z.B. die Geschichte des bulgarischen Schaffners von avancierten Literaturinterpreten immer wieder abgewertet wurde, von László Németh bis G. Béla Németh (übrigens in Übereinstimmung mit Mihály Babits). Im Buch von Esterházy ist diese Novelle hingegen eines der präsentesten Stücke des Esti-Textkorpus. Zoltán Kulcsár-Szabó trifft in einer Rezension zu Esterházys Buch eine insgesamt beredte Aussage, nämlich dass »die stärksten Aspekte« des Buchs von Esterházy »dort und darin sich manifestieren, wo und wie es die Unüberwindbarkeit des großen Vorfahren bestätigt.«2 Mangels neuer Interpretationen kann man über die aktuelle oder erwartbare Entwicklung der Kornél-Esti-Rezeption nur Vermutungen anstellen. Man hat während einer bestimmten Zeit – im Zuge des Erlebnisses der Befreiung vom 1 | Im Kalligram-Verlag (Bratislava) ist allerdings 2011 eine »kritische« Ausgabe des Esti Kornél erschienen (Hg. Júlia Tóth-Czifra/András Veres). 2 | Zoltán Kulcsár-Szabó, Lásd, szétbomlok [Siehst du, ich falle auseinander], in: Kalligram (2/2011), 95.
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ideologischen Druck, jedoch noch nicht ganz frei von den vom selben Druck determinierten Bedürfnissen – viel z.B. über die Beziehung zwischen dem homo aestheticus und dem homo moralis bei Kosztolányi geschrieben, komischerweise war aber niemand imstande, die eingefleischten Verstehensmodi dieser »Figur« wirklich zu modifizieren,3 welche Modi im Wesentlichen alle auf im Vorhinein kodifizierten Wertzuschreibungen und auf einer humanzentrischen Auffassung basierten (der »homo« ist hier grundlegend, seine möglich-polemischen Attribute folgen ihm erst nachher). Es ist ja ein tiefer, nicht geklärter Widerspruch der Kosztolányi-Rezeption, dass der erklärte Anfechter der sprachlichen Idiomatizität (und ihrer anthropologischen Funktionen) ständig aufgrund von solchen abstrakten anthropozentrischen Universalbegriffen behandelt wird. Dennoch gibt es einen zentralen Komplex sowie eine thematisch-narrative Figur, respektive sprachlich-textuelle Dimension in erster Linie des Kornél-Esti-Zyklus, in denen die beiden oben erwähnten Aspekte nicht nur keine Opposition bilden, sondern sogar ihre festgesetzten Codes und somit den axiologischen Bann des anthropozentrischen Weltbildes verlassen. Diesen Aspekt stellt das Experimenthafte, das Moment der experimentellen Seinsweise dar. Kosztolányi hat das sprachliche Phänomen des Übersetzens immer wieder mit naturwissenschaftlichen Metaphern beschrieben, die dessen experimentellen Charakter in den Vordergrund rücken. Und die Kornél-Esti-Novellen inszenieren sich auf der Handlungsebene oft als ausdrücklich ursprungsloses, mit einem willkürlichen Anfang versehenes, d.h. experimentelles Geschehen und schaffen so auf der Ebene der Anschauung eine Verbindung zwischen dem Experiment und dem »Unmöglichen«, ferner dem »Unglaublichen« und »Unwahrscheinlichen« (d.h. bspw. dem Fiktionalen).4 Zudem können wichtige – sowohl textrelevante als auch allgemein die Konzepte der Welt und des Individuums betreffende – autointerpretatorische Metaphern der Novellen so sehr mit der quasi-naturwissenschaftlichen Dimension des Experimentellen in Verbindung gebracht werden, dass die Literatur – im Gegensatz zur Trivialliteratur – selbst als eine Art Medium des Experiments am Horizont der Esti-Novellen auftaucht.5 Solange es schließlich genügt, die Tri3 | S. den sympathischen Versuch von Marcell Mártonffy: A ›homo aestheticus‹ és az etikum kérdése. Egy Kosztolányi-alakzat értelmezéséhez [Die Frage des ›homo aestheticus‹ und des Ethischen. Zur Interpretation einer Figur bei Kosztolányi], in: Jelenkor (3/1997), 286-296. 4 | Der Held einer dieser Novellen ist bekanntermaßen ein »Übersetzer«. Ein anderes vielsagendes »Experiment« ist die Geschichte des bulgarischen Schaffners: Hier geht es um eine Erprobung, die mit Sprache und Schweigen, an der Grenze von Verständnis und Nicht-Verständnis, mit dessen Grenzen experimentiert. Vgl. ferner als ein mögliches Beispiel die Einleitung von Die Ohrfeige: »In Estis Gesellschaft kam es bisweilen auch vor, dass man jemandem plötzlich, völlig grundlos eine Ohrfeige verpasste, nur um die dramatische Situation, die dann schnell entstand, zu genießen und sozusagen mit ihr zu experimentieren.« Vor allem ist hier aber die programmatische Erklärung des dritten Kapitels wichtig: Esti wäre gern ein Schriftsteller, »der an den Toren des Seins rüttelt und das Unmögliche versucht«. 5 | Siehe z.B. die berühmte Stelle zur Wertrelativität, zum Zusammenbruch des moralischen Codes: »Güte und Bosheit […] Die Gegensätze, die wahren entgegengesetzten Pole, stehen immer in einer natürlichen Wechselwirkung, ersetzen einander je nach Umständen, nehmen den Namen des je anderen an, kreisen, verwandeln sich wie die positive und die negative
In der Erprobung der Sprache
vialliteratur zu paraphrasieren (das ist z.B. eine mögliche Botschaft von Das Manuskript), sie gewissen Handlungsschemata und Bedeutungen entsprechen zu lassen, ist die Lektüre schöner Literatur selbst schon ein Geschehen mit offenem Ausgang, das in eine fiktive experimentelle Dimension führt, das Erfindung voraussetzt und einen erkenntnistheoretischen Bezug hat. (Was nicht mit der Haltung eines – literarisch noch so informierten oder präparierten – Homo ludens zu verwechseln ist.) Untermauert wird dies noch von dem zum größten Teil stark gleichnishaften Charakter der Esti-Geschichten. Wie immer ist die am schwersten zu beantwortende Frage natürlich auch jetzt, wie (oder ob überhaupt) all das in der Sprachlichkeit, der Textualität, den fiktionalen Zügen durch das Lesen (jenseits der Aufzählung gewisser motivischer und narrativer Momente) greif bar wird. Die Vorherrschaft der anthropozentrischen Perspektive in der Kornél-Esti-Rezeption kommt auf der narrativen, jedoch auch auf der konzeptuellen Ebene darin zum Vorschein, dass die Perspektive von Esti von der Mehrheit der Interpreten für exklusiv gehalten wird. Etwa die wirkungsvolle, in der Fachliteratur öfters wiederholte, heute jedoch kaum mehr zu bejahende These eines älteren Aufsatzes von Mihály Szegedy-Maszák lautete ja, dass die Geschichten Esti im Grunde nur einen Vorwand bieten, seine Weltansicht zu explizieren6 (das gilt höchstens für die weniger gut gelungenen oder ausgearbeiteten Erzählungen, beispielsweise für Esti und der Tod). Bereits im Kontext dieses Aufsatzes gerät diese Aussage in einen schwer auflösbaren Widerspruch zu seiner anderen Grundthese, dass Esti keine einheitliche Figur sei.7 Diese beiden Thesen wurden in der späteren Esti-Rezeption öfter wiederholt, obwohl sich die interpretatorische Aufrechterhaltung der Exklusivität von Estis Perspektive und die Betonung des nicht-einheitlichen Charakters der Hauptfigur offensichtlich widersprechen. (Zu keinem dieser Pole gehört ferner die pragmatistische These bezüglich der Sprachspiele im Kornél Esti: Wie lässt sich das Postulat der Regelbefolgung im Sinne des Sprachspiels mit dem nicht-einheitlichen Charakter der Subjektivität resp. Exklusivität der Sichtweise von Esti verbinden?)8 Gerechterweise muss man aber anmerken, dass dieser Dualismus teilweise auf die Janusköpfigkeit der Poetik des Kornél Esti zurückzuführen ist, darauf, dass das Zerbrechen des »Romans« (vgl. mit der These, dass Esti insgesamt keine einheitliche Figur ist) noch nicht zu einer textuellen Fragmentierung innerhalb der einzelnen Novellen führt (vgl. mit der These, dass Estis Perspektive in den einzelnen Erzählungen nicht radikal unterwandert wird). Dies brachte schon vor gut elektrische Ladung.« (Dreizehntes Kapitel) Das »nehmen den Namen des je anderen an« verweist darauf, dass es lohnend wäre, diese Interaktion bzw. dieses Geschehen auch als sprachliche Effekte zu untersuchen. (Zur o.g. Stelle vgl. übrigens Nietzsches Definition in Menschliches, Allzumenschliches: »[Z]wischen guten und bösen Handlungen gibt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchsten des Grads«, in: KSA 2, Berlin/New York 1980, 104.) 6 | Mihály Szegedy-Maszák, Az Esti Kornél jelentésrétegei [Schichten der Bedeutung in Kornél Esti] in: ders., A regény, amint írja önmagát [Der Roman, wie er sich selber schreibt], Budapest 1998, 98-102. 7 | Ebd., 107. 8 | Es ist merkwürdig, dass jener Aufsatz, der um 1980 herum und auch danach ernsthafte Verdienste in der professionellen Erneuerung der Esti-Rezeption hatte, aus heutiger Sicht betrachtet stellenweise auffällige Widersprüche und Inkonsequenzen aufweist.
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zwanzig Jahren Ernő Kulcsár Szabó auf den Punkt: »Die Frage von Novellenzyklus oder Roman berührt nicht die strukturelle Umprägung der Geschichten: die Diskontinuität wird auf der Ebene der einzelnen Geschichten nicht zu einem poetischen Organisationsprinzip.«9 Auf bestimmten poetisch-textuellen Ebenen gibt es aber durchaus Möglichkeiten zur facettenreicheren Ausdeutung der Erzählsituation, des Erzählwissens und der Erzählkompetenz von Esti, zur Anzeige ihrer Bedingtheit durch den Text. In der wieder intensiveren Rezeption der zweiten Hälfte der neunziger Jahre vermochten nur die Aufsätze von Gábor Palkó und von Gábor Tamás Molnár die Vorherrschaft der Esti-Perspektive zu befragen: Palkó zeigte die Spannungen des tropologischen Verhältnisses von Erzähler und Figur auf,10 Molnár legte eine an Feinheit schwer zu übertreffende Lektüre des Elften Kapitels vor, die das Übersetzungsproblem bis zur Buchstäblichkeit verfolgt, wobei sie die sprachliche Begrenztheit und Verschiebbarkeit von Estis Perspektive von der Textualität her aufzeigt.11 Erst in diesen Aufsätzen kam die Esti-Rezeption in die Phase des Lesens (jenseits etwa der bloßen Konstatierung des Vorhandenseins von Metafiktionalität, Intertextualität und bestimmten narrativen Figuren, was noch nicht als Interpretation gelten kann). Aus dieser Sicht sind die Merkmale der Kornél-Esti-»Experimente«: willkürlicher, nicht-motivierter Anfang, im Zusammenhang damit die Rolle des Zufalls; Geschehnishaftigkeit und gleichzeitig Virtualität; Augenblicklichkeit, Unabgeschlossenheit, energetische Nicht-Fixierbarkeit, deteleologisierter Charakter.12 Denn »unglaublich«, »unwahrscheinlich«, selbst die »Unmöglichkeit« und ihre Synonyme sind wiederkehrende Ausdrücke im Esti-Korpus, die ihre Eigenschaften immer 9 | Ernő Kulcsár Szabó, Törvény és szabály között (Az elbeszélés mint nyelvi-poétikai magatartás a húszas-harmincas évek regényeiben) [Zwischen Gesetz und Regel. Das Erzählen als sprachlich-poetisches Verhalten in den Romanen der zwanziger und dreißiger Jahre], in: ders., Beszédmód és horizont. Formációk az irodalmi modernségben [Sprechweise und Horizont. Formationen in der literarischen Moderne], Budapest 1996, 74. 10 | Vgl. Gábor Palkó, Esti Kornél: Kosztolányi Dezső. Kosztolányi Dezső: Esti Kornél, in: Ernő Kulcsár Szabó/Mihály Szegedy-Maszák (Hg.), Tanulmányok Kosztolányi Dezsőről [Aufsätze über D. Kosztolányi], Budapest 1998, 188-197. 11 | Gábor Tamás Molnár, Példázat és fordítás (Kosztolányi) [Parabel und Übersetzung bei Kosztolányi], in: Lóránt Kabdebó et al. (Hg.), A fordítás és intertextualitás alakzatai [Figuren der Übersetzung und der Intertextualität], Budapest 1998, 366-372. Der Aufsatz von Molnár ergänzt sich übrigens mit seiner Auslegung von Kosztolányis Gedicht Őszi reggeli [Frühstück im Herbst]: Sowohl im Gedicht als auch in der Novelle verschiebt eine Art Buchstäblichkeit die Funktionsmechanismen metaphorischer Substitutionen, ernsthafte Implikationen in sich bergend für die Sprach- und Zeitauffassung von Kosztolányi, jenseits des Ästhetizismus. (Vgl. Gábor Tamás Molnár, Poetry in Motion?, in: Ernő Kulcsár Szabó et al. [Hg.], Spielarten der Sprache. Transgressionen des Medialen in der Literatur, Budapest 2004, 303-320.) 12 | Insofern wird das Gabenhafte des Experiments vorausgesetzt; besonders wichtig ist hier, was in Barkochba über János Jancsi (gemeint ist der Dichter Attila József) gesagt wird: »Warum er aber auf dieses oder jenes wartete, das hätte er selbst nicht erklären können. Er erwartete eigentlich nichts vom Warten.« Die Abenteuer des Kornél Esti, S. 128. (Es wäre interessant, hier einen Vergleich mit der »Bewahrung« des »Fundes« aus Eszmélet [Besinnung] von Attila József anzustellen.) Zum »Warten ohne zu warten« vgl. Jacques Derrida, Countersignature, in: Paragraph 27 (2004), 40.
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wieder chiastisch mit den Eigenschaften von »wahrscheinlich« und »glaubhaft« tauschen (die Novellen Lüge und Schakale führen das z.B. thesenhaft aus). Diese »Unmöglichkeit« entspricht gewissenmaßen der Fiktion selbst, dem nur experimentell (nicht thetisch) Zugänglichen, selbst wenn damit auf die Unmöglichkeit des Experiments verwiesen wird. Die fiktionalen und referenziellen Bezüge des Experiments existieren in ihrer kontinuierlichen gegenseitigen Wechselwirkung.13 Hier und da finden sich auch in der Rezeption Beispiele in Verbindung mit dem Experimenthaften, zumal im poetologischen Sinn – so erscheinen die materiellen Kennzeichen der Experimenthaftigkeit auf der Ebene der Wortwahl in János Bartas Beschreibung von Kosztolányis Humor (gleichsam in Resonanz auf die Beschreibungen des Übersetzens von Kosztolányi): »Die Quelle des Humors besteht darin, dass der Schriftsteller eine Wirklichkeitsebene künstlich hervorhebt, isoliert, die jedoch derart isoliert niemals vorkommt. Damit geht einher, dass die Tendenzen dieser isolierten Wirklichkeit […] – mangels Reibungswiderstandes – über sich hinaus, zu einer hypertrophen Züchtung anwachsen […] Die Abenteuer Kornél Estis (das Erbe, das perfekte Hotel, der schlafende Vorsitzende) sind glänzende Beispiele für die künstliche Verknappung und Isolierung des Lebensstoffes; aus den eigenen Erlebnissen hebt er eine Ebene, einen Trend heraus, entfernt den Realitätsanstrich und erlaubt ihm, frei hinauszutönen.« Bartas negativ intonierte Charakterisierung der Ironie Kosztolányis erweist sich paradoxerweise dennoch als genauer als eine große Zahl affirmativer Diskurse, so könnte man denn im folgenden Zitat den Ausdruck der »Virtuosität« durch das »Experimentelle« ersetzen: »Sein Humor gehört also nicht der Realität an, sondern der Virtuosität; der Virtuose operiert nicht in der Realität, vielmehr hebt er irgendeines ihrer Elemente heraus, stellt es in den luftleeren Raum, reduziert die reichen Gegebenheiten der Welt auf nichts als eine Materialgüte.«14 Hier geht es um die Interpenetration von Experimentellem und Fiktionalisierung als Quelle der Ironie. Eine ähnliche Wortwahl ist auch in der Analyse Marcell Mártonffys zu beobachten, in der sich Bartas Reduktion nun auf die erzählerische Attitüde Estis als Narrator ausdehnt: »Die Novelle [Achtzehntes Kapitel] bleibt uns jeglichen Verweis auf die Sprechsituation schuldig, in der der Narrator auf eine bloße Stimme reduziert wird, und sie konzentriert das Netz der unterschiedlichsten Lebenssituationen der erzählerischen Ich-Varianten, das sich aus dem Ganzen dieses Novellenkranzes entspinnt, an einem Punkt, von dem aus sie ein komplettes Bild des ganzen Experiments anbieten kann […] Der experimentelle Erzähler visiert die Auswertung der Initiative seiner Selbstreflexion an, wobei er von der Arbeitshypothese Abschied nimmt, dass die Wirklichkeit sinnerfüllt und als runde Geschichte lesbar sei.«15 Die experimentelle Seinsweise erscheint hier in der Entpersönlichung des Erzählers, in seiner Reduktion auf eine diegetische Stimme. 13 | Vgl. die prägnante Bemerkung Palkós zu den zwei Narrationsebenen: »Eine Maske, die von Kornél Esti, ist an der Selbstreflexion interessiert, der Narrator hingegen daran, ihre Maskenhaftigkeit verschwinden zu lassen.« Esti Kornél: Kosztolányi Dezső. Kosztolányi Dezső: Esti Kornél, 196. 14 | Barta János, Vázlat Kosztolányi arcképéhez [Porträtentwurf von Kosztolányi], in: ders., Klasszikusok nyomában, Budapest 1976, 450-451. (Hervorhebungen – Cs.L.) 15 | Marcell Mártonffy, Az én exodusa és az emlékezet iróniája [Der Exodus des Ich und die Ironie des Gedächtnisses], in: Ernő Kulcsár Szabó/Mihály Szegedy-Maszák (Hg.), Tanulmá nyok Kosztolányi Dezsőről, 218. (Hervorhebungen – Cs.L.) Auch in der Beweisführung Már-
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Nietzsche hat das Experimenthafte im Zuge der Relativierung der Moralvorstellungen auf den Begriff des Subjekts selbst ausgedehnt, z.B. erscheint der Themenkreis des Experiments in Morgenröthe mehrfach im Sinne des »Experimentierens an uns selbst/mit uns selbst«. Im temporalen Sinn bedeutet das bei ihm gleichzeitig Vorläufigkeit und Nachleben (»vorläufiges« und »nachläufiges Dasein«), in der Form einer Art »moralischen Interregnums«,16 nach der Verabschiedung einzelner moralischer Ideale und Autoritäten ein hybrides, nicht instanziierbares Sein (ein Dazwischen) undurchdringlicher Offenheit. Dieses Hybrid-Sein passt in gewissem Sinne auch zu seinem späteren Theorem der »Unschuld des Werdens«, da die Kontingenz, die das Experiment erst möglich macht, in dessen Medium freigesetzt wird. Diese Zusammenhänge erscheinen auf zahlreichen Ebenen des Esti-Korpus, textuell z.B. in der Dimension der Eigennamen und der performativen Komplikationen, poetologisch auf den Ebenen der Überdeterminiertheit der Fiktionalität, des Fragmentarischen und Variationshaften, der Teilung des narrativen Diskurses und der experimentellen Parabelhaftigkeit, anschaulich auf der Ebene des Subjektbegriffs bzw. des Konzepts der Chronologie (in dessen Zentrum die Figuren des Zufälligen, der Unvorhersehbarkeit stehen). Vom gegenwärtigen Standpunkt aus sind die interessantesten experimentellen Züge dieses Korpus auf die Beziehungen von Sprache (oder Sprachlichkeit) und Ereignis sowie auf mit ihnen verbundene Subjektpositionen gerichtet, im Sinne der Unterschiede und wechselseitigen Spannungen und Differenzen zwischen der (gleichzeitig materiellen und immateriellen) Materialität der Sprache (der Arbitrarität des Signifikanten) und dem (unterschiedlichen) Sprachgebrauch, ferner dessen unterstellten intentionalen Differenzen (z.B. im Gepräge der Ironie) – gemeinsam mit möglichen ethischen Zusammenhängen, in erster Linie hinsichtlich der Beziehung von Gabe und Zeugenschaft.17 Bei Esti (dem Schriftsteller) zeigt sich auch auf der szenischen Ebene oft gesteigert die sprachhermeneutische Erfahrung, die schon Humboldt als experimentellen Index der Wechselwirkung von Verstehen und Selbstverstehen betrachtet: »[…] und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an anderen versuchend geprüft hat«.18 An dieser Stelle wird auch der Begriff des »Menschen« wichtig, denn die Erkenntnis der Unmöglichkeit einer Universalsprache ging um 1800 mit der Relativierung der in der generischen Allgemeinheit des Menschen begründeten anthropologischen Natur einher. Infolgedessen wird die weitere Aufgabe darin bestehen, den Vorrang der Idiomatizität der Sprache bei Kosztolányi mit der latenten Problematisierung der kulturellen und anthropologischen Idee vom »Menschen« zu verknüpfen.
tonffys erscheint der Anspruch eines übergeordneten Blickpunktes (»in diesen Blickpunkt spinnt«, »komplettes Bild«), was in einen gewissen Widerspruch zur Kritik am Aspekt des Abgerundetseins geraten könnte. 16 | Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, KSA 3, 274. 17 | Zum Unterschied zwischen normativer bzw. präskriptiver und explorativer Moral (wobei letztere ein Belang der Literatur und der ästhetischen Erfahrung wäre), zum Verhältnis von Verstehen und Vergeben vgl. auf der Grundlage mehrerer Beispiele der Weltliteratur Hans Robert Jauß, Wege des Verstehens, München 1994, 30-83. 18 | Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, in: ders., Gesammelte Schriften 5, Berlin 1968, 377.
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Im behandelten Korpus ist das Bedingtsein durch (einzelne idiomatische Züge der) Sprache das Medium des Experiments, jedoch erstreckt sich dieses nicht auf das Bedingtsein durch Texte (in dieser Hinsicht überschreitet Kosztolányis Werk wohl nicht die Epochenschwelle zur Spätmoderne, in anderer Hinsicht dagegen schon). Schon Nietzsche hat ja in Menschliches, Allzumenschliches die experimentelle Seinsweise in Verbindung mit der intertextuellen Dimension des Zitats oder der Kopie gebracht, im Sinne einer riskanten Überantwortung an das Bedingtsein durch Texte.19 Im Esti-Korpus taucht das Moment der Zitathaftigkeit oder der Intertextualität zwar mehrmals auf, jedoch im Allgemeinen gekennzeichnet auf der Ebene der Handlung, im thematischen Sinn, oder auf der Ebene korpusinterner, intratextueller Bezüge (einzelne Beispiele werden später noch analysiert). Im ersten Kapitel von Kornél Esti wird eine erste Begegnung zwischen Esti und dem Erzähler nach langer Zeit als Friedensschluss beschrieben, der Vergebung, ja sogar Befreiung sanktioniert (»Wer nicht mehr jung ist, wird weich und vermag alles zu verzeihen. Sogar die Jugend. Laß uns Frieden schließen« bzw. »Von jetzt an stehe ich zu dir«). Das Vakuum, das aus der bzw. durch die Polarität der beiden entstanden ist, muss aufgelöst bzw. einer Entscheidung zugeführt werden, der Vertrag ist zwar eine Art Kompromiss, hat aber dennoch den Charakter einer Entscheidung.20 Dieser Allianzschluss oder Vertrag hält als Grundsatz offensichtlich die gemeinsame Autorschaft, die Teilung der narrativen Position vor Augen, insofern kann er als Experiment, als sprachlich-literarisches Experiment bezeichnet werden. Der Autor – »Dezső Kosztolányi« – übernimmt nach diesem Muster die fiktionalisierende (und zugleich die authentifizierende) Funktion, Esti hingegen die diegetische, sie sind jedoch in der Lage, einander abzuwechseln, sie können in performativer Weise »den Namen des anderen« annehmen (z.B. im Sinne einer Verdopplung, einer Heterogenität, jedoch in der gegenseitigen Bezogenheit von Eigenname und Unterschrift). Damit projiziert der metafiktive Rahmen des Kornél Esti das Gepräge des Experiments auf den gesamten Zyklus, deutet ihn als sprachliches Experiment; dabei wird jedoch nicht dessen beliebiges Wesen betont, sondern sein Entscheidungscharakter, der den Vertrag erst ermöglicht hat. Diesen präsentiert er jedoch nicht so sehr als Ausgleich, sondern als Vorbedingung literarischer Produktion, als eine Art Abwehr (Eindämmung) der Notstandserfahrung des »siehst du, ich falle auseinander«. Die Experimenthaftigkeit als Seinsweise und Attitüde, 19 | Kant, Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, 182-183. (221. Aphorismus) 20 | Zitiert aus Dezső Kosztolányi, Ein Held seiner Zeit – Die Bekenntnisse des Kornél Esti (übersetzt von Christina Viragh), 22. Ein kurzer Hinweis auf die möglichen Gegenstände der Entscheidung: Sie hat eine ästhetische Seite (die Dualität von Expression und Artistikum), doch man könnte auch sagen, einen ontologischen Bezug (»die Wirklichkeit und die Imagination«). In der Dualität Erwachsener–Kind bedeutet letzteres das Potential einer ästhetischen Wahrnehmung der Moderne, das Versprechen der Erneuerbarkeit. Zugleich ist sie auch ein Vertrag zwischen kulturellen Polen, zwischen Nationalität und Internationalität, in Anspielung auf den kulturellen Zustand Ungarns in der Zwischenkriegszeit: »Ich liebe mein Volk und meine Sprache heiß, kann nur hier leben und atmen, du Weltenbummler hingegen fliegst frei über den Völkern und läßt den schrillen Ruf nach ewiger Revolution hören«. Zum »Handel« vgl. Palkós bemerkenswerte Analyse: Esti Kornél: Kosztolányi Dezső. Kosztolányi Dezső: Esti Kornél, 194.
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die durch den Ausnahmezustand erzwungene Entscheidung, verbindet also das nicht-einheitliche Gepräge des Subjekts mit dem unvermeidbaren Entscheidungscharakter: In diesem Sinn kann der Widerspruch zwischen einem nicht-einheitlichen Esti versus einem exklusiven (die Geschichten zum Vorwand nehmenden) Esti aufgelöst werden. Der Autorname sowie der direktive Sprechakt der Titelzuweisung sind von einer auffälligen Motivationslosigkeit geprägt, was wiederum den willkürlichen Ursprung des Experiments oder das Fehlen eines referenziellen Ursprungs betont: Ich war schon im Erdgeschoss, da fiel mir etwas ein. »Kornél«, rief ich hinauf. »Und wer zeichnet unser Werk?« »Egal!«, rief er herunter. »Du könntest zeichnen. Du kannst deinen Namen draufschreiben. Mein Name könnte hingegen der Titel sein. Der Titel wird ja mit größeren Buchstaben gedruckt.«
Der ganze Vorgang basiert jedoch auf der Vergebung als einem performativen Akt, und von dieser Warte aus offenbart sich, dass der Zyklus an vielen Stellen nicht nur als sprachlich-literarisches Experiment, sondern auch als quasi-ethische Prüfung lesbar ist, so z.B. in der Geschichte vom bulgarischen Schaffner, die ebenfalls als »spielerisches« Experiment beginnt und – zumindest in Estis Horizont – mit einer Szene der Vergebung, einem affirmativen Akt endet (»Was du getan hast, ist nicht schön, doch irren ist menschlich, und für diesmal will ich dir verzeihen. Und auf bulgarisch rief ich ihm nur ein Wort zu: Ja!«).21 Im Sinne des ersten Kapitels sind die Vergebung und ihre Analogien oder Äquivalente (Befreiung), aber auch ihre negativen Entsprechungen (Verurteilung)22 hingegen auf das akolytische Verhältnis23 von Esti und dem namenlosen (?) Erzähler projizierbar, ja sogar auf die Relation zwischen dem narrativen Diskurs und dem durch ihn in Bewegung gesetzten Sprachmaterial in der Gesamtheit des Zyklus. Der weiter oben erwähnte sprachlich-textuelle Aspekt kann hier also auf der performativen Ebene konkretisiert werden.24 Das heißt, dass das Experimentelle sich auch auf die performati21 | Kosztolányi, Ein Held seiner Zeit, 167. 22 | So schließt z.B. die Geschichte von Gallus, »dem gebildeten, aber vom rechten Weg abgekommenen Übersetzer«, mit Nicht-Vergebung. In Barkochba trägt ein Gedicht János Jancsis den Titel: Tout comprendre c’est tout pardonner (In welcher Beziehung steht wohl dazu das späte, bereits nach Kosztolányis Tod geschriebene, Gedicht von Attila József mit dem Titel Tudod, hogy nincs bocsánat [Du weißt, es gibt kein Vergeben]?). 23 | Das »acolyte« in der Lesart Derridas bedeutet hier den Begleiter, den Zeugen gewisser (nicht referentialisierbarer und nicht-autorisierbarer) Sprechakte, oder auch im narratologischen Sinn den Erzähler als Zeugen Estis, aber auch umgekehrt. Siehe Jacques Derrida, ›Le Parjure‹. Perhaps: Storytelling and Lying (›abrupt breaches of syntax‹), in: Carol Jacobs (Hg.), Acts of Narrative, Stanford 2003, 195-234. 24 | Hier soll darauf verwiesen werden, dass die szenische Suggestion dualer Figur und Schreibhaltung im Anfangskapitel des Esti-Zyklus sogar im 1936 geschriebenen Kosztolányi-Nekrolog Mihály Babits’ – dem der Kornél Esti eher und mit gutem Grund fremd war – eine Wirkung gezeitigt hat: »Das alles ist wahr; doch wie falsch es klingt, wenn ich an ihn denke! Ich habe das Gefühl, er steht hier hinter mir, schaut in meine Schrift, lacht über mein Pathos und hänselt mich mit meinen Attributen. ›Aktuell‹? ›Aufrichtig‹? ›Leicht lesbar‹?
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ve Dimension der Sprache bezieht (Vertrauen, gegebenes Wort, Vergebung, Lüge, Falschschwur, Scham usw.), wofür wiederum die Geschichte des bulgarischen Schaffners eines der besten Beispiele ist, da ihre Handlung von Estis Quasi-Lüge in Gang gesetzt wird. Die Geschichte des bulgarischen Schaffners ist eine der komplexesten und am schwersten zu deutenden Esti-Novellen (es wurde auch die Auffassung vertreten, dass Kosztolányi hier Elemente seiner Sprachauffassung, die schwer vereinbar sind, in narrativ-allegorischer Form miteinander verküpft hat). Die interpretatorischen Schwierigkeiten dieser Novelle ergeben sich in erster Linie aus dem narrativen Umstand, dass Geschichte und Erzählung nicht voneinander zu trennen sind – weder Esti noch der Leser kennen bzw. erfahren die Geschichte, überhaupt die Welt des Schaffners –25, sowie daraus, dass der Text jedoch gezwungen ist, seine Erzähltheit als solche anzuzeigen (z.B. am Ende, als Esti seinen »stummen Blick« allein dem Publikum oder dem Leser erklären kann: »der ausdrückte …«). So konzentriert sich schon von Anfang an der Komplex der Wahrhaftigkeit, des Vertrauens, des Meineids, der Vergebung in der narrativen Sprechsituation des Textes. Es ist offensichtlich, dass die gesamte Handlung mit Estis Finte, einer Art Lüge (die das Vertrauen des Schaffners voraussetzt), beginnt. Hier stellt die Grenze zwischen Visualität (z.B. Gesten) und der tönenden Sprache (vgl. die Stummfilm-Metapher) zugleich die Differenz zwischen Fiktion und Zeugnis dar, wo das eine als die Kehrseite des anderen zu denken ist.
Plötzlich schäme ich mich.«(Mihály Babits, Kosztolányi, in: ders., Esszék, tanulmányok II [Essays, Aufsätze], Budapest 1978, 517) Kosztolányi lebt zu dem Zeitpunkt nicht mehr, er ist aber zum selben Zeitpunkt in Babits ein lebender (überlebender) Zeuge seines – gerade währenden – Schreibens, er bezeugt den Akt des Schreibens, nicht unbedingt im beabsichtigten Sinne, was dazu führt, dass das implizierte Subjekt des Schreibens, genauer gesagt, die Schreibhaltung Lügen gestraft und die Scham des Subjekts hervorgerufen wird. 25 | Gleich in der Einführung wendet der Text eine mediale Metapher auf diese Erscheinung an, das Beispiel des »Stummfilms […] ohne Musik und erklärende Zwischentitel«. (Wie wichtig die Erzählung gegenüber der Geschichte im Esti-Korpus ist, hat Mihály Szegedy Maszák betont (Az Esti Kornél jelentésrétegei), jedoch noch auf der Basis Genette-scher Narratologie.) Möglicherweise verweist Kosztolányi hier auf die Prämisse der Filmtheorie Béla Balázs’ und problematisiert dies in der gesamten Erzählung: »Denn auf den ersten Blick scheint es so, als wenn die Physiognomiesprache jenes Entfremden und Auseinandergehen, das mit der Sprachverwirrung beim Turmbau von Babel angefangen hat, nur noch vermehren und vergrößern würde. […] Nun aber ist der mimische Ausdruck noch vielfach individueller und persönlicher als die Wortsprache. Zwar hat auch das Mienenspiel seine ›eingeführten‹, mit bestimmter Bedeutung allgemein gebrauchten Formen, so daß man eine vergleichende Mienenlehre nach dem Muster der vergleichenden Sprachlehre machen könnte und sogar müßte. Doch hat diese Gebärdensprache zwar ihre Traditionen, aber keine Gesetze wie die Grammatik, die verpflichtend wären […] Andererseits scheint uns gerade die Filmkunst eine Erlösung von dem babelschen Fluch zu versprechen. Denn auf der Leinwand der Kinos aller Länder entwickelt sich jetzt die erste internationale Sprache: die der Mienen und Gebärden.« Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M. 2001, 23-24. Auffällig ist unter anderem, wie sehr diese eschatologische Hoffnung von der Polemik gegen die Sprache abhängt.
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Auch in dieser Geschichte »experimentiert« Esti mit der »Unmöglichkeit«, sich in einer Sprache zu unterhalten, von der er lediglich ein paar Wörter kennt. Hier interessieren nun, hinsichtlich der Unterscheidung Mensch–Tier, die anthropologischen Implikationen des sprachlichen Experiments. Das persönliche Narrativ des Schaffners bleibt Esti verschlossen, ihm kommen nur einzelne gegenständliche Elemente unter die Augen: eine Fotografie, die einen Hund abbildet, sowie zwei grüne Hornknöpfe. Dazu gesellt sich der plötzliche Tränenausbruch des Schaffners, den Esti nicht einzuordnen vermag, dennoch versucht er, den Schaffner mit seinen ärmlichen sprachlichen Mitteln zu trösten: »Ich packte den Schaffner hart an den Schultern, damit er sich ermanne, und ich rief ihm drei mal auf bulgarisch ins Ohr: Nein, nein, nein.« (166) Daraufhin richtet der Schaffner mit einer »vollkommen veränderten« Stimme »kurze, scharfe Fragen« an Esti: »›Warum sagst du erst ja, wenn du kurz darauf nein sagst? […] Bekenne Farbe. Ja oder nein?‹« (ebd.) Es ist vorstellbar, dass der Schaffner um den Hund trauert, von dem ihm nur mehr das Bild geblieben ist. Der frivole Umgang Estis mit den Knöpfen (»Ich ließ die Knöpfe klimpern, spielerisch […]«) mag die Gefühle des Schaffners derart verhöhnen, dass sein Verhalten auch deswegen umschlägt. Esti beantwortet das Fragenstakkato des Schaffners nicht, er misst ihn nur arrogant mit dem Blick, am nächsten Morgen vor der Ankunft schlägt das Verhalten des Schaffners trotzdem wieder um: »[Er] stand einfach da, treu wie ein Hund. Wieder redete er, leise, kontinuierlich, unaufhaltsam. Vielleicht versuchte er die peinliche nächtliche Szene wegzureden, vielleicht machte er mir Vorwürfe, ich weiß es nicht, aber auf seinem Gesicht zeigten sich tiefe Reue und Herzschmerz.« (167) Esti vergleicht den Schaffner mit dem Hund, das heißt, das Verhältnis Hund–Schaffner (in seiner unbekannten Geschichte) wird gleichsam auf die Beziehung Esti–Schaffner projiziert (Geschichte und Erzählung spiegeln sich wechselseitig ineinander). Esti inszeniert die letzte Trennung als Vergebung und »beantwortet« die frühere »Frage« des Schaffners mit Ja, genau genommen gesteht er (dem Text zufolge): »[Dann] warf ich ihm einen stummen Blick zu, der ausdrückte: ›Was du getan hast, ist nicht schön, doch irren ist menschlich, und für diesmal will ich dir verzeihen.‹ Und auf Bulgarisch rief ich ihm nur ein Wort zu: Ja!«26 Hier nimmt der Schaffner nun eine menschliche Eigenschaft an (»irren ist menschlich«), während vorher die »Treue« der Interpretant des Tieres war (oder umgekehrt). Dieses »Ja« ist eines der mehrdeutigsten der zahlreichen Jas im Esti-Korpus: es bedeutet gleichzeitig Entscheidung (im Sin26 | Kosztolányi, Ein Held seiner Zeit, 167. Dieser Textteil zitiert eine wichtige Stelle im Neuen Testament zum »Farbe bekennen«, den Anfang des Zweiten Briefes an die Korinther: »Bin ich etwa leichtfertig gewesen, als ich dies wollte? Oder ist mein Vorhaben fleischlich, sodass das Ja Ja bei mir auch ein Nein Nein ist? Gott ist mein Zeuge, dass unser Wort an euch nicht Ja und Nein zugleich ist. Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der unter euch durch uns gepredigt worden ist, durch mich und Silvanus und Timotheus, der war nicht Ja und Nein, sondern es war Ja in ihm.« (2 Kor 1,17-19 Luther) Wiederum sind hier Geschichte und Erzählung nicht voneinander unterscheidbar, weil Esti die Rede des Schaffners als Zitat »hört« (ohnehin touchiert Estis »Experiment« eher die Grenze zum »Leichtsinn«, um es dann mit einer Art »ja« abzuschließen, freilich auf denkbar ambivalente Art und Weise). – Deswegen ist die Verabsolutierung der »Präsenz« und des »Nicht-Hermeneutischen« in Verbindung mit der Literatur eine Illusion: Man »hört« das Nicht-Verständliche in der Sprache potentiell immer als Zitat.
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ne der Antwort auf: »ja oder nein?«), Vergebung und Abschied, in gewissem Sinne ist es Estis Testament an den Schaffner. Dieses Testament – als eine Gabe des »ja«, eine Art Affirmation oder Gegensignatur – ist dem selbstreflexiven Code der Novelle gemäß zutiefst vom Moment singulärer Zeugenschaft durchtränkt, denn, so der Anfang: »Da ist mir etwas zugestoßen, das zu verschweigen schade wäre. Ich könnte ja jederzeit sterben […] Und jemand anderer, da bin ich sicher, wird so etwas nicht erleben, nie.«27 (Da die Geschichte aber gerade die Geschichte eines einzigen großen »Verschweigens« ist, kann allein die Spannung zwischen narrativem Code und Handlungsebene schon eine Quelle von Mehrdeutigkeit sein.) In gewissem Sinn ist dieses Ja aber auch die sprachliche Kennzeichnung der Treue, das heißt, Esti erwidert die Treue des Schaffners auf der Ebene der Sprache. Hier setzt dieses »Vergeben« vermutlich auch die Instanz des Gewissens voraus, in der Wendung »wurde mir doch weich ums Herz«, die sich nun zugleich als unauflösbar zweideutig erweist, denn mit Sicherheit lässt sich nicht bestimmen, ob Esti den Schaffner ob seiner angeblichen Traurigkeit bemitleidet oder, weil er sein Vertrauen missbraucht hat (Transformierung zum Opfer – zum Opfertier?). Gleichzeitig liefert Estis Sprache eine weitere Erklärung: die Wendung »wurde mir doch weich ums Herz« verweist auf »dem vor Schreck das Herz stehengeblieben ist« (einige Sätze vorher, 167), das heißt Esti »vergibt« dem Schaffner (auf dessen Gesicht sich »Herzschmerz« zeigt) gleichsam aus der Perspektive des irreversiblen Abschieds, sein Mitleid wäre damit sogar ein Selbstmitleid aufgrund der eigenen Sterblichkeit (daher auch der testamentartige Schluss der Novelle).28 Damit erhält man ein weiteres Beispiel dafür, dass die Vergebung (als Zeugenschaft und ihre Gabe) nicht das Resultat eines souveränen Aktes ist, es wird beispielsweise auch nicht ganz klar, wem Esti eigentlich vergibt (die Spannung zwischen »wegreden« und »Vorwürfe machen« gilt auch für ihn). Gleichzeitig entsteht aber auch eine Spannung zwischen der Vorwegnahme des Todes (der nicht zu überwältigenden Zeitlichkeit des Endlichen) und dem performativen sprachlichen Ereignis, es besteht zumindest nicht unbedingt eine Kontinuität zwischen ihnen, obwohl sie einander bedingen.29 Dagegen kann bei Esti gerade der – vom Anderen zu nehmende – Abschied und 27 | Ebd., 159. Esti sinkt nach dem »Gespräch« so schnell in den Schlaf, »wie jemand, dem vor Schreck das Herz stehengeblieben ist«. Auch Péter Balassa beginnt seine Interpretation der Erzählung mit der Feststellung der »Bezeugung«, vgl. A bolgár kalauz [Der bulgarische Schaffner], in: ders., A bolgár kalauz, Budapest 1996, 7. 28 | Ebd., 167. In dem Sinne, dass der Anfang der Novelle den singulären Status der Zeugenschaft aus der Perspektive des Todes hervorhebt, indem er eben auf das »Herz« verweist: »[I]m Herzen oder im Gehirn platzt eine Ader« (159) (auf der Ebene der Wortwörtlichkeit kann das in Verbindung mit dem »Herzschmerz« gebracht werden). Die Novelle wird also mehrfach vom Motiv des »Todes« durchkreuzt – gleichzeitig bringt das parasemische, beinahe alleatorische Verhalten, die intratextuelle Zitathaftigkeit des Wortes »Herz«, verschiedene wortwörtliche und übertragene Bedeutungsebenen in Verbindung (»im Herzen […] platzt«, »das Herz [ist] stehengeblieben«, »Herzschmerz«, »wurde […] weich ums Herz«). 29 | Vgl. Derridas von de Man abgeleitete Differenzierung zwischen der Zeitlichkeit und dem Ereignis der Vergebung, das eine irreversible Unterbrechung, eine »revolutionäre Zäsur«, sogar das »Ende der Geschichte« impliziert: Jacques Derrida, Das Schreibmaschinenband. Limited Ink II, in: ders., Maschinen Papier, Wien 2006, 89. Diese Zusammenhänge könnten auf eine gewisse Strittigkeit der Beziehung des Begriffs der »Jemeinigkeit« zum »Mitsein«
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die in ihm liegende ursprünglich intersubjektive Erfahrung der Schuld diese Vorwegnahme – des Seins, das dem eigenen Tod zustrebt – auslösen. So ist das »Ja« hier eine Art Siegel, Unterschrift oder Gegensignatur gleichsam eines Rufes, in dem synchron die »vergangene Zukunft« des Todes und des Zeugenanspruchs des Anderen erklingen. Auf jeden Fall scheiden sich hier zwei (drei) Ebenen voneinander: die unbekannte Geschichte des Schaffners und die Schauspielerei Estis, die hier auf die Beziehung mit dem Leser bzw. auf die Erzählhaltung Estis übergeht (da sich die Pose der »Vergebung« unvermeidlich auf die diskursive Ebene der Erzählung überträgt, ohne dass sie Teil der erzählten Geschichte ist, gleichwohl aber ihr – partieller – Interpretant), ferner auf die metafigurative bzw. hermeneutische Ebene des Textes, da Esti nun auch vor dem Leser etwas verschweigt. (Die Ambiguität der Erzählebene transferiert die Unerkennbarkeit der sprachlichen Akte oder die Nicht-Kommunizierbarkeit ihrer Absichten damit in die eigene Sprache, im Sinne der »Fremdheit des Eigenen«, das heißt, jenseits der Unüberwindbarkeit der eigenen Sprache handelt es sich um die Fremdheit, die Intransparenz eben dieser Sprache.) Dadurch wiederum wird der Wahrheitsgehalt problematisiert, die Feststellbarkeit des »Farbe-bekennens« – überhaupt der erzählerischen Leistung –, ja selbst die narrative Souveränität Estis. Auch auf dem Niveau der inszenierten »Vergebung« (die als Anakoluth zwangsläufig auf die diskursive Ebene der Erzählung führt, denn dem Schaffner kann Esti seinen »stummen« Blick nicht erklären, nur seinem Publikum).30 Sie wird auch wirksam, weil Esti die Phrase »irren ist menschlich«, die als generatives Prinzip der Freisprechung zur Grundlage der Vergebung wird, auf den zuvor mit dem Zeichen des Tieres versehenen Schaffner anwendet, womit man ihn sogar als falschen Zeugen bezeichnen könnte.31 Zumindest ist die aus Heideggers Sein und Zeit und damit auf die weitere Aporetisierung des Problems der Zeitlichkeit deuten. 30 | Hier bietet sich eine Betrachtung über die Beziehung des erzählerischen Diskurses zur Muttersprache (der linguistischen Partialität) im Sinne der Sprachauffassung von Kosztolányi an. Insbesondere in dem Bewusstsein, dass dieses Moment die Untrennbarkeit von Erzählung und Geschichte verstärkt: Nach Estis Worten »versicherte« der Schaffner ihm, dass »er gleich kommt, und dann erzählt er mir den Schluss, die Pointe dieser hundsblöden Torheit, […]«. (Das geht in der Übersetzung von Viragh leider verloren: »[…] er komme aber gleich wieder, und dann werde er das Ende erzählen, die Pointe dieses kapitalen Ulks […].« Ein Held seiner Zeit, 164.) Der Ausdruck »hundsblöd« nimmt in Estis Diskurs den Hund auf dem Foto, das der Schaffner ihm zeigt, als Motiv vorweg, was wiederum nur auf das Problem der Glaubwürdigkeit des Erzählers zurückverweist (Esti kann nicht wissen, was der Schaffner sagt, seine Erzählung gebraucht idiomatische Wendungen des Ungarischen; ein weiteres Beispiel dafür ist der »Herzschmerz« auf dem Gesicht des Schaffners und das darauffolgende »wurde mir doch weich ums Herz«). 31 | Esti bemüht sich, mit dieser Präsentation der Vergebung im Wesentlichen um die Wiederherstellung (»ich vergebe dir«) seiner (z.B. erzählerischen) Souveränität, womit Derrida zufolge die Vergebung als Gabe Lügen gestraft wird, denn diese Gabe ist nicht als Besitz des vergebenden Subjekts zu betrachten, vielmehr muss sie »unmöglich«, d.h. nicht normativ oder normalisierbar sein, sondern eine Ausnahme, die die Zeitlichkeit der Geschichte zerreißt. Vgl. Jaques Derrida, Jahrhundert der Vergebung, in: Lettre International (Frühjahr 2000), 10-18.
In der Erprobung der Sprache
Vergebung insofern keine Gabe, als sie auf einen im Zeichen des »Menschen« geschlossenen Vertrag verweist. Diese Textstelle dehnt den sprachkritischen Zug,32 der die Novelle im Allgemeinen auch thematisch prägt, auf die sprachliche, generative Basis der Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Tier« aus: der Bezug auf das »Menschliche« zeitigt hier eine metaphorische Abweichung, seine Arbitrarität – die Benennung des »Menschen« – kommt ans Licht (parallel zur Infragestellung von Estis erzählerischer Souveränität).33 Das ist offenbar der Effekt der (Selbst-)Ironie, in der die Namen von »Mensch« und »Tier« chiastisch vertauscht werden (»wie positive und negative elektrische Ladung«). Diese ironische Prägung der Phrase, die die Vergebung prinzipiell authentisierende Legitimationsinstanz, tritt als Anakoluth auf 34 und stört damit deren Autorisierung bzw. entschuldigende Funktion,35 womit die Vergebung gleichsam unmöglich wird. Ihr Akt – in der ersten Person Singular mit hauptsächlichem Bezug auf die Universalität des »Menschen« – ist als eine Art »inneres Wort« nicht äußerbar, nicht aussprechbar.36 Insofern stellt der Spruch – sogar der Signifikant »Mensch« selbst – sich als willkürliche sprachliche Setzung heraus.37 Die Instanz des Gewissens (das generisch-generative Prinzip des »Menschen«), welche die Vergebung autorisiert (entschuldigt), bleibt sozusagen unlesbar,38 dadurch wird aber auch der performative Wert des – an sein Publikum oder den Leser gerichteten – »Bekenntnisses«, die Authentifizierbarkeit der erzählerischen Haltung Estis, relativiert. Die »Vergebung« wird eigentlich auf der Ebene der Erzählung ausgesprochen, sie ist an das Publikum (den Leser) gerichtet, Esti 32 | Die expliziteste Stelle im Text ist in diesem Sinne: »Es gibt im Leben keine Situation, auf die man nicht so ist das Leben anwenden könnte. Selbst wenn jemand stirbt, sagt man nur: so ist das Leben.« 33 | All dies würde die Übersetzbarkeit des mimischen und sprachlichen Interpretanten voraussetzen: »… die Metakommunikation des Erzählers, seine rede-ersetzende Sprache basiert auf einem inklusiven konventionellen Wissen bzw. auf der Hypothese der universalen Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit mimischer Reaktionen.« (Balassa, A bolgár kalauz, 10) Wie bereits zu sehen war (s. Fußnote 24), baute Béla Balázs auf diese Hoffnung – verbunden mit der »Geste« – seine Filmtheorie auf. Zugleich wird die Grenze zwischen der Geste und der sprachlichen Kommunikation in Kosztolányis Text nicht aufgelöst, sie bleibt auf unlesbare Weise bestehen. 34 | Zur Beziehung von Anakoluth und Ironie vgl. Paul de Man, The Concept of Irony, in: ders., Aesthetic Ideology, Minneapolis/London 2000, 194-197. Vgl. außerdem J. Hillis Miller, The Anacoluthic Lie, in: ders., Reading Narrative, Norman 1998, 149-157. 35 | Dadurch wird das synthetische Urteil untergraben, das den Schaffner – wenn auch tropologisch – entweder mit »menschlichen« oder »tierischen« Eigenschaften versehen, ihn einer von ihnen anpassen würde. Vgl. de Man, The Concept of Irony, 189-190. 36 | Zum Begriff der »unmöglichen« Vergebung in diesem Sinn (ohne das Moment des »inneren Wortes«) vgl. außerdem Jaques Derrida, Eine gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, 29-31. 37 | Zur Willkürlichkeit der Etablierung vgl. Paul de Man, The Concept of Irony, 192. 38 | Auf einer Art wortwörtlicher Ebene ist der Bezug Estis auf die Phrase »irren ist menschlich« dennoch motiviert (einmal davon abgesehen, dass auch »irren« im Kontext der Novelle mit mehr als einer Bedeutung aufwarten kann): Der bulgarische Schaffner ist für ihn tatsächlich »nur« ein Mensch, denn er kann sich ihm nicht verständlich machen und hat keine Möglichkeit, seine Persönlichkeit kennenzulernen.
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entschuldet sich hier gleichsam selbst. Das ambivalente Moment des »Mitleids« (sein intransitiver Charakter), Estis Art von Generosität der »Vergebung« führen sozusagen zu einer inversen Abbitte (Esti möchte sich selbst vergeben bzw. sein Publikum insgeheim auffordern, ihm die ihm zustehende Vergebung zu gewähren). Letztendlich sucht Esti implizit die erzählerische Tätigkeit, ihr Ereignis als solches zu entschuldigen (Vergebung und Entschuldigung setzen immer unauslöschbare Geschehen voraus), dafür möchte er sich selbst vergeben lassen. Diese Entschuldigung dagegen ist in gewissem Sinne die Erzählung selbst (ihre performative Ebene) bzw. nicht metasprachlich konzeptualisiert, verweist nicht auf eine ihr vorangehende Sprache (eher noch auf deren Fehlen) – und aus dieser Warte erhält der Auftakt zahlreicher Esti-Novellen, die Wendung »sagte Esti« (die von Anfang an die Betonung auf das Geschichtenerzählen als sprachliches Handeln legt) seine Interpretierbarkeit. Diese abschließende Funktion ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil Esti z.B. in der später noch zu analysierenden Novelle über die vom Schicksal verfolgte Witwe nicht so sehr aus Mitleid, sondern eher aus seinem »geschliffenen Stilgefühl« (Taktgefühl) heraus z.B. Versprechungen macht, sein »wurde mir doch weich ums Herz« also auch als der Versuch lesbar ist, die im narrativen Vakuum angelangte Geschichte abzuschließen. So müsste eine Art narrative Pointe oder erzählerische Stringenz eingelöst werden, hat doch auch im ersten Kapitel die Vergebung (Entschuldigung) zum Vertrag als Möglichkeitsbedingung narrativer Produktion geführt. Es ist jedoch fraglich, ob die »Vergebung« zur Geschichte, zur Handlungsebene gehört, oder ob sie nicht eher deren Grenze anzeigt.39 Die o.g. Aporien der »Vergebung«, die in der Pointe erklingen, würden den Grad der Unlesbarkeit des Schaffners (seiner Geschichte und seiner Erzählung) steigern, zusammen mit dem sprachkritischen Zug ließe die latente Ironie auf einen erzählkritischen Impuls schließen.40 Das affirmative »Ja« des Schlusses bleibt auf dieser Grundlage unlesbar (sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch auf der 39 | Balassa schreibt in seiner schönen Zusammenfassung, die auf Ebenen jenseits der Unterscheidung zwischen Geschichte und Erzählung aufmerksam macht, sozusagen im Nietzscheschen Sinne der Bejahung der ewigen Wiederkehr, im Zeichen der Fragilität eines derartigen »Ja« (»Vielleicht«): »Das Ja am Ende der Geschichte ist keine Ankunft. Seine Behauptung gilt ausschließlich für die Dauer der Schaffung und wiedererschaffenden Rezeption des Textes: Es ist das nicht weiter teilbare Wort der Ewigkeit des Augenblicks als Zustimmung, das an der Grenze der Artikulation und Kommunikation erklingt. Die Ewigkeit des Augenblicks kann vielleicht nur mit einem Ja bezeichnet werden, das das Nein unwillkürlich, für einen Augenblick, auslöscht, ohne dass die kleingedruckte Dualität des sich ewig wiederholenden ja/nein auslöschbar ist.« Balassa, A bolgár kalauz, 15. Das thetische »das Glück ist keine Handlung« Esterházys im Esti gibt den Schluss der Novelle buchstäblich wieder: »So stand er am Fenster, erstarrt vor Glück, bis der Zug abfuhr […]« 40 | Das »so ist das Leben« ist auf irgendein singuläres Ereignis bzw. eine Geschichte anwendbar und löscht bzw. nivelliert dessen einzigartige Wahrheit. Die Beschreibung der Erzählung des Schaffners bejaht offenbar die traditionell »epische« Erzählweise, aufgrund der Erzählhaltung Estis gerät sie freilich in ein ironisches Licht (»eine langatmige und zusammenhängende Geschichte […], die in einem breiten, epischen Bett langsam und würdevoll ihrer Auflösung zuströmt« usw., die Formulierung »brach das Eis« führt hier also buchstäblich zum Hervorquellen des Flusses, auf einer auffällig metaphorischen Ebene).
In der Erprobung der Sprache
Erzählebene), es bedeutet ein unerkennbares, sogar fiktives sprachliches Ereignis, eigentlich nicht einmal einen Akt (die »Vergebung« hat sich ja als problematisch erwiesen, ferner kann sie aus der – von Esti erahnten – Sicht des Schaffners auch eine »Antwort« auf dessen Frage nach »ja oder nein?«, ein Zitat mit neutestamentlichem Sinnzusammenhang, die quasi-Affirmation des Todes usw. sein). Dieses »Ja« mag eher eine Art nicht-konstatierende Bejahung (jenseits von Leugnung und Affirmation) sein, weniger eine Handlung (die Vorläufer dieser gedanklichen Struktur sind auch bei Nietzsche zu finden).41 Auch Esti beherrscht dieses »Ja« nicht (abgesehen davon, dass er es in einer ihm unbekannten Sprache sagt), denn er selbst kann auch keine Rechenschaft darüber geben, was das wahre Motiv seiner »Anteilnahme« (»wurde mir doch weich ums Herz«) sei (insofern es das parasemische Wuchern dieses »Herzens« fiktionalisiert). Das Moment der Gewissen-haftigkeit (im engeren Aufeinanderbezogensein Estis und des Schaffners) ist dennoch wichtig, in der römischen Tradition z.B. fiel seine Bedeutung mit der von Vertrauen oder Treue, jener gewissen »bona fides« zusammen, einem ursprünglich nicht-juristischen Ausdruck, der mit dem Geben in Zusammenhang stand.42 Zugleich könnte man jedoch sagen, dass das Signum der Animalität, die Stummheit (oder das Fehlen einer artikulierten Sprache), im Laufe der Handlung eher Esti prägt als den Schaffner, denn das »ja« ist beinahe das einzige bulgarische Wort, das er kennt.43 Jenes Schweigen, das am Schluss den Schaffner charakterisiert, ist als Moment der »Treue« gemäß dem Zeugnis der Erzählung etwas, das der sprachlichen Gabe (dem ausgesprochenen, emphatischen »Ja«) gleichsam zuwiderläuft. Ein unausgesprochenes, vielleicht unaussprechliches »Ja«, ein »inneres Wort«, das vielleicht auch den Tieren zu eigen ist, das sie nur nicht artikulieren können.44 Freilich kann auch seine explizit »menschliche« Artikulation die Grenzen der Kommunikation oder des Sprechakts gegenüber dem nicht-sprachlichen 41 | Anfang der zwanziger Jahre warf Der Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig die Problematik des »Ja« als »Urwort«, als »Sprache vor der Sprache«, z.B. im Zusammenhang mit der Schöpfungsgeschichte auf (Frankfurt a.M. 1988, 28-29, 47, 121). 42 | Bei Plautus ist »fidem dare« maßgeblich, ein Synonym für »promittere«, mit dem Bezug auf die Gabe des Versprechens. »Fides« wird im Lauf der Geschichte erst später zu einer (moralischen) Eigenschaft, einer Tugend usw. (Vgl. dazu die klassische Studie von Richard Heinze: Fides, in: Hermes – Zeitschrift für klassische Philologie 64 [1928], 146-149.) Emile Benveniste zufolge führt die historische Bedeutungsentwicklung von »fidēs« von der »Glaubwürdigkeit« (z.B. der Glaubwürdigkeit einer Rede, fidem facere orationi) zu dem »subjektiven Begriff« des Vertrauens, das in jemanden gesetzt wird, vgl. Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen, Frankfurt a.M./New York/Paris 1993, 97. Bezüglich der Gesamtproblematik vgl. die Bemerkung Nietzsches: »Wenn ein Versprechen gemacht wird, so ist es nicht das Wort, welches verspricht, sondern das Unausgesprochene hinter dem Worte.« (Morgenröthe, 239) 43 | Die Thematisierung des Blicks hebt das hervor: »[…] warf ich ihm einen stummen Blick zu, der ausdrückte […]«. 44 | Interessehalber sollte erwähnt werden, dass Rosenzweig mit der Einführung des »Stammwortes« (»das aus dem unhörbaren Ur-Ja in die hörbare Wirklichkeit der Sprache hinüberführt«, Der Stern der Erlösung, 140-141), das Wort »Hund« als Beispiel für die Wörter anführt, die keine Stammwörter sind (die keine eindeutig aktiv-affirmative Bedeutung tra-
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(nicht-verbalen) Gebiet nicht neu ziehen, sie wirklich nicht aus-sprechen. Die »Vorbedingung« der sprachlichen Gabe, eine Art Schweigen oder Unaussprechbarkeit (in der Sprache, nicht unabhängig von ihr)45 ist also nicht unbedingt eine exklusiv menschliche oder anthropomorphe Qualität, zumindest ist sie keine Eigenschaft, die eine sichere Basis für die Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Tier« böte.46 Auf diese Ebene weist jener Chiasmus hin – auch hier das strukturierende Prinzip der Geschichte (zuerst spricht der Schaffner und Esti schweigt, dann verstummt der Schaffner und Estis Schlusswort, das »Ja«, beschließt die Geschichte) –, der auch die Korrelation von Gabe und ihrer Erwiderung geprägt hat. Auch auf dieser Ebene gilt jedoch die Ambivalenz, die sich unaufhebbar durch die Geschichte zieht, dass nämlich nicht von vornherein bewiesen sein kann, dass dieses quasi präverbale, affirmierende Schweigen nicht – gegebenenfalls – etwas verschweigt. Spricht man vom Fehlen einzelner anthropomorpher Eigenschaften oder der Relativierung ihrer selbstverständlichen Funktionalisierbarkeit, könnte man Esti gewissermaßen als Kosztolányis Version des »Mannes ohne Eigenschaften«47 bezeichnen, trotz eklatanter Unterschiede zwischen Musil und Kosztolányi (sogleich auf der Ebene das Sprachverhaltens: die diskursiv-essayistische Schreibweise des Manns ohne Eigenschaften trennen Welten von der auf Buchstäblichkeit, der Alltagssprache gründenden literarischen Redeweise Kosztolányis). Bei Musil zeigt sich das Experimenthafte – dessen Dimension gerade »zwischen Gesetz und Regel« angesiedelt ist48 – auf eminente Weise im diskursiven Theorem des »Möglichkeitssinns« und seiner narrativen Inszenierung, wobei dieser Möglichkeitssinn nicht dem »Wirklichkeitssinn« nachgeordnet ist, diesen vielmehr auch zu relativieren vermag, insofern er »die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Er-
gen), »weil es sowohl den aktiv bellenden, wie den passiv geprügelten Hund, den Hund sowohl als Subjekt wie als Objekt, meinen kann« (ebd.). 45 | Der Blick an sich reicht nicht, denn nur die Sprache verrät ja seine Bedeutung, sowohl auf der Ebene des erzählerischen Diskurses (»der ausdrückte«) als auch auf der Ebene der Geschichte (»Ja«). Das unterstreicht wiederum nur die Fragilität einer auf die Instanz des »Gesichts« gestützten Ethik (Lévinas) gegenüber der Sprachlichkeit. Hinzu kommt die These Derridas, dass eine Aussage niemals dasselbe wie ein Indiz sein kann (mag letzteres auch noch so eindeutig scheinen), da die Zeugenschaft immer einen diskursiven Charakter hat oder diesen voraussetzt. 46 | Es geht hier nicht darum, die Verschiedenheit von Mensch und Tier zu leugnen oder den Menschen zu animalisieren, sondern darum, ob eine Bestimmung, eine anthropozentrische Selbstbeschreibung des Mensch-Seins, die auf der Ausgrenzung des Tieres basiert (in der das Tier gleichsam das Zeugnis der Menschlichkeit des Menschen liefert, vgl. Jaques Derrida, Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, 73), in jedem Falle befriedigend ist. Die Frage ist, ob die Animalität in der natürlichen Konstitution des Menschen unterzubringen, einzuschließen, ob sie in sie integrierbar ist (selbst dann, wenn die Unversöhnbarkeit der kulturellen und natürlichen Aspekte der anthropologischen Seinsweise aufrechterhalten wird). 47 | Hier besteht nun im Ungarischen auch die Möglichkeit, »Mann« als »Mensch« zu lesen: »ember« enthält beide Bedeutungen. 48 | Vgl. zum gesamten Komplex erneut Kulcsár Szabó, Törvény és szabály között.
In der Erprobung der Sprache
findung behandelt.«49 Eine solche Aufwertung der Erfindung steht bei Musil nicht mehr im Dienst der (modernistischen) Innovation, denn in der emphatischen Bejahung oder Suche tritt an die Stelle des »Neuen« das »Mögliche«, das als solches der Verwirklichung nicht zuwiderläuft, sondern eher Gegebenheiten oder Zusammenhänge, die als wirklich gelten, auflockert und dadurch mit einem offeneren und zugleich kontingenteren Bedeutungsgehalt versieht. Bekanntermaßen hat Musil seine Romanpoetik als »Essayismus« bezeichnet,50 den er mit dem Utopischen (d.h. dem Möglichen) in Verbindung brachte, der Versuchscharakter ist also sowohl narrativ als auch allgemein der wichtigste Interpretant von Der Mann ohne Eigenschaften, aber auch der Musilschen Essays. In der Geschichte des bulgarischen Schaffners konnte man sehen, dass die Qualität der (auch erzählerischen) Zuverlässigkeit oder Glaubwürdigkeit in der Gestalt Estis in dem Sinne unlesbar wird, dass sie keine Eigenschaft kennzeichnet, sondern die Funktion wechselseitiger Gabe und Zeugenschaft (auch die Unmöglichkeit der Glaubwürdigkeit kann nur durch sie aufkommen). Diese Vorbedingung der Sprache (die sich jedoch selbst nicht versprachlichen lässt) führte ferner zur Problematisierung des »Mensch(lich)en« – zumindest als zuschreibbarer Substanz oder Eigenschaft – und ist damit ebenso als »Bedingung der Unmöglichkeit« lesbar. Esti behandelt den Schaffner gleichsam als im sprachlichen Sinne verstandenes Versuchstier, seine vorausgesetzte Überlegenheit wird im Text jedoch gleich auf mehreren Ebenen in Frage gestellt bzw. verlagert: Einerseits gilt die Seinsweise des »Versuchstiers« im Blick auf die bulgarische Sprache eher für ihn selbst, andererseits wird seine erzählerische Autorität in mehrerlei Hinsicht relativiert (d.h. er wird zum Experiment seiner »eigenen« Sprache), drittens schließlich macht das affirmative »Ja« als eine Art Testament Esti als sterbliche Singularität von der Zeugenschaft abhängig, d.h. es bricht mit der Vorstellung des autonomen Subjekts.51 Estis »Ja«, das er zum Schaffner sagt, mag ferner auch eine Art Vertrag (seine Signatur) sein, dessen Gegenstand zugleich unbekannt bleibt. Wenn es heißt »als […] ich die Stufen hinunterschritt« (167), wird nämlich der Vertragsabschluss des ersten Kapitels evoziert, die Szene der Namensverteilung (»wie ich die Wendeltreppe hinuntertappte«, 25), d.h. das »Ja« fungiert als eine Art Unterschrift, als Beglaubigungsakt der diegetischen Rolle Estis. Die zitierten Formulierungen sind im Ungarischen stark repititiv, tautologisch, sie gleichen einem Stottern (»lefelé lépkedtem« [treppab schritt,]), ihre anagrammatische und reetymologisierende Struktur (»lépkedtem a 49 | Vgl. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften I, Reinbek bei Hamburg 1978, 16. Musil nennt in einem Essayfragment die vom »Ästhetischen« betont abgesonderte Kunst ein »moralisches Laboratorium«, vgl. Der Dichter und diese Zeit, in: Prosa und Stücke, Reinbek 2000, 1351. G. Béla Németh hat den Namen Musil flüchtig in der Esti-Rezeption erwähnt: Kosztolányi »nähert sich dem [im Kornél Esti] an, wenn auch nicht derartig gauklerisch und aufreizend, was bei Joyce in Geschehen und Ereignis umgesetzt wird oder in den besinnlichen, essayistischen Meditationen Musils.« Írók, művek, emberek [Schriftsteller, Werke, Menschen], Budapest 1998, 18. 50 | Vgl. dazu z.B. Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt a.M. 1990, 230-261. 51 | Auf dieser Ebene können wir uns schon näher an jenem Heidegger wähnen, der den »Menschen« einige Jahre nach Erscheinen des Kornél Esti auf den Spuren Hölderlins als Erben und Zeugen dieses Erbverhältnisses registriert (in seinem Hölderlin-Buch, vgl. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankurt a.M. 1996, 36).
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lépcsőn«, wie: »die Stiege abgestiegen bin«)52 erzeugt eine Art metonymisch-mechanischen Effekt, gleichsam die Vorstellung der Vernichtung, des Zerfalls (in Ermangelung eines echten narrativen Endes) der »Geschichte« oder der »Handlung« (nebenbei wird in der Abwärtsbewegung noch die Tatsache des Todes konnotiert, was der Abschied »auf ewig, auf immer und ewig« freilich noch verstärkt). Die Reetymologisierung führt also noch nicht zu einer restlosen Remotivierung, sondern sie lässt eine Katachrese erstehen, hauptsächlich generiert aber das Rauschen, das sie umgibt, Arbitrarität. Dieser Klangeffekt kann den Klangcharakter der Fragen an Esti evozieren (»knatterten wie ein Maschinengewehr«, 166), bzw. ist auch vorstellbar, dass Esti mittels dieser Assoziation gleichsam von der eigenen Sprache, die von der anderen Sprache (der Sprache des anderen) affiziert wird, zur Reue, zur Vergebung (oder Entschuldigung) genötigt wird, indem der unüberwindbare Automatismus der Scham in Gang gesetzt wird. Sprachliche Materialität und Ereignishaftigkeit gehen gehen hier eine Art mechanische Verbindung ein. Auf diese Weise evoziert die Erfahrung der Fremdsprache anhand einer quasi-Übersetzung die Fremdheit, die Unbeherrschbarkeit der eigenen Sprache (was auch in Verbindung mit den »natürlichen« Benutzern einer Sprache thematisiert wird, denen leicht nachzuweisen wäre, »dass sie von ihrer Muttersprache eigentlich keinen Dunst haben«, 151) Dieser »pun« mittels einer Tautologie – bzw. auf der ikonischen Ebene des nicht-sinnvollen Rhythmus der Schritte – bringt die radikale Arbitrarität der Sprache zum Vorschein, ein maschinenhaftes Rauschen der Sprache, sozusagen den sprachinternen Zitatcharakter des Wortes »lépcső« [Treppe], seine Autonymität, die parasemische Offenheit von »lép(ni)« [schreiten], die sich zugleich wie eine Inskription, ein differentieller Marker in das gegebene Wort einschreibt und es damit auch zersetzt.53 Er erzeugt damit eine radikale Fiktionalität, die neben zahlreichen anderen fiktionalisierenden Effekten im Esti-Korpus auf der Ebene des Buchstabens erscheint. Diese Fiktion entspricht hier genau der unerzählbaren, unbezeugbaren Dimension, welche die – zielorientierte, intentionale – Handlung (das »Schreiten« [lépés]) durchkreuzt, die über das Anagramm die Syntax sprengt, die vielleicht in einem radikaleren Sinne den Tod des Zeugen bedeutet, als etwa ein Dasein, das sich zum Tod verhält, oder verschiedene Möglichkeitsbedingungen der Zeugenschaft. In erster Linie ist all das denn auch eine Unmöglichkeit, das Rauschen des NichtVergebbaren, das sich virtuell auch in das »Ja« einschreibt und dessen Ambivalenz generiert. (Auf der Ebene der Experimentalität hingegen ist das der entropische Rest des »Versuchs«, die – nur durch ihn sich eröffnende – Dimension jenseits seiner Eigenschaft als Handlung oder Manipulation.) Dadurch wird der materiale Effekt 52 | »Lépcső« [Treppe] enthält das Verb »lépni« [schreiten] als Wort hinter dem Wort und hebt unter dem Aspekt des Sprachursprungs gleichsam die Vorrangigkeit des Verbs gegenüber dem Substantiv, der Benennbarkeit, hervor (gleich jenem Herderschen »Merkmal«). Obwohl dieser Effekt ja eine Art Supposition der Erkennbarkeit der Sprache voraussetzen müsste, weist er dennoch eher auf eine einzelne vom Erzähler »benutzte« Sprache bzw. auf deren idiomatische ungarische Prägung. 53 | Das ist ein prägnantes Beispiel für die sprachliche Arbitrarität, die bei Saussure keinerlei Konventionalismus bedeutet, sondern die Vorrangigkeit der Sprache, d.h. ihre Nichtableitbarkeit aus jeglichen referenziellen, vorsprachlichen Gegebenheiten. Das Parasem »lép(ni)« [schreiten] wird hier mit anderen nicht-sinnhaften Klangeffekten verknüpft, die sich als eine Art Rauschen zum semantischen Prinzip der Reetymologisierung gesellen.
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sowohl mit dem Abschied als auch mit der Antizipiation des Todes (wo das erste der Intentionalität des letzteren vorgängig wäre?), ferner mit der Zeugenschaft selbst verknüpft, die durch das Gezeichnet-Sein durch die Materialität der Sprache zum Index eines Nachlebens, einer vergangenen Zukunft wird (was als Anakoluth das Zeugnis der Gefahr der falschen Zeugenschaft aussetzt). Nach der dadurch unmöglichen Vergebung als (trauerartiger, testamentarischer) Zäsur gibt es nur noch ein Nachleben »nach« der Geschichte. Nun ist die Wiederholbarkeit gerade eine Eigenschaft der Unterschrift (wie auch die des »Ja«),54 und die Unlesbarkeit dieses »Ja« korreliert mit dieser Wiederholbarkeit (dieser letztere Zug bedeutet den unaufhebbar testamentarischen, den Tod des signierenden Subjekts vorwegnehmenden Charakter der Unterschrift, aus diesem Grund wird das »ja«, im Sinne beider Besitzverhältnisse, Estis Testament). All das macht sich im Text so bemerkbar, dass das emphatische »Ja« eigentlich ein Zitat auf diegetischer Ebene ist (ans Publikum gerichtet, denn nur dieses kann wissen, was es für Esti »bedeutet«), aber den Aspekt des Zitats annimmt und so unvermeidlich fiktionalisiert wird (Estis Adressierung an die Zuhörer oder Leser, die Ankunft der diskursiven Sendung, bleibt denn auch fraglich, sie schlägt um in eine Art Zufälligkeit, Aleatorik). Text (das »Ja« als Zitat und übersetztes Wort; Esti sagt/schreibt es nicht auf Bulgarisch) signiert oder beglaubigt hier Text (den Erzähldiskurs) und umgekehrt. Ferner zerfällt der Eigenname Estis mitsamt seiner angenommenen Identität in der Performativität und Iterabilität des Unterzeichnungsaktes, in ihrem nicht-zustandshaften, radikal fiktiven Wechselverhältnis (und zergliedert dabei die monumentalisierende Wirkung des Testaments, das als Fremdwort, aber auch durch den Iterabilitätseffekt des Unterzeichnens mit Estis Namen inkompatibel ist). Die Geschichte des bulgarischen Schaffners ist auf der Ebene der Metafiktion gleichsam ein Spiegel des ersten Kapitels (die Beziehung zwischen Geschichte und Erzählung wiederholt sich auf metafiktiver Ebene),55 indem sie sich auf die Trias von Vergebung (performativ), Unterschrift und Eigenname bezieht (was z.B. die Analogie in Aussicht stellt, wonach Esti und der Erzähler ebensowenig einander wie sie sich selbst verstehen, zugleich Zeuge sind für einander, wie Esti und der Schaffner, und sich dabei gegenseitig bestätigen oder bezeugen). Das alles kann interessante erzähl- und fiktionstheoretische Überlegungen anstoßen, zumal aus lektüretheoretischer Sicht: die Fiktion ist am Esti-Horizont die Funktion einer zeugenschaftlichen Affirmation bzw. eines Versprechens56 (zugleich des Erzählers und des Lesers, jedoch nicht in ihrer Identität), gleichzeitig setzt diese Affirmation Wiederholung voraus, insofern sie Fiktionalität generiert (sie impliziert sogar eine Technik, vgl. das selbstpräsentierende Prinzip des Stummfilms zu Beginn der Novelle, insgesamt aber die Anwesenheit der metanarrativen Züge). Anders gesagt stehen Bejahung und Fiktionalität, Zeugenschaft und Erfundensein nicht im 54 | Vgl. Jaques Derrida, Ulysses Grammophon, Berlin 1988, 69-70 u. 74. 55 | Esti ist der »Zeuge« der Narrative des Schaffners, wie der Erzähler der »Zeuge« der Erzählungen Estis ist. Die für viele Novellen typischen chiastischen Strukturen sind Figuren der Korrelation dieses zeugenschaftlichen Verhältnisses, seiner unvorhersehbaren Wendungen. 56 | Aus diesem Blickwinkel erlangt der Umstand Bedeutung, dass die Novelle von Seiten Estis mit dem Moment des »Recht-Gebens« beginnt (ein Bezug auf die zitierte Äußerung jenes unbekannten Dritten, dass dieser nie in ein Land reisen würde, dessen Sprache er nicht spricht). Freilich kommt auch »dessen Gegenteil« sogleich zur Sprache.
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Widerspruch zueinander, was allerdings nur dann zu verstehen ist, wenn die Fiktion nicht ausschließlich als intentionales Fingieren bzw. als dessen Akt gedeutet, sondern auch in ihrer Textualität begriffen wird. Die Unmöglichkeit der Bejahung fällt gerade mit ihrer irreduziblen Fiktionalität zusammen. Ein anderes sehr gutes Beispiel für den Geschehnischarakter des Experiments, also dafür, dass das Subjekt untrennbar in das Ereignis des Experiments hineingewoben und selbst – derart chiastisch57 – gleichsam zu einem experimentellen Gegenstand wird, ist zweifelsohne das dreizehnte Kapitel über die »vom Schicksal verfolgte Witwe« (238). Das Experiment des »Unmöglichen« bedeutet hier vorerst, dass Esti der Familie, deren Schicksal aussichtslos ist, zu helfen versucht. Auch hier strukturieren die Chiasmen von Rede und Schweigen – ferner Gabe und Annahme/Zurückweisung – in bedeutendem Maße das Verhältnis der Figuren (zuerst spricht die Witwe, Esti nimmt lediglich zur Kenntnis, dann sucht Esti wortreich nach Ausreden, während die Witwe schweigt). Das spätere Ausgeliefertsein Estis – »Jetzt war er es, der auf ein Almosen lauerte« (251) – nimmt der Anfang der Novelle bereits voraus, indem Esti der Witwe unerwarteterweise beinahe vollkommen nackt unter die Augen gerät. Diese Nacktheit, die hier noch abhängig vom Blick ist, aber gerade durch ihre eigene Bildhaftigkeit nicht verdeckt wird, und ihr Index, die Scham, gehen kurz darauf in den Effekt des Ausgeliefertseins an die Sprache über: »Jetzt bin ich nicht zu Hause. Für Niemanden. Ich bin gestorben. – Jawohl – sagte das Zimmermädchen. – Wie bitte? – fragte Esti, dem es doch ein bißchen komisch vorkam, daß man das so rasch und selbstverständlich zur Kenntnis nahm.« (239)
Der Status des »Jawohl« bleibt zwischen der wörtlichen und übertragenen (d.h. an ein bestimmtes Sprachspiel geknüpften) Bedeutung freilich unentscheidbar, ganz im Gegensatz zur Figürlichkeit des »ich bin gestorben« (und es bleibt offen, ob nicht gerade Esti die Äußerung des Zimmermädchens falsch »liest«, jener Esti, der später die triviale Leseweise der Witwe kritisieren wird). Spannungsreicher wird die Stelle dadurch, dass all das mit dem Tod verbunden ist, hier mit der durch die Sprache einsetzenden Scham als dem Tod der Vorstellung von einem bewussten Subjekt, das seine Intentionen und seine Sprache beherrscht. Die Spannung zwischen der Sprache der »Literatur« und der Sprache des Zimmermädchens ist denn auch wichtig, in ihr wird das semantische Ausgeliefertsein der ersteren plötzlich aus der Perspektive der letzteren (zumindest einer ihrer Verständnisweisen) offenbar. Die Begegnung und das »Gespräch« zwischen Esti und der Witwe (die Stellungnahme Estis vermittelt ein innerer Monolog) ist nichts anderes als ein hermeneutisches Traktat über das Verhältnis von Text und implizitem Autor, das Problem des Lesens und die Falle der Naturalisierung der Fiktion. Als Beispiel soll hier das Diktum Estis genügen, dass Leben und Literatur nicht vermengt werden dürfen, 57 | István Király hat auf die Rolle chiastischer Kompositionsfiguren im Esti-Korpus aufmerksam gemacht. Vgl. Kosztolányi. Vita és Vallomás [Kosztolányi. Streit und Bekenntnis], Budapest 1986, 430.
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anders ausgedrückt: die ästhetisierenden, fiktionalisierenden Operationen der Literatur haben in der referenziellen Wirklichkeit keine Gültigkeit. Davon unabhängig überrascht Esti der ironische Effekt der kolloquialen Sprache mit Blick auf die absichtlich figurative Sprache, wie in Verbindung mit dem »Jawohl« zu sehen war, das heißt, die zwei Dimensionen sind offenbar nicht sauber voneinander zu trennen, da beide mit ein und derselben Sprache arbeiten. Seiner Polemik zum Trotz sieht Esti die Figur und die Geschichte der Witwe voll und ganz durch Schablonen, die die Massenkultur verbreitet,58 auf der Grundlage eines mehr oder weniger schematischen Narrativs. Und hier folgt eine ganze Reihe von »Ja«-s, nunmehr aus seinem Mund: »– Ja – sagte Esti entschieden, als hieße er den Krebs gut.« (244) Dieses »ja« mag für die Witwe nicht weniger verletzend sein als das »jawohl« des Zimmermädchens als Antwort auf das etwas frivole »ich bin gestorben« (als eine Art falsches Zeugnis). Danach »bejaht« Esti noch drei Mal weitere, auch nicht gerade erheiternde Elemente der Geschichte der Witwe, um schließlich mit einem doppelten ja (»Ja, ja.«) auf ihre Bitte zu reagieren. Im Wesentlichen fasst er die vorgesetzte Geschichte bzw. deren aussichtsarme Lösung vorerst experimenthaft bleibt, also als bloßes Material auf. Die Empörung Estis darüber, dass die Witwe mit dem Betrag nicht »um ein Almosen oder Geschenk« bitte, »sondern nur um ein Darlehen« (245), kann auch ein Hinweis darauf sein, dass der Ausgang eines solchen Experiments niemals die in ihm inkludierten Geschehnisse bestätigt, sein Kennzeichen ein nicht-ökonomischer Tausch ist. Estis Assoziation mit der »Bank of England« (»und musste über den dummen Einfall fast lachen«, ebd.) zeitigt in der Berührung mit einem anderen Diskurs einen ironischen Effekt, wie das »Jawohl« des Zimmermädchens auf sein »ich bin gestorben«. Die »literarische« Verfremdung (»Bank of England«) einer alltäglichen Erzählung gebraucht also keine anderen Werkzeuge als der Sprechakt des Zimmermädchens und die Ambivalenz, die ihm folgt. Was passiert jedoch in der diskursiv-textuellen Zone der Erzählung? Denn die diskursive Position der Erzählung, aus der heraus die Geschichte gedeutet wird, ist zwar Estis Vorrecht, sein Monolog verkörpert sie, dennoch gibt es zumindest einen erzählerischen Kommentar, der nicht unbedingt Estis Stimme zuzuordnen ist. Diese hetero- oder eher extradiegetische Sequenz, genauer gesagt, diese bloße Stimme äußert sich im folgenden Abschnitt: »Der Schmerz ist als abstraktes Ganzes, aus der Vogelperspektive, immer furchtbarer als aus der Nähe: sich an den Einzelheiten zu schaffen machen ernüchtert, bringt einen auf den Boden zurück, es verlangt zumindest Aufmerksamkeit, Selbstdisziplin, damit man Ordnung in das Durcheinander bekommt. Man findet ein Rad, eine Schraube, ein Band, die Bauteile der Höllenmaschine. Das alles ist nun Kleinkram, Spiel. Die kleinen Dinge sind beruhigend.« (243)
Wessen Zeuge ist diese namenlose erzählerische, diskursive Stimme? Der Zeuge der Witwe (schließlich geht es um ihr Sprachverhalten) oder Estis? Vorrangig der Zeuge der Witwe, wiewohl einige Elemente – »Rad«, »Schraube«, »Band«, »Auf58 | Ein Held seiner Zeit, 250. Ein Verweis auf diese Ebene findet sich in der Geschichte, denn unter den von der Witwe verkauften Waren findet sich auch »Dekobra und Bettauer«, vgl. dazu Esti Kornél, 572.
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merksamkeit«, »Selbstdisziplin« – die Schwingung von Estis Selbstbeschreibung eine halbe Seite vorher aufnehmen, wo er seine Schreibweise mit den Worten »genau […], technisch präzise« (242, wörtlich aus d. Ung.: »genau […], ingenieurhaft sicher«) darstellt. Ferner kann das »Durcheinander« ein metafiktiver Querverweis auf die Esti-typische paradigmatische Erfahrung des ersten Kapitels sein: »[S]iehst du, ich falle auseinander« (22). Man könnte also behaupten, dass die Stimme des anonymen Erzählers auch auf die repräsentierte Schreibweise Estis Bezug nimmt, diese bezeugt. Die Ingenieur-Metapher weist hier auf die Schreibleistung, die analytische Komponente der Ausdrucksfindung, ferner auf das Moment der Erfindung, in dem der Ingenieur gleichsam ein Teil des von ihm untersuchten Systems ist.59 Prinzipiell ist die abstrakte Unkenntlichkeit des »Schmerzes«, seine Unüberwindbarkeit nicht mit der Suche nach Orientierung im »sich an den Einzelheiten zu schaffen machen« (der Sublimation der »kleinen Dinge« durch ihre Vertrautheit) zu verwechseln, dennoch ist ungewiss, ob man die sprachliche Erfindung instrumentell oder regulär vom bloßen sich-zu-Schaffen-machen (literarisch: einer Art dispositionell-minimalistischem Prosastil) trennen kann, denn dessen experimentelle Seinsweise garantiert keinen Erfolg, anders gesagt: sie ist zugleich auch fiktional geprägt. Also ist zwischen ihnen irgendein Unterschied oder irgendeine möglicherweise zu bewerkstelligende hierarchische Trennung, die gerade auf der experimentellen Achse schwer zu stabilisieren ist – das heißt, zwischen dem literarischen Ausdruck und dem alltäglichen »sich zu Schaffen machen«.60 So bleibt die Frage allerdings unbeantwortet, wessen Diskurs der namenlose Erzähler beglaubigt oder autorisiert, und diese Frage besteht weiter, ja sogar noch brennender, eignet man diese Stimme dennoch Esti zu (wenngleich diese Zueignung dem ersten Kapitel zufolge, hinsichtlich der Teilung der narrativen Position, alles andere als selbstverständlich ist). Ein Bezug auf Esti würde bedeuten, dass die authentische Literatur die Allegorese (den »Schmerz […] als abstraktes Ganzes, aus der Vogelperspektive«), gewisse allgemeine Gesetze, die Benennung des »Als-solches«61, flieht und hier die Aufgabe des literarischen Experiments nicht die 59 | Vgl. allgemein mit der kulturellen Emblematik der »Ingenieure« in den zwanziger Jahren: Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M. 2001, 145-153. 60 | Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass im Text auch eine dem teilweise widersprechende Metaphorik vorkommt: Esti macht hinsichtlich des Wertes einen Unterschied zwischen den vom Ingenieur, sogar vom »Schmied« (der Selbstdarstellung seiner literarischen Rolle), und den vom Leben »am Fließband« als Ausschussware hergestellten menschlichen Tragödien; der konservativ angehauchte Wertunterschied zwischen manueller und industrieller Produktion – der gewiss auch seine Sprachauffassung berühren mag – sucht hier seine Rhetorik heim, selbst wenn die Benennung »Schmied« hier auf auf einen nicht schlichtenden, gewaltsamen Zug der Arbeit mit dem Sprachmaterial verweist. 61 | Vgl. Jaques Derrida, Aporien. Sterben – Auf die ›Grenzen der Wahrheit‹ gefasst sein, München 1998, 116-122. Derrida versucht hier, die innere Aporie des Heideggerschen Diskurses freizulegen: dem Autor von Sein und Zeit zufolge bietet sich nur dem Menschen die Möglichkeit der Erfahrung des »Als-solchen« (in erster Linie der Bezeugung der »eigensten Möglichkeit des Daseins« des »Todes als solchen«), da er ja über eine Sprache verfügt. Derrida betont im Tod viel eher die Unmöglichkeit, die Unmöglichkeit des eigenen »Seinkönnens« (ebd., 116), wo die Sprache zugleich »an der Verheimlichung des ›Als-solchen‹ des Todes wie an seiner Enthüllung teilhat«, insofern ist es fraglich, ob »die Sprache nicht gerade der
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nomothetische Bestätigung seiner vorausgeschickten Gesetze, der Grammatik des »Als-solches« ist, sondern eher in einer Art Nahebringen besteht, das vorläufige diskursive Perspektiven eliminiert und die Gültigkeit abstrakter Benennung einschränkt, ein Sich-Einlassen auf das derart entautorisierte »Material« – mit einem Wort: Experimentalität. Dieses experimentelle Geschehen kann – konsequent gedacht – keine Instanz autorisieren, das ist der Grund, warum die namenlose Erzählstimme zumindest zweideutig wird. Andererseits kann es ja gerade das erkenntnistheoretische Interesse der Literatur zunichte machen (den Schmerz als »abstraktes Ganzes«), sich mit den Einzelheiten zu schaffen zu machen, wobei dieses »abstrakte Ganze« als solches nicht unbedingt frei davon ist, fiktionalisiert zu werden, zu einem allgemeinen Signifikanten zu werden. Der Bruch zwischen dem »Schmerz […] als abstrakte[m] Ganze[n]« und den »Einzelheiten«, der auch die Ebene des narrativen Diskurses berührt, droht beiden im Wechsel mit Fiktionalisierung (wie auch »Erbarmen und Unbarmherzigkeit« Estis Denken zufolge nicht voneinander zu trennen sind). Die Suspension der übergeordneten Autorität wird in jener Szene wiederholt, in der Esti den Dank der Witwe gleichsam abschneidet und sich sozusagen mit den Einzelheiten zu schaffen macht: Erging sich in Dankbarkeit. Drückte sie mit dem höchsten, mit dem größten Wort aus, das es gibt: – Gott. – Schon gut – schnitt ihr Esti das Wort ab. Schreiben Sie ihre Adresse auf. Also, Sie wohnen in Kispest. Ach ja, wie alt ist das kleinere Mädchen? (247)
Anders gesagt wird das Moment der Desautorisierung spätestens hier auf die Korrelation zwischen Gabe und Dank, Schenkung und Gegenleistung umgelagert, was den thematisch-motivischen Grundzusammenhang der Novelle berührt. In diesem Sinne kann auch das »Versprechen« Estis, das das kleinere Mädchen betrifft, aufgefasst werden, denn dieses »nahm er selbst nicht ernst«, vielmehr hat er es »aus Takt gesagt, aus Förmlichkeit, auf sein geschliffenes Stilgefühl horchend […]« (ebd.). Eigenartig ist, dass Esti auf sein Stilgefühl »horcht«, während er nur kurz zuvor Stimmen gehört hat: »Schauen Sie, geehrte Dame, ich habe selbst meine Verpflichtungen – das hatte er Jahre zuvor von einem Bankier gehört, den er um Geld angebettelt hatte, mit förmlicheren Floskeln, aber nicht weniger verzweifelt […]« (246) (Die Parallele zwischen Esti und der Witwe bildet sich auch hier aus, als Projektion der späteren chiastischen Wendung zwischen Spender und Almosenempfänger.) »Auch ich arbeite. Schufte. Mehr als genug. So viele Buchstaben, so viele Bissen Brot. – ›Kuchen‹, schrie es in ihm, ›Kuchen, Kuchen, du Halunke‹. Die Witwe antwortete nicht. Sie blickte ihm ruhig in die Augen. Esti hörte immer noch das Schreien. Er sprang auf. Eilte ins Nebenzimmer.« (Ebd.) Ursprung der Nicht-wahrheit des Todes wäre?« (Ebd., 122, vgl. dazu Das Tier, das ich also bin, 224-226.) In der Geschichte des bulgarischen Schaffners war zu sehen, dass die Überdeterminiertheit des »ja« am Schluss (im Hintergrund noch der Komplex des Wortes »Herz«) die Bezeugbarkeit des Todes als solchen (wenn überhaupt) nur in der Dimension einer Art vergangener Zukunft, ferner eines sprachlichen Rauschens zu evozieren in der Lage ist.
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Man könnte sagen, die »Stimme« des Gewissens stört das vom Bankier übernommene Zitat, indem es auf die Lüge, den falschen Schwur (auch im Zeichen des »Taktes«) aufmerksam macht. Zugleich lässt sich dieser Einwurf auch auf der Ebene des »geschliffenen Stilgefühls« deuten, denn die Nicht-Authentizität des übernommenen, mechanisch wiederholten sprachlichen Elements kann in Bezug auf den Ausdruck beanstandet werden. In beiden Fällen löst das »Schreien« bei Esti ein Schamgefühl aus, wie die Nacktheit am Anfang und das »Jawohl« des Zimmermädchens. Hier wird das »Schreien« zur Stimme des Dritten als Zeugen, diese Stimme ist der Zeuge in Esti, während die vom Bankier übernommene Sequenz als falsches Zeugnis lesbar ist. Die Stimme des Gewissens erklingt nicht so sehr als übergeordnete metaphysische Instanz, als »Gerichtshof«, als Mahnung mit transzendentem Ursprung, als vielmehr als Zeuge. Zugleich ist diese Zeugeninstanz nicht personalisierbar, sie gibt sich kund vielmehr einfach im Bruch des repräsentierten Diskurses. Diese Stelle verlangt nach einem kurzen Exkurs: Die Desautorisierung des Gewissens wurde zur selben Zeit im philosophischen Kontext von Heidegger in Sein und Zeit vollzogen. Er löst das Gewissen in seiner Deutung als existentielles Phänomen aus der Einheit von Befehl, Vorschrift, Urteil sowie Allgemeinheit (bei Kant: »Gerichtshof«) heraus und fasst es als singulären Ruf auf. Das Hören dieses Rufs »bricht das sich überhörende Hinhören des Daseins auf das Man«62 – wie auch das »Schreien« auch Estis Hinhören auf die Worte des Bankiers bricht, die er zitierend wiederholt. Bei Heidegger ruft das Dasein sich mit diesem Ruf selbst, der »Angerufene ist eben dieses Dasein«.63 Gleichzeitig ist dieser Ruf seinem Charakter nach nicht geplant-absichtlich, bedeutet ferner keine Mitteilung, sondern das »Selbst […] ist aufgerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen« (bei Esti sagt der Ruf auch nichts Konkretes, er erscheint eher als parodistische Wiederholung, ja als eine Art Rauschen).64 In diesem Selbst-Ruf bezeugt das Gewissen laut Heidegger dieses eigenste Seinkönnen, die authentische Möglichkeit des Seins (Heidegger benutzt mehrfach das Wort »Bezeugung«).65 Hier bei Kosztolányi bedeutet die Zeugenschaft aber auch Gerechtigkeit oder deren Chance, denn grundsätzlich geht es ja um ein intersubjektives Verhältnis, um die Korrelation von Gebendem und Gabennehmendem. Es geht um »Gerechtigkeit« in dem Sinn, 62 | »Sich verlierend in die Öffentlichkeit des Man und sein Gerede überhört es im Hören auf das Man-selbst das eigene Selbst.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, 271. 63 | Ebd., 277. 64 | Ebd., 273. Bzw.: »Der Ruf wird ja gerade nicht und nie von uns selbst weder geplant, noch vorbereitet, noch willentlich vollzogen. ›Es‹ ruft, wider Erwarten und gar wider Willen.« (Ebd., 275) Später ist die Rede von der »Unerbittlichkeit […] des Rufes« (ebd., 278). Es geht hier also um eine umfassende Disposition, nicht um eine punktuelle Relation: »Das verstehende Sichvorrufenlassen auf diese Möglichkeit schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen. […] Gewählt wird das Gewissen-haben als Freisein für das eigenste Schuldigsein. Anrufverstehen besagt: Gewissen-haben-wollen.« (Ebd., 288) Anders gesagt: man will einen Zeugen, selbst, wenn er »gegen« einen bezeugt. – Von hier aus führt der Weg zu Gadamers Gedanken, dass die (ansonsten freilich viel zu oft geschmähte) Hermeneutik in der Lage sei, vorauszusetzen oder anzuerkennen, dass man am Ende gegenüber dem anderen vielleicht auch Unrecht hat. 65 | Ebd., 279, 295. Die Begegnung mit dem Tod deutet Heidegger auch als »Bezeugen«, mit Bezug auf die eigenste Seinsmöglichkeit des Daseins.
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»jemandem das Eigene zu geben« oder »jemandem sein Eigenes zuteil werden zu lassen« – im Sinn jener Ethik, die eine andere Esti-Geschichte darlegt: Bei ihm war diese Höflichkeit aber kein Hofieren, kein Schöntun, kein leeres Geschwätz. Oft bestand sie nur darin, im rechten Moment, unbemerkt ein scheinbar gewöhnliches Wort unterzubringen, das jemand als Rechtfertigung seines Lebens verzweifelt von ihm erwartete. Ihm war das die höchste Tugend. Auf jeden Fall höher als die sogenannte Güte. Die Güte ist ein unablässiges Predigen, die Menschheit ändern Wollen, salbungsvoll sein, von heute auf morgen will sie ein Wunder vollbringen, prahlt mit ihrem Inhalt, das Wesentliche will sie aufrühren, ist gewiss aber meist nur hohle, inhaltsleere, bloße Form. Und auch wenn die Höflichkeit nur als bloße Form daherkommt, ist sie doch im Innern, in ihrem Wesen Inhalt, das Wesentliche selbst. Das gute Wort, das noch unverwirklicht ist, enthält alle jungfräuliche Möglichkeit und ist mehr als die gute Tat, deren Ausgang zweifelhaft, deren Wirkung strittig ist. Im Allgemeinen ist das Wort immer mehr als die Tat (Drittes Kapitel). 66
Die »Höflichkeit« ist hier also Zeugenschaft und Ausübung von Gerechtigkeit in einem (das Zeugnis ist keine Informationsübermittlung oder Wissensübertragung, sondern die Chance, eine Gerechtigkeit sprachlich herbeizuführen). Mit der nicht unwesentlichen Einschränkung, dass, wenn das Gewissen dergestalt Zeuge oder Zeugenschaft ist, zugleich aber sein Anruf »aus mir und doch über mich« kommt,67 diese Art Gabe im Modus der »Höflichkeit« eigentlich keine autonome Tat ihres Subjekts ist, sondern in Abhängigkeit von diesem Anruf zustandekommt. Das heißt, in gewissem Sinne nimmt er die Gabe auch selbst entgegen und berührt insofern auch sein Eigenes (gibt es nicht bloß weiter), nicht nur das des Adressaten. 66 | In welchem Maße dieses Zitat von zentraler Bedeutung schon für die Erzählprosa der Zeitgenossen Kosztolányis ist, zeigt der Schluss des 1934 erschienenen Egy polgár vallomásai, in dem über den Vater gesagt wird: »[Mein Vater] kannte das große Geheimnis der Höflichkeit. Manchmal glaube ich, sie ist das Höchste, was ein Mensch dem anderen geben kann. […] Sein Schweigen war Feingefühl, nicht Schwäche. Er wußte, Menschen kommen nur mit Feingefühl und Diskretion miteinander zurecht, über die Geheimnisse des anderen müssen sie hinwegsehen.« (Sándor Márai, Bekenntnisse eines Bürgers, München 2009, 416) 67 | Heidegger, Sein und Zeit, 275. Eigenartigerweise verliert Derrida in der Dekonstruktion des heideggerschen Begriffs des Seins zum Tode und der damit im Zusammenhang stehenden Zeugenschaft (Aporien) kein einziges Wort zur Problematik des Gewissens, die sich in Sein und Zeit über nicht weniger als sechs Paragraphen erstreckt, als wäre diese Begrifflichkeit und dieser (performative) Komplex ihm elementar fremd. Eine andere Schrift Derridas über Sein und Zeit, die sich auf die »Stimme des Freundes« konzentriert, geht auch nicht auf den »Ruf« des Gewissens ein (Heideggers Ohr, in: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000, 413-491). Verknüpft man dies mit der Annahme, dass Derrida anscheinend nicht von der determinativen Wichtigkeit des Selbstbetrugs schon bei Kant, aber vor allem bei Nietzsche weiß – bei letzterem obendrein noch vor der Lüge gegen andere – (vgl. Zoltán Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 330-331), dann könnte man hier vielleicht von den phänomenologischen Wurzeln sprechen, die Derrida an manchen Punkten vielleicht nicht restlos überwunden hat, insofern diese Erscheinungen auf die Abhängigkeit vom phänomenologischen Begriff der Intention zurückzuführen wären. Natürlich wäre eine längere und eingehende Prüfung erforderlich, um diese Zusammenhänge darzulegen.
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Das »Gewissen« drückt hier nicht unbedingt »Schuld« im Sinne von »Schulden« oder »Sünde« aus, sondern eher ein »Schicksal«, das man als vor der »Schuld« begreifen kann. Darum führt der Erzählstrang bis zu dem Punkt, an dem das Verhältnis zwischen dem Gebenden und dem Beschenkten (auf chiastische Weise) umgekehrt wird und Esti nun selbst sein »Almosen« erwartet. – Es gibt eine Novelle in Esti Kornél kalandjai [Die Abenteuer des Kornél Esti], die den Titel Der Zeuge trägt, und in der der Zeuge, Onkel Boldizsár, sein ganzes Leben lang leidet, weil er in der Jugend straffällig geworden ist; sein Gewissen lässt ihm, wie man sagt, keine Ruhe. In einem Adoptionsfall benötigt ein gewisser Pataki neben Esti einen weiteren Zeugen, und so bekommt Boldizsár die Möglichkeit, im hohen Alter vor dem Gesetz seine Würde wiederzuerlangen, indem er bezeugt (dass die adoptierende Person identisch mit sich selbst sei). So geschieht es auch, Esti fasst zusammen: »Er war erfolgreich Zeuge gewesen. Dafür bin ich der Zeuge, für die Nachwelt.« (93) Das Gewissen erinnert also an ein Trauma, das nur mit einer (Zeugen-)Aussage vergessen gemacht oder kompensiert werden kann, bei dem auf der thematischen Ebene die verletzte Identität des aussagenden Subjekts mit sich selbst wiederhergestellt wird. Auch Esti erscheint ausdrücklich als Zeuge, der einen anderen Zeugen oder eine andere Zeugenschaft bezeugt (ihn selbst bezeugt hingegen der quasi-namenlose Erzähler). Die Polemik des Esti gegen die »Güte«, die die Welt verändern will, findet genaue Parallelen bei Heidegger, dem zufolge das Hineinzwingen, die Ver-Universalisierung des Gewissens (als das »Wesentliche«, als »als solches«?) in ein »Weltgewissen« es nivelliert, es des singulären Ereignisses des Rufes beraubt, denn ausgerichtet als »›allgemein‹-verbindliche Stimme« (die »nicht bloß subjektiv« spricht), als quasi-grammatische Norm verliert es seine Bestimmung, und ein »öffentliches« Gewissen wird aus ihm fabriziert.68 Besonders interessant könnte eine Thematisierung des »Gewissens«-Rufes bei Heidegger sein, die zulässt, diesen Ruf ganz natürlich wie einen Telefonanruf zu verstehen.69 Nach dem ersten Treffen versucht Esti mittels eines Telefonanrufs, die Unterbringung des kleineren Mädchens zu erreichen, aber auch im metafiktiven Code des ersten Kapitels kommt das Telefon schon vor, denn Esti erzählt gewisse Geschichten am Telefon, die narrative Selbstinszenierung einer anderen Novelle folgt ebenso diesem Muster (Die Heilung des Arztes, vgl. noch Esti erhält die Todesnachricht). Das »Schreien« als Rauschen erlaubt die Herstellung einer Analogie zum Fernsprechen. In der Geschichte des bulgarischen Schaffners hört Esti an einer Stelle die Fragen des Schaffners als mechanische Geräusche, wobei diese Fragen seiner Ansicht nach gerade darauf abzielen, die Wahrheit zu bekennen: 68 | Heidegger, Sein und Zeit, 278. Babits mag das o.g. Esti-Zitat neben anderen Stellen wohl einige Selbstbeherrschung abgenötigt haben. Er selbst erkennt das spöttische Veto Koszt olányis als eines gespenstischen Zeugen z.B. in Verbindung mit dem Ausdruck »leicht lesbar« an. Ein zur o.g. Stelle passender Satz Márais: »Aber nach Vaters Tod erkannte ich, daß im ganzen Leben nur er selbstlos und gütig zu mir gewesen war, auf die ihm eigene traurige und kultivierte Weise – denn auch das Gütigsein benötigt Kultur, sonst ist es unerträglich.« (Bekenntnisse eines Bürgers, 418) 69 | Heidegger spricht über den »Anruf« als »vorrufenden Rückruf« (ebd., 287), vgl. noch den charakteristischen Satz: »Gerufen wird aus der Ferne in die Ferne« (ebd., 271). Vgl. den Hinweis Derridas auf die Idee Sam Webers: Ulysses Grammophon, 66.
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»Schluss jetzt mit diesem falschen Spiel. Bekenne Farbe. Ja oder nein? Die Fragen knatterten immer schneller und entschiedener, wie Maschinengewehre, auf meine Brust.« Das mehrfache Bejahen Estis, als er die Geschichte der Witwe hört, erinnert so gesehen an die bestärkende phatische Funktion beim Telefonieren, überhaupt an diese Gesprächssituation. Diese Wiederholung des »ja« hat Derrida zufolge die Bedeutung einer »Grammophonie, die in die lebendigste Stimme die Schrift einspeichert. Sie reproduziert sie a priori, in Abwesenheit jeder intentionalen Anwesenheit des oder der Bejahenden.«70 Damit gesellt sich das »Ja« als Schrift zu jener Nicht-Originalität, die »maschinell«, »erschreckend gleichförmig« (245) produziert wird und für Esti die Geschichte der Witwe bedeutet. Das heißt, die Sprache Estis reproduziert genau dieses Prinzip, wird von ihm kontaminiert. Das Phänomen des Gewissens als Ruf führt bei Heidegger zur grundlegenden Bestimmung existentieller Analytik, wonach »Das Seiende, das wir je selbst sind, […] ontologisch das Fernste [ist]«.71 Wie weiter oben erwähnt, macht die Ambivalenz jener anonymen oder unpersönlichen – das heißt fernen?, telefonischen? – Erzählstimme, die von der sublimierenden Operation des Nahebringens spricht, auch die Deutung möglich, dass gerade das Nahebringen, das sich in den Einzelheiten ergeht, vom Schmerz entfernt, ihn verdeckt oder vergessen macht. Die Duplizität des Zeugen wird hier akut: bejaht oder verneint dieser Einwurf bspw. den Wahrheitsgehalt des ästhetischen Glaubensbekenntnisses Estis (das er per innerem Monolog abgibt!)? Kann man wirklich als selbstverständlich annehmen, dass der sprachliche Akt die Stimme oder den Ruf des Gewissens (als eine Art »inneres Wort«) nachträglich gleichsam bestätigt oder bezeugt, anders gesagt: ihn mit einem performativen Wert ausstattet? Soll jenes »Ja«, das sprachliche Element, das noch am ehesten wiederholbar, mechanisch ist, und das mit seiner »telegrammophonischen« Wirkung die Identifizierbarkeit der Intention aussetzen würde, diesen Ruf bezeugen, ihn sozusagen beantworten? Hier besteht nämlich die Gefahr, dass dieser Ruf durch seine Bezeugung im sprachlichen Akt unwillkürlich auf eine Intention reduziert wird (z.B. in der Sicht des Dritten), und damit die Ferne des Subjekts von sich selbst (und seinem Schuldigsein) ausgelöscht würde. Blickt man auf die Geschichte des bulgarischen Schaffners zurück, könnte man sich auch fragen, ob, wenn eine Parallele zwischen dem Tier, das auf seinen Namen hört, und dem Menschen, der auf seinen Ruf hört, besteht, der Unterschied zwischen »Angerufenem« und Tier überhaupt a priori feststellbar ist. Ja, ob der »Ruf« des Gewissens gegebenenfalls nicht auch eine tierische Stimme sein kann. Um zum Erzählstrang der Novelle zurückzukehren: Esti ist jedes Mittel recht, hauptsächlich verbal geprägte, um an den »Gesetzen, Paragraphen, Beschlüssen« vorbei sein Ziel zu erreichen, der Witwe ihren Glaskäfig (!) zu beschaffen. Also lächelte, schmeichelte, log, schlich und leckte er, war überheblich und frech, je nach Bedarf. An einem Ort nannte er die Witwe eine nahe Verwandte mütterlicherseits, eine eifrige Katholikin, am andern Ort nannte er sie eine aufrechte Kalvinistin alten Schlags, eine durch
70 | Vgl. ebd., 70. Vgl. zur Technik dieses »ja« Sam Weber, Upping the ante: Deconstruction as Parodic Practice, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Deconstruction is/in America: A new Sense of the Political. New York/London 1995, 66-69. 71 | Heidegger, Sein und Zeit, 311.
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Zeugnisgaben der Literatur den Friedensvertrag vertriebene, wieder an einem andern Ort war sie ein Opfer des Weißen Terrors, eine Rückkehrerin aus Wien. In dieser Hinsicht hatte Esti noch nie besondere Skrupel gehabt. (249)
Dieses sich aus mehrerlei diskursiven und soziokulturellen sowie religiösen und politischen Registern speisende Experiment Estis birgt augenscheinlich das Risiko, dass er »dabei seine eigene moralische Beurteilbarkeit riskiert.« 72 Das vorerst nicht einmal intentionale (erst im Nachhinein, »postum« zu erkennende) Experiment verfügt über keine moralische oder transzendente Autorisierung seiner Richtigkeit, über keine »metaphysische Gestalt«, es wird eher von der Gerechtigkeit geleitet. Allerdings nicht in der Hoffnung, dass all das sich für ihn irgendwie auszahlt,73 vielmehr »[n]ämlich, weil er in einer Laune jene Summe hingeworfen hatte […] Eine Tat zog notwendig und fatal die andere nach sich. Und jetzt hätte es ihn gereut, wenn seine Arbeit umsonst gewesen wäre. Er wollte, dass sie ein bißchen vollkommener, ein bißchen abgerundeter war. Wie die Händler in der Fachsprache sagen: ›Jetzt lief er schon seinem Geld hinterher‹.« (250) Dieser typographisch abgesetzte Einwurf zur Sprache der Händler kann hinsichtlich seines Ursprungs wieder nur die nicht identifizierbare Sequenz bzw. der Kommentar einer unpersönlichen erzählerischen Instanz sein. Seine ursprüngliche Bedeutung wird jedoch deformiert, denn sie bildet einen semantischen Widerspruch zu Estis Argumentation in den vorhergehenden Sätzen. Es klingt vielleicht paradox, aber viel näher als ihren traditionellen Instanzen und Interpretanten (Transzendenz, Richtstuhl, Moral, kategorischer Imperativ) steht die Sprache des »Gewissens« hier einem Register, das prinzipiell entschieden von ihr zu trennen ist. Es gibt keinen prästabilisierten Diskurs, der eine Priorität auf die Bezeugung von Gewissen und (seiner) Gabe geltend machen könnte. Damit fällt ex negativo im Wesentlichen ein ironisches Licht auf die ökonomische Auffassung der Gabe, aber auch die Intentionsabhängigkeit der Gabe wird relativiert (die »Förmlichkeit« 72 | Vgl. dazu sowie als Grundlage zum spätmodernen Subjekt- bzw. Sprachbegriff Kulcsár-Szabó, Törvény és szabály között, 86-87. Auf ihre Weise hat dieses Modell bereits Bartas herausragende Studie von 1938 vorweggenommen: »Man darf sich hinter dem Leben keine Struktur, kein Gerüst, keine substantiellen Kräfte vorstellen, die dieser schmerzenden, oberflächlich leeren, sinnlosen Lebensballung in der Tiefe, irgendwie geheimnisvoll zielstrebig Sinn geben; man darf sich nichts hinter diese Ballung denken: keine Moral, keine Logik, keinerlei Sinn oder Wahrheit …« Barta, Vázlat Kosztolányi arcképéhez, 444. 73 | Esti verweigert sich den folgenden (psychoanalytischen) Chancen, die für ihn selbst in Betracht kämen (»stellte er sich die Frage selbst«), auch hier kommt also die Instanz des »Gewissens« als Selbstprüfung ins Spiel: »Gefiel er sich in der Beschützerrolle, lebte er ein heimliches Machtbedürfnis aus, war er von seiner eigenen sentimalen Opferbereitschaft gerührt? Leistete er für etwas Abbitte? Oder war er von Jagdleidenschaft erregt, vom möglichen Ausgang seines spielerischen Experiments, von der Beeinflussbarkeit der Menschen?« Der Ausdruck des »spielerischen Experiments« ist hier vielsagend, es ist jedoch wichtig, ihn nicht in Abhängigkeit von einer Urabsicht zu verstehen, wie weiter oben aus der Fortsetzung des Zitats hervorgeht. Die Ursprungslosigkeit des Experiments bedeutet, dass ihm als Grund nicht einmal unbedingt eine Absicht zu unterstellen ist, vielmehr kann man sie erst nach Eintreten des Ereignisses als Vorläufer denken (als Figur der »vergangenen Zukunft«).
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und das »geschliffene Stilgefühl« bedeuten auf der Ebene der Moral »Takt«). Was dazu führt, und das ist die wesentliche Wendung der Novelle, dass Esti selbst nun die Gabe erwartet, er selbst wäre gerne in der Rolle des Beschenkten. Jede Distanz wird nun aufgehoben, die den Gebenden im Prinzip kennzeichnet (vor allem den, der aus »bloßer« Großzügigkeit spendet). »Doch insgeheim hatte er auf eine winzige Verbesserung gehofft, auf irgendeine ersichtliche Linderung, eine relative Ruhe, ein gutes Wort, das ihn aufgeheitert, belohnt hätte. Jetzt war er es, der auf ein Almosen lauerte.« (251) Die absichtlich herabsetzende Pointe des letzten Satzes verschärft nur den Chiasmus zwischen Spender und Beschenktem, das Ausgeliefertsein des vermeintlichen Gebers, wie auch die Hoffnung auf »ein gutes Wort« eine weiter oben bereits zitierte wichtige Textstelle des Kornél Esti (wo er aber zum Subjekt gemacht wird) intratextuell zitiert. Sie kann freilich auch ein Verweis auf das »Versprechen« sein, das Esti der Witwe aus Taktgefühl gegeben hat. Auf einer tieferen Ebene fällt also Licht auf folgende Zusammenhänge: Der handlungsimmanente Chiasmus auf der Achse der Korrelativität der Gabe verweist darauf, dass Esti nicht aus eigenem Antrieb, nicht autonom gibt/schenkt, sondern, indem er auf das Schreien seines Gewissens hört, eine (nicht unbedingt angenehme) Gabe über- bzw. zurückgibt. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass in der Gabe nie einfach das vorausgesetzte Subjekt »gibt«, sondern tatsächlich eine Instanz oder ein Geschehen (Ruf), das mit empirisch-intentionalen Mitteln nicht zugänglich ist. Man könnte also sagen, dass Esti dauerhaft in eine Lage gerät, deren Merkmal zuvor die Scham war: ein inneres und äußeres Geschehen, von dem er selbst betroffen und beeinflusst wird, ohne Macht über es zu haben. Er lauert gerade deswegen auf die Almosen, weil er eben nicht seine frühere Gabe sich bezahlt machen sehen will, denn diese Gabe hat er nicht aus einer dem Beschenkten gegenüber erhöhten, erst recht nicht aus einer übergeordneten Position gemacht (und damit gleichsam ein »Ideal der Moralität« verwirklicht),74 sein Ziel war es nicht, den Adressaten der Gabe zu beschämen (was als indirekter Effekt aber durchaus auch unbeabsichtigt eintreten kann).75 Die Gabe (Ruf) kann sogar, wie weiter oben bereits besprochen, die Scham des Subjekts der Gabe hervorrufen, insofern keine lineare Beziehung zwischen ihr und einer subjektiven Absicht herstellbar ist. Auf der sprachlichselbstreflexiven Ebene der Novelle kann das bedeuten, dass die sogenannte »literarische« Sprache gegenüber anderen sprachlichen Registern nicht unbedingt auf eine kognitiv oder gar ästhetisch wertvollere Position gelangt. Zumindest stellt ihre nicht reduzierbare Fiktionalität sie im selben Moment über die anderen, indem
74 | Vgl. die Nietzsche-Zitate weiter unten (Fußnote 79 und 80). 75 | Die Ziellosigkeit wird noch dadurch unterstrichen, dass Esti die Witwe am Ende der Novelle »verprügelt« (die paradoxe Tat der Wehrlosigkeit, er identifiziert sich nunmehr ohne Sinn mit der Instanz, dem »Schicksal«, das die Witwe geschlagen hat), insofern tritt er aus dem Gabe-Dank-Zirkel aus. Der Dank oder die Dankesbezeigung beschämt Esti ebenso, wie die Gabe den Beschenkten beschämt, die aus der Position der Überlegenheit gemacht wird, die den anderen zu einem Dritten, d.h. zu einem Zeugen degradiert (gegenüber dem Schauplatz der narzisstisch praktizierten eigenen Großzügigkeit). Die Familie der Witwe beginnt den Brief an Esti mit der Formel »Hochwohlgeborener Herr«, die die sprachliche Nacktheit des Adressaten aufblitzen lässt.
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sie sie ihnen auch ausliefert.76 Und man kann es nur konsequent nennen, wenn sich am Ende dieser Novelle auch das Sprachmaterial erhebt – wenn aus Estis Perspektive »eine Anklage [vom Gesicht der Witwe auf ihn] blickt. Ein schmerzlicher, beinahe unverschämter Vorwurf.« (253) Esti »regt das auf«, heißt das, er nimmt es gleichsam als eine Anklage der Sprache, als eine Art sprachliches Schicksal wahr? »Szemtelen szemrehányás« [unverschämter Vorwurf] ist im Ungarischen eine seltsame Konstruktion: »szem« bedeutet »Auge«, und liest man die Wörter dieses Ausdrucks nach ihren Bestandteilen, so enthält er ein »augenloser auf-dieAugen-Vorwurf«, also im Wesentlichen eine semantische Unmöglichkeit (da der »Augen« eigentlich beraubt), zugleich aber auch eine Unmöglichkeit der Tat, des Performativums; auf der anagrammatisch-materiellen Ebene verweist sie dagegen auf das Zerbrechen des Wortes, seine partielle Auslöschung (in Abhängigkeit von der parasemischen Seinsweise des »Auges«). Sie bringt eine Wortwörtlichkeit ins Spiel, die zu einer strenggenommen sprachlichen Ironie führt,77 sie offenbart sich sogar gleichzeitig als idiomatischer Zug und als virtuelle übersetzerische Figur,78 als Ereignis und als Zitat (auf der Ebene der Geschichte: indem die Witwe Esti an seine Mutter und einige weibliche Verwandte erinnert, hier könnte jedoch sogar die Titelfigur eines Kosztolányi-Romans auftauchen). Man erlebt eine Art Schamlosigkeit (szemérmetlenség) der Sprache (ihre wortwörtliche Frechheit [arcátlanság; wörtl.: »Gesichtslosigkeit«], als etymologische Verwandte des »Unverschämten« [szemtelen; wörtl.: »augenlos«]), das Äquivalent zur schreienden Stimme des Gewissens, geradezu die radikale Aufhebung der beabsichtigten »Anklage«, die Esti zu einer durch und durch mechanischen Tat treibt, die nur von seiner Ohnmacht zeugt. Die analysierten Texte des Kornél-Esti-Korpus verweisen mit ihrer Pointierung der nicht-ökonomischen Dialektik von Gabe und (ihrer) Bezeugung auf einen tieferen Grund des Moments der Experimentalität, den man am ehesten mit einem Wort Nietzsches, der »Unschuld des Werdens«, bezeichnen kann. Die prominente Rolle der Experimentalität könnte sich bei Kosztolányi (gerade in der Novelle Der Zeuge, wo »die Zufälle die dramatischen Pointen des Stücks, das wir spielen«, 88, sind) auf das beziehen, was Nietzsche schreibt: 76 | Was auch dadurch hervorgehoben wird, dass Estis Ausgeliefertsein am Ende der Novelle »unter einer Gaslaterne« kulminiert, während gerade dieses Motiv vorher dazu diente, die Selbstbestimmtheit der ästhetischen Imagination zu kennzeichnen (»Einmal habe ich geschrieben, ich sei eine Gaslaterne. Trotzdem würde ich heftig protestieren, wenn mich jemand in eine Gaslaterne verwandeln wollte.« 242) Insofern ist »unter der Gaslaterne« jedoch ein Zitat aus der literarischen Sprache Estis, in der Unterscheidbarkeit von Erzählung und Geschichte: es vermag die Fiktion zu problematisieren und kann gleichzeitig ihre untilgbare Anwesenheit verstärken (sowie Esti gegen das Schicksal angeht, entfesselt oder wiederholt er es zugleich auch). 77 | Sie streicht nämlich sogleich Estis Perspektive aus, seine Vision einer persönlichen Anklage, ferner die diegetische Autorität des zitierten Monologs, indem sie Esti als sehende Instanz auslöscht (bzw. »augenlos« macht). 78 | »Szemrehányás« (auf-die-Augen-Werfen) kann ja nur in einer anderen Sprache »szemtelen« [augen-los] sein (bspw. im Deutschen »Vorwurf«). Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Idiomatizität und Übersetzbarkeit. Diese Figur mag dem Begriff Benjamins von der »reinen Sprache« nahe kommen.
In der Erprobung der Sprache Daß niemand dem Menschen seine Eigenschaften gibt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst […] Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Mensch« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Moralität« zu erreichen – es ist absurd, sein Wesen in irgendeinen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff »Zweck« erfunden: in der Realität fehlt der Zweck … Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, – es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen ….79
Bezeichnend für Kosztolányi ist, dass er nie dem Ursprung von derlei Zufällen auf den Grund geht, sondern in diesen seinen nicht-geplanten Experimenten ihrer Wirkung nachspürt (hinsichtlich sprachlicher, semantischer, ethischer usw. Wertzuschreibungen). Die experimentellen Inventionen sind nämlich in der Dimension der »Unschuld des Werdens« die Effekte des »Zufalls«, sie haben insofern den Charakter einer Gabe.80 Das heißt: Unter der Voraussetzung dieser Unschuld des Werdens – im weiteren Sinn der Archäologie der »Moderne«, ihrer Zeitlichkeit – werden die Grundzüge der unterschiedlichen Gaben, ihr nicht-ausgleichender Charakter (bzw. dass sie nicht in irgendeiner Schuld empfangen wurden oder versuchen, eine solche zu restituieren, abzutragen) sowie die Relativität ihrer Abhängigkeit von ihrem angenommenen Subjekt und dessen Souveränität besonders bedeutsam. Die Geschichte des bulgarischen Schaffners schließt mit einer emphatischen »Vergebung«, allein auf den materiellen, konnotativen und autointerpretativen Ebenen des Textes erweist sich diese Vergebung zumindest als problematisch. In ähnlicher Weise, nur eben umgekehrt, verfährt das Vierzehnte Kapitel, in dem Esti dem Übersetzer Gallus, der vom rechten Weg abgekommen ist, betont nicht vergibt; diese Erklärung wiederholt indes selbst auch eine moralische Konvention, sogar ein textuell überdeterminiertes sprachliches Element,81 dessen Partialität und Relativität in seiner sprachlich-wertenden Haltung derselbe Text noch unterstreicht (zusammen mit anderen Esti-Novellen). Diese Unzuverlässigkeit in der Erzählhaltung wird gerade gegenüber der Unschuld des Werdens akut, denn die narrative Autorisierung (im Zeichen des »Menschen« [der »Menschheit«], anthropologischer Eigenschaften, die als stabil gelten, des Rechts, gesellschaftlicher Moral, der Souveränität des Subjekts usw.) verfehlt dieses radikale – Ökonomie, Kausalität, Zweckmäßigkeit und Messbarkeit entbehrende – Werden in der Regel und erweist sich (auch) fort79 | Götzen-Dämmerung, 96. Ein lohnender Hinweis ist, dass der erste Satz des Zitats eine sehr genaue Lesart der 10. Strophe von Attila Józsefs Gedicht Eszmélet [Besinnung] sein könnte. Dass »niemand dem Menschen seine Eigenschaften gibt«, könnte im gegenwärtigen Zusammenhang jedoch darauf hinweisen, dass die Gabe dem Subjekt keine (bestimmbaren, geschweige messbaren) Eigenschaften gibt, sondern eher sein Eigenes ruft. 80 | Nietzsche verband in einem späten Fragment seine Experimental-Philosophie gerade mit der Bejahung: diese Philosophie »nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf […]« KSA 13, 429. 81 | Vgl. Molnár, Példázat és fordítás, 371-372.
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laufend als falscher Zeuge. Es fällt auf, dass gerade die Novelle Der Zeuge, die am ehesten den Zufall zum Thema hat, eine Aussage (Zeugenschaft) vor Gericht in den Mittelpunkt stellt, bei der Boldizsár in der Rolle des Zeugen seine eigene Unschuld, Schuldlosigkeit zurückzugewinnen meint. Esti wird hier zum Zeugen Boldizsárs, bzw. der Text hebt seine erzählerische Funktion hervor (und betont damit erneut die Untrennbarkeit von Erzählung und Geschichte). In dieser korrelativen Spiegelung tritt jedoch der unzuverlässige Charakter Estis als Erzähler, die Ambivalenz der Bezeugung als Gabe hervor.82 – Ganz allgemein gesehen wird die Frage um die narrative Glaubwürdigkeit durch die Interpenetration von namenlosem Erzähler (dem auktorialen Erzähler, »Kosztolányi«) und der Erzählung Estis, von Fiktion und Narration, von Eigenname und Unterschrift zugespitzt. Diese ambivalenten, nicht-identischen Überlappungen können freilich auch auf die Leistung der Invention verweisen, darauf, dass sie bestehende implizite Verträge verletzt83 – möglicherweise auch den anfänglichen Vertrag zwischen Esti und dem Erzähler. Letztlich verweisen all diese Aberrationen und Aporien im Zusammenhang mit der Unschuld des Werdens auf die Unerkennbarkeit der sprachlichen Akte (die Geschichten des bulgarischen Schaffners und der vom Schicksal geschlagenen Witwe sind darum beispielhaft für die unbeherrschbare Mehrdeutigkeit oder Ambivalenz solcher sprachlicher Elmente wie eben des »Ja«). Der »Zufall« selbst bedeutet indes freilich nicht den bloßen Zufall, denn die Notwendigkeit muss vorausgesetzt werden, um überhaupt von Zufall reden zu können. Der Zufall am Horizont der Esti-Novellen bedeutet abweichend von diesem Zufallsbegriff eher ein Ereignis, das das Singuläre, das Kontingente, potentiell, aber auf unvorhersehbare Weise mit einer bezeugenden Kraft in Bezug auf das ihm überlegene Allgemeine ausstattet, wobei dieses Allgemeine weniger einen universellen Code bedeutet als vielmehr eine offene, auf Deutung angewiesene Beziehung zwischen Singularität und (ihrem) Ereignis.84 (In der Gabe tritt all das zu Tage, denn sie ist, nachdem sie geschehen ist, immer unvorhersehbar, nicht-pro82 | Die Zeugenschaft Boldizsárs in einem Adoptionsverfahren (in dem es zudem um ein »uneheliches« Kind geht) ist darum merkwürdig, weil er angeblich mehrere seiner eigenen Kinder geleugnet hatte, »sieben Kinder erkannte er öffentlich an«. Wobei all das auch das Produkt der Rede sein könnte (»Einige behaupten«, »Andere sagten«). Esti versieht seine Beschreibung der Wandlung Boldizsárs mit irrealen Elementen (»ich schwöre euch […] daß bald darauf in seinem grauen Bart schwarze Zottelchen erschienen«), was auch eine Projektion auf seine frühere hyperbolisch-exemplarische Rhetorik sein kann (»würde ich ihn der neuen Generation als Vorbild hinstellen, für Ehrlichkeit, Pflichterfüllung, Fleiß«, 88-89). Die Wiedergewinnung der Unschuld Boldizsárs, ihre therapeutische Restitution durch Estis Bezeugung – die ja die persönliche Identität Patakis (einer Figur, die auch in anderen Esti-Novellen auftaucht) bezeugt – gerät in der Perspekive der Erzählung Estis in ein ironisches Licht, derweil sie jedoch auch die Glaubwürdigkeit ebendieser Erzählung Estis untergräbt. 83 | Vgl. Jaques Derrida, Psyché. Erfindung des Anderen, Wien 2010, 11. Z. B. ist der Mittelpunkt der Geschichte um den Übersetzer Gallus eine Vertragsverletzung. 84 | Hier könnten motivische Bezugssysteme des Esti-Textkorpus freigelegt werden wie das zweifache Eingeschlossensein (im Hotel bzw. im Lift) in Die letzte Lesung (das Infragestellen jenseitiger und diesseitiger Erlösung: »Weil […] auf der Erde die Kinder sterben«, vgl. dazu »Unschuld«), die Rolle des Zufalls in Der Zeuge, die Unwiederholbarkeit des eigenen Lebens in Der Gast (das Individuum ist nichts anderes, als das – singuläre und deteleologisierte –
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grammierbar geprägt und zugleich irreversibel. Innerhalb dessen zeugt dagegen auch die Wendung, der Chiasmus der Gabe davon, in dem das Verhältnis zwischen Gebendem und Gabenempfänger nicht unilinear, sondern korrelativ ist.) Darum ist für die überwiegende Zahl der Esti-Novellen auch die Gleichnishaftigkeit charakteristisch (und nur dem Schein nach steht sie im Widerspruch zur anwesenden Kontingenz). Diese Ereignishaftigkeit des Zufalls hängt gerade von der Unschuld des Werdens ab, wo Zufall und Notwendigkeit keine Opposition bilden. Anstatt weiterhin die in der Kosztolányi-Rezeption oft, mal positiv, mal negativ, verlautete Wertrelativität bzw. den Relativismus zu wiederholen, lohnt es sich, in Verbindung mit dem Esti-Korpus den konzeptuellen Grund der Unschuld des Werdens und im Zusammenhang damit deren verschiedene sprachliche Indizes, die Beziehung zwischen Gabe und Zeugenschaft, die Unabgeschlossenheit und Temporalität des Experiment(ieren)s in den Mittelpunkt zu stellen. Damit würde sich die Chance auf eine produktive und möglicherweise kohärente Deutung – im Zusammenhang mit der Wirkungsgeschichte der Moderne – der Sprachauffassung, der anthropologischen und ethischen Bezüge der Kosztolányi-Texte ergeben.
»Werden«, das es durchläuft). Ihre Beziehung im Sinne der Immanenz also, d.h. im Sinne des Fehlens jener Instanzen, die über die Singularität des Werdens hinausweisen könnten.
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9. Die Latenz der Naturgeschichte
Sprache und Zeugenschaft in W.G. Sebalds
Luftkrieg und Literatur
Die Rezeption des Essays Luftkrieg und Literatur von W.G. Sebald war bekanntlich bestenfalls gespalten, ansonsten überwogen in ihr vor allem Töne, die sich auf einer Skala von der Enttäuschung bis zur überlegenen Belehrung verteilten. Unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob Sebald da tatsächlich einen neuralgischen Punkt der soziohistorischen, kulturellen und politischen Mentalität der Deutschen in der Nachkriegsepoche getroffen hat, ist es klar, dass dieses Thema ohne politische Nebenwirkungen nicht zu behandeln, gar überhaupt zu erwähnen ist.1 Jegliche Thematisierung dieser historischen Geschehnisse muss womöglich mit kontroversen Reaktionen rechnen. Diese scheinen bestimmte Frageinteressen und Dilemmata des Sebaldschen Textes öfters geradezu verdeckt zu haben. Bei solchen politisch intrikaten Problemen besteht immer die Gefahr, dass eine gestische Ebene Fragestellungen in den Hintergrund drängt, die auf jene Ebene möglicherweise nicht zu reduzieren sind. Überhaupt wird die Deixis des Gegenstandes »Luftangriffe auf Deutschland« unvermittelt als eine politische Gebärde aufgefasst und die Bedeutung dieses primär deiktischen (aber darin vielleicht nicht ganz aufgehenden) Diskurses erschöpft sich für viele bereits im Gebärdenhaften. So ist es symptomatisch, dass die meisten Kommentare sich auf weitere Dimensionen im Text von Sebald eigentlich nicht mehr einlassen. Diese Dimension stellt in der vorliegenden Arbeit die Problematik der historischen Zeugenschaft dar, welche Problemstellung gewissermaßen die Ebene der empirischen Ereignisse, auf die vordergründig referiert wird, auch übersteigt. Entlang dieses Komplexes sollen also im Folgenden verschiedene Schichten, überhaupt die zentrale geschichtstheoretische und anthropologische Perspektive des Textes, freigelegt werden – und zwar in Verbindung mit bestimmten textuellen Aspekten, die gelesen werden wollen. Somit soll der Mitteilungsanspruch des Textes von Sebald nicht von vornherein beschnitten und die Interpretation mit Verweisen auf referenzielle oder gar fragwürdige moralökonomische Momente nicht auf eine wahr-falsch-Alternative reduziert wer1 | Zur Sichtung verschiedener Vokabulare und Diskurse in den betreffenden Erinne rungspolitiken beider deutscher Staaten nach 1945 vgl. u.a. den Band Bill Niven (Hg.), Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, New York 2006.
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Zeugnisgaben der Literatur
den. Jedoch ist bei allem kritischen Lesen das politische Hauptproblem einer »Naturgeschichte der Zerstörung« nicht unbedingt auszuräumen, zumindest muss diese Möglichkeit hier offen bleiben, da eine Naturalisierung des Luftkriegs (und a fortiori der Geschichte) Gefahr läuft, letztlich den ganzen Krieg (und dabei vor allem die diesen auslösende Provokation seitens Nazideutschlands) quasi als Naturphänomen darzustellen und gewissermaßen zu legitimieren. Eine entsprechende Intention Sebald zuzuschreiben sollte zwar nicht als ausgemacht gelten, das Problem bleibt dennoch ohne Zweifel bestehen. Trotzdem besitzt der Text von Sebald eine Ausrichtung, deren Erkenntnisanspruch es verdiente, aufmerksam verfolgt zu werden. Zumal Bilder von den Schrecken des Luftkriegs im kollektiven Unbewussten weiterhin präsent zu sein scheinen (wohl nicht unabhängig von 9/11), wie dies etwa im Film Avatar zu sehen war. (Überhaupt krankt die Debatte um »die Literaten und den Luftkrieg« daran, dass andere Medien und Künste in die Suche nach Zeugnissen nicht einbezogen werden, dabei stellt die Sinfonie in einem Satz von Bernd Alois Zimmermann, die zwischen 1947 und 1951 entstanden ist und auch eine symptomatische Aufnahme erfahren hat, ein markantes Beispiel der Bezeugung des Luftkrieges in der Musik dar.) »Naturgeschichte« könnte eher als Index der Unmöglichkeit jeglicher »Geschichtsphilosophie« begriffen werden.2 Vor allem markiert aber dieses Emblem eine Auslieferung der »humanen« Aspekte der Geschichte an die nicht-anthropomorphen Züge der Technik und der quasi-naturhistorischen Konsequenzen moderner Kriege. Es steht in Verbindung erstens mit der Ausnahme in prominentem Sinne, also mit dem Krieg, und zweitens mit einer Ohnmacht des Erleidens, die ein grundsätzliches Strukturmoment des Zeugen bezeichnet: die Passivität. Luftkrieg und Literatur wirft nämlich radikale Fragen in Bezug auf die Möglichkeiten der historischen Zeugenschaft auf – als eines Komplexes zwischen Öffentlichkeit und Latenz (Geheimnis), in welchem Zwischenraum jedes Zeugnis agiert. Diese Fragen werden von eventuellen Kurzsichtigkeiten oder Unausgewogenheiten bezüglich der historischen Hintergründe oder gar bestimmter Selbstwidersprüche im Text noch nicht unbedingt außer Kraft gesetzt. Es könnte nämlich sein, dass die Ebene dieser Fragen nicht restlos auf den referenziellen historischen Kontext zurückzubinden ist. Gleichwohl ist es problematisch, diese Ebene als eine Art Signifikat von der historischen Referenz trennen zu wollen, auch wenn diese Operation das Verfahren der Kritik (als Unterscheiden) darstellt. Diese Trennung oder Unterscheidung ist vonnöten, damit man eine kritische Lektüre vollziehen kann,3 zugleich kann die Möglichkeit nicht ausgeräumt werden, dass sie letztlich nicht ganz 2 | »Die heutige Wende zur Anthropologie«, hat Odo Marquard 1973 festgestellt, besagt Folgendes: »[D]ie Geschichte scheint derart aussichtslos zu sein, daß einzig noch die radikale Nichtgeschichte, die Natur, als solider oder wenigstens praktikabler Bezugspunkt übrig bleibt; so ist die gegenwärtige Konjunktur der philosophischen Anthropologie und ihres Namens vor allem der Ausdruck für eine Krise des Vertrauens in die Geschichte und ihre Philosophie« (Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1973, 135). Wie weiter unten zu sehen sein wird, hat Adorno »die Idee der Naturgeschichte« indes bereits vor dem Zweiten Weltkrieg dialektischer zu fassen versucht, als dies in der Kompensationstheorie Marquards der Fall ist. 3 | Vgl. dazu Zoltán Kulcsár-Szabó, Tetten érhetetlen szavak. Nyelv és történelem Paul de Mannál [Worte ohne Tatort. Sprache und Geschichte bei Paul de Man], Budapest 2007, 251.
Die Latenz der Naturgeschichte
zu gelingen vermag (und auch die Kritik von einem politischen Index nicht gefeit ist, indem sie Sebald entschuldigt, so wie er den Luftkrieg gewollt oder ungewollt als Naturphänomen legitimiert). Diese Schwierigkeit einmal beiseite lassend, lautet die erste These der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Testimonialität als Hauptproblem des Essays wie folgt: Luftkrieg und Literatur will nicht einfach eine historische Begebenheit, vielmehr auch das Fehlen oder die Latenz des Bezeugens dieser Begebenheit, also eine genuine Nachträglichkeit (gar eine post-histoire) bezeugen4 (welche Latenz dann von einem intersubjektiven bzw. politischen, nicht nur psychologischen Aspekt gekennzeichnet ist).5 Der Text richtet sich nicht einfach, sogar nicht vordergründig auf das Trauma des Luftkrieges, vielmehr auf das Fehlen seines (angemessenen) Bezeugens (damit betritt der Text die komplexe, mitnichten nur »sekundäre« Dimension des »Wer zeugt für den Zeugen?«, einer genuinen Aporetik der Zeugenschaft). Dieses Fehlen selbst kann sich freilich ambivalent verhalten: Man kann es nur privativ verstehen, insofern man von der Erwartung ausgeht, dass die Literatur über eine Souveränität, Potenz, Fähigkeit in Bezug auf die Zeugenschaft verfüge (auch in ethischem Sinne), noch vor der Bezeugung der Geschichte. Zugleich kann dieses Fehlen jedoch als Index der Fiktionalität der Literatur, als Intensität dieser Fiktionalität fungieren – und der Literatur somit Stärke wie Schwäche zuschreiben. Die bereits erwähnte, von einer Verdrängung bedingte Latenz – die von Sebald auch in intentionierten Berichten entdeckt wird – scheint zum Ereignis selbst dazugehören, in einer Weise, die teilweise auch von der Sebaldschen Inventarisierungsrhetorik verdeckt wird. (Hier läuft seine Analyse letztlich darauf hinaus, dass die erwähnte Verdrängung sowohl in den Texten als auch in ihrer Rezeption stattfindet, im letzteren Fall aber auffälliger – manifester? – ist.) Sogar wird das Gedächtnis des Ereignisses von der Latenz potenziert, nicht nur abgeschwächt. Denn 4 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Cathy Caruth: »The experience of trauma, the fact of latency, would thus seem to consist, not in the forgetting of a reality that can hence never be fully known, but in an inherent latency within the experience itself. The historical power of the trauma is not just that the experience is repeated after its forgetting, but that it is only in and through its inherent forgetting that it is first experienced at all. And it is this inherent latency of the event that paradoxically explains the peculiar, temporal structure, the belatedness, of the Jew’s historical experience …« Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore/London 1996, 17. 5 | Zur psychologischen bzw. politischen Verdrängung des Luftkriegskomplexes vgl. Wilfried Wilms, Taboo and Repression in W.G. Sebald’s On the Natural History of Destruction, in: Jonathan J. Long/Anne Whitehead (Hg.), W.G. Sebald – A Critical Companion, Edinburgh 2004, 175-189. (Ob wiederum die Geschichte von einer solchen Einteilung – die bei Wilms auf die Dichotomie von »Innen« und »Außen« zurückverweist – auf allegorische Weise vom »Innerlichen« zum »Äußerlichen« erzählt werden kann, ist fraglich, diese Aufteilung dürfte höchstens einen hypothetischen Wert besitzen. Die erwähnte Allegorie stellt nämlich eine genuin geschichtsphilosophische Figur dar, gegen die Sebald sehr wohl Stellung bezogen hat.) Zur »mit der Hegemonie des Sozialen einhergehende[n] Neutralisierung der Gedächtnisse des Zweiten Weltkrieges« in der Nachkriegszeit, wobei die »Wirkung« dieser Gedächtnisse jedoch »chiffriert« fortlebe, vgl. Dan Diner, Vom Stau der Zeit. Neutralisierung und Latenz zwischen Nachkrieg und Achtundsechzig, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, 165-172.
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der Zeuge wird bei Sebald von dieser von der Öffentlichkeit verdrängten Latenz auf quasi autobiographische Weise traumatisiert.6 Demnach ist die Katastrophe auch dieses Vergessen (oder diese Verdrängtheit), das es aufzuhalten gilt. Zugleich entdeckt der Text – zweite These dieser Arbeit – in dieser traumatisierenden Latenz eine textuelle Dimension, die die wesentliche Seinsweise des Zeugnisses – auch in Verbindung mit einer eigentümlichen Geschichtsvorstellung – markiert. Zur Darstellung dieses Komplexes analysiert der Essay sprachliche Bedingungen der (Un-)möglichkeit des Zeugnisses an einer Reihe von Autoren und ihren Texten. Bereits dieser Punkt deutet darauf hin, dass Sebalds Ziel nicht in einem referenziellen Verweis als vermeintlichem Telos der Zeugenschaft besteht, vielmehr findet diese in einer sprachlichen Dimension statt. Deren Ausleuchtung soll weiter unten versucht werden, hier genügt vorerst die Feststellung, dass die Verlagerung der Problematik auf diese Ebene in sich bereits jegliche ressentimentgebundene politische Gebärde hinter sich lässt. Sebalds Interesse zielt vielmehr auf die diskursive und sprachlich-textuelle Selbstpräsentation des Zeugnisses (und auf die in ihnen teilweise verdrängte Latenz der Naturgeschichte),7 er ermahnt die deutsche Nachwelt des Zweiten Weltkrieges nicht einfach wegen ihrer Verdrängungsattitüde. Und genau an diesem Punkt wird die ganze Konstellation zu verwickelt, als dass man ihr noch mit gestischen Reaktionen begegnen könnte. Sebald sichtet im Grunde Abwehr- oder Immunisierungsstrategien gegen das Geschehen, gegen das Trauma und die Katastrophe im individuellen wie im kollektiven Sinn. Eine geradezu synchrone Variante dieses Widerstandes stellt die quasi-geschichtsphilosophische Denkfigur eines »Verhängnisses« dar, indem nicht wenige die »riesigen Feuerbrände« »als eine gerechte Strafe, wo nicht gar als Vergeltungsakt empfanden, mit der nicht zu rechten war« (21). Hier wird die Naturgeschichte auf eine transzendent(al)e Ebene gehoben und dadurch kompensiert 6 | Es ist freilich nicht ganz sicher, ob da die herkömmliche Terminologie der Traumatheorie wirklich greift. Zum Zweifel am psychoanalytischen Begriff des Traumas vgl. Andreas Huyssen, On Rewritings and New Beginnings. W.G. Sebald and the Literature about the Luftkrieg. in: ders., Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003, 175176. Vgl. noch die Feststellung von Mark Ilsemann, laut der Austerlitz’ Melancholie mit dem Bewusstsein der »Latenz der Katastrophe unserer Zeit« verbunden, folglich weniger das Ergebnis eines Traumas sei, zumindest in dem Sinne, dass sie mit Prozessen von »Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten« nicht zu heilen ist (Melancholy, Natural History, and the Image of Exile in W.G. Sebald’s Austerlitz, in: Scott Denham/Mark McCulloh (Hg.), W.G. Sebald. History – Memory – Trauma, Berlin 2006, 308). 7 | Es ist symptomatisch, dass dieses zentrale Interesse des Sebaldschen Essays in bestimmten Aufsätzen überhaupt nicht in Erwägung gezogen wird, so z.B. bei Susanne VeesGulani: The Experience of Destruction: W.G. Sebald, the Airwar, and Literature, in: Denham/ McCulloh (Hg.), W.G. Sebald. History – Memory – Trauma, 335-349. Das hält die Verfasserin aber nicht davor zurück, ihren Text so zu beenden: »Sebald’s personal quest […] remains necessarily a disappointing one.« Der Aufsatz thematisiert nun aber zentrale Punkte des Essays gar nicht und sieht dessen Verdienst nur im deiktischen Verweis: »Luftkrieg und Literatur is an important text, calling attention to the bombings and their often neglected psychological effects on the people who went through them and on the immediate postwar generation.« Mit ihrem letzten Satz nimmt aber die Verfasserin das Recht des Sebaldschen Zeugnisses, insofern sie diesem seine idiomatische, autobiographische Testimonialität bestreitet.
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bzw. legitimiert (wie die Zerstörung »als die erste Stufe des erfolgreichen Wiederaufbaus« erscheint, 14). Sogar bei Nossack entdeckt Sebald diese universalisierende apokalyptische Modalität (Universalisierung des Bezeugten als seine Verdrängung). Ein weiterer, andersartiger Abwehrreflex soll die »erstaunliche Fähigkeit der Selbstanästhetisierung« (19) sein, die offenbar auch den gesellschaftlichen Pakt über das Schweigen bezüglich des Vernichtungskrieges ermöglichte (»eine stillschweigend eingegangene und für alle gleichermaßen gültige Vereinbarung«, 17). Dieser defensive Habitus ist jedoch bereits auf der mentalen, gar physiologischen Wahrnehmungsebene – quasi ungewollt – da, angesichts des Ausmaßes und der Beispiellosigkeit der Ereignisse: »Offenbar hatte unter dem Schock des Erlebten die Erinnerungsfähigkeit teilweise ausgesetzt oder arbeitete kompensatorisch nach einem willkürlichen Raster« (31).8 Diese letzteren Reflexe beschreiben mehr oder weniger die Erfahrung des Erhabenen als Grund und Effekt der Traumatisierung. Trauma und Erhabenheit korrelieren also, und notgedrungene Abwehrreflexe übersetzen diese traumatische Erfahrung immer schon in »willkürliche Raster«, die jene Erfahrung auch verdecken, zugleich ihre Spuren sind. Sebald geht es aber dezidiert nicht um eine Ästhetisierung der Katastrophe, auch wenn er die diesbezügliche Versuchung nicht ausschließt, vielmehr um die Grenzen von bestimmten literarischen Codes, um eine »alle künstlerische Imagination übersteigende[…] Erfahrung«,9 die den menschlichen Wahrnehmungsapparat im Sinne Benjamins durch Schockerlebnisse bedroht.10 Es gibt im Text Beispiele für die visuellen und akustischen Seiten der katastrophischen Ereignisse, für die sensorischen Effekte, eine genuine Ästhesiologie des Traumas, die Erhabenheitscharakter aufweisen.11 Die »Selbstanästhetisierung« könnte auch auf den Effekt des Erhabenen hindeuten, in der Beschreibung Kants als »Hemmung«, als »Affektlosigkeit (Apatheia, Phlegma in significatu bono).«12 Das traumatisierende Erhabene führt zu einer Desubjektivierung. 8 | Vgl. hierzu eine wichtige Stelle aus Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt (Zitat aus einem fingierten Interview mit einem britischen Brigadier): »Im Herzen oder Kopf ist offenbar gar nichts […] Denn die, die zertrümmert sind, denken oder fühlen nichts.« Chronik der Gefühle II, Frankfurt a.M. 2000, 65-66. 9 | Vgl. Sebald, Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Be schreibung totaler Zerstörung, 1982, in: ders., Campo Santo, München/Wien 2003, 80. 10 | Vgl. das Gespräch von Volker Hage mit Sebald in: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche, Frankfurt a.M. 2003, 265, 277. Sebald spricht hier vom »menschlichen Gefühlsapparat« (in Bezug auf Kluges Luftkriegstext). 11 | Akustischer Aspekt: »… daß die Luftströme Orkanstärke erreichten und dröhnten wie mächtige Orgeln, an denen alle Register gezogen wurden zugleich.« (34) Und nachher sein Fehlen, die Stille (Zitat aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt): »Auffällig ist die Stille, die über der Trümmerstätte liegt.« (73) Optische Erscheinung (Zitat aus einem Brief aus Hamburger an Sebald): »Ich […] blickte in diese Farbensymphonie, die sich langsam veränderte. Nie habe ich später, auch bei keinem Maler, solche satten, leuchtenden Farben mehr gesehen.« (92) 12 | Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1963, 178. (»Allgemeine Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile«) Das alles im Sinne der Warnung von Jacques Rancière: »Bei Kant ist das Erhabene überhaupt nicht Begriff einer Kunsttheorie. Es ist die Erfahrung einer Auflösung des Bündnisses zwischen Vorstellungskraft und Verstand.«
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Diese Erhabenheit entpuppt sich etwa in den Aufzeichnungen Adornos gegen Ende des zweiten Weltkrieges als eine mechanische Folge von Schocks, eine syntagmatische, zugleich diskontinuierliche Reihe, die das Ereignishafte bzw. die Erfahrung, ihre Erzählbarkeit im Zeichen des »epischen Elements« und damit Zeugenschaft in diesem Sinne unmöglich macht. Die folgende Stelle aus Minima Moralia könnte einen der Infratexte des Essays Luftkrieg und Literatur darstellen, da sie die bereits bei Benjamin thematisierte Problematik der Zeugenschaft angesichts moderner Kriegsgeschehen mit dem technisch-industriellen Aspekt verschränkt: »Weit vom Schuß. – Bei den Meldungen über Luftangriffe fehlen selten die Namen der Firmen, welche die Flugzeuge hergestellt haben: Focke-Wulff, Heinkel, Lancaster erscheinen dort, wo früher einmal von Kürassieren, Ulanen und Husaren die Rede war. Der Mechanismus der Reproduktion des Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernichtung ist unmittelbar der gleiche, und demgemäß werden Industrie, Staat und Reklame fusioniert […] Jede lobende Erwähnung der Hauptfirma in der Städtezerstörung hilft ihr den guten Namen machen, um dessentwillen ihr dann die besten Aufträge beim Wiederaufbau zufallen. Wie der Dreißig jährige, so zerfällt auch dieser Krieg, an dessen Anfang sich schon keiner mehr erinnern wird, wenn er zu Ende sein wird, in diskontinuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge, den polnischen, den norwegischen, den französischen, den russischen, den tunesischen, die Invasion. Sein Rhythmus, der Wechsel stoßweiser Aktion und völligen Stillstands aus Mangel an geographisch erreichbaren Feinden, hat selber etwas von dem mechanischen, der die Art der Kriegsmittel im einzelnen charakterisiert […] Dieser mechanische Rhythmus aber bestimmt völlig das menschliche Verhalten zum Krieg […] bis in die geheimsten Zellen der Erlebnisweisen hinein. Schon das vorige Mal machte die Unangemessenheit des Leibes an die Materialschlacht eigentliche Erfahrung unmöglich. Keiner hätte davon erzählen können, wie noch von den Schlachten des Artilleriegenerals Napoleon erzählt werden konnte. Das lange Intervall zwischen den Kriegsmemoiren und dem Friedenschluß ist nicht zufällig: es legt Zeugnis ab von der mühsamen Rekonstruktion der Erinnerung, der in all jenen Büchern etwas Ohnmächtiges und selbst Unechtes gesellt bleibt, gleichgültig, durch welche Schrecken die Berichtenden hindurchgingen. Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers, der erst in Krankheitszuständen jenem sich anähnelt. Sowenig der Krieg Kontinuität, Geschichte, das »epische« Element enthält, sondern gewissermaßen in jeder Phase von vorn anfängt, sowenig wird er ein stetiges und unbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinterlassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er den Reizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeitlose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denen Löcher, paralysierte Zwischenräume klaffen.«13
Angesichts der unscheinbaren, sich entziehenden Realität des modernen Krieges werden hier also grundlegende Schranken bzw. die Bedrohung der anthropologischen Disposition gesichtet und ihre Unüberwindbarkeit anerkannt. Beunruhigend ist vor allem die Veränderung der Wahrnehmung selbst, die von dem RhythDas Undarstellbare, um das es geht, in: ders., Die Erfindung des Möglichen. Interviews 2006-2009, Wien 2014, 84. 13 | Theodor W. Adorno, Minima Moralia, in: ders., Gesammelte Schriften 4, Frankfurt a.M. 1980, 59-60. Man beachte das Wort »Ohnmächtiges«.
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mus der Ereignisse nicht einfach getrennt bleibt, sondern von diesem okkupiert wird und die Singularität der Erfahrung auslöscht oder vergessen, in eine Latenz untertauchen lässt. Sein eigener Rhythmus löscht das Ereignis selbst aus oder lässt es vergessen, könnte man sagen, zumindest eine temporale Ökonomie als Möglichkeitsbedingung der Erfahrung (»die Dauer zwischen heilsamem Vergessen und heilsamem Erinnern«), die selber einem »stetigen und unbewußt auf bewahrten Erinnerungsbild« aufruht. Dieses Bild als Erinnerungsträger, zugleich als Produkt jener zeitlichen Ökonomie wäre gewissermaßen der immunisierende Reizschutz selbst, der aber vom Vergessensindex einer maschinellen Synkopierung, zugleich einer experimentellen Diskontinuität als Wiederholung (»in jeder Phase von vorn anfängt«) durchbrochen wird. Das ist für Adorno ein Index für die Unmöglichkeit des Zeugnisses, das auch die von Sebald monierte Verzögerung der Zeugnisse zumindest teilweise erklären könnte. Und hier wird auch klar, dass es die »Erfahrung« als solche nicht gibt, erst in »der mühsamen Rekonstruktion der Erinnerung« kann man, wenn überhaupt, von ihr sprechen. Es gibt keine Erfahrung, die dann zu einem gegebenen späteren Zeitpunkt auch noch in Erinnerung gerufen werden soll, vielmehr kann man erst aus der nachträglichen Perspektive der Erinnerung, besser: des Über- oder Nachlebens über »Erfahrungen« sprechen, in welcher Perspektive sich nicht »das« Ereignis oder das Vergangene »als solches«, vielmehr dialektische Bilder als Kopien von Spuren ergeben. Das ist sowohl eine Chance als auch eine Bedrohung des Zeugnisses. Inmitten der Zeugnisse klafft nämlich eine Lücke oder eine Leere, insofern es von einer erst nachträglich artikulierten Erfahrung, von einem Supplement der Erfahrung her eine Latenz bezeugt. In dieser Metalepsis des Zeugnisses wird letzteres zu einer Chiffre. In welchem Verhältnis steht aber die Sprachverwendung selbst zu dieser Unmöglichkeit des Zeugnisses? Das nämlich ist eine der Hauptsorgen von Sebald. »Erfahrung« wird nämlich sowohl von vornherein als auch in der Nachträglichkeit (auf der quasi-politischen Ebene) von der Sprache verdeckt oder gar verunmöglicht. Laut seinen kritischen Beobachtungen und Überlegungen soll diese Herausforderung an die Sprache selbst von den meisten Zeugnissen (die sparsam an Anzahl seien) im Endeffekt nicht wahrgenommen oder gar verdeckt worden sein (und zwar von herkömmlichen Augenzeugenberichten bis zur avancierten Prosakunst). Sein Haupteinwand gegen sie meint die bereits erwähnte – bewusst-unbewusste – Abwehrstrategie. Das Wort »Strategie« ist freilich auch zu sehr an Intentionalität gebunden, sollte man als ihr Gesetz eben die Norm, die Normalität bezeichnen, die ein »Immergleiches« suggeriert, also sich selbst gewissermaßen naturalisiert, die Relation von Referent und Signifikant als solche normativ wiederherstellt (wie etwa in der von Sebald heranzitierten Bildunterschrift über »unsere herrliche Naturlandschaft«, »unberührt und blühend wie eh und je«, 77). Die Funktion dieser Norm(alität) ist somit die des Vergessens als einer Verdrängung, welches Vergessen jedoch vom Funktionieren der Sprache selber getätigt wird, wo dieses das Zeugnis verunmöglicht, indem es das Bezeugte als solches verheimlicht. Die »Funktion« von »stereotypen Wendungen«, sprachlichen Konventionen also, ist demzufolge: »die über das Fassungsvermögen gehenden Erlebnisse zu verdecken und zu neutralisieren«, und dieses »anscheinend unbeschadete Weiterfunktionieren der Normalsprache« beeinträchtige vordergründig die »Authentizität« dieser Augenzeugenberichte (32). Hierbei besteht kein Unterschied zwischen dem »Psychologischen« und dem »Politischen«, für welche Unmöglichkeit die Sprache verantwortlich ist,
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die Sprache, die in bestimmten sozialen Verwendungsweisen die Grammatik der Immunisierung (von der Viktimisierung bis zu trostspendenden Formeln) und a fortiori von politischen Normen entwickelt. Der Status der Sprache oszilliert demnach selbst zwischen dem Naturgeschichtlichen und dem Politischen. Im Sinne von Adorno kann man sogar sagen, dass die Macht der Stereotype auch von den sich verbergenden Ereignissen potenziert wird (indem sie diese abwehrt), indem sie eine Maschinerie, eine Grammatik in Gang setzen oder prägen, die gleichsam eine Immunisierung gegen den erwähnten maschinenartigen Rhythmus oder die experimentelle Synkope darstellt. Eine eindeutige Kausalrelation festzustellen wird hier nicht gelingen.14 Wichtiger erscheint es, auf die Differenz oder gar den Bruch zwischen der ereignishaften Ausnahme und der Grammatik der sprachlichen Übersetzung hinzuweisen, die auf eine Latenz der (Nicht-)Erfahrung – der »paralysierten Zwischenräume« – verweist.15 So stellt nicht zuletzt die Sprache selbst das Hindernis für die Zeugenschaft dar und nicht einfach eine intentionierte Verdrängung von (empirischen) Referenzen. Auch in Fällen, wo man sich auf diese richtet, gibt es keine Gewähr für das Gelingen des Zeugnisses, wenn die Sprache dessen Herausforderungen nicht gewachsen ist. Daher treffen die vermeintlichen Belege bezüglich der in Vergleich zu Sebalds These zahlreicheren Trümmerliteratur den Punkt nicht unbedingt,16 der hauptsächlich jene testimoniale Funktion der Texte betrifft, die auf der sprachlichen Ebene der Ausnahme als einen Bruch zwischen Signifikant und Signifikat, Grammatik und Referenz gerecht werden könnte. Angesichts der laut Sebald letztlich fehlenden Bezeugung der Ereignisse, die die anthropologischen Grenzen unlesbar machen, stellt sich die Frage, welche 14 | Vgl. die Frage von Reinhart Koselleck: »Sind es primär die Kriegsereignisse und deren gemeinsame Strukturen, die das vorgegebene Bewußtsein verändert haben – oder sind es vorzüglich die aufgeführten überkommenen Bewußtseinshaltungen, die die Kriegserfahrungen in ihrer Eigentümlichkeit geprägt haben?« (Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein. in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, 271.) Diese Bewusstseinshaltungen sind auch sprachlich bedingt: »Die jeweils gesprochene Sprache oder der jeweils gesprochene Dialekt sortiert die Erfahrungsmöglichkeiten nach Vorgaben der Sprachbilder, der Metaphern, der Topoi, der Begriffe, der Textualisierung, überhaupt der Artikulationsfähigkeit, der Aussagefähigkeit, die das Bewußtsein zugleich prägen und begrenzen. Es gibt kollektive Sprachvorgaben, die durch Kriegserfahrungen verändert, aber nicht völlig durchschlagen werden können.« Ebd., 267. 15 | Vgl. nochmals Koselleck: »Neue Sprachgehalte als Ergebnis des Krieges, Ideologien, Stereotypen, Parolen überlagern oder verdrängen den ursprünglichen Erfahrungsgehalt des Krieges. Hinzu kommen all jene Erfahrungen, die die Menschen im Kriege gesammelt haben, ohne sie sprachlich artikulieren zu können. Sie wirken in den Einstellungen und Verhaltensweisen weiter, ohne daß das jeweilige Bewußtsein sich davon Rechenschaft ablegen müßte oder könnte.« Ebd., 273. 16 | Es grenzt natürlich fast schon an unfreiwillige Komik, wie pflichteifrig und zugleich überlegen einige Kritiker Sebald belehren wollen darüber, dass es doch mehr literarische Zeugnisse über den Luftkrieg gebe als von ihm angenommen. Es könnte sein, dass ohne den Text von Sebald ihnen nie eingefallen wäre, Kataloge hierzu zu erstellen (und noch so farblose »Berichte« aus der Vergessenheit herauszugraben). So bestätigen sie dadurch nur die Geltung der Sebaldschen Thesen.
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Funktion der Literatur da eigentlich zukommen könnte. – Vorab aber eine allgemeine Bemerkung bezüglich der denkbaren Motivation jeglicher »Trümmerliteratur« als Literatur. Die Fixierung auf die Trümmer oder Ruinen birgt nämlich eine metapoetische Dimension in sich, sie wird von einem solchen Interesse veranlasst: sie ist von jenem Vergessen gebannt, das im Modus des Restes das Fehlen der Referenz bedeutet, die Relation zwischen Signifikant und Signifikat auftrennend. Das ist die Chance der Literatur, genauer: der Mehrdeutigkeit ihrer poetischen Funktion (im Sinne Roman Jakobsons), zugleich aber auch ihre Versuchung, die Trümmer in ästhetisierender Manier zu Ruinen, die Ruinen zu Erhabenheiten zu monumentalisieren und so die voll und ganz desanthropomorphe Welt des Krieges mit ästhetischen Mitteln etwa zu humanisieren.17 Angesichts der letztlich nichtrepräsentierbaren Realität des Luftkrieges lässt der Versuch der Darstellung jedem Bericht eine Position angedeihen, die zwangsläufig die des Zuschauers, des Beobachters, gar des Voyeurs sein wird. Daher ist etwa die Kinematographisierung der Repräsentationslogik von Sebald18 einerseits überzeugend, andererseits verbleibt sie doch zu nah am Oberflächencharakter des Blicks. Der »synoptische Blick« bei Sebald meint dagegen möglicherweise nicht nur ein kombinatorisches und verfahrenstechnisches (in diesem Sinne auch laut Presner modernistisches) Blickdispositiv, sondern darüber hinaus die Supplementarität und Zitathaftigkeit des Blicks selbst. Nur so kann unter Umständen eine textuelle Perspektive erkundet werden, die in dem Oberflächenkomplex eine Wiederholbarkeit entdeckt, die zur Chance der Zeugenschaft werden kann. In dieser Arbeit soll nach dieser Dimension des Zeugnisses gefragt werden. Nun aber zurück zur impliziten Frage Sebalds: Was bezeugt oder für wen zeugt die Literatur? Die Beantwortung dieser Frage soll naturgemäß hinausgeschoben werden, zumal die Frage bereits das Gelingen der Zeugenschaft vorauszusetzen scheint. Formallogisch betrachtet scheint jedoch die Kontextualisierung des kritischen Problems in Sebalds Text die Folgerung nahezulegen, dass die Literatur in ihrer testimonialen Funktion gewissermaßen das Unmenschliche oder das Übermenschliche wagen muss,19 wenn sie sich auf eine Ausnahmeerscheinung richtet, die von vornherein die Endlichkeit oder Zerstörbarkeit der anthropologischen Fähigkeiten und Befindlichkeiten bzw. sprachlichen und kulturellen Konventionen darstellt. Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, scheint es doch so zu sein, dass die Literatur sich auf das Unmögliche richtet, das Unmögliche versuchen muss (also ihre Funktion letztlich nicht kulturellen Ursprungs ist, da sie vielmehr über bestimmte kulturelle sowie politisch-soziale und rechtliche Konfigurationen – auch – des Menschlichen hinausgeht oder diese zumindest reflektiert). Und zwar
17 | Diese Gefahr wird auch von Sebald angesprochen: »[D]ie Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt [ist] ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht« (W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 1999, 59). 18 | Vgl. Todd Samuel Presner, »What a Synoptic and Artificial View Reveals«: Extreme History and the Modernism of W.G. Sebalds Realism, in: Criticism 46 (2004), 341-360. 19 | Vgl. die berühmten Verse von Celan: »es sind/noch Lieder zu singen jenseits/der Menschen.« (Fadensonnen) Die »grauschwarze Ödnis« im Auftakt dieses Gedichtes ließe sich durchaus auch mit dem Luftkrieg-Thema assoziieren.
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als sprachliche Invention,20 in der die Verbindung von Signifikat und Signifikant, Grammatik und Referenz als Grundzug der Norm aufgehoben wird. In diesem Vergessen geistert die Anomie, der Ausnahmezustand21 und folglich ist es fast schon von zwingender Logik, dass die Bezeugung des Luftkriegs gerade von der Literatur erwartet, sowie dass gerade der Literatur diesbezüglich Widerstand geleistet wird.22 Die Literatur lebt ja von diesem Vergessen, aber auch vom Versprechen, es ästhetisch kompensieren zu können (die Trümmer zu Ruinen zu sublimieren). Vorerst muss jedoch auch auf die quasi-autobiographische Seinsweise des Zeugnisses hingewiesen werden. Diese umkreist Derrida wie folgt: »Jede Autobiographie präsentiert sich als ein Zeugnis: Ich sage oder ich schreibe, was ich bin, lebe, sehe, fühle, höre, berühre, denke. Umgekehrt präsentiert sich jedes Zeugnis als autobiographische Wahrheit: Ich verspreche die Wahrheit in Bezug auf das, was ich, ich selber, wahrgenommen, gesehen, gehört, gefühlt, gelebt, gedacht usw. habe.«23 Das sprechende Subjekt in Luftkrieg und Literatur präsentiert seine Involviertheit im historischen Ereignis in diesem Sinne als eine sekundäre Zeugenschaft auf performative Weise, die etwa über den transgenerationellen Zusammenhang24 hinaus letztlich an den Glauben des Lesers appelliert (nicht einfach an sein souveränes Urteil). Wie Sebald sich also von Spuren der Katastrophe gezeichnet fühlt, kann man nicht restlos mit kollektiven Termini erklären, da diese Spuren hier mit der Singularität des Zeugen zu tun haben. Zwar gilt seine Zeugenschaft nicht im Sinne eines referenziellen Grundes als echt, dennoch nimmt das nichts von der Insistenz ihres Anrufs (Authentizität und Referentialität sind nicht kausal-linear miteinander verbunden): »Dennoch ist es mir bis heute, wenn ich Photographien oder dokumentarische Filme aus dem Krieg sehe, als stammte ich, sozusagen, von ihm und als fiele von dorther, von diesem von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde« (77-78).25 Man kann dies natürlich von einer überlegenen Warte her kollektivpsychologisch erklä20 | Zum Zusammenhang von Invention und Unmöglichem vgl. Jacques Derrida, Psyche. Erfindung des Anderen, Wien 2011. 21 | Sebald zu Ledig: »Seine bewußt forcierte, auf die Erzeugung von Abscheu und Ekel gerichtete Kompromißlosigkeit rief in der sich bereits anbahnenden Zeit des Wirtschaftswunders noch einmal das Gespenst der Anarchie herauf, die Angst vor der mit dem Zusammenbruch der totalen Ordnung drohenden allgemeinen Dissolution, vor der Verwilderung und Verbiesterung der Menschen, vor Gesetzlosigkeit und irreversiblem Ruin« (Luftkrieg und Literatur, 102). Zur Depotenzierung des Themas »Ausnahmezustand« in der Staatstheorie der Bundesrepublik vgl. Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 2008, 42. 22 | Vgl. Hage: »Die Lücke […] war und ist weniger eine der Produktion als der Rezeption …« (Zeugen der Zerstörung, 119). 23 | Das Tier, das ich also bin, Wien 2010, 119-120. 24 | Diese Figur der Traumatheorie wird immer wieder in Bezug auf Sebald herangezogen, s. etwa Huyssen (On Rewritings and New Beginnings, 151 u. 156) und Julia Hell (The Angel’s Enigmatic Eyes, or The Gothic Beauty of Catastrophic History in W.G. Sebalds »Air War and Literature«, in: Criticism 46 [2004] 379). 25 | Es ist übrigens auffallend, wie stark dieser zentrale Satz der autobiographisch-testimonialen Sprechsituation den Duktus der Sebaldschen Erzählweise in seinen fiktionalen Texten (am avanciertesten in Austerlitz) aufweist. Diese Kreuzung von Zeugnis und Fiktion zeigt
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ren oder gar als einen Irrtum von Sebald behandeln bzw. ignorieren (wie das in der Fachliteratur auch vielfach passiert ist),26 jedoch markiert diese Stelle den autobiographischen Aspekt des Zeugnisses als seinen Mitteilungsanspruch. Hier steht also diese virtuelle Spur des Ereignisses im Subjekt zur Diskussion, welche Spur als Singularität auf die öffentlich verdrängte Latenz hinweist. Diese Spur wird sowohl verdeckt als auch angezeigt, einmal von einer Absenz, einem Schweigen (»… ich [war] aufgewachsen mit dem Gefühl, es werde mir etwas vorenthalten …«)27 und dann von der Kreuzung zweier Bildregimes in einem dialektischen Bild: Lese ich diesen Satz [über den Trost, den »unsere herrliche Heimatlandschaft« spenden soll], so verschwimmen vor meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flußauen und Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein Heimatgefühl in mir heraufrufen … (78)
Diese Bildkonstellation weist die Struktur eines kontrastiven déjà vu auf als Index einer »unempfundenen Erfahrung«,28 als eines Bildes, das man – in Abwandlung einer Formulierung Benjamins – nie gesehen hat (seine Referenz als solche), ehe man sich seiner erinnerte.29 Hier wird gerade der empirische, der »eigene« autobiographische Zug ausgelöscht, dem Vergessen anheimgegeben (die »frühkindlichen Idyllen« werden »ganz irreal«) und die fremden Bildspuren schreiben sich auch auf einer zusätzlichen intertextuellen Ebene an, wie wenig sich die Zeugenschaft von einer angeblichen, im Voraus bekannten Referenz abhängig machen lässt. 26 | Z.B. Hell attestiert Sebald einen Widerspruch oder eine Inkonsistenz; ihrer Meinung nach möchte sein Text zwei gegensätzlichen Begehrensimpulsen gerecht werden, einmal einem repräsentationellen Anspruch (»Realismus«) und zum zweiten dem Bedürfnis des Wiedererlebens (Imagination), vgl. The Angel’s Enigmatic Eyes, 373-374. Das ist in Wahrheit der Doppelaspekt jeder Zeugenschaft als sowohl autobiographischen wie gewissermaßen unpersönlichen diskursiven und performativen Sprachvollzugs. Hell stellt freilich später fest, dass über diese scheinbare Aporie hinaus das Affektive (im »entsetzenstarren« Blick des Engels) bei Sebald im Mittelpunkt steht (ebd. 375). Das ist ein unpersönlicher Affekt (möglicherweise nicht mit den beiden vermeintlichen »Begehren« zu verrechnen) und auf die Sprechsituation des Zeugnisses projiziert meint es einen kognitiv oder gar intentional nicht beherrschbaren Mitteilungsanspruch. (Presner bestreitet das Präsenzbegehren, das Hell Sebald attestiert, vgl. »What a Synoptic and Artificial View Reveals«, 352-355, und stellt, indem er Sebalds Rhetorik »a kind of cinematic logic« zuschreibt, fest: »Sebald has created a modernist representation of the firebombing Hamburg that no eyewitness or subject could have ever had.«, ebd., 356.) 27 | Hierzu nochmals die bereits zitierten Sätze von Koselleck (s. Fußnote): »Hinzu kommen all jene Erfahrungen, die die Menschen im Kriege gesammelt haben, ohne sie sprachlich artikulieren zu können. Sie wirken in den Einstellungen und Verhaltensweisen weiter, ohne daß das jeweilige Bewußtsein sich davon Rechenschaft ablegen müßte oder könnte.« 28 | Dieser Begriff stammt aus Derrida: Bleibe. Für Maurice Blanchot, Wien 2004. Vgl. die Formulierung von Vees-Gulani: »identification with an experience one never had« (W.G. Sebald, the Airwar, and Literature, 343). 29 | Vgl. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften II.3, Frankfurt a.M. 1974, 1064. (Bei Benjamin geht es um Proust.)
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der eigenen Erinnerung ein. Deren Nicht-Erfahrung korreliert also auf chiastische Weise mit dem Vergessen der Selbstaffektion durch die eigene Vergangenheit (so wie auf der ikonischen Ebene gerade die Zerstörung des vermeintlich Intakten betrachtet wird). Denn der »Schatten« markiert gleichsam eine photographische Seinsweise des Subjekts, seine Testamentarität. Mit einem Wort: der Zeuge wird zum Gespenst, oder das Subjekt wird zum Zeugen – erhält seine testimoniale Identität – als Gespenst (das die Kreuzung der Zeugenfigur zwischen Singularität und Unpersönlichkeit benennt). Und zwar als Gespenst der Zerstörung, das sowohl auf diese verweist als auch gewissermaßen von ihr hinterlassen wird. Hier wird die Zerstörung zur Latenz im supplementären Modus der Photographie, welche Verborgenheit für die Sprache auch nicht restlos erreichbar ist.30 Für die Zeugenschaft bedeutet das Folgendes: Diese Latenz der Nicht-Erfahrung wird genau von der quasi-autobiographischen Spur des Zeugen markiert, welche Spur eine latente ist (da sie ja von einer Abwesenheit, einem Schweigen und den »Bildern der Zerstörung« eingeschrieben wurde). Der Zeuge legt Zeugnis letztendlich von dieser Latenz ab. Man kann sagen, diese »sekundäre Zeugenschaft« bedeutet nicht etwas Abgeleitetes, sondern ist grundsätzlich verschränkt mit der strukturellen Iterabilität des Zeugnisses.31 Das Zeugnis ist folglich immer schon auch sekundär, bereits im Moment seines »ersten« Vollzugs. Es wäre verfehlt, die Verschränkung des Zeugnisses mit der Geschichte aufgrund von Generationalität deuten und dadurch etwa zwischen Primärem und Sekundärem, Psychologie und Politik, Innen und Außen restlos unterscheiden zu wollen,32 denn dem Zeugnis ist im Zuge seiner Wiederholbarkeit immer schon eine textuelle Zeit zu eigen. Der Zeuge, besser: seine testimoniale Praxis, wird von vornherein auch von dieser Iterabilität seines »eigenen« Zeugnisses imprägniert, was ihm die oben erwähnte quasi-autobiographische Spur einschreibt. Das ist ein Modus des strukturellen Überlebens des Zeugen, genauer: des Zeugnisses als Testament,33 das aus der Zukunft geschieht (und mit 30 | Vgl. noch Carolin Duttlinger, Traumatic Photographs: Remembrance and the Technical Media in W.G. Sebald’s Austerlitz, in: Long/Whitehead (Hg.), W.G. Sebald – A Critical Companion, 155-171, bei der die Photographie im Sinne Freuds erscheint »as a substitute for experiences that are inaccessible to conscious memory«. Ebd., 161. 31 | Dazu vgl. Derrida: »Wenn ich mich verpflichte, die Wahrheit zu sagen, verpflichte ich mich, dasselbe einen Augenblick danach, zwei Augenblicke danach, am nächsten Tag und für alle Ewigkeit auf eine bestimmte Weise zu wiederholen. Nun reißt aber diese Wiederholung den Augenblick aus sich selbst heraus. Infolgedessen wird der Augenblick augenblicklich, in dem Augenblick selbst durch das, was er dennoch möglich macht – das Zeugnis – geteilt, zerstört.« Bleibe, 33. 32 | Vgl. da beispielsweise die Rede vom »secondary trauma oft the secondary generation« bei Huyssen (156). Sebald bestreitet demgegenüber gerade den Primat des Augenzeugen und seiner Sprache. Außerdem war er ja, wenn überhaupt, gerade von der Latenz der Zeugenschaft traumatisiert, weniger von einer Überlieferung des Traumas. 33 | Dazu s. das folgende Zitat aus Sebalds Die Ringe des Saturn: »Derlei farbenprächtige Schilderungen von militärischen Schauspielen und Staatsaktionen bilden im Gesamtzusammenhang der Erinnerungsarbeit sozusagen die Höhepunkte der blindlings von einem Unglück zum nächsten taumelnden Geschichte. Der Chronist, der dabeigewesen ist und der sich noch einmal vergegenwärtigt, was er gesehen hat, schreibt sich seine Erfahrungen in einem Akt der Selbstverstümmelung auf den eigenen Leib. Durch solche Beschriftung zum
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empirischen Trennungen zwischen »Primärem« und »Sekundärem«, Leben und Tod etc. nur missverstanden wird). Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass der Zeuge selbst sein Zeugnis auch von der potentiellen Iterabilität her empfängt (quasi wie ein Diktat), vielleicht sogar als eine Gabe, wo die »erste« Bezeugung bereits eine Wiederholung und dadurch die »Katastrophe« der Iterabilität darstellt, in der der Zeuge notwendigerweise in eine autoimmunitäre Bewegung hineinverwickelt wird.34 Der breite Widerstand gegen Sebalds Zeugnis gilt wahrscheinlich ebendieser Iterabilität (vor allem, wenn man es unausgesprochen als »überflüssig« oder redundant verbucht mit Hinweisen auf vermeintliche Zeugnisse), nicht einfach dem historischen Trauma als Referenz. Der gleiche Widerstand gilt aber auch der testimonialen Entscheidung, das Zeugnis ablegen zu wollen/müssen, die einen Ausnahmezustand manifest macht, in dem bestimmte Normen und Konventionen politischer, sozialer wie sprachlicher Art nicht mehr gelten. Die Iterabilität als Strukturmoment der Öffentlichkeit des Zeugnisses wird durchkreuzt von einer Latenz der Ausnahme und ihrer geschichtstheoretischen wie anthropologischen Implikationen. Diese Affizierung des Zeugen und die damit einhergehende autobiographische Spur sind ein grundlegender Aspekt für Sebald. Ihm dabei einen realistisch bemühten, affektlosen Blick oder aber eine »reenactment«-Inszenierung zu attestieren, geht fehl. Abgesehen davon, dass dies auch seine Schreibpraxis nicht richtig trifft,35 wäre die unpersönliche, distanzierte Darstellungsweise vielmehr Kluges Text zuzuschreiben, die von Sebald auch gewürdigt, jedoch zugleich überschritten wird (dazu später). Der affektive Blick des zugleich passiven Engels steht, wie erwähnt, der Perspektive des Zeugen näher, die aber keinesfalls mit einem »desire for presence«36 zu verwechseln ist, einfach aus dem Grund (und man braucht kein exemplarischen Märtyrer dessen geworden, was die Vorsehung über uns verhängt, liegt er zu Lebzeiten schon in dem Grab, das sein Memoirenwerk darstellt.« Frankfurt a.M. 2001, 319. 34 | Vgl. Derrida, The Beast and the Sovereign II, Chicago/London 2011, 75. 35 | Z.B. Hell spricht Sebald eine stärker textuelle Schreibweise ab und meint, er sei am Eintauchen in die sichtbaren Elemente der Schreckensszenen interessiert, dabei zitiert er etwa folgende Stelle: »… Fleisch und Knochen oder ganze Körperberge gesotten von dem siedenden Wasser, das aus geborstenen Heizkesseln geschossen war […] daß man die Überreste mehrköpfiger Familien in einem einzigen Waschkorb davontragen konnte.« (36) Diese Stelle ist jedoch ein abgewandeltes Zitat aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt, welchen Text Hell (übrigens auch Presner) nicht erwähnt (»Frau Schrader wollte wenigstens hier Ordnung schaffen, legte die gekochten und […] unzusammenhängenden Körperteile in die Waschkessel der Waschküche«. Der Luftangriff auf Halberstadt, 29). Vgl. die Feststellung von Huyssen (mit dem sich Hell ansonsten einverstanden erklärt): »Sebald’s essay is not just an analysis of those earlier writer’s work but a hidden rewriting of both Nossack’s and Kluge’s texts« (On Rewritings and New Beginnings, 149), er spricht auch von einer »reinscription of the trauma by means of quotation« (ebd., 156). 36 | Hell, The Angel’s Enigmatic Eyes, 392. Hell ist in ihrer umfangreichen Studie permanent auf Sebalds angebliche Fixierung auf die Ruinen und Bilder der Zerstörung, auf das Trauma fixiert, ohne die Schreibweise von Sebald und seine Kritik an sprachlichen Figurationen der Augenzeugenberichte und der Werke bestimmter Schriftstellerkollegen ausreichend zu analysieren. Daher kann sie nach der an sich richtigen Beobachtung bezüglich einer bestimmten affektbeladenen Eigenschaft des Engelblicks mit diesem letztlich nicht viel anfangen
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raffinierter Dekonstruktivist zu sein, um das wortwörtlich einzusehen), dass der Engel im ständigen Entfernen von den Trümmern der Vergangenheit begriffen ist (welches Entfernen das ikonische Korrelat des Vergessens bildet). Der Geschichtsbegriff von Benjamin ist mit keiner Präsenzvorstellung zu verwechseln. Zugleich ist der Engel freilich auf die Trümmerbilder fixiert, von ihnen (indes nicht von ihren vermeintlichen Referenzen) angezogen, also in eine gegenläufige, nicht totalisierbare Bewegung eingelassen.37 Hier erscheint die bereits früher angemerkte Doppelbedeutung von »Grenze« auf der Ebene der Wortwahl: »Selbst der Tagebucheintrag Victor Klemperers über das Ende von Dresden bleibt innerhalb der von der sprachlichen Konvention gezogenen Grenzen« (ebd., Hervorh. – Cs.L.). Es könnte nämlich sein, dass diese Grenzen nicht vor dem Ereignis bekannt waren, zumindest als solche, sondern vielmehr von diesem selbst eingeschrieben wurden und folglich erst aus einer Nachträglichkeit erfahrbar sind. Aus der Sicht einer »Ergänzung durch das, was sich erschließt unter einem synoptischen, künstlichen Blick« (33). Unter einem medialisierten, gar supplementarisierten (ein Fehlen in sich bergenden), das heißt: die Konstellation eines dialektischen Bildes (syn-opsis) erzeugenden Blicks. Dieser Blick ist also nicht einfach technomedial aufgerüstet, sondern selbst der von ihm gesehene Anblick – und damit der Blick, die Gegenwart des (dialektischen) Bildes selbst – tragen in sich den Aspekt einer (allegorischen) Kopie oder eines Zitats.38 Die Zeugenschaft richtet sich demnach nicht weniger auf die Gegenwart als auf eine bestimmte Vergangenheit. Dadurch kreuzen sich mehrere Zeiten, z.B. vom Bild und vom Text, von Intertexten usw.39 Darauf kommen wir noch zurück, zumal diese Anzeige die textuelle Verfasstheit des Essays weitgehend zu charakterisieren vermag. Zu erwähnen ist ferner, dass die konstatierte Doppelung von »Grenze« auch auf der Ebene des Zeugnisses selbst erscheint: In der Vorbemerkung werden die »Spuren« von der »Katastrophe« im »Gedächtnis« des sprechenden Subjekts »hinterlassen« (5), zwei Seiten später am Ende der Vorbemerkung wird das programmatische Ziel in einer transitiven Wendung formuliert: »… das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und einzubringen in unser Gedächtnis« (7). Die »Spuren« werden einmal von der Katastrophe (vom traumatischen Erhabenen) hinterlassen oder eingeprägt, nun sollen sie aber vom Zeugnis, von den Zeugnissen selber dem Gedächtnis eingeschrieben werden. Dagewesensein und Wiederholung bilden gewissermaßen einen Chiasmus. Entgegen einer möglichen Befürchtung ist diese und attestiert Sebald einen vermeintlichen Neoromantizismus (ebd., 379-380). Wäre also nach dieser Logik auch Benjamin selbst in die angeblich todesbesessene deutsche Tradition (Heidegger, Rilke, gar die Nazis) einzureihen? 37 | Vgl. hierzu eine Formulierung von Sebald in Bezug auf das »Bild der posthistoire«: »Und man weiß nicht genau, in welche Richtung der Sog einen zieht, zurück in die Vergangenheit oder hinein in die Zukunft.« Hage, Zeugen der Zerstörung, 278. 38 | Das bringt auch Presner in einer bestimmten Weise (von einem Repräsentationsgedanken, weniger von der Zeugenschaftsproblematik her) zum Ausdruck: »Sebald is not attempting to represent accurately the reality of the past but rather to create a reality effect of the present in all its uncertainty and contingency.« What a Synoptic and Artificial View Reveals, 350. 39 | »Synoptisch« besitzt für Sebald auch eine temporale Bedeutung im Sinne der Ver schachtelung von »zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignissen in der Erinnerung«. Vgl. Unheimliche Heimat, 143.
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iterative Konstellation, das »déjà-vu« der Zeugenschaft, kein Widerspruch, sondern wurzelt in der Struktur des Ereignisses selber, insofern dieses eine Spur ausbildet, d.h. korrelativ (aber nicht identisch) zur Spur zu denken ist. Wie oben erwähnt, stellt die Wiederholung des Bezeugten (in) der Zeugenschaft gewissermaßen das Autobiographisch-Werden der Spur dar (vgl. mit dem »Schatten, unter dem« Sebald »nie herauskommen« werde). Die erwähnte Nachträglichkeit wird von der Tendenz zur »Naturgeschichte« markiert, insofern die Nachträglichkeit selber einen Index der Unverfügbarkeit der Geschichte darstellt. Diese Nachträglichkeit ist nämlich mit der Differentialität von »Grenze(n)« verbunden, welche Differentialität nicht anzuschauen oder zu überblicken ist, da sie vom Ereignis in Gang gebracht wird (ob im Sinne eines Erinnerns an sie oder gar erst ihres Einschreibens – wie in Bezug auf Benjamin zu sehen war, stellt keinen Gegensatz dar). Im Folgenden sollen die Aspekte und Implikationen dieses Zusammenhangs aufgedeckt werden. 1. Die zeitlichen Komplikationen im Essay und seinen Intertexten resultieren wohl aus dieser Verflechtung. Hier kreuzen sich hauptsächlich ein prähistorisches Tempus und eine Zeit »nach« den Ereignissen, in einem virtuellen Moment. Einerseits sollen die vom Bombenkrieg Betroffenen auf eine prähistorische »Entwicklungsstufe« zurückgeworfen werden (vgl. 43-44) und damit erfolgt auch der Bericht wie »von einem furchtbaren Begebnis aus vorgeschichtlicher Zeit« (58, Zitate aus Nossacks Der Untergang). Andererseits soll es den Bewohnern von Halberstadt laut Kluge erst »mit den Gehirnen von morgen« möglich gewesen sein, »praktikable Maßnahmen zu ersinnen«. Diese Disjunktion deutet auf den Schock, den Exzess des Ereignisses, zurück, infolgedessen »die Normalzeit und ›die sinnliche Verarbeitung der Zeit‹ auseinanderstreben« (69). Folglich geht es Sebald hier auch um »die realen Schrecken der Zeit« (56), also steht das Prähistorische nicht für eine »Mythisierung«, die in seiner Analyse vielmehr eine Verklärung der Ereignisse zu einem »transrealen« Bereich liefert (55, in Bezug auf Nossacks Schreibweise). Die »Naturgeschichte« steht für Sebald also gerade nicht für eine geschichtsphilosophische Maskierung »einer in ihrer Rohform der Beschreibung sich verweigernden Wirklichkeit« (ebd.), sondern vielmehr für die »reale« Unbestimmbarkeit und Materialität der ihrer menschlichen Züge beraubten Geschichte. Die Aporie der Zeugenschaft besteht nämlich darin, dass der Zeuge auf eine Erfahrung ausgerichtet ist, die aus dem bisherigen Erfahrungsraum nicht abzuleiten ist, sich jedenfalls asymmetrisch zu ihm verhält40 und aus der man gewissermaßen nicht »lernen« kann. Der Bruch zwischen Norm und Ausnahme, Grammatik und Referenz, ferner zwischen Signifikat und Referent kappt die Erfassbarkeit der Erfahrung überhaupt als solcher.41 Vielleicht stellt das Überleben diesen unmarkierten Raum um die fehlende »Erfahrung« herum dar, das Außerzeitliche der Erfahrung, eine Art post-histoire.42 40 | Vgl. dazu Koselleck, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 349-375. 41 | Vgl. hierzu die Reflexion bei Nossack, Der Untergang, Frankfurt a.M. 1962, 28-29. 42 | Das wird wiederum bei Nossack reflektiert, z.B.: »Wir hatten nicht viel Zeit, wir hatten überhaupt keine Zeit mehr, wir waren aus der Zeit heraus. Alles, was wir taten, wurde uns sofort sinnlos.« (36) »Doch alles ganz schweigsam, ohne Bewegung und Veränderung; des
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2. Gleichsam analogisch zur (nicht-)zeitlichen Verflechtungsfigur markiert die vom Ereignis in Gang gebrachte Liminalität auch anthropologische Zusammenhänge: Das Ereignis verwischt die Eingrenzbarkeit des Menschlichen (einer für allgemein gehaltenen Menschennatur). Die Grenze erweist sich also als Bruch und beschränkt die vermeintliche Universalität einer postulierten Menschennatur (z.B. ob der Mensch von Natur aus »gut« oder »böse« sein soll) ebenso, wie sie sie auf eine Differentialität der (unvorhersehbaren) Veränderung hin öffnet. Diese Entgrenzung als Deaktivierung einer souveränen Potenz bezieht sich einerseits auf die Verfügbarkeit der Geschichte, auf die menschlichen Möglichkeiten angesichts der »Machbarkeit« der Geschichte,43 andererseits auf das »Verstehen von Geschichte«.44 Wie diese zusammenhängen, ist eine verwickelte Frage, eine Möglichkeit könnte man jedoch darin sehen, dass insofern das Geschehen der Verfügbarkeit der Geschichte Grenzen zieht, dadurch tastet es die Verallgemeinerbarkeit (das Allgemeine) des aus ebendieser Verfügbarkeit abgeleiteten Menschlichen an. Dieses Menschliche kann also nicht auf die Basis eines souveränen Umgangs mit dem historischen Geschehen gegründet werden. Jenes Selbstverständnis, das sich aus dieser Generalität und der von dieser legitimierten Souveränität speiste,45 wird suspendiert. Dadurch wird der Mensch nicht nur im Empirischen zurückgeworfen auf Umstände, die prähistorischer, gar animalischer Natur zu sein scheinen,46 also eine »Naturgeschichte« konnotieren. Zugleich aber sind die Ausnahmeerscheinungen in der Geschichte schwerlich von den Beziehungen zwischen Menschen(gruppen) zu trennen, nur so können sie ihr (moralisches) Selbstverständnis tangieren. Die Rückkopplung auf das Prähistorische, gar Naturgeschichtliche wird zwar zuweilen als Indikator für die unveränderliche menschliche Natur aufgefasst (»Naturzustand«), zugleich untergräbt sie aber das Postulat jener »Machbarkeit« der Geschichte, die einhellig mit dem Konzept des souveränen, rationalistischen Subjekts verbunden ist.
Zeitlichen entkleidet und ewig geworden.« (47) »Wir sind gegenwärtig geworden. Wir haben uns aus der Zeit gelöst.« (70) 43 | Vgl. hierzu Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, 260-277. Eine Leitfrage Kosellecks lautet: »Wo sind die Grenzen zu ziehen, die einer recht begriffenen Geschichte ihre Machbarkeit versagen?« Ebd., 271. 44 | Vgl. den letzten Vortrag von Hans Robert Jauß (der ebenfalls aus dem Jahr 1997 stammt, wie die Züricher Vorlesungen von Sebald): Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen, in: ders., Probleme des Verstehens, Stuttgart 1999, 188-210. Ein weiterer thematisch verwandter Text ebenfalls aus dem selben Jahr von Koselleck: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt a.M. 2010, 9-31. Koselleck rekurriert hier u.a. auf Theodor Lessing, so wie auch Jauß in seinem Vortrag. 45 | Vgl. Koselleck, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, 269. 46 | Vgl. hierzu die Frage von Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften: »Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte?« Reinbek bei Hamburg, 1978, 362. (Kapitel 83: Seinesgleichen geschieht oder warum erfindet man nicht Geschichte?) Der Souverän und die Bestie verschränken sich also in einer Situation der Gefahr miteinander. (Vgl. Derrida, The Beast and the Sovereign I-II, Chicago/London 2009-2011.)
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Untrennbar erweist sich also die Grenze von einer Differentialität der menschlichen »Natur«, wo die erstere nicht in der letzteren aufzufinden ist, sondern von – gar latenten – Ereignissen der Geschichte gezogen wird (quasi als eine Art »Riss« in der für homogen gehaltenen Menschennatur). Die anthropologische Position oder Beschaffenheit oszilliert also zwischen Invarianz und Veränderung, zwischen Begrenzung und Öffnung (sie ist exzentrisch in diesem Sinne, um einen berühmten Begriff von Helmuth Plessner aufzurufen). Die Grenze markiert folglich keine Immanenz des Menschen gemäß einer Norm oder einem Gesetz, vielmehr deutet sie die Grenzen der Norm selber, also die Ausnahme, an und subvertiert die Grammatik der Norm durch eine différance der Ausnahme. Dieser Chiasmus stellt sich näherhin folgendermaßen dar: Das, was für das »Historische« im Menschlichen gehalten wurde, induziert sein Quasi-Natürliches (seine Ohnmacht etwa), das hingegen, was als das »Natürliche« empfunden war (z.B. seine Brutalität), erweist sich als Resultat oder Effekt geschichtlicher Prozesse, genauer: der Unmöglichkeit einer autonomen Begegnung mit diesen Prozessen. (Folglich untergräbt dieser Chiasmus die Universalisierung eines Begriffes vom »Menschen«.) In dieser »Konstellation« – Adorno benutzt hier den Begriff von Benjamin – geht es nicht um »Möglichkeiten des Seins«, sondern um »das Seiende als solches in seiner konkreten innergeschichtlichen Bestimmtheit.«47 Das »differentielle Verfahren« kennzeichnet laut Adorno »die Idee der Naturgeschichte«, wo »die Momente Natur und Geschichte nicht ineinander aufgehen, sondern […] zugleich auseinanderbrechen und sich so verschränken, daß das Natürliche auftritt als Zeichen für Geschichte und Geschichte, wo sie sich am geschichtlichsten gibt, als Zeichen für Natur.«48 Diese chiastische, genauer: allegorische, chiffreartige Konstellation ist in eine Unentscheidbarkeit eingelassen, die auf der ikonischen Ebene durchaus die Struktur eines »déjà-vu« besitzt49 und die erwähnte Kreuzung von Prähistorie (oder Naturgeschichte) und Nachträglichkeit (nach dem Geschehen) anzeigt. Dieser »dialektische« Komplex ist letztlich Index für eine Aporie des Geschichtlichen selbst, insofern dieses – in einer anthropologischen Sichtweise – dank einer gespensterhaften Seinsweise nicht restlos historisch zu verstehen oder zu erklären ist.50 Das zentrale Zitat des Textes von Sebald hierzu lautet wie folgt: »[…] ist nicht diese [Zerstörung] vielmehr das unwiderlegbare Exempel dafür, daß die gewissermaßen unter unserer Hand sich entwickelnden und dann anscheinend unvermittelt ausbrechenden Katastrophen in einer Art Experiment den Punkt vorwegnehmen, an dem wir aus unserer, wie wir so lange meinten, autonomen Geschichte zurücksinken in die Geschichte der Natur?« (79) 47 | Adorno, Die Idee der Naturgeschichte, in: ders., Gesammelte Schriften 1, 354. 48 | Ebd., 360. Ferner: »Es kann sich nicht bloß darum handeln zu zeigen, daß in der Geschichte urgeschichtliche Motive immer wieder vorkommen, sondern daß Urgeschichte selbst als Vergänglichkeit das Motiv der Geschichte in sich hat.« Ebd., 359-360. Mit dieser Grundthese Adornos wäre die mal fröhlich, mal resigniert verkündete Entdeckung des »wir sind nie modern gewesen« zu differenzieren. 49 | Vgl. ebd., 364. 50 | Etwa dieser Sachverhalt könnte teilweise den apokalyptischen Ton bei Nossack auslösen.
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Gewalt und Zerstörung brechen die Autonomie der menschlichen Geschichte, ihre souveräne Seinsweise, als humane Identitätsbegründung auf und lassen sie in ihrer Endlichkeit und Verletzbarkeit zur Geschichte der Natur werden. Diese Virtualität des »Experiments« – in dessen Latenz(zeit) das (natur-)geschichtliche Geschehen antizipiert wird –, eine Gespensterhaftigkeit der Zerstörung (als Wiedergänger), zeitigt gewissermaßen ein Trauma aus der Zukunft, indem sie die Aufhebung der Grenzen zwischen menschlicher Geschichte und Naturgeschichte vorwegnimmt und die Erkennbarkeit oder Bezeugung der ersteren verunmöglicht. Folglich besteht die »Naturgeschichte« aus der Sicht des Testimoniums in nichts anderem als in der Unmöglichkeit der Bezeugung einer genuin »menschlichen« Geschichte. Diese Art von Geschichte bestätigt oder ergibt nun keine Norm des Mensch(lich) en und als Naturgeschichte stellt sie die gestalthafte Identität ebendieses Menschlichen in Frage. Die erscheinende, »menschliche« Geschichte aktiviert das abgründige Geschehen als eine Latenz der Naturgeschichte bzw. führt in diese. »Experiment« kennzeichnet für Sebald die Seinsweise jeglicher historischer Handlung in einer Notsituation (in einem Ausnahmezustand) – der Luftkrieg war gleichsam die einzige Möglichkeit für die Alliierten, in den Krieg einzugreifen. Folglich kann die Handlung keine autonome Geschichte begründen, sich selbst und den vermeintlichen »menschlichen« Handelnden nicht in der Geschichte verorten, sondern mündet in eine Zerstörung und mutiert als deren Irreversibilität zur Naturgeschichte, die dem Verstehen und dem Selbstverständnis Widerstand leistet. So stellt die Naturgeschichte – etwa im Zeichen der Animalität – nicht einfach eine (nicht-)anthropologische Konstante, vielmehr einen von der Geschichte induzierten Rest, eine Inskription dar (die sich dem Menschlichen zugleich als sein Anderes einschreiben). Das Experiment aktiviert durch seinen Zerstörungscharakter die Vergänglichkeit der Natur und deutet zugleich auf diese (als eine Latenz) durch Chiffren der Zerstörung selbst. In diesem Sinne ist für den Melancholiker Sebald aus der Geschichte nicht zu lernen, d.h. sie ist etwa auf dialektische Weise nicht zu begreifen, denn die Verbindung zwischen dem Menschen und seiner Geschichte hat sich aufgelöst.51 Ein weiterer Aspekt dieser Problematik führt jedoch in eine genuin politischanthropologische Dimension, und zwar in den Komplex der »Macht«. Das erwähnte Experiment war nämlich nicht beliebig durchzuführen oder auch nicht durchzuführen, sondern stellte die einzige Möglichkeit dar, in den Krieg überhaupt eingreifen zu können (24). Zugleich war es nicht rückgängig zu machen, den Luftkrieg konnte man nicht stoppen, ebenoso, wie es unmöglich war, die mit Bomben gefüllten Flieger auf ihren Stammflugplatz zurückzukommandieren. Das Experiment ist also sowohl kontingent wie notwendig (so wie die Alliierten Hitler sowohl unter- als auch überlegen waren), eine prekäre Entscheidung. Dieser Komplex bezeichnet »die Macht der modernen Vernichtungsmittel«, die – laut
51 | Ein weiteres prägnantes Zitat aus Zwischen Geschichte und Naturgeschichte: »An dieser Divergenz [zwischen Katastrophen und ihrer Bewältigung ex post], die freilich dann auch von den ›Gehirnen von morgen‹ nie ausgeglichen wird, bewahrheitet sich das Diktum Brechts, daß der Mensch durch Katastrophen soviel lerne wie das Versuchskaninchen über Biologie, woraus sich wiederum ergibt, daß der Grad der Autonomie des Menschen vor der von ihm bewerkstelligten tatsächlichen oder potentiellen Zerstörung artgeschichtlich nicht größer ist als der des Nagetiers im Käfig des Experimentators …« Campo Santo, 94.
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Carl Schmitt, sicherlich keinem Lieblingsautor Sebalds52 – »die Kraft der menschlichen Individuen, die sie erfinden und zur Anwendung bringen, um ebensoviel [übersteigt], wie die Möglichkeiten moderner Maschinen und Verfahren die Kraft menschlicher Muskeln und Gehirne übersteigen«.53 Das hat »die Gefährlichkeit des Menschen gegenüber anderen Menschen entsprechend gesteigert«, denn »dadurch wächst der Unterschied von Macht und Machtlosigkeit in einer so uferlosen Weise, daß er den Begriff des Menschen selbst in eine völlig neue Fragestellung hineinzieht« (ebd. 40-41). Die geschichtliche Handlung ist angesichts dieses Machtpotenzials notgedrungen ein Experiment, das von Menschen an Menschen durchgeführt wird, dabei steht in Frage, wer »der Mensch« ist, »derjenige, der diese modernen Vernichtungsmittel produziert oder anwendet, oder derjenige, gegen den sie angewandt werden?« Folglich trennt die Macht die menschliche Natur von sich selber, fügt ihr einen Riss zu. Die »eigentliche Schwierigkeit«, die »Frage«, ist für Schmitt, »wer hier über gut und böse entscheidet«. Diese Entscheidung beträfe nämlich auch das Wesen des »Menschen« selbst – und a fortiori die Möglichkeiten des Lernens aus der Geschichte als einer menschlichen »Eigenschaft«, einer kognitiven Autonomie, die die hierarchische Abgrenzung des Menschen vom Animalischen, von seinen animalischen Funktionen garantieren könnte. Macht und menschliche Natur dissoziieren sich, da sich einerseits »Macht und Ohnmacht heute nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen und sich nicht mehr von Mensch zu Mensch erblicken« (45)54 – das historisch erste Paradigma dafür war wahrscheinlich gerade der Luftkrieg als totaler Krieg55 –, andererseits die Macht »eine 52 | Dabei weist der Wortschatz von Sebald Ähnlichkeiten mit zentralen Denkfiguren von Schmitt auf: Sebald ist nämlich nicht weniger an »Einbrüchen« interessiert (103), die eine Immanenz bzw. Normativität – bei ihm: vor allem der stereotypisierten Sprache – »durchbrechen« (98), wie der Verfasser etwa von Hamlet oder Hekuba: Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1956. 53 | Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1954, Stuttgart 2008, 41-42. Und weiter: »[D]er menschliche Arm, der die Atombombe hält, das menschliche Gehirn, das die Muskeln dieses menschlichen Armes innerviert, ist im entscheidenden Augenblick weniger ein Glied des individuellen Einzelmenschen als eine Prothese, ein Teil der technischen und sozialen Apparatur, die die Atombombe produziert und zur Anwendung bringt.« (Weitere Seitenzahlen in Klammern.) Vgl. dazu aus dem langen Zitat von Adorno (Minima Moralia) weiter oben: »Der Zweite Krieg aber ist der Erfahrung schon so völlig entzogen wie der Gang einer Maschine den Regungen des Körpers …« Vgl. noch den Vorschlag Niklas Luhmanns, »Macht im System und Macht des Systems zu unterscheiden.« Macht im System, Berlin 2012, 113. 54 | Der heutige Ruf nach »Transparenz« (der ja von einem tiefen Misstrauen herrührt) unter Bedingungen der Informationsgesellschaft, zugleich die Bekräftigung des Rechts auf Geheimnis (s. NSA-Datenaffäre) reagieren beide bei aller scheinbaren Gegenwendigkeit auf ebendiese Disjunktion. 55 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Schmitt in seinem Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 1997, 4. »Der Horizont des Luftkrieges ist ein anderer als der von Land- und von Seekrieg; es ist sogar eine Frage, wie weit man beim Luftkrieg überhaupt noch von Horizont sprechen kann […] Beim Bombardement aus der Luft wird die Beziehungslosigkeit des Kriegführenden gegenüber dem Boden und der auf ihm befindlichen feindlichen Bevölkerung absolut; hier ist nicht einmal mehr ein Schatten des Zusammenhangs
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objektive, eigengesetzliche Größe« auch gegenüber dem Machthaber darstellt (43), gerade wegen der Inkommensurabilität des Menschlichen und des Technischen. Wenn also »die Menschen, die mit Hilfe solcher technischen Mittel Macht über andere ausüben, mit jenen, die ihrer Macht ausgesetzt sind, nicht mehr unter sich [sind]« (43), so könnte dies ein weiterer, diesmal politisch-anthropologisch bedingter Grund sein für die Verdrängung und ihre Latenz, für den Grad der Nachträglichkeit der Zeugenschaft oder gar für deren Unmöglichkeit. Im genannten atopischen oder gespensterhaften Machtkomplex wird Feindschaft als Gestaltwerdung, also als Operationsmodus des Politischen, allmählich unmöglich und der Mensch auf seine animalischen Züge zurückgeworfen (sei es im Sinne der Brutalität »von oben«, sei es im Sinne von gejagten Tieren »unten«), in eine »transparente Durchgegebenheit auf die Naturhaftigkeit seines Wesens als das Andere seiner selbst«.56 Darin besteht die eigentliche »Gefährlichkeit« des Menschen für andere und für sich selbst in diesen historischen Situationen. Der hier ausschlaggebende historische Chiasmus besteht in der Auffassung von Schmitt in der folgenden Entwicklung: »[G]erade seit dem Zeitalter, in dem die Vermenschlichung der Macht sich zu vollenden scheint – seit der Französischen Revolution –, verbreitet sich nun unwiderstehlich die Überzeugung, daß die Macht an sich böse ist.« (38) Infolgedessen wüten die »besonders intensiven und unmenschlichen Kriege« gerade in der Moderne,57 in der man sich schon seit anderthalb Jahrhunderten an die vermenschlichte Macht zu gewöhnen Anlass hatte. Dieser Befund zeigt klar an, dass die Macht nicht nur nicht einfach gut oder böse, sondern auch nicht neutral sein kann. Gerade die Vermenschlichung der Macht führt zu einer Unmenschlichkeit ohnegleichen, in der der Mensch in seinem »bloßen«, quasi-animalischen Leben zu seinem eigenen Feind wird.58 Das Dilemma der »Naturgeschichte« bei Sebald zielt letztlich auf diese Dimension (also nicht von Schutz und Gehorsam übrig geblieben« (ebd., 297). Man sieht, eine präzise Diagnose über den Luftkrieg stammt aus dem Jahre 1950, nicht aber von einem »Literaten«, sondern von einem angeblichen Reaktionär namens Carl Schmitt. 56 | Helmuth Plessner, Macht und menschliche Natur, in: ders., Gesammelte Schriften V, Frankfurt a.M. 1981, 232. Man erinnert sich, wie in den Beschreibungen des Luftkriegs bei Nossack, Böll und anderen z.B. die sich nach den Angriffen rasant vermehrenden Ratten die Zeugen erschrecken (s. dazu das »Viel Krabbelgetier« und vor allem die »Stille« bei Kluge weiter unten). Bedeutsam ist auch die von Sebald benutzte Käfigmetapher, wo der Bewohner des Käfigs ja nicht nur Experimenten unterworfen ist, sondern überhaupt sichtbar und beobachtbar wird – ein Opfer, zumindest Gefangener der »Transparenz(gesellschaft)«? 57 | Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 2009, 8, 35: »Solche Kriege sind besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist.« 58 | Vgl. hierzu den Aufsatz von Zoltán Kulcsár-Szabó, Die zwei Körper des Feindes. Repräsentation, Form und Öffentlichkeit bei Carl Schmitt, in: ders./Csongor Lőrincz, Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz, Bielefeld 2014, 335-366, v.a. dessen Schlussfolgerungen. Vgl. noch Petar Bojanić: »The USA has no enemy because it has no form (Gestalt) …« (www.abdn.ac.uk/modernthought/archive/publications/usa_enemy.pdf)
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auf Aufrechnungen trivialpolitischer Art) und nur so lässt sich auch der Zankapfel Sebalds, die »stillschweigend eingegangene und für alle gleichermaßen gültige«, also gewissermaßen nicht-intentionale »Vereinbarung« (17), erklären. Der Zeuge bezeugt also im Endeffekt die Latenz einer Bedrohung des Menschlichen, die zwar an Menschen von Menschen ausgeübt wird, die aber im Grunde die Bedrohung des »Zurücksinkens in die Geschichte der Natur«, in die animalischen Funktionen des menschlichen Subjekts, bedeutet. Letztlich handelt es sich um das Fehlen eines ontologisch verbürgten Grundes oder Wesens des Menschen, welches Fehlen das Zeugnis (als Bezeugung des Bruchs zwischen dem Allgemeinen und der Ausnahme) sowohl herausfordert als es auch zu einer unmöglichen Aufgabe macht. – Und zwar nicht zuletzt auch von der Gefahr der Ästhetisierung her, die vom technischen Machtpotenzial ermöglicht oder gesteigert wird (bis zu heutigen Kriegen, die sich für die eine, meistens überlegene Seite, sodann für vermeintlich »neutrale« Dritte auf dem Bildschirm abspielen). In diesem Sinne enthält die Tendenz zur Ästhetisierung eine extrem neuralgische politisch-anthropologische Frage. Die Erfahrung der Ohnmacht wiederum ist ein Grund geschichtsanthropologischer (also nicht bloß referenzieller!) Art für die erhöhte Präsenz des »Zeugen« in der gegenwärtigen Kultur, welche Insistenz tief mit der Verunsicherung angesichts des Lernens aus der Geschichte als einer Norm für vermeintliche Entscheidungen, darüber hinaus aber, wie zu sehen war, mit der Inkorporierung seines eigenen Feindes, der Affizierung durch das eigene Andere, zusammenhängt. Folglich gibt es nach dieser gespensterhaften Intensivierung der tierischen, naturgeschichtlichen Gestalt des Menschen nur noch post-histoire – die nicht einzuebnende Divergenz infolge der Nachträglichkeit im Geschichtlichen verweist bei Sebald auf diese Dimension zurück. Also wird die Nachträglichkeit der Zeugenschaft von der post-histoire radikalisiert und herausgefordert, der post-histoire, die eine Überlagerung oder Depo tenzierung der »menschlichen« Geschichte durch die Naturgeschichte zeitigt. Hierbei zeigt sich, dass die Naturgeschichte erst von der »menschlichen« Geschichte her zu einer solchen wird, aber auch gleichsam umgekehrt, erstere eröffnet überhaupt die Dimension der post-historie. – In der Figur des Zeugen kreuzen sich Macht und Ohnmacht auf denkbar intrikate Weise: jegliches Zeugnis basiert auf einer Entscheidung des Zeugen (nicht erst die Gegenstände und Bedeutungen seines Zeugnisses, sondern überhaupt das Zeugnisgeben betreffend), zugleich war eine gewisse Passivität ja Bedingung der Möglichkeit für den Status des Zeugen, auch dem eigenen Zeugnis gegenüber, das er gewissermaßen als eine Gabe erhält bzw. weiterzugeben hat. Die Performativität des Zeugnisses wendet sich also von einer nicht strikt von ihm selbst vollzogenen (da in einem Ausnahmezustand wurzelnden oder latenten) Entscheidung her gegen sich selbst. Somit kann vom Zeugen als der Figur des Dritten »am allerwenigsten« gesagt werden, dass er/sie neutral sei (46), und zwar auch die politisch-anthropologische Ambivalenz des Menschen betreffend.
Te x tualität des Z eugnisses Wie werden diese Komplexe auf der textuellen Ebene des refigurierten Zeugnisses inszeniert? Im Modus »eines synoptischen, künstlichen Blicks« zeigt sich die gewissermaßen autoimmunitäre Performativität des Zeugnisses an einem Zitierungsgeflecht, das sich auf die Gegenwart der textuellen Wahrnehmung richtet
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bzw. diese verdoppelt. Die Reinskription der testimonialen Spur erfolgt in einem genuinen, d.h. textuell erzeugten oder wiederholten dialektischen Bild. Sebald zitiert und kommentiert eine Stelle aus Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt, in einer Weise, die sowohl auf einer visuellen Inszenierungsebene als auch auf einer abstrakteren Bedeutungsebene verfährt. Dieses Ineinander verwandelt seine Verfahrensweise aus einem metatextuellen (kommentierenden) in einen hypertextuellen Zitationsmodus.59 Der ganze Abschnitt wird wiederum mit einem Zitat, mit dem Bild des Engels der Geschichte von Benjamin (Über den Begriff der Geschichte), abgeschlossen. Was geschieht in dieser Passage? Das Zitat aus Kluges Text: »(Die Sonne ›lastet‹ über der Stadt, da ja kaum Schatten ist.) Über den zugeschütteten Grundstücken und den durch die Trümmerwelt verwischten Straßenzügen ziehen sich nach einigen Tagen Trampelpfade, die auf legere Weise an frühere Wegverbindungen anknüpfen. Auffällig ist die Stille, die über der Trümmerstätte herrscht. Die Ereignislosigkeit trügt insofern, als in den Kellern Brände noch leben, die sich von Kohlenkeller zu Kohlenkeller unterirdisch dahinziehen. Viel Krabbelgetier. Einige Zonen der Stadt stinken. Es sind Leichensucher-Gruppen tätig. Ein strenger, ›stiller‹ Geruch nach Verbranntem liegt über der Stadt, der nach einigen Tagen ›vertraut‹ empfunden wird.« Sebalds Kommentar: »Kluge blickt hier im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn von einer übergeordneten Warte hinab auf das Feld der Zerstörung. Die ironische Verwunderung, mit der er die Tatsachen registriert, erlaubt ihm die Einhaltung der für jede Erkenntnis unabdingbaren Distanz. Und doch rührt sich sogar in ihm, diesem aufgeklärtesten aller Schriftsteller, der Verdacht, daß wir aus dem von uns angerichteten Unglück nichts zu lernen vermögen, sondern, unbelehrbar, immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf legere Weise an die alten Wegverbindungen anknüpfen.« (73)60 Die Reiteration des zentralen Bildes von Kluge bei Sebald baut »im wörtlichen Sinn« die »Distanz« ab, die nicht nur für die Beobachtung des Feldes der Zerstörung, ferner für die »Erkenntnis« »unabdingbar« ist, sondern auch für eine metasprachliche bzw. metatextuelle Operation der Zitierung. Sebald schreibt seine Beobachterposition in die Spuren selber ein, jene bewegt sich in diesen, sie kann diese nicht »von einer übergeordneten Warte« aus betrachten und beschreiben – sondern nur zitieren (»immer nur fortmachen auf Trampelpfaden, die auf legere Weise an 59 | Ihr Unterschied zeigt die Differenz zwischen modernen und postmodernen Zita tionsweisen an, vgl. hierzu Zoltán Kulcsár-Szabó, Intertextualitás: Létmód és/vagy funkció? [Intertextualität: Seinsweise und/oder Funktion?], in: ders., Hagyomány és kontextus [Überlieferung und Kontext], Budapest 1998. Vielleicht ließe sich dieser Unterschied auch mit der Benjamin’schen Differenz von »Kritik« und »Kommentar« beschreiben. Zur Thematisierung des Zitationellen im essayistischen Werk (hier »über die Bilder Jan Peter Tripps«, »über das in einen Text (oder in ein Bild) einmontierte Zitat«) von Sebald vgl. Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, München/Wien 1998, 184. 60 | Vgl. ein nicht unähnliches Bild aus dem soeben erwähnten Kapitel von Musil: »Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener ›Weg der Geschichte‹, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist.« Der Mann ohne Eigenschaften I, 360.
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die alten Wegverbindungen anknüpfen«). D.h. der Zitierende selbst ist in die Zitate verwickelt, diesen ausgeliefert und bezieht sich nicht einfach metareflexiv auf sie oder bringt sie als Autorität an (da diese Operation immer noch das »Lernen« aus der Geschichte voraussetzen würde).61 Sebald macht hier wortwörtlich auf den textuellen Pfaden von Kluge weiter, in einer hypertextuellen Weise, also führt die Zitierung auf performative Weise aus, wovon sie spricht. Zugleich wird das Bild allegorisiert, dem Geiste Benjamins getreu, transponiert auf die Ebene der Verstehbarkeit von Geschichte. Dieser zitationell-hypertextuelle sowie allegorische Modus führt über etwa kinematographische Repräsentationsmodi hinaus.62 Die Reste der Stadt, die »Trümmerwelt« werden gewissermaßen zur Natur, in der durch die »Trampelpfade« eine sekundäre Kulturalisierung vorgenommen oder praktiziert wird.63 Die »früheren Wegverbindungen« sind nur noch latent da, über ihrer Latenz, an einer substanzlosen Oberfläche »ziehen sich« die Trampelpfade »auf legere Weise«. Und zwar nicht in einer ursprünglichen Natur, sondern in den zur Natur gewordenen Trümmern des Kulturellen bzw. Geschichtlichen, im Endeffekt jener »Gestalt«, die die politisch-anthropologische Existenz des Menschen artikuliert hätte – und wo auch die Zeit der Zerstörung als eine Latenz erst an der Natur abgelesen werden kann.64 Diese Spuren bilden die Chiffre als Index der Naturgeschichte aus, wo diese selbst als die Figur eines Überrests zur Chiffre der Nachträglichkeit wird.65 Die Nachträglichkeit impliziert verschiedene textuellmediale Supplemente, die auf eine Latenz (also nicht etwa auf einen Ursprung) hinweisen, die durchaus auch aus der Zukunft kommt (vgl. mit dem »potentiellen« Experiment als Trauma aus der Zukunft). Die Folgerung liegt nahe: angesichts dieser Naturwerdung des Geschichtlichen kann man aus der Geschichte nicht lernen, zumindest nicht im Sinne einer »autonomen Geschichte« (72) des Menschen (sondern nur jene zur Chiffreschrift gewordenen Konventionen lesen, 61 | Vgl. hierzu eine Formulierung von Gadamer aus einem anderen Kontext: »Man ist ja immer schon auf der Spur und befindet sich nie in dem Abstand, in dem die unabsehbare Zeichenwelt ausgebreitet vor einem liegt.« Hermeneutik auf der Spur, 1994, in: Hans-Georg Gadamer, Gesammelte Werke 10, Tübingen 1995, 163. 62 | Wie oben angeführt, identifiziert Presner im Text von Sebald auf weiten Strecken einen kinematographischen Code. Zur Differenz von Kluges (pseudo-)dokumentarischer Praxis und der Textmedialität der Bilder bei Sebald vgl. die erhellende Beschreibung von Alexandra Tischel: Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W.G. Sebalds Austerlitz, in: Michael Niehaus/Claudia Öhlschläger (Hg.), W.G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, 40-42. 63 | Ähnliche Beschreibungen vgl. bei Nossack, Der Untergang, 57, und bei Heinrich Böll, Der Engel schwieg, Köln 1992, 56-57. 64 | »Man konnte das Datum der Zerstörung an der Bewachsung der Trümmer feststellen: es war eine botanische Frage.« Böll, Der Engel schwieg, 92. 65 | Es ist zumindest fragwürdig, Sebald dabei eine »Metaphysik der Natur« zuzuschreiben und diese gegen Geschichte und Politik auszuspielen, wie das Huyssen tut (On Rewritings and New Beginnings, 150-152), der etwa die Intertextualität bei Sebald nicht ausreichend reflektiert. Zur Differenzierung in dieser Frage und distanzierend zu Huyssen vgl. Simon Ward: Ruins and Poetics in the Works of W.G. Sebald, in: Long/Whitehead (Hg.), W.G. Sebald – A Critical Companion, 65-68. Ward versucht, die Kluge-Benjamin-Konstellation bei Sebald dementsprechend auch ernst zu nehmen (soweit ich sehe, als einziger in der Fachliteratur).
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die auch das Menschliche zu bestimmen wähnten). Dadurch wird das »Menschliche« als solches selbst bezweifelt, das auf eine autonome Weise etwa »böse« sein soll. Denn es könnte sein, dass die Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, d.h. dadurch sich selbst in der jeweiligen »Gegenwart« (da gerade diese Gegenwart die Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte kappt) erfassen zu können, in einer Verschränkung mit der Intention, die zum »Bösen« führt, existiert.66 Die Latenz der angeblich menschlichen Geschichte, also die Naturgeschichte, drängt jegliche zeitlich-historische Gegenwart in eine radikale Nachträglichkeit, die zugleich den Bruch zwischen dem Allgemeinen und der Ausnahme einführt, welcher Bruch vom Zeugnis manifestiert oder bezeugt wird. Geschichte als Naturgeschichte hinterlässt Chiffren, die sich einem distanzierten Blick entziehen, für ihn nicht deutbar sind, ihn vielmehr als ein »déjà-vu« heimsuchen. Das »déjà-vu« bedeutet hier grundlegend eine Bewegung, eine nichtbeherrschbare Transposition, die die bei Kluge noch anwesende metasprachliche Perspektive auflöst, indem auf das von ihm beschriebene Bild ein anderes zitiertes Bild inskribiert oder kopiert und damit das vorige Bild dereferentialisiert wird. Deshalb kann Sebald im Anschluss an seine allegorische Zitierung von Kluges Zeilen das eminent allegorische Bild des Engels der Geschichte von Benjamin anführen: »Kluges Blick auf seine zerstörte Heimatstadt ist darum, aller intellektuellen Unentwegtheit zum Trotz, auch der entsetzenstarre des Engels der Geschichte …« (73) Das Benjamin-Zitat kommt hinter der Beschreibung von Kluge als ein Infratext zum Vorschein, Sebalds Zeuge »sieht« das Bild bei Kluge buchstäblich auf diaphane bzw. synoptische Weise67 von einem (anderen) Text her (wie in einem déjà-vu, wo der aktuelle Anblick vor einem anderen Bild verschwimmt). Für das Bild bei Kluge übernimmt ein anderer Text die Verantwortung, jenes wird von diesem beglaubigt,68 zugleich modifiziert (indem der Beobachter der Ruinenlandschaft von seiner »übergeordnete[n] Warte« vom »Sturm« des »Fortschritts« fortgezogen wird, eine radikale Kinetographisierung). D.h. die Chiffren sind nicht einfach da für einen distanzierten epistemologischen Blick, vielmehr entstehen sie gewissermaßen in diesem selber, in seinem Lesen. Der melancholische Blick selbst – impliziert durch den Bruch im Zeugnis – ist zitationeller Natur, nicht einfach das Gesehene oder Gelesene.69 Das somit erzeugte textuelle Bild vollzieht eine Verrückung der Beob66 | Vgl. Koselleck über Hitler: Über die Verfügbarkeit der Geschichte, 274-275. 67 | Dem ging im Essay die Textstelle voraus, die diese Diaphanität (das Bild als Moment des Durchscheinenden) gerade als Modus der Traumatisierung des autobiografischen Zeugen charakterisierte. In einer Festschrift über die Geschichte eines deutschen Provinzstädtchens, die 1963 erschien, ist zu lesen: »Viel hat uns der Krieg genommen, doch uns blieb, unberührt und blühend wie eh und je, unsere herrliche Heimatlandschaft.« Die (Ewigkeit der) Natur scheint also die Zerstörung der Geschichte zu kompensieren. Sebald kommentiert: »Lese ich diesen Satz, so verschwimmen vor meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flußauen und Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein Heimatgefühl in mir heraufrufen« (78). 68 | Es erfährt sowohl Treue als Verrat. Zu dieser Verdopplung des melancholischen Blicks vgl. Bettine Menke, Das Trauerspiel-Buch, Bielefeld 2010, 150-159. 69 | So kann man vom genuinen Blick des melancholischen Allegorikers sprechen, zu Benjamin vgl. diesbezüglich wiederum Menke: ebd., 132-149.
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achterposition (wohlgemerkt: von einem anderen Bild, einem textuellen Bild her), der Gegenwart selbst. Also hinterlässt die dereferentialisierende, eine Unlesbarkeit bewirkende, aus einer Latenz kommende Bewegung des »déjà-vu« die Chiffre als ihre eigene Spur. Der Effekt des »Verschwimmens« oder »Verschmelzens« stellt gleichsam ein (an-)ikonisches Korrelat der Nicht-Feststellbarkeit der historisch-naturgeschichtlichen Kreuzung dar. Dadurch wird die Chiffre zu einem Zeugnis, aber auch umgekehrt, das Zeugnis selber zu einer – »öffentlich lesbaren« – Chiffre.70 D.h., diese überantwortet sich dem Lesen, dem bezeugenden Lesen. Das Zeugnis als Chiffre einer Ausnahme, einer Singularität gründet auf einem Nichts, auf einem Fehlen der Norm (wo diese, die Konvention, zu einer Chiffreschrift wird), und somit hat es mit einer Chiffre zu tun, es selbst ist aber auch eine Chiffre (performativ gewendet: erst infolge der Zeugenschaft verwandelt sich das Bezeugte in eine Chiffre).71 Also hat das Zeugnis ein Fehlen zu bezeugen, zugleich wird es von einem Fehlen in sich selbst heimgesucht. Dieses Fehlen könnte semiologisch die unscheinbare, unmögliche Differenz zwischen Signifikat und Referent, temporal: eine Kreuzung des Zeitlichen und des Nicht-Historischen, der historischen Gegenwart und ihrer naturgeschichtlichen Latenz darstellen. Zeugnis gibt es nicht als solches, nur Zeugenschaftseffekte – was also ein Zeugnis ist, ist nie von vornherein gegeben oder entschieden, sondern immer nur für jemanden, für eine andere Instanz (daher ist das Zeugnis strukturell öffentlich). Somit ist das Lesen des Anderen die Chance des Zeugnisses, analog zur autobiographischen Affiziertheit des Zeugen in ihrer Differenz zu kollektiven Erfahrungen. Das Zeugnis als Lesbarkeitsfigur der Chiffre ist nicht als solches gegeben, etwa von einer Norm her (vielmehr von deren Unlesbarkeit her), sondern es wird erst durch ein Lektüre- oder Zitierungsereignis zu einem solchen. Die Chiffre zeitigt also eine Spur mit bezeugender Kraft, in ihr sind jedoch Referent und Signifikat nicht problemlos zu unterscheiden, also einerseits die Zerstörung, die Trümmer, andererseits die Ruinen, die auf ein früheres Ganzes verweisen möchten (und die eine Monumentalisierung erfahren können). Die problematische Unterscheidung zwischen »Trümmer« oder »Natur« und »Ruine« oder »Geschichte« entspricht also der Trennung von Referent und Signifikat, die zu einem genuinen Problem des Lesens wird. So ist das (nicht einfach empirisch, vielmehr qualitativ verstandene) Fehlen der Zeugnisse sowohl der Referent als auch das Signifikat der »sekundären« Bezeugung von Sebald. Seine Geschichtsauslegung mithilfe auch von Benjamin könnte dann der Seite des Signifikats zugerechnet werden, allerdings führt Sebald sein Geschichtskonzept wie oben gesehen nicht auf eine metatextuell-reflexive Weise aus, sondern in einem Zitierungsvorgang von textuellen Referenzen. Dadurch schreibt sich seine »Interpretation« dem textuellen Tatbestand ein (er schreibt an diesem weiter), sie verleiht diesem nicht einfach eine »Bedeutung«. Der bezeichnend-signifikative Status des Bildes selbst wird fraglich, 70 | »Chiffre« wird bei Sebald als Synonym zu »Spur« erwähnt, vgl. Luftkrieg und Literatur, 12. Zur häufigen Verwendung von »Chiffre« in den Essays von Sebald vgl. folgende Textstellen: Die Beschreibung des Unglücks, 31, 71, 88, 130, 139, 167. u. Unheimliche Heimat, 39, 66, 96 u. Campo Santo, 140. 71 | Sebald geht es darum, dass infolge der bricolage »das Bild in ein Rätsel sich verwandelt«, wobei es in eine »Chiffrierung der Wirklichkeit, auch der sprachlichen« führt, vgl. Die Beschreibung des Unglücks, 139.
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insofern das Bild dereferentialisiert und desemantisiert wird. Im hypertextuellen Komplex sind Bild, Zitate (Texte) und Bedeutung voneinander nicht zu trennen aus der Sicht einer metatextuellen oder gar metasprachlichen Distanz, zwischen Zitiertem und Zitierendem kann man keinen Unterschied und vor allem keine zeitliche Reihe ausmachen (das Zitierte kann sich als das Zitierende des Zitierenden erweisen). Denn die metatextuelle Perspektive ist in sprachlicher Hinsicht genau der Index für jene Souveränität, die die Zerstörung »als solche« festzuhalten bemüht ist und die naturgeschichtliche Ebene kompensiert, insofern diese humane Souveränität mithilfe der Sprache das auf jener Ebene aufkommende Animalische transzendiert.72 Gerade die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären ist in nahezu sämtlichen Anthropologien des Abendlandes der Vorzug des Menschen gegenüber dem Tier73 – in dieser textuellen Praxis ist sie aber nicht zu treffen.74 Man sieht, welche Einsätze sich in solchen scheinbar »philologischen« Textdetails – genauer: in ihrer Lektüre – verbergen. Diese Verflechtung kontaminiert auch die Souveränität des Zeugen, insofern diese u.a. in der Potenz, Signifikation und Imaginäres voneinander zu trennen und diese als (immer von einer Autorität verbürgtes) »Wissen« zu »übertragen«,75 überhaupt in der autonomen Beteuerung der Authentizität des eigenen Zeugnisses bestehen soll. Der Zeuge vermag nicht im Sinne eines Souveräns zu unterscheiden zwischen Referenz und Signifikat, Symbolischem und Imaginärem, Historischem und Nicht-Historischem, Manifestation und Latenz und dadurch den Bezug auf die Norm wiederherzustellen. Diese Unfähigkeit zur Souveränität rührt auch von der Iterabilität des Zeugnisses her, die in einen Zitierungsraum führte bzw. diesem entsprang und die gerade die vermeintliche Souveränität des Authentischen und seine Gegenwart teilte. Diese Teilung ist verantwortlich für die Delegierung der Souveränität an den Anderen, den Zeugen des Zeugen, sei dieser der andere Schriftsteller bewertende Sebald oder seine Kritiker, die ihn gerne von einer vermeintlichen Überlegenheit her beurteilen. Solche Reflexe versuchen indes, einen auch gegen die Iterabilität des Zeugnisses zu immunisieren. Im Falle von Sebald war aber zu sehen, dass er nicht einfach von einer metasprachlichen Warte her seine Kritik ausübte, sondern dass er vielmehr das Fehlen in den Zeugnissen auch nur mithilfe von Zitaten benennen, besser: bezeugen konnte. Die Singularität des Zeugnisses steht in einer Spannung mit jenem Aspekt der Sprache selbst, der den Trost des Immergleichen (der stereotypischen Formu72 | Vgl. Derrida, The Beast and the Sovereign II, 226. 73 | Vgl. Derrida, The Beast and the Sovereign I, 131 »… the distinction between the symbolic and the imaginary that in the end sustains this whole anthropocentric reinstitution of the superiority of the human order over the animal order, of the law over the living being etc.« 74 | Zu einer systematischeren sowie historisch breiter aufgefächerten Darlegung dieser Überlegungen s. den folgenden Band: Csongor Lőrincz (Hg.), Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Berlin 2013. 75 | Mit dieser irreführenden (letztlich freilich in einem technischen Rationalismus gründenden) Redeweise wird die Problematik des Zeugnisses bei Sybille Krämer traktiert, vgl. Bote, Medium, Übertragung. Dabei ist ferner darauf hinzuweisen, dass der Bote öfters Vertreter des Souveräns ist (und durch ihn der Souverän affirmiert wird) und dass der Austausch durch Boten eine Konvention darstellt, mit der die Performativität der Zeugenschaft nicht zu verwechseln wäre.
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lierungen u. dgl.) in sich trägt, d.h. ein Vergessen oder Verdrängen tätigt. Insofern dieses Funktionieren der Sprache sich als Norm(alität) darstellt, verdrängt sie sowohl das »als solche« als auch die Ausnahme selbst. Die Unmöglichkeit des Zeugnisses resultiert aus der Aporie der (referenziellen sowie konzeptuell-semantischen) Benennung der Ausnahme »als solcher«, der (souveränen) Entscheidung oder Unterscheidung zwischen Signifikat und Referenz. Denn die Singularität der Ausnahme stellt eher das »Jenseits« der Handlungen, der Geschehnisse usw. dar, die sich laut Sebald als »Wirklichkeiten« der »Beschreibung« grundsätzlich entziehen (55, vgl. noch 76). Somit bedeutet die Unmöglichkeit des Zeugnisses, dass es eine Leere oder »Absenz« (auch des ausgebliebenen Zeugnisses, ob auf der Produktions- oder auf der Rezeptionsseite) bezeugen muss und keine Singularität in ihrer vermeintlichen empirischen Positivität. Es ist wohl kein Zufall, dass sich die unmögliche Entscheidung zwischen Signifikat und Referent (Geschichte und Natur) an Figuren des Fehlens bzw. des Vergessens entzündete (Trümmer bzw. Ruinen als Tropen der Trennung von Signifikant und Signifikat). Somit handelt es sich darum, ein Fehlen in den Zeugnissen offen zu halten, weniger das vermeintlich erfüllte oder authentische Zeugnis zu feiern – ein Fehlen von Normen und Autoritäten bzw. den von ihnen fixierten Bedeutungen, das sich als Chance des Anders-Lesens ergeben kann. Denn dieses Fehlen ist keine neutrale Leere, sondern ein Echoraum oder Rauschen von Textfragmenten, eine Zitierung von ungeschriebenen, virtuellen textuellen Spuren und der Virtualisierung von faktischen Texten. Auf dieses Fehlen im Zeugnis verweisen auch die medialen Transpositionen zwischen Sehen und Sprechen, Sprechen und Schreiben, Sprechen und Schweigen, Sprechen und Zeigen zurück. So wurde das Zitat aus Kluges Text zu einer Chiffre, zu einem dialektischen Bild oder einer Zitationsfigur von aufeinanderkopierten Texten bei Sebald, das obendrein in die – auch textuell-zitationell verstandene – »vergangene Zukunft« des Bildes von Benjamins Engel der Geschichte mündete (und seine überraschende Konkretion aufzeigte). Dieser Engel der Geschichte wird bei Sebald zur Allegorie des Zeugen selbst,76 zu einer intertextuell hochgradig aufgeladenen Allegorie.77 76 | Vgl. dessen Charakterisierung durch Karin Bauer: Die Blicke von Austerlitz wie der des Engels von Benjamin schauen »with a mixture of curiosity and horror« in eine Zukunft hinein, die keine Erkenntnis des Vergangenen verspricht. The Dystopian Entwinement of Histories and Identities in W.G. Sebald’s Austerlitz, in: Denham/McCulloh (Hg.), W.G. Sebald. History – Memory – Trauma, 233. 77 | Der Engel der Geschichte wird zum Protagonisten einiger Gedichte von Heiner Müller und von Motiven organisiert, die auch in vorliegender Arbeit im Zentrum stehen, wie Naturwerdung, Rauschen, Spur: »DER GLÜCKLOSE ENGEL. Hinter ihm schwemmt Vergan-/ genheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit/Lärm wie von begrabnen Trommeln, während vor ihm sich/die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel/sprengt wie ein Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sieht/man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen die/Steinschläge vor über hinter ihm niedergehn, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung, vereinzelt, wenn sie lang-/ samer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf/dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose/Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteine-/ rung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mäch-/tiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fort-/pflanzt und seinen Flug anzeigt.« Die Gedichte. Frankfurt a.M. 1998,
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Z usammenfassung All die Aspekte, die für Sebald das Zeugnis problematisieren, sind Korrelate der Unterwanderung der »autonomen Geschichte« des Menschen. Einem solchen Geschichtsbegriff entspricht nämlich die Figur des autonomen Zeugen, der als ein Souverän über die Vergangenheit geschichtsphilosophisch, antiquarisch, einfühlend oder kritisierend Rechenschaft ablegen soll. Genau dieser Zeuge erwies sich aber als einer gewissen nicht-historischen Dimension der anthropologischen Zusammenhänge der Geschichte, ferner der Unverfügbarkeit seiner eigenen Sprache ausgeliefert, auf eine animalische oder naturgeschichtliche Stufe zurückgeworfen und somit unfähig, aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern sie überhaupt vergegenständlichend erfassen zu können. D.h., menschliche Geschichte »als solche« zu identifizieren oder zu bestimmen, sie zu trennen von der Naturgeschichte und dadurch die vorige zu immunisieren. Die Latenz der »Naturgeschichte« kann kein Gegenstand von »Erinnerungskultur« als Immunisierungsdispositiv und politischer Gemeinschaft sein, sie bleibt für diese unerreichbar.78 Die Aporie des Zeugen bestand nämlich in seiner Ausrichtung auf eine Affizierung, die aus den vorherigen Erfahrungen nicht abzuleiten und folglich aus ihnen nicht zu »lernen«, d.h. zur Begründung der Autorität des Zeugen nicht zu benutzen war. (Dies vor allem aus dem Grund, dass die natürliche Seite des Anthropologischen auch von der Geschichte, von der techné bis zu Katastrophen, geprägt wird und in diesem Sinne eine Naturgeschichte zeitigt. Andererseits durchbrechen Mutationen der Geschichte als Quasi-Naturereignisse den kulturell imprägnierten Blick des historischen Menschen und machen das Konzept des »Augenzeugen« somit doppelt problematisch.) Der Zeuge als singuläre oder exemplarische Gestalt stand somit für einen Ausnahmezustand der Geschichte, wo seine »Entscheidung« (die laut Carl Schmitt genau über diesen Ausnahmezustand entscheidet) letztlich das Zeugnisgeben selbst ist (als öffentlicher Akt), das gerade den – nicht vom Zeugnis selbst vollzogenen – Bruch zwischen dem Singulären und dem Allgemeinen, menschlicher Geschichte und Naturgeschichte manifest macht. Diese Entscheidung selbst als ein Exzess oder als Gewalt kehrt gewissermaßen aus einer Latenz jedes Mal in 53. Vgl. noch ebd., 212, 236. Bereits der Schluss von Bölls Roman Der Engel schwieg inszenierte eine nicht unähnliche Versteinerung, mit der Exposition der Körperlichkeit: »Der Engel schwieg; er ließ sich vom Gewicht der beiden Männer nach unten drücken; seine prachtvollen Locken wurden von gurgelndem Dreck umschlossen, und seine Armstümpfe schienen immer tiefer hinein in die Erde zu greifen.« 190-191. Vgl. nicht zuletzt, aufgrund eines Romans von Dieter Forte (dem zuletzt öfters diskutierten Verfasser des Luftkrieges), mit der BenjaminZitierung bei Sebald mitgelesen bei Susanne Vees-Gulani: The Language of Trauma: Dieter Forte’s Memories of the Air War, in: Laurel Cohen-Pfister/Dagmar Wienroeder-Skinner (Hg.), Victims and Perpetrators: 1933-1945. (Re)Presenting the Past in Post-Unification Culture, Berlin/New York 2006, 126-127. 78 | Insofern ließe sich eine charakteristische Formulierung von Sebald auch wörtlich nehmen: »Zum falschen Bewußtsein der Betroffenen, das wir als ihren Mythus entziffern sollen, gehört bezeichnenderweise auch die Erinnerung an überstandene Katastrophen, aus der sie keine Lehre zu ziehen vermögen, es sei denn die von unserer Kultur stets verdrängte, daß auch die nächste Katastrophe ohne jede Vorwarnung kommen wird …« Unheimliche Heimat, 153.
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der Zeugenschaft zurück (wie ein déjà-vu oder ein Gespenst) – durchaus als eine Art Trauma – und verdoppelt in ihrer Wiederholung den Blick und die Sprache des Zeugen bzw. wendet sich gegen diese. D.h. sie untergräbt die Souveränität des Zeugen oder weiterer Instanzen, die die Ohnmacht des Zeugen – d.h. hier nun: den nachträglichen, also gleichsam auch konstativen Charakter seiner Entscheidung,79 ferner seine Unfähigkeit, die gekappte »Gestalt« der politisch-anthropologischen Existenz zu restituieren – ausgleichen, seine Entscheidung normativ legitimieren sollten. Die Unterwanderung der metatextuellen Perspektive bzw. ihre Verwandlung in einen hypertextuellen Modus, die Desautorisierung von Zitaten, die Autoimmunität des Zeugnisses als Testament markierten auf der (inter-)textuellen Ebene die Unmöglichkeit, den Zeugen (oder – kompensatorisch – die Zeugen für diesen Zeugen) in eine souveräne Position zu bringen, um über Geschichte zu urteilen. Auch die kulturelle Autonomie der Literatur als Garant des autonomen Zeugen, ihre ästhetische Operativität als Effekt einer kulturellen Normierung, kann dieses Problematischwerden nicht ausgleichen, sondern nur die Irreduzibilität des Zeugnisses auf solche Normen bejahen, zugleich aber die eigene Schwäche infolge der ihm immanenten Absenz bestätigen. Da aber Absenz auch einen defensiven Mechanismus nahelegen kann und nie über ein Wissen über die diesbezügliche Entscheidbarkeit zu verfügen vermag, wird dadurch die fundamentale Ambiguität des Zeugnisses nicht aufgehoben. Das undefinierbare »Menschliche« besteht in einer unscheinbaren Verschränkung des Naturgeschichtlichen mit dem Geschichtlichen, die auch vom Zeugnis nicht bestimmt und dadurch einem Begriff, einer Norm oder einer Autorität restituiert werden kann. Das Zeugnis kann die historischen Katastrophen nur als die genannte Verschränkung und zugleich wiederum Differenz des Geschichtlichen und des Naturgeschichtlichen, des Manifesten und der Latenz bezeugen – welche Differenz sich dem Menschen als die Unverfügbarkeit seines »Wesens« einschrieb. Als Präsentation des Bruchs zwischen Singulärem und Allgemeinem, als Testamentarität des Zeugen, zeitigt das Zeugnis, seine »öffentlich lesbare Chiffre« eine Latenz, die das politische Versprechen des Zeugnisses, die Figur des Dritten als eine neutrale, ferner eine Entscheidungs- oder gar Versöhnungsinstanz (zwischen dem Menschen und seinem gespenstischen oder latenten eigenen Anderen) darzustellen, auch durchkreuzt oder sich gegen dieses wendet.
79 | Die Entscheidung des Zeugen ist von vornherein eine Entscheidung der Zeugenschaft selber (die sich dadurch auf einen noch so latenten Ausnahmezustand bezieht), also in diesem Sinne konstativ zu nennen (unterschieden von einer autonomen, potenzbehafteten »Performanz«). Zugleich kehrt ebendiese Entscheidung von vornherein und immer wieder im Zeugnis aufs Neue zurück und potenziert dessen Nachträglichkeit. Die Nachträglichkeit des Zeugnisses ist also in diesem quasi-performativen Sinne (nicht einfach zeitlich) zu denken. Das Gespenst der Entscheidung der Zeugenschaft selber (als eines Ereignisses) markiert deren Nachträglichkeit. Von diesem Komplex her könnte man das Zeugnis als eine Gabe denken (und zwar auch für den Zeugen selbst).
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10. Zeugnis, Archiv, Gewalt
Péter Esterházy: Verbesserte Ausgabe
Unmittelbar nachdem Péter Esterházy Ende 1999 seinen großen Familien- und Geschichtsroman Harmonia Caelestis beendet hatte, nahm er Einsicht in die Akten des Historischen Amtes. Er wollte hiermit im Nachhinein überprüfen, ob er seitens der Geheimpolizei während der kommunistisch-sozialistischen Diktatur beobachtet worden war. Tatsächlich stellte sich heraus, dass er selbst zwar nicht unter Beobachtung gestanden, dafür aber sein eigener Vater zwischen 1957 und 1978 mehr oder weniger regelmäßig Berichte für die Staatssicherheit verfasst und als sog. III/ III Agent gearbeitet hatte (wie noch einige Zehntausende in Ungarn, bei weitem aber nicht so viele, wie z.B. in der ehemaligen DDR). Für Péter Esterházy bedeutet diese Entdeckung den absoluten Schock, galt ihm doch sein eigener Vater, Nachfahre einer der wichtigsten aristokratischen Familien in Ungarn (mit zahlreichen europäischen Verwandtschaften) als der beispielhafte »freie Verlierer«,1 dessen Charakter und gesellschaftliches Verhalten zu brechen und zu korrumpieren der stalinistisch-kommunistischen Diktatur nicht gelungen war. Die Lektüre und das Abschreiben gewisser Teile der drei Dossiers von Berichten wird auch als Tagebuch gestaltet, öfters vermittelt mit dem historischen Hintergrund der Zeit, in der die Spitzeltätigkeit des Vaters stattfand, und mit Reflexionen moralischer, historischer, gesellschaftlicher und ästhetischer Art versehen.2 Der Erzähler der Verbesserten Ausgabe3 – der mit dem Autor identisch sein soll – gerät in eine ethische Krise, in 1 | Péter Esterházy, Verbesserte Ausgabe (Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki), Berlin 2003, 20. Die Seitenzahlen aus diesem Text werden fortan im Text mit der Sigle VA und Seitenzahl angegeben. 2 | Zur textuellen Beschaffenheit und gattungspoetischen Lesart der VA vgl. István Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága. Mediális játékterek az önéletírásban [Die Unabschließbarkeit der Interpretation. Mediale Spielräume im autobiografischen Schreiben], in: Gábor Bednanics/Zoltán Kékesi/Ernő Kulcsár-Szabó (Hg.), Identitás és kulturális idegenség [Identität und kulturelle Fremdheit], Budapest 2003, 389-402. Ferner vgl. die Rezensionen von János Bányai und Anna Menyhért in der Zeitschrift »Holmi« 2003/3: Derű vigasz nélkül [Heiterkeit ohne Trost], 255-259; Trafik, 260-266. Auf Deutsch vgl. den Lexikonartikel von Péter Szirák im neuen Kindlers-Literaturlexikon (www.kll-online.de). 3 | Dieser Text ist anlässlich der Konfrontation mit der Geschichte seines Vaters entstanden und trägt den Untertitel: »Anlage zu Harmonia caelestis«, vgl. Javított kiadás – melléklet a
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Zeugnisgaben der Literatur
eine moralische Unsicherheit, und versucht verzweifelt, mit diesem desorientierenden Schock zurande zu kommen. Er nimmt letztlich die Rolle des Zeugen auf sich, der Äußerungen, Verhaltensweisen des Vaters, bestimmte familiäre Szenen usw., die in den Berichten erwähnt bzw. in ihrem Stil widergespiegelt werden, aber auch andere, beglaubigt. Von der Handschrift bis zu Stimme und Ausdrucksweisen des Vaters, die er öfters zu hören meint, werden eine Reihe von vertrauten (hier vor allem: sprachlich-kommunikativen) Zügen des Vaters gegenwärtig (wenn auch auf quasi-halluzinatorische Art, als »déjà-vu«), die aber auf krasse Weise konterkariert werden vom unpersönlichen, politisch und machttechnologisch codierten Vokabular bzw. diskursiven Muster der Berichte. Die Kreuzung des persönlich-idiomatischen mit dem bürokratisch-aktenführenden Diskurs, mit der Gewalt des Archivs also, erzeugt den Effekt des Unheimlichen und führt (nach einer maschinellen Logik) zu einer Desubjektivierung des Persönlich-Individuellen.4 Dieser Verschränkung entspricht die Doppelstellung des Erzählers als Kopist und Zeuge, die zu einer gewissen performativen Ambiguität führt. Das schreibende und abschreibende Subjekt Esterházys ist zugleich Handelnder und Zeuge als Dritter in derselben Subjektposition. D.h. Subjekt und Objekt zugleich: »Ich habe mich beobachtet, wie man ein Tier beobachtet: Wie ich mich in dieser Situation verhalten werde, was ich mache und was mit mir gemacht wird.« (15) Es handelt sich gleichsam um ein Experiment, in dem auch der »Menschen«-Status des Zeugensubjekts aufs Spiel gesetzt wird. Wer beobachtet nun wen in diesem Experiment? Der Schreibende den Abschreibenden, der Handelnde den Zeugen, die Fiktion das Zeugnis oder umgekehrt? (Die experimentelle Seinsweise bedeutet möglicherweise diesen unverfügbaren Chiasmus, weniger eine intentionale Tätigkeit.) Diese Fragen stehen der Lektüre der Verbesserten Ausgabe bevor. Zur menschlichen und ethischen Enttäuschung, zur traumatischen Relation des Persönlichen und Unpersönlichen gesellt sich eine eigentümliche literarische Kontaminierung: Die Hauptfigur in Harmonia Caelestis5 ist nämlich der Vater selbst (wobei diese Figur sich im Roman auch signifikant auflöst bzw. vervielfältigt), und nun steht er in einem äußerst befremdlichen Licht da, das den gesamten Text des Romans imprägniert, gleichsam an ihm parasitiert. Die Verbesserte Ausgabe stellt somit eine quasi-philologische Fiktion auf, die gewissermaßen den Roman berichtigt oder eine bestimmte referenzielle Emendation an diesem vornimmt. Der (nachträgliche) Verlust der moralischen Integrität des Vaters schlägt sich auch auf der textuellen Ebene nieder, im Verlust der semantischen Unschuld des Romans (und der Verfügungsgewalt des Autors über diesen, wie freilich schon über die AkHarmonia caelestis-hez, Budapest 2002 – Zitate aus dem Original im Folgenden mit der Sigle JK und Seitenzahl. (Der Untertitel fehlt in der deutschen Übersetzung von Hans Skirecki. 4 | »Wahrscheinlich ist es aus Selbstverteidigung, aber ich kann diesen Menschen immer weniger als meinen Vater ansehen. […] in mir beginnen, ich spüre es, diese Spitzelmaschine und mein Vater auseinanderzugehen. Meine Hand spricht: ich sehe, daß sie immer weniger gern ›mein Vater‹ hinschreibt, sondern lieber: ›der Agent‹. Wie Herz und Seele (+Stilgefühl) schlau vorgehen, um alles zu überleben. […] Die Verachtung spüre ich auch. Aber meine Gefühle schrumpfen. Das Persönliche meines Vaters schrumpft …« (VA, 203-204, vgl. noch den »Menschen« als einen »Fall«, in Bezug auf Sascha Anderson vgl. ebd., 176, 262.) 5 | Péter Esterházy, Harmonia Caelestis (aus dem Ungarischen von Terézia Mora), Berlin 2001, im Folgenden mit der Sigle HC.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
ten). All das geschieht während des Lesens und partiellen Abschreibens der Akten und Berichte von »Csanádi« (so der Deckname des Vaters als Agenten), zusammen mit einer Reihe von Befindlichkeitsmitteilungen, Reflexionen, empirischen Szenenbeschreibungen aus dem lebensgeschichtlichen Umfeld des Erzählers und Autors Péter Esterházy. Die Philologie des Archivs geht mit der Philologie des eigenen Textes einher, die Auswirkungen der archivarischen Gewalt der Akten der Staatssicherheit sind sowohl lebensweltlich-empirischer als auch textueller Natur. Dieser doppelte Effekt spiegelt gleichsam auch die doppelte – sprachliche wie referenzielle und ethische – Gewalt der ursprünglichen Berichterstattung wider. Die Gewalt des Archivs zeigt sich hier auf eine markante Weise, sowohl auf der referenziellen als auch auf der textuellen Ebene, in einer Vorzeitigkeit wie in der Nachträglichkeit. Die deskriptive Beschreibung dieser Umstände, Machtdispositive und Praktiken (und ihrer institutionellen Hintergründe) würde dennoch nicht ausreichen, denn die Konstellationen in diesem mehrfachen Textarchiv sind etwas zu kompliziert, um daraus einmal mehr das schon zur Genüge bekannte Prinzip des archivarischen Apriori ableiten zu können. Es ist nämlich nicht restlos zu entscheiden, »was« eigentlich die VA archiviert: Die Akten des Vaters, die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der damaligen Epoche (die mit dieser Art von geheimer Tätigkeit zusammenhängen) oder eine bestimmte textuelle Anomalie der HC? Ist die VA ein Archiv oder ist sie der philologische Kommentar zum Archiv im Historischen Amt oder aber zur HC? Welche Rolle übernimmt der Erzähler und Autor der VA in Bezug auf dieses Verhalten seines Vaters, mehr noch: auf sein lebenslanges Schweigen über die Tatsache der geheimen Berichterstattung? Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass die archivarische Tätigkeit weitgehend von einer ethischen Problematik – des Geständnisses, der Beichte usw. – eingefärbt und beeinflusst wird, dass man es hier mit genuinen »Archiven des Geständnisses« zu tun hat,6 auch wenn diese Geständnisse gelegentlich nur als merklicher Mangel vorhanden sind. Die VA legt gewissermaßen Zeugnis anstelle des ausgebliebenen Zeugnisses ab, sie nimmt die doppelte (sowohl auf die Sünden als auch auf die das ausgebliebene Zeugnis zielende) Herausforderung an – ihr zweites, supplementäres Zeugnis richtet sich auf ein Fehlen, die Frage aufwerfend, inwieweit denn sie gegen oder für den falschen Zeugen (den Vater) zeugt, als Anklage oder als Freispruch. Dementsprechend thematisiert das Buch intensiv die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Vergebung. Ferner spielt noch der literarische Text (HC) in den archivarischen Sachverhalt hinein, was hier aber nicht einfach figural und poetologisch zu verstehen ist, sondern gewissermaßen als eine Instanz fungieren kann, die dem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen imstande sein könnte, über die krude Tatsache der Berichterstattung hinaus. Das alles wirft jedoch nicht nur das Dilemma der ethischen Verantwortung des Vaters, die Frage seiner falschen Zeugenschaft auf, sondern verfremdet das Autorsubjekt des HC von sich selbst (von der eigenen Intentionalität) und machen es zum falschen Zeugen: »Édesapám, mein lieber Vater: ein in Wahrheit unübersetzbares Wort. Wie oft habe ich dieses schöne Wort im Laufe von fast zehn Jahren geschrieben! Und jedes einzelne Mal wie das geheime Bekenntnis eines Sohnes.« (VA, 280) Das Schweigen des Vaters verdeckt ein Geheimnis, in der Sprache des Sohnes besitzt das »Mein Vater« nicht nur einen 6 | Vgl. Jacques Derrida, Das Schreibmaschinenband, Limited Ink III, in: ders., Maschinen Papier, Wien 2006, 35.
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Gebrauchs- (use), sondern auch einen Erwähnungswert (mention), das bleibt aber »geheim«, der performative Aspekt des Geständnisses selbst bleibt also verdeckt. Es kann aber durchaus sein, dass das erst nachträglich hervorkommt, die Veränderung der eigenen Worte zum falschen Zeugnis (vom Meineid des Angesprochenen oder Benannten her) lässt deren Geständnischarakter als ein nun durchgestrichenes Performativ zum Vorschein kommen. Eine Art Rauschen als »Geheimnis« schreibt sich also dem früheren eigenen »Geständnis« ein und beinträchtigt dessen Glaubwürdigkeit. Auch aus diesem Grund versucht die VA – neben dem Lesen (Abschreiben) des Archivs der Staatssicherheit – die Lesbarkeit von HC auf supplementäre Weise wiederherzustellen. Die Kreuzungen zwischen HC und VA, zwischen Trope und Referenz, Fiktion und Faktualität sind zu vielfältig, um noch zuverlässig eine Grenze zwischen ihnen etablieren zu können. Überhaupt scheint hier die Archivierung gewisser Tatbestände noch nicht viel zu bedeuten (manchmal bedeutet sie in der Tat so gut wie gar nichts, wie der Erzähler beim Lesen der Berichte ebenso erfährt, wie es die Auftraggeber von Csanádi vermerkt haben), vielmehr ist ihre Wertung und Codierung bzw. ihre Interpretation ausschlaggebend und das Machtdispositiv der Archivierung richtet sich auch auf die Determinierung (und natürlich Konstituierung) der referenziellen und semantischen Zusammenhänge in den Berichten. Die Gewalt des Archivs ist in diesem Sinne die Verfügungsgewalt der bzw. über die Interpretation, eine Praktik der Interpretation von einem bestimmten Code her – ein Aspekt dessen, was Derrida »Konsignation« genannt hat.7 Die Gewalt des Archivs besteht in der gewaltsamen Codierung, die nicht einfach über die Akten und Daten, sondern auch über deren Interpretation verfügen will.8 Im Folgenden wird versucht, den referenziell-textuell-performativen Knoten in diesem mehrfachen Archiv of7 | Vgl. Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben, Berlin 1997, 13. Vgl. noch aus einem anderen Kontext Angela Keppler/Thomas Luckmann, Beredtes Schweigen. Kommunikative Formen familiärer Geheimnisse, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, 220. 8 | Diese Herrschaft des Codes im Archiv, des archivarischen Codes, ist dasjenige Dispositiv, das aus »Unordnung« erst »Ordnung« herstellt (vgl. Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung, Berlin 2002). In dieser Hinsicht ist aber der zur paradigmatischen Differenz ernannte Unterschied zwischen »Statistik« und »Narration« (vgl. wiederum Wolfgang Ernst, Das Archiv als Gedächtnisort, in: Knut Ebeling/Stephan Günzel [Hg.], Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, Berlin 2009, 188-189) eher formal: ob über einer »Datenmenge« (ebd., 195) oder einem Geschehenszusammenhang (schon diese beiden sind alles andere als austauschbar) mithilfe eines narrativen oder eines Erfassungscodes verfügt wird, ist wohl von sekundärer Bedeutung – wichtig ist die Herrschaft oder Gewalt des Codes (dass das Archiv definitionsmäßig als »kodierter Speicher« anzusehen ist, wird von Ernst ja seinen Überlegungen zugrunde gelegt, ebd., 184). So kann man konsequent sagen: Was » mit dem Archiv geschaffen wird, sind nicht Zitate, sondern Zitierbarkeit« (Knut Ebeling, Das Gesetz des Archivs, in: ders./Günzel (Hg.), Archivologie, 85), freilich nicht im Benjamin’schen Sinne, und auch nicht allgemein, sondern durch das Dispositiv der Codierung, müsste man hinzufügen (so stellt Ebeling zwei Seiten später auch fest: »Was hier aufgezeichnet wurde […] waren weniger Namen auf einer Liste, sondern das Gesetz, das die Aufzeichnung der Namen überhaupt erst dekretierte: also eher eine Codierung als eine Repräsentation.« Ebd., 87).
Zeugnis, Archiv, Gewalt
fenzulegen, wobei die Analyse sich niemals gänzlich auf den Text der VA verlassen kann, scheint diese Komplexität doch gerade diesen zu überfordern und zu mehreren Inkonsistenzen zu führen. Es ist paradox, aber es scheint so, als ob die VA den von ihr aufgedeckten intertextuellen und interarchivarischen Zusammenhängen oft nicht gewachsen wäre. Bevor aber diese Probleme angegangen werden, sollen die Techniken der Berichterstattung, die die innenpolitische Staatssicherheit prägten, grob skizziert werden. Deren Art von Archivierung ist mit Foucault der Ordnung (Verwaltung) bzw. Disziplinierung und nicht dem (öffentlichen) Recht zuzuordnen. Diese Archive waren nämlich Medien und Funktionen des Überwachens – und ggf. des Strafens. Dadurch emblematisieren sie auf besonders markante Weise das moderne gouvernementale Auseinandergehen der Dispositive des Rechts und der Verwaltung und eine (asymmetrische) Internalisierung der Machtverhältnisse in der Gesell-
In dieser Hinsicht trennt sich das Archiv durch eine fundamentale Differenz vom Literarischen, dessen Interesse nicht einfach in einer kulturtechnischen und institutierenden Bearbeitung der Unordnung zwecks Ordnung besteht, sondern einen Präsentations- und Mitteilungsanspruch zeitigt (vgl. etwa den Begriff des »Ausdrucks«, der gerade für die unpersönliche Poetologie eines Gottfried Benn wichtig war), der nicht in einem Codierungsdispositiv aufgeht, ein solches vielmehr subvertiert. Zur Thematisierung der (öfters nicht archivierten) Geschichte und Archiv: Reinhart Koselleck hat oftmals deutlich gemacht, dass eine hermeneutisch gesinnte Historik nie einfach von Quellen (oder medientheoretisch gesprochen: von »Daten«) ausgehen kann, diese werden erst in der Interpretation zu Quellen im Sinne von Zeugnis. »Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch bin ich genötigt, Aussagen zu riskieren. […] Jede Quelle, genauer jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber. Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt. Sonst wäre jede klar fließende Quelle selber schon die Geschichte, um deren Erkenntnis es uns geht« (Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 204-205) Daher sind die Quellen einerseits auch zukünftig, stellen also Versprechen dar – Derrida hat das Archiv bekanntlich mit dem Versprechen und der Zukunft in Verbindung gebracht (Dem Archiv verschrieben, 57, 60, 65). Andererseits ist die Archivierung nie ganz zum ontologischen Ersten Beweger zu verklären (was im ansonsten vorzüglichen Buch von Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, passiert, aus einer rechtswissenschaftlichen Sicht gewiss auf legitime Weise), eignet ihr doch eine konstitutive Nachträglichkeit und Lückenhaftigkeit (vgl. dazu Ernst, Das Archiv als Gedächtnisort, 198-199). Die Frage stellt sich, wie denn die Vorgängigkeit und die Nachträglichkeit des Archivs zusammen zu denken seien (beide Momente werden jeweils von verschiedenen AutorInnen stark gemacht). Auch auf diese Frage bieten vor allem die Arbeiten von Derrida Antworten: im vorliegenden Zusammenhang könnte eine solche Antwort darin bestehen, darauf hinzuweisen, dass der dem Archiv intrinsischen Gewalt ein Exzess innewohnt, infolgedessen archivierendes und archiviertes Ereignis nicht zusammenfallen können (vgl. Derrida, Das Schreibmaschinenband, 83), eine Gewalt, die sich selbst auch destruiert, und gewissermaßen sowohl vor dem Archiv als auch nach ihm wirksam ist.
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schaft als politische Technologie.9 Das Codesystem der gouvernementalen Macht bestimmt die Berichte bereits in ihrer Konstitution: in ihrer Sprachlichkeit, Logik, Denkweise und Perspektive bzw. in ihrem Informationsgehalt.10 Die Informationen dienten vordergründig der Verifizierung der Überzeugungen und Meinungen innerhalb der Institution. Die primäre, via sprachlicher und inszenatorischer Gewalt erzwungene und aufrechterhaltene Referenz der Berichte ist so letztlich die Institution selbst: Die Gespräche zwischen dem Berichterstatter und seinen Bekannten, die dann als Bericht fixiert wurden, sind in dieser zweiten Form bereits »Teil eines anderen Diskurses, Abdrücke der Kommunikation zwischen dem Agent des Netzes und der Institution, der Organisation der Staatssicherheit.«11 Der Bericht als Text wird also zum Archiv, insofern er nicht einfach alltägliche, vertrauliche, intime usw. Konversationen wiedergibt, sondern indem er den kommunikativen und machttechnologischen Code der Institution selbst archiviert.12 In den Berichten werden Situationen, Mitteilungen, Informationen usw. der »Welt« aufs Papier gebracht, doch ist – nicht einfach das Transzendentalsignifikat, sondern – der Interpretant dieses Materials die in der auftraggebenden Institution etablierte politisch-semantische Perspektive selbst. Diese Selbstreferenz der Institution geht natürlich mit einer restlosen Politisierung des gesellschaftlich-alltäglichen Lebens einher: »die Berichte versuchten den politischen – oder der Perzeption des Staatssicherheitsdienstes entsprechend durchpolitisierten – Gehalt meistens alltäglicher Unterhaltungen zu fixieren.«13 9 | Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, Kap. III u. IV. 10 | Zum Folgenden vgl. János Rainer M., Jelentések hálójában. Antall József és az állambiztonság emberei [Im Netz der Berichte. József Antall und die Agenten der Staatssicherheit], Budapest 2008, 17. Zur Organisierung des Staatssicherheitsdienstes in der Rákosi-Ära vgl. György Gyarmati (Hg.), Államvédelem a Rákosi-korszakban. Tanulmányok és dokumentumok a politikai rendőrség második világháború utáni tevékenységéről [Staatssicherheit in der Rákosi-Ära. Studien und Dokumente über die Tätigkeit der politischen Polizei nach dem zweiten Weltkrieg], Budapest 2000. Und ders., A politika rendőrsége Magyarországon a Rákosikorszakban – Die Polizei der Politik in der Rákosi-Ära in Ungarn (ungarisch-deutsch), Pécs 2002. 11 | Rainer M., Jelentések hálójában, 17. 12 | Nach der Rekrutierung des neuen Angehörigen des Netzes (des Agenten) haben der Agent und sein Führungsoffizier »die neue Welt des Ersteren gemeinsam aufgebaut, die nunmehr nicht von Kollegen, Freunden, Bekannten bevölkert wurde, sondern von in verschiedene Klassen eingereihten potentiellen Zielpersonen. Die eigene Mikrowelt des Netzangehörigen wurde nach den begrifflichen und sprachlichen Kategorien der Staatssicherheit geordnet und erhielt neue Bedeutungen.« Ebd., 74. Zur Aufzeichnung des Gesetzes selbst im Archiv vgl. Ebeling, Das Gesetz des Archivs, und Cornelia Vismann, Arché, Archiv, Gesetzesherrschaft, in: Archivologie, 89-103. 13 | Ebd., 203. »Das grundlegende Motiv der Entstehung dieser Texte war, dass die Institution [der Staatssicherheitsdienst] wissen wollte, wie denken die beobachteten Personen über das weiteste System ihres Lebens: über das politische System, in dem sie lebten«. Hier gab es »drei Hauptprotagonisten: die Institution, die die Textentstehung beauftragt hat, die Personen in der Institution, die die Texte verfasst haben, und schließlich die Person, von der die Berichte handeln und die sie in dieser Weise konstruieren.« Ebd., 14
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Die Tätigkeit und Selbstdefinition bzw. Funktion dieser Netze waren mit dem politischen Tauwetter vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Schwankungen unterworfen, die gerade die systemische Selbstreferenz der Gewalt dieses Berichterstattungs- und Archivierungssystems unterstrichen. Im Zuge des »Paktes« zwischen Staatsmacht und Gesellschaft – ein ungeschriebener und verschwiegener Vertrag, der als Folge des Volksaufstandes von 1956 gewertet wird14 –, in der innenpolitischen Liberalisierung rückte das Organ der Staatssicherheit in eine zwiespältige Position. Es hat sich die Rolle des wahren Verteidigers der Staatsordnung angeeignet, dabei war es von sekundärer Bedeutung, »wie sich die beobachteten Personen zur sozialistischen Staatsordnung verhielten. Viel wesentlicher war es, dass man die Maschine mit der nötigen Intensität in Gang halten konnte.«15 Dies war so oder so notwendig aus der Sicht der Staatssicherheit: Wenn die Anzahl der gegnerischen Personen abnahm, so hat dies die Kraft und Legitimität des Systems bewiesen, konnte jedoch auch auf Mängel in der Effizienz der Wachsamkeit und der operativen Arbeit hindeuten. Aus der Sicht des Organs war sogar die erste, positive Perspektive nicht ungefährlich: So wie die Akzeptanz des ganzen Systems steigt, so sinkt die eigentümliche Legitimität der Staatssicherheit.16
Diese Annahme war freilich insoweit fiktiver Natur, als bis zum Ende der siebziger Jahre in Ungarn keine politische Opposition existierte. Etwa vor diesem Hintergrund sind bestimmte diskursive Phänomene und (deren) referenzielle Effekte in der VA bzw. im von ihr vermittelten Archiv zu sehen. Der Text von Esterházy präsentiert sich selbst auch als Bericht – »Dies ist kein Bekenntnis: es ist ein Bericht« (VA 30) – und etabliert somit eine Art Gesetz der Gattung in Bezug auf den eigenen Text.17 Ein (gleichsam philologischer) Bericht über die Berichte des Vaters sollte das sein, was freilich nicht ganz stimmt: Der Text von Esterházy ist – ob gewollt oder ungewollt – auch als eine Art öffentliche Beichte anstelle des ausgebliebenen Bekenntnisses des Vaters zu lesen (das ist eine mögliche Bedeutung der »verbesserten Ausgabe«, neben der Angabe des neuerlich entdeckten
14 | Das wird auch in der VA angedeutet (158-159), in Bezug auf den Essay von Péter Nádas über Sascha Anderson (auf Deutsch: Armer Sascha Anderson, in: Kursbuch 108, Juni 1992, 163-188). Zu diesem Pakt – der in den berühmten Worten von Kádár angedeutet (oder besser: diktiert) wurde: »Wer nicht gegen uns ist, ist für uns« (ein Satz, der natürlich auch eine zynische Lesart erlaubt) – vgl. Holger Fischer, Kleine Geschichte Ungarns, Frankfurt a.M. 1999, 217-218. Zur Problematisierung der Paktfigur im Zeichen einer historischen Kontingenz (die aber gewollt oder ungewollt auch eine entschuldigende Volte hat) vgl. Péter Kende, Eltékozolt forradalom? [Verschwendete Revolution?], Budapest 2006, 202-208. Zu den »langen« sechziger Jahren in Ungarn vgl. noch János Rainer M., A ›hatvanas évek‹ Magyarországon. (Politika)történeti közelítések [Die ›sechziger Jahre‹ in Ungarn. (Politik)geschichtliche Perspektiven], in: ders. (Hg.), ›Hatvanas évek‹ Magyarországon [›Sechziger Jahre‹ in Ungarn], Budapest 2004, 11-30. 15 | Rainer M., Jelentések hálójában, 68. 16 | Ebd. 17 | Das steht gleichsam im Zeichen von arché im nomologischen Sinne (als Gebot). Vgl. Derrida, Dem Archiv verschrieben, 9.
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referenziellen Hintergrundes vom Vater).18 Gerade als Überlebender zeugt er für jenen Zeugen, der aus welchem Grund auch immer über das eigene Vergehen, über den eigenen »Verrat« (ein Wort, das in der VA mehrmals vorkommt) nicht (zu) zeugen konnte oder vermochte.19 Er bezeugt das Faktum der Berichte noch vor jeglichem Inhalt und zweifelt damit die oben aus historischer und metasprachlicher Sicht angenommene pure Selbstreferenz der Beobachtungsmaschinerie an (bzw. betont diese mit einem anderen Vorzeichen), da – könnte man sagen – diese Annahme Gefahr läuft, nur die latente (institutionsgebundene bzw. rechtserhaltende), nicht aber die potentielle (referenzielle bzw. rechtsetzende) Gewalt jener Maschinerie20 in Rechnung zu stellen: Papa sieht hier so aus wie eine Marionette. Als würde er sich auf ein Gespräch nur einlassen, um diese schäbigen Berichte schreiben zu können, die nur aus wenigen Zeilen bestehen, selbst in dieser Hinsicht wertlos sind, nichtssagend. Oder klein. Nichtse. Nicht Nichtse. [Ein Bericht ist nie nichtssagend. Nie sagt er nur nichts. Auch wenn er leer ist, sagt er etwas aus. – Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren schrieb ich in der »Spionnovelle«, ohne zu wissen, daß ich zwischen den Hörnern das Euter traf: »Was im Bericht ist, ist zweitrangig. Wichtig ist das ist. Die Ist-heit …« (VA, 67) 21
Die Spionnovelle war eine der Novellen im zweiten Buch von Esterházy, Pápai vizeken ne kalózkodj! (»Lass das Kapern auf päpstlichen Gewässern!«, 1977). Und dieser 18 | Der Ausdruck »Beichte« oder »beichten« taucht in der VA des Öfteren auf, meistens auf den Vater bezogen, aber auch auf den Sohn, s. VA, 104, 247, 260, einmal kommt es zum Abschreiben einer katholischen Beichte, s. VA, 301-302. Die folgende Stelle beleuchtet diesen Zusammenhang auf ökonomische Weise, mithilfe eines Eigenzitats: »Über das Ausmaß des Verrats könnte der Verräter berichten, aber er kann nicht. Gerade über Tar und seine Novellen habe ich einmal geschrieben: Für die, die nicht reden können, muß der reden, der es kann.« (VA, 159) (Sándor Tar, ungarischer Schriftsteller, der auch über Bekannte und Freunde berichtete und, als dies sich herausstellte, Selbstmord beging.) Vgl. noch Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, 400. 19 | Menyhért spricht sogar von »Trauerarbeit«, vgl. Trafik, 262. 20 | Man erinnert sich, dass Walter Benjamin in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt gerade die Institution der modernen Polizei als Beispiel dieser »gespenstischen Vermischung« interpretierte (hier sind Latenz und Potentialität gewissermaßen identisch), vgl. Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt a.M. 1977, 189. 21 | So wird die Meinung von Historikern, wie etwa Rainer M., die in den sechziger Jahren die Vermilderung der Diktatur – auf der Folie des erwähnten »Paktes« zwischen Staat und Gesellschaft – als positive Errungenschaft einzustellen versuchen (Rainer M., A ›hatvanas évek‹ Magyarországon), doch etwas ambivalent. Dieses Manöver versteht die Geschichte in ökonomischen Mustern, als ob das politische Tauwetter der sechziger Jahre eine Kompensation wäre für die Opfer von 1956. Ganz zu schweigen davon, dass das System die Aufständischen mit krasser Gewalt verfolgte usw. (S. hierzu Kende, Eltékozolt forradalom?, 187-196) Und aus der Sicht der Gegenwart wäre dieser Pakt (oder die gleichsam kontingente, doch asymmetrische Balance) erst recht unter die Lupe zu nehmen, da die schon seit 1990 andauernde politische, moralische, gesellschaftliche, mentalitätsmäßige – und sich immer wieder verschärfende – Krise in Ungarn sehr viel mit den Folgen dieses Paktes und seinen Kontexten zu tun hat.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
Text schreibt sich nachträglich auch in den Zusammenhang der Berichte ein. Die neutrale Philologie bleibt jedenfalls eine Illusion angesichts des Zeugenstatus des Erzählers in der VA, ferner der semantischen Verflechtungen mit den eigenen Texten (Spionnovelle; Harmonia Caelestis). Das gouvernementale Dispositiv des Spitzelsystems kommt gerade darin zum Ausdruck, dass die Führungsoffiziere und andere Angestellte der Staatssicherheit die Reaktionen des Spitzels, die psychologischen Prozesse, die Entwicklung seiner Kompetenz der Berichterstattung aufs Schärfste beobachten. Sie sind an der individuellen Disposition seiner Tätigkeit, überhaupt an der Herausbildung dieser Disposition, sehr interessiert und eng in sie involviert. Das ist also im Sinne Foucaults eine gouvernementale und disziplinierende Technologie der Subjekte selber22 und nicht einfach eine praktische Kompetenz, wie vom Historiker banalisierend suggeriert wird.23 Die erwähnte Disposition in Bezug auf die Berichterstattung, die Textproduktion ist laut dem Zeugnis der VA nämlich (auch) eine modale: P. fragt, wie lange das Kind dort bleibt. … Zu Beginn des Schuljahres will ich ihn nach Hause holen lassen, in Anbetracht dessen, daß ich noch 3 Söhne habe, denen ich diese Möglichkeit nicht beschneiden möchte. Als »sorgender Vater« stellte ich die Frage, ob nicht doch angesichts der Eskalation der Lage in Berlin irgendwelche Feindseligkeiten während des Auslandsaufenthaltes meines Sohnes zu befürchten seien. Wie ekelhaft duckmäuserisch. – Der Agent wird immer besser. Wie ein guter postmoderner Autor […] vermischt er das Fiktive mit dem Realen, er schafft eine reale Situation und fiktionalisiert darin nach Belieben. Immer komplizenhafter wird der Tonfall; als sorgender Vater zwinkert er dem Führungsoffizier zu. (VA 206-207)
Der Pakt zwischen System und Spitzel soll oder muss also auch von der Modalität besiegelt, der Bericht auch modal codiert sein (auf der Ebene der Adressierung und Verarbeitung des archivierten Materials). Diese Modalität zeugt wiederum nicht einfach von der Einrichtung eines Codes, sondern vielmehr von der inneren (individuellen) Disposition des Spitzels, seiner Ergebenheit den Aufgaben und dem System gegenüber. Die Gewalt der Archivierung greift also in die Subjekte selber hinein. 22 | Vgl. jüngst eine Reihe der diesbezüglichen Vorlesungen von Foucault im Band Kritik des Regierens. Schriften zur Politik, Berlin 2010, 9-145. Foucault bezeichnet den »Osten« als Raum der »unbestimmt ausgedehnten Gouvernementalität« (ebd., 140). Ferner macht er darauf aufmerksam (mit Blick auf »das sozialistische Projekt«), dass die »Milderung« nach dem Terror gerade keine Lockerung der Disziplinierung, sondern auch ihre Verstärkung (wirkungsvollere Implementierung) bedeuten kann: »Sie sagen, der Terror habe nachgelassen. Das ist sicher richtig. Doch im Grunde ist der Terror nicht der Gipfel der Disziplin, sondern deren Scheitern. (…) Der Terror ist stets umkehrbar; er fällt fatalerweise auf diejenigen zurück, die ihn ausüben. Die Furcht ist zirkulär. Doch von dem Zeitpunkt an, da die Minister, die Polizeikommissare, die Akademiemitglieder und all die Verantwortlichen der Partei unabsetzbar werden und für sich selbst nichts mehr befürchten, wird über sie die Disziplin voll funktionieren, ohne dass es auch nur die vielleicht ein wenig schimärische, aber stets gegenwärtige Möglichkeit einer Verkehrung gäbe. Herrschen wird die Disziplin, ohne Schatten und ohne Risiko.« (Kritik des Regierens, 329) 23 | Vgl. Rainer M., Jelentések hálójában, 75.
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Man könnte sagen, dass die Tatsache, dass »ein Bericht nie nichtssagend« ist, auch wenn er inhaltlich nichts wirklich Relevantes auszusagen scheint, doch den Meineid, den Verlust der Wahrhaftigkeit bezeichne oder bezeuge. Der Bericht erscheint in dieser Funktion als Lüge, als Missbrauch des Vertrauens des Anderen, als eine implizite Kontamination der Kommunikation bzw. ihrer Bedingung, die in einem Ja-Sagen, dem (immer schon) gegebenen Wort gründet. Das jeweilige, zum Zwecke der Berichterstattung initiierte oder generierte Gespräch ist von vornherein an einen Dritten adressiert, von dem der Gesprächspartner nichts weiß – ferner wird dieses Gespräch auch aufgezeichnet und medial umgeformt, was seine bestimmte Codierung und Lesart, seine Übersetzung in einen anderen Kontext ermöglicht.24 Hier ist noch Folgendes anzumerken: die Einführung oder Rekrutierung des Agenten in das »Netz« hat den Kandidaten vor allem zu einer belastenden Aussage gezwungen, um ihn nachher auf diesem Belastungsmoment basierend für die Organisation gewinnen zu können.25 Ein scheinbarer performativer Akt also, dessen Insinuierung auch im Archiv der VA auftaucht: »Auswertung: Sein Bericht ist gut, obgleich wir die Aussage bereits auch an anderer Stelle überprüfen konnten. Aber dennoch wertvoll, da wir sehen, daß Agent einen gewissen Willen zur Arbeit zeigt. Vielleicht ist das der Augenblick des Sichabfindens.« (VA 87) In diesem Lichte wird die Erwartung unterminiert, dass solche Agenten von sich aus ohne weiteres ein Zeugnis über ihren Verrat oder ihre Tätigkeit in der Nachgeschichte ablegen sollten, sind doch zumindest einige von ihnen bereits von einem »Bekenntnisakt« gezeichnet oder stigmatisiert. Die Funktion des Philologen bleibt aber mindestens zweifach in Geltung: der Erzähler bezeugt das sprachliche Kompromittieren des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung. Das wird auch in der »Immanenz« des Berichtes, in der Relation zwischen Bericht als Text und als Produkt der archivarischen Macht (mit politischer Codierung) wiederholt (wo auch eine Differenz zwischen den beiden erscheint, ohne freilich die Bedeutung des Faktums der Berichterstattung aufzuheben). Dieser Aspekt wiederum bildet eine Parallele zur referenziellen Kontamination der erwähnten eigenen literarischen Texte, vornehmlich der Harmonia Caelestis. Eine paradoxe Parallele: So wie die Gespräche im Bericht mehrfach transponiert werden, so wird die Beichte der VA von den früheren literarischen Texten gewissermaßen gelesen und umgekehrt. Eine neutrale Beichte oder ein neutrales Zeugnis scheint nicht möglich zu sein, und das nicht nur aus persönlich-inneren (emotionalen), sondern auch aus sprachlich-textuellen Gründen. Zunächst ist aber der erste »philologische« Aspekt zu beleuchten: darüber hinaus, dass überhaupt berichtet wird, wiederholt die sprachliche Art und Weise der Archivierung den kompromittierenden »Sündenfall«, wie es in Orthographie und bestimmten Formulierungen dem professionellen Leser-Autor Esterházy unmittelbar auffällt (VA 52 und 56: »Kontakte weiterentwickeln: Wie er diese viehischen Ausdrücke gelernt hat!«). Zuvor hat sich ihm – wiederum noch vor jeglichem Inhalt – die unverwechselbare, ihm nur zu gut bekannte Handschrift seines Vaters aufgedrängt (VA 15), ein traumatisierendes Moment, das auch später noch wirksam bleibt (VA 236): Der idiomatische Zug der Handschrift (als einer – mit Freud gesprochen – »sachlichen Erinnerungsspur«) wird mit dem unpersönlichen, tech24 | Beispiele für die im Vorhinein erstellte Choreografie der Gespräche s. VA, 261-262. 25 | Zur Methode dieser »Gewinnung« s. Rainer M., Jelentések hálójában, 73-74.
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nisch-bürokratischen Vokabular (als »Wortbesetzungen«)26 kontrastiert, und so entfaltet diese Verdopplung ihre verheerende Wirkung auf den Sohn.27 Das Trauma ist hier das »déjà-vu« selbst (da die Handschrift und die Worte des Vaters im Kontext der Berichte auf verfremdete Weise erscheinen) und umgekehrt. Der Zeuge steht hier in einer selbstaufhebenden Kreuzung: Er ist Kopist einer unverwechselbaren Handschrift, zugleich eines hochgradig machtbedingten und inszenierten Diskurses und die Frage stellt sich, welche(n) er denn bezeuge. Die Handschrift im Modus des gedruckten Textes zu bezeugen, ist bereits durch den medialen Wechsel von einem potentiellen Meineid erkauft, und so kann sich der Zeuge auch seinem eigenen Zeugnis entfremden. Durch dieses Zeugnis hindurch zu sprechen »gelingt« dem Vater aber immer wieder, in den halluzinatorischen Momenten, wo der Sohn seine Stimme zu vernehmen meint, in Entsprechung zum visuellen idiomatischen Charakter der Handschrift, von dem er sich auch nicht loslösen kann. Dieser traumatische Effekt kreist weiter im Sachverhalt, dass Esterházy in Hinsicht auf Harmonia Caelestis zu seinem eigenen Philologen wird und der Text des eigenen Romans an vielen Stellen (selbstverständlich vor allem in Bezug auf den Vater) wörtliche Bedeutungen zu suggerieren scheint, eine quasi-referenzielle Funktion erhält. Der für bekannt gehaltene Text zeigt plötzlich an, dass er im Prinzip immer schon von diesen gespenstischen Referenzen kontaminiert war und dass er semantisch-referenziell unverfügbar ist, was gerade auch an der Nachträglichkeit des referenziellen (vom Archiv bedingten) Effekts ablesbar ist. Der literarische Text wird von der Referentialität der archivarischen Sprache wie von einem Parasiten kontaminiert, Text und Außertextliches kommen in der VA auf eine Weise in Berührung, die Esterházys seit jeher dezidierte intertextuelle Poetik zu verunsichern scheint. Zitate aus Harmonia Caelestis erhalten plötzlich eine literale Bedeutung: Wenn zum Beispiel der Sohn meines Vaters seiner Freude darüber Ausdruck verlieh, daß sie eine Familie waren, ein bißchen Goethe, ein bißchen Bonaparte, mit Helden unter ihnen und Verrätern, bat es sich mein Vater empört aus, was denn für Verräter?! Wer denn konkret?! Konkret, fuck it, du. So darf man doch nicht reden!! Offensichtlich hielt er die Existenz eines solchen prinzipiell für ausgeschlossen. […] Hier, von den Seiten 57 und 58, könnte ich durchgehend abschreiben. Im übrigen ist ausgerechnet mein Vater ein gutes Beispiel für den sog. Verräter-Meinvater. Der Autor als Prophet – schon wahr, in vollstem Maß in seinem eigenen Land. (VA 130)
Oder: [Wieder habe ich einen Satz aufgeblättert, der einen neuen Sinn erhält: Mein Vater war im Grunde genommen ein schlechter Mensch, eine gemeine Wanze, aber im wesentlichen kam das nie heraus, es kam nicht dazu. – Doch.] (VA 346) 28 26 | Vgl. Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, in: ders., Studienausgabe III, Frankfurt a.M. 1975, 210. 27 | Der plötzliche Anblick der väterlichen Handschrift tritt in Parallele mit dem Anblick des Flugzeugs, als dieses in den Turm des World Trade Center rast (VA, 298-299). Zum Trauma in der VA vgl. Menyhért, Trafik, 265. 28 | Ähnliche Beispiele aus dem Roman ließen sich noch finden, die in der VA nicht erwähnt werden (z.B. HC, 196). Wichtig ist noch die längere Stelle im Roman über die »Einsamkeit«
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Interessanter sind die selteneren Fälle, wo es zu einer Dekanonisierung der Harmonia kommt, nämlich eine Ambivalenz des Romans zutage tritt, die auch den Verfasser überrascht und ratlos macht: S. 307: Ein Glück, daß er es nicht erzählt hat, denn das wäre dann wieder für meine Mama zuviel gewesen. Und mein Vater, bei dem alles zusammenlief, wie das Wasser in den Ozean, dachte sich (als er noch lebte), es gibt sicher auch jemanden, einen Jemand, der mir nicht alles erzählt, damit es auch für mich nicht zuviel wird. Was bedeutet das jetzt? Wie gut für mich, die Götter passen auf mich auf, oder daß immer noch nicht alles gesagt ist? (Als ob sich im Buch selbst ein vor mir verstecktes Wissen verborgen halten würde, so lese ich es. Wenn das kein Hochmut ist, weiß ich nicht, was.) (VA137-138) 29
In diesem Fall macht die VA den Text von Harmonia Caelestis unlesbar, gerade der referenzielle Kommentar potenziert die Mehrdeutigkeit des ›Mastertextes‹. Dieses Verhältnis kennzeichnet auch die anstelle des Täters abgelegte Beichte, die nicht unbedingt zu einer ethischen Balance führt, sondern die Unkenntlichkeit oder Unerkennbarkeit des Vaters steigert.30 Denn Harmonia caelestis könnte beinahe als eine unbewusste Beichte aufgefasst werden, bar des Wissens des Autorsubjekts, wo der Text gleichsam von sich aus, zwischen den Zeilen die unterlassene Beichte, das Bekenntnis, für den Vater ablegt, ohne diese aber als einen eigenen performativen ›Akt‹ auszuführen. Vielmehr fungiert er wirklich als Archiv eines Geständnisses, wenn auch aus der Perspektive der Nachträglichkeit. Das ist natürlich vom Lesen – von der nachträglichen Perspektive der VA – bedingt, und hier kommt die genuin literarische Dimension des Romans – über Klartexte der wörtlichen Bedeutung hinaus – zum Vorschein, in dieser quasi-performativen Eigenschaft, die aber alles des Vaters nach 1956, die im Lichte der geheimen Agentenrolle eine weitere Sinnkonkretisierung erfährt, wie der Erzähler der VA eingangs überrascht feststellt, vgl. VA, 26-27. Ferner der Schluss des Romans, der auch semantisch entlarvt wird: »… sitzt mein Vater schon an der Hermes Baby, die ununterbrochen rattert, wie eine Maschinenpistole, er schlägt und drischt auf sie ein, und die Wörter fließen, fließen nur so aus ihr heraus, fallen aufs weiße Papier, Wörter, mit denen er nichts, aber auch gar nichts zu schaffen hat, niemals hatte und auch niemals haben wird. Reden wir nicht um den heißen Brei herum, es ist eine schöne Szene, einer der schönsten Romanschlüsse, vielschichtig, schmerzvoll und erhebend. Nur: Der Spitzel schreibt seinen Bericht.« (VA, 145) 29 | Die Frage »und was heißt das also alles?« wiederum ist ein Zitat aus Harmonia caelestis (HC, 21) und suggeriert die intrinsische Ambivalenz des Romantextes. Vgl. hierzu eine Bemerkung Gottfried Benns: »Es ist zu vermuten, daß in jedem bedeutenden Werk Stellen sind, die dem Autor selber unklar bleiben.« Roman des Phänotyp, in: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt a.M. 2006, 161. 30 | »Eines [– alles! alles! –] begreife ich nach wie vor überhaupt nicht – wieso unser Vater auf uns keinerlei Angst ausgestrahlt hat. […] Daß es gut wäre wegzutauchen. Warum haben wir nur Ruhe und Unanfechtbarkeit gesehen? Und ein wenig Geheimnis.« (VA, 273) »Er verbreitete sie nicht. Er selbst war diese Servilität. Aber wenn er etwas verbreitete, so war es deren Gegenteil. Man möge fragen, wer ihn kannte. Ich sage es nicht zu seiner Entschuldigung. Und ich begreife auch nicht, wie es möglich war. Kann es sein, daß mein Vater ein großer Schauspieler war?« (VA, 297) Vgl. das Gespräch mit Roberto in HC, das die »Komplexität« der Vaterfigur auf subtile Weise andeutet (HC, 823-924).
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andere als eine ›Handlung‹ oder eine ›Performanz‹ ist, vielmehr erst in einer Lektüre- und Zitationsfigur und ihrer Verunsicherung – auch der Relation von Text und Außertextlichem – sich ereignet.31 Die literarische Performativität findet also zwischen zwei Texten, zwischen Text und Kommentar bzw. Zitat statt, was aber im gleichen Zuge auch eine Dekanonisierung des »Originals«, des Mastertextes mit sich bringt und aufdeckt, dass dieser nie mit sich selbst identisch war.32 Da der Kommentar auf Zitierung, also auf einem anderen Text basiert (»Verbesserung« meinte im Vokabular von Esterházy seit jeher Zitierung),33 ist der Bezug zwischen Text und Referenz nicht einer interpretatorischen Subjektivität, sondern Texten zu verdanken. Ferner wird die performative Qualität der »gelungenen« Beichte gerade verunsichert. Zwar kann man von der Kenntnis der verschwiegenen Agentenrolle des Vaters nicht abstrahieren und (wohl nicht nur) bestimmte Passagen des Romans in dieser Lesart aufnehmen, doch ist in diesem letzten Beispiel gerade die Problematik der Beichte und a fortiori der Vergebung adressiert, die erst recht zu einem Dilemma interpretatorischer und »ethischer« Art avancieren. Dadurch wird aber auch der »Bericht« der VA zu einem Text, zu einem hybriden Diskurs, nicht nur der Roman wird von der Referentialität, von der wörtlichen Bedeutung heimgesucht – gerade dadurch, dass er die nicht-identische Textualität des Romans aufdeckt. Hier sieht man, dass die rhetorische Flexibilität und die referenzielle Ausgeliefertheit der Literatur identisch sind. Das Literarische ist demnach nicht einfach eine technisch-instrumentell konstruierte Sprache, sondern die Entbindung der Sprache von ihren kulturellen, ideologischen, semantischen, pragmatischen usw. Konventionen, Codierungen und Autorisierungen, was aber auch bedeutet, dass gerade die so freigesetzte Sprache für die Intervention (oder den re-entry) solcher Semantisierungen und Autorisierungen anfällig wird. Jedenfalls wird die ideologiekritische Funktion der Literatur bei Esterházy problematisiert – sie ist der expliziten ideologischen Gewalt gegenüber letztlich ohnmächtig. Zur Kontamination der Literatur durch unvorhergesehene Referenzen gesellt sich nämlich auch ihr spiegelsymmetrisches Gegenteil: wo die Referentialität gerade die Kraft der Worte oder Texte (erst recht) bestätigt. Nicht nur wird der Text vom Außertextuellen tangiert, auch das Außertextuelle erscheint als eine Art Zitat der Textualität, deren performative Kraft aber erst dadurch schockartig erfahren wird. Und zwar bereits von Anfang an: »Nicht das Herz ist mir schwer, sondern der Magen. Haargenau wie in HC [S. 890]: ›Am Morgen beim Aufwachen packte mich die Angst an der Gurgel. Das war was anderes, als was ich bis dahin kannte.‹ Nur daß ich dies aus dem Kopf geschrieben habe, aus der Phantasie. Ich hinke meinem Buch hinterher.« (VA 20)34 Der Text wird wiederum erst aus der Nachträglichkeit 31 | Vgl. hierzu eine selbstreflexive Bemerkung in HC: »Auch wenn es aus der Wirklichkeit geschöpft wurde, sollte man es lesen, als wäre es ein Roman, und nicht mehr und nichts weniger davon erwarten, als ein Roman zu geben vermag (alles).« (427) 32 | Das ist die dekonstruktive Figur, die Paul de Man in der Relation von Original und Übersetzung im Anschluss an Benjamin aufzeigt, vgl. Paul de Man, Schlußfolgerungen: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers, in: Alfred Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a.M. 1997, 196-197. 33 | Vgl. Bányai, Derű vigasz nélkül, 257. 34 | In HC erfolgte ein ähnlicher Effekt mit einem Zitat aus János Aranys Toldi (der in Ungarn berühmte Auftakt des Werkes): »Ich preßte meinen Kopf auf die warme Erde. Es geschah, wie
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zum Archiv; im Zuge einer Lektürefigur, eines Wiederlesens,35 das in einer virtuellen textuellen Vorgängigkeit der Referenz gegenüber gründet. Das sprachlich-textuelle Zitat hingegen erhält einen quasi materiell-indexikalischen Charakter. Ferner wird nicht nur der Roman von der archivarischen Macht und ihrer referenziellen Gewalt kontaminiert, sondern die Sprache selbst, z.B. auf der Ebene des Eigennamens und verschiedener metaphorischer Ausdrücke. Z.B. der Name des Vaters in einem Spruch, dessen kalendarischer Sinn eine auf die Agentengeschichte bezogene Bedeutung erhalten kann: »Das Radio ist an, eine idiotische Stimme sagt gerade: Wenn Matthias kein Eis findet, macht er welches.« (VA 177) Hier kehrt die übertragene, körperlose, unpersönliche Stimme eine potentielle Gewalt der Sprache selber – aber vielleicht nur in dieser Übertragung? – hervor, ihre semantische Unschuld erweist sich als illusorisch. Ähnliches gilt für den Ausdruck »tégla« (»Ziegel«), der im Slang »Spitzel« bedeutet: »Er bot sofort an, bestimmte Aufgaben für uns zu erledigen. Er betonte, nicht emigrieren zu wollen, da er seine Frau und seine 4 Kinder nicht hier läßt. Die Einheit der Familie, wie schön! Die Familie als wertebewahrender Baustein [tégla] der Gesellschaft. [Und darauf ein Satz, der in der Übersetzung von H. Skirecki fehlt:] Der Scherz ergibt sich von selbst.« (VA 177, JK 137) In diesen Beispielen wird die referenzielle Bedeutung metaphorisch in ein anderes Bezeichnetes, die metaphorische Bedeutung via Slang-Semantik in eine referenzielle gekehrt. Der Verlust der Verfügbarkeit der Sprache verstärkt sich aber in Fällen, wo der Erzähler/Abschreiber seine eigene Sprache, ihre kognitive und performative Dimension nicht beherrschen kann: er kann auf Fragen nicht die Wahrheit sagen (VA 228) bzw. seine Motivation zur Antwort wird fahl, indem sie ausgesprochen wird,36 ferner muss er die Verselbständigung der Sprache registrieren.37 Und so ist es fast schon folgerichtig, dass der Erzähler und Kopist der VA in seinen traumatischen Symptomen nicht umhin kann, gewisse Struktureigenschaften des Vaters als Subjekt und Objekt der Berichterstattung und ihrer Gewalt zu reproduzieren oder zu spiegeln. Die grundlegende Verdopplung in seiner textuellen Rolle – Leser und Scriptor zugleich zu sein – wiederholt gewissermaßen die Situation des Berichterstatters, der seinen Text von vornherein unter der Schirmherrschaft eines bestimmten politischen bzw. Adressierungscodes zu schreiben und zu lesen hatte. Der Erzähler der VA unterliegt dieser Schwankung dermaßen, dass er dem gelesenen Material oft verzweifelte Bemerkungen hinzufügt bzw. die kompromittierende Lage mit Reflexionen versieht, die manchmal etwas unbeholfen, aber auch hyperbolisch, reduktiv wie generalisierend zugleich klingen, oft ihre Funktion auch nicht ermittelt werden kann. Abgesehen von dieser durchgehenden Eigenschaft der VA gibt es doch Momente der erwähnten Verdopplung von grundlegender Tragweite. Das Wichtigste ist möglicherweise die Kreuzung von persönes geschrieben steht: Sengend brannte die Sonne auf die kahle Heide. Wortwörtlich. Man kann unmöglich nicht glauben, was ich da sage. Undenkbar.« (HC, 608) 35 | Vgl. Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, 400. 36 | »Sie fragten im übrigen, warum ich schreibe, aber ich konnte darauf nicht antworten, gab nur kleinere Blasiertheiten von mir. Ich hätte sagen sollen, daß mich ein ständiges inneres Feuer vorwärtstreibe, die Geheimnisse des Kosmos auszuspähen, das verbrennende Feuer der Neugier und des Ehrgeizes. Das ist auch wahr, nur daß es falsch wird (und lächerlich, aber das zählt jetzt nicht), wenn ich es ausspreche.« (VA, 174) 37 | Vgl. Dobos, Az értelmezés lezárhatatlansága, 396.
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licher Involvierung und unpersönlicher Perspektive, die die mediale Situation des »Erzählers« figuriert, Kopist und Kommentator zugleich zu sein. »Wiederholung: Ich beschreibe, was ich vorfinde, und beobachte mich wie ein Tier – soviel kann ich tun, bis hierhin reicht es.« (VA 185)38 Einerseits die maschinelle Prozedur, eine regelrechte Aktenführung, als materialer Prozess bar jeder anthropomorphen Perspektive, andererseits die emotionale und moralische Verbundenheit, die nicht auszuschalten ist, um ein reines mediales oder archivarisches Apriori zu affirmieren.39 Diese letzte Operation wäre schlichtweg die Entschuldigung des Vaters und aller anderen Spitzel. Man sieht also, dass noch so sehr begründete kulturtechnische Beobachtungen und Überlegungen die performative (»ethische« und politische) Perspektive nicht außer Kraft setzen können, was eben heißt, dass sie nicht bloß »Beobachtungen« sind. Freilich könnte man die »Ethik« (mangels eines besseren Wortes) auch als Anthropomorphismus abtun, dieses Verlangen ist aber ein menschliches, allzumenschliches Begehren, wie man befürchten muss. Diese Maschinalität und ihre das Persönliche auslöschende Wirkung kommt am eindrücklichsten im Abschreiben von »k« (»könny«, »Träne«) zum Vorschein, wo auch das Signal der direktesten, auch körperlichen Betroffenheit des Sohnes40 nach einer Weile dem mechanisch-unpersönlichen Aufzeichnen, besser: Abschreiben weicht und gleichsam zum indifferenten Glied einer seriellen Aktenführung wird.41 Einen weiteren Effekt des Abschreibens (nicht einfach Aufschreibens) stellen solche Momente dar, wo der Zeuge und Erzähler sich gerade auf der Ebene der archivierten Sprache in die Position des bezeugten Vaters stellt: »Daß ich seinen Platz eingenommen habe S T, ich bin das Familienoberhaupt, ich bin fortan der Mann, der aus der E.-Straße (über die B-Straße) mit seiner Aktentasche stadteinwärts zieht. Ich betrachtete meinen Schatten wie meinen Vater. Der Schatten als Vater. Plötzliche Wut kam in mir hoch, ich will nicht an diesen … an dieses Neue denken.« (VA 275) Auf der selbstreflexiven Ebene des Textes verschmelzen gar die Perspektiven des Berichts und des literarischen Werkes.42 38 | Im Original: »bis hierhin reiche ich.« (JK, 143) 39 | Eine ähnliche Strategie wird von Vismann auf erhellende Weise analysiert (Akten, 312313, wo gar – horribile dictu – die »Subjektwerdung« im Aufschreibesystem 1800 unter postarchivarischen Bedingungen aufgegriffen wird), diese Optik scheint freilich die Kittlersche Perspektive, jede literarische Operation sei die unbewusste Kopie gegebener Aufschreibesysteme, zu modifizieren. Die Hermeneutik des Selbstverständnisses scheint doch nicht ausrottbar zu sein, solange Menschen und nicht einfach Maschinen im Spiel sind. 40 | Zur Spannung zwischen der unverfügbaren, automatischen Körpersprache und der verbalen Sprache vgl. Menyhért, Trafik, 265. 41 | »Ein schöner, großzügiger, hilfsbereiter Mann, […] der mit heroischer Kraftanstrengung seine vielköpfige Familie unterhielt [T]. ›Blasiert schreibe ich die Ts auf.‹« (VA 214) Im Original steht: »schreibe ab« (JK, 165) Das »T« ist das Zeichen für »Träne«, wo der Sohn in der Konfrontation mit der Vergangenheit seines Vaters wider Willen weint. 42 | Die Perspektive des literarischen Autors: »Vermerk: Agent erstellt seine Berichte viel zu oberflächlich. Deshalb müssen die Treffs so ausgewählt werden, daß wir uns mit ihm befassen und ihn seine Berichte umschreiben lassen können. Was er dann noch erzählt, muß man ihn aufschreiben lassen, da er seine Aufgabe erfüllt, aber nichts aufschreibt. Das zum Beispiel unterscheidet ihn klar von mir, ich schreibe alles auf. Gerade das wäre ja meine Aufgabe.« (VA, 78) Die Perspektive des Berichterstatters, freilich aus der Sicht des
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An einem Punkt kommt es im Zuge dieses Alles-Sagens sogar zu einem »Wirklichkeitseffekt« im Sinne Barthes’, also zu einem nicht-codierten Effekt, gar zu einem »punctum« (oder Anakoluth?): »Sie zeigte mir eine schöne ungarische Briefmarke (Specht), die sie zurechtgelegt hatte, um sie auf den Brief für ihren Sohn zu kleben. Mehr sage ich nicht, aber diese Spechte lassen mich ausflippen. Schlagen, kotzen usw. könnt‹ ich.« (VA 283) Dabei könnte diese Stelle im Bericht des Spitzels fast schon ironisch gelesen werden – womit man durch die literatur- und fiktionserzeugende Lektüre der Berichte freilich den Vater entschuldigen könnte. Gegen Ende der VA kommt es dann zu einer merkwürdigen Szene mit dem Zeugen, die zwischen Traumbeschreibung und Halluzination (oder Zitat?) oszilliert, auch ein eindrückliches Beispiel einer traumatischen Halluzination, die die szenographische Codierung und den referenziellen Wert der Beschreibung verunsichert.43 Der Zeuge sieht sich vom Bezeugten gesehen (ihre Perspektiven lassen sich voneinander nicht trennen), der/das die Zeit(phas)en subversiv durcheinanderbringt. Und dem entspricht, dass im Zuge des Wiederlesens der HC andere Stimmen oder semantische Effekte zum Vorschein kommen, über deren zeitliche Zugehörigkeit keine definitive Entscheidung möglich ist. Diese Kreuzung zwischen maschineller Wiederholung und persönlicher Betroffenheit ist aber die grundlegende Bedingung der Möglichkeit des Zeugnisses, der Zeugenschaft selbst.44 Die beiden Merkmale stehen in wechselseitiger Spannung, die maschinelle Iterabilität droht die ethische Perspektive des Zeugen auszulöschen, seine testimoniale Fähigkeit und Kompetenz – die ihn als Subjekt begründen oder kennzeichnen würde – zu problematisieren. Die Gewalt des Archivs und der Archivierung kommt in dieser Bedrohung zutage, die nicht einfach vom Bericht, sondern auch vom eigenen Text her erscheint (wenn die Perspektiven der beiden nicht mehr ganz zu trennen sind). Da der Zeuge eine metasprachliche Distanz zum Bezeugten nicht aufrechterhalten kann (sonst wäre sein Testimonium kein Zeugnis, sondern Beschreibung oder eben Bericht), so ist die Zeugenschaft Zeugen: »Plötzlich […] erkannte ich: Mein Vater hat mit seinen sog. ›anständigen‹, seinen ›guten‹ Sätzen nicht nicht schaden wollen, hat nicht den durch ihn in Not Geratenen helfen wollen, sondern er war nur – aufrichtig. [Also auch das von ihm geerbt …] Aufrichtig zum Verbindungsoffizier. Oder nicht einmal das, er schreibt einfach alles auf. Er schreibt, X. sei unschuldig, weil er dachte, daß X. unschuldig sei. Nur das. Hätte er gedacht, er sei ein Vaterlandsverräter, hätte er geschrieben: ein Vaterlandsverräter. Ganz und gar Flaubert. Eher Stendhal.« (VA, 190-191) 43 | »[In einem Fahrstuhl in Paris – ich reise ›Harmonia‹ hinterher – sind rundum Spiegel, von überall her gucke ich zurück, ich kann nicht widerstehen, trete näher, starre mir ins Gesicht, als ich darin plötzlich das meines Vaters erkenne. Ich sehe, da ist mein Vater, er ist erschienen, als wäre er auferstanden, ich rühre mich nicht, um ihn nicht zu verscheuchen. Ich sehe in meinem Auge sein Auge, Papika, ich seufze auf (irgendwoher aus frühester Kindheit), ich sehe seinen blinzelnden, lustigen, zweifelnden Blick, als er noch zeushaft gut gelaunt war, doch wenn er darauf noch einen trinken wird, braucht es dann nicht mehr allzu lang … Diese Unsicherheit entdecke ich in meinem Gesicht, diese Unzuverlässigkeit, die ich jetzt so nahe spüre wie ihn, samt und sonders, jetzt, in diesem reichlich funkelnden französischen Fahrstuhl. – Die Dossiers sind weit weg, ich habe sie lange schon nicht gesehen, man sieht es mir an.]« (VA, 351) 44 | Vgl. Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 44-45.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
wesensverwandt mit der Wiederholung, die auch technisch-maschinelle Züge in sich birgt oder impliziert. Daher ist der Zeuge sowohl persönlich-singulär als auch unpersönlich, da sein Zeugnis auf Wiederholung hin angelegt ist. Gerade der technische Aspekt bedroht aber die Singularität, die ethische Entscheidung und Urteilsfindung des testimonialen Subjekts. Dieser Aspekt erscheint in der Gewalt des Archivs, die sich als ein Überfluss auftut (»alles sagen/niederschreiben«), dadurch sich aber gegen sich selbst kehrt und gerade das Archiv – seine nomologische und codierende Verfügungsgewalt – schwächt (vgl. das Beispiel »Specht«). Das Zeugnis resultiert aus der Gewalt des Archivs in der Form ihrer Wiederholung, das Zeugnis ist also an den Exzess der archivarischen Gewalt (die sich dadurch schwächt) gebunden (der Exzess als die Passion, die das Zeugnis hervorruft45 oder in ihm wirkt, als eine Intensität). Wie zu sehen war, sind gerade an diesem Punkt der archiviolithische und literarische Diskurs, Archiv und Zeugnis nicht ganz voneinander zu trennen. Das ist der Zusammenhang, von dem sich die VA irritiert zeigt, vielleicht gerade weil sie die Symptome und Momente dieser grundlegenden – nicht einfach nur »irritierenden« – Verflechtung aufzeigt oder enthält. Welche Bewandtnis hat es mit der supplementären Beichte und der potentiellen Entschuldigung (oder Beschuldigung) des Vaters seitens des Zeugen angesichts dieser Verschränkung? Wie schon dargestellt, ist der Sohn der beglaubigende Zeuge vieler Äußerungen, Verhaltensweisen usw. des Vaters und legt an seiner Statt bzw. für ihn seine Beichte ab (er wiederholt die einst ausgebliebene Beichte und zeichnet sie auch gegen), wo diese beiden Richtungen von den medialen Funktionen des Abschreibens und des Kommentierens modelliert werden. Diese beiden Momente lassen sich nicht zur Einheit verschmelzen, auch wenn sie öfters nicht auseinanderzuhalten sind, sie können nicht in die Form einer Gegenwart gebracht werden. Bereits aufgrund dieser Verdopplung wird es sowohl nötig als auch unmöglich, den Vater in welcher Weise auch immer zu ent- oder zu beschuldigen (für das Erstere sind die Bezugnahmen auf die Kádár-Epoche, die auf der instituierten Lüge basierte, für das Zweite die Berufung auf die Freiheit des Menschen – als anthropologische Konstante, auch im Schluß der VA – das Beispiel). Beide Strategien überzeugen eigentlich nicht ganz. Bei einem gewissen Generalisierungsgrad werden die beiden Perspektiven gar identisch: Etwa bei der doch hyperbolischen Parallelisierung des 11. September mit den Taten des Vaters auf der Achse der »Brutalität der Schöpfung« (VA 298) ist es nur noch eine rhetorische Frage, ob das nun Be- oder Entschuldigung ist (wohl beides) … Denn hier droht der »Mensch« wieder zu einem »Fall« zu werden (wie in Bezug auf Sascha Anderson konstatiert, vgl. VA 176), zumindest wird er dergestalt determiniert, dass damit die Gewalt der Archivierung reproduziert wird – wie dies bei dem brennenden Interesse gewisser Leute an der Vergangenheit anderer auch heute noch, lange nach dem Systemwandel, in Ungarn der Fall ist, wo also nach »Fällen« gesucht wird (so setzt sich also die Beobachtungslogik in Bezug auf die Vergangenheit nun fort).46 45 | Vgl. ebd., 25. 46 | Vgl. Heideggers Bemerkung: »Das Miteinander im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske der Füreinander spielt ein Gegeneinander.« Sein und Zeit, Tübingen 161986, 175. Zur Freigabe
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Zeugnisgaben der Literatur
Tiefer geht hingegen die Erwägung der Möglichkeit, dass die Zeugenschaft hier in einer Scham für den Vater bestehen könnte: »Es ist leichter, sich zu schämen, als die Scham in seinem Gesicht zu ertragen. Es ist leichter, für ihn zu beten, obschon Beten schwer ist, als mit ihm zu brüllen oder verächtlich zu schweigen.« (VA 229) Das ist die Situation, in der man sich, wie Walter Benjamin sagt, für andere schämt: nicht nur seiner selbst wegen, sondern im Sinne einer »gesellschaftlich anspruchsvolle[n] Reaktion des Menschen«, weshalb für Benjamin die Scham auch »die stärkste Gebärde Kafkas« darstellt.47 Diese für andere gefühlte Scham steht möglicherweise im Zeichen der erwähnten Unpersönlichkeit, die Scham wegen sich selbst – zwar intersubjektiv-gesellschaftlich bedingt, aber – im Kreise der eigenen Subjektivität. Die Scham für den Spitzel vereinigt in sich also die Momente der persönlichen Involviertheit und des Unpersönlichen – nur eine solche subjektivierte wie zugleich desubjektivierte Scham entspricht der gerechten Zeugenschaft. Diese Zeugenschaft vergibt nicht einfach aufgrund von ökonomischen Modellen oder aus Verdrängung: Das Ausagieren der Iterabilität des Berichts als eines Zeugnisses ist an eine Materialität gekoppelt, die aber auch Vergessen meint. Noch weniger autorisiert sie sich zur Schuldzuweisung und dann zur inszenierten Aufhebung der von ihr selbst eingeführten Schuld, da eine solche, sich nicht als Zeugen in Vordergrund stellende Wiederholung gewissermaßen bar jeder Intention ist. Hinsichtlich der Scham ist an dieser Stelle eine Hypothese in Bezug auf die durchpolitisierte gesellschaftliche Dimension der Kádár-Ära naheliegend: In einer Kollektivität, die auf der institutionalisierten Lüge basierte (resultierend aus dem »Auseinandergehen von öffentlicher und privater Rede«48), tauschen die Scham seiner selbst wegen und die Scham anderer wegen die Plätze und höhlen vor allem den Begriff der Verantwortung (für die Gemeinschaft) aus. Man schämt sich für sich selbst wie für andere, um sich selbst zu entschuldigen, und schämt sich für andere wie gleichsam für sich selbst, um sie beschuldigen zu können: ein Meineid oder eine Selbstlüge der Scham.49 In beiden Fällen wird die Verantwortung umgangen, und so kommt es in der Nachgeschichte einer solchen Ära zu einer tiefgreifenden moralischen, gesellschaftlichen und politischen Krise, die Ungarn in den letzten beiden Jahrzehnten kennzeichnet (und der Reduktion der – in der ungarider Archivbestände und zu deren rechtlich-politischen und kollektiv bedingten mentalen Anomalien in Ungarn vgl. János Kenedi, K. belügyi iratfelmérő jelentése a Kastélyból [Der Bericht des Aktenvermessers K. aus dem Schloß], Budapest 2000. Ferner György Gyarmati, A közelmúlt feltárása és az ügynökkérdés [Die Aufdeckung der neueren Vergangenheit und die Agentenfrage], in: Mozgó Világ (2007). (Hier mit kurzer Anspielung auf die VA.) Zu rechtlichen Umständen der Akteneinsicht (Stasi-Unterlagen-Gesetz) in Deutschland und zu etwaigen diskursiv-literarischen Begleiteffekten und Thematisierungen vgl. Vismann, Akten, 300-318. 47 | Walter Benjamin, Franz Kafka, in: Gesammelte Schriften II.2, Frankfurt a.M. 1977, 428. »So ist Kafkas Scham nicht persönlicher, als das Leben und Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: ›Er lebt nicht wegen seines persönlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines persönlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Nötigung einer Familie … Wegen dieser unbekannten Familie … kann er nicht entlassen werden.‹„ 48 | Vgl. Kende, Eltékozolt forradalom?, 213. 49 | Auch Nádas macht ähnliche Bemerkungen, wenn auch mit anderen Begriffen, vgl. Armer Sascha Anderson.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
schen Geschichte und Kultur im Vergleich zu westlicheren Gegenden begrifflich und mentalitätsmäßig weniger stark ausgeprägten – Individualität im Zuge des Kollektivismus entspricht). Es kommt zu Momenten, wo die Scham anderer wegen ganz und gar ohne Rückhalt ist und von Berufungen auf allgemeine habitualisierte Präzedenzen gerechtfertigt bzw. bagatellisiert wird, wie dies gerade Esterházy (und noch vielen ungarischen Intellektuellen) unterlaufen ist.50 Gerade die gelegentliche Ununterscheidbarkeit der Perspektiven von Bericht und abschreibendem Kommentar birgt in sich die Chance, den »Fall« des Vaters auf gerechte Weise zu bezeugen, gerade jene Dimension, in der der Zeuge seine vorgängige ethische, ideologiekritische, metasprachliche und ästhetische Kompetenz verliert, dort, wo Iterabilität und Singularität des Zeugnisses voneinander nicht zu trennen sind (nur so kommt es zur Benjamin’schen Scham für andere, die auch Scham vor der Sprache oder ihrer Benutzung ist, der die Gewalt – der Benennung etwa – wohl intrinsisch eignet).51 Das könnte ein Name für Fiktion sein, eine Fiktion,52 die die Referenz und vor allem ihre Unvorhersehbarkeit nicht negiert. Das kann aber auch das Moment des höchsten Verrats sein, wo gerade die Gewalt des Archivierungscodes bestätigt oder gegenzeichnet wird, da zwischen Vergessen und Reproduktion einen Unterschied zu markieren letztlich unmöglich ist (wie zwischen rechtserhaltender und rechtsvernichtender Gewalt).53 Die Lüge – und vor allem die Selbstlüge – wäre in dieser Sicht nicht einfach eine kognitiv-intentionale Operation, sondern läge einer solchen voraus: als Übernahme, Aneignung oder
50 | Eine der Bemerkungen in einem Interview Esterházys zur skandalösen Rede von Őszöd (in 2006) des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, in der dieser die auf schamlosen Lügen basierende Politik seiner Partei und der Regierung »eingestand« (aber wohlgemerkt nicht vor der Öffentlichkeit, sondern im geschlossenen Kreis seiner Parteigenossen), war folgende: »Nun hat der König selbst eingeräumt, dass der König nackt ist. Daher gelingt es uns nicht, so gerne zu lachen, wie im Märchen.« (Tageszeitung »Népszabadság« vom 26.09.06) Gerade im Lichte der VA war das natürlich eine höchst problematische »Stellungnahme«: Er wirft dem Vater vor, dass bei ihm »Anzeichen von aktiver Feindseligkeit« nicht zu erkennen seien (VA, 278, vgl. dazu noch ebd., 302-303), was aber auf ihn selbst anlässlich der Gyurcsány-Rede potenziert zutrifft (er wurde zu seiner Stellungnahme ja nicht gerade gezwungen). In welchem Verhältnis steht denn die Entschuldigung, gar Exemplarisierung des Lügners im Interview mit dem Schock der VA? 51 | Vgl. hierzu eine Szene aus Harmonia caelestis, die die Sprache als Gewalt, den kompromittierenden Charakter der Worte thematisiert, im Zusammenhang eines privaten Archivs der Mutter in Bezug auf den Vater: »In diesen Notizen traute sich meine Mutter nicht, die Wörter auszuschreiben, sie hatte sichtlich Angst vor den Wörtern, vor der Festschreibung durch Wörter, und sie hatte auch Angst vor den leeren Zeilen, dem gähnenden Nichts, dem Selbstbetrug. Z.B. stur: das bedeutete sturz, sturzbesoffen; lip: daß er Lippenstift am Kragen oder am Körper hatte.« (HC, 735-736) 52 | Vgl. Derrida, Bleibe, 84-85. 53 | Zu diesem Zusammenhang bei Benjamin (und über ihn hinaus überhaupt zur Rolle des Gewaltexzesses, die auch in vorliegender Arbeit einen wichtigen Stützpunkt bedeutet) vgl. jüngst Zoltán Kulcsár-Szabó, Die Politik der reinen Mittel: Walter Benjamin, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Ereignis Literatur. Institutionelle Dispositive der Performativität von Texten, Bielefeld 2011, 261-306.
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Zeugnisgaben der Literatur
Wiederholung bestimmter sprachlicher Rollenmuster und Codes, die zum Spitzelbericht, ferner zum Meineid der Scham (zur Schamlosigkeit) unerlässlich sind.54 Wenn im Zeugnis Singularität und Iterabilität voneinander nicht zu trennen sind, so meint das die Gabe: etwas, das das Eigene des Beschenkten betrifft, doch von ihm nicht zu beherrschen oder anzueignen ist (vgl. etwa die sprachlichen und spiegeleffektgebundenen Identifikationen von Vater und Sohn). In dieser Exposition ist das Subjekt weder einfach frei noch unfrei wie das die VA vorauszusetzen scheint,55 sondern jenseits von dieser Alternative, sofern man frei und unfrei als Attribute (von Subjekten) versteht. Freiheit ist hier kein Attribut (und erst recht nicht das eines unpersönlichen Subjekts), sondern Effekt einer Gabe, die das Subjekt auf unvorhersehbare Weise zum Zeugen macht. Dennoch war das Subjekt immer schon der Zeuge dieser Gabe (wie der Roman auch von den dunklen Seiten des Vaters Zeugnis abgelegt hat), sofern diese ihn als sein Eigenes betrifft oder heimsucht (auch als Fremdes), gar im eigenen literarischen Text (dem Roman). Das ist also nicht als Eigenschaft vorauszusetzen, Freiheit und Unfreiheit kreuzen sich hier auf eigentümliche Weise, so wie in HC von der »Ehrlichkeit« gesagt wird, sie sei »keine Eigenschaft, sondern eine Gabe«.56 Hier vermutet der Erzähler zwischen »Geheimnis« und »Ehrlichkeit« eine Unentscheidbarkeit – vielleicht weil das Subjekt nie wissen kann, weil nicht das Subjekt darüber entscheidet, wann man aufrichtig sein (und nicht etwa schweigen) sollte (»auch schweigen können ist wichtig«). Also kann die »Ehrlichkeit« nicht festgestellt werden (so wäre sie bedingt vom Konstativen!), es gibt nur »Ehrlichkeitseffekte«. Sogar die eigene »Ehrlichkeit« kann zu einem Geheimnis werden, zu etwas Unpersönlichem, dies aber nicht im Zeichen eines kategorischen Imperativs, sondern wegen des materiellen und iterativen Charakters des Zeugnisses. Die Beispielhaftigkeit des Zeugnisses ist also bedingt von einer Art Gabe, was in der VA zugleich in spiegelverkehrter Weise im Verhältnis der Vergebung als Gabe (forgive, vergeben, pardonner) akut wird. »Meinem Vater können wir – wir, Menschen, die er verraten und die er nicht verraten hat – nicht verzeihen, da er sich vor uns zu seiner Tat nicht bekannt und sie nicht bereut hat (…) Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit [im Original: »Frei-Sein«] des Menschen.« (364-365) Der Zeuge klagt den Vater im Grunde wegen eines Vergehens gegen die Menschheit an. Die »Menschen« selber 54 | Vgl. die weitreichende Beobachtung in Bezug auf das Lügen während der Kádár-Ära und nach dem Systemwandel: »Die Menschen sind fähig, die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie es so wollen. Ich muß sagen, der Zynismus der Kádár-Ära hat nicht soviel Hüfteschwingerei erfordert. Hier und jetzt müssen wir selbst uns schon ehrlich betrügen – sofern das das Ziel ist.« (VA, 258) 55 | Die Schlussthese der VA, »Das Leben meines Vaters ist ein unmittelbarer (und abstoßender) Beweis für die Freiheit des Menschen« (VA, 365), ließe sich im Sinne der hier ausgeführten Überlegungen auch umgekehrt verstehen: »Beweis für die Unfreiheit des Menschen«. Es ist aber fragwürdig, die Geschichte des Vaters unbedingt als Beweis zu verstehen, wird so doch das Schema von Einzelfall und allgemeinem Gesetz, Referenz und Allegorie wiederholt. 56 | »mert az őszinteség roppant fontos, nem is tulajdonság, hanem adomány …« (HC im Orig. 637) In der hier etwas simplifizierenden Übersetzung von Terézia Mora: »Ehrlichkeit sei eine sehr wichtige Eigenschaft, ja Tugend …« (HC, 823) Zur Problematisierung der »Aufrichtigkeit« in der VA vgl. Bányai, Derű vigasz nélkül, 257-258, und Menyhért, Trafik, 264.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
werden beispielhaft (sie werden in zwei Klassen unterteilt), insofern sie nicht »vergeben« können, eine Art Ohnmacht, Nicht-Potenz charakterisiert sie, die zugleich als Zeugnisgeben funktioniert (so wie oben das »Schweigen« laut von HC). Also ist auch die Nicht-Vergebung Index einer Gabe, weniger einer individuellen Entscheidung, vielmehr Effekt einer Grenze. Die Unmöglichkeit der Vergebung stimmt die Entscheidung des Zeugen oder der Zeugenschaft. Währenddessen ist auf der anderen Seite der Vater gerade Agent der immoralischen Handlung, der falsche Zeuge, der auf zwei Ebenen »die Freiheit des Menschen« exponiert: da er sich für die Spitzelrolle entschieden hat und da er von seinem Verrat geschwiegen hat, ihn nicht bezeugt hat, genauer: somit in doppeltem Sinne ein falsches Zeugnis veranlasst (und die Komplizität mit seiner Schuld unterschrieben) hat. Also kann man nicht nur etwas (seinen ursprünglichen Verrat) nicht vergeben, vielmehr ihm selbst kann man nicht vergeben, nachdem er gegen »die Kraft der Vergebung« selbst gesündigt hat, die »aus dem Menschen einen Menschen macht«.57 Natürlich wäre eine vereinfachende Operation, die »Freiheit« dem Nicht-Bezeugen zuzuordnen, insofern auch der Vater Gewalt an sich selbst verübt, wird er ja nie erfahren, ob er eine Chance auf die Vergebung gehabt hätte, somit bekräftigt er seinen nicht-öffentlichen Verrat, macht diesen irreversibel. Auf der anderen Seite, der der »Menschen«, würde die Unfähigkeit zur Vergebung im Prinzip die Unfreiheit nahelegen, zugleich muss der singuläre Zeuge wegen genau dieser Unfähigkeit oder Ohnmacht sein Zeugnis ablegen, die Last der Zeugenschaft auf sich nehmen, und zwar im doppelten Sinne: sowohl den Verrat als auch das Verschweigen – also einen doppelten Verrat – zu bezeugen. Der Zeuge muss das Risiko auf sich nehmen, dass sein Zeugnis Entschuldigung oder Freisprechung, dadurch ein falsches Zeugnis sein kann. In dieser Weise tritt »die Freiheit des Menschen« in eine doppelte Perspektive: das Verschweigen als falsches Zeugnis und die Nicht-Vergebung als Zeugnis (vom Unverzeihbaren). Was bedeutet denn hier die »Freiheit«, die Fähigkeit der immoralischen Taten, ferner ihres Verschweigens oder aber die Unfähigkeit zur Vergebung als zugleich (nicht-willentliches) Erinnern an das Unverzeihbare, dessen Zeugenschaft also? Die Vergebung würde einerseits normalisieren, sogar die Souveränität oder Macht des Vergebenden (über den Akt des Vergebens) behaupten,58 andererseits würde die intentionierte Nicht-Vergebung auch für Ökonomie und Teleologie arbeiten: in Bezug auf die Negation des Nicht-Geständnisses (nicht um Verzeihung bitten) in einer spiegelsymmetrischen Weise als zweite Negation, also als Strafe. Damit würde sie den »abstoßenden« Sinn des »Frei-Seins« bestätigen. Dabei stellt die Unmöglichkeit der Vergebung nicht den Modus dieser Negation, sondern ein Ereignis dar und verdoppelt die Bedeutung der »Freiheit des Menschen«, streicht gleichsam sie durch oder setzt sie in Anführungszeichen. Die Vergebung (auch als Unmöglichkeit) bedeutet vielmehr eine Gabe, so wie die »Ehrlichkeit« laut HC – die vorausgesetzte Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit der (Unmöglichkeit der) Vergebung kann also selber nur eine Gabe sein. Damit aber bleibt die Bedeutung des »Menschen« (und seiner »Freiheit«) auf irreduzible Weise ambivalent: Die Vergebung entzieht sich nämlich der »menschlichen« Fähigkeit als »Möglichkeit«, der Ordnung eines »souveränen ›Ich kann‹«, was »Korrelat der Möglichkeit der Strafe« ist 57 | Derrida zitiert Jankélévitch (und sieht ihn mit Arendts Auffassung verwandt), vgl. Jahrhundert der Vergebung, Lettre Internationale, Frühjahr 2000, 11. 58 | Vgl. ebd., 12, 18.
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(laut Arendt).59 Damit wird auch das Rollenmuster des Zeugen als eines souveränen Bezeugenden problematisiert, jenes Zeugen, der in der Gestalt des Vaters gewissermaßen den »Menschen« (seine »Freiheit«) bezeugt. Daraus resultiert auch jene Unentscheidbarkeit: Diese Exemplarisierung kann zu gleicher Zeit als Anklage und als Entschuldigung gelesen werden (als Entschuldigung nicht unbedingt im intentionalen Sinne, da die Unmöglichkeit der Vergebung im Mittelpunkt stand, als vielmehr im Zeichen der unumgänglichen exemplarisierenden Operation der Zeugenschaft). Diese »Freiheit« (»Frei-Sein«) ist das letzte Geheimnis in der VA, die Unentscheidbarkeit von Anklage oder Entschuldigung, die sich auch auf die Zeugenschaft und deren Subjekt ausbreitet, in der wechselseitigen Kontamination von Abschreibendem und Schreibendem, Handelndem und Zeugen, Zeugnis und Fiktion. Der Zeuge bittet eigentlich immer für sich um Entschuldigung, für sich selbst als unvermeidlich sekundären Zeugen, er entschuldigt sein potentiell falsches Zeugnis (insofern man dem Zeugnis vor jeglichem Beweis Kredit geben soll, also macht es seine nicht-kalkulierte Seinsweise immer schon untrennbar vom falschen Zeugnis, vom Falschgeld). Zugleich entscheidet der Zeuge auch über die Bedeutung (der »Freiheit des) Menschen«, zumindest zeigt er die Bestimmung dieses Begriffs bedingt von einer Entscheidung (und keiner deduktiven oder induktiven Ableitung). Über dieses »Frei-Sein« lässt sich im Zusammenhang der oben ausgeführten Überlegungen so viel dennoch sagen, dass es keine Eigenschaft ist (so wie die »Ehrlichkeit«). Wenn man über Freiheit überhaupt reden kann, so wird sie von einem Ereignis, gar vom Ereignis der Entscheidung gegeben (wo auch die Entscheidung selbst gegeben oder angerufen wurde vom ihr vorgängigen Ausnahmezustand, einem Rauschen des Unentscheidbaren, des Unverzeihbaren). Der Zeuge zeichnet diese Entscheidung eher gegen, als er sie fällt – auch deswegen gibt es kein primäres Zeugnis, da die Entscheidung des Zeugen keinen souveränen Akt darstellt. Die Bezeugung könnte nur als eine dekontextualisierend-entcodierende Iteration stattfinden: Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Bericht und Fiktion (wie zwischen persönlicher Involvierung und unpersönlichem Aspekt), wie das im Gebot des »Alles-Sagens« deutlich wurde, wo die Perspektiven des Berichts und der literarischen Fiktion quasi identisch geworden sind. Das zeigt mit Vehemenz, dass es ein morphologisches und phänomenales Unterscheidungsmerkmal für das Literarische nicht gibt, dieses vielmehr immaterieller Natur ist. Nur so kann die Literatur ein Geheimnis archivieren, das sie zugleich auch nicht archiviert, wo das Archiv vielmehr an seine Grenzen stößt.60 Dieses archivierte wie nicht-archivierte 59 | Ebd., 12. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 2002, 300-311. Das »Vermögen« zu verzeihen und zu versprechen wird von Arendt an einer Stelle auch als »Mittel« (»zum Wiedergutmachen«) apostrophiert (ebd., 304). 60 | »Doch vom Geheimnis selbst kann es, per definitionem, kein Archiv geben. Das Geheimnis ist die Asche selbst des Archivs, der Ort, an dem es nicht einmal mehr Sinn macht, ›die Asche selbst‹ oder ›direkt (in) die Asche‹ zu sagen. Es macht keinen Sinn, das Geheimnis dessen zu suchen, was irgendwer, a fortiori ein fiktiver Held, Hanold der Archäologe, hat wissen können. Dies ist es, was diese Literatur bestätigt. Dies ist also ein einzigartiges Zeugnis, die Literatur selbst, die ausgebüchste – oder emanzipierte – Erbin der Heiligen Schrift.« Derrida, Dem Archiv verschrieben, 174-175.
Zeugnis, Archiv, Gewalt
Geheimnis ist folglich nicht kognitiv-semantischer Natur, sondern ein unsichtbarer Effekt der Iterabilität, die jegliche archivarische Codierung aufzulösen imstande ist – gerade infolge einer Gewalt, die sich in einem Wiederholungszwang gegen das Archiv selbst kehrt,61 die aus dem Exzess der archivarischen Gewalt (also der »Brutalität der Schöpfung«) resultiert bzw. mit ihm zusammenfällt.62 Das Geheimnis steht bzw. konstituiert sich in einer indexikalischen Relation mit dieser Wendung gegen sich selbst. Dass das Geheimnis nicht archivierbar ist, bedeutet die Chance für den Text, zum Zeugnis jenseits des Archivs zu werden. Diese Zeugniswerdung kann jedoch nur in der Interpretation erfolgen: nur durch die paradoxe Freiheit – als eines Mittels ohne Zweck, im Willen zum Verstehen als einer Gabe (keiner Eigenschaft oder Intention, eher ihrer Aus- oder gar Ent-setzung) – der Interpretation als Zeugenschaft.
61 | Vgl. die Applikation des Todestriebs im Wiederholungszwang auf das Archiv: »Der/das Eine wird Gewalt/tut sich Gewalt an (L’Un se fait violence). Er/es verletzt und vergewaltigt sich, aber er/es gründet sich auch in Gewalt. […] Als Wiederholung seiner selbst kann der/ das Eine diese gründende Gewalt nur wiederholen und erinnern. […] Schreibt man so die Wiederholung ins Herz des Zu-Künftigen ein, so muß allerdings im selben Zug der Todestrieb, die Gewalt des Vergessens, die zusätzliche Unterdrückung (sur-répression), das Anarchiv darin eingeführt werden, kurz, die Möglichkeit, genau das zu töten, das, welches auch sein Name sei, das Gesetz in seiner Überlieferung trägt: den Archonten des Archivs« (ebd., 26, 142-143). 62 | Vgl. Kulcsár-Szabó, Die Politik der reinen Mittel.
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11. Maßloser Rest: Zeugnis und Ironie
Péter Nádas: Der eigene Tod
Der eigene Tod von Péter Nádas, 2002 zuerst auf Deutsch erschienen, ist ein Bildband, der hinsichtlich seiner Referenz, der Gattung und seiner Medialität gleichermaßen nach einer Deutung oder Lektüre als Zeugnis verlangt. Es mag überflüssig sein, den referenziellen Anlass des Werkes zu erläutern (Nádas’ Herzinfarkt), die Relevanz des »Todes«-Moments ist aber schon von Anfang nachdrücklich, denn es handelt sich um einen anthropologischen Fakt, genauer: um eine Grenze, die par excellence nur erlitten werden kann, die Passivität voraussetzt und im selben Moment den Namen eines Ereignisses (der »eigene Tod«) beansprucht, das singulärer nicht sein könnte. Der Tod ruft das Unmögliche hervor, die letzte Grenze, die Heideggers existenziale Analytik in Verbindung mit dem »Sein zum Tode« bekanntlich als die »eigenste Seinsmöglichkeit« des Daseins (Sein und Zeit) verhandelt hat. Dieses Unmögliche1 erlaubt keinen Zeugen für den Zeugen, es markiert die Grenze der Bezeugbarkeit, sowohl des Todes des Anderen als des »eigenen Todes«,2 der nur als »Schwellenerlebnis«,3 nicht aber als solcher und nur unter der Voraussetzung des Überlebens, des Zeugen als Überlebenden, bezeugt werden kann. Die 1 | Vgl. die Problematisierung Derridas in Verbindung mit diesem zentralen Gedanken Heideggers (Jacques Derrida, Aporien. Sterben – Auf die ›Grenzen der Wahrheit‹ gefasst sein, München 1998), dessen diskursiv-gedanklich-denkgeschichtliche Konstellation eventuell auch für die Deutung von Der eigene Tod einen Kontext bildet, der mit kardinalen Implikationen aufwartet. 2 | »Wenn es denn einen Ort oder eine Instanz gibt, wo es keinen Zeugen für den Zeugen gibt oder niemand Zeuge für den Zeugen ist, so wäre das wohl der Tod. Man kann nicht für den Zeugen zeugen, der Zeugnis ablegt von seinem Tod, aber auch umgekehrt kann ich nicht von meinem eigenen Tod Zeugnis ablegen, sollte ich nicht von ihm Zeugnis ablegen können, außer und allein vom unmittelbaren Bevorstehen meines Todes, von seiner Augenblicklichkeit/ seinem An-/Ausstehen (instance) als aufgeschobenem unmittelbaren Bevorstehen.« Derrida, Bleibe. Maurice Blanchot, Wien 2003, 50. Derridas Analyse einer Blanchot-Erzählung hat an zahlreichen Stellen eine erhellende Kraft, die auch hinsichtlich des Nádas-Werkes gespenstisch ist. 3 | Ein Ausdruck Nádas’ aus einem Interview mit Csaba Károlyi, vgl. Élet és Irodalom [Leben und Literatur], 4. November 2005. Vgl. mit den Sätzen Heideggers: »Das Ende steht dem Dasein bevor. Der Tod ist kein noch nicht Vorhandenes, nicht der auf ein Minimum reduzierte
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Nichterlebbarkeit des eigenen Todes, die Unmöglichkeit, ihn mit einem Sinn auszustatten, geht im Zeugnis damit einher, dass der Zeuge seinen eigenen Tod als den Tod eines anderen bezeugt. Nun offenbart sich der Titel »Der eigene Tod« als Katachrese, sowohl was den »Tod« angeht als auch das »eigen«, da das Zeugnis, das als sprachlicher Akt und »auto-thanatographisches«4 Artefakt von ihm abgelegt wurde, aus zahlreichen Gründen nicht mehr als das »eigene« betrachtet werden kann, es besteht ein Unterschied zwischen ihm als dem Testament dennoch dieses bezeugenden Subjekts, als das es sich manifestiert, und dem referenziellen Hintergrund eben dieses Subjekts. Denn die Nahtoderfahrung erscheint (dem Erzähler von) Nádas nachträglich in der Vision des Geborenwerdens – in der anderen par excellence nicht bezeugbaren Grenze (als Beginn) des eigenen Lebens. Schon der Erfahrung selbst ist eine Art Virtualität zu eigen, da von einer »unempfundenen [nicht abschließend stattgefundenen] Erfahrung« (Nádas überlebt den klinischen Tod) die Rede ist,5 die der Autor auf paradox-ironische Weise so formuliert: »[D]er Tod war das schönste Erlebnis meines Lebens.«6 Das bisher Gesagte impliziert den folgenden Gedanken (ohne ihn freilich auszuloten): Entscheidend für die Lektüre von Der eigene Tod ist von Anfang an, strukturell, die Beziehung, sogar die Asymmetrie zwischen dem Zeugnis und der literarischen Fiktion. Die Emphase des Anspruchs auf eine authentische Sprache, den der Beweis oder das Zeugnis enthält, und der darin besteht, die Grenzen der Sprache heraufzubeschwören, die Herausforderung des Unausgesprochenen anzunehmen, darf dabei natürlich nicht aus den Augen verloren werden. Auch der Rezeption zufolge will Der eigene Tod gleichsam das sagen, wofür es keine Sprache gibt, versuchen, eine Sprache für den »eigenen Tod« zu finden oder zu schaffen.7 Dieser auf Authentizität abzielende und gleichzeitig auf Erfindung angewiesene Mitteilungsanspruch geht als sprachliche Exemplarität ein interessantes Verhältnis mit dem Wunsch, »alles zu sagen«, der »Leidenschaft«8 der literarischen Sprache ein (die bei Nádas besonders in Verbindung mit der Problematik des Körpers und hauptsächlich in seinen monumentalen Parallelgeschichten ins Auge sticht), ja sie berühren einander sogar. Diese Leidenschaft verweist auf die Transgression, die
letzte Aus-stand, sondern eher ein Bevorstand.« Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, 250. 4 | Ein wiederkehrender Ausdruck Derridas, vgl. Bleibe, 62. 5 | Vgl. zu dem Begriff wieder Derrida, ebd., 52. Im Zentrum der autobiographischen Erzählung Blanchots steht eine nicht vollstreckte Hinrichtung, der der autobiographische Zeuge beinahe zum Opfer gefallen wäre. 6 | Im Interview mit Thomas David, in: CICERO, 19. Februar 2012. 7 | Vgl. Szilárd Borbély, Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni… (Leírás Nádas Péter Saját halál című könyvéről) [Umkippen, umstürzen, umwandeln, abtrennen … Niederschrift über Péter Nádas’ Buch Der eigene Tod], in: Péter Rácz (Hg.), Testre szabott élet. Írások Nádas Péter Saját halál és Párhuzamos történetek című műveiről [Körpergeschneidertes Leben. Zu Mein eigener Tod und den Parallelgeschichten von Péter Nádas], Budapest 2007, 55; András Visky, A különbözőség vidékén [Im Land der Unterschiedlichkeit], ebd., 11. 8 | Vgl. Derrida, ›This strange institution called literature‹, in: ders., Acts of Literature, New York 1992, 36. Ders., Bleibe, 85. Vgl. ferner ders., Über den Namen, Wien 2000, 44-46.
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Voraussetzung der singulären Zeugenschaft.9 Die Exemplarität des Zeugnisses und der Anspruch des Alles-Sagens affizieren oder kontaminieren einander, man könnte sogar sagen, dass ihre Wurzel ein- und dieselbe ist, zumindest schreiben sie sich einander aber ein. Wechselseitig prägt sich in beiden die Differenz von Zeugnis und Fiktion ein: Das Zeugnis kann auf paradoxe Weise dann glaubhaft sein, wenn es nicht nur von etwas Kunde gibt, berichtet, sondern dem Unausgesprochenen begegnet, sich von ihm herausfordern lässt und so im tieferen Sinne beispielhaft, exemplarisch wird. Die Fiktion ist immer eine nicht-eigentliche, nichtreferenzielle Rede oder Sprache, die immer schon, wenn auch implizit, die Frage des Unsagbaren, des Unausgesprochenen aufwirft. (Dieses Unausgesprochene mag das »Wunder« sein, der »wesensmäßige Bindestrich zwischen Zeugnis und Fiktion«.)10 Auch das Zeugnis bedarf der Erfindung, um glaubhaft zu sein, gleichzeitig zielt diese Erfindung auf das Unmögliche ab, genauer gesagt, sucht dieses sie heim11 und generiert so indirekt die Beispielhaftigkeit der literarischen Erfindung oder der Fiktion. Natürlich kann diese gegenseitige Kontamination nie als identisch betrachtet werden, die Möglichkeit des falschen Zeugnisses, des Meineids ist in dieser Beziehung immer gegeben. Um einen medialen Ausdruck zu gebrauchen: Die Fiktion schreibt sich im Zeugnis als eine Art Rauschen ein, wodurch es entzweit wird, zugleich sucht umgekehrt die Herausforderung, ja die Aporie des Zeugnisses, eine Art Schweigen oder Mangel die Zeichenhaftigkeit der Fiktion (z.B. ihren narrativen Charakter) gleichsam als eine Art stummes Rauschen heim (diesen Zusammenhang bildet modellhaft auch das Verhältnis von Text und Fotos ab). Aus dieser Sicht ist es kein Zufall, dass die im Band enthaltenen Invokationen regelrecht mit dem Rauschen und den Metaphern der Selektion aus ihm operieren,12 überhaupt handelt es sich hier um reflektierte Hybridität, die charakteristisch für Der eigene Tod ist.
9 | Vgl. mit der prinzipiellen Feststellung Borbélys: »Gleichzeitig verlässt der Text als literarischer Text stellenweise die strenge und exklusive Beschreibung eigener Erfahrung; der Autor misst seine Erfahrungen an denen Anderer bzw. an Erfahrungen, die die Sprache des kulturellen Erbes überliefert. Die Grenze wird also kontinuierlich überschritten, da das Eigene fremd wird: In Wirklichkeit ist der Text ein Versuch, das Eigene, das seiner Natur nach Unteilbare, zu teilen. Der wichtigste und fundamentalste Einsatz des Textes und seines Sprechers geht auf dieses Paradox.« Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 42. Dennoch wird Borbély am Ende seines Essays unsicher: Die ästhetische Unterscheidung von Zeugnis (»Tod«, Information) und Literatur (»Metaphern des Todes«, Rauschen) hält ihn gefangen (ebd., 64). (Zur Phänomenologie der verschiedenen Ereignisse der Grenzüberschreitung vgl. Bernhard Waldenfels, Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin 2012.) 10 | Derrida, Bleibe, 88. 11 | »Man müßte also sagen, daß die einzig mögliche Erfindung die Erfindung des Unmöglichen wäre.« Derrida, Psyche. Erfindung des Anderen, Wien 2011, 79. 12 | »Die kläffenden Höllenhunde wünschen, daß ich den Mund halte, daß ich nicht davon erzähle.« (23); »Sie bellen und jaulen aus Leibeskräften, damit ich die passenden Sätze nicht finde.« (29); »Könnte ich doch in diesem höllischen Stimmengewirr reden. Polyhymnia, Mutter allen Erzählens, hilf mir mit alltäglichen Worten über den Styx.« (169) Die Zitate und Seitenzahlen aus Péter Nádas, Der eigene Tod (Übers. Heinrich Eisterer), Göttingen 2002. (Folgende Seitenzahlen in Klammern.)
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Dem Folgenden muss die nicht unbedingt originelle These vorangehen, dass Der eigene Tod im Grunde die Spannung zwischen Narration und Zeugnis inszeniert.13 Und das auf eine Weise, dass der Text im Wesentlichen von der Überschreitung, der Transgression des Zeugnisses in Bezug auf die Narrativität bestimmt wird (einer der Indizes davon ist die Temporalität der Fotografie). Das heißt, dass die Zeitlichkeit des Zeugnisses, sein »gegenwärtiger Akt« gleichsam dem narrativen Rahmen der Erzählung, ihrer kausalen Logik voraus- bzw. über sie hinausgeht. Diese Transgression kann nicht von der Nachträglichkeit der Bezeugung, vom Zeugnis als Nachleben (dem Über-Leben des Zeugen) getrennt werden, sie wurzelt eigentlich darin. Das die Narration überschreitende Zeugnis wiederholt bzw. figuriert also die Transgression der Nachträglichkeit, die über jede Art von Vorgeschichte hinausweist.14 Diese performative Verflechtung problematisiert u.a. die (narratologische) Ununterscheidbarkeit von Geschichte und Erzählung und zugleich bestimmte Konventionen des Sprachgebrauchs, ferner den Subjektbegriff, der mit ihnen zusammenhängt. Die Betonung des Erzähltseins, die Signale der Nachträglichkeit des Zeugnisgebens verknüpfen eine Art Entfremdung des »Eigenen« mit dem Effekt der Literarizität, die sich so gleichzeitig als die Verwahrerin oder das Strukturmoment der Wahrheit und Nicht-Wahrheit, der Glaubhaftigkeit und des potentiellen Verrats des Zeugnisses manifestiert. Die »Unmäßigkeit« oder Maßlosigkeit, die ein Thema des Werkes ist, erwächst aus der erwähnten Transgression. Zugleich kann sie den Effekt des »Alles-Sagens« exemplifizieren (wobei sie gleichzeitig zur Wirkungskraft der unwahrscheinlichen Evidenz des Bezeugten – z.B. des Todes – und zu einer »literarischen« Hyperbel, zu einem wahren Testimonium und einem falschen Zeugnis wird). Damit impliziert die »Verfremdung des Eigenen« (Borbély) die Unmöglichkeit des »eigenen« Zeugnisses und näher betrachtet seinen testamentarischen Charakter: Das vom »eigenen« Tod abgelegte Zeugnis ist nicht das eigene, und so kommt die radikale Fremdheit, das radikale NichtEigen-Sein, die das Unmögliche exemplifizierende Seinsweise dieses Todes zum Vorschein. Auf der Zeugnis-Ebene wurzelt dieser Zusammenhang im potentiellen Gabencharakter des Zeugnisses: Der Zeuge gibt es immer schon weiter (auch sich selbst als einem Dritten), weswegen das Zeugnis schon a priori nicht »rein« ist, sondern kontaminiert (durch Referenzen, Diskurse, Medien usw.). Es gehört ihm 13 | Das ist auf einer allgemein prinzipiellen Ebene die Spannung in der Formulierung Derridas: »Das Wesen des Zeugnisses reduziert sich nicht notwendig auf die Narration, das heißt auf deskriptive, informative Bezüge, auf das Wissen oder die Erzählung; es ist als erstes ein gegenwärtiger Akt. Wenn der Märtyrer Zeugnis ablegt, erzählt er keine Geschichte, sondern gibt sich preis. Er zeugt von seinem Glauben, indem er sich preisgibt oder indem er sein Leben oder seinen Körper preisgibt, und dieser Zeugnisakt ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern seine Passion verweist auf nichts anderes als auf einen gegenwärtigen Moment.« Bleibe, 39-40. Vgl. dazu die Charakterisierung der »Stimme des Gewissens« – als »Bezeugung« – bei Heidegger: »Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu? Streng genommen – nichts. Der Ruf sagt nichts aus, gibt keine Auskunft über Weltereignisse, hat nichts zu erzählen. Am wenigsten strebt er darnach, im angerufenen Selbst ein »Selbstgespräch« zu eröffnen. Dem angerufenen Selbst wird »nichts« zu-gerufen, sondern es ist auf-gerufen zu ihm selbst, das heißt zu seinem eigensten Seinkönnen.« Sein und Zeit, 268, 273. 14 | Borbély hebt die räumlichen Isotopien der Grenzüberschreitung hervor (z.B. »… ich ging hinüber auf die schattige Seite der Straße.« 13): Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 42.
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nicht, es ist kein »eigenes« – der Index dieser Autorität wäre die Reinheit –, sondern es bedeutet die Testamentarität des Zeugen: Der Zeuge wird nicht nur angesichts des Bezeugten (des Todes, somit zwischen dem »eigenen« Tod und dem Tod von sich selbst als eines anderen hin und her pendelnd), sondern auch angesichts des eigenen Zeugnisses selbst zu einem Dritten, seine Funktionen des Referierenden und des Gebenden, ferner des Sprechenden und des Aufzeichnenden, das Subjekt und das Objekt des Zeugnisses als Testament sind miteinander nicht vereinbar. Die Exteriorisierung des bezeugenden Subjekts (auch für sich selbst) entspringt dieser Gabe-Bewegung (nicht zufällig schließt der Text mit einer ironischen Geste der Rück-Gabe, der Sendung der »zehn Kleiderbügel« ins Krankenhaus). Die vorausgenommene Schlussfolgerung lautet also wie folgt: es ist genau diese betonte Testamentarität, die zugleich im Zeugnis und in der literarischen Fiktion wirkt, und die immer schon ihr Bindeglied war. Diese sich gegenseitig bedingenden, sich aufeinander abzeichnenden Zusammenhänge hält sich diese Analyse als die grundlegenden Aspekte der Lesbarkeit des Textes vor Augen. Der Text umkreist bekanntlich vor allem das Problem der Inversion von Anfang und Ende, von Tod und Geburt, wobei er die Erwartungen von Erzählbarkeit, Chronologie und Beschreibbarkeit systematisch relativiert. Aus diesem Blickwinkel kann die Erfahrung im Text als die paradoxe Figur der Gewahrwerdung des Nachlebens charakterisiert werden, die der Nachträglichkeit der Zeugenschaft entspricht. Aus der Freudschen Perspektive (Jenseits des Lustprinzips) kann diese Erfahrung auch wie folgt definiert werden: Life itself originates, Freud here suggests, as an awakening from »death« for which there was no preparation. Life itself, that is, is an imperative to awaken that precedes any understanding or consciousness and any possible desire or wish. The witness of survival itself – the awakening that constitutes life – lies not only in the incomprehensible repetition of the past, that is, but in the incomprehensibility of future that is not yet owned.15
Das Trauma liegt hier in der Erfahrung einer unmöglichen Antizipierbarkeit, der Unverortbarkeit in einer vorgängigen zeitlichen Reihe (einer Art zu-spät-Kommen), wobei das Bewusstsein als Reizschutz wirkt, indem es sich auf die Ordnung der Zeiterfahrung beruft bzw. versucht, die Zeiterfahrung aufgrund gewisser kognitiv-narrativer Schemata zu ordnen, zu integrieren. Es ist kein Zufall, dass am Anfang von Der eigene Tod in der inszenierten Geschichte gerade das Haushalten mit der Zeit (die verschiedenen, im Terminkalender notierten Programme) bzw. die Unterbrechung der Zeitordnung zum Problem wird (»Ich verstand nicht, was vor
15 | Zum Verhältnis von Überleben und der Begegnung mit dem Tod: »If ›fright‹ is the term by which Freud defines the traumatic effect of not having been prepared in time, then the trauma of the nightmare does not simply consist in the experience within the dream, but in the experience of waking from it. It is the surprise of waking that repeats the unexpectedness of the trauma. And as such the trauma is not only the repetition of the missed encounter with death, but the missed encounter with one’s survival. It is the incomprehensible act of surviving – of waking into life – that repeats and bears witness to what remained ungrasped within the encounter with death.« Cathy Caruth, Parting Words: Trauma, Silence, and Survival, in: Carol Jacobs/Henry Sussman (Hg.), Acts of Narrative, Stanford 2003, 50-51.
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sich ging.«, 17, als einziger Satz auf der betreffenden Seite). Später reflektiert das Erzählen den Nahtod-Zustand schon explizit als Unmöglichkeit der Zeugenschaft: Es läuft etwas ab, das äußerst schwer in Worte zu fassen ist, denn in dem Zustand, der dem Tod vorausgeht, verliert die herkömmliche Zeitrechnung nahezu ihre Gültigkeit. Ein großer Lichtschalter wird betätigt, der Hauptschalter. Womit Sehen, Wahrnehmen, Denken keineswegs aufhören. Jedoch knüpfen diese parallel ablaufenden Funktionen die neuerworbenen Eindrücke nicht an die üblichen Begriffe der Zeit.16 (121-123)
Daraus folgt also, dass die Rollen des Bewusstseins und des Ego bei der Zeugenschaft nicht unbedingt vorrangig sind,17 vielmehr steht, so paradox das auch klingen mag, die Akthaftigkeit der Bezeugung des singulären, exzeptionellen Ereignisses vor ihnen, der Glaube, der diese Zeugenschaft voraussetzt. Was noch dadurch unterstrichen wird, dass auch das Überleben selbst traumatisiert, das »primäre« Trauma von ihm wiederholt wird, während es zugleich mindestens im selben Maße auch vom (unberechenbaren, unbeherrschbaren) Nachleben dieses »primären« Traumas zeugt. Dieses Nachleben oder Überleben geht als Geschehen a priori über die narrativen Rahmungen von Anfang und Ende, über die erzählerische Logik ihrer Verknüpfung hinaus. Das Zeugnisgeben steht aber in der Herausforderung dieses Nachlebens (der Gewahrwerdung dieses Nachlebens, was abweichend von der Formulierung Caruths nicht das Zeugnis selbst ist), und es zeugt so nicht weniger von der Gegenwart als von der (vermeintlich identifizierbaren) Vergangenheit. Bevor auf die relevanten Modalitäten eingegangen wird, müssen wir eine Stelle lesen, die die Herausforderung der Zeugenschaft – z.B. gegenüber narrativer Kausalität – charakteristischerweise als sprachliches Dilemma darstellt und zudem die Idee des Subjekts selbst beeinflusst, da es sich in ihm selbst vollzieht und das Problem der Transgression des Zeugnisses gegenüber der sprachpragmatischen, konventionellen Determiniertheit der narrativen Identität zeigt.18 Die Situierung des Zeugen auf der textuellen Ebene wird im folgenden Abschnitt auf komplexe Weise verwirklicht: Man hat keine blasse Ahnung, was im eigenen Organismus vor sich geht. Wieso kann ich nicht weitergehen, ich verstehe das nicht, ich bin doch nicht ohnmächtig. Man muß sich damit abfinden, es ist einfach nicht zu erklären. Am besten so tun, als wäre alles in schönster 16 | Der letzte Satz des Zitats könnte aufgrund des ungarischen Originals alternativ lauten: »Diese nebeneinander ablaufenden Funktionen knüpfen die frischen Wahrnehmungen aber nicht an die konventionelle Zeitordnung des Bewusstseins.« 17 | Vgl. dazu die Bemerkung Derridas zu Heidegger: »Der Bezug zum anderen (an sich außerhalb von mir, außerhalb von mir in mir) wird sich nie von einem trauernden Begreifen unterscheiden. Die Frage zu wissen, ob sich ausgehend vom eigenen Tod oder vom Tod des anderen der Bezug zum Tod oder die Gewissheit des Todes einstellt, sieht so ihre Relevanz von Anfang an begrenzt. Selbst dort, wo von der Jemeinigkeit die Rede ist, handelte es sich bei den Grenzen um die des ego und manchmal ganz einfach um die des bewußten Ichs und dessen, was dieses glaubt, bezeugen zu können.« Aporien, 103. 18 | Vgl. zu der Stelle die Lektüre von Tamás Lénárt, Nahaufnahme und Todesnähe. Péter Nádas: Der eigene Tod, in: Csongor Lőrincz (Hg.), Zwischen Pygmalion und Gorgo. Die Gegenwart des Bildes in der Sprache, Berlin 2013, 346-347.
Maßloser Rest: Zeugnis und Ironie Ordnung. Anerzogenen Handlungsmustern folgen und die Realität des eigenen Zustandes leidenschaftlich leugnen. Unterdessen kritisch unter den möglichen Ursachen wählen. Alles ist zu komplex. Das Problem ist, daß mir heiß ist und ich schwitze. Daß ich unfähig bin, äußere und innere Komplikationen zu entwirren. Es gibt Ursachen, die so peinigend sind, dass man sie nach den Regeln des inneren Monologs nicht einmal vor sich selbst anzudeuten wagt, darum sind auch die ursächlichen Zusammenhänge nicht durchschaubar. In letzter Zeit habe ich zu viel gearbeitet, sagt man, ich bin angespannt, sagt man, ich bin erschöpft. Oder schwitzt man nicht deshalb, fragt man sich, weil man wieder von allem und allen angeekelt ist. Man flüchtet sich hinter Ausdrücke, die auch andere gebrauchen und die einem schon zum Hals heraushängen. (31)19
In diesem Abschnitt zeigen sich mehrere erzählerische und sprachpragmatische Instanzen: ein unpersönlicher auktorialer Erzähler, ferner der Ich-Erzähler (»Wieso kann ich nicht weitergehen
«) bzw. eine gewisse, nicht näher bezeichnete Person, die in der ersten Person Singular spricht (narratologisch: »Reflektor«), während ihre Rede eigentlich ein Zitat vonseiten eines allgemeinen Subjekts (mit Heidegger gesprochen: »das Man«), eines öffentlichen Diskurses ist. Teilweise signalisiert der Ausdruck »man/der Mensch« dieses allgemeine Subjekt. Der »innere Monolog« der individuellen Person kann nicht von diesem angenommenen, rollenhaften Diskurs, von seinen »Regeln« getrennt werden,20 die das »Ich-Sagen« durchdringen.21 Also verschwimmen die Grenzen, die die Person und »das Man« voneinander trennen, die quasi-öffentliche Rede durchzieht das individuelle Bewusstsein, ihre »Muster« strukturieren das Verhältnis, das das Individuum zu sich selbst unterhält (das so »das Man-selbst« wird). In diesem Zusammenhang wird die unpersönliche erzählerisch-diskursive Instanz zum Zeugen als dem Dritten, der gleichsam einen Platz zwischen der individuellen Person und dem »Man« einnimmt und die Differenz zwischen ihnen markiert. Diese Instanzen können freilich alle in ein und derselben Person wirken, da es sich hier um einen autobiographischen Diskurs handelt, d.h. die repräsentierte innere Rede kann gleichsam auch die Rede des bezeugten Ich sein, des Ich, das das Ereignis, das bezeugt werden soll, durchlebt, dessen primäre Reflexe aber gerade an der Liquidierung, der Nivellierung der Einzigartigkeit des zu Bezeugenden arbeiten. Das Bezeichnete des Signifikanten »man/Mensch« (als Allgemeines) oszilliert gleichsam zwischen diesen Positionen:
19 | Das Original spielt mit der Doppeldeutigkeit des ungarischen »ember«. Die deutsche Übersetzung kann das nur entweder als »Mensch« oder als »man« wiedergeben. 20 | Diese Muster des »inneren Monologs« hat schon das Buch der Erinnerung reflektiert: »Wir starrten uns feindselig an, dachte ich, doch heute, während ich in meinen Erinnerungen krame, erscheint mir das als eine höchst lächerliche Vorstellung, denn verglichen mit der Zwiesprache der Augen und Gesichter ist jeder innere Monolog eine törichte Selbstverteidigung, eine Lüge oder im besten Fall ein Irrtum, denn natürlich haben wir uns damals keineswegs feindselig angestarrt.« Péter Nádas, Buch der Erinnerung, Berlin 1992 (2. Ausgabe), 279. 21 | Zu diesem »›flüchtige[n]‹ ich-Sagen« vgl.: »Wohl meint das Dasein ich-sagend das Seiende, das es je selbst ist. Die alltägliche Selbstauslegung hat aber die Tendenz, sich von der besorgten ›Welt‹ her zu verstehen. Im ontischen Sich-meinen versieht es sich bezüglich der Seinsart des Seienden, das es selbst ist.« Sein und Zeit, 321.
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Es kann das allgemeine Subjekt, die durch es determinierte Person, aber auch der Zeuge selbst sein. Der Zeuge als Dritter reflektiert gleichsam die Ebene der »Regeln des inneren Monologs«, der »Ausdrücke«, und er tut dies unvermeidlich als sekundärer Zeuge. Dieser Dritte – eine Art sprachliche Imposition – wird zum Zeugen im bezeugenden Subjekt selbst, nicht das Subjekt als solches, dessen Verhältnis zu sich selbst von den »Regeln des inneren Monologs« organisiert oder kontrolliert wird (und das insofern als der falsche Zeuge seiner selbst fungiert). D.h. die rhetorische Unmöglichkeit des (primären) Zeugnisses22 – und nicht nur sein chronologisches zu-spät-Kommen – ruft die sekundäre Instanz des Zeugen, die Notwendigkeit der Erfindung der Zeugenschaft hervor, weswegen das Zeugnis in der Tat von der Unmöglichkeit der Zeugenschaft zeugt. Der Zeuge als Dritter (als Figur des Dritten),23 zugleich als der sekundär (deshalb inventive) Bezeugende, letztlich die Unmöglichkeit des Zeugnisses bezeugend – diese Dreiheit kennzeichnet eine enge Zusammengehörigkeit, sie bedeutet eigentlich dasselbe. Die Unmöglichkeit des Zeugnisgebens bedeutet also zuerst die Problematisierung der Erzählbarkeit, der Narrativität. Diese Unmöglichkeit entspringt jener Grenzüberschreitung, jener Transgression, die über die »üblichen Begriffe der Zeit«, die Kausalität, »die [von öffentlichen Mustern bestimmten] Regeln des inneren Monologs« und ihre Standards hinausgeht. In dem Unwohlsein, das durch den nahenden Infarkt verursacht wird, ist die Haupterfahrung des autobiographischen Ich die Unermesslichkeit, eine Art Erhabenheit,24 die die am ehesten bekannt, nahe, heimisch gewähnten Dinge und Umstände kontaminiert, verfremdet (»In den letzten Wochen war ich außerstande gewesen, so wenig zu rauchen, dass es nicht zuviel gewesen wäre«, 25; »Der Schmerz hatte eine unbekannte Intensität«, 37; »Schon wieder bin ich der Unmäßige, auch das ging mir durch den Kopf …«, 71; »Ich hatte den Eindruck, dass diese Sirenen nicht nötig sind, eine unnötige Über22 | Vgl. dazu erneut die verschiedenen Invokationen im Band (siehe Fussnote 12). 23 | Zur Figuration des Dritten (Perspektive) vgl. auf einer ikonischen Ebene folgende Stelle: »Doch im Spiegel sah ich vor allem, daß sich jemand selbst betrachtet. Das Überraschende daran war nicht, daß ich mich in den sich beobachtenden Augen nicht wiedererkennen konnte, sondern die wächserne, aschgraue Gesichtsfarbe. Ich blickte sogar zur Decke, um festzustellen, ob etwa das Neonlicht diesen Effekt hervorrief. Der Anblick entsprach nicht der Empfindung, und umgekehrt, die Empfindung des Körpers entsprach nicht dem Anblick, und das Licht war banal genug, um keine Erklärung zu liefern. Diese Diskrepanzen bereiteten mir Schwindel. Auf dem wächsernen, aschgrauen Gesicht waren keine Schweißtropfen zu erkennen. Das war nicht ich, obwohl ich eigentlich nichts anderes hätte sehen dürfen als mein Spiegelbild.« (67). Lénárts Deutung: »Der ›Anblick‹ ist der Kontrolle des Körpers entglitten; um diese Unterscheidung sichtbar zu machen, muss der Erzähler das Szenario, d.h. sich selbst, aus einer dritten Perspektive anblicken.« Nahaufnahme und Todesnähe, 346. An dieser Stelle wird der eigene Blick gleichsam zu einem fremden Blick, im Sinne des »zu hohen Blickpunkts« (231). Der Blick des Zeugen ist ein maschineller, medialer, nicht-anthropomorpher Blick, hier: Die Simulation der Zeugenschaft des Kunstlichts. D.h. die Exteriorisierung antizipiert schon hier den Effekt des »der dank eines […] handgreiflichen Vergleiches den wirklichen Ort des Geschehens erkennt«. 24 | Zsófia Bán geht auf das Erhabene ein: Az egybeesés könyve [Das Buch des Zusammenfalls], in: Testre szabott élet, 37-38.
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treibung.«, 103;25 bis hin zur sprachlichen Maßlosigkeit oder zur »bloßen« Sprache als Maßlosigkeit: »Ich hätte es ihr sagen können, aber mir kamen die nackten Worte Seide und Kaschmir unmäßig vor.«, 163).26 Diese Maßlosigkeit führt zu dem Nachleben, in dem der Zeuge sich nicht zuletzt von den konventionellen Mustern entfremdet, die die referenzielle Funktion der Sprache regulieren. Auf diese singuläre Erfahrung, dieses singuläre Erleiden weist die Zeugenschaft als »Entwerfen« des »eigensten Seinkönnens« (das sich nicht ohne das Zeugnis – seinerseits die Manifestation gerade dieses Seinkönnens – offenbaren kann, d.h. dass wir es mit einer Zirkelstruktur zu tun haben),27 zugleich zeigt sie dieses jedoch als Unmöglichkeit28 und führt so z.B. zur Entpersönlichung des Zeugen. Bevor hier nun die Einzigartigkeit der Zeugenschaft und ihre auf ein Geheimnis bezogene Seinsweise übertrieben emphatisch stilisiert (ja spiritualisiert) wird (im Streben der Reinigung der Zeugenschaft),29 müssen der notwendige öffentliche (gerade die Figur des Dritten voraussetzende) Zug der Zeugenschaft und seine Komplikationen gründlicher erörtert (und die etwaigen Implikationen des oben gelesenen Abschnitts weiter analysiert) werden. Das Axiom oder Diktum des »irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]« bedeutet nämlich den strukturell öffentlichen Zug der Zeugenschaft,30 es impliziert die Unpersönlichkeit bzw. das der-Dritte-Sein des Zeugen, d.h. dass der Zeuge sein Zeugnis von potentiell Anderen erhält, zumindest aber wird es virtu25 | Zitat neu übersetzt, in der deutschen Ausgabe: »… es war keineswegs ermutigend, im Inneren des Wagens zu hören, wie verzweifelt die Sirenen inmitten des gewaltigen Staus meinetwegen heulten.« 26 | Vgl. zu dieser Erfahrung die Beschreibung Heideggers: »Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein nichts zu ›Verwirklichendes‹ und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Er ist die Möglichkeit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu …, jedes Existierens. Im Vorlaufen in diese Möglichkeit wird sie ›immer größer‹, das heißt sie enthüllt sich als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet.« Sein und Zeit, 262. 27 | »Das Sein zum Tode als Vorlaufen in die Möglichkeit ermöglicht allererst diese Möglichkeit und macht sie als solche frei.« Ebd. 28 | Derridas Annahme ist plausibel, dass der Sprung des Seins zum Tod als dessen eigenste Möglichkeit (Heidegger) mit mindestens demselben Recht auch als dessen am wenigsten eigene und genuine Möglichkeit bezeichnet werden kann. Vgl. Aporien, 116. Heidegger hat freilich betont: »Grundsein besagt demnach, des eigensten Seins von Grund auf nie mächtig sein.« Sein und Zeit, 284. 29 | Leider begeht Borbély diesen Fehler, der dem Nádas-Text die ironische Lesart abspricht (Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 60). Demgegenüber erwägt ein Großteil der Rezeption wiederholt eine ironische Lesart (z.B. in den Schriften Sándor Bazsányis und Enikő Darabos’, vgl. Testre szabott élet, 27, 71-72). Eigentlich benutzt András Visky als Einziger den Ausdruck »Zeugnis«, thematisiert das Problem in seiner Interpretation von Saját halál, teilweise sakralisiert er den Text in Verbindung damit aber auf autoritative Weise (»liturgische Lesart«). A különbözőség vidékén, in: Testre szabott élet, 108-126. Gegen die Auratisierung und Fetischisierung der Gestalt des Zeugen argumentiert Jacques Rancière in Die Erfindung des Möglichen. Interviews 2006-2009, Wien 2014, 93. 30 | Wie Derrida feststellt, vgl. Bleibe, 43.
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ell von diesen gegengezeichnet (was dem Zeugnis gleichsam vorausgeht). Dieser virtuelle »Andere« begleitet die Rede des Zeugen, das Ich-Sagen des Zeugnisses. Die Evokation der Unpersönlichkeit des Zeugen (im Zeichen des Glaubens an das »irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]«) geht dem Zeugnis bevor, sie bedeutet seinen Modus des »als ob« (da sie gleichsam ein potentiell anderes Zeugnis, ein zweites Zeugnis impliziert). Dadurch wird aber eine virtuelle Differenz zwischen dem aktuellen Zeugnis(geben) und dem gegebenen Zeugnis, der Signatur des Zeugnisses (durch den Zeugen) und dessen Gegenzeichnung (durch potentiell Andere) evoziert. Diese Differenz, die wir die testimoniale Differenz nennen, ist gleichzeitig für den Charakter des »als-ob« des Zeugnisses verantwortlich. Ferner für seine sekundäre Seinsweise, da die Zeugenschaft diesen verborgenen Bezug immer schon in sich trägt, der nicht einfach eine Autorisationsoperation ist, sondern der Index des Gabencharakters; die Zeugenschaft ist also im Grunde genommen die Gegenzeichnung dieser Gabe (und keine anfänglich-autonome, souveräne Operation oder gar Übertragung). Dieser latente Bezug ist die notwendige Grundlage jeder Zeugenschaft, und zugleich gefährdet er in der Form eines Verweises auf eine Art vorausgesetzte – soziale, kulturelle, rechtliche, »politische« – Übereinkunft gerade ihre Einzigartigkeit (Erfindung). Der vorgängige (öffentliche) Charakter der Übereinkunft durchdringt nämlich gleichsam als die Zeit des Öffentlichen das Zeugnis, er formt es sogar vor. Wenn Heidegger zufolge jedes »Jetzt-Sagen« als »Gegenwärtigung« zusammen mit der Messung der Zeit ihre Veröffentlichung bedeutet, dann durchkreuzt die Zeit des Öffentlichen, die im Wesentlichen von der »in der Idee des Maßstabes liegende[n] Unveränderung« bestimmt wird (»daß er jederzeit für jedermann in seiner Beständigkeit vorhanden sein muß«) die performative Zeit der Zeugenschaft (mit Heidegger gesprochen den »Augenblick« bzw. die »Situation«).31 In diesem Sinne ist für Nádas’ Erzähler die Zeit der Arbeit, der verschiedenen empirischen Beschäftigungen, die von diesen vermeintlich verursachte Erschöpfung bzw. der Stress sozusagen – auf metaleptische Weise – der Grund der Ausnahmeerfahrung als Störung und normalisiert sie gleichsam von Anfang an (von einer Art Generalisierung her). Aber nicht nur die – singuläre – Erfahrung, sondern auch deren Deutbarkeit, das für sich selbst über sie abgelegte Zeugnis, gleichsam die Figur des Zeugen als Dritten, das »ich-Sagen«, das dem entspricht. Interessanterweise tritt hier auch der Signifikant »man/Mensch« als eine Art Maß auf, das Unveränderlichkeit (die Berechenbarkeit von »man/Mensch«, dessen Versprechen)32 aufrechtzuerhalten anstrebt oder suggeriert. Das Jetzt-Sagen, das Gegenwärtigen – verbunden mit dem entsprechenden »Ich-Sagen« – bezieht sich also gleichsam auf eine anthropologische Invariabilität, es misst das »Jetzt« oder die Zeit auf der Basis des Letzteren. Das alles ist sprachlich bedingt, vollzieht sich auf der Ebene der Sprache, die Sprache vollstreckt es sozusagen (zumindest die »Ausdrücke«, »die auch andere gebrauchen und die einem schon zum Hals heraushängen«). Der Signifikant 31 | Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 417. »In der Zeitmessung vollzieht sich daher eine Veröffentlichung der Zeit, dergemäß diese jeweils und jederzeit für jedermann als ›jetzt und jetzt und jetzt‹ begegnet.« 32 | Z.B. im Sinne von »Erziehung«, die eine der Hauptreferenzen des obigen Abschnitts war. Vgl. allgemein zum Zusammenhang von Erziehung und »Mensch(heit)« aus historischer Sicht Niklas Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002, 18.
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»man/Mensch« als Maß ist also eine sprachliche Figur. Dieses Maß muss die Zeit messen und sie gleichzeitig öffentlich machen und bestimmen. Die intersubjektive Wechselseitigkeit der Zeugenschaft, die Berufung auf das »irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]« bezieht sich notwendig auf diesen Rahmen des Öffentlichen, sie wird nur in diesem Bezug zum Ereignis. Gleichzeitig liquidiert, nivelliert bzw. ebnet die Setzung dieses Rahmens oder Maßes als universelles Äquivalent (entlang der Allgemeinheit von »Mensch/man«) gerade die Einzigartigkeit des Bezeugten, ferner auf der Ebene des Ereignisses der Zeugenschaft auch das im Sinne des »Augenblicks« verstandene »Jetzt« ein.33 Infolgedessen muss das Zeugnis – will es wirklich ein Ereignis sein, wirklich eine Invention vollziehen – diesen Rahmen des Öffentlichen, das Äquivalent, das das Jetzt-Sagen legitimiert (und gleichzeitig generalisiert, wodurch es seiner Einzigartigkeit beraubt wird) irgendwie überschreiten, dieses sogar umformen (z.B. den hergebrachten Begriff des »Menschen«). (Was zugleich in einem tieferen Sinne, nämlich im Modus des Ereignisses selbst öffentlich ist34 und nicht nur von einer irgendwie vorgeformten öffentlichen Meinung gekennzeichnet.) Um diese Bewegung zu veranschaulichen, soll hier der folgende Textteil zitiert werden: Den Infusionsbeutel werde man geschickt durchfädeln, sagte sie und fragte, aus welchem Material mein Jackett sei. Ich hätte es ihr sagen können, aber mir kamen die nackten Worte Seide und Kaschmir unmäßig vor. Lieber sagte ich ihr, ich hätte keine blasse Ahnung. (163)
Hier erklingen, genauer sind die »nackten Worte Seide und Kaschmir« nicht in der empirischen Situation, auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern auf der Ebene des Zeugnisses, des Textes zu lesen. D.h. der Zeuge erfährt die »Unmäßigkeit«35 der beiden Wörter in der aktuellen Situation nur als inneren Akt (auf der Ebene des ausgesprochenen Ich), später erleidet er sie aber als das Subjekt seines Zeugnisses (als das schreibende Subjekt, auf der Ebene des sprechenden Ich). Diese Maßlosigkeit taucht zugleich auch vor dem Leser des Zeugnisses auf, der dem Zeugen als Erzähler freilich vertrauen muss, dass diese Maßlosigkeitserfahrung wirklich die Folge der damaligen Situation war und nicht zur Zeit der Ablegung des Zeugnisses zuerst gemacht wurde (denn die erzählte Geschichte ist eigentlich die Geschichte einer Lüge, eines falschen Zeugnisses). Textuell gesehen gehören diese Wörter auf jeden Fall zum Zeugnis, gleichzeitig schwankt die Zeit, das Jetzt des Zeugnisses auch zwischen dem »blasse Ahnung« und »Seide und Kaschmir«, ferner zwischen letzterem als dem damals verschwiegenen, inneren Wort und dem im Zeugnis ausgesprochenen, tatsächlich wiederholten, äußeren Wort.36 Die Ar33 | Vgl. Sein und Zeit, 349-350 (§ 68d). 34 | Die Invention, die Erfindung hat schon strukturell einen öffentlichen Charakter, vgl. Derrida, Psyche, 19. 35 | Mit medientheoretischen Begriffen könnte man sagen, dass die Information (sprachtheoretisch: die referenzielle Funktion) maßlos wird, d.h. sie geht potentiell in die Seinsweise des Rauschens über. 36 | Ein ähnliches Verschweigen, den Entzug der Sprachfähigkeit, bringt die Verschiebung der Mitteilung der Telefonnummer – aufgrund der Unbeherrschbarkeit der »Ausdrücke«! – auf der Ebene der erzählten Geschichte zum Vorschein, als Konsequenz des klinischen Todes, während das zugleich auch eine gewisse kompositorische Funktion hat: »Diese fachlich un-
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tikulation des Referenten – sozusagen das »irgend jemand an meiner Stelle hätte dasselbe gesagt« (im Prinzip ist im Falle der bloßen Benennung des Sakko-Stoffes nichts einfacher als das) – erweist sich als unmöglich, die Referenz selbst bzw. die »intentionale Bewegung der Referenz«37 stellt sich als maßlos (erhaben?) heraus (geht über die Äquivalenz zwischen Konvention und Erfahrung, zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem hinaus).38 Die Referenz ist hier eine Art »punctum« im Sinne von Barthes,39 sie bricht den konventionellen Rahmen auf, der die Denotation (der Stoff: Seide und Kaschmir) und die kommunikative Symmetrie (das Frage-Antwort-Verhältnis) geregelt hat. Auf der Ebene des Zeugnisses führt dieses Oszillieren zwischen dem damaligen Verschweigen (ja Lügen) und der jetzigen Artikulation, im Sinne des »mir kamen die nackten Worte […] unmäßig vor«, jedoch zu einem Anakoluth (was bis zur latenten Infragestellung der Glaubwürdigkeit des Zeugen führen kann). Die Potenz des Zeugen wird relativiert, einzelne »nackte Worte«, alltägliche Referenzen schreiben sich ihm über ein »punctum« ein, man könnte sagen: traumatisieren den Zeugen.40 Die Behauptbarkeit, die Lesbarkeit bedingt angebrachte, präzise und wohlbedachte Wortwahl verschlang solche Mengen an Energie und Zeit, beziehungsweise der Stein war so mächtig ins Rollen gekommen und aus allen Fugen geraten, daß es zum Aussprechen der Telefonnummer nicht mehr reichte. Wodurch ich im Augenblick meines Todes unglaublich lächerlich wurde. Wie der alte Geizkragen im Märchen, mein liebes Kind, stöhnt er mit dem letzten Atemzug, weil er noch ein großes Geheimnis loswerden will.« (191) 37 | Vgl. Jacques Derrida, Die Tode von Roland Barthes, Berlin 1987, 34. 38 | Dieser Effekt der Endlosigkeit oder der Unermesslichkeit kommt im Text mehrfach vor, z.B. im soeben erwähnten »Wodurch ich im Augenblick meines Todes unglaublich lächerlich wurde«, oder »Was mich unendlich überraschte« (129) und »Worüber sich in der diesseitigen Sprache sagen ließe, daß es mich kosmisch überrascht« (211). 39 | Vgl. Roland Barthes, Die helle Kammer. Notiz über die Fotografie, Frankfurt a.M. 2000, 35. 40 | Dasselbe passiert mit dem Wort »Reanimation« auf der Ebene der Geschichte: »Man hatte mir den Stempel der Reanimation ins Fleisch gebrannt.« (255) Die Stigmatisierung, das Martyrium des Zeugen wird hier als Topos belebt und gleichzeitig wird es auch verfremdet: »Zähneklappernd fragte ich den Arzt, was geschehen sei, […] wollte ich wissen, ob ich reanimiert worden sei. Des Fremdwort ging ihm unter die Haut, er hatte gerade hinausgehen wollen, verlegen blickte er sich um, dieser Grad von Bewußtheit war zu viel für ihn […] Fast beleidigt antwortete er, ja, allerdings, man habe mich reanimiert, in der Tat.« (257) Die Fremdheit des Wortes »Reanimation«, sein nicht-adäquater Charakter irritiert aus der Sicht des Zeugen den Arzt, zugleich kann man zumindest annehmen, dass das auch für den Zeugen selbst gilt (im immateriellen Sinn überschreibt die Fremdheit des Wortes die Performanz des Zeugnisses). Diese Irritation kann dem Arzt durch ihn sogar nur zugeschrieben sein, da die Wahrscheinlichkeit nicht sehr groß ist, dass dieses Grundwort der medizinischen Fachsprache den Arzt wirklich stört, der es in der täglichen Praxis benutzt. Die Glaubwürdigkeit des Zeugen (der »Stempel der Reanimation« [als Wort] als Beglaubigung) ist auch hier fragwürdig, zumindest kann sie auf referenziell-kausal-narrative Weise nicht überprüft werden. Außerdem zieht der Zeuge unmittelbar danach, in Bezug auf die Zeit der Reanimation, gerade die Vertrauenswürdigkeit des Arztes in Zweifel, deren Zweifelhaftigkeit erneut der Intervention der konventionellen Muster und Rollen zu verdanken ist (»Entsprechend den Regeln seines Berufes hatte er etwas Beliebiges gesagt, aber ich sah ihm an, daß er es letztlich nicht
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des »irgend jemand an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]« wird ambivalent: Hätte ein Anderer wirklich geantwortet, dass er »keine blasse Ahnung« hat?41 In diesem Sinne kann der Leser der Zeuge des Jetzt-Sagens des Zeugnisses, zumindest aber der Spaltung des messbaren, artikulierbaren, erzählbaren »Jetzt«, seiner Ent-Grenzung, seiner Überschreitung sein. Es ist dies die Konsequenz des bereits erwähnten sekundären, supplementär-iterativ-testamentarischen Zuges bzw. der Seinsweise des Zeugnisses, da hier auf den Mangel, die Unmöglichkeit, ja: die potentielle Falschheit des vergangenen, »primären« Zeugnisses gewiesen wird. Die Herausforderung des Zeugnisses als Gewahrwerdung des Nachlebens, die Dimension des Über-Lebens ruft also referenzielle und performative Komplikationen in dessen Sprachlichkeit hervor, sie macht die Unterscheidung von Geschichte und Erzählung ambivalent, gibt die Momente sowohl des erzählten »jetzt« als auch des erzählenden »jetzt« und dadurch – auf einer weiteren Ebene – das jetzt-Sagen des Zeugnisses der Spaltung preis. In dieser Transgression erscheint dieses radikale Nachleben, in dem die Nachträglichkeit des Zeugnisses den Schritt über die Narrativität hinaus voraussetzt. Dadurch wird aber u.a. fraglich, inwiefern Der eigene Tod noch als autobiographischer Text betrachtet werden kann, zumindest im narrativen Sinne, im Zeichen des »von mir zurückgelassenen Lebens«42: Die Einzelheiten meines Lebens standen nicht mit der Geschichte meines Lebens im Zusammenhang. Eine solche Geschichte gibt es und gab es nämlich nicht. Was mich unendlich überraschte. […] Das Leben des Einzelnen beginnt tatsächlich nicht mit der Geburt und endet nicht mit dem Tod, wie soll es da ein aus Einzelheiten aufgebautes Ganzes sein. Jetzt verlasse ich den chaotischen Schauplatz der Einzelheiten. Doch mein Bewusstsein, mit dem ich die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ablaufenden Ereignisse überhaupt erst erfassen und beurteilen kann, ist mit der Unendlichkeit verknüpft. (129)
(Dem sind die Signale oder Nachrichten des Körpers, die Lektüre oder Bezeugung einer Art materiell-körperlichen, stimmungshaft-dispositionellen Gewissens vorausgegangen, wobei sich das Bewusstsein, noch eher aber die Seele als der Zeuge des Körpers manifestieren konnte.43 An einem Punkt setzt die Bewusstseinsaktivität sogar aus, der Gedanke sieht nunmehr das Bewusstsein, nicht umgekehrt: »Der letzte Gedanke durchschaut die Struktur meines Bewußtseins.« (137) Im Folgenden erscheint dann die »Seele« als Kraft, z.B. auf Seite 181; insgesamt könnte man in sagen konnte oder wollte.« Das erzählte Ich fällt dem Arzt zufolge ähnlich aus der Rolle: »Ich betrug mich nicht so, wie es sich für einen Sterbenden gehört.«). Letztendlich offenbart sich dem Zeugen aber die Relativität, die Irrelevanz der zeitlichen Referenz (»Mehrere Millionen Jahre sind innerhalb von dreieinhalb Minuten vergangen.«). 41 | Der oben zitierte Abschnitt beginnt auch mit diesem Ausdruck, jedoch als kolloquiale Wendung: »Man hat keine blasse Ahnung …« Intratextuell könnte »ich hätte keine blasse Ahnung« also auch das Zitat dieser Wendung sein. Aus dieser Sicht könnte die Exposition des Nicht-Wissens in Verbindung mit dem Material des Sakkos bis zu einem gewissen Grad hinsichtlich der Unkenntlichkeit des referenziellen Zustandes des Zeugen aber auch ein glaubhaftes Zeugnis sein. 42 | In der deutschen Ausgabe: »mein vergangenes Leben«. 43 | »… unbekannte Angst […] Sie suggeriert, das wird nicht gutgehen, du wirst nicht davonkommen […] die Angst des Körpers, nicht meine …« (37)
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diesem anthropologischen Rahmen schematisch sagen, dass die Seele das Moment oder den Index des Nachlebens, des Überlebens,44 den – auch in der Zeugenschaft wirkenden – »Glauben«, das Korrelat der nicht-referenziellen Evidenz darstellt.) Von dieser Überschreitung, dieser Art Jenseits (man könnte sagen »Zeitlosigkeit«)45 her nimmt das autobiographische Ich mit »jener Überraschung zur Kenntnis [
], die nur auf der Hand liegende Dinge auslösen können«, dass es all das im Grunde schon wusste: Ich nahm etwas zur Kenntnis, was ich schon vorher gewusst hatte. An der Schwelle meines Todes kann ich das körperliche Dasein mit seinem Input und Output in seiner Struktur überblicken, sagte ich mir, weil die Wahrnehmung von vornherein über die Zeitlichkeit hinausgeht und nicht an die Räumlichkeit gebunden ist. Mir war, als würde ich plötzlich begreifen, was Rilke mit seinen stummen Engeln wollte, die uns über die Schulter schauen. Das rein sinnliche Erfassen hat mit seiner neutralen Anschauung immer schon von dort herübergesehen, wohin ich nun glücklich und verstummt zurückkehre. (130-131)
Die Assoziation des Todes mit der Geburt geht später auch als ein einziges mächtiges »déjà-vu« vonstatten: »Mir ging es wie einem, der Dank eines anschaulichen Vergleichs den wirklichen Ort des Geschehens erkennt.« (277) Der Erzähler erinnert sich also an etwas, was er nicht erlebt hat (im Sinne der »›unempfundenen‹ Erfahrung«), sind wir doch ebenso wenig in der Lage, die eigene Geburt zu bezeugen wie den eigenen Tod. Man könnte sagen, auf der Kehrseite des Todes melde sich die Geburt, freilich in einem virtuellen Sinne, von einer Art Wiedergeburt als Nachleben her (realisiert doch der Erzähler erst im Nachhinein diese Analogie mit dem Geborenwerden). Als müssten wir, um unseren Tod gegenzuzeichnen, unsere Geburt gegenzeichnen. Diese Inversion lässt die Unüberschreitbarkeit der eigenen Singularität auf blitzen, zugleich unterstreicht sie deren Nicht-Bezeugbarkeit: Der Zeuge oszilliert demnach zwischen dem »eigenen« Sein und ebendiesem Eigenen als Anderen. Dieses nachträgliche Zeugnis übermittelt ihm das Gedächtnis des Körpers, d.h. der Körper fungiert als Medium (insofern die Spuren des Geburttraumas auf nicht-bewusste Weise in ihm anwesend sind und reaktiviert werden durch die Wirkung des anderen Traumas der Nahtoderfahrung, als eine Wiederholung, 44 | Vgl. Borbély, Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 62. Vgl. mit einer Formulierung eines Nádas-Essays: »Der Melancholiker handelt mit dem Ziel, die Bilder seiner Gefühle und die Begriffe seines Wissens aufeinander zu beziehen, so dass sie sich auseinander oder durcheinander erklären. Er schafft mit diesem Handeln den toten Raum, der das Wissen um die Leere des Wissens und in diesem Sinne ein höchst bewegter Raum ist. In diesem Raum nennt man das Subjekt des Wissens ohne Gefühl Geist, das Gefühl ohne Wissen/Bewusstsein aber Seele.« Mélabú [Melancholie], in: ders., Esszék [Essays], Budapest 2001, 102. 45 | Aus dem Abschnitt, der den soeben zitierten Zeilen vorangeht: »Im Universum herrscht Zeitlosigkeit. Man könnte es Allerlebnis nennen. Das wird vom Bewußtsein mit solcher Bereitwilligkeit akzeptiert, als hätte es nicht erst eine vorläufige Kenntnis davon, sondern wäre durch ein früheres Erlebnis damit vertraut. Durch dieses neue Wissen werden die kleineren Zeiteinheiten und -strukturen unterscheidbar, die irgendwann Zeitspuren im Bewusstsein hinterlassen haben, einer Zeit zugeordnet waren und es im All der Zeitlosigkeit immer noch sind. Deine einstigen Erlebnisse schweben als Schatten von Planeten mit dir.« (127)
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die eine nicht bewusst erlebte und als solche erinnerbare Vergangenheit wiederholt).46 Das Gedächtnis des Körpers, seine erinnernde Seinsweise bedeutet keinen Besitz, sondern ein Sein, die unverfügbare Seinsweise des Subjekts.47 Dieses Déjàvu ist als (referenziell nicht verifizierbare) Evidenzerfahrung der Index oder der Effekt der Gewahrwerdung des Nachlebens bzw. der Nachträglichkeit des Zeugnisses, und wie der Rilke-Bezug zeigt, berührt es durchaus die Ebene der Textualität. Bevor diese Zusammenhänge analysiert werden, wollen wir die interessante Verbindung betrachten, die zwischen der Zirkelstruktur und dem konstativen Charakter besteht (»Ich nahm etwas zur Kenntnis, was ich schon vorher gewusst hatte.«, »mit solcher Bereitwilligkeit akzeptiert«), d.h. dass sich dem Bewusstsein nur diese konstative Funktion als Möglichkeit bietet, und gerade das weist auf den radikal performativen (oder eher »afformativen«)48 Charakter der Nachzeitigkeit oder des Nachlebens als Geschehen, da es dem Zeugnis, seinem Akt, zugleich vorausgeht und dessen Gegenwärtigkeit zwischen der referenziell-narrativen Zeit, dem »wirklichen Geschehen« und seinem supplementären Zeugnis, der testimonialen Exemplarität aufteilt (das »Déjà-vu« spaltet ja immer die Gegenwart). Dieser konstative Modus stellt sich gleichzeitig als unmöglich heraus, denn er wird von der Nachträglichkeit, der Transgression gesteuert, die in der folgenden scheinbar eindeutig konstativen Äußerung gleichsam über ihn hinausgeht49 und auf das Moment des »als-ob«, folglich des Glaubens, zugleich der Physiologie weist: »An der Schwelle meines Todes kann ich das körperliche Dasein [
] überblicken, sagte ich mir …«, ferner: »Mir war, als würde ich plötzlich begreifen …« bzw.: »Das wird vom Bewußtsein mit solcher Bereitwilligkeit akzeptiert, als hätte es nicht erst eine vorläufige Kenntnis davon, sondern wäre durch ein früheres Erlebnis damit vertraut.« (Hervorh. Cs.L.). Die Sprache – hier als Zitat – ist sozusagen als unbewusste Spur dem nicht unbedingt bewussten, eher physiologischen Gedächtnis des Zeugen eingeschrieben (in der Weise des auswendig Gelernten).50 D.h. nicht das Bewusstsein, sondern die »Seele« ist hier bestimmend, entsprechend benutzt der Text auch nicht »Wissen«, sondern »Erinnerung«: »Doch mein sogenanntes Bewußtsein [
] hatte nur an den weltlichen Erfahrungen der Seele teil. Das kosmische Wirken 46 | Zur Frage der Geburt als »Trauma oder Übergang?« vgl. Christina Schües, Philosophie des Geborenseins, Freiburg 2008, 278-285. 47 | Die Geburtsvision wird von einer betont körperlichen Empfindung, einer habituell-automatischen körperlichen Handlung, dem Eindruck der »grobe[n] Riffelung des Staubsaugerschlauches« (271), dem »anschaulichen [im Original: »handgreiflichen«!] Vergleich«, einer Art dialektischem Bild hervorgerufen. (Zum Gedächtnis des Körpers als phänomenologischanthropologischem Problem vgl. Waldenfels, Hyperphänomene, 147-148.) 48 | Vgl. Werner Hamacher, Afformativ, Streik, in: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a.M. 1994, 340-374. 49 | Wie im Falle der »Unmäßigkeit« der Referenz des »Seide und Kaschmir«. Die illokutiven Tropen des Typs »sagte ich mir«, die im Text mehrfach vorkommen, unterscheiden sich übrigens strukturell nicht von der betont äußeren Mitteilung, wie z.B.: »Ein Wildfremder sagt dir, was sich in deinem Brustkorb abspielt, du weißt es nicht.« (105) 50 | Vgl. Schües, Philosophie des Geborenseins, 308-309. Es kommt bei der Agonie von Menschen immer wieder vor, dass sie in der bereits eingetretenen Ohnmacht des Bewusstseins Lieder singen, die sie früher (Jahrzehnte zuvor) gelernt, sie aber seither nicht mehr aufgesagt und sogar auf der Ebene des Bewusstseins vergessen hatten.
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der Schöpfungskraft blieb ihm verborgen. Wenngleich die Seele sich unablässig daran erinnerte.« (235)51 (Die »Seele« ist also gleichsam der Zeuge des Körpers, sie bezeugt dessen Zeugnis davon, wie er in die über ihn hinausgehende Dimension der Energie eingebunden ist oder Anteil an ihr hat. Seele und Körper können nicht nur auf voneinander nicht verschiedene, substanzdualistische Weise nicht behauptet werden, auch in sich selbst nicht, sondern nur im Zusammenhang mit dem Werden.) Der konstative Modus ist gleichsam der Aspekt der Nachträglichkeit des Zeugnisses, die »zweite« Manifestation eines fehlenden primären Zeugnisses, die nachträglich (als »déjà-vu«), zirkulär vonstatten geht – also auch die Manifestation des Fehlens des »primären« Zeugnisses –, die zugleich mit der virtuellen Emergenz des Charakters des »als-ob« des »ersten« Zeugnisses einhergeht. Diesem ersten Zeugnis geben Rilkes Engel – d.h. ein Zitat – Gestalt, gleichzeitig existierte diese Zitathaftigkeit im Verstehensereignis der Nachträglichkeit vor dem sekundären Zeugnis noch nicht, sondern dieses schafft gleichsam seinen eigenen Prätext.52 Im konkreten Textzusammenhang kann also nicht entschieden werden, ob Nádas’ aktuelles Zeugnis oder Rilkes Testimonium zuerst da war. Die »erste« Konstatierung ist performativ und zeigt zugleich die Merkmale der Wiederholung (»déjà-vu«), ein latent ironischer Zug umgibt sie, weswegen die Authentizität des Zeugnisses unwägbar bleibt. Dennoch ist der Bezug zu Rilke wichtig, er impliziert nämlich Äußerlichkeit, er referiert auf das Geschehen des Zeugnisses selbst, genau auf dessen Nachträglichkeit und Sekundarität (vermutlich ist der eingefügte Rilke-Verweis eine Eigenheit des geschriebenen Zeugnisses). Dieser Bezug kann als »irgend jemand [hier Rilke] an meiner Stelle [hätte dasselbe bezeugt]« aufgefasst 51 | Das wird, als einzelner Satz, schon auf Seite 35 vorweggenommen, wirkt dort aber eher rätselhaft: »Ohne die Erinnerung der Seele ist der Körper nicht zu verstehen.« D.h., dass auch den Körper – grenzüberschreitend, als Ausnahmeerfahrung – die nicht-objektivierbare Erinnerung (weniger irgendein referenzielles Wissen) der »Seele« bezeugt. 52 | Vielleicht kann dieses Bereits-Wissen als eine Art Erbe aufgefasst werden, das im immer schon »zweiten« Zeugnis bezeugt werden muss. Damit bezeugt der Zeuge auch sein Dasein als Erbe, was nur unterstreicht, dass dieses Erbe nur bezeugt und nicht festgestellt werden kann. Diese Gedankenstruktur taucht bei Heidegger auf, der Hölderlin interpretiert: »Wer ist der Mensch? Jener, der zeugen muß, was er sei. Zeugen bedeutet einmal ein Bekunden; aber zugleich meint es: für das Bekundete in der Bekundung einstehen. Der Mensch ist der, der er ist, eben in der Bezeugung des eigenen Daseins. Diese Bezeugung meint hier nicht einen nachträglichen und beiherlaufenden Ausdruck des Menschseins, sondern sie macht das Dasein des Menschen mit aus. Aber was soll der Mensch bezeugen? Seine Zugehörigkeit zur Erde. Diese Zugehörigkeit besteht darin, daß der Mensch der Erbe ist und der Lernende in allen Dingen.« (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 1996, 36) Die Logik ist hier analog zur Logik der oben zitierten Stelle aus Sein und Zeit: Die Möglichkeit des Seinkönnens offenbart sich als solche nur in der Zeugenschaft, und zugleich ist die Zeugenschaft selbst auch die Manifestation des Seinkönnens. »Im Vorlaufen kann sich das Dasein erst seines eigensten Seins in seiner unüberholbaren Ganzheit vergewissern. Daher muß die Evidenz einer unmittelbaren Gegebenheit der Erlebnisse, des Ich und des Bewußtseins notwendig hinter der Gewißheit zurückbleiben, die im Vorlaufen beschlossen liegt.« Sein und Zeit, 265. Diese Zirkularität von Seinkönnen und Bezeugung wurde jedoch von Derrida in Aporien problematisiert und bei Nádas wird die Ironie eine gewisse Unterbrechung in diesen Zirkel einführen.
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werden, im Sinne der Unterschrift, der Gegensignatur des eigenen Zeugnisses durch eine andere Singularität, was gleichzeitig den Effekt des »als ob« hervorruft (wie weiter oben auf einer grundsätzlichen Ebene erwähnt wurde). Der Zeuge geht am Ende des Werkes in die folgende, vom »als ob« geprägte, syntaktisch lose, nominale Redeweise über und intensiviert so das eigene DritterSein auf der Ebene des Sprachgebrauchs: Vielleicht die Substanz des Himmels, seine Farbe. Die Umrisse einer Pflanze, die Erinnerung an ein früheres Parfüm Magdas, ausgelöst vom Geruch ihres jetzigen, der Flug eines Vogels, eher die nicht greifbaren Dinge, sonst nichts, absolut nichts. (269)
Das Feld der Referenz, verschiedene Oberflächeneffekte (»die [Farbe] des Himmels«, »Umrisse einer Pflanze«) werden entlang ihrer »nicht greif baren« Qualität gleichsam zu einem Geheimnis, man könnte sagen, die Oberfläche selbst – im Sinne des »nicht greif bar« eventuell auch das Licht – wird, ohne einen hintergründigen Inhalt, zum Geheimnis. Das »[v]ielleicht« spielt dabei eine Rolle, es suspendiert die Gültigkeit der Information, der Beschreibung, und ruft so den Effekt des Geheimnisses hervor (prinzipiell kommt dieses »vielleicht« in jedem Zeugnis zum Tragen).53 Auf der Zeitebene vollzieht sich das im Modus des »déjà-vu«, wobei einzelne Eindrücke, flüchtige Effekte der Gegenwart nicht-bewusste Erinnerungen von Vergangenem hervorrufen (»die Erinnerung an ein früheres Parfüm Magdas, ausgelöst vom Geruch ihres jetzigen«). Das Zeugnis als der Effekt und die Figur des Nachlebens ist mit dem Moment des oberflächenhaften Geheimnisses verknüpft, das sich im Sinne des »déjà-vu« von der Nachläufigkeit her, in der supplementären Seinsweise des Zeugnisses offenbart: »Mir ging es wie einem, der dank eines anschaulichen Vergleichs den wirklichen Ort des Geschehens erkennt« (277). Hier kulminiert die Spaltung, die Transgression des Jetzt-Sagens, des »Gegenwärtigens«. Auch die Fotos im Buch sind Figuren des »déjà-vu«, der Oberfläche als Geheimnis, sie unterbrechen die narrative Zeitlichkeit und ihre Lektüremuster, wobei die Leerstellen zwischen den Bildern und dem Text54 bildlich gesprochen auf die unbezeichenbare Dimension der Transgression verweisen können. Die immateriellen Effekte, die Wirkung des Lichts haben hinsichtlich des Erscheinens des »Gegenstandes«55 in einem gewissen Sinne eher eine zeugenschaftliche Funktion als eine repräsentativ-versinnlichende, und sie oszillieren – den Aussagen der Rezeption 53 | Ein bedeutendes Beispiel dafür: »Wie der alte Geizkragen im Märchen, mein liebes Kind, stöhnt er mit dem letzten Atemzug, weil er noch ein großes Geheimnis loswerden will.« (191) Das »große Geheimnis« ist einerseits bloß eine Telefonnummer, andererseits wird ein Volksmärchen zitiert, d.h. hier wirkt eine doppelte Ironie. 54 | Ein Ausdruck Nádas’ (»empty space« zwischen »the visual and intellectual perception«) in einem Interview mit Davis Kovacs, vgl. bombmagazine.org (jelenkor.net). 55 | Nádas charakterisiert das in Etwas Licht folgendermaßen: »Es ging mir nicht um die Gegenstände, die das Bild einfängt, sondern um das Licht, wie es die Gegenstände berührt, zeichnet, aus dem Raum heraushebt. Es interessierte mich weniger der Gegenstand selbst als der Lichtstrahl, das Lichtbündel, das den Gegenstand charakterisiert. Das brechende Licht, das Zusammentreffen von Hell und Dunkel, die gleißenden Kanten« (Péter Nádas, Etwas Licht, Göttingen 1999, 14).
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zufolge – zwischen dem Charakter des »Signals«56 (Deixis) und des »Abstrakten«.57 Man könnte sagen, das performative Verhalten des Lichts erlaubt die Fokussierung auf den Gegenstand und die Bedeutungen, während es selbst keine Bedeutung hat, es wirkt als Medium, als das Medium der »Beachtung« ohne »Wahrnehmung«, die mit »der Zerstückelung des Körpers«58 einhergeht, wobei es hier der Anblick des Birnbaums ist, der nicht nur in der syntagmatischen Reihe, sondern auch auf der Ebene der Einzelfotos durch die Verschiedenheit der Lichteffekte in Teile zerlegt wird. Zugleich ist die Zeitlichkeit, die Unstetigkeit des Lichts (»wie es [
] berührt, zeichnet
«) wichtig, was im Sinne Barthes’ darauf hindeutet, dass die Fotografie die Zeit bezeugt und nicht den Gegenstand, d.h.: Ihr »Bestätigungsvermögen« (ihre beglaubigende Kraft) hat »Vorrang vor der Fähigkeit der Wiedergabe«.59 Das sprachliche Zeugnis kann dagegen »nicht für sich selbst bürgen«,60 und die Quelle der Ironie von Der eigene Tod mag denn auch der Kontrast zwischen den Fotos und dem Text sein. So kann z.B. auch der Gegensatz zwischen dem betont »unfassbaren« (Licht) und »[der] grobe[n] Riffelung des Staubsaugerschlauches« (271, kurz danach) als taktiler Eindruck (der im Erzähler das »déjà-vu«-hafte Evidenzgefühl des Todes als Geburtsvision weckt) eine ironische Wirkung entfalten. Die zweite Funktion der Fotografie ist in der Metapher des »von einem höheren Blickpunkt aus fotografieren« zu suchen (die wiederum in der »Fähigkeit zur ironischen Betrachtung« eine Parallele findet).61 Dieser Blick »jenseits der begrifflichen Welt« kann der Blick des Zeugen sein, eine Art nicht-anthropomorphe, gerade deswegen technisch-fotografische Sicht, die dem Zeugen als Instanz des Dritten entspricht. Es handelt sich hier nicht einfach um irgendeine transitive Wahrnehmung, sondern um die, auch ironische, Exteriorisierung (die auf der textuellen Ebene bereits angesprochen wurde) des Zeugen (in Bezug auf sich selbst). Damit ist das »déjà-vu« als der Index des Nachlebens zugleich auch die Dimension der Ironie.62 Wenn der Zeuge nachträglich auf etwas kommt, was er schon wusste (auf 56 | Vgl. Bán, Az egybeesés könyve, 37. 57 | Vgl. Kiss, A fotográfia, az élet negatívja, 91. 58 | Barthes, Die helle Kammer, 115, 122, 126. Was ebenso zu den ironischen Gegensätzlichkeiten zwischen Text und Fotos führen kann: Der Text erläutert das »Ganzheitserlebnis« auf Seite 201, der Baum ihm gegenüber erscheint auf dem Foto aber eben nicht in seiner Gänze, sondern ohne Krone. 59 | Ebd., 99. 60 | Ebd., 87. Das ist oben bei den Komplikationen um »Seide und Kaschmir« deutlich geworden: Die Bedeutungslosigkeit der Referenz führt im Diskurs zu einem Anakoluth, sie ist als solche nicht fixierbar. 61 | »Bis zu einem gewissen Grad war selbst die Fähigkeit zur ironischen Betrachtung erhalten geblieben. Sogar die Fähigkeit, wie ein Fotograf zu sehen, war noch erhalten. Mit wohlwollender Nachsicht beobachtete ich die beflissenen Hände, die Behaarung auf ihnen, die emsige Aktivität meines Bewußtseins, meine unerklärliche optische Täuschung. Aber dieser gemessen an der Realität zu hohe [im Original: »kameraartige«] Blickpunkt entsprach der Perspektive jenseits der begrifflichen Welt.« (231) Lénárts ausgezeichnete Analyse ist darauf eingegangen, vgl. Nahaufnahme und Todesnähe, 343-344. 62 | Vgl. Lénárt, ebd., 348. »… die Erkenntnis [wird] von einer körperlich-materiellen Erfahrung ausgelöst, und zwar von der groben Riffelung des Staubsaugerschlauches, eine beinahe profane Metonymie, die den Erzähler an die Ähnlichkeit zwischen dem Schlauch und dem
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eine Vergangenheit weisend, die nicht gegenwärtig war), dann deutet das auf eine ironische Struktur. Der spektrale, gespenstische (weder wirkliche noch fiktive) Zug der »unempfundenen‹ Erfahrung«, des »Tod[es] ohne Tod« steht damit im Zusammenhang.63 Eine weitere wichtige Textstelle findet sich am Ende des Buches, wo der Zustand des heimgekehrten autobiographischen Ichs skizziert wird und eine Verbindung zum oben analysierten Abschnitt hergestellt werden kann, der mit »[m]an hat keine blasse Ahnung« beginnt: Als man mich einige Tage später nach einem kleineren chirurgischen Eingriff entließ, versuchte ich in jene Umwelt zurückzukehren, die der Mensch unter großen Zweifeln das diesseitige Leben nennt. Ich bemühte mich, zu den einfachsten, grundlegenden Verrichtungen zurückzukehren, neu zu lernen, was ich vom Jammertal wußte. Ich staubsaugte. Staub, Teppich, Polster, ich bemühte mich, sie in ihrem realen Sein ernst zu nehmen. All das war ziemlich seltsam. Nachdem jemand gewaltsam zurückgeholt worden ist, geht ihn nichts mehr etwas an. Weder die Gegenstände noch die anderen Menschen, weder das eigene Wissen, noch die eigene Lebensgeschichte, nichts. Gefühle gibt es, wenn man sich in den Finger sticht, tut es weh, aber es geht einen nichts an. (267)
Der Signifikant »man/Mensch« kommt hier nicht mehr einfach als allgemeines Subjekt, als das Subjekt des »Man« vor, sondern er verdoppelt sich. Die erste Nennung kann freilich damit in Verbindung gebracht werden: was »man/der Mensch unter großen Zweifeln das diesseitige Leben nennt«. Offenbar geht es hier um die Reflexion weiterer konventioneller Ausdrücke, um ein Anakoluth (die Brechung der Rolle des Sprachbenutzers). Es kann nicht eindeutig entschieden werden, ob dieses/dieser »man/Mensch« das allgemeine, unpersönliche Subjekt ist oder aber die »großen Zweifel« den überlebenden Zeugen in Verbindung mit der Benutzbarkeit, der Trefflichkeit oder Verlässlichkeit des Ausdrucks plagen. Als syntaktisches Subjekt bezieht sich das/der »man/Mensch« ein paar Sätze später nämlich eher auf den Zeugen als Überlebenden: »Nachdem jemand gewaltsam zurückgeholt worden ist, geht ihn nichts mehr etwas an.« Dieses Subjekt ist der Zeuge selbst als singuläres Subjekt, doch gleichzeitig zielt »man/Mensch« als kolloquialer Ausdruck auf es ab. Jedoch kann dieses/dieser »man/Mensch« nicht mehr identisch mit dem »man/ Mensch« sein, das/der die Dinge benennt, z.B. das »diesseitige Leben«, auch seine Benennungspotenz (nicht nur die von ihm vergebenen Namen) erscheint gleichsam in Anführungszeichen. Aus narrativer Sicht bildet diese Stelle die »Stimme ohne Person«, das Beispiel des »Neutrums«, den Mangel der »narratierenden Stimme, als die das ›ich‹ sich setzt und mit der es sich selbst identifiziert«.64 Diese Stimme kennzeichnet eine Art Intentionalität ohne Bewusstsein (wie das »Aufmerksamkeit« ohne »Wahrnehmung« in Verbindung mit Barthes’ »punctum« als der Effekt der »intentionalen Bewegung der Referenz«). So gesehen wird der Zeuge radikal unpersönlich, intensiviert sich die seiner Gestalt inhärente Unpersönlichkeit, da Geburtskanal, an eine Metapher also, erinnert.« So erhält der »anschauliche/handgreifliche Vergleich« eine Referenz. 63 | Derrida, Bleibe, 109. 64 | Ebd., 24.
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er sich von den Instanzen, die seine Identität bestimmen, eingrenzen, den referenziellen (»die Gegenstände«), den intersubjektiven (»die Anderen«), den kognitiven (»sein Wissen«) und narrativen (»seine Lebensgeschichte«) Mustern entzieht. Insofern ist er wirklich nur noch ein »Mensch« (ein Man), und doch auch ein exemplarisches, unersetzbares Subjekt, da keinerlei partikuläre Referenz, aber auch keine allgemeine, generalisierbare Instanz seine zeugenschaftliche Exemplarität, sein »ich-Sagen« überschreibt. So berühren die »großen Zweifel« potentiell auch den Begriff des »Menschen« bzw. seine Benennbarkeit, die Zweifel des »man/Mensch« richten sich auch auf ihn selbst bzw. auf seinen Namen, seine Bestimmbarkeit. Die Identität des Zeugen ist die Gestalt des Dritten (gerade auch für ihn selbst!), die äußerlich gewordene, testamentarische Identität, das/der »man/Mensch« bedeutet hier eher diese Exteriorität als irgendeine Gattungsidentität. D.h. dass der katachretische Charakter des Signifikanten »man/Mensch« parallel zum Auftreten des Zeugen als (überlebenden) Dritten, der testamentarischen Struktur des Zeugnisses und dem gleichzeitigen Zurücktreten, der Regression der scheinbar souveränen, originären Zeugenrolle, explizit wird. Anstelle dieses letzten Zeugen legt das Subjekt der Zeugenschaft sein Zeugnis als eine Art Gespenst ab, als Zeuge seiner selbst als eines Anderen. Im Sinne des Nachlebens zeugt das Zeugnis also unvermeidlich auch von der Gegenwart des Zeugen, ohne jedoch die Verantwortung für den Zeugen (für das autobiographische Subjekt) und den Zeitbezug des bezeugten Ereignisses, den und das es bezeugt, übernehmen zu können.65 D.h. gerade diese Gegenwart wird – im Modus der Testamentarität – vom Über-leben gespalten, das »jeden Augenblick in einer Art irreduzibler Verwindung [torsion] strukturiert, derjenigen einer retrospektiven Antizipation, welche die Unzeit und das Posthume in das Allerlebendigste der lebendigen Gegenwart einführt, das Rückwärtsschauende eines in jedem Augenblick Auf-den-Tod-gefaßt-seins, die vorzeitige Zukunft, die selbst der Gegenwart vorhergeht«66 Die Bezeichnung »man/Mensch« ermöglicht auch hier weder reflexive Erkenntnis noch eine Dialektik von individuell und allgemein,67 sondern sie wird, sozusagen wie das sekundäre Zeugnis, von einer latenten Ironie durchdrungen. Ein ironischer Zeuge, die Ironie als Zeugnisgeben – scheinbar eine paradoxe Vorstellung, aber als Anakoluth, als Heimsuchung durch die »permanent parabasis«68 der narrativen Linearität verknüpft sie die Ironie durchaus mit der Nachträglichkeit des Zeugnisses, dem Fehlen des primären Zeugnisses. Diese Ironie kann gerade die referenziell-pragmatisch-konventionellen Muster, die diesen Mangel verdecken, ja das vorausgesetzte originäre Zeugnis, als An-Akoluth die »Erwartungen einer vorgegebenen grammatischen oder rhetorischen Bewegung« enttäuschen bzw. zer-
65 | Vgl. Ebd., 75. 66 | Derrida, Aporien, 94. 67 | Es handelt sich um die zwei traditionellen Bestimmungen der Funktion der Ironie, vgl. Paul de Man, The Concept of Irony, in: ders., Aesthetic ideology, Minneapolis/London 1996, 169-170. 68 | Ebd., 178-179. Die de-Man-sche Interpretation des Anakoluths kann übrigens als die sprachliche Variante des »punctums« (oder umgekehrt) aufgefasst werden, zumindest hinsichtlich einzelner Funktionen.
Maßloser Rest: Zeugnis und Ironie
stören69 und überhaupt in Bezug zum Fehlen der Gegenbezeugung der Zeugnisgebens, der Gegenzeichnung,70 also der prekären Seinsweise des Zeugnisses selbst.71 Diese Ironie ist keine intentionale Tätigkeit des reflexiven (erzählerischen oder auktorialen) Bewusstseins, sie ist eher eine »mediale Stimme«, da sie zwischen »man/ Mensch« und Zeuge oszilliert bzw. differiert72 und keiner der Instanzen je angehört (die Ironie unterbricht als Anakoluth jede exklusive Verbindung des Zeugnisses zu irgendeiner Instanz). Damit ist die Ironie der Effekt der Unmöglichkeit der Zeugenschaft, durch den sich das Zeugnis gegen sich selbst kehrt (hier im Sinne des selbstdestruktiven Verhaltens des Signifikanten »man/Mensch«). Letztendlich ist die Ironie – indem sie die Differenz bzw. Spannung zwischen Narration und Zeugnis verstärkt – gleichzeitig der Index der Möglichkeit und der Unmöglichkeit der Zeugenschaft. Die Ironie entspricht also dem Anspruch des Alles-Sagens und zieht ihn zugleich auch zurück (insofern sie die Sprache des Zeugnisses zwischen Aussprechen und Verschweigen, als virtueller Zug überschreibt). Mutmaßlich deswegen, weil der Anspruch des Alles-Sagens keine irgendwie geartete Programmatik, auch kein empirisches Vorzählen, Berichten bedeutet, sondern weil er gerade dem Mangel des primären Zeugnisses entspringt, dieser ihn affiziert (weswegen er nolens volens auch zu einer maßlos literarisierenden Hyperbolisierung werden kann). Das in Worte Fassen dieses Anspruchs kann sich in Der eigene Tod auch nur als Transgression manifestieren, im Sinne der Übertretung, der Verlagerung von Referenzen, auch einzelner Diskurse, ferner der konventionellen, narrativen Regeln des Jetzt-Sagens und des Ich-Sagens, parallel also zu den Implikationen der Nachträglichkeit der Zeitverhältnisse und der Exteriorisierung des Ich, auf der textuellen Ebene der Testamentarität des Zeugnisses als (nachträgliche) Aufzeichnung. Der transgressive Zug des Alles-Sagens korreliert mit einer Gabenhaftigkeit, insofern 69 | Vgl. de Man, Entschuldigungen, in: ders., Allegorien des Lesen II, Berlin 2012, 262. 70 | Vgl. Derrida, ›Le Parjure‹ Perhaps: Storytelling and Lying (»abrupt breaches of syntax«), in: Jacobs/Sussman (Hg.), Acts of Narrative, 215. Vgl. mit einer Bemerkung Kiss’: »… es gibt keinen Autor, keinen Augenzeugen, der das erzählte, was mit dem Erzähler passiert ist.« A fotográfia, az élet negatívja, 90. 71 | Mit der profanen Gabe verweist der Schluss des Bandes auf der szenischen Ebene im Modus einer Art des Opfers oder des Dankes bzw. als Testament (das der Andere, der Dritte als Gesandter vollstreckt), sozusagen als Entschuldigung darauf: »Lange wagte ich mich nicht aus der Wohnung, weil mir schwerfiel, die reale Existenz der Dinge ernst zu nehmen, da ich ihr Wesen nun einmal zu kennen glaubte. Ich bat meine Frau, zehn Kleiderbügel zu kaufen, die besten, die schönsten und teuersten, damit ins Krankenhaus zu gehen und die große Krankenschwester aufzusuchen. Wenigstens Kleiderbügel sollten sie nicht suchen.« (283) Borbély deutet das als »Ausgleichsopfer« (»an die Herren der Unterwelt«), »in dem die Bitte, das Eingreifen des Vermittlers, die durch den Anderen vollführte Handlung genauso bedeutsam ist wie die Geste der Stellvertretung.« Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 52. Das Moment der Stellvertretung unterstreicht die Ironie: Gerade die Reaktion auf die zutiefst einzigartige, zutiefst eigene Erfahrung beansprucht die Figur des Dritten. 72 | Vgl. Derrida, Bleibe, 25. Die »mediale Stimme« variiert den aus der Linguistik bekannten Begriff des »medialen Verbs«, vgl. dazu Emile Benveniste, Aktiv und Medium im Verb, in: ders., Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, München 1974, 189-198. Es geht um eine Hybridität, die nicht mit dem Gegensatz von aktiv und passiv zu deuten ist.
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Zeugnisgaben der Literatur
die eigentliche Gabe immer das gibt, was sie nicht hat, gleichsam als ihre eigene Zu-Gabe immer mehr oder anders gebend als das, was sie sich selbst zuschreiben könnte. Dieses potentielle Alles-Sagen als Transgression schreibt nämlich – in ihrer eigenen Bewegung, sogar als diese Bewegung – eine zu ihm selbst jenseitige virtuelle Dimension (z.B. ein Nachleben) ein, über die es nicht verfügt, das das virtuelle Hinterlassen einer Spur ist, aber auch ein Schweigen, die Verwahrnis des Geheimnisses, die Gegenzeichnung oder Signatur des Geheimnisses als Geheimnisses. Die Aufzeichnungsfunktion selbst ist im Text denn auch der akzentuierte Index der Nachträglichkeit, der sich hauptsächlich in eingebauter medizinischer Terminologie und Beschreibung, ferner Fremdwörtern, allgemein Zitaten manifestiert. Derweil sind die medizinischen Ausdrücke und Beschreibungen selbst keine Fürsprecher irgendeiner restlosen, unanfechtbaren Referentialität,73 eher exponieren sie ihre Partialität gegenüber den Herausforderungen des Zeugnisgebens, ferner die exteriorisierte Identität des Zeugen.74 Ihre betonte Fremdheit im Vergleich zu den immateriellen Zügen des Erlebnisses der Todesnähe generiert – gar als potentielle Ironie – eine Art Rauschen in der jene Züge bezeugenden Sprache,75 genauer der zwischen ihnen stattfindenden Übersetzung bzw. deren Unmöglichkeit. Wie bereits deutlich geworden ist, kann dieses sich auch im Falle völlig alltäglicher Referenzen wie »Seide und Kaschmir« manifestieren. Diese Ironie ist nichts anderes als eine Art maßloser Rest, der Effekt der Transgression, die Reste (z.B. Zitate) produziert. Die Sprache des Zeugnisgebens schafft nicht einfach eine neue, vielleicht »eigene« Sprache für den »eigenen Tod«, sondern sie weist auf einen gewissen Mangel der vorhandenen Sprache, ja des »eigenen« Zeugnisses hin, diesen Mangel bezeugt sie als Testamentarität, wobei an die Stelle des Mangels unvermeidlich Zitate treten (auf unvergessliche Weise im Beispiel des »umkippen«, das kaum zufällig gerade die Bewegung oder das Ereignis der Transgression anvisiert und dieses auch als sprachliche – auch in die Nachträglichkeit des Zeugnisses führenden – Grenzüberschreitung ausführt).76 In der Aufzeichnung, die Nachträglichkeit
73 | Vgl. z.B. mit folgender Stelle, wo der Erzähler die Gültigkeit des medizinischen Sprachgebrauchs bestreitet, zumindest im Hinblick auf sich selbst: »Man verliert das Alltagsbewußtsein, obwohl ich im Gegensatz zu den Ärzten nicht behaupten würde, daß man das Bewußtsein verliert. Mein Geist war wacher als je zuvor.« (121) 74 | Vgl. auch Lénárt, Nahaufnahme und Todesnähe, 346. 75 | Vgl. dazu z.B. den Gebrauch des Ausdrucks »Reanimation«, der einer Bemerkung Borbélys zufolge auch auf das Wort »anima«, d.h. »Seele« weisen kann (Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 44). Folglich verfremdet, exteriorisiert er die Immaterialität der »Seele« in der Form einer sprachlichen Katachrese. 76 | »In der ungarischen Sprache gibt es leider kein Verb, das auf dieses schicksalhafte Geschehen passen würde. Es handelt sich um eine einzige, kurze Schwenkbewegung. Sich von irgendwo herüberdrehen und dadurch irgendwo hingeraten. Das Deutsche hat dafür ein anschauliches Verb. Umkippen. Im Französischen läßt sich ebenfalls ein geeignetes Wort finden, basculer.« (209) Borbély verweist darauf, dass »diese Grübelei vermutlich nicht in der Zeit der Erzählung [eher der »Geschichte«, histoire, story – Cs.L.] auftaucht, sondern diese – vor dem Hintergrund des Textes einigermaßen fremde – Reflexion des Autors mag sich im – nachträglichen – Vergleich
Maßloser Rest: Zeugnis und Ironie
produziert,77 kann sich nur das nachträgliche Erkennen des Vorverständnisses vollziehen (weswegen das Bewusstsein, der »Verstand« hier doch eine Funktion hat), wofür die Seinsweise des Zitats beispielgebend war (mit Rilkes »stummen Engeln [
], die uns über die Schulter schauen«), die der Index dieser Nachträglichkeit ist. Die testamentarische Struktur des Nachlebens manifestiert sich im Moment der Aufzeichnung, die die Zitathaftigkeit, die Performativität des Zitierens einschaltet, insofern dieses als Aus-Nahme (aus einem anderen Kontext) die Exemplifizierung (hier aber auch die Autorisierung des Allgemeinen) veranlassen bzw. einen fiktiven Charakter hervorrufen kann. In dieser sowohl hermeneutischen als auch textuellen Nachträglichkeit generiert also die Zitathaftigkeit der Sprache die Fiktionalität, die Verunsicherung der authentischen Benennbarkeit des Todes »als solchen«.78 Genauer: Das »zweite« Zeugnis aktiviert (in Ermangelung des »ersten« Zeugnisses) unausweichlich die Zitathaftigkeit, den testamentarischen Charakter des sprachlichen Zeichens als doppelte Bewegung – als die Bewegung von Exemplifizierung und Fiktionalisierung (eine korrelierende Beziehung, die auch als das – auch Übersetzung und Transposition manifestierende – Verhältnis von Zeichen und Rauschen beschreibbar wäre). Diese doppelte Bewegung wirkt im Zeugnis und in der Fiktion, und das sprachliche Zeugnis, die Seinsweise des literarischen Zeugnisses bleibt aus diesem Grund irreduzibel ambivalent.
der eigenen Erfahrung mit fremden Beschreibungen, im Laufe von Erwägungen und Schätzungen abgezeichnet haben.« Átbillenni, átbukni, átfordulni, leválni…, 58. 77 | Lajos Jánossy erwähnt an einer Stelle neben der Gestalt des »Boten« die »doppelte Figur des begleitenden und notierenden Schreibenden«, vgl. Kasmír zakó, teljesség, körtefa [Kaschmirsakko, Vollkommenheit, Birnbaum], in: Testre szabott élet, 77. 78 | Vgl. Derrida, Aporien, 122. Vgl. mit der ebenso ironischen wie die Fiktionalisierung reflektierenden Stelle (die auch die Fotos einschließt!): »… Wodurch ich im Augenblick meines Todes unglaublich lächerlich wurde. Wie der alte Geizkragen im Märchen, mein liebes Kind, stöhnt er mit dem letzten Atemzug, weil er noch ein großes Geheimnis loswerden will. Den großen Topf mit dem geraubten Gold habe ich drei Schritte vom großen Wildbirnenbaum vergraben.« (191-193)
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Personenregister
Adorno, Theodor W.
298, 302-304 Agamben, Giorgio 12, 38, 45-47, 146 Ambrus, Gábor 113-114 Anderson, Sascha 328, 333, 343-344 Arendt, Hannah 229-230, 251, 255, 257, 261, 347-348 Assman, Jan 103 Augustinus, Aurelius 26, 62, 64, 6769, 71-73, 76, 79-80, 229 Austin, John L. 14-15, 74, 83, 123, 200-201
Babits, Mihály
103-104, 110-114, 118, 123, 263, 270-271, 288 Bahr, Hans-Dieter 191, 201, 205, 209 Balassa, Péter 273, 275-276 Balázs, Béla 110, 271, 275 Bán, Zsófia 358, 368 Bányai, János 327, 339, 346 Barta, János 267, 290 Barthes, Roland 35, 342, 362, 368-369 Baudelaire, Charles 99, 141, 187 Bauer, Karin 323 Bazsányi, Sándor 359 Beissner, Friedrich 136, 137, 143, 150 Benjamin, Walter 10, 22-23, 31, 37, 41, 44, 52, 55-56, 70, 76, 98-99, 102, 105, 115, 118, 121-123, 125-126, 141, 158, 186, 240, 245, 257, 292, 301-302, 307, 310, 311, 313, 318-321, 323-324, 330, 334, 339, 344-345 Benn, Gottfried 87, 105, 114, 117, 154, 331, 338 Bennett, Jill 242
Benveniste, Emile 26, 28-29, 32, 38, 210, 218, 277, 371 Binder, Wolfgang 153 Bojani, Petar 316 Böll, Heinrich 316, 319, 324 Bollack, Jean 141, 163 Bolyki, János 33 Bolz, Norbert 234 Böning, Thomas 98 Borbély, Szilárd 352-354, 359, 364, 371-372 Borsche, Tilman 69, 71-73 Böschenstein, Bernhard 255 Bremer, Kai 159 Brodsky, Claudia 138 Bürger, Christa 226 Butler, Judith 19
Caruth, Caty
299, 355-356 Casper, Bernhard 79 Castoriades, Cornelius 16 Cavell, Stanley 234, 239 Celan, Paul 43, 48, 80, 114, 305 Chase, Cynthia 219 Chladenius, Johann Martin 142
Darabos, Enikő
359 David, Thomas 352 de Man, Paul 24, 38, 42-43, 51, 77, 93, 98, 102-103, 121-122, 132, 138, 142, 148-149, 155, 158, 187, 196, 216, 240, 242-243, 273, 275, 287, 339, 370-371 Deleuze, Gilles 33, 234 Derrida, Jacques 7, 10-16, 18-21, 24-27, 30-37, 40-43, 45-76, 48-50, 53-57,
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Zeugnisgaben der Literatur
61, 66, 70, 75-76, 80, 82-83, 87, 94, 102, 105-106, 116, 121, 124-127, 139, 142, 144, 153, 156, 158, 164, 166-167, 173-174, 176-177, 180, 182, 191, 198, 205, 207, 209, 211-212, 216, 226, 228-230, 235, 238, 240, 251, 253-255, 262, 266, 270, 273-275, 278, 281, 284, 287-289, 294, 306-309, 312, 322, 329-331, 333, 342, 345, 347-348, 351-354, 356, 359, 361-362, 366, 369, 371, 373 Di Cesare, Donatella 61, 68-69 Diner, Dan 299 Dobos, István 327, 334, 340 Droysen, Johann Gustav 226 Duttlinger, Carolin 308
Ebeling, Knut
330, 332 Eckermann, Johann Peter 95, 118 Ernst, Wolfgang 330-331 Esposito, Roberto 244 Esterházy, Péter 7, 16-17, 19, 28, 35, 4344, 48, 52, 54, 56-57, 81, 263, 276, 327-329, 333-337, 339, 345
Fehér, István M.
179 Felman, Shoshana 87 Figal, Günter 62, 68, 70-71, 75, 87 Fischer, Holger 333 Ford, Ford Madox 104 Foucault, Michel 95, 133, 231, 233, 237238, 241, 331-332, 335 Freud, Sigmund 34, 102, 228-229, 233, 249, 261, 308, 336-337, 355 Frey, Hans-Jost 77, 149, 165, 279 Fynsk, Christopher 175
Gadamer, Hans-Georg
26-27, 61-78, 81, 83-84, 87-88, 122, 135, 138, 142, 176, 179, 286, 319 Gamper, Michael 124 Gasché, Rodolphe 127 Geertz, Clifford 131 Geisenhanslüke, Achim 210 George, Stefan 64, 81-83, 125 Giuriato, Davide 86 Goethe, Johann Wolfgang von 95-96, 111-112, 116, 118-119, 141, 224-225,
Gooskens, Gert 22 Graevenitz, Gerhart von 223, 228-229 Grathoff, Dirk 248 Gries, Rainer 23 Grondin, Jean 62, 64, 69, 72 Guattari, Félix 234 Gumbrecht, Hans Ulrich 132, 284 Gyarmati, György 332, 344 Gyurcsány, Ferenc 345
Habermas, Jürgen
37, 223, 234 Hage, Volker 301, 306, 310 Hahn, Alois 256 Hamacher, Werner 365 Haverkamp, Anselm 185-186, 230, 241, 246 Hay, Louis 131 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 65, 68, 71, 96, 138, 140-141, 148, 258 Heidegger, Martin 7, 11, 13, 15-18, 26, 35, 41, 51, 56-57, 61, 63-64, 67-68, 70-74, 77, 81-83, 102, 108, 117, 120121, 125, 131, 149-154, 169, 171-180, 182, 184, 185-187, 242, 251, 274, 279, 284, 286-289, 310, 343, 351-352, 354, 356-357, 359-360, 366 Heinze, Richard 277 Hell, Julia 306-307, 309 Herzog, Reinhart 68, 76 Hoffmann, Christoph 132 Hölderlin, Friedrich 7, 27, 35, 47, 51-52, 63-64, 68, 71, 73, 75, 77-78, 96-98, 120, 131, 133, 136-138, 140-141, 143, 145, 148-155, 157-160, 163, 165, 168-169, 171, 178, 180-181, 183, 186187, 279, 366 Horváth, János 110-111, 116, 118 Humboldt, Wilhelm von 15, 53, 65-66, 74, 76-77, 85-86, 268 Huyssen, Andreas 300, 306, 308-309, 319
Ilsemann, Mark Jacobs, Carol
300
98-99 Jánossy, Lajos 373 Jaspers, Karl 106, 121
Personenregister
Jauß, Hans Robert 64-65, 99-100, 134-135, 191, 227, 268, 312 Jolles, André 123
K ansteiner, Wulf
23 Kant, Immanuel 134-135, 203-204, 206, 212-214, 220-221, 224, 231, 235-236, 243, 245, 250-251, 254, 257, 269, 286-287, 301 Károlyi, Csaba 351 Kende, Péter 333-334, 344 Kenedi, János 344 Keppler, Angela 256, 330 Király, István 282 Kiss, Noémi 368, 371 Kittler, Friedrich 132, 233, 341 Kleist, Heinrich von 7, 16, 24, 28, 34, 40, 43-44, 48-49, 54, 56-57, 82, 84-88, 191—193, 196-197, 201-205, 209-212, 215, 217-221, 223-261 Kluge, Alexander 23, 33, 41, 44, 52, 301, 309, 311, 316, 318-320, 323 Kommerell, Max 198, 205, 212, 226, 247, 253, 255, 257, 259-260 Korsten, Frans-Willem 238, 260 Koschorke, Albrecht 230, 256 Koselleck, Reinhart 24, 95-96, 101, 113, 115, 133-134, 136, 203-204, 212, 214, 220, 223-224, 226, 231-233, 250-251, 261, 304, 307, 311-312, 320, 331 Kosztolányi, Dezső 7, 28, 35, 47, 72, 102, 107, 119-126, 263-295 Kovacs, Davis 367 Kramer, Fritz 101 Krämer, Sybille 9, 16-17, 24, 31, 46, 54, 322 Kreuzer, Johann 70, 72, 76 Kulcsár Szabó, Ernő 35, 53, 95, 111, 266, 278 Kulcsár-Szabó, Zoltán 33, 37-38, 47, 70, 81-82, 86, 88, 100, 116, 118, 125, 132, 138, 142, 148, 153, 169, 176, 178, 212, 216, 263, 287, 290, 298, 316, 318, 345, 349
Lacan, Jacques
16, 230, 260 Lachmann, Karl 159
Lachmann, Otto F. 62 Lacoue-Labarthe, Philippe 56 Latour, Bruno 93, 120, 124 Lénárt, Tamás 356, 358, 368, 372 Lepenies, Wolf 223 Lévy-Bruhl, Lucien 110 Lipps, Hans 15, 19, 68, 71, 73, 76, 83, 123, 239 Lockemann, Fritz 225 Lotringer, Sylvère 186 Lubkoll, Christine 201 Luckmann, Thomas 256, 330 Luhmann, Niklas 9, 30, 32, 36, 45, 47, 201, 218, 254, 315, 360 Lüsebrink, Hans-Jürgen 227
Mann, Thomas
103 Márai, Sándor 33, 287-288 Markus, Robert 69 Marquard, Odo 204, 215, 298 Martens, Gunter 139 Mártonffy, Marcell 264, 267 Martyn, David 93-94 Marx, Stefanie 201 Mehigan, Timothy J. 202, 218 Menke, Bettine 320 Menninghaus, Winfried 169 Menyhért, Anna 327, 334, 337, 341, 346 Miller, J. Hillis 198, 212, 238, 240, 275 Möllers, Christoph 306 Molnár, Gábor Tamás 140, 266, 293 Mora, Terézia 328 Moser, Christian 193, 202, 205, 211, 215, 236-237, 260 Mottel, Helmut 148, 152, 157, 159, 167, 181 Müller, Gernot 203 Müller, Heiner 323 Muschg, Walter 168 Musil, Robert 35, 102, 104-110, 112-113, 117, 125, 278-279, 312, 318
Nádas, Péter
7, 23, 34, 44, 47-48, 52, 54-55, 87, 333, 344, 351-367 Nägele, Rainer 78, 149, 158, 161, 165 Németh, G. Béla 263, 279 Németh, László 111, 114-115, 263
377
378
Zeugnisgaben der Literatur
Neumann, Gerhard 203, 209-210, 226, 235 Neumann, Peter Horst 114 Nietzsche, Friedrich 11, 24, 3365-66, 71, 80, 86, 88, 102, 104, 118, 121, 126, 135, 160, 163, 171, 214, 220, 229, 231, 250-251, 255, 257-262, 265, 268269, 276-277, 287, 291-293 Niven, Bill 297 Nossack, Hans Erich 301, 309, 311, 313, 316, 319
Oliva, Mirela
62, 68
Palkó, Gábor
266-267, 269 Pethes, Nicolas 132-133, 136, 145 Pfeiffer, Joachim 233 Platon 61 ,67, 69 Plautus, Titus Maccius 32, 277 Plessner, Helmuth 313, 316 Poszler, György 103, 112, 114, 116 Presner, Todd Samuel 305, 307, 309310, 319 Proust, Marcel 106
Rainer M., János
332-335 Rancière, Jacques 18, 23, 32, 301, 359 Reemtsma, Jan Philipp 256 Reuß, Roland 198, 202, 204 Rheinberger, Hans-Jörg 124-125 Ricoeur, Paul 10, 13-14, 17, 24, 49, 142 Rilke, Rainer Maria 114, 163, 310, 364366, 373 Rosenzweig, Franz 277 Roudinesco, Élisabeth 102, 127 Rousseau, Jean-Jacques 24, 51, 186, 227, 231, 234, 240 ,257, 261 Ruchatz, Jens 136, 145 Rychner, Max 105
Sabrow, Martin
23 Schings, Hans-Jürgen 193, 215 Schlaffer, Heinz 143 Schlegel, August Wilhelm 224-225 Schlegel, Friedrich 218 Schleiermacher, Friedrich 134-135, 141-142, 148 Schmidt, Jochen 203
Schmidt-Dengler, Wendelin 111 Schmitt, Carl 102, 107, 146, 315-316, 324 Schneider, Manfred 217 Schraml, Wolfgang 106-107, 112 Schrijvers, Joeri 80 Schües, Christina 365 Schüttpelz, Erhard 93-95, 100-101, 103, 117, 119, 124 Schwind, Klaus 225, 232, 239, 242, 244, 260 Sebald, W. G. 7, 16-17, 23, 27, 33-35, 40-44, 48, 52, 54-57, 297-324 Shelley, Percy Bysshe 148 Siegert, Bernhard 234 Simmel, Georg 197, 200, 214, 243, 252 Simon, Attila 76 Skirecki, Hans 327-328, 340 Sloterdijk, Peter 112 Spengler, Oswald 103, 112 Stephens, Anthony 209, 245 Stierle, Karlheinz 136 Streim, Gregor 103 Szabó, Lőrinc 102 Szegedy-Maszák, Mihály 104, 112, 115, 119-120, 122-123, 265, 271 Szerb, Antal 102-103, 111-116, 118, 123 Szirák, Péter 327 Szondi, Peter 56, 131, 133-150, 152, 157165, 168-169
Theisen, Bianca
227 Thienemann, Theodor (Tivadar) 111113, 116-118, 136 Thomas von Aquin 62, 69 Tischel, Alexandra 319 Török, Ervin 84, 86-87
Valéry, Paul
102, 105 Vees-Gulani, Susanne 300, 307, 324 Vikár, Béla 123 Vinken, Barbara 241, 246 Viragh, Christina 40, 269, 274 Visky, András 352, 359 Vismann, Cornelia 226, 228, 237, 246, 331-332, 341, 344 Vogl, Joseph 260
Personenregister
Waldenfels, Bernhard
353, 365 Ward, Simon 319 Warminski, Andrzej 140, 163 Weber, Samuel 37, 288-289 Wetzel, Michael 213 Willer, Stefan 136, 145 Wilms, Wilfried 299 Wirth, Uwe 159
Zeeb, Ekkehard
203 Zumthor, Paul 123 Zweig, Stefan 106-107, 111
379
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