Mobilität und Zeugenschaft: Unabhängige Dokumentarfilmpraktiken und der Kaschmirkonflikt 9783839441770

Is it possible to make independent documentaries in conflict regions? Max Kramer illuminates the relevance of mobility a

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German Pages 326 Year 2018

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einführung
I
Filme und Konfliktregionen
Mobilität und Konversation
Ein Filmkörper in Bewegung
II
Tourismifizierung und Securitization
Die Wiederaneignung des besetzten Paradieses
Umstrittene Zeugnisse von Gewalt
Mobilität, Film-Form und Ethik
Literatur
Register
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Mobilität und Zeugenschaft: Unabhängige Dokumentarfilmpraktiken und der Kaschmirkonflikt
 9783839441770

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Max Kramer Mobilität und Zeugenschaft

Film

Max Kramer forscht am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München zu Onlinepolitik und muslimischen Minderheiten in Indien (Forschungsprojekt ONLINERPOL). Er führte Co-Regie bei zwei Dokumentarfilmen, die sich mit mystischen Formen des Islam und Südasiens beschäftigen.

Max Kramer

Mobilität und Zeugenschaft Unabhängige Dokumentarfilmpraktiken und der Kaschmirkonflikt

Dieses Buch resultiert aus einem Forschungsprojekt, das im Rahmen der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einem Promotionsstipendium gefördert wurde. Der Druck dieses Buches wurde aus Mitteln der Humboldt-Universität zu Berlin gefördert. Das Buch ist die Veröffentlichung einer überarbeiteten Dissertationsschrift, die an der Kultur-, Sozial-, und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Uzma Falak, 2015: »Till Then The Roads Will Carry Her ...« Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4177-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4177-0 https://doi.org/10.14361/9783839441770 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 Einführung | 11

I Filme und Konfliktregionen | 29

Vom Dritten Kino zur Politik der Repräsentation | 30 Konflikterzählungen in den Medien | 33 Cinemas of Conflict | 35 Die visuelle Kultur von Konfliktregionen | 38 Unabhängiger Dokumentarfilm | 39 Kritischer Transnationalismus | 45 Fazit | 46 Mobilität und Konversation | 51

Exkurs zur Feldforschung | 55 Die Mobilitätslinse in der empirischen Medienforschung | 66 Imaginative Mobilität und Reflexivität | 68 Die Mobilitätslinse zur Analyse von Dokumentarfilmpraktiken | 69 Mobile Methoden: Begleiten der Filmemacher_innen | 71 Interviews und Konversationen | 73 Analysen der Filmform als mobile Zeugenschaft | 80 Ein Filmkörper in Bewegung | 87

Tropen | 93 Nationalistische Filme und Agitprop | 94 Filme über die menschliche Seite des Konflikts | 97 Filme über das Exil kaschmirischer Pandits | 106 Filme über kaschmirische Kultur | 112 Filme über politische Kunst | 117

II Tourismifizierung und Securitization | 123

Tourismifizierung: Kaschmir als Paradies | 127 Securitization: Der kaschmirische Muslim und nationaler Säkularismus | 136 Die Intifada und der Diskurs der Normalcy | 152 Immobilisierung unabhängiger Filmemacher_innen durch die Militarisierung des Kaschmir-Tals | 157 Fazit | 161 Die Wiederaneignung des besetzten Paradieses | 165

(Im-)Mobilität und Gender im Kaschmir-Konflikt | 167 Iffat Fatima: Zeit und Widerstand | 172 Von »On a Trail of Vanished Blood« zu »Khoon Diy Baarav« | 177 Bootstouren und Träume | 185 Bewegungen und Begegnungen | 193 Alltag und Zeugenschaft: Haptische Form und Mobile Zeugenschaft | 198 Uzma Falak: Das indische Verlangen in sich verkehren | 210 »Till Then The Roads Carry Her...« | 214 Zwischen den Räumen | 219 Gerechtigkeit in messianischer Zeit | 223 Fazit | 227 Umstrittene Zeugnisse von Gewalt | 233

Ajay Raina: Die Grenzen des Persönlichen | 236 Der Public Service Broadcasting Trust | 242 Angst und situative Offenheit: Nacherinnerungen und Cinema Vérité | 246 Verkörperte Erinnerung | 260 Sanjay Kak: Zwischen Märtyrern und Zeugen | 263 Archivmaterialien und Geschichte | 267 Bilder der Gewalt und kontextualisierte Verfremdung | 272 Ambivalente Mobilisierung im ethischen Raum | 278 Fazit | 283 Mobilität, Film-Form und Ethik | 287 Literatur | 293 Register | 321

Danksagung

Mein Buch hat das Gespräch als einen methodischen Zugang. Innerhalb des Haupttextes sind jedoch Reden und Äußerungen vor allem Filmemacher_innen, Menschen aus den Netzwerken eines unabhängigen Dokumentarfilms und Zuschauer_innen vorbehalten. In der Danksagung finden sich nun vor allem jene Gesprächspartner_innen wieder, die nicht direkt zum Forschungsfeld gehören, also Betreuer_innen, Kolleg_innen, Freunde und Verwandte, ohne deren Unterstützung eine langjährige Forschungsarbeit nur schwer vorstellbar ist. Mein herzlicher Dank gilt Nadja-Christina Schneider, die mich auf die mögliche Erforschung neuer Dokumentarfilmpraktiken in Konfliktregionen aufmerksam gemacht hat und immer ansprechbar war, wenn ich inhaltliche oder konzeptuelle Fragen hatte. Ich habe von ihr praktische Kenntnisse über das »Begleiten der Arbeit von anderen« erlangt und so auch meine eigene methodische Begleitung der Filmemacher_innen reflektieren können. Nicht zuletzt danke ich ihr für die vielen kritischen Kommentare und ihre aufmerksame Lektüre, welche die Arbeit in allen Bereichen verbessert haben. Meinem Zweitbetreuer Hans Harder gilt besonderer Dank für viele Gespräche und die hilfreichen Präsentationen bei Kolloquien in der Abteilung für Neusprachliche Südasienstudien der Universität Heidelberg. Des Weiteren möchte ich mich bei der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) für das Promotionsstipendium bedanken, das diese Doktorarbeit mit ermöglichte. In Berlin profitierte ich von den kritischen und stets produktiven Gesprächen im Doktorand_innenkolloquium des Querschnittsbereichs Medialität und Intermedialität in den Gesellschaften Asiens und Afrikas des Instituts für Asien- und Afrikawissenschaften (IAAW) der Humboldt Universität Berlin: Jamila Adeli, Mette Gabler, Nina Khan, Saskia Sellnau und Sebastian Sons. In Kreuzberger Cafes war Britta Ohm stets Ansprechpartnerin und gab mir wertvolle Kommentare und Einsichten. Von meinen Kolleginnen der BGSMCS gilt mein herzlicher Dank Eva Christine Schmidt, in deren Anwe-

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senheit große Teile dieser Arbeit geschrieben und diskutiert wurden. Des Weiteren möchte ich Sarah Holz und Julia Clauß danken, die sich in kritischen Phasen Zeit nahmen, Texte mit mir zu besprechen. In Heidelberg waren Jürgen Schaflechner und Antony Pattathu stets bereit, Teile meiner Dissertation kritisch zu besprechen. Borayin Maitreya Larios gab in Heidelberg einen Raum zum Arbeiten, Kritik und Abendessen. Bogdan Alexander versorgte mich mit Musik und Unterkunft. Mein Denken über Dokumentarfilme und die Konfliktregion Kaschmir ist seit 2011 von meinem Austausch mit Sarah Ewald mitgeprägt und inspiriert. Von der Universität Leipzig möchte ich mich herzlich bei Ira Sarma, FritziMarie Titzmann und Thomas Borlik für die aufmerksame Lektüre zweier Kapitel und dem kritischen Feedback bedanken, die für meine letzten Monate vor dem Abschluss dieser Arbeit sehr hilfreich waren. Manzoor Nowshari nahm sich Zeit, mich bei Übersetzungen aus dem Kashmiri zu unterstützen und verschiedene kulturelle Aspekte des Konflikts zu diskutieren. Ebenso konnte ich mich über die akribische Arbeit und wertvollen Kommentare von Barbara Driesen freuen. In den letzten Monaten opferte Heiko Frese einen Gutteil seiner Zeit, um diesem Buch noch den letzten Schliff zu geben. Für sein stilistisches Feingefühl und seine Freundschaft bin ich sehr dankbar. In Indien und Kaschmir gilt der Dank natürlich vor allem den Filmemacher_innen, die sich mit mir austauschten. Sie finden so viel Platz in dem Haupttext, dass nur eine namentliche Nennung erforderlich scheint: Iffat Fatima, Sanjay Kak, Uzma Falak und Ajay Raina. Filmemacher_innen und im filmischen Feld Tätige, die selten in dem Haupttext auftauchen, mit denen ich jedoch viele Gespräche führte und von denen ich viel lernte, waren: Tushar Madhav, Sanjay Joshi, Surabhi Sharma, Pankaj Rishi Kumar, Bilal Jan, Rajesh Jala, Ridhima Mehra und Arshad Mushtaq. In Kaschmir danke ich Rashid Maqbool, Iffat Gazia und besonders Abdul Bhat. Von meinen akademischen Gesprächspartner_innen in Indien möchte ich vor allem Sarbani Sharma und Suvaid Yaseen hervorheben, die mit trockenem Humor und der präzisen Darstellung universitärer Gemengelagen immer wieder dafür sorgten, dass sich die fachliche Behandlung innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen nicht gegenüber den beobachteten Phänomenen verselbständigte. Von der Jawaharlal Nehru University möchte ich mich bei Dhruv Raina insbesondere für Gespräche in der Anfangsphase dieser Arbeit bedanken. Sushmita Nath war meine erste Verbindung zum Feld und stets bereit, mit mir über das politische Geschehen in Indien zu diskutieren. Im Text der Arbeit kommt Abir Bazaz sehr häufig vor. Daher soll es hier dabei belassen bleiben, ihm nochmals meinen Dank für Freundschaft und Inspiration auszusprechen.

D ANKSAGUNNG

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Schließlich war Nicoletta Fazio eine unermüdliche Begleiterin meiner intellektuellen Beschäftigung der letzten Jahre, die mich sowohl über ihre eigene Forschungsarbeit als auch auf alltägliche Weise an die Bedeutung von Affekten und Emotionen in politischen und künstlerischen Praktiken erinnerte. Ihrer nononsense Einstellung und Zuneigung habe ich es zu verdanken, einen besseren Text geschrieben zu haben. Zuletzt wäre diese ganze Arbeit ohne die durchgängige Unterstützung durch meine Eltern, Ulrike Kramer-Horch und Ingo Kramer, nicht zustande gekommen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

Einführung

Was Aamir sagen wollte, hatte er auf einen Zettel geschrieben, um bei dem von ihm geplanten kurzen Wortbeitrag nichts Wichtiges auszulassen. Trotz der Bedeutung des Mitzuteilenden las er nicht vor. Beim Abendessen nach der Filmvorstellung holte er den kleinen, bereits zerknüllten Zettel heraus und trug mir auf Bitten seiner Freunde den Text vor. Aamir sprach davon, dass er Zeuge und Opfer des Konflikts sei, dass er viele seiner Schulfreunde in dem Konflikt verloren habe, dass der Film ihn zum Weinen gebracht habe; »the sadest part is that you have to document [with] a movie to let the people know that you are in pain«. Nachdem er vorgelesen hatte, teilte er uns mit, dass er aus dem hochmilitarisierten ländlichen Pulwama-Distrikt des Kaschmirtals komme und bis heute dreizehn seiner Schulfreunde vom indischen Militär getötet worden seien. Er hatte den Redebeitrag aufgeschrieben, weil die Stimmung im Audimax 2 der Technischen Universität Hamburg-Harburg1 bereits stark angespannt war und er eine schriftliche Stütze brauchte, um sich in dem Hin und Her der Argumente und Beiträge verständlich zu machen. Er entschied sich schließlich doch gegen den Redebeitrag und wollte seine Notiz den zwei Filmemacherinnen lieber nach dem Ende der Diskussion persönlich mitteilen. Vielleicht war es die Wichtigkeit seiner Botschaft, die keiner argumentativen Banalisierung ausgesetzt werden sollte. Sein Kommentar wurde durch die Zeugniskraft beider Filme angestoßen und brauchte – wie auch die Filme – eine eigene Form und Ruhe, um wirken zu können. Im Kaschmirtal sind im Jahr 2016 über hundert Jugendliche bei Protesten vom indischen Militär getötet worden und Hunderte durch die Verwendung von Schrotluftgewehren erblindet. Der seit den späten 2000er Jahren vorwiegend im kulturellen Feld artikulierte Widerstand befindet sich für viele junge Menschen

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Die Filmvorstellung fand am 07.08.2016 statt.

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aus dem Kaschmirtal gegenwärtig in einem Leerlauf. Als ich im Dezember 2016 ein letztes Mal vor Abschluss dieses Buches in Delhi war, befürchteten einige meiner Gesprächspartner_innen, von denen viele zum Kaschmirkonflikt forschen, eine verstärkte Remilitarisierung der Jugend in den kommenden Jahren. Dies, so wurde befürchtet, könnte der Beginn eines neuen Zirkels militarisierter Gewalt werden – mitbedingt durch die ständige Wiederholung der immer gleichen Muster des Protestrepertoires von Streiks, Steinewerfen und öffentlichem Betrauern. Die Soziologin Sarbani Sharma nannte dies kürzlich in einem persönlichen Gespräch eine »Automatisierung des Todes« im Kaschmirtal. Der Tod von überwiegend jungen Menschen – sowohl von kaschmirischen Steinewerfern als auch von indischen Soldaten – spiele dabei vor allem jenen Interessengruppen in die Hände, denen an der Aufrechterhaltung der derzeitigen Konfliktnarrationen gelegen ist. Der Kaschmirkonflikt begann mit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft in Südasien und der indischen Teilung (1947). Der geopolitische Konflikt bezieht sich seither auf das Territorium des vormaligen Staates des Maharadschas von Jammu und Kaschmir (J&K), bestehend aus den heutigen Regionen Azad Kashmir und Gilgit-Baltistan auf pakistanischer, sowie Jammu, Ladakh und dem Kaschmirtal auf indischer Seite. Sowohl in der akademischen Literatur2 als auch in der populären Wahrnehmung wurde der Konflikt vorwiegend als bilaterales Problem zwischen den Atommächten Indien und Pakistan verstanden, die die Region als integralen Bestandteil ihrer jeweiligen nationalen Tropen »Säkularismus« (Indien) und »Islam« (Pakistan) auffassen. Bis heute wurden

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Diese Einschätzung von Chitralekha Zutshi (2011) aus einem ausführlichen Bericht zum Stand der kaschmirbezogenen, vorwiegend englischsprachigen Forschung, ist in Betracht des gesamten Outputs der Kaschmir-Literatur noch immer (Stand 2017) zutreffend. Im Verlauf dieses Buches werde ich jedoch auf eine ganze Reihe von Publikationen zu sprechen kommen, die aus einer kulturwissenschaftlichen und ethnologischen Sicht das (realistisch) geopolitische Paradigma hinterfragen. Im deutschsprachigen Bereich gibt es mit Rothermunds (2002) kleinen Buch »Krisenherd Kaschmir« nur eine einzige, leicht erhältliche Einführung in den Konflikt, deren Veröffentlichung und geopolitische Fragestellung in einem Zusammenhang mit dem medialen Interesse an der atomaren Konfliktgefahr nach dem Kargil-Krieg 1999 steht. Für eine – wenn auch datierte – Einführung und Analyse des geopolitischen Aspekts aus politikwissenschaftlicher Perspektive in deutscher Sprache siehe Dietrich Reetz (2000). Für eine ethnologische Perspektive auf den Konflikt – unter Berücksichtigung der oft wenig thematisierten Region Gilgit-Balitstan – siehe die Schriften von Martin Sökefeld (2005; 2015).

E INFÜHRUNG

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zwischen ihnen drei Kriege um die Region geführt, wobei die Waffenstillstandslinie des ersten pakistanisch-indischen Krieges 1947 bis 1949 als De-factoGrenze mit dem Namen »Line of Control« quer durch den vorherigen Maharadscha-Staat Jammu und Kaschmir verläuft. Kaschmir ist ein besonderer Ort in der südasiatischen »Begehrensökonomie« (Kabir 2009), ein Ort, an dem sich die großen nationalen Mythen Indiens und Pakistans reiben (Gaur 2010). Gleichzeitig greifen dort wie in den meisten anderen Konfliktregionen der Erde Opferdiskurse aller partizipierenden Parteien ineinander. Es entsteht ein oft lähmender Zirkel der Erinnerung an Märtyrer, die in die politischen Erzählungen vieler Menschen eingeht, die im Kaschmirtal zu (über-)leben versuchen. In der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem heutigen indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir wird in der Regel auf die ethnische, soziale und religiöse Pluralität seiner Bevölkerung sowie auf die sehr unterschiedlichen Identitätsartikulationen innerhalb der drei großen Regionen hingewiesen (Puri 1993; Chowdhary 2010). Während beispielsweise in Teilen von Jammu und in Ladakh vorwiegend pro-indische Positionen vorherrschen, kommt es im Tal, dem bevölkerungsreichsten Teil des Bundesstaates, seit 1947 immer wieder zu Protesten für eine politische Selbstbestimmung (āzādī), die sich entweder für einen Anschluss an Pakistan, für größere Autonomie oder für die Unabhängigkeit aussprechen. Als Reaktion auf Wahlfälschungen kam es im Jahr 1989 zu einem Volksaufstand, der bald in Gefechte verschiedener bewaffneter Guerillas mit dem indischen Staat überging. Dies führte in den frühen 1990er Jahren zu einem massiven Eingreifen indischer Sicherheitskräfte, die seither das Kaschmirtal in eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt verwandelt haben. Bis heute sind die Menschenrechtsvergehen des Militärs und der vom Staat instrumentalisierten übergelaufenen Guerillas aufgrund der für indische Soldaten gesetzlich garantierten Straffreiheit in keiner Weise aufgearbeitet. Die Region des Kaschmirtals befindet sich nunmehr seit über zwei Jahrzehnten in einem ständigen Ausnahmezustand: Eine junge, oft als »verloren« bezeichnete Generation von Kashmiris3 wuchs und wächst unter Bedingungen auf, die durch regel-

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Wenn ich im Folgenden den Begriff »Kashmiris« verwende, dann tue ich dies in dem Verständnis einer politischen Selbstzuschreibung und nicht im Sinne einer der sprachlichen Performanz vorhergehenden kulturellen Einheit oder Essenz. Dabei ist hier zumeist eine Selbstzuschreibung der ehemaligen oder gegenwärtigen Bewohner_innen des Kaschmirtals gemeint, da viele Menschen der zwei anderen Regionen Ladakh und Jammu sich nicht als »Kashmiri« klassifizieren und diese Forschungsarbeit auch auf den Konflikt im Kaschmirtal fokussiert. Derselbe Zugang gilt auch für Begriffe wie »Kashmiri Pandits«, der nur für Menschen verwendet wird, die sich selbst auf diese

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mäßige Ausgangssperren, Hausdurchsuchungen, Inhaftierungen, Folter und Zensur gekennzeichnet sind (Hoffman und Duschinski 2013).

Subjektivitäten und Form Im Sommer 2016 begleitete ich zwei Filmemacherinnen, Iffat Fatima und Uzma Falak, durch Polen und Deutschland.4 Beide Filmemacherinnen wuchsen im Kaschmirtal auf und leben heute in Neu-Delhi. Falak beendete erst vor Kurzem ihr Studium an der Jamia Millia Islamia Universität in Neu-Delhi und realisierte mit dem Film »Till Then The Roads Carry Her...« (2015) ihr erstes außeruniversitäres Filmprojekt. Es ist ein poetischer Film, der durch Gedichte der Filmemacherin, Konflikterfahrungen der filmischen Protagonistinnen und einen kreativen Umgang mit der filmischen Form eine Kritik an dem othering kaschmirischer Frauen im Hindi-Film schafft. Die Filmemacherin Iffat Fatima beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit Konfliktthemen, unter anderem in Hinblick auf Sri Lanka. Auf der Reise in Deutschland und Polen zeigte sie ihren Film »Khoon Diy Baraav« (2015), der von den »Verschwundenen« des Kaschmirtals handelt. Nach einer Definition von Amnesty International spricht man von »Verschwindenlassen«, »wenn Menschen von Sicherheitskräften gefangen oder entführt werden, dieses aber nicht bestätigt wird und auch Informationen über den Verbleib des Opfers verweigert werden« (Amnesty International 2009). Viele Sequenzen beider Filme zeigen Frauen – oft Familienangehörige von verschwundenen Menschen – in Bewegung. Dies ist im doppelten Sinn zu verstehen: Zum einen bewegen sie sich durch das Kaschmirtal und zeigen so den Alltag eines besetzen Territoriums auf. Zum anderen werden sie als aktive Teilnehmerinnen an einer politischen Bewegung dargestellt, in die sie sich durch ihre Worte und Handlungen einschreiben. Beide Filmemacherinnen beschäftigen sich jedoch nicht nur mit vormals wenig repräsentierten Positionen zum Konflikt, sondern auch mit den Möglichkeiten, über die Form des Dokumentarfilms Öffnungen zwischen den verhärteten Konflikterzählungen zu schaffen. Die physische Bewegung mit ihren Filmen sowie die Schaffung eines audiovisuellen

Weise mir gegenüber, oder durch die von ihnen gewählten Subjektpositionen in Gesprächen mit anderen, positionieren. 4

Sie zeigten ihre Filme zuerst auf einer Konferenz der Südasienwissenschaften in Warschau in einem Panel über politische Ästhetik und Dokumentarfilm, später dann in Kinos in Berlin und Heidelberg, einem akademischen Veranstaltungsort in Hamburg und einer Kulturinstitution in Frankfurt.

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Zeugnisses ist für sie ein zentraler Bestandteil ihrer unabhängigen dokumentarfilmischen Praxis. Eine unabhängige Filmpraxis soll hier relational und graduell verstanden sein – also mehr oder weniger unabhängig in Bezug auf die erwartbaren Restriktionen des Feldes und im Verhältnis zu anderen medialen Formaten (bspw. zum kommerziellen Hindi-Film oder einem Dokumentarfilm, der für ein bestimmtes Produktionshaus realisiert wird). Die Unabhängigkeit von Dokumentarfilmpraktiken ist zudem eine Selbstzuschreibung aller hier besprochenen Filmemacher_innen. Sie weitet sich durch einen technologischen Wandel hin zum digitalen Film weiter aus: Seit den späten 1990er Jahren ermöglichen die günstigen und leicht bedienbaren Technologien des digitalen Films immer mehr Menschen, im Medium Film über Konfliktregionen, in denen sie leben oder lebten, relativ unabhängig zu berichten (Deprez und Pernin 2015; Ezra und Rowden 2006). Dies trägt mit dazu bei, neue Darstellungen von Regionen zu ermöglichen, die vormals nur von außen und dabei meist durch nationalistisch geprägte Erzählungen dominanter Filmkulturen beschrieben wurden (Matar und Harb 2013). Aufgrund des bewaffneten Konflikts der 1990er Jahre konnten Filmemacher_innen die Region des Kaschmirtals praktisch nicht betreten, ohne sich in Lebensgefahr zu begeben. Der durch Videotechnologien ermöglichte leichtere Zugang zu Produktion und Distribution von Dokumentarfilmen (Battaglia 2013) war daher noch nicht der Beginn einer relativ unabhängigen Repräsentation des Kaschmirkonflikts. Vielmehr koinzidierte das Aufkommen digitaler Filmtechnologien in den späten 1990er Jahren und die Entstehung neuer Fördereinrichtungen in den frühen 2000er Jahren mit einer Beruhigung des bewaffneten Konflikts. Dieser Wandel jedoch sagt weder etwas über die Subjektivitäten aus, die nun artikulierbar wurden, noch über die spezifische Form, durch die sie artikuliert wurden. Ich verwende daher hier den Begriff filmische Form nicht nur im Sinne der audiovisuellen Präsentationsform des Artefakts Film, sondern vor allem als verschiedene (vor allem kommunikative) Praktiken, durch die Menschen ihre Handlungen auf diese Form ausrichten (Couldry 2004, 120). Diesem Verständnis folgend konzentriere ich mich hier zumeist auf Menschen, die Filme machen, sehen, debattieren, produzieren und so weiter. Mich beschäftigt dabei die Frage, wie Subjektivitäten in der Konfliktregion Kaschmir durch eine unabhängige, digitale dokumentarfilmische Praxis artikuliert werden. Subjektivitäten sind nicht auf eine Politik der sich gegenseitig ausschließenden Identitäten zu reduzieren (Ortner 2006, 115). Der Begriff deutet auch auf die Möglichkeit hin, neue Positionen zu entwickeln, zwischen bestehenden Narrativen zu vermitteln oder bisher wenig repräsentierte Positionen überhaupt erst sichtbar zu machen (Zima 2010). Ebenso spricht der Begriff Subjektivität nicht nur textuell o-

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der sprachlich verstandenes Wissen an, sondern verweist in seiner Verwendung durch die Ethnologin Sherry Ortner (2006) darüber hinaus auf ein ganzes Ensemble von »Wahrnehmungen, Affekten und Ängsten, die ein handelndes Subjekt bewegen« (ebd. 107; Übersetzung M.K.). Aber wie versuchen die Filmemacher_innen nun diese »Wahrnehmungen, Affekte und Ängste« über die Form des Films zu vermitteln, um Zeugenschaft herzustellen? Ich werde diesen Prozess über die vier Begriffe Zeugenschaft, Performanz, Ästhetik und Mobilität konzeptuell fassen, die in den folgenden zwei Unterabschnitten ausgeführt werden.

Zeugenschaft, Performanz und Ästhetik Bei der Veranstaltung in der Technischen Universität Hamburg-Harburg kam es zu einer besonders intensiven Auseinandersetzung der Zuschauer_innen mit den gezeigten Filmen. Auf die eineinhalbstündige Diskussion nach der Filmvorstellung zwischen Filmemacherinnen und dem Publikum möchte ich deshalb eingehen, weil diese Beschreibung es mir ermöglichen soll, verschiedene Momente anzusprechen, die für die Praxis der Filmemacher_innen, die ich in dieser Arbeit bespreche, wichtig sind. Dabei werde ich einige zentrale Begriffe einführen, die im Verlauf der Arbeit immer wieder anzutreffen sind. Die meisten Zuschauer_innen in der Hamburger Veranstaltung waren Studierende der TU. Vor der Veranstaltung hatten sich zwei Studenten, die einer indischen Studentenverbindung angehörten, per E-Mail an die Universitätsverwaltung gewandt und darum gebeten, die Filmvorstellung wegen der gegenwärtigen »sensiblen Situation« zwischen Indien und Pakistan nicht durchzuführen. Tavseef, Student an der TU, war der Veranstalter des Abends. Er versicherte der Universitätsverwaltung, dass keine Gewalt zu erwarten wäre. Es würden nur zwei Filme gezeigt, die sich mit Menschenrechtsverletzungen im indischen Teil Kaschmirs auseinandersetzen. Die Universität stellte mit dem Audimax 2 einen großen Hörsaal zur Verfügung, der sich an einem Sonntagabend in den Semesterferien mit knapp fünfzig Zuschauer_innen füllte. Die indische Studentenverbindung der TU rief – nachdem die Vorstellung nicht gestoppt werden konnte – auf Facebook dazu auf, teilzunehmen, damit kein »schlechtes Bild unserer Nation in diesem Land [Deutschland]« vermittelt werde. Der Versuch der indischen Studentenverbindung, die Filmvorstellungen in Hamburg zu stoppen, beruhte auf folgendem Argument: Sollten die Filme gezeigt werden, könnte das Verhältnis von indischen und pakistanischen Studierenden der TU empfindlich gestört werden. Das postkoloniale Bild einer in Gruppen getrennten Öffentlichkeit, in der Menschen ihre Affekte nicht durch Vernunft kontrollieren können und sich des-

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halb durch Filme zur Gewalt anstacheln lassen (Mazzarella 2013), wird hier – obgleich erfolglos – auf die Veranstaltung an der TU angewandt. Während von Aamir die zwei Filmvorführungen als ermächtigendes Ereignis wahrgenommen wurden, fanden einige Zuschauer_innen den Zugang zu dem, was sie in den Filmen gesehen und gehört hatten, weitaus schwieriger. Eine junge Frau hatte Tränen in den Augen, als sie sagte, dass »normale Inder doch nichts davon gewusst haben«. Ihr Redebeitrag war paradox, da sie – durch den Film berührt – an die Gemeinsamkeit und eine Humanität jenseits nationalstaatlicher Identifikation appellierte und gleichzeitig ihre Hoffnungen auf stark national orientierte indische Politiker wie Narendra Modi richtete, dem gegenwärtigen hindu-nationalistischen Premierminister Indiens und einem Mitverantwortlichen an anti-muslimischen Ausschreitungen im Bundesstaat Gujarat im Jahr 2002. Die junge Frau suchte möglicherweise nach Wegen, ihre Voreinstellung zum Kaschmirkonflikt mit dem Zeugnis beider Dokumentarfilme zu versöhnen. Sie schilderte ihre Unsicherheit darüber, ob ihre Freunde und Kollegen ihre jetzige Position nach dem Film teilen würden oder nicht: Ihre Sicht hätte sich durch die Filme verändert. Dennoch ging sie davon aus, dass eine Armeepräsenz in Kaschmir nötig sei, da sich auch Terroristen im Land befänden. Die Armee müsste sich, so überlegte sie, nur korrekt verhalten und zur Rechenschaft gezogen werden können. Zwei junge Männer – vermutlich aus ihrem Freundeskreis – hatten eine ähnliche Sichtweise. In mehreren Redebeiträgen versuchten sie, die Gewalt des Konflikts zu relativieren, indem sie strategische Argumente für eine indische Armeepräsenz in Stellung brachten. Ein Student suchte akribisch nach logischen Fehlern und Schwachstellen in den zwei Filmen, um sie durch Interpretationen einzelner Aktualitätsaufnahmen und Voice-over-Kommentare als pro-kaschmirische Propaganda abzutun. Seiner Ansicht nach würden in den Filmen Menschen verteidigt, die Terroristen seien. Fatima sagte mir, dass ihr Film, an dem sie über neun Jahre gearbeitet hat, eine Diskussion über Kaschmir schaffen soll, die das zumeist durch nationalistische Mediendiskurse geprägte Vorwissen der Zuschauer_innen durch eine dokumentarfilmische Form der Zeugenschaft des Alltags auf eine neue Grundlage stellt. In anderen Worten: durch das dokumentarfilmische Medium soll die Wahrnehmung des Konflikts verändert werden, indem sie – wie Aamirs einleitend erwähnter Wortbeitrag – ihre eigene Ruhe und Form bekommt, um Öffnungen zwischen den Konflikterzählungen hervorzubringen. Der Begriff Zeugenschaft deutet bereits darauf hin, dass Zeugnisse – zum Beispiel eine audiovisuelle Sequenz, die als dokumentarische Evidenz etwas bezeugen soll – in einem aktiven Konstruktionsprozess geschaffen werden müssen. Diese Vorstellung möchte ich noch erweitern, indem die zwei Begriffe des Titels »Mobilität und Zeu-

18 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT

genschaft« zusammenkommen: Ein Zeugnis wird durch die von mir begleiteten Filmpraktiken mobilisiert – durch die Bewegungen der Filmemacher_innen mit dem Film, um Menschen mit ihrem Film zu erreichen, aber auch durch Arbeit mit den emotionalen Aspekten einer kommunikativen Form, die bspw. Empathie oder auch Wut hervorrufen kann. Wie Fatima nach der Vorstellung in Hamburg sagte, ginge es darum, weder einzelne Akteure anzuklagen noch zu polarisieren, sondern alle, die sich an der Diskussion beteiligen, für »kaschmirische Perspektiven« zu sensibilisieren. Die Zuschauer_innen wurden von beiden Filmemacherinnen dazu ermutigt, ihre Imagination für neue Formen von Territorialität und Souveränität zu öffnen und, wie Falak sagte, für eine »menschenzentrierte« Perspektive des Konflikts »von unten«. In diesem Zusammenhang kam im Publikum wiederholt die Frage auf, ob die zwei Filme vor allem an »Menschen aus Indien« gerichtet seien. Fatima erwiderte darauf, dass ihr eine transnationale Dissemination des Films wichtig sei. Sie betonte aber, durch den Film gezielt auch Zuschauer_innen anzusprechen, die sich mit indisch-nationalistischen Narrativen identifizieren. Deshalb sei es, so Fatima, umso wichtiger, den Film »kontrolliert« zu zeigen, so dass er nicht von politischen Gruppen manipulativ eingesetzt werden könne. Daher möchte sie mit dem Film reisen und noch für einige Zeit die Kontrolle über seine Zirkulation behalten. Das besondere Geschick beider Filmemacherinnen besteht in dem vorsichtigen Umgang mit Emotionen vor dem Hintergrund legalistischer und nationalistischer Diskurse. Dass dies Fatima und Falak oft gelang, wird an hochemotionalen Rezeptionssituationen wie der oben geschilderten deutlich. Viele Menschen aus dem Publikum in Hamburg – aber wie noch zu zeigen sein wird, auch in Filmvorstellungen in Indien – sprachen mit Tränen in den Augen. Einige kamen zu der Erkenntnis, dass die Legitimation der strukturellen und militärischen Gewalt im Kaschmirtal ein Fehler sein könnte. Die oft längere Stille nach den Vorstellungen – insbesondere nach Vorstellungen von »Khoon Diy Baarav« – deutet auf eine emotionale Intensität und vielleicht auf eine dokumentarfilmische Sättigung an Evidenz hin. Jenseits des Vorwissens, das die Gegenwart der Besatzung überschreibt, führt der Film für viele Zuschauer_innen zu einer Begegnung mit einer kaschmirischen Erfahrung des Konflikts. Wie Iffat Fatima und Uzma Falak während der Filmbesprechungen immer wieder betonten, sind ihre Filme Auseinandersetzungen mit der Gewalt des Konflikts und damit, wie diese sich in einer Erinnerungspraxis niederschlägt. Ich beziehe mich in dieser Untersuchung allerdings nicht so sehr auf die erinnerungskulturellen Aspekte ihrer Praxis, sondern mehr auf die Versuche, durch die filmische Form Öffnungen zwischen Konfliktnarrationen zu erzeugen. Solche Öffnungen liegen nicht bereits abrufbar in den identitätspolitischen Diskursen der

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Region vor, sondern erfordern oft eine intensive Auseinandersetzung mit der Form der Filme, um gemeinsam mit den Zuschauer_innenschaften imaginiert zu werden. Dies gilt auch und vielleicht besonders dann, wenn die politische Dringlichkeit, wie im Kaschmirkonflikt, direkte Fragen zur Form der Filme, wie in der Filmbesprechung in Hamburg, nur impliziert und nicht direkt anspricht. Falak und Fatima setzten sich neben ihrer Arbeit mit den filmischen Artefakten und den Repräsentationen Kaschmirs also intensiv mit der Wirkungsweise ihrer Filme auseinander, also mit der Art und Weise, wie sie rezipiert werden. Ich schlage vor, den zwischen bestehenden Narrationen öffnenden Moment dieser Wirkungsweise über den Begriff Ästhetik näher zu fassen. Historisch bezieht sich Ästhetik zunächst nicht auf eine Theorie des Werturteils über Kunst oder Natur, sondern auf unsere sinnliche Wahrnehmung. Es hat also eine begriffliche Familienähnlichkeit mit dem, was ich oben mit Ortner ein Ensemble von »Wahrnehmungen, Affekten und Ängsten« nannte, obgleich Ängste natürlich das Gebiet der Ästhetik verlassen und sich auf den Bereich symbolisch und narrativ verarbeiteter Emotionen beziehen. Ich verwende den Begriff Ästhetik hier also in einem politischen und soziologischen Sinne: es geht um die Fragen, wie etwas erscheint, was für eine Bühne dafür bereitet wird und wer an dem Erscheinen teilhaben kann, beziehungsweise wer dies nicht kann. Weiter hat es etwas damit zu tun, wer sich selbst als Teil von etwas Sichtbarem, Fühlbarem, Hörbarem empfindet und wer nicht. In diesem Verständnis ist unsere sinnliche Wahrnehmung ein mit der Interpretation von Zeichen und Erzählungen unlösbar verquickter Prozess. Sobald diese Frage nach den Modalitäten des Erscheinens auf die Praxis der Filmemacher_innen bezogen wird, geht es nicht nur darum zu sehen, wie sie alternative Geschichten und Erinnerungen inszenieren, beispielsweise »unsere Geschichte und deren Geschichte« oder »unsere Erinnerung und die Erinnerung der Anderen«. In einem zweiten Schritt – nämlich in der Analyse der Form der Filme – geht es vielmehr auch darum, wie eine Erfahrung des Konflikts und eine politische Position zu ihm kommuniziert wird, das heißt wie etwas, das für die Filmemacher_innen ein zentraler Aspekt ihres Verhältnisses zum Konflikt ist, anderen mitgeteilt werden kann, so dass dies auch für die Zuschauer_innen in einer von den Akteuren intendierten Art sichtbar, hörbar und fühlbar wird, oder inwiefern dies aufgrund von strukturellen Barrieren nicht geschieht. Ästhetik bezieht sich also sowohl auf die Präsenz der Filmaufführung als auch auf die in den Texturen des Films erkannten Repräsentationen. Sie kann als wesentlicher Aspekt der Performanz des Films angesehen werden – ein Aspekt, der das öffnende und schließende Potential in der filmischen Präsenz und den symbolischen Repräsentation näher ins Licht rückt.

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Mit dem Begriff Performanz ist eine Kritik des früheren, in Dokumentarfilmstudien verbreiteten erkenntniskritischen Interesses an dem Verhältnis verbunden, das Dokumentarfilme zu einer – wie auch immer gedachten – »ursprünglichen Realität« unterhalten (Bruzzi 2006, 6-7). Die Filmwissenschaftlerin Stella Bruzzi versteht in Bezug auf die Theorie Judith Butlers die Performanz des Dokumentarfilms in dem Sinne, dass Dokumentarfilme zwar Repräsentationen der Wirklichkeit abbilden, Zuschauer_innen dieser Filme die Repräsentationen jedoch nicht in »Anführungsstrichen« begreifen, als ob das Erkenntnisproblem der Referenzialität die wesentliche Achse der dokumentarfilmischen Kommunikation darstellen würde. Vielmehr werden dokumentarfilmische Authentizitätsansprüche zwischen Bildern von möglichen Wirklichkeiten und möglichen Interpretationen dieser Wirklichkeiten ausgehandelt (ebd.). Mit was für einer Linse lassen sich nun die hier angeführten, höchst heterogenen Momente bündeln, die sowohl soziologische Koordinaten einer filmischen Praxis über Konfliktregionen, die Politik der Repräsentation, als auch einen Blick auf die emotionalen und imaginativen Potentiale der filmischen Form beinhalten? Mein Vorschlag ist, eine Lücke zwischen drei Forschungsfeldern, nämlich den transnationalen Filmwissenschaften, den Konfliktfilmstudien und den Dokumentarfilmstudien, durch eine Mobilitätslinse anzugehen.

Mobilität Obwohl relativ unabhängige und in finanzieller Hinsicht kleine Filmpraktiken schon früher von großer physischer Mobilität der Filmemacher_innen geprägt waren (Naficy 2001, 40-100) – deren Möglichkeiten sich durch die neue Proliferation von Vorstellungsräumen durch digitale Projektoren noch ausweitet –, erfüllt der Begriff Mobilität in meiner Untersuchung eine konzeptuelle Aufgabe. Wenn ich von Mobilität spreche, sind damit nicht nur physische Bewegungen der Filmemacher_innen oder der Protagonist_innen der Dokumentarfilme gemeint – obgleich dies ein wichtiger Aspekt ist. Ich fasse unter einer »Mobilitätslinse« (Schneider 2015) den Mobilitätsbegriff in einem weiten Sinne: als methodischen und theoretischen Zugang zu Fragen der Schaffung von Raum, der Artikulation von Subjektivität und der imaginativen, explorativen Herstellung einer dokumentarfilmischen Form der Zeugenschaft. Ein besonderer Aspekt dieses Ansatzes ist die Verbindung von physischer Mobilität (Reisen mit den Filmen), Repräsentationen von Mobilität (Bewegungen von Filmemacher_innen und Protagonist_innen in den Texturen der Filme) und emotionaler Mobilisierung (die Arbeit mit Emotionen durch die Form des Dokumentarfilms). Durch die Mobili-

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tätslinse gesehen ist die Filmform etwas, das sich erst in der physischen und »imaginativen Mobilität« (Robins 2004, 125) der Praxis, also der Begleitung der Filme durch die Filmemacher_innen und ihrer kreativen Aushandlung des Films mit verschiedenen Publika ergibt. Eine Mobilitätslinse ist keine übergreifende Theorie, kein konzeptuelles catch-all. Durch dieses Instrument kann jedoch die ganze Bandbreite an zeitgenössischen Medialisierungsphänomenen – ästhetischer, sozialer und politischer Art – skalierbar beschrieben werden. Es geht also um eine Perspektive auf die Filmemacher_innen als Akteure einer medialen Praxis, die sich durch verschiedene Formen von Mobilität und Immobilität auszeichnet. Zur Immobilität zählt neben den dominanten Repräsentationsregimen – die auf Prozesse der Verfestigung von Vorstellungen verweisen – auch die Frage der Regulation. Diese bezieht sich sowohl auf Bewegungen von Menschen in einem besetzten Territorium als auch auf Versuche, eine Filmvorstellung wie in Hamburg durch ein bestimmtes Bild der Öffentlichkeit zu unterbinden. Wenn ein Begriff wie Mobilität derart ausgeweitet wird, droht er natürlich analytische Präzision zu verlieren. Um diesem Problem vorzubeugen, werde ich in jeder Analyse den jeweiligen Kontext der Mobilität der filmischen Praxis herausarbeiten, um die erwähnten drei Ebenen – Repräsentationen, physische Mobilität, emotionale und politische Mobilisierung – in spezifischen medialen Praktiken zu beschreiben. Ein zentrales Argument dieses Buches ist, dass die gemeinsamen Bewegungen der Filmemacher_innen mit ihren Filmen zu Prozessen der Schaffung und Infragestellung von territorialen und nationalen Subjektpositionen führen, die wiederum eng an das affektpolitische, mobilisierende Potential der Dokumentarfilmform gekoppelt sind. Durch diese Bewegungen – wie auch durch die Repräsentationen der politischen Gruppierungen des Kaschmirtals und die alltägliche (Im-)Mobilität ihrer Protagonist_innen in den Texturen der Filme – überschreiten und rekodieren sie Grenzen zwischen Territorialität und Souveränität, zwischen besetztem Territorium und physischer Mobilität, zwischen wissenschaftlicher Praxis und Filmpraxis, zwischen politischer Selbstbestimmung und (trans)nationaler Anerkennung. Ich werde darlegen, wie die medialen Aushandlungsprozesse dieser hochmobilen Filmpraktiken eine kritisch-transnationale Perspektive (Higbee und Lim 2010) in der transnationalen Filmwissenschaft und insbesondere im aufkommenden Forschungsfeld eines »Cinemas of Conflict« (Smets 2015) erfordern. Eine solche Perspektive lässt den Nationalstaat nicht hinter sich, sondern beschäftigt sich kritisch mit seinem normativen Status durch mediale Repräsentationen sowie mit ihrer Anfechtung in den entstehenden Öffentlichkeiten einer unabhängigen digitalen Dokumentarfilmpraxis.

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Die zwei Begriffe Territorialisierung und Deterritorialisierung spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Der Medienkulturforscher Andreas Hepp (2010, 100–102) bezieht den Begriff Territorialisierung auf den Prozess, »[...] in dem ein benennbares Territorium [...] als physisch verankerter Bezugsraum einer bestimmten (Medien-)Kultur bzw. einer auf diese verweisende Form von Vergemeinschaftung konstruiert wird« (ebd.). Dagegen stelle die Deterritorialisierung das »Aufweichen« dieser Beziehung »zwischen Kultur, Vergemeinschaftung und Territorialität« (ebd.) dar. Ich schließe jedoch noch an einen weiteren Kontext des Begriffspaars Territorialisierung und Deterritorialisierung durch die Arbeit von Gilles Deleuze und Félix Guattari an (Deleuze und Guattari 1972). Es ging den Autoren darum, das an bestimmten Orten verfestigte Begehren von diesen Besetzungen zu befreien und für neue Verbindungen zu öffnen bzw. anschlussfähig zu machen, ohne dass auf eine dritte Instanz als transzendentes Prinzip (bspw. Ödipus) verwiesen wird.5 Ich habe in den oben beschriebenen Filmdiskussionen von verschiedenen dieser stark affektiv besetzten Reaktionen auf den Film berichtet, die mit Imaginationen der Nation zusammenhingen – also rekurrierenden Vorstellungen, die durch bestimmte mediale Konfigurationen ermöglicht werden (beispielsweise Buchdruck, Presse, Kino, TV, etc.) und symbolische Territorialitäten wie »die Nation« hervorbringen (Anderson 1996). Dass sich diese symbolischen Territorialisierungen beispielsweise in der Form von Landkarten, Erzählungen einer »goldenen Vergangenheit« oder einer geopolitischen Strategie »zum Schutze nationaler Integrität« mit Emotionen überschneiden, müsste aus der obigen Beschreibung der Vorstellung in Hamburg klar geworden sein. Gleichzeitig sind diese Territorialisierungen niemals systematisch abgeschlossen, sondern werden ständig in spezifischen Filmvorstellungen von Zuschauer_innen und Filmemacher_innen neu evaluiert. Dies wird sich in allen Filmbesprechungen dieses Buches zeigen.

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Der entscheidende Punkt ist hier, dass keine Theorie des Menschen oder der Gesellschaft benötigt wird, sondern empirisch nach den Verbindungen gesucht werden kann, die bestimmte Formen des Begehrens hervorrufen. Die Orte (bspw. eine lustvolle, patriotisch-kodierte Erinnerung, die mit Wut oder Bitterkeit in einer Filmvorstellung realisiert wird) gibt es für Deleuze und Guattari also ohne vorgefertigte Landkarte (z.B. die Gesellschaft oder die Kultur), auf der ihr Platz durch eine im Voraus bestimmte Kategorie zugewiesen werden könnte (»Kastrationsängste«, etc.).

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Das Feld und das Material Als ich meine knapp elfmonatige Feldforschung im Jahr 2013 in Neu-Delhi antrat, hatte ich eine Liste von Filmen erstellt, die ich bei dem Public Service Broadcasting Trust6 (PSBT) und dem Vertrieb Magical Lanterns erwerben wollte. Mit dabei hatte ich auch eine Telefonnummer, die mir von einer Freundin aus Berlin mit der Bemerkung »jemand, der viele Leute kennt«, mitgegeben wurde. Suvaid Yaseen, um dessen Nummer es sich handelte, studierte zu dem Zeitpunkt an der Jawaharlal Nehru University (JNU). Er hatte in dem 2010 im Penguin India Verlag veröffentlichten Sammelband »Until our Freedom has come« des Dokumentarfilmemachers Sanjay Kak den Essay »I see Kashmir from New Delhi« beigetragen. In diesem schildert Suvaid eindringlich einen nächtlichen Sit-inProtest am 7. August 2010 in Jantar Mantar, Neu-Delhi. Als ich ihn auf die Filmemacher_innen von meiner Liste ansprach, mit denen ich Kontakt aufnehmen wollte, hatte er zu meiner großen Überraschung für fast alle Namen, die ich nannte, eine Telefonnummer in seinem Mobiltelefon parat. Zu meinem Vorteil bei der Recherche lebten alle in Delhi, der indischen Metropole mit dem größten kaschmirstämmigen Bevölkerungsanteil, zumeist aus Bildungs- oder wirtschaftlichen Gründen. Mit den ersten Kontaktaufnahmen bekam ich von fast allen Filmemacher_innen positive Rückmeldungen zu meinem Projekt. Insbesondere mein Interesse an der Filmform wurde begrüßt, da diese nach einhelliger Meinung in Besprechungen von Dokumentarfilmen aus Indien oft zu kurz komme. Die nächsten Monate dienten dazu, die Filmemacher_innen kennenzulernen. Wir trafen uns entweder bei ihnen zuhause oder in Kaffeehäusern in dem Mittelschichtswohngebieten Süd-Delhis: Green Park, New Friends Colony, LajpatNagar. Jüngere Filmemacher_innen aus Kaschmir berichteten von den Schwierigkeiten, als Kashmiri in Delhi eine Wohnung zu bekommen und betonten, dass Lajpat Nagar mit seiner großen afghanischen Flüchtlingsbevölkerung eines der wenigen Viertel in Neu-Delhi sei, in dem Kashmiris noch willkommen seien.7 Von den etwa vierzig unabhängig produzierten Dokumentarfilmen über Kaschmir, die zu Beginn den Korpus meiner Arbeit bildeten, habe ich vier Filme

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Der Public Service Broadcasting Trust ist eine Treuhandgesellschaft, die, obgleich sie weitestgehend durch staatliche Mittel finanziert wird, relativ unabhängig und für geringe Gagen Dokumentarfilmprojekte in Indien produziert und distribuiert (siehe meine detaillierte Beschreibung in 5.1.1).

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Die beschwerliche Suche nach Vermietern, die Kashmiris aufnehmen, wird eindringlich von Syed Bismillah Geelani (2006) beschrieben.

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ausgewählt. Diese sind »Khoon Diy Baraav« (2015, Iffat Fatima) »Till Then The Roads Carry Her... « (2015, Uzma Falak), »Jashn-e-Azadi« (2007, Sanjay Kak), und »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2002, Ajay Raina).8 Diese Auswahl bevorzugte die Arbeiten jener Filmemacher_innen, die sich zum Zeitpunkt meiner Feldforschung intensiv mit dem Kaschmirkonflikt und der Form des Dokumentarfilms beschäftigten. Nach den ersten Monaten des Kennenlernens wurde ich eingeladen, die Filmemacher_innen auf Filmvorstellungen und Festivals in Nordindien zu begleiten. Dort unterhielt ich mich mit den Mitgliedern von lokalen Filmclubs, mit den Organisator_innen von Filmfestivals und punktuell mit Menschen aus den diversen Zuschauer_innenschaften dieser Festivals. Ich besuchte zwei Konferenzen, auf denen unabhängige Filmemacher_innen sich mit Akteuren der mit dem dokumentarfilmischen Feld verbundenen Institutionen trafen und über die Zukunft einer unabhängigen Filmpraxis debattierten. Mit einigen Filmemacher_innen verbanden mich Routinen. Wir trafen uns einmal in der Woche und tranken Tee im Oxford Bookshop am zentralen Connaught Place oder aßen zusammen südindisches Essen in der New Friends Colony. Immer wenn unsere Gespräche auf etwas stießen, das für meine Forschung relevant schien, hatte ich die Aufnahmefunktion meines Mobiltelefons aktiviert. Mitte 2014 kam ich nach Berlin zurück und begann mit der Auswertung des dabei entstandenen, äußerst heterogenen und umfangreichen Materials. Dieses bestand aus Filmen, Interviews, Konversationen, Beobachtungen während und nach den Vorführungen, Gesprächen mit Rezipient_innen, journalistischen Artikeln über die Filme, Gesprächen mit den Produzent_innen der Filme und schließlich Online-Konversationen, Chats und Diskussionen von FacebookGesprächsgruppen auf den Profilen der Filmemacher_innen. Die letzten Berichte über die filmische Reise Iffat Fatimas in Indien konnte ich während des Abschlusses meiner Schreibphase in Berlin nur über Skype sammeln. Fast jede Woche sprach ich mit Iffat Fatima und Uzma Falak, deren Filme ich in der Produktionsphase zum Teil begleitete, über die Reaktionen des Publikums, das politische Klima in Indien und mögliche Konferenzteilnahmen von ihnen in Europa. Kommunikation via Skype ermöglichte mir auch im Anschluss an meine physische Anwesenheit in Indien zwei weitere Jahre lang, mit den Filmemacher_innen und ihrer Praxis verbunden zu bleiben.

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Während die Filmemacherinnen Fatima und Falak oben kurz vorgestellt werden, siehe für Kak und Raina Kapitel 6.

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Kapitelstruktur Im ersten Kapitel wird die Forschungsfrage zwischen dem neu aufgekommenen Forschungsfeld des »Cinema of Conflict« (Smets 2015), den Studien zu einer unabhängigen Dokumentarfilmpraxis und der transnationalen Filmwissenschaft verortet. Die Konfliktfilmforschung ist ein neues, von dem Konfliktforscher und Medienwissenschaftler Kevin Smets postuliertes Forschungsfeld, das sich an der Schnittstelle von Konflikt- und Friedensforschung und den medienanalytischen Cultural Studies befindet. Die transnationale Filmwissenschaft ist eine Unterdisziplin der Filmwissenschaft, in der bis vor Kurzem – mit einigen Ausnahmen – die meisten Filmpraktiken zu Konfliktregionen vorwiegend über Tropen des Exils, der Diaspora oder der kulturellen Erinnerung analysiert worden. Smets schlägt nun vor, den Fokus stattdessen auf die Partizipation der Filmemacher_innen in den Konfliktdynamiken zu legen. Er konzentriert sich dabei auf verschiedene Typen von Erzählungen und Erinnerungen. Beispielsweise können diese einander gegenübergestellt werden, nach dem Motto: Unsere Erinnerung gegen eure Erinnerung, unsere Geschichte gegen eure Geschichte, unsere Opfer gegen eure Opfer. Sie können aber auch über einen Menschenrechtsdiskurs vermittelt werden oder Schnittstellen zwischen Erzählungen sowie Leerstellen in ihnen aufgezeigt werden. Ich finde seinen Vorschlag, auf die Konfliktdynamiken zu schauen, hilfreich, suche hier aber konzeptuelle Wege, die Intention der vier Filmemacher_innen, diese verfahrene Situation sich gegenseitig immobilisierender Erzählungen des Konflikts zu öffnen. Dieses öffnende Potential hat für die Filmemacher_innen etwas mit der Frage nach Zeugenschaft zu tun: Sie alle wollten etwas bezeugen, das in Kaschmir vor sich geht oder ging. Zeugenschaft ist eine zentrale Kategorie im Verständnis von Dokumentarfilmpraktiken. Sie wurde in der filmbezogenen Forschung allerdings bislang kaum als ermächtigendes Potential auf die Vermittlungspraxis der Filmemacher_innen bezogen, sondern als etwas verstanden, das entweder in der mechanischen Aufzeichnung des Bildes ruht oder aus audiovisuellen Archiven bezogen wird. Die in diesem Kapitel dargestellten Ansätze werden von mir in zweifacher Hinsicht erweitert: zum einen über einen Blick auf die ästhetischen, emotionalen Potentiale der filmischen Form und zum anderen über eine Perspektive auf die kommunikative Vermittlung des Zeugnisses aus einer Akteursperspektive. Von diesen Überlegungen und Desiderata ausgehend nutze ich im zweiten Kapitel Nadja-Christina Schneiders Begriff der »Mobilitätslinse« (Schneider 2015) zur Analyse konfliktbezogener Dokumentarfilmpraktiken. Damit ist – wie es in meiner obigen Schilderung von Iffat Fatimas und Uzma Falaks Reise deut-

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lich wurde – die mobile Praxis der Filmemacher_innen gemeint, ihre Filme zu begleiten und Zuschauerschaften ethisch wie politisch zu mobilisieren. Dazu gehört vor allem die Schaffung von Zeugenschaft durch das dokumentarfilmische Medium. Diesen Prozess der Filmform, welche die Art und Weise einschließt, wie Filme öffentlich werden und Menschen affizieren, konzeptualisiere ich in diesem Kapitel durch den Begriff der mobilen Zeugenschaft. Schließlich lege ich meine Forschungsmethode dar. Diese bestand darin, die Filmemacher_innen in ihrer Praxis zu begleiten, um zu verstehen, wie sie mit der Filmform arbeiten. Die meisten Daten sammelte ich folglich aus Konversationen mit den Filmemacher_innen und Beobachtungen während ihrer Teilnahme an Festivals, Film-Club-Vorstellungen und Konferenzen. Um den Ort meiner wissenschaftlichen Arbeit zu reflektieren, bespreche ich in diesem Kapitel auch die Konversation als Methode einer situierten Wissensproduktion im Verhältnis zu Diskussionen der dialogischen Anthropologie. In dieser Besprechung widme ich mich desgleichen den vielfältigen Überschneidungen von wissenschaftlicher und filmpraktischer Arbeit. Im dritten Kapitel dieses Buches wird ein Körper von Dokumentarfilmen seit dem Jahr 2001 vorgestellt, in dem jeder unabhängig produzierte Film direkte Kaschmirreferenzen aufweist. Ich zeige dabei thematische Trends auf und bespreche einige der in der medialen Umgebung sichtbarsten Filme ausführlicher. Dabei werden auch die vier im Detail zu besprechenden Filme der Kapitel fünf und sechs im Kontext eines größeren Filmkörpers eingeführt und ihre Reflexivität gegenüber den beschriebenen Trends wird erläutert. Das vierte Kapitel bespricht zwei Prozesse, die eine weitere mediale Sichtbarkeit des Kaschmirtals heute dominieren: die Tourismifizierung,9 d.h., die touristische Durchdringung und Kommodifizierung des Tals und die gleichzeitige »Securitization«,10 die sicherheitspolitische Rahmung des Konflikts. Während in nationalistischen Mediendiskursen die Repräsentationen der Konfliktregion Kaschmir an der Schnittstelle touristischer und terroristischer Mobilität in einer symbiotischen Beziehung zwischen der Hindi-Filmindustrie, der Tourismusindustrie, der Regionalverwaltung J&Ks und einem militärischen Wahrneh-

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Ich übersetzte hier den von Noel Salazar (2009) geprägten englischen Neologismus »tourismification«. Eine Besprechung des Konzepts findet sich in Kapitel 4.

10 Für den von der Kopenhagener Schule der Konfliktstudien geprägten Begriff »Securitization« bietet sich keine deutsche Übersetzung an. »Versicherheitlichung« käme der englischen Bedeutung am nächsten, ist aber im Deutschen ein sehr unbequemer Neologismus.

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mungsmanagement realisiert werden, ist die Arbeit unabhängiger Filmemacher_innen mit konfliktbedingten Formen der physischen Immobilität verknüpft. Anschließend steht in den Analysekapiteln 5 und 6 die Medialisierung von Raum- und Zeiterfahrungen des Konflikts im Mittelpunkt. Die filmische Form wird im Sinne der Mobilitätslinse als Teil einer medialen Praxis aufgefasst, die auch die Arbeit der Filmemacher_innen mit verschiedenen Formen der Öffentlichkeit beinhaltet. Im fünften Kapitel zeige ich auf, wie die Filmemacherinnen Uzma Falak und Iffat Fatima durch ihre imaginative und physische Mobilität die Schnittstelle von Prozessen der Tourismifizierung und Securitization11 des Tals sichtbar machen und den touristischen Blick (Urry 1990) auf das Kaschmirtal umkehren. Gleichzeitig schafft vor allem Fatima durch die Mobilität ihrer Praxis und durch die Begleitung ihrer Filme eine haptische Form (Marks 2000) der Zeugenschaft, deren berührende Nähe oft zu starken emotionalen Reaktionen des Publikums führt. Die haptische Form ermöglicht den Schutz der verletzlichen »Haut des Filmes« (ebd.) durch die rahmende Begleitung der Filmemacherin. So entsteht eine mobile Zeugenschaft, die gleichzeitig eine Kontrolle über das affektpolitische Potential – beispielsweise hinsichtlich des »Antinationalen« – an der »offenen Kante der Massenpublizität« (Mazzarella 2013) gewährleistet. Im sechsten Kapitel erweitere ich die Frage nach Mobilität und Zeugenschaft im Sinne der Vermittlung eines »ethischen Raums des Films« (Sobchack 1998). Dieser ethische Raum konstituiert sich als kommunikativer Raum durch Gespräche zwischen Filmemacher_innen und Rezipient_innen über das im dokumentarfilmischen Medium aufgezeichnete Zeugnis (ebd.). Dieser Raum wird in Hinblick auf die Praxis des exilischen Filmemachers Ajay Raina anhand der Begegnung zwischen ihm und den Subjekten seines Films besprochen. Die Begegnungen werden vermittelt durch die Form des cinema vérité in der narrativen Reisestruktur einer Rückkehr aus dem Exil. Die zweite Filmbesprechung des Kapitels beschäftigt sich mit Sanjay Kaks »Jashn-e-Azadi« (2007).12 Politisch steht Kaks Position jener von Raina diametral entgegen und bietet deshalb interessante Vergleichsmomente in Bezug auf eine mobile Zeugenschaft. Ich fokussiere auf den ethischen Raum des Films in

11 Weil der Begriff in dieser Arbeit so oft verwendet wird, behandele ich ihn ab jetzt als eingedeutscht. 12 Wörtlich übersetzt ist es die »Feier der Freiheit« (āzādī) und ist im Filmtitel als Wortwitz auf die Feierlichkeiten zum indischen Unabhängigkeitstag bezogen, die im Kaschmirtal aufgrund einer populären Ablehnung des indischen Nationalfeiertags groteske Züge annehmen kann.

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Hinblick auf die Bezeugung von Konfliktgewalt durch die Verwendung audiovisuellen Archivmaterials in der Form des Films. In jedem Kapitel stelle ich mir also Fragen hinsichtlich der räumlichen Dimension von Filmpraxis, deren komplexes Verhältnis von struktureller Verfestigung und Öffnung ein zentrales Anliegen der transnationalen Filmwissenschaft und des emporkommenden Forschungsfeldes des Konfliktkinos darstellt. Diesen widme ich mich im Folgenden.

Filme und Konfliktregionen

In der Einleitung sprach ich davon, wie es in den späten 1990er Jahren unter digitalen und zunehmend transnationalen Bedingungen zu neuen, leichter zugänglichen Formen eines unabhängigen Dokumentarfilms kam (Deprez und Pernin 2015, 1; Ezra und Rowden 2006, 1). In Regionen mit geopolitischen Konflikten wurden filmische Repräsentationen bislang vorwiegend durch national ausgerichtete, marktorientierte Filmindustrien und durch staatliche Akteure produziert. Seit dem Aufkommen des digitalen Films sind immer mehr Stimmen von Filmemacher_innen vernehmbar, die nicht nur über ihre Filme an Konflikten teilnehmen (Smets 2015, 2434). Oft stellen sie durch die Schaffung komplexer Erzählungen und Bilder aus einer Perspektive von unten den Alltag in Konfliktregionen dar und dessen imaginäre Verhärtungen1 in Frage (Naficy 2001; Matar und Harb 2013; Hochberg 2015). Dokumentarfilme stellen auch das Gros der unabhängigen Filmproduktionen über Kaschmir seit dem Aufkommen des digitalen Films. Die Arbeiten zu Filmen über das Kaschmirtal konzentrierten sich bislang fast ausschließlich auf Analysen der Repräsentationen Kaschmirs im Hindi-Film (Bharat und Kumar 2007; Kabir 2009; Kabir 2010; Gaur 2010). In diesen Untersuchungen wird nicht auf den seit 2001 rasant wachsenden Korpus eines unabhängigen Filmschaffens über das Kaschmirtal und den Konflikt eingegangen. Nur Ananya Kabir (2009) bezieht sich punktuell auf den Film »Paradise on a River of Hell« (2001) von Abir Bazaz und Meenu Gaur in einer psychoanalytisch ausgerichteten Studie von Kunstwerken und Filmen, die den »Fetisch Kaschmir« als touristisches Paradies und/oder terroristische Hölle »demaskieren« (Kabir 2009, 53). Die Infragestellung dominanter Bilder des in südasiatischen Medienlandschaften überexponierten Kaschmirtals durch oft persönliche Erinnerungen

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Damit sind imaginativ abgeschlossene, identitätspolitische Subjektpositionen gemeint, die dem jeweils Anderen keinen Raum in ihrem Diskurs gewähren.

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ist ein zentraler Aspekt der Filmpraktiken unabhängiger Filmemacher_innen, die über die Region arbeiten. Die zentrale Ausgangsfrage dieses Buches folgt diesem Ansatz: Wie erzählen unabhängige Filmemacher_innen den Konflikt von unten und schaffen dabei (neue) politische Subjektivitäten? Sie ist an der Schnittstelle der interdisziplinären Debatten zwischen Filmwissenschaft und Mediensoziologie mit einem Fokus auf Konfliktregionen und den Praktiken des Gegengeschichtenerzählens im unabhängigen Dokumentarfilmschaffen verortet. Es existieren bislang keine Studien zum unabhängigen Filmschaffen über Kaschmir. In diesem Buch wird der Weg über akademische Arbeiten zu anderen geopolitischen Konfliktregionen begangen (insbesondere Palästina und Kurdistan). Dabei werden Überschneidungen und Differenzen der Forschungsfelder des »Cinemas of Conflict« (Smets 2015) und des »unabhängigen Dokumentarfilms« aufgezeigt. Solche Untersuchungen werden dann mit den spezifischen Praktiken eines unabhängigen Filmschaffens über die Region des Kaschmirtals verglichen und um eine Perspektive des »kritischen Transnationalismus« (Higbee und Lim 2010) erweitert.

V OM D RITTEN K INO ZUR P OLITIK DER R EPRÄSENTATION Die Vorläufer gegenwärtiger wissenschaftlicher Debatten des transnationalen Kinos und des Konfliktkinos bezogen sich auf das »dritte« bzw. »antiimperialistische Kino« (Solanas und Gettino 2000). Eine Reihe lateinamerikanischer FilmManifeste entwickelten in den 1960er Jahren eine oppositionelle Theorie und Praxis, gerichtet sowohl gegen Hollywood (das »Erste Kino«) als auch gegen das »bourgeoise Kunstkino Europas« (das »Zweite Kino«). Die Manifeste sollten in avantgardistischer Manier Gebrauchswert für den antikolonialen Klassenkampf haben. In ihnen wurden Spannungen zwischen den Konzepten der nationalen Befreiung und den kontinentübergreifenden Definitionsversuchen radikaler Filmästhetik artikuliert (Sen 2003, 154). Die drei Kontinente (Südamerika, Afrika und Asien) umfassende Vision eines oppositionellen Kinos wurde der »westlichen Hegemonie« entgegengesetzt, wodurch Analysen lokaler Kontexte oft erschwert wurden (Murphy 2006, 34). Für Krishna Sen verdeutlichte das Dritte Kino allerdings, dass ein rein textuelles Verständnis filmischer Repräsentation ohne Bezug auf die globale politische Ökonomie nicht ausreicht, um eine oppositionelle Praxis zu denken (Sen 2003, 163).

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Globalisierung und kulturelle Ökonomie Die Untersuchungen zum Dritten Kino machten die politische Ökonomie und den Klassenkampf zum Ausgangspunkt ihrer theoretischen Praxis. Gegenwärtige Debatten des transnationalen Kinos beziehen sich dagegen vorwiegend auf den Begriff Kultur. Dieser wird dabei nicht als »Containerbegriff« (Hepp 2010, 132) bspw. einer »kaschmirischen« oder »deutschen Kultur« verstanden, sondern als umfassendere, heuristische Analysekategorie, die sich vor allem mit der seit den 1980er Jahren an Relevanz gewinnenden Identitätspolitik beschäftigt. Forschungen zum transnationalen Film nehmen oft die einflussreichen Arbeiten des Anthropologen Arjun Appadurai zum Ausgangpunkt, der die Lokalisierung von Konflikten in einer global verknüpften Welt problematisiert. Sein stark rezipierter Aufsatz »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy« (Appadurai 1996) macht auf die Differenzen und Entkopplungen kultureller Imaginationen zwischen Staat und Nation in Zeiten zunehmender globaler Bewegungen von Menschen, politischen Ideologien, Bildern und Technologien aufmerksam. Hinsichtlich der regionalwissenschaftlichen Forschung kritisiert er die Vorstellung der Übereinstimmung von Kulturen mit einem kartographisch definierten Territorium (Appadurai 1996, 16). Krishna Sen fasst die Frage des oppositionellen Kinos unter den von Appadurai vorgezeichneten Bedingungen folgendermaßen zusammen: »The source of cultural threat, then, is not the triumphal bearer of global capitalism, the United States, alone, but depending on your location the nearest cultural strongman« (Sen 2003, 155). In den zunehmend globalen, dichten Kommunikationsnetzwerken unserer Zeit entsteht kein einheitlicher, gemeinsamer Erfahrungshorizont (Koschorke 2012; Castells 2013). Die Regionalwissenschaften thematisieren diese Globalisierung und richten dabei das Augenmerk auf die »Produktion von Raum« (Lefebvre 1991) durch die Praktiken sozialer Akteure (Middell 2013, 20): Trotz der technologischen und medialen Vernetzung, moderner Formen der Synchronisierung und neuer Kommunikationsformen der Gleichzeitigkeit bewegen wir uns aus einer kultur-soziologischen Perspektive nicht im gleichen Raum und in der gleichen Zeit, sondern in heterogenen Räumen und Zeitlichkeiten. Diese werden weder als Containerbegriffe gedacht, noch als narrative Typisierungen von Zeitlichkeit und Geschichte jenseits der spezifischen Handlungskontexte der Akteure dargestellt.

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Politik der Repräsentation Ein Meilenstein hinsichtlich der Pluralisierung von Konflikterzählungen in der wissenschaftlichen Literatur zur Politik der Repräsentation im Film ist Ella Shohats »Israeli Cinema« (Shohat 1989) und das von ihr und Robert Stam gemeinsam verfasste Werk »Unthinking Eurocentrism« (Shohat und Stam 1994). Beide Bücher überführen Erzählungen nationaler Homogenität über eine ausführliche Kontextualisierung der filmischen Texturen in eine Pluralität, in der Debatten von Gender, Ethnizität und alternative Ästhetiken vor dem Hintergrund dominanter orientalistischer Tropen und neokolonialer Machtungleichheiten Raum bekommen. Sie beziehen ihr konzeptuelles Repertoire vorwiegend aus Ansätzen des russischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers Mikhail Bakhtin, die auf einer Stimmenvielfalt bestehen, aus der sich die Welt in sozialer Kommunikation dialogisch zusammensetzt. Shohat und Stam argumentieren für einen »polyzentrischen Multikulturalismus« (Shohat und Stam 1994, 48), in dem keiner kulturellen Gruppierung ein epistemologisches Privileg eingeräumt wird. Gleichzeitig problematisieren sie mimetische und normative Schemata der Politik der Repräsentation, in der einige Gruppen in einem »ghettoizing discourse« als Mehrheit oder Minderheit dargestellt werden. Shohat und Stam betonen in ihrer Kritik des Postkolonialen2 in Bezug zum »Vierten indigenen Kino«, dass territoriale Konflikte oft nicht ausreichend über eine implizite theoretische Bevorzugung von Deterritorialisierung und der Konstruiertheit nationaler Grenzen zu verstehen sind. Eine solche ontologisch nicht zu rechtfertigende Position würde, so Shohat und Stam, geschichtliche Aspekte des antikolonialen Kampfes indigener Gruppen übergehen (Shohat und Stam 1994, 37–38). Ähnlich wie Shohats und Stams Kritik mimetischer Repräsentationen kultureller Differenz (Shohat und Stam 1994, 213) betont auch die einflussreiche Filmemacherin und Theoretikerin Trinh T. Minh-ha den Hörsinn in ihrem bekannten anti-mimetischen Ausspruch »I do not intend to speak about. Just speak nearby«. Der Satz aus dem Voice-over-Kommentar von Trinhs Film »Reassembla-

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Die Kritik richtete sich gegen das Postkoloniale als eurozentrische Privilegierung der Kolonialzeit und als sozialhistorisch ambivalentes Konzept, das ein universales, postkoloniales Subjekt vorauszusetzen scheint (Shohat und Stam 1994, 37–41). Vor dem Hintergrund neokolonialer Machtungleichheiten war für Shohat und Stam vor allem die zeitliche Bedeutung des »post« problematisch. Diese Position wird allerdings von vielen transnationalen Filmwissenschaftler_innen nicht geteilt, die vielmehr auf die inhaltlichen und theoretischen Überschneidungen der Arbeiten Shohats und Stams und der postkolonialen Kritik hinweisen (Higbee 2007, 52; Ponzanesi und Waller 2012).

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ge« (1982) könnte als Antwort auf das godardsche modernistische Credo »C’est pas une image juste, c’est juste une image«3 verstanden werden. Trinh T. Minhhas Satz verweist auf ein experimentelles Filmschaffen außerhalb des eher polemischen Tonfalls des Dritten Kinos und dem damals im Zuge der Dekonstruktion in die Kritik gekommenen Okularzentrismus. Gleichzeitig weist Trinh (1992) auf die kritische Rezeption ihres Filmes in den Kreisen des experimentellen Films hin. Diese begründe sich, so Trinh, darin, dass sie sich reflexiv mit der Politik der Repräsentation auseinandersetze, »instead of seeking to transcend representation in favor for visionary presence and spontaneity« (ebd. 114). Die Konzepte des Filmwissenschaftlers Hamid Naficy fanden oft in Studien zu Filmen über die Konfliktregionen Kurdistan und Palästina Verwendung (Morag 2013; Horat 2010; Koçer 2014; Ezra und Rowden 2006). Seine Kriterien für ein »akzentuiertes« Filmschaffen sind, dass es kein kohärentes Kino etabliert (Naficy 2001, 4) und dass seine kritische Ausrichtung aus der nicht primär kommerziellen Unternehmung und seiner handwerklichen oder kollektiven Produktionsweise entspringt (ebd. 45). Naficy betont die produktive Zwischenposition der Filmschaffenden an der Schnittstelle des Lokalen und Globalen, »both within and astride the cracks of the system, benefiting from its contradictions, anomalies, and heterogenity« (ebd. 46). Seine Filmanalysen beschäftigen sich oft – wie auch die anderer transnationaler Filmwissenschaftler_innen (Sengul 2012; Shohat 2010; Ezra und Rowden 2006) – mit den Überschneidungen des geopolitischen, sozialen, diegetischen und cinematischen Raums. Einige zentrale Konzepte zur Inhaltsanalyse der Filme entnimmt Naficy, wie schon Shohat und Stam, den Entwürfen des russischen Sprachwissenschaftlers Mikhail Bakhtin (z.B. die Analyse filmischer »Chronotopoi« als zeiträumliche Koordinaten einer Diaspora- und Exilerfahrung).

K ONFLIKTERZÄHLUNGEN

IN DEN

M EDIEN

Dina Matar und Zahera Harb (2013) stellen fest, dass akademische Untersuchungen von Medienpraktiken in und über Konfliktregionen ihren Fokus meist auf Kriegsberichterstattung im Fernsehen und in der Presse legen. Der Fokus richtet sich auf Kategorien wie »Ethik«, »Objektivität« und »Voreingenommenheit«; angesiedelt sind die Studien in der Regel in der Disziplin der Mass Communication Studies (Allan und Zelizer 2004; Cottle 2006; Seib 2005; Thussu und 3

Auf Deutsch geht der godardsche Sprachwitz verloren: »Es ist nicht ein richtiges (juste) Bild, es ist einfach (juste) ein Bild.«

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Freedman 2003; Büttner, von Gottberg und Metze-Mangold 2004). Der Sammelband »War and the Media« (2003) von Thussu und Freedman unterscheidet drei dominante Perspektiven, durch die Wissenschaftler_innen wie Medienschaffende sich hinsichtlich Krieg und Medien positionieren, nämlich: 1. Journalismus als kritisch aufklärende »Vierte Macht« (ebd. 4–5), 2. das von Chomsky und Herman (2002) vorgelegte »propaganda model«, in dem argumentiert wird, dass die Mainstreammedien im Wesentlichen die Rahmungen der militärischen, politischen und ökonomischen Führungseliten reproduzieren (ebd. 6), 3. das Modell der »Hyperrealität« von Jean Baudrillard (1995): Medien und Krieg lassen sich nicht mehr voneinander trennen, denn Krieg ist »increasingly technologized, informatized and mediated« (Thussu und Freedman 2003, 6–7). Matar und Harb (2013) fordern dagegen eine Perspektive auf Konflikt und Medien, die sich den Konfliktnarrationen durch kontextspezifische Analysen von medialen Praktiken aus einer »bottom-up«-Perspektive nähern. Insbesondere richtet sich ihr Blick auf die Politiken der Erinnerung von Medienakteuren, deren Praktiken oft von der Auseinandersetzung mit dem Alltag in Konfliktregionen bestimmt sind (ebd. 1–4). Konflikte werden dabei weder als einheitliche Ereignisse verstanden, die in jedem Kontext dieselben Charakteristika aufweisen, da so die jeweils spezifischen, asymmetrischen Kämpfe um Identitäten nicht berücksichtigt würden. Noch betrachten die Autorinnen Konflikte als Phänomen, das überhaupt keine Vergleichsmomente aufweisen würde. Vielmehr schlagen sie den Begriff »narrating conflict« vor, um die Handlungsmacht der Akteure mit den diskursiven Landschaften, in denen sie sich bewegen, zusammen zu denken und gleichzeitig den gebräuchlicheren Begriff »mediating conflict« mit seiner Assoziation von neutraler medialer Informationsvermittlung zu hinterfragen: »Narration allows us to examine the diverse discursive spaces and forms within which conflict is mediated, communicated, experienced, imagined and lived, while not losing sight of the fact that the term narration itself implies subjectivity and agency, if not a provisional and partial reconstruction of lives and histories« (Matar und Harb 2013, 3).

Refqa Abu-Remailehs (2013) Beitrag zu dem Sammelband von Matar und Harb analysiert in diesem Sinne das Filmschaffen des palästinensischen Filmemachers Elia Suleiman. Sie argumentiert, dass sich Suleiman in eine paradoxe ideologi-

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sche Landschaft einzuschreiben versucht, die Bresheet (2007) in seiner Studie zur cinematischen Repräsentation der palästinensischen Nakba als ein »Leben des Dazwischen« beschreibt: »[B]etween fact and fiction, between narrative and narration, between the story and its telling, between documentary and fiction, not to mention between Israel and Palestine, and between life and death« (Bresheet 2007, 183–184).

Wie auch bei Naficy generiert sich in Abu-Remailehs Besprechung von Suleimans Filmschaffen das kritische Potential aus einer reflexiven Zwischenposition, die sie allerdings nicht durch Exil oder Diaspora erklärt, sondern in der spezifischen Konfliktsituation Palästinas verortet. Die experimentellen Momente in Suleimans Film spiegeln sich in »nicht linearen, komplexen Erzählungen« wider, die den Raum Palästinas durch die reflexive Figur Suleimans fragmentieren und so zu einer »Trennung von Territorium und Geschichte« führen (ebd. 105).

C INEMAS

OF

C ONFLICT

Kevin Smets schlägt in seinem Artikel »Cinemas of Conflict: A Framework of Cinematic Engagement With Violent Conflict Illustrated With Kurdish Cinema« (2015) vor, das oft heterogene Filmschaffen einzelner Akteure über Konfliktregionen an der Schnittstelle von Medienwissenschaften, Friedens- und Konfliktwissenschaften und Cultural Studies anzusiedeln, »[...] because they are encapsulated in a model that takes into account production context, the nature of the conflict, the impact of the conflict on everyday life, the situation of the filmmaker and crew, and the position that they occupy vis-à-vis the conflict« (Smets 2015, 2438).

Er verortet seinen Konfliktbegriff über Bar-Tals (2003) Definition von lang andauernden »intractable conflicts« (ebd. 77),4 die zu einer »Kultur der Gewalt« 4

Diese zeichnen sich nach Bar-Tal (2003) durch sieben Merkmale aus: 1. sie existieren seit mehr als einer Generation, 2. es bestehen routinierte Formen der Gewalt, 3. sie werden oft von den beteiligten Akteuren als unlösbar aufgefasst, 4. etliche Parteien haben ökonomische, militärische und ideologische Interessen, den Konflikt fortzusetzen, 5. der Konflikt wird i.d.R. als »Nullsummenspiel« wahrgenommen, 6. die Konfliktthemen drehen sich um Grundbedürfnisse, die für das Überleben der jeweiligen

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führen, in der sich kollektive Erinnerungen um Topoi der Unterdrückung und des Widerstands sedimentieren (Bar-Tal 2003, 84). Smets analysiert einen Korpus des kurdischen Films über Kategorien des Konflikt- und Friedensforschers5 Johan Galtung (1969), die er hinsichtlich bestimmter Konfliktfilmtypen erweitert: 1. Kultur des Todes / kämpferisches Kino, 2. Kultur der Gewalt / Opferkino, 3. Kultur der Aushandlung / Menschenrechtskino und schließlich 4. eine Kultur der Gleichgültigkeit. Methodologisch schlägt Smets vor, die Intentionen der Filmemacher_innen als Akteure in geopolitischen Konflikten und ihre identitätspolitischen Aushandlungen innerhalb eines diskursiven Raums pluraler Konfliktnarrationen durch qualitative Interviews und Filminhaltsanalysen anzugehen. Er legt den Fokus der inhaltlichen Analysen eher auf erzählerische als auf stilistisch-ästhetische Momente der filmischen Kommunikation (ebd. 2449). Die Position des Filmemachers oder der Filmemacherin zum Konflikt ist – neben der inhaltlichen Analyse – ein zentrales Moment der anvisierten Konfliktfilmstudien: »If we are to understand the relation between cinema and conflict, it should be clear that the level of involvement of filmmakers in conflicts is crucial. Do filmmakers operate from a distance, or do they participate? Where filmmakers are located vis-à-vis the core of the conflict [...] determines the way in which the conflict is imagined and what kind of film is made« (ebd. 2040).

Schließlich warnt Smets davor, dass ein zu enger Fokus auf die Handlungsmacht einzelner Filmemacher_innen die Wahrnehmung der institutionalisierten Identitätspolitik verschiedener am Konflikt beteiligter Parteien erschwert (ebd.).

Konfliktparteien als essentiell empfunden werden und schließlich nimmt 7. der Konflikt eine zentrale Position in der Agenda der beteiligten Parteien ein (vgl. Smets 2015, 2436). 5

Aus meiner Sicht wird eine für die Cinemas of Conflict hilfreichere Forschungsperspektive als jene von Galtung von dem Konflikt-und Friedensforscher Oliver Richmond (2011) entwickelt. Richmond hinterfragt vor dem Horizont (neo-)liberaler »peacebuilding«-Regimes die normativen und eurozentrischen Positionen sowohl von Friedens- und Konfliktforscher_innen als auch von Akteuren des Feldes. Er betont mit Bezug auf postkoloniale Theorie die Wichtigkeit, (trans-)lokale Netzwerke und Epistemologien der Akteure in den Konfliktregionen in die Rahmung von Friedensprozessen einzubeziehen, ohne bereits normative Bedingungen an sie zu stellen oder sich mit einem neoliberalen Minimalprogramm zu begnügen.

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Smets verweist auf die Dominanz von Studien zu Konflikt und Trauma in »western conflicts« durch die Linse eines nationalen Kinos (z.B. Barret 2009; Basinger 2003; Chapman 2009). Demgegenüber werden zu »non-western conflicts« ihm zufolge vorwiegend Studien zu Tropen wie »Erinnerung«, »Exil« und »Heimat(losigkeit)« durchgeführt, also mit einem Fokus auf die Analyse filmischer Texturen in der Politik der Repräsentation (eine Durchsicht der noch überschaubaren englischsprachigen Literatur zum Filmschaffen über Kurdistan und Palästina bestätigt seine Aussagen; siehe z.B. Rastegar 2015; Shohat 2010; Naficy 1996, 1998, 2001; Horat 2010; Dabashi 2006). Smets führt die Dominanz textueller Analysen von Konfliktfilmen auf die breite Rezeption von Hamid Naficys (2001) Konzept eines »Exil- und Diasporakinos« zurück (siehe unten). Dagegen schlägt Smets vor, das Verhältnis von Filmemacher_innen und Konflikt in erster Linie nach soziologischen Konzepten der Konflikt- und Medienforschung (Thussu und Freedman 2003; Matar und Harb 2013) zu untersuchen und nicht vorwiegend durch ihre räumlichen Bewegungen oder ihre »Zwischenposition« (Naficy 2001); auch wenn Exil- und Diaspora-Artikulationen für ihn weiterhin wichtige Themenfelder einer Konfliktfilmforschung bilden. Ähnlich wie Smets vergleicht die Filmwissenschaftlerin Raya Morag (2013) vor dem Hintergrund von Mary Kaldors (2007) Konzeptualisierung »Neuer Kriege« zwei Korpora (israelische und palästinensische Produktionen) des Dokumentarfilmschaffens nach der Zweiten Intifada (2000–2005), um eine »Taxonomie des Konfliktkinos« (238) über Israel und Palästina abzuleiten. Ib Bondebjerg (2014) hat sich speziell mit Dokumentarfilmen über den »War on Terror« aus einer kognitiv-soziologischen Perspektive beschäftigt (Bondebjerg 2014, 23). Er setzt eine starke kognitive Trennung zwischen Fiktion und Dokumentarfilm und bezieht sich mit Nichols (2001) auf verschiedene Dokumentarfilmmodalitäten, die sich mit dem »Realitätsstatus« (ebd. 53), also dem dokumentarischen »Anspruch auf das Reale« auseinandersetzen. Er plädiert hinsichtlich der untersuchten Filme aus »kosmopolitischer Perspektive« für eine »balancierende Objektivität« und »wahrhafte Repräsentationen« (ebd. 52). Die »kosmopolitischen Erzählungen« (er erwähnt fast nur europäische und US-amerikanische Produktionen) über Konfliktregionen werden vor dem Hintergrund »universaler menschlicher Kognition« beschrieben und eröffnen, so Bondebjerg, Möglichkeiten für globale »soziale Imaginäre«6 (Bondebjerg 2014, 8).

6

Dieses Konzept stammt von Charles Taylor (2004, 23) und bezeichnet moderne Wissensressourcen, die rekursiv über Vorstellungen menschliche Handlungen ausrichten und so gesellschaftliche Wirklichkeiten mit hervorbringen.

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Die hier angeführten Studien über Konflikt und Film betonen die kognitiven und repräsentationspolitischen Aspekte der filmischen Auseinandersetzung mit Konflikten. Im nächsten Unterabschnitt gehe ich auf rezente Versuche ein, die die ästhetischen Potentiale von neuen medialen Praktiken, die Konfliktregionen zum Gegenstand haben, in den Vordergrund stellen. Dazu zählt der Großteil des Korpus von Arbeiten über unabhängige Dokumentarfilmpraktiken – auch wenn sie sich nicht in erster Linie mit geopolitischen Konflikten beschäftigten – und rezente Studien zur visuellen Kultur in Konfliktregionen.

D IE

VISUELLE

K ULTUR

VON

K ONFLIKTREGIONEN

Smets selbst relativiert sein typologisches Unterfangen und betont, dass einige Filme in keine der von Galtung entwickelten Kategorien passen (Smets 2015, 2450). In einem Kommentar zu Abu-Remailehs Arbeit (2013) verweist Smets indirekt auf die ästhetische Dimension komplexer Geschichtsdarstellung in Konfliktzonen: »The conflict over history (fact versus fiction) and narrative (narrative versus narration) are of key importance for establishing a national identity. Conflict situations often involve a lack of a coherent, national narrative (or rather, a clash of different narratives) because of censorship or cultural repression. Consequently, cinema can be an important form of cultural resistance, a way to seek legitimacy in times of dispersion, oppression, or crisis« (Smets 2015, 2437).

Die Studien von Meg McLagan und Yates McKee (2012) und Gil Hochberg (2015) zur visuellen Kultur in Konfliktregionen nehmen Jacques Rancières7 Konzeption einer »politischen Ästhetik« zum Ausgangspunkt, um ästhetische Momente weniger über eine Analyse von Erzählungen als vielmehr durch be7

Joseph J. Tanke zufolge ist auf Rancières Ansatz einer »Verteilung des Sinnlichen« insbesondere in der Forschung zu den emanzipatorischen Potentialen gesellschaftlichen Wandels durch digitale Medien verstärkt zurückgegriffen worden, da diese es immer mehr Menschen ermöglichen, ihre Subjektivitäten gelebter Raumzeit in oft experimentellen Praktiken zu artikulieren (Tanke 2010, 15). Es ist damit ein ästhetischer Möglichkeitsraum anvisiert, der öffnende Potentiale nicht – wie in vielen Studien zum transnationalen Kino oder der postkolonialen Kritik – über Brüche in vorwiegend textuell verstandenen Repräsentationsregimes inszeniert, sondern eher reaktiv auf die gegebene Verteilung, den Status quo, bezieht (Smith 2017, 21-22).

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stimmte »Bildkomplexe«8 (McLagan und McKee 2012) aufzuzeigen. Gil Hochberg (2015) beschäftigt sich mit der »visuellen Politik von Konfliktzonen«, insbesondere der israelischen Besatzung Palästinas und der Normalisierung bestimmter Blickregimes, die dazu führen, dass routinierte Formen von Gewalt unsichtbar werden sowie der Anfechtung dieser »Verteilungen des Sinnlichen«: »[...] [I]f we are to fully understand the Israeli-Palestinian conflict, we cannot simply or only analyze it in terms of colonial land-grabbing, competing national narratives, the removal of peoples or even the specific spatial arrangements of enclosement and separation. Rather we must further recognize the conditions through which the geopolitical arrangements of space and the classification of distinct ethno-national and religious identities involved in this conflict are themselves created and solidified through particular visual practices and distributions of the visible that tend to remain invisible as such« (Hochberg 2015, 6).

Hochbergs Studien und die Beiträge in dem von McLagan und McKee editierten Sammelband »Sensible Politics« (2012) konzeptualisieren ein oppositionelles Moment filmischer Praktiken durch die Schaffung von Bildern, die in sedimentierte visuelle Landschaften intervenieren und so das oben angedeutete Verständnis von Konflikt, Medien und Gegenerzählungen um zwei Aspekte erweitern: um die in den (trans-)nationalen Medienlandschaften vorherrschenden Darstellungen einer Konfliktregion und um die oft experimentellen Arbeiten zur kreativen Bildschaffung von Medienschaffenden. Eine solche Perspektive auf kreative Bildschaffung überschneidet sich mit rezenten Arbeiten zum unabhängigen Dokumentarfilm, die auf kontextspezifische Analysen kreativer, erzählerischer und filmformaler Praktiken von unabhängigen Dokumentarfilmemacher_innen fokussieren.

U NABHÄNGIGER D OKUMENTARFILM Das Dokumentarfilmgenre und seine unabhängigen Praktiken haben durch die Amateurisierung und Digitalisierung eine neue gesellschaftliche und akademi8

McLagan und McKee (2012) richten ihr Augenmerk auf die »formalen Dimensionen des Bildes« (ebd. 9), dessen finanzielle, institutionelle Netzwerke und diskursive Einbettung, sowie auf die Praktiken seiner Produktion, Zirkulation und Rezeption (ebd.). Es geht ihnen folglich nicht nur um die Repräsentationen, sondern um die Performanz von Bildkomplexen innerhalb weiterer medialer Ensembles.

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sche Relevanz erhalten (Deprez und Pernin 2015). Diese spiegelt sich in einer zunehmenden Anzahl von akademischen Arbeiten in dem Forschungsfeld der Dokumentarfilmstudien wider (siehe z.B. Austin und de Jong 2008; Winston 2013). Die Grenzen zwischen Dokumentar- und Spielfilmen werden dort i.d.R. nicht ontologisch verstanden, sondern im weiteren Kontext der kommunikativen Form betrachtet, die sich oft durch einen »propositionellen Realismus«9 (Corner 2011) artikuliert. Spätestens seit der Postmodernismusdebatte in den Dokumentarfilmstudien gelten sie als verschwommen (Nichols 1994). Diese Grenzüberschreitungen haben mit der Verbreitung von Doku-Dramen, Nachstellungen, Reality-TV, und neuer »kreativer«10 Dokumentarfilmformen in den letzten Jahren noch zugenommen. Die Frage nach der Unabhängigkeit einer professionellen filmischen Praxis muss dabei – hier sind sich unabhängige Filmemacher_innen und Filmforscher_innen zumeist einig – immer relational verstanden werden. Ihre brüchigen Grenzen werden durch eine Amateurfilmpraxis (Nicholson 2012) markiert und durch ausgehandelte Unabhängigkeitsgrade des professionellen Filmschaffens ausgelotet. Unabhängige Dokumentarfilmpraktiken zeichnen sich i.d.R. durch eine Auseinandersetzung mit Thematiken der Redefreiheit hinsichtlich staatlicher und marktwirtschaftlicher Begrenzungen sowie der Sichtbarmachung von Subjektivitäten aus, denen in dominanten medialen Formen kein Raum gewährt wird (Deprez und Pernin 2015, 3).

Globale Praktiken und Spezifika des unabhängigen Dokumentarfilms in Indien Untersuchungen über die Politik unabhängiger Dokumentarfilmpraktiken jenseits der weitestgehend europäisch und US-amerikanisch ausgerichteten Dokumentarfilmstudien (kritisch hierzu Nornes 2013, 209–216) konzentrieren sich

9

Im Gegensatz zur fiktionalen Gestaltung von Realitätserwartung sind Wahrheits- und Wissensansprüche im Dokumentarfilmgenre oft mit Formen der Zeugenschaft und des Zeugnisses verbunden, die durch die Art und Weise der Aufnahme und des Schnitts Kontinuitäten mit der Welt außerhalb der filmischen Diegese suggerieren (Corner 2011, 72).

10 Der Begriff des kreativen Dokumentarfilms hat eine wachsende Bedeutung für Filmemacher_innen und die Filmindustrie. Er wird seit den späten 1980er Jahren auf einigen renommierten internationalen Filmfestivals als zentraler Begriff zur Abgrenzung des Dokumentarfilms zum Videojournalismus verwendet (Deprez und Pernin 2015, 10).

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meist auf das nach-diktatorische Lateinamerika (Burton-Carvajal 1990; Chanan 2008; Navarro und Rodríguez 2014) und auf China (Pickowicz und Zhang 2006; Berry et al. 2010; Wang 2014). In anderen Regionen beginnt momentan die Ausbildung des Feldes der Dokumentarfilmstudien, so z.B. auch der »indische« (Vohra 2011; Wolf und Sarkar 2012; Deprez 2015; Monteiro und Jayasankar 2016) oder »afrikanische Dokumentarfilm« (Ukadike 2013). In vielen regionalen Kontexten sind die oft ambivalenten Beziehungen zwischen einer unabhängigen Dokumentarfilmpraxis zum Staat und zu den hegemonialen offiziellen Erzählungen hervorgehoben worden. Dies erfolgt oft über die Erinnerungen und Alltaggeschichten von Minderheiten, die Aufarbeitung bisher unsichtbarer oder in den dominanten Medien nur von außen repräsentierten Akteuren (Edwards 2015; Pickowicz und Zhang 2006; Wang 2014; Chanan 2008). Oft liegt der Fokus auf der Infragestellung der offiziellen Geschichte durch ein reflexives, persönliches Filmschaffen, das unter den Bedingungen digitaler Filmtechnologien neue Verbreitung findet (Renov 2004; Gómez 2014; Wang 2014; Deprez und Pernin 2015). Schließlich stellt die Schaffung neuer Öffentlichkeiten einen wichtigen Referenzpunkt in den Praktiken des unabhängigen Dokumentarfilms dar,11 denn es geht vielen unabhängigen Filmemacher_innen nicht nur darum, andere Geschichten durch das Medium Film zu erzählen, sondern auch um die Bedingungen, unter denen sie rezipiert, debattiert und angeeignet werden (Monteiro und Jayasankar 2016; Mukherjee 2012; Berry et al. 2010, 10; Nakajima 2010; Chanan 2008). Nur wenige der oben genannten Studien verweisen aufeinander oder berücksichtigen eine transnationale Vergleichsebene (eine Ausnahme ist der Sammelband von Deprez und Pernin 2015, 2). In den Beiträgen zu den gegenwärtigen ästhetischen Praktiken des digitalen Dokumentarfilms wendet sich der Fokus oft komplexen mimetischen Darstellungen von alltäglich gelebten und/oder ästhetisch (anti-mimetisch) aufgebrochenen Räumen und heterogenen Zeitlichkeiten zu, sowie ihrer Vermittlung in den sich wandelnden Medienlandschaften und ihren Akteuren (Filmemacher_innen, Prosumers, marktwirtschaftliche und staatliche Akteure). Insgesamt lässt sich seit dem Aufkommen digitaler Filmtechnologien eine Perspektivverschiebung der Dokumentarfilmstudien weg von kognitiven Fragen möglicher Typisierung und kategorialer Differenzierung des Genres hin zur Untersuchung experimenteller Formen beobachten (Corner 2008, 22). Arbeiten im Feld unab-

11 Es wird von diesen Autoren für die Konzeptualisierung von »Gegenöffentlichkeiten« entweder auf Michal Warner (2005) oder Alexander Kluge und Oskar Negt (1972) zurückgegriffen. Im südasiatischen Kontext hat sich Vivek Bhandari (2006) mit der Frage der (Gegen-)Öffentlichkeiten beschäftigt.

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hängiger Filmpraktiken beinhalten oft eine stark akteurbezogene Perspektive auf Filmpraxis und eine selbstreflexive Positionierung der Filmemacher_innen, sowohl durch die Form ihrer Filme wie auch durch die Repräsentation neuer politischer Subjektivitäten (Naficy 2001; Vohra 2011; Lebow 2013; Gómez 2014; Schneider 2015b; Deprez und Pernin 2015). In einem Gespräch mit Paromita Vohra über Dokumentarfilmpraktiken in Indien argumentiert Arvind Rajagopal, der Dokumentarfilm sei als eine »globale Form« zu begreifen, die nicht im Kontext nationaler Geschichtsschreibung diskutiert werden kann (Rajagopal und Vohra 2012, 15). Bis zum Aufkommen einer ersten Welle des politisch engagierten, unabhängigen Dokumentarfilms in den 1970er Jahren waren Dokumentarfilme in Indien vor allem Teil eines staatlich geförderten nation-building unter der Films Division of India (FD), einer Abteilung des Ministry of Information and Broadcasting. Die Form und die Stimme dieser Filme waren – wie in vielen anderen gerade unabhängig gewordenen postkolonialen Nationen (siehe dazu z.B. Berry et al. 2010) – in erster Linie staatspädagogisch und inhaltlich auf Modernisierung und Entwicklung ausgerichtet (Roy 2007). Diese Ausrichtung auf public service war vor allem durch John Grierson12 inspiriert, der unter der Schirmherrschaft des britischen Empire Marketing Board in den 1930er Jahren die berühmte Formel prägte: »the creative treatment of actuality« (Grierson 1966, 147). Brian Winston (2008) zeigt auf, wie sich unter dieser Formel oft eine paternalistische Didaktik mit poetischen Bildern verband, in der die Ausrichtung auf »soziale Verbesserungen« von einem elitären Gestus begleitet wurde. Bis in die 1990er Jahre kamen Publika in Indien mit dem Dokumentarfilm fast ausschließlich durch die vom Staat vorgeschriebenen Vorführungen der FDProdukte vor dem Kinohauptfilm in Berührung. Die »Langeweile« dieser staatspädagogischen Form und ihr starker Kontrast zum Hindi-Film hatten über mehrere Generationen großen Einfluss auf die Vorstellung vom dokumentarfilmischen Genre in Indien (Vohra 2011). Unter Indira Gandhis knapp zweijähriger autoritärer Ausnahmezustandsregierung – von Juni 1975 bis März 1977 – entstanden die ersten unabhängigen, politisch-aktivistischen Filmpraktiken, die heu-

12 Im Jahr 1971 wurde Grierson von Premierministerin Indira Gandhi nach Indien eingeladen, um sie zu beraten, wie der Dokumentarfilm bei der Kontrolle von Bevölkerungswachstum didaktisch hilfreich sein könnte (Kishore 2013). Einen größeren direkten Einfluss hatte jedoch James Beveridge, Griersons Mitgründer der National Film Commission in Canada (später National Film Board). Beveridge lebte viele Jahre in Indien und produzierte Filme für die Burmah Shell Corporation in Bombay. Dabei hatte er engen Kontakt mit der Films Division (Schneider 2013, 95, FN 7).

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te vor allem mit den Namen Anand Patwardhan, Tapan Bose und Suhasini Mulay verbunden sind. Gandhis Regierung war von massiver Zensur und Verhaftung oppositioneller Politiker_innen begleitet. Der Dokumentarfilmproduktion der Films Division kam die Rolle einer public relations-Institution zu – mit der Anweisung, Gandhis Regime zu glorifizieren (Gupta 1998). In den 1980er Jahren förderte die Proliferation günstiger Videotechnologien die Praxis eines unabhängigen Dokumentarfilms. Es wurden Filmkollektive gegründet und neue Räume für die Projektion von Filmen und für filmbezogene Gespräche erschlossen (Jayasankar und Monteiro 2016). Ebenfalls wurden neue Möglichkeiten der Verbreitung politischer Inhalte durch Videokopien realisiert (Battaglia 2013). Durch diese Voraussetzungen konnten Filme immer öfter vorbei an der staatlichen Zensur in Filmclubs, auf dem Universitätscampus oder in semi-öffentlichen Versammlungen zirkulieren und rezipiert werden (ebd.). Hinsichtlich der Form blieben die aktivistischen Dokumentarfilme weitestgehend einer realistischen agitprop verbunden (Vohra 2011), die im Vergleich zur griersonischen Form der FD für viele junge Filmemacher_innen einen prägenden Einfluss hatte (Waugh 1991). Frühere akademische Arbeiten zum indischen Dokumentarfilm ordneten ihn als lokale Variante des Dritten Kinos einer politisch engagierten »committed documentary« zu (Waugh 1991; Gupta 1998). Die Filmemacherin Paromita Vohra kritisiert, dass die griersonsche und die unabhängige aktivistische Form in Indien oft einen pädagogischen Realismus gemein haben, der sie als »politisch« ausweist (Rajagopal und Vohra 2012, 8). Der finanziell günstige Zugang und die neuen technischen Möglichkeiten des digitalen Films (bspw. nicht-lineare Schnittsoftware) sowie neue FundingInstitutionen wie der Public Service Broadcasting Trust (PSBT) führten nach der wirtschaftlichen Liberalisierung zwar nicht zu einer besseren Existenzsicherung professioneller Filmemacher_innen (Wolf 2002), jedoch zu einer Verbreitung experimenteller Filmpraktiken in einem zunehmend dynamischen und global vernetzten Feld (Schneider 2015b, 185). Diese formal-ästhetischen Entwicklungen überschneiden sich mit globalen Tendenzen eines »post-griersonschen« (Winston 2013) Dokumentarfilmschaffens, das nicht nur eine postmoderne Tendenz des Verschwimmens der Grenzen zwischen fiktionalem Film- und Dokumentarfilm weiterführt (Nichols 1994). Zudem werden zunehmend die zugrundeliegenden Genre-Dichotomien über ein alternatives Kommunikationsmodell hinterfragt. Unter den vielen Akteuren des Felds werden Filme immer öfter als aktiver Prozess der Herstellung von »Konnektivitäten« (Winston 2013) zwischen Filmschaffenden, Medium und Zuschauer_innen verstanden. In diesem Prozess obliegt es den Filmemacher_innen, die Form und Wirkung ihrer Filme situativ und kontextspezifisch zu begreifen (ebd.). Dies führt, so Winston, oft zu experi-

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mentelleren Filmpraktiken, deren Ästhetik sich an keinem normativen Schema mehr messen lässt. Dennoch wäre es meines Erachtens problematisch, den »nüchternen Diskurs« (Nichols 1991, 3-4) der griersonschen und direct-cinema-Dokumentartraditionen als im Rückzug zu betrachten. Selbst wenn in den Dokumentarfilmwissenschaften die Epistemologie des indexikalischen Realismus13 – also einem Realismus, der ausschließlich aus der mechanischen Aufzeichnung des Filmbildes abgeleitet wird – als überwunden gilt (Corner 2008), muss doch betont werden, dass weltweit immer noch sehr viele Dokumentarfilme hinsichtlich ihrer Form die griersonschen oder direct-cinema-Dokumentarfilme beerben. Bis auf wenige Ausnahmen zeichnen sich die oben erwähnten Studien zum Dokumentarfilm durch einen Fokus entweder auf die Funktionspotentiale und Repräsentationen des Films oder auf die Strategien der Schaffung neuer Öffentlichkeit(en) aus. Soziologische Momente und solche der Repräsentation, der Performanz und poetischen Präsentationsstruktur der Filme werden zwar nicht völlig getrennt voneinander betrachtet, allerdings auch nur selten konzeptuell eng verknüpft. Im nächsten Kapitel werde ich zeigen, wie mit einer »Mobilitätslinse« (Schneider 2015a; Schneider 2015b) diese Momente unter einer stärkeren Berücksichtigung mediensoziologischer Koordinaten zusammengedacht werden können. Obgleich sich das Feld des unabhängigen Dokumentarfilms zunehmend global vernetzt (Sen und Thakker 2011, 32), finden sich in den Arbeiten zum unabhängigen Dokumentarfilm doch immer wieder Formen eines methodologischen Nationalismus, wenn zum Beispiel Dokumentarfilme »aus Indien« oder »aus China« besprochen werden, ohne dass die räumlichen Bezüge der Referenten dabei konzeptuell klar bestimmt werden. Dies gilt sogar teilweise für ein explizit transnational ausgerichtetes Vorhaben, wie Camille Deprez’ (2015) Arbeit über den »indischen unabhängigen Dokumentarfilm«. Gleichzeitig wurde in der transnationalen Filmwissenschaft eine Debatte über die Rolle der Nation in gegenwärtigen Filmpraktiken geführt, die auf eine kritische Einschätzung nationaler, regionaler und transnationaler Momente in gegenwärtigen Filmpraktiken abzielt und im Folgenden dargestellt werden soll.

13 In der Zeichentheorie von Charles Sanders Pierce steht der »Index« für ein Zeichen, das eine kausale Verbindung zu seinem Referenten unterhält, vergleichbar mit der Verbindung von Rauch zum Feuer. Das Filmbild ist demnach indexikalisch, weil es kausal Licht durch einen bestimmten analogen oder digitalen Prozess in ein Bild umwandelt.

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K RITISCHER T RANSNATIONALISMUS Einige Wissenschaftler_innen haben darauf hingewiesen, dass ohne eine Klärung des »Transnationalen« der viel verwendete Begriff seine analytische Kraft einbüße (Berry et al. 2010; Higbee 2007; Higbee und Lim 2010; Hjort 2010): »[...] [W]hile the term »transnational cinema« appears to be used and applied with increasing frequency as both a descriptive and conceptual marker, it also tends, for the most part, to be taken as a given – as shorthand for an international or supranational mode of film production whose impact and reach lies beyond the bounds of the national. The danger here is that the national simply becomes displaced or negated in such analysis, as if it ceases to exist, when in fact the national continues to exert the force of its presence even within transnational film-making practices. [...] [O]ne of the potential weaknesses of the conceptual term »transnational cinema« [...] [is that] it risks celebrating the supranational flow or transnational exchange of peoples, images and cultures at the expense of the specific cultural, historical or ideological context in which these exchanges take place« (Higbee und Lim 2010, 10–12).

Higbee und Lim (2010) führen den Begriff des »kritischen Transnationalismus« ein, um jeweils kontextspezifische,14 skalierbare Machtkonstellationen in der filmischen Praxis in den Blick zu bekommen (ebd. 10). Sie konstatieren, dass im Kontext von Analysen zu Film und kultureller Identität transnationale Ansätze vorwiegend von postkolonialen und globalisierungssoziologischen Theorien beeinflusst waren und ihren Fokus oft auf postkoloniale Filmemacher_innen »im Westen« richteten (ebd. 9). Zum Beispiel versucht Naficys Begriff eines »independent transnational filmmaking« Autorenschaft mit Überlegungen zum Genre und einem thematischen Bezug auf die Kategorien »Erinnerung« (memory), »Begehren« (desire), »Sehnsucht« (longing), »Verlust« und »Nostalgie« zusammenzubringen, die auf fließende Identitäten hindeuten und nationale Hegemonien hinterfragen (Naficy 1996, 121; vgl. Higbee und Lim 2010, 9). Higbee und Lim sehen ein Problem dieses Ansatzes in seiner Lokalisierung an den Rändern dominanter Filmpraktiken, »making it almost impossible to evaluate the impact such films might have on mainstream or popular cinema within either a national or transnational context« (ebd. 10).

14 Um ein kurzes Beispiel einer solchen Kontextualisierung zu geben: Friedman (2015) zeigt auf, wie die zumeist europäische Förderung unabhängiger Filmemacher_innen aus Israel und Palästina mit normativen ästhetischen Modellen und inhaltlichen Aspekten einhergeht.

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Nun ist es ebenso schwer, den »Einfluss« eines Films zu messen wie die Dichotomie mainstream-alternativ pauschal aufzuheben, da sie in einem epistemologischen Engpass als diskursives und ökonomisches Identifikationsmoment in der Selbst- und Fremdzuschreibung unabhängiger Filmpraktiken dient, gleichzeitig aber Potentiale von Öffentlichkeit untergräbt, indem sie die Ästhetik des Populären und die Rezeptionskompetenzen des Publikums pauschal in Frage stellt (Hansen 1983, 37). Sehr brauchbar – und mit Smets’ Konzept des Konfliktkinos gut zu verknüpfen – ist Higbees und Lims Vorschlag, sich dem Transnationalen und dem Nationalen in spezifischen Analysen zu nähern und dadurch die skalierbaren Machtdynamiken und Hegemonien zwischen dem Lokalen, Nationalen und Transnationalen in den Fokus zu rücken.

F AZIT Die Vorzüge des von Kevin Smets (2015) vorgeschlagenen Rahmens des Cinema of Conflict liegt in der Verbindung sozialpolitischer Studien zu Konflikten mit einem Kommunikationsmodell der Cultural Studies, das es ermöglicht, die Filme und Akteure innerhalb einer Analyse des medialen Kommunikationsprozesses hinsichtlich ihrer Position zu den Konflikten zu befragen.15 Wie ich oben darstellte, geben sowohl Smets als auch Morag Typisierungen des Konfliktkinos vor. Während Morag sie aus einem von ihr untersuchten Korpus von israelischen und palästinensischen Dokumentarfilmen ableitet, erweitert Smets die Typologien Galtungs und wendet sie auf kurdische Filme an. Beide Ansätze beziehen sich also in erster Linie auf eine Korpusanalyse. Sie sind von hoher Relevanz, um die gegenwärtigen Filmpraktiken, Erzählungen, ästhetischen Formen und Subjektivitäten in geopolitischen Konfliktzonen zu erörtern und transnational zu vergleichen.

15 Obgleich ich Smets zustimme, dass eine Besprechung von Filmen über geopolitische Konflikte nicht ausschließlich durch die Linse eines Exil- und Diasporakino geschehen sollte, ist sein Vorwurf, dass Naficy in erster Linie textuelle Analysen durchführe, nicht nachvollziehbar. Naficy bietet eher ein integriertes Programm, textuelle Analysen eines akzentuierten Genres und der Repräsentationen von Tropen wie Heimat, Zuhause und Exil über Konzepte wie »interstitial mode of production« eng an die Produktions-, Zirkulations- und Rezeptionsbedingungen zu knüpfen. Gleichzeitig behält Naficy dabei experimentelle Formen und ästhetische Öffnungen einer unabhängigen filmischen Praxis mit einem stark akteursbezogenen Fokus im Blick.

F ILME UND K ONFLIKTREGIONEN

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Smets scheint allerdings nur auf die Pluralität von Konfliktnarrationen einzugehen, ohne explizit deren Kontextualisierung in »dominanten Repräsentationsregimen« (Hall 2000, 706) vorzunehmen. Dies hängt vielleicht mit dem Versuch zusammen, die Politik der Repräsentation zugunsten einer stärkeren Kontextualisierung des Konflikts in den soziologischen Konfliktstudien zu verorten. Dieser Ansatz könnte die postulierte Schnittstelle zu den machtkritischen Ansätzen der Cultural Studies16 unberücksichtigt lassen und nur auf eine Form des medialen Vermittlungsprozesses hinweisen, der durch bestimmte Erzählschemata zu Stande kommt. Die Konfliktdefinition von Bar-Tal evoziert durch ihren Verweis auf solche Schemata eine Parität von Konflikterinnerungen in einer »Kultur der Gewalt« (Bar-Tal 2003, 90). Eine derartige Konzeption gilt es zu vermeiden, wenn man die spezifische Machtkonstellation eines Konflikts und seine politische Dimension in den Blick bekommen möchte. Dazu gehört auch die Frage, wessen Gewalt sichtbar wird und wessen Gewalt unsichtbar bleibt, was von den Akteuren jeweils unter Gewalt begriffen wird und wie die Form von Filmen diese Gewalt hinterfragen kann. Es ist daher in einer Studie von Konfliktregionen im Film zu ergänzen, dass sich eine Perspektive auf unabhängige Filmemacher_innen als Konfliktakteure nicht in Bezug auf deren bereits etablierten Konfliktnarrationen erschöpft, sondern auch einen Blick für ihre öffnenden Potentiale durch die innovative Verwendung der filmischen Form erfordert. Es liegen bislang nur wenige Untersuchungen von unabhängigen Dokumentarfilmpraktiken vor, die sich mit dem Verhältnis einer Konfliktregion zum postkolonialen Nationalstaat beschäftigen. In der Regel stehen sozialpolitische Konflikte im Zentrum der Aufmerksamkeit der oben genannten Arbeiten zum unabhängigen Dokumentarfilm, während bestimmte, bereits diskursiv konstituierte, wenn auch intern umstrittene Gruppen wie Palästinenser_innen oder Kurd_innen im Zentrum von Analysen eines Exil- und Diaspora-Filmschaffens stehen. Dies ist kein hilfreicher Zugang zur Analyse von den Praktiken, die in dieser Arbeit besprochen werden. Dies gilt hinsichtlich ihrer Produktions- und Zirkulationsstrategien, der diskursiven Verortung eines vermeintlichen »kaschmirischen Films« und der durch die Filmemacher_innen mitgestalteten translokalen Öffentlichkeiten.17

16 Unter anderem die Arbeiten von Stuart Hall oder Raymond Williams. 17 Auch für andere Filmbewegungen (bspw. der filmischen Praxis von Meghnat und Biju Toppo, wie sie Mukherjee [2012] durch eine Mobilitätslinse beschreibt) gilt, dass es sich hier um Öffentlichkeiten handelt, die translokal und nicht auf eine nationale Öffentlichkeit ausgerichtet sind.

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Die vier Filmemacher_innen, mit denen ich mich während der Forschung am stärksten beschäftigte, leben alle außerhalb des Kaschmirtals: In Neu-Delhi, Mumbai und den Vereinigten Staaten. Ihre Arbeiten zu Kaschmir sind nur Teil einer weiteren Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Projekten in Südasien und darüber hinaus. Um konzeptuellen und methodologischen Fragen hinsichtlich ihrer Position zum Konflikt zu begegnen, greife ich auf den Begriff des »kritischen Transnationalismus« zurück (Higbee und Lim 2010). Insbesondere verstehe ich die Praxis der von mir begleiteten Filmemacher_innen im Kontext des Verhältnisses der Konfliktregion zum postkolonialen Nationalstaat. Es soll daher ihre jeweils spezifische Auseinandersetzung sowohl mit den Konfliktparteien als auch mit Kaschmirs umkämpfter Vergangenheit und seiner von vielen Bewohner_innen als neokolonial empfundenen Gegenwart18 angesprochen werden. Die Kritik richtet sich oft auf die nationalistisch legitimierte Normalisierung des Konflikts durch das »Auge der Repräsentation« (Hall 2004, 163–164); hinterfragt werden die dominanten Sichtweisen auf das Tal, indem dieses Filmschaffen den Blick gleichzeitig auf (trans-)nationale Tropen (z.B. global war on terror und unity in diversity) und auf den Alltag der Besatzung oder des Exils richtet. Ich setzte mich also mit dem unabhängigen Dokumentarfilmschaffen über den Kaschmirkonflikt weder korpusanalytisch noch vorwiegend thematisch auseinander, sondern beziehe mich auf filmische Praktiken, die ein Zeugnis (oft des Alltags) einer militärisch besetzten Region zu ihrer »symbolischen Zentralität« (Gaur 2010) für den indischen Nationalismus reflektieren. Hier ergeben sich intensive Auseinandersetzungen zwischen Unabhängigkeit und Regulation in der Medialisierung räumlicher und zeitlicher Erfahrungen. Im Gegensatz zu den meisten Studien zu Film und Konflikt argumentiere ich, dass das unabhängige Dokumentarfilmschaffen über die Konfliktregion Kaschmir nicht mithilfe der Kategorien eines »Exil- und Diasporakinos« (Horat 2010 zum kurdischen Film), eines »nationalen Kinos ohne Nation« (Dabashi 2006 zu Palästina), einer »strukturellen Transnationalität« (Morag 2013 zum palästinensischen Filmschaffen im Verweis auf Naficy) oder eines »nationalen Kinos im transnationalen Raum« (Koçer 2014 zum kurdischen Film) zu fassen ist. Für solche Definitionsversuche müsste es wie im Fall Kurdistans oder Palästinas Akteure geben, die einen »kaschmirischen Film« in irgendeiner diskursiven Form als nationales Kino sedimentiert hätten, z.B. durch (trans-)nationale Produktionsnetzwerke oder Filmfestivals (siehe auch Koçer 2014). Eine öffentliche Debatte hinsichtlich der Art oder der Existenz eines kaschmirischen – unabhängigen oder kommerziellen –

18 Siehe hierzu Kaul (2015), Shah (2013) und Kak (2010).

F ILME UND K ONFLIKTREGIONEN

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Films gibt es nicht, trotz punktueller journalistischer oder werbetechnischer Verkündungen eines »Kaschmirischen Films«.19 Zum Abschluss dieses Fazits möchte ich noch einen kurzen Ausblick auf das nächste Kapitel geben, in dem das Cinema of Conflict um eine Reihe von konzeptuellen Anknüpfungspunkten erweitert wird. Darunter sind zunächst rezente Arbeiten zum unabhängigen Dokumentarfilm zu nennen, in denen neben Fragen zu Konflikterzählungen auch der »kreativen Bildschaffung« (Corner 2008, 22) ein zentraler Platz in der Analyse eingeräumt wird. Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die ästhetische Dimension der Filmform von den Filmemacher_innen selbst als zentraler Aspekt ihrer Praxis begriffen wird, auch wenn sie in den eher thematisch-inhaltlich geführten öffentlichen Diskussionen über Dokumentarfilme (insbesondere in Hinblick auf die Dringlichkeit des Konfliktthemas) oft nicht direkt aufgegriffen wird. Schließlich geht es vielen unabhängigen Dokumentarfilmemacher_innen darum, durch ihre oft lang dauernde Forschung (Berry et al. 2010) und mithilfe einer durchdachten ästhetischen Präsentationsform, das »intractable« (Bar-Tal 2003) von Konflikten durch die Proliferation neuer Perspektiven auf diese als lösbar zu entwickeln. Ich folge also dem Pro-

19 Seit einigen Jahren produziert das lokale Staatsfernsehen eine Reihe von Fernsehserien auf Kashmiri, der Sprache des Kaschmirtals. Daneben gibt es einen florierenden Schwarzmarkt mit gebrannten DVDs, wovon der größte Teil Hindi-Filme sind. Die an den Schwarzmarktständen angebotenen Videos auf Kashmiri sind oft Sammlungen von Comedy Clips, teilweise mit politischen Inhalten, in denen das Besatzungsregime satirisch behandelt wird. Filmemacher_innen innerhalb des Kaschmirtals leiden zumeist unter fehlender Unterstützung durch private Netzwerke und sind daher fast ausschließlich auf Gelder des staatlichen Fernsehens Doordarshan angewiesen. Seit den 1990er Jahren sind die Kinos Srinagars geschlossen und wurden teilweise in Militärbunker umfunktioniert. Arshid Mustaq, dessen Film »Akh Daleel Lolich« (2006), der erste Kashmiri-Film nach »Shayar-e-Kashmir Mahjoor« (1972) war, lebt im Kaschmirtal und sagte mir in einer Unterhaltung (20.04.14, Srinagar), dass er von kinophobischen Fundamentalisten und extremer staatlicher Regulierung eingeengt werde. Er versuche, nun über die Finanzierung durch regelmäßige Doordarshan-Projekten seine ‚unabhängige’ Filmarbeit gemeinsam mit einer lokalen Theatergruppe fortzuführen. Seither sind drei weitere Filme in Kashmiri erschienen, von denen zwei, »Zero Bridge« (2010) und »The Valley of Saints« (2012), dem realistischen World CinemaGenre zugeordnet werden können und vor allem von amerikanischen Institutionen finanziert wurden. Eine frühere filmische Exploration in Kashmiri wie »Mainzraat« (1964) etablierte ebenfalls keine »kaschmirische Filmindustrie« (siehe auch Gaur 2010, 139–140).

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gramm von Matar und Harb, Konflikterzählungen aus einer Perspektive von unten anzugehen und mich vor allem mit solchen Filmemacher_innen zu beschäftigen, deren Arbeit sich durch eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit dem Kaschmirkonflikt als auch der Form des Dokumentarfilms auszeichnet. Die begleiteten Filmemacher_innen sind daher auch nicht nach ethnischen, nationalen, religiösen oder anderen identitären Kriterien ausgewählt. Ein Verständnis der Intensität ihres Involviert-seins gewann ich erst während der knapp einjährigen Feldforschung. Die Innovationskraft ihrer Filmpraxis soll im nächsten Kapitel durch die – während der Forschung generierte – Mobilitätslinse konzeptuell reflektiert und im weiteren Verlauf des Buches argumentativ begründet werden. Dabei wird diesen von mir untersuchten unabhängigen Filmpraktiken kein epistemologisches, kritisches Privileg a priori beigemessen. Jedoch wird im Sinne von Shohat und Stam (1994) einigen reflexiven Stimmen in der Politik der Repräsentation durch eine dialogische, diskursive Kontextualisierung ein (argumentativ begründbarer) epistemologischer Vorrang gewährt.

Mobilität und Konversation

Ich habe in der Besprechung des Forschungsstands ausgeführt, dass bisherige Untersuchungen des Films über Konfliktregionen vorwiegend typologisch und auf die Politik der Repräsentation ausgerichtet sind und dafür plädiert, den Zugang um eine ästhetische Dimension zu erweitern. Eine ästhetische Betrachtungsweise setzt sich neben den verschiedenen, bereits bestehenden Konflikterzählungen auch damit auseinander, wie über die Verwendung der Filmform imaginative Öffnungen geschaffen werden können. Daneben beschäftigt sich ein ästhetischer Zugang mit der multisensorischen und emotionalen Qualität von Filmen, d.h., mit der Art und Weise, wie Filme uns bewegen, wie die Form durch die Sinne erfahren wird1 und wie sie sinnliche Erfahrungen bspw. vom Konfliktalltag öffentlich vermitteln. Die Fragestellung der Arbeit, wie sie im letzten Kapitel dargelegt wurde, bezieht sich auf die Artikulationen von Subjektivitäten in unabhängigen, digitalen Dokumentarfilmpraktiken. Eine solche Sichtweise legt eine intensive Auseinandersetzung mit den Praktiken einzelner Filmemacher_innen nahe, für die sich ein Methodenmix von »Konversationen« und einer, die Praxis begleitenden, »mobilen Methode« anbietet. Da diese Begriffe in interdisziplinäre Debatten eingebunden sind, werde ich sie im Folgenden differenzieren und in Hinblick auf meine knapp einjährige Feldforschungszeit in Indien und Kaschmir reflektieren. Dafür sollen in diesem Kapitel die Begriffe verfeinert und erweitert werden, auf die ich bereits in der Einführung zu sprechen kam.

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Konflikterfahrungen regionaler, nationaler oder souveränitätsbezogener Art sind bereits medialisierte Erfahrungen, die uns heute oft über visuelle Kultur vermittelt werden (Weber 2008). Der Erfahrungsbegriff innerhalb der Anthropologie, Soziologie und den Filmwissenschaften hat eine lange, umstrittene Geschichte, die vor allem von den phänomenologischen Sub-Disziplinen soziologische, anthropologische und FilmPhänomenologie beeinflusst ist (siehe Throop 2003; Köhn 2016).

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In meiner Einführung habe ich Konzepte aus verschiedenen historischen Begriffskonfigurationen zusammengebracht. Ästhetik, Performanz, Repräsentation, Emotion und Zeugenschaft wurden über den Mobilitätsbegriff auf die Film vermittelnde Praxis der Filmemacher_innen bezogen. Wie schon in der Einführung zu sehen war, gibt es sehr unterschiedliche theoretische und methodische Zugänge zu Forschungen, die sich mit Filmen und Konfliktregionen beschäftigten. Dabei unterscheiden sich zum Beispiel (trans-)textuelle Verfahren, die keine starke Ausrichtung auf die »Autorinstanz« haben (Shohat 2010) von solchen, die filmische Texturen mit dem Leben von Autor_innen stark verknüpfen (Naficy 2001). Es gibt affekttheoretische Überlegungen, die sich aus posthumanistischen Theorien (Deleuze und Guattari 1972) speisen, diese aber phänomenologisch, mit einem Fokus auf das menschliche Subjekt, umdeuten (Marks 2000). Es finden sich auch Ansätze, die phänomenologisch ausgerichtet sind, aber die Frage der Filmerfahrung gleichzeitig auf semiotische und kommunikative Prozesse beziehen (Sobchack 1998). Was diese Arbeiten jeweils als innovativ auszeichnet, ist, dass sie bestimmte Begriffe zwischen verschiedenen Theorien und Disziplinen übertragen haben und so neue Erkenntnisse ermöglichten. Was soll die Einführung eines neuen Begriffes wie »Mobilität« im Falle meiner Forschung also leisten? Wenig umstritten in den Sozial- und Kulturwissenschaften ist, dass Begriffe in einer empirisch angelegten Forschung Prozesse in den Griff bekommen müssen, so dass wir in Bezug auf sie handlungsfähiger werden. Ein wissenschaftlicher Begriff, sei es »Mobilität«, »Text« oder »Diskurs«, ist immer eine Metapher (Lakoff und Johnson 2011). Dies bedeutet jedoch nicht, dass er in einer assoziierten Analogie Dinge verknüpft, die sich nur in den Weiten unserer Vorstellungskraft etwas teilen. Um nicht ohne Halt über die untersuchten Phänomene zu rutschen, müssen die Begriffe mit den Phänomenen gemeinsame Konturen bilden und so Griff herstellen. Sie sind nicht einfach da, sondern generieren dabei das Phänomen selbst. Das heißt, dass sie mit den erforschten diskursiv-materiellen Phänomenen Beziehungen eingehen und erst so ihre Verortung erhalten (Barad 2012)2. Diese im Forschungsprozess hergestellte Verortung kann man sich wie in einer ökonomisch-technisch-kulturell-kommunikativen Landschaft vorstellen, die sich erst in der Auseinandersetzung mit dem erforschten Phänomen aus verschiedenen Momenten zusammensetzt. Sie kann, je nach untersuchten Phänomen, aus sozialen Netzwerken, technischen Geräten, staatlichen Institutionen, Medienunternehmen, Rechtsvorschriften, Atmosphären, urbanen Veranstal-

2

Ich halte Karen Barads (2012) Ansatz dafür geeignet, ein interdisziplinäres Begriffsfeld aufzubauen, dessen kritische Terminologie anhand des untersuchten Phänomens entwickelt wird und gleichzeitig als dessen Teil verstanden werden muss.

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tungsorten, visuellen Repräsentationen, sprachlichen Diskursen und Vielem mehr bestehen. Sowohl unsere wissenschaftlichen als auch unsere alltäglich verwendeten Begriffe befinden sich ebenfalls in solchen diskursiv-materiellen Prozessen und Orten. In anderen Worten: sie verweisen auf die disziplinären Kontexte, in oder zwischen denen wir schreiben, welche politischen und moralischen Ansichten wir vertreten, in welchen medialen Umgebungen wir eingebettet und mit wem (oder was) wir assoziiert oder befreundet sind. Die Begriffe sollten dabei mit der empirischen Evidenz der erforschten Phänomene eine argumentativ nachweisbare Verbindung eingehen. Wissenschaftliche Termini wurden historisch an unterschiedlichen Gegenständen ausdifferenziert, in verschiedenen Feldern und Disziplinen verortet und in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander geschichtlich verwoben. Wie schon gesagt, ist ein Merkmal der interdisziplinären Forschung, dass Begriffe neue Beziehungen eingehen. Dabei wird notgedrungen ihre innerhalb der einzelnen Disziplinen hergestellte Kohärenz strapaziert, während ihre neue Beziehung den Motor der begrifflichen Innovation darstellt (Keucheyan 2014, 62). In der Folge dieses Kapitels werde ich das konzeptuelle Gerüst dieser Arbeit vorstellen. Um noch einmal zu wiederholen: Ich argumentiere hier für eine Perspektive auf Filmemacher_innen als Medienakteure, um zu sehen, wie sie durch die kommunikative Form ihrer Filme Subjektivitäten artikulieren. Dabei spielen die alltäglichen Praktiken der Filmemacher_innen weniger eine Rolle (bspw. Filmschnitt, Mittelbeschaffung und Treatments ausarbeiten) als spezifische Momente der filmischen Kommunikation und politischen Organisation (Festivals, Konferenzen), an denen ich während dieser Zeit teilnahm oder die ich beobachtete. Diese Fokussierung führte mich zu Überlegungen über mobile Methoden, die in der Lage sind, je nach Fragestellung und theoretischer Rahmung, bestimmte flüchtige ästhetische Momente der filmischen Kommunikation zu erfassen. Mobilität ist in diesem Buch also ein metaphorisch aufgefalteter, interdisziplinärer Überbegriff, der verschiedene Beziehungen zwischen anderen bereits in der Einführung erwähnten Begriffen herstellen soll (Repräsentation, Emotion, Ästhetik, Form, Zeugenschaft), um Phänomene sichtbar zu machen, die in der bisherigen Forschung ausgeblendet wurden. Über den Bezug auf Nadja-Christina Schneiders Mobilitätslinse für eine transregionale Medienforschung (2015a) stelle ich also eine Schnittstelle zwischen filmphänomenologischen und ästhetischen Fragestellungen, zum Interesse der transnationalen Filmwissenschaft an der Politik der Repräsentation, her. Diese Linse bietet sich insbesondere an, um die Filme gegenüber gegenwärtigen asymmetrischen Machtkonstellationen im Kaschmirtal zu positionieren, die oft wesentlich mit touristischer oder terroristischer Mobilität, mit der alltäglichen

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Immobilität eines militarisierten Territoriums und schließlich mit der Politik der Repräsentation eines vom Verhältnis des Zentrums zur Region überdeterminierten nationalistischen Diskurses zusammenhängen. Die Positionierung meines Buches als kritische Auseinandersetzung mit den Cinemas of Conflict und mit der transnationalen Filmwissenschaft bedingt dabei den Versuch, die Konflikterzählungen – und die Filmemacher_innen als Konfliktakteure – mit Blick auf die ästhetischen Potentiale der Filmform in den Fokus zu nehmen, im Kontext der Schnittstelle verschiedener Formen der (Im-)Mobilität. Welche Schnittstelle in der Praxis und der Filmform der einzelnen Filmemacher_innen mit welchem Aspekt der Mobilität angesprochen wird, kann erst durch Detailbesprechungen ihrer Praxis und durch Analysen einzelner Filmsequenzen und Bilder bestimmt werden.

Unterwegs mit den Akteuren Schwierigkeiten und Konflikte im Forschungsablauf und im Feld werden oft aus den fertigen akademischen Texten herausgefiltert. Die Letzteren evozieren so ein manchmal idealisiertes, vielleicht sogar heroisches Bild der Forschung (Lecocq 2002). Einige problematische Felderfahrungen sollten daher angesprochen werden, wenn sie dabei helfen können, die Methoden und die eigene Position im Feld zu reflektieren. Ähnlich wie es auch für andere Konfliktregionen gilt, erhalten Forschungen über das Kaschmirtal sofort eine politische Dimension und werden von Konfliktbeteiligten aufgrund einer schnell postulierten Voreingenommenheit (bias) disqualifiziert. Gleichzeitig ist das transnationale Feld der unabhängigen Dokumentarfilmpraxis auch in Indien (Waugh 2011; Wolf 2007) stark politisiert und von persönlichen Konflikten durchzogen. Dies macht eine Beschreibung des Zugangs zum Feld besonders wichtig, da diese nicht nur Aufschluss über methodologische Überlegungen gibt, sondern auch Rechenschaft gegenüber der politischen Situierung des Wissens leistet (Haraway 1988). Donna Haraway folgend unterscheidet Christine Ward Gailey (2014) hilfreich zwischen »bias« und »situating oneself« (Ward Gailey 2014, 152–153). Während »bias« auf eine implizite Voreingenommenheit verweist, ermöglicht eine selbstreflexive Positionierung der Leserin und dem Leser, die Forschung vor einem weiteren Horizont von Argumenten einzuschätzen (ebd.). Der folgende Exkurs basiert auf meinen Forschungstagebüchern und soll einige Probleme der Beziehungsgeflechte mit einer relativ kleinen Gruppe von professionellen Filmemacher_innen, Intellektuellen und ihren Netzwerken ver-

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deutlichen, sowie die Genese meiner methodologischen Überlegungen hinsichtlich der Methoden »Konversation« und »Mobilitätslinse« erläutern.

E XKURS

ZUR

F ELDFORSCHUNG

Eine der engsten Beziehungen während der Feldforschung unterhielt ich zu Abir Bazaz, den ich ursprünglich bei der Produktion eines Dokumentarfilms über den existenzialistischen kaschmirischen Dichter Rahman Rahi begleiten wollte. Abir hatte von vornherein mir gegenüber ein distanziertes Verhältnis abgelehnt. Bei unserer ersten langen Unterhaltung bot er mir an, als Freund meine Forschung kritisch zu begleiten, als Informant eigne er sich hingegen nicht. Da er finanziell gerade schlecht aufgestellt war und sein amerikanisches Stipendium auslief, plante er, sich mit dem Film über Rahi finanziell die Fortsetzung seiner Promotionsforschung in Delhi zu ermöglichen. Er hatte schon mehrere Projekte durch den Public Service Broadcasting Trust (PSBT) finanziert bekommen, die sich alle mit spirituellen Themen befassten. Seine Filme bekamen von einigen Seiten – insbesondere von dem an spirituellen Themen interessierten PSBT-Direktor Rajiv Mehrotra – positives Feedback und machten ihm Hoffnung, wieder berücksichtigt zu werden. Dieses Mal zog sich allerdings die Antwort von PSBT sehr in die Länge. Als mich Abir einlud, bei ihm einzuziehen, wohnte ich schon seit einigen Wochen in einem kleinen Hotelzimmer in Paharganj, einem zum Teil heruntergekommenen Stadtteil mit vielen Hotels nahe dem Bahnhof Neu-Delhi. Mir gingen zwar etliche Einwände durch den Kopf – darunter war die Befürchtung, zu früh zu nah mit einem der Filmemacher assoziiert zu werden –, aber ich sagte schließlich zu. Aufgrund des auslaufenden Stipendiums konnte Abir seine Wohnung nicht mehr alleine bezahlen und ich suchte einen Ausweg aus der Enge und Hitze Paharganjs. Die ersten Wochen in Delhi verliefen für mich weitestgehend ereignislos im Warten auf Filmvorstellungen und Rückmeldungen von den Filmemacher_innen. Abirs Wohnung war nicht nur relativ kühl und großzügig, sie lag auch nahe an den Orten, die ich in Delhi für meine Forschung regelmäßig aufsuchte: Green Park, New Friends Colony und Jamia Nagar, JNU-Campus und Hauz Khas Village. Die schlauchartigen drei Zimmer seiner Wohnung kamen mir wie eine Mischung aus Bibliothek und Jugendherberge vor. Abir hatte einen Gutteil seines amerikanischen PhD-Stipendiums in Bücher über Kaschmir umgesetzt, die nun fast alle Wände der Wohnung ausfüllten. Zwischen den Regalen befand sich ein Matratzenlager für die regelmäßigen Besucher_innen aus dem Kaschmirtal. Ich konnte mir keinen idealeren Ausgangsort für meine Forschung

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vorstellen. Dazu hatte ich die Hoffnung, von Abir viel über die Themen Film und Kaschmir lernen zu können. In den Widmungen und Danksagungen anderer Forschungsarbeiten über Film und Kaschmir sowie in den von mir in die nähere Auswahl genommenen Dokumentarfilmen war mir sein Name schon vor unserer Bekanntschaft aufgefallen. Er schien eine Art graue Eminenz in diesem Feld zu sein. Ein Großteil der in dieser Arbeit besprochenen Dokumentarfilme wurde in den Rohfassungen in intensiver Konversation mit Abir produziert oder aber auf Filmvorstellungen gegen seine Stimme verteidigt. Seit Beginn oder Mitte der 2000er Jahre gehört er zu den bekannteren öffentlich wirkenden Intellektuellen des Kaschmirtals und ist durch seine zwei Filme für den PSBT und sein Studium am AJK Mass Communication Research Center der Jamia Millia Islamia3 auch mit der weiteren Spiel- und Dokumentarfilmszene in Indien vertraut. Darüber hinaus verbanden Abir und mich noch eine ganze Reihe politischer und fachlicher Interessen. Zu diesem frühen Zeitpunkt kannte ich allerdings die politischen und persönlichen Konfliktlinien noch nicht, die sich durch das Feld des unabhängigen Dokumentarfilms zogen und die sich mir erst sukzessive erschlossen haben. Ich nahm zunächst an, dass Abir in Indien und der dortigen Filmszene wegen seiner mehrjährigen Abwesenheit als Doktorand an der Universität von Minnesota eher wenig sichtbar sei. Abir hatte regelmäßig Besuch von kaschmirischen Intellektuellen. Die meisten von ihnen lebten in dem für Kashmiris offenen Stadtteil Neu-Delhis, Lajpat Nagar, und kamen oft abends zu Abir zu Besuch. Wir tranken Tee und diskutierten über Politik und Geschichte. Erfahrene Journalisten erklärten mir die Rolle der Jamaat-e-Islami4 in der Intifada-Generation (siehe Einführung), kaschmirische Nachbarn Abirs erzählten von ihrer Jugend im Tal und der Notwendigkeit, die Erinnerungen an den Konflikt und die Zeit davor wachzuhalten. Die Woh-

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Das A.J.K. Mass Communication Research Center wurde von dem ehemaligen Vizepräsident der Jamia Millia, Anwar Jamar Kidwai, 1982 etabliert und entwickelte sich in der Folge zu einem der angesehensten Orte des Studiums dokumentarfilmischer Formate in Indien. Fast alle der in dieser Arbeit vorgestellten Filmemacher_innen, die in Delhi leben, studierten dort oder unterhalten professionelle oder persönliche Verbindungen zu Menschen, die dort arbeiten. Da es an der Jamia Millia eine Quote für Muslime gibt, ist die Universität besonders für kaschmirische Student_innen attraktiv, um in Delhi im Medienbereich eine Karriere zu machen.

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Die Jamaat-e-Islami (wörtlich: Die Partei des Islam) ist eine kaschmirische politischreligiöse Organisation, die momentan eine Führungsrolle in einer der zwei großen Fraktionen der außerparlamentarischen separatistischen Bewegung des Kaschmirtals einnimmt.

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nung in Lajpat Nagar war also eine kleine kaschmirische Insel im Herzen NeuDelhis. Abir und seine Freunde stammten aus einer Generation vor der jetzigen, oft als »verloren« bezeichneten Jugend der Kashmiri-Intifada. Sie wuchsen vor dem Konflikt auf und waren, wie Abir sagte, »alt genug, um etwas zu verstehen, aber noch zu jung, um selbst einzugreifen«. Sie sprachen über die Veränderungen der kaschmirischen Gesellschaft nach dem bewaffneten Aufstand, die dominante Auffassung eines identitätspolitischen Nullsummenspiels aus Sicht internationaler Beziehungen und die zumeist als reduktionistisch eingeordnete Behauptung von der »Islamisierung des Tals«. Es war in den manchmal auch hitzigen Diskussionen über die Politik meiner Forschungsperspektive mit Abir, als mir klar wurde, wie sehr die Frage nach der Praxis hinsichtlich seiner eher hermeneutisch ausgerichteten Arbeit mit meiner konzeptuellen Rahmung der filmischen Analysen in Konflikt stand. Ich fand es schon schwer genug, eine Fragestellung und interdisziplinäre Rahmung meiner Forschung zu formulieren, aber die teils sehr unterschiedlichen filmpraktischen und wissenschaftlichen Zugänge von Abir, Iffat Fatima, Sanjay Kak, Uzma Falak, Rajesh Jala und Ajay Raina ließen auf meinem Aufnahmegerät eine Art unverbundenes Wörterbuch filmtheoretischer und soziologischer Begriffe entstehen. Ich musste ständig damit rechnen, hinsichtlich meiner erkenntnistheoretischen und ontologischen Zugänge auch konzeptuell befragt zu werden, meine Perspektive auf ihre Filme zu erklären und gelegentlich auch in Bezug auf Theorie zu verteidigen. Ich stellte mir zunehmend die Frage, wie ich eine eigene Stimme im Dialog mit Menschen finden könnte, deren praktisches und theoretisches Wissen über Kaschmir und Dokumentarfilme mein eigenes in vielen Belangen weit übersteigt. Hätten sie Zeit und Lust, könnten diese Filmemacher_innen selbst eine akademische Arbeit über ihre Praxis schreiben. Das aus den Gesprächen gewonnene Praxiswissen war für sie bereits in eine konzeptuelle Arbeit eingegliedert und musste nicht erst – um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen – in ein akademisches Register übersetzt werden. Vielmehr entsteht die filmische Form in einer Situation, in der die bzw. der Filmemacher_in als Forscher_in bereits implizit enthalten ist und sich zwischen Forscher_in und Filmemacher_in auch Konflikte auf filmtheoretischer Ebene ergeben können. Mit Abir jedoch erreichte die konzeptuelle Diskussion – auch über das Thema des möglichen Aufbaus meiner Dissertation – eine besonders hohe Intensität. Anfangs versuchte ich noch, Audioaufnahmen dieser Gespräche zu machen, da mir vieles, was er sagte, relevant und interessant erschien. Bald gab ich dies aber auf und begann stattdessen, gelegentlich Notizen zu seinen zentralen Argumenten und den besten Anekdoten zu machen. Ich nahm mir vor, diese Gesprächs-

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fragmente zu einem späteren Zeitpunkt wieder in ein semi-strukturiertes, konzentriertes Interview zu überführen. In unseren Auseinandersetzungen kam mein Vorverständnis von der Methode »Interview« schnell an eine Grenze. Abir und ich führten in unseren Gesprächen ein intellektuelles Versteckspiel: Er gab oft elaborierte Antworten, die er dann mit einem Lachen beiseiteschob oder während weiterer Ausführungen mit einem Lächeln begleitete, so dass ich nie ganz sicher sein konnte, ob es nun ernst gemeint war oder ironisch, ob es eine Polemik war, eine Provokation oder Expertenmeinung. Ich wiederum versuchte, etwas Zitierbares aus ihm herauszubekommen, wohl wissend, dass er mich – wie er sagte – »zum Denken provozieren« und mir »keine Fertigware anbieten« wollte. Auch bei den Gesprächen mit Sanjay Kak, Iffat Fatima, Uzma Falak und Ajay Raina bemerkte ich die Vielzahl verschiedener Positionen, die während eines Gespräch eingenommen wurden. Nur in den seltensten Fällen entstanden dabei Gespräche, die dem in der Methodendebatte (siehe 2.3) schon lange überwundenen modernem Alltagsverständnis von Interview entsprachen, der zufolge Wissen aus einem als Informationsbehältnis gedachten Interviewpartner bezogen wird. Abir und ich sahen uns zusammen Hindi-Filme an und führten lange Gespräche über bisherige Forschungsarbeiten über die Repräsentationen von Kaschmir im Hindi-Film. Dabei ging es insbesondere um die Frage, wie eine »indisch codierte Bildwelt« der Region durch die kulturelle Form des Hindi-Films etabliert wurde und welche Hindi-Filme hier Potentiale der impliziten Kritik bieten. Durch diese Gespräche mit Abir richtete sich mein Interesse auf die Politik der Repräsentation und die Geschichte des Kaschmirkonflikts im Spiegel des Films. Je mehr Kontakt ich allerdings mit anderen Filmemacher_innen wie Iffat Fatima, Uzma Falak und Sanjay Kak bekam, desto mehr begriff ich, dass diese als Filmemacher_innen aktiv waren, d.h., Filme produzierten und zeigten, während Abir in einer Phase des Abschlusses seiner hermeneutisch ausgerichteten Promotion war. In dieser Zeit begann sich mein Interesse von Fragen der Geschichte und Repräsentationspolitik langsam auf die gegenwärtigen Praktiken der Filmemacher_innen Iffat Fatima, Uzma Falak, Sanjay Kak und Ajay Raina zu verlagern. Diese Verschiebung meines Fokus während der Feldforschung möchte ich im Folgenden anhand einer Unterhaltung mit Abir reflektieren.

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Die Analyse der Zeugenschaft der Bilder an der Oberfläche audiovisueller Praktiken Ich habe bei zwei kollektiven Dokumentarfilmprojekten, die einen Bezug zu Kaschmir aufweisen, mit Regie geführt5 und zeigte Abir unseren ersten Film »Sufis Entangled« (2011). Abir problematisierte u.a. den diskursanalytischen Ansatz unseres Films aus einer hermeneutischen Perspektive: Der Film zeige zwar vor allem durch den Schnitt die Widersprüche und die Pluralität von SufiArtikulationen auf, schaffe es aber nicht, dem Phänomen in seiner Tiefe gerecht zu werden. Abir, der eine Promotionsarbeit über den Sufi-Heiligen Sheikh Nooruddin Wali schrieb, fragte mich: »Was für ein Film wäre es geworden, wenn ihr euch ein Jahr Zeit genommen hättet, etwas über mystischen Islam zu lernen, bevor ihr den Akteuren gefolgt seid?« Ich hielt dagegen, dass hermeneutische Tiefe gerade nicht unsere Absicht war. Wir wollten sehen, was passiert, wenn verschiedene Akteure über Sufismus ins Gespräch kommen, vermittelt über die emotionale Dimension der Musik und als Teil einer Reise von Ägypten nach Indien. Diese Unterhaltung knüpfte für mich an die theoretische Problematik an, die Geschichtlichkeit des Kaschmirkonflikts und seiner Missrepräsentationen mit den gegenwärtigen Praktiken von Filmemacher_innen zusammen zu denken. Abir sagte mir, dass für viele Menschen aus dem Kaschmirtal durch das staatsgeförderte Regime der Lügen, das sie täglich umgibt, der Begriff der Wahrheit eine besondere, hochemotionale Stellung einnehme. In Auseinandersetzung mit dem von so vielen Kashmiris geäußerten Wunsch nach Wahrheit suchte ich einen Weg, dokumentarfilmische Zeugenschaft auf ein ethisches Moment zu beziehen, das für fast alle meine Gesprächspartner_innen gegeben war: die militärische Besetzung des Kaschmirtals und der Entzug von Bürgerrechten. Ich dachte an eine Sequenz aus Iffat Fatimas Film »Khoon Diy Baarav«, in der die Frauen der Association of Parents of Disappeared Persons (APDP) auf einer Hochzeitsfeier gemeinsam singen: »Wir wollen unsere Nachrichten, um unsere Wahrheit zu erzählen«. Iffat Fatima berichtete mir, dass Parveena Ahangar, die Leiterin der APDP, auf einer Demonstration in Indien einmal sagte: »Ihr habt unsere Wahrheiten in eure Lügen verwandelt und eure Lügen in unsere Wahrheiten.«6 Ich konnte die von vielen Filmemacher_innen geforderte Auseinandersetzung mit politischen Wahrheiten – insbesondere für den Dokumentarfilm – nicht

5

Die Filme sind »Sufis Entangled« (2011; Ewald, Ettmüller, Kramer) und »All My People« (2015; Sharma, Yaseen, Ewald, Kramer).

6

Gespräch mit Fatima am 09.11.2013 in Neu-Delhi.

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umgehen, wollte sie aber nicht als Verstehensakt eines »Lesens« auffassen, sondern als multisensorische Praxis eines politischen Dokumentarfilms. Für Abir war Wahrheit ein philosophischer Begriff, der auf eine Ereigniskonzeption von Wahrhaftigkeit aufbaut und nicht auf einem Essenz- oder Substanzbegriff. Meine Konversationen mit Abir waren von einem produktiven Konflikt zwischen einer Hermeneutik, die sich auf Heidegger und Derrida bezieht, und meinen medienkulturellen Ansätzen gekennzeichnet, die eher topographisch orientiert waren. Abir war stets darauf bedacht, mir teils ironisch anzuraten, dass ich – der eher »Medienanthropologe« sei – »mehr mit den anderen Filmemachern reden sollte« als mit ihm. Wenn ich hier topographisch sage, meine ich den Versuch, gerade nicht »tief« in die Geschichte des Konflikts einzusteigen, sondern gegenwärtige Verteilungen von Affekten und Sagbarkeiten an ihrer performativen Oberfläche zu analysieren.7 Während dieser Gespräche begann auch meine Reise durch den im vorigen Kapitel dargestellten Forschungsstand und die Bandbreite theoretischer Ansätze, um gegenwärtige Filmpraktiken in und über Konfliktregionen angemessen beschreiben und analysieren zu können. Auf der Suche nach einem Begriff, der die Frage nach dokumentarfilmischer Zeugenschaft – als Anspruch auf historische Wahrhaftigkeit – bestehen lässt, entwickelte ich schließlich das Konzept der »mobilen Zeugenschaft«, das ich später in diesem Kapitel einführen werde. Letztlich wird meine Untersuchung von einer hoffentlich produktiven Spannung gekennzeichnet sein, in der die Historizität filmischer Repräsentationen mit einer topographischen Analyse filmischer Praxis zusammenkommt. Der Blick auf die Repräsentationen erfolgt vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Filmemacher_innen, um die Filmpraktiken kritisch unter Einbeziehung der gegenwärtigen kaschmirbezogenen Debatten zu würdigen.

Die Unübersichtlichkeit des Feldes Zunehmend wurden mir die politischen und persönlichen Konfliktlinien zwischen meinem Gastgeber und Mitbewohner in Lajpat Nagar und einigen anderen von mir interviewten Filmemacher_innen bewusst. Ich bemerkte zum Beispiel, dass Abir, im Gegensatz zu anderen, damals8 eine Rolle als organischer Intellek-

7

Eine solche topographische Analyse wird bspw. von Josef Tanke (2011) elaboriert.

8

Heute (2017) hat sich seine Position abermals geändert und er lebt nun eher zurückgezogen als Assistant Professor für englische Literatur auf dem Campus der Ashoka Universität in einer kleinen Stadt nördlich von Delhi.

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tueller anvisierte, die seine relativ große Sichtbarkeit in der Politik des Tals zur Folge hatte. Er kannte fast alle Führungspersönlichkeiten der Hurriyat9 seit langer Zeit persönlich und versuchte, ihre politischen Artikulationen in meist internen Aushandlungen kritisch zu begleiten. Abir bestätigte meine Sorge, dass einige Filmemacher_innen durch meine Nähe zu ihm vielleicht nicht mehr für Gespräche mit mir zur Verfügung stehen würden. In dieser Phase der Arbeit – es waren erst zwei Monate seit Beginn der Forschung vergangen – wollte ich so viele Filmemacher_innen wie möglich persönlich kennenlernen und konnte dieses Risiko nicht eingehen. Dabei sollte das Kriterium für die Aufnahme in die nähere Auswahl aus dem inzwischen auf fast vierzig Filme angewachsenen Korpus meiner Untersuchung keineswegs die Nähe des/der jeweiligen Filmemacher_in zu Abir sein, sondern die Intensität ihrer oder seiner Auseinandersetzung mit dem Konflikt. Obgleich diese Auswahl eine bestimmte politische und persönliche Position hinsichtlich des Konflikts reflektiert, ist sie nicht darauf reduzierbar. Für Gespräche war eine Offenheit nötig, die durch die, wie Abir es sagte, »unheimliche Unübersichtlichkeit« (murkiness) und Politisierung des Feldes gefährdet werden könnte. Viele gegenseitige Verdächtigungen waren im Spiel und wurden mit mir geteilt. Ich suchte in der Folge Wege, die Gespräche über die Filme der anderen auf die die Politik der Form zu konzentrieren, obgleich aufgrund vieler, nicht zuletzt wirtschaftlicher Frustrationen einer unabhängigen Filmpraxis bei vielen Filmemacher_innen ein Bedürfnis bestand, persönliche Konflikte über mich auszuhandeln. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass ich – ohne Aussicht auf einen neuen Film von Abir – vielleicht keiner einzigen Filmproduktion über Kaschmir vom Beginn bis zur Rezeption des fertigen Films würde folgen können. Dafür eröffnete sich mir aber die Möglichkeit, einer Gruppe von vier Filmemacher_innen zu folgen, die im Gegensatz zu Abir zu jener Zeit aktiv waren, deren Filme also in Produktion oder Zirkulation waren. Auch wenn ich nie zuvor so viel über die Grauzonen der Politik des Tals gelernt hatte wie in den knapp drei Wochen bei Abir, entschied ich mich, aus der Wohnung in Lajpat Nagar wieder auszuziehen und in mein kleines, heißes Zimmer in Paharganj zurückzukehren. Abir fand glücklicherweise schnell einen neuen Untermieter und wir vereinbarten regelmäßige Treffen an einem neutraleren

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Hurriyat (wörtlich: Freiheit, Unabhängigkeit) ist die alltagssprachliche Bezeichnung für die inzwischen in zwei große Sektionen geteilte außerparlamentarische Oppositionskoalition des Kaschmirtals, seit 2003 bestehend aus der All Parties Hurriyat Conference und der Tehreek-e-Hurriyat.

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Ort, dem Oxford Bookstore am Connaught Place im kommerziellen Zentrum Neu-Delhis.

Begleitungen Nach dieser Zeit bei Abir erreichten meine Verbindungen mit Iffat Fatima, Sanjay Kak und Ajay Raina einen Punkt, der es mir ermöglichte, sie während ihrer Arbeit punktuell zu begleiten. Diese Begleitungen fanden neben Festivals auch auf Filmclubscreenings und filmbezogenen Konferenzen in Indien und zum Teil darüber hinaus statt. Ihre Praxis kommt dem in der transnationalen Filmwissenschaft beschriebenen Typus des globalen Nomaden mit (trans-)nationalen und (trans-)regionalen Wirkungszentren recht nahe. Während junge Filmemacherinnen wie Uzma Falak – und in seiner filmaktiven Zeit auch Abir – oft noch nicht die nötigen Verbindungen besitzen, um globales Funding oder Einladungen von Universitäten des globalen Nordens zu erhalten, ist die Praxis von Kak, Fatima und Raina von grenzüberschreitender, physischer Mobilität gekennzeichnet. Dennoch waren alle diese Filmemacher_innen während der Zeit meiner Feldforschung in den Jahren 2013 und 2014 vorwiegend innerhalb des Territoriums des indischen Nationalstaats außerhalb des Kaschmirtals unterwegs. Ihre Filme adressieren durch ihre Form oft Publika, deren Wissen über bestimmte umstrittene Aspekte indischer Politik vorausgesetzt ist. Mir fiel während der Begleitung und der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand auf, dass mein vorheriges mit Abir erprobtes und eher geisteswissenschaftliches, textuelles Interesse an dem Film als Teil einer Politik der Repräsentation mit einer Perspektive auf die oft hochgradig mobilen Praktiken der Filmemacher_innen verbunden werden könnte, um den filmischen Vermittlungsprozess – insbesondere die Rezeption des Films – besser beschreiben und analysieren zu können. Gleichzeitig war ich frustriert, dass letztlich nur verhältnismäßig wenige Begleitungen zu Stande kamen und dass viele Projekte, bei denen ich »nah dran« sein wollte, einfach nicht begonnen oder fertig wurden. Mir blieb dann oft nichts anderes übrig, als meine Arbeit wieder auf die Filme selbst und die Gespräche mit den Filmemacher_innen zu richten. Bei einigen, wie Abir Bazaz, Iffat Fatima oder Uzma Falak, war die Arbeit mit den filmischen Repräsentationen, der Form und der Beziehung zu den filmischen Subjekten zentral. Hier bot sich an, den Fokus auf die Produktion oder die Texturen der Filme zu richten, da Falaks und Fatimas Filme zur Zeit meiner Feldforschung noch nicht vollendet waren. Bei Ajay Raina und Sanjay Kak führten meine Filmbegleitungen dagegen oft zu Fragen hinsichtlich der Schaffung von Öffentlichkeit(en), da

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diese Filmemacher während meiner Forschungszeit Filmfestivals mitorganisierten und mit ihren Filmen viel unterwegs waren. Beide Momente konnten aber nicht getrennt voneinander betrachtet werden: Auch Iffat Fatima und Uzma Falak verbanden ein Interesse an der Art und Weise, wie ihre Filme öffentlich werden, mit den medialen Repräsentationen des Konflikts im Hindi-Film. Ich begann also nach theoretischen Ansätzen zu suchen, die zum einen filmische Texturen und zum anderen deren Medialisierungspraxis nuancieren. Ich wollte verstehen, wo die Praxis der Filmemacher_innen in Bezug auf die Themen Dokumentarfilm und Kaschmir am intensivsten ist. Diese Intensität lässt sich zum Beispiel dadurch bestimmen, dass bestimmte Momente der Praxis stark umstritten waren und so regelmäßig zum Thema von Gesprächen wurden oder dass sie mit emotionalen Reaktionen des Publikums zusammenhängen und daher von mir angesprochen wurden, um ihre mobilisierende Kraft näher zu erkunden. Nach einigen Monaten in Delhi, nachdem meine Kontakte sich festigten, wurde mir von vielen Filmemacher_innen angeraten, mehr Zeit im Kaschmirtal zu verbringen. Als Ende März die Temperaturen in Delhi für mein Empfinden unerträglich wurden, zog ich mich, wie viele indische Touristen – und früher die britischen Kolonialbeamten – in das Kaschmirtal zurück.

Im Kaschmirtal Ich war zwar schon vor 2013 zweimal dort – unter anderem 2011 für den Filmdreh von »Sufis Entangled« – aber dieses Mal wollte ich länger bleiben und einen zweimonatigen selbstorganisierten Sprachkurs absolvieren. Ich wohnte zuerst in einem Hotel im touristischen Zentrum am Dal-See, bis ich bei meinem Kashmiri-Sprachlehrer in Srinagar unterkam. Sein Haus lag in der Nähe der konfliktträchtigsten Stadtteile im Norden Srinagars, nahe der alten Freitagsmoschee in Nowhatta. In dieser Zeit bekam ich ein Gefühl dafür, was es bedeutet, in einer Stadt zu leben, deren Alltag von regelmäßigen Ausgangssperren (curfew), Streiks (haṛtāl), Straßenprotesten, Checkpoints und der Allgegenwart des indischen Militärs beherrscht ist. Die Kashmiri-Intifada10 war in den indischen TV-

10 Der Begriff »Kashmiri-Intifada« – meist in Hinblick auf die Proteste des Jahres 2010 verwendet – wurde in einem deutlichen Bezug auf die palästinensische Intifada geprägt. Der Vergleich wird hier über die Protestform des »Steinewerfens« gebildet. »Intifada« ist für viele Menschen aus der jungen Generation des Kaschmirtals ein zentraler Begriff, um ihre Solidarität gegenüber Palästina zu bekunden. Er wird gele-

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Nachrichten wenig präsent, aber, als ich Anfang des Sommers 2013 dort eintraf, noch im Gange. Jugendliche im Norden Srinagars und im kommerziellen Zentrum, Maisuma, warfen regelmäßig Steine, wobei gelegentlich besorgte Eltern oder Verwandte zusahen, wie die staatlichen Truppen Tränengaspatronen abschossen oder die Steine einfach wieder zurückwarfen. Diese sogenannte Pathrāv-sessions haben ritualisierte Formen angenommen. Die Jugendlichen rufen die Polizisten – seit kurzem fast ausschließlich aus Kaschmir rekrutiert – beim Vornamen oder überlegen sich Schimpfwörter für sie und ihre Verwandten. Während der regelmäßigen Ausgangssperren und der Streiks, die Reaktionen darauf darstellen, war es oft schwierig, Menschen in der Stadt zu treffen. Das Leben im Tal bestand für mich oft aus Warten und Kashmiri lernen. Ganze Tage verbrachte ich nur damit, die mehr als zwei Dutzend Vokale der Sprache auszusprechen, die Zunge im Mund hin und her zu drehen, um doch wieder ein frontales »e« nicht von einem mittel-frontalen »∂« unterscheiden zu können. Ganz andere Schwierigkeiten und Möglichkeiten resultierten aus dem Aufenthalt eines »aṃgrez« (hellhäutiger Ausländer) in dem eher traditionellen Viertel, nahe der Freitagsmoschee bei dem Sohn eines Mullahs, meinem KashmiriLehrer. Mein Lehrer und Vermieter gab mir einige Regeln mit: Ich sollte abends nicht alleine unterwegs sein, gelegentlich bei ihm anrufen und sagen, wo ich sei und ob alles in Ordnung wäre. Wenn ich von Nord-Srinagar aus Freunde am touristischen Dal-See besuchte, hatte ich nicht den Eindruck, nur einige Kilometer mit der Autorikscha zu fahren, sondern zwischen Welten zu wechseln. Dies soll durch ein kleines Erlebnis anschaulich gemacht werden. Nachdem wieder ein Jugendlicher vom Militär erschossen worden war und erst massive Proteste und dann Ausgangssperren den Straßenverkehr lahmlegten, war ich mit Abdul Bhat11 verabredet. Als ich 2011 zum ersten Mal nach Kaschmir kam, war er mein Touristenführer. Inzwischen ist Abdul ein Freund. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt, dem vom J&K Tourism Board errichteten Holzpavillon auf der idyllischen Peerzu Island, musste ich vier Checkpoints passieren. Die Autorikscha war mit fünf Fahrgästen brechend voll. Alle wollten das Zentrum der Stadt möglichst ungestört passieren. Der Fahrer hatte bereits etliche Geheimwege durch die Ruinen des alten Mogul Fort ausprobiert, doch dieses Mal gab es einfach kein Durchkommen. Während der Passage wurde mir von meinen kaschmirischen Mitfahrern vorgeschlagen, mich als verirrten Tourist auszugeben, der sich auf dem Weg zurück zum See befände. Nur durch diese

gentlich auch benutzt, um die geschichtliche Zäsur zu früheren Formen des bewaffneten Widerstands auszudrücken (siehe Shah 2013, Kak 2010). 11 Diesen Namen habe ich verändert.

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Strategie konnten wir schließlich einen Checkpoint nach dem anderen passieren, wenn auch unter regelmäßigem frisking (ich wurde dabei verschont) und dem Vorzeigen des Personalausweises. Im verlassenen Zentrum Srinagars angekommen machte ich mit Abdul einen Spaziergang durch die leeren Straßen der Stadt. Nach dem Verschwinden der Zivilbevölkerung zeigen sich hier vor allem wilde Hunde und hochgerüstete Soldaten. Beim Anblick der leeren Stadt sagt Abdul oft: »Dies ist das wahre Gesicht von Kaschmir.« In einigen Gassen sieht man selbst zu Curfew-Zeiten Cricket spielende Kinder. Batting, ein Wort der Cricketsprache, wurde von den Jugendlichen der Intifada-Generation für das Steinewerfen entlehnt und oft sind die Motive für das Werfen mindestens ebenso sportlich wie politisch. Mit Abdul als Touristenführer fühlte ich mich sicher. Mit indischen Soldaten sprach er verhandlungssicher Shudh Hindi, die etwas hölzern und künstlich wirkende, sanskritisierte Nationalsprache Indiens, mit Kashmiris witzelte er über Korruption und auswärtigen Gästen erzählte er in selbst gelerntem Englisch von den Schwierigkeiten des Tals und seiner Bewohner_innen. Ich erwähne Abdul hier nicht nur, weil er mein erster Zugang zum Kaschmirtal war, sondern um meine Begegnung mit dem Tal zu verdeutlichen, die zuerst als Tourist und Filmemacher erfolgte und erst dann als Forscher. Meine Rolle als westlicher Tourist war später auch meine Sicherheitsgarantie: Abdul und ich gaben uns in Curfew-Zeiten als Tourist und Touristenführer gegenseitigen Schutz, der unsere Bewegungen im besetzten Tal überhaupt erst ermöglichte. Denn bemerkenswerterweise war während der Curfews die touristische Seite der Stadt entlang dem Ufer des Dal-Sees gut von Touristen besucht. Die Straßen waren frei und die Mobilität der Touristen und Soldaten war gewährleistet. Dieses Erlebnis ließ die strukturelle Gewalt der militärischen Besatzung und die Formen der damit einhergehenden Immobilität der Zivilgesellschaft im Kaschmirtal zu einem zentralen Moment meines Verständnisses der Konfliktdynamiken werden. Deutlich wurde für mich außerdem das militärische Wahrnehmungsmanagement, das für die touristische Sichtbarkeit der Region bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit des Alltags der Besetzung sorgte.

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D IE M OBILITÄTSLINSE IN DER EMPIRISCHEN M EDIENFORSCHUNG Die im Folgenden dargestellte Mobilitätslinse entleiht methodologische und theoretische Überlegungen aus der »Neuen Mobilitätsforschung« (Sheller und Urry 2006; Urry 2007; Ade 2010; Cresswell 2011) und wendet sie auf die regionalwissenschaftliche, qualitative Medienforschung an. Die Neue Mobilitätsforschung ist ein neues sozialwissenschaftliches Forschungsparadigma; es resultiert aus der empirischen Beobachtung der globalen Verdichtung von Bewegungen von Bildern, Gruppen, Individuen und Technologien (Sheller und Urry 2006). Sie arbeitet auf unterschiedlichen konzeptuellen Ebenen, indem Aspekte physischer und sozialer Mobilität mit kommunikativer und digitaler Mobilität verbunden werden (Schneider 2015b, 168). Tim Cresswell, ein führender Vertreter dieses interdisziplinären Forschungsparadigmas, formuliert den konzeptuellen Nexus als »entanglement« zwischen »physischer Bewegung, Repräsentationen von Bewegung und Praktiken« (Cresswell 2011, 160). Die Anwendung der Mobilitätslinse auf meine Forschung resultiert sowohl aus den Desideraten des Forschungsstands als auch aus dem Verlauf meiner Feldforschung. Ich werde die bisherigen Überlegungen aus Forschungsstand und Einleitung im Folgenden zunächst zusammenfassen, um so die konzeptuelle Leistung der Mobilitätslinse herauszuarbeiten. Das Forschungsfeld »Cinemas of Conflict« (Smets 2015) – an der Schnittstelle von Konflikt- und Friedensforschung und Cultural Studies ausgerichtet – stellt die Teilnahme der Filmemacher_innen am Konflikt in den Vordergrund. Bei diesem Ansatz kommen jedoch die öffnenden, imaginativen und ästhetischen Potentiale filmischer Praxis ebenso wie die Machtasymmetrien der Politik der Repräsentation zu kurz. Viele Studien der transnationalen Filmwissenschaft beschreiben Konfliktregionen über ästhetische Potentiale kleiner Filmpraktiken »von unten« (Ezra und Rowden 2006; Köhn 2016) und bevorzugen epistemologisch migrantische, hybride Subjektpositionen (Marks 2000; Naficy 2001). Das erschwert, die Einbezogenheit der Filmemacher_innen in die Dynamiken des Konflikts analytisch in den Griff zu bekommen (Smets 2015). Theorien, die beide Aspekte vereinigen – wie bspw. die Untersuchung von Ella Shohat und Robert Stam (1994) – sind vorwiegend textuell auf die Politik der Repräsentation ausgerichtet und können durch Aspekte der ersten beiden Ansätze erweitert werden, beschäftigen sich allerdings weniger mit performativen und sinnlichen Aspekten der Medialisierungsprozesse. Studien zu unabhängigen, (trans-) nationalen Dokumentarfilmpraktiken fokussieren oft auf die Filmform und auf die politisch-ästhetischen Potentiale neuer digitaler Technologien und experimenteller

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Formen im dokumentarischen Feld (sowohl der Produktion wie auch der neuen Zirkulationsmöglichkeiten). Allerdings werden als experimentell bezeichnete Praktiken oft unzureichend kontextualisiert (kritisch hierzu Köhn 2016) und ihre emanzipativen Potentiale sind schwer einzuschätzen. Dieses Problem verweist auf unterschiedliche Ebenen: Wie können soziale Strukturen, die Politik der Repräsentation und politisch-ästhetische Momente der Filmform zusammengedacht werden? Gegen Ende des letzten Kapitels habe ich auf die Problematik aufmerksam gemacht, dass eine Auseinandersetzung mit unabhängigen Filmpraktiken über das Kaschmirtal sich nicht mit sedimentierten Artikulationen eines sogenannten regionalen oder nationalen Kinos beschäftigt, da es einen Diskurs über den kaschmirischen Film in diesem Sinne nicht gibt. Vielmehr wird zum Verständnis der von mir untersuchten Filmpraktiken ein skalierbarer Begriff des »kritischen transnationalen Films« benötigt (Higbee und Lim 2010). Dieses Konzept befasst sich mit nationalen, regionalen und antinationalen Momenten in kontextspezifischen Analysen von Filmpraktiken. Die Analysen müssen oft auf sehr individuelle kleine Filmpraktiken eingehen, die in die Dynamik des Konflikts eingebunden sind. Zu diesen Dynamiken zählt wesentlich auch die Imagination des Konflikts. Die Region Kaschmir wird in indischen12 Mediendiskursen13 vorwiegend

12 Die Medienwissenschaftler James Curran und Myung-Jin Park (2000) argumentieren, dass vor dem Hintergrund zunehmender Transnationalisierungsprozesse noch immer eine Reihe nationaler Momente in der Medienkommunikation gegeben ist. Dazu zählen sie u.a. die Kontrollmacht des Nationalstaats und nationalistisch geprägte Kulturdiskurse, die zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« unterscheiden (vgl. Schneider 2005, 5). Darüber hinaus gibt es in Indien keinen einheitlichen Kommunikationsraum, der mit der territorialen Nation homotop wäre (Athique 2012). 13 Ich folge hier den Überlegungen der Cultural Studies, die Diskurse vorwiegend in den Massenmedien ansiedeln, was zu einem »unauflösbaren Verhältnis« (Parr und Thiele 2007, 104) von Medien und Diskurs führt. Mediendiskurse können daher als diskursive Herstellung einer symbolischen Wissensordnung verstanden werden, die dynamisch auf verschiedenen Ebenen der Produktion, Zirkulation, Repräsentation und Rezeption ausgehandelt wird (Hall 2004). Eine detaillierte Klärung des Konzepts von Massenmedien in Bezug auf einen Cultural Studies-Diskursbegriff findet sich bei Tim Karis (2010, 59–80). Durch die digitale Konvergenz von Medienformaten spricht Manuel Castells (2013, 58-71) von »Massen-Selbstkommunikation«, die – trotz einer Individualisierung der Aneignung, Produktion und Konsumption – immer noch diskursive territoriale Besetzung beinhaltet und weiterhin die diskursive Herstellung und

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an der Schnittstelle verschiedener Formen der (Im-)Mobilität repräsentiert: zwischen Terroristen und Touristen, zwischen militärischer Besatzung und Freizeitfreuden, zwischen modernem Pragmatismus und unbeweglichen Traditionalisten. Dieser von Mobilitätsdarstellungen geprägte Kontext ist wichtig, um die Interventionen der Filmemacher_innen in der Politik der Repräsentation zu verorten. In meinem Exkurs zur Feldforschung habe ich auch auf die physische Mobilität der unabhängigen Filmemacher_innen aufmerksam gemacht. Sie reisen mit ihren Filmen und versuchen in Diskussionen die Zuschauerschaften für ihre Perspektive zu gewinnen, aber auch für die Beiträge der Zuschauer_innen offen zu bleiben. Sie beteiligen sich daran, neue Formen der Öffentlichkeit mitzugestalten, die Raum für Subjektivitäten schaffen sollen, die bislang wenig im filmischen Medium artikuliert wurden. Um diese Aspekte der Repräsentation und einer mobilen Praxis zusammenzudenken, habe ich mich zur Analyse der ausgewählten Filme für eine Mobilitätslinse entschieden, mittels derer ich eine kritisch-transnationale Analyse unabhängiger Dokumentarfilme im entstehenden Forschungsfeld der Cinemas of Conflict durchführen möchte. Durch diese Linse kann die vergleichende transnationale Dimension des Cinema of Conflict von ihrer vorwiegend textuellen Perspektive abrücken. Stattdessen werden Medialisierungsprozesse14 in den Blick genommen, welche die Analyse ästhetischer und kognitiver Praktiken eng mit methodologischen Fragen verknüpfen.

I MAGINATIVE M OBILITÄT

UND

R EFLEXIVITÄT

Kevin Robins (2004, 114–132) legt einen Ansatz vor, Mobilität hinsichtlich der Praxis einzelner Akteure als ermächtigendes Potential zu konzeptualisieren. In seiner Forschung zu Medienpraktiken türkischer Migrant_innen beschäftigt sich Robins mit den Möglichkeiten, die Kategorie der kulturellen Identität zu suspendieren, um imaginative, emotionale und intellektuelle Formen der Mobilität einVerbreitung nationalistischer Erzählungen in einer nunmehr globalen und synchronen Netzwerkstruktur ermöglicht. 14 Als Medialisierung begreife ich mit John Corner (2011, 7) den medialen Kommunikationsprozess, in dem kulturelle Artefakte mit kommunikativen Ereignissen zusammenfallen. Auch hier gibt es eine komplexe epistemologische Debatte (vgl. Couldry 2000; Silverstone 2007; Livingstone 2008), auf die näher einzugehen hier nicht der Raum ist. Was ich unter Medialisierung verstehe, wird daher am besten aus den analysierten Sequenzen und Bildern ersichtlich.

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zelner Menschen erfassen zu können (Robins 2004, 125). Dieser Ansatz ermöglicht es, innovative filmische Praktiken zu berücksichtigen, die etwas Neues schaffen, das nicht in die Schemata der bisherigen Konfliktwahrnehmung passt. Dies ist auch ein zentraler Aspekt meiner Fragestellung, die sich u.a. mit dem Aufbrechen dominanter Wahrnehmungsweisen des Kaschmirkonflikts und der Artikulation neuer politischer Subjektivitäten befasst. Robins legt jedoch sehr viel Gewicht auf das ästhetische Möglichkeitsdenken einer unbegrenzten Deterritorialisierung, das die medialen Landschaften, in denen Filmemacher_innen ihre Subjektivitäten artikulieren, nicht ausreichend kontextualisiert. Meiner Ansicht nach ist es besser, Mobilität als »reflexive Kategorie« (Göttsch-Elten 2011) zu behandeln, die Sheller und Urry (2006) folgend nur in Bezug zu Immobilität oder »moorings«15 (wörtlich: Ankerplätze) zu denken ist. Shellers und Urrys Ansatz überschneidet sich mit dem oben vorgestellten Konzept eines kritischen Transnationalismus: Praktiken der Filmemacher_innen sind immer auch strategische, obgleich oft ambivalente, Einschreibungen in Konfliktnarrationen, die sich auf territoriale Tropen wie »die Nation«, »das Haus«, »die militärische Besatzung der Heimat« und »die kaschmirische Landschaft« beziehen. Dies ist unschwer an den oft heftigen Debatten bei Filmvorführungen zu erkennen. Durch ihre imaginative Mobilität eröffnen sie jedoch zwischen den Diskursen neue Räume und neue ästhetische Formen. Meine Forschung nimmt, Schneider (2015a) und Mukherjee (2012) folgend, diese Ansätze auf und wendet sie auf das Feld der transnationalen Konfliktfilmforschung an.

D IE M OBILIÄTSLINSE ZUR A NALYSE D OKUMENTARFILMPRAKTIKEN

VON

Nadja-Christina Schneider (2015a) entwickelt unter Bezugnahme auf die Neue Mobilitätsforschung sowie die Arbeit Kevin Robins (2004) eine Mobilitätslinse zur Erforschung von Dokumentarfilmpraktiken in Indien, die in die Repräsentationen muslimischer Frauen als »immobilisierte Andere« der zunehmend »mobilen nationalen Familie« (Desai 2007) der indischen Nation intervenieren (Schneider 2015b, 169). Ihr Ansatz der »entangled (im)mobilities« denkt Territo-

15 Hinter diesem Konzept der Immobilität als »moorings« bzw. Ankerplätze steht jedoch der Gedanke einer ontogenetischen Beweglichkeit, die der Neuen Mobilitätsforschung in der Regel zu Grunde liegt (Adey 2006). Daher sind moorings auch als Ankerplätze im Fluss der Zeit aufzufassen.

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rialisierungen (z.B. Repräsentationsregimes oder Regulierungen der Bewegungsfreiheit) und Deterritorialisierungen (z.B. ästhetische Öffnungen) zusammen. Die Forschung von Steffen Köhn (2016) zu Dokumentarfilmpraktiken über (und teils von) Migrant_innen verweist auf eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten einer »medialisierten Mobilität« (ebd.) bei filmphänomenologischen und politisch-ästhetischen Ansätzen.16 Einer Mobilitätslinse geht es also um mehr als eine textuelle Politik der Repräsentation – obgleich diese weiterhin ein wichtiges Moment bleibt. Sie setzt sich in Bezug auf den Dokumentarfilm insbesondere mit der Schaffung von Zeugenschaft im Wege der Begleitung der Filme durch die Filmemacher_innen auseinander. Darüber hinaus spielt die Art und Weise, wie diese Zeugenschaft erfahren und ausgehandelt wird, eine wichtige Rolle. Durch die Mobilitätslinse wird sinnliche Erfahrung, die zur Ausarbeitung einer Form führte, als auch die emotionale Mobilisierung der Zuschauer_innen mit einbezogen. Aus diesem Grund muss etwas über die Rezeption der Filme gesagt werden, sonst bleibt bspw. der Begriff der experimentellen Form leer und ohne Bezug auf die politische und ethische Imagination der Rezipient_innen. Anders als die meisten textuell oder psychoanalytisch ausgerichteten filmwissenschaftlichen Formanalysen fasst die Mobilitätslinse die Form des Films als einen Schaffens- und Vermittlungsprozess auf. Innerhalb des Vermittlungsprozesses wird über die imaginative Mobilität der Filmemacher_innen der Fokus auf die Autorinstanz gelegt, ohne diese als diskursive Funktion aufzulösen oder romantisch zu überhöhen. Grundlegend gehe ich von einer dialogischen, intentionalen Gestaltung der filmischen Mittel aus, die Teil einer politisch-ästhetischen und medialen Praxis ist. In diesem Verständnis von filmischer Praxis als Kommunikation ist Filmkunst die Gestaltung der Präsentationsform des filmischen Mediums, die jeweils kontextspezifisch und historisch zu verorten ist (Gaut 2010). So markiert Stille nur zu Zeiten des Tonfilms eine Differenz. Die Offenheit der Rezeption ist allerdings immer gegeben und die Rahmungen der Filmemacher_innen, die ihren Filmen beigegeben werden, werden von den Zuschauer_innen nicht zwangsläufig geteilt: Filme können immer wieder neu gesehen und verstanden werden, Diskussionen können stets neue Aspekte der Filme hervorheben und andere in den Hintergrund treten lassen. Schließlich werden Intentionen auch in Frage gestellt, Aussagen können bewusst oder unbewusst etwas verdecken, mit anderen Worten: Sie beinhalten Widersprüche genauso wie Täuschungsversuche.

16 Einzelne Ansätze und Konzepte werden im jeweiligen Analysekontext eingeführt.

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Gerade eine unabhängige, kleine Dokumentarfilmpraxis ist besonders von der rahmenden, performativen Begleitung der Filme durch die Filmemacher_innen geprägt (Marks 2000), was der Auseinandersetzung mit ihren Intentionen ein besonderes Gewicht verleiht. Um dies auch methodisch zu reflektieren, kann die Mobilitätslinse die dokumentarfilmische Praxis in Form von Begleitung, Konversationen und empirischer Beobachtung vor dem weiteren Horizont raumzeitlich medialisierter Konfigurationen kontextualisieren. In den nächsten Unterabschnitten soll geklärt werden, was dieses »Begleiten« für die methodische Operationalisierung der Mobilitätslinse impliziert und schließlich, was die Methode der »Konversation« für eine reflexive Wissensproduktion leisten kann.

M OBILE M ETHODEN : B EGLEITEN DER F ILMEMACHER _ INNEN Kreativität, Offenheit, Performanz, Experimentieren – diese Schlagworte stehen auch für methodologische Überlegungen der Neuen Mobilitätsforschung (Merriman 2014, 174). Diese versucht, neue theoretische und methodologische Schnittstellen einer qualitativen Forschungspraxis aufzuzeigen. Von Ansätzen einer »multi-sited ethnography« inspiriert schlagen einige Autor_innen der Neuen Mobilitätsforschung ein Begleiten der Akteure vor, was das sinnliche Nachempfinden der mobilen Momente ihrer Praxis beinhaltet: »to move with and to be moved by subjects« (Büscher et al. 2011, 7; Sheller und Urry 2006). Ich habe bereits im vorstehenden Feldforschungsbericht darauf hingewiesen, dass einige flüchtige Momente in der Praxis der Filmemacher_innen – beispielsweise eine Filmbesprechung auf einem Festival oder ein Gespräch danach – für meine Arbeit relevant waren. Sie erforderten Aufmerksamkeit für die Präsenz der filmischen Praxis, die Performanz des Films und die mobilisierende, emotionale Seite filmischer Politik. Mit den Akteuren zu gehen und von ihnen bewegt zu werden spiegelt sich auch in der Methode der Konversation, die auf den gemeinsamen Ort von Wissensproduktion durch eine »imaginative Mobilität« (Robins 2004, 125) verweist. Begleitung war jedoch nicht der zentrale Ort der Wissensproduktion meiner Arbeit. Der größte Teil meiner Daten resultiert aus Gesprächen über die filmische Form, die auch ein Verständnis der Politik der Repräsentation erfordert. Daher könnte ein Bezug zu »mobilen Methoden« im Sinne einiger Einführungen (Fincham et al. 2010; Büscher et al. 2011) aufgrund ihres »non-represent-

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ational« (Thrift 1996, 32–33) Zugangs zur Nichtberücksichtigung zentraler, repräsentationsbezogener Aspekte der von mir erforschten Filmpraktiken führen. In seiner Bestandsaufnahme mobiler Methoden warnt Peter Merriman vor der methodologischen Überhöhung der Innovationskraft experimenteller, nichtrepräsentativer Zugänge seit dem »practice turn« (Schatzki et. al 2001). Insbesondere in der sozialwissenschaftlichen Methodendiskussion der Neuen Mobilitätsforschung positionierten sich einige Vertreter_innen in diesem Bereich gegen geisteswissenschaftliche Zugänge, die oft als rein textuelle verstanden werden. Durch diese methodologischen Entscheidungen würde der diskursive Kontext von Bewegungen vernachlässigt: »Indeed, [...] some »post-mortems« of conventional methods are underpinned by the problematic belief that experimental and improvisational »mobile methods« provide the means to enable the research to get »close-to«, »grasp« or witness the here-ness, now-ness and live-ness of particular practices and events – providing some »God-like« position from which the researcher can gain a more accurate or authentic knowledge of a situation« (Merriman 2014, 183).

Die Präsenz des/der Forscher_in durch die Begleitung der Filmemacher_innen soll daher nicht zum Ausgangspunkt der methodologischen Überlegungen meiner Untersuchung werden. Ich verwende hier, angelehnt an Schneider, die Mobilitätslinse, um Fragen der Mobilität als Repräsentationspraxis stärker an die Diskussionen der transnationalen Filmwissenschaft (insbesondere Shohat und Stam 1994) anzubinden. Ohne beispielsweise zu wissen, wie Kaschmir im kommerziellen Hindi-Film artikuliert wird, kann die filmische Praxis nicht kritisch kontextualisiert werden. Aus mobilen Methoden entnehme ich also einige Anreize und Provokationen, die mir helfen, die präsentativen, performativen und ästhetischen Momente der filmischen Praxis differenzierter wahrzunehmen und zu reflektieren. Obgleich ich punktuell Rezeptionssituationen und anderes Agieren von Filmemacher_innen unterwegs beobachtet und dokumentiert habe, machen das Interview und die Konversation das Gros meiner Forschungsdaten aus. Diese werden daher im nächsten Abschnitt ausführlich besprochen.

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I NTERVIEWS

UND

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K ONVERSATIONEN

Gespräche stellen immer einen Einschnitt in eine fluide Praxis des Wissens dar, z.B. über Dokumentarfilm, Kaschmir und Identitäten. Sie verfestigen etwas, das im Fluss ist, sie sind rückblickend immer neu zu hören, zu lesen und einzuschätzen. Sie beinhalten unterschiedliche Subjektpositionen und sind von einer grundsätzlichen Vielstimmigkeit gekennzeichnet. Für die Verantwortung der Forscherin und des Forschers spielt ein Verständnis des Materials eine Rolle: Sind die Aufzeichnungen eher passiv verstandene Ressourcen auf der Festplatte oder lebendige, wieder aufnehmbare Gespräche? Ich wurde beispielsweise von Abir Bazaz gebeten, einige ältere Konversationen mit Vorsicht zu behandeln, da sein Denken und Schreiben über ein bestimmtes Thema sich weiterentwickelt hätte, er nicht mehr genauso zu den Dingen stehe wie noch vor einem Jahr. Diese Offenheit gegenüber der Gegenwart und den Möglichkeiten der Artikulation des Anderen endet zwangsläufig mit dem Abschluss eines Buches. Häufig sind es die letzten Konversationen, denen ich daher am meisten Gewicht beimesse, da sie den komplexesten Stand eines kontinuierlichen Gesprächs wiedergeben. Konversationen unter vier Augen waren nicht die einzige, allerdings die dominante Gesprächsform,17 die ich im Rahmen der Arbeit führte. Aber auch Diskussionen während Filmfestivals oder Konferenzen wurden punktuell einbezogen. Hier waren es Debatten, die aus kollektiven Rezeptionssituationen nach den Filmvorstellungen im Gespräch zwischen Filmemacher_innen und Zuschauer_innen entstanden. Sie gehen neben Filmreviews als weiteres Rezeptionsmoment in die Filmanalysen ein. Über die Analyse der Form des filmischen Vermittlungsprozesses können die Konflikterfahrungen und Subjektiväten der Filmemacher_innen dort entfaltet werden, wo sie audiovisuell verdichtet vorliegen. Obgleich ich in der vorliegenden Arbeit meist auf längere Ausschnitte aus Gesprächen verzichte und sie vorwiegend paraphrasiert in die Filmbesprechungen aufnehme, möchte ich hier ein längeres Gespräch mit Iffat Fatima wiedergeben, das sich mit der Konzeptualisierung der Methode »Konversation« beschäftigt: I.F.: I think ours has been more of a conversation where you have initiated the questions. I think a conversation is always two ways. The process of conversation is a process of unravelling in some ways. So I think that practitioners need – at least I can say that for

17 Ich benutze den Begriff der Konversation zumeist synonym mit Gespräch. Gelegentlich ist Gespräch jedoch als Oberbegriff gedacht, wie in dem Satz, auf den sich die Fußnote bezieht.

74 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT myself – an external interlocution where somebody can enter your work. Filmmaking is a bit of a lonely process, you know. And it takes a lot of your energy; it takes a lot of your resources. So when you put it out there, you need some feedback. So sometimes when you show a film, if there is a discussion, sometimes that discussion can be energizing and sometimes that discussion can also be de-energizing. M.K.: Did you [recently] have a discussion where you felt de-energized by the audience? I.F.: Sometimes when it is completely meaningless ... Say when your film is taken out into a different context. In Hyderabad there was this discussion where somebody told me «you know you should feel great that your film can be screened. India is such a great country that it is allowing you to screen this film of yours in this kind of an atmosphere.« This is where it is completely out of context, like your film is not being discussed but it is something else. People are not interested in your work. They are not engaging with your work. M.K.: They are using some schemes or some preconceived notions... I.F.: It's extraneous to the work. So that's why for instance in a one to one conversation with you [...] there is an active engagement with the work, it is not a passive engagement. So that active engagement is what filmmakers crave for really. M.K.: I think it is an engagement with the form that is not often talked about. I.F.: It is an engagement with the form, but also with the content, both ways. M.K.: Maybe I can rephrase the question. We are talking also about the intersections of film practice and academic practice and you, Sanjay Kak, Abir Bazaz and Uzma Falak have an academic background. Most of you studied at the Jamia Millia and there are many more intersections. For example the interview which is a part of documentary film practice since a very long time and field research, which is something you did for your film in a much more extensive way than I did for my PhD. So when I was thinking about what you did, I mean you spend years together with the APDP, [...] a lot things we are doing in academy is done by documentary film practitioners themselves and especially by independent documentary filmmakers after the digital turn, when they simply had more time through this new technology to spend in the field and to shoot without the fear that the reel is going to end. In that way I think through talking about the film form is where I can access somehow your experience of film production and your knowledge about the APDP and Kashmir. It somehow unfolds in conversations about the form and I really like

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what you said about the active side. Maybe an active understanding of the conversation means that it is to some degree collaborative? I.F.: Yes, of course it is. Coming to the research of documentary filmmakers – I think, there are documentary filmmakers of several kinds but for the documentary filmmakers you mention, I think, there is an »activism« but I wouldn't like to call it research. Because research has a certain detached connotation. In my case, my spending time with APDP, I wouldn't call that research. I think you need some other word for that. It is more of an active involvement in the process of what was happening around me. So while it was unfolding I was also recording. So I was not really doing research, I was involved in the process of what was happening. I think it is important to make that distinction. M.K.: When I think about the kind of knowledge that I am going to produce with my book now, I have sometimes been present – and to some extent involved – when the films were publicly discussed. With you I only went to Chandigarh, I have been following Sanjay around the Gorakhpur film festivals and I was at the «Kashmir Before Our Eyes« [siehe nächstes Kapitel]. I see the difference you make between research and activism, but also today these boundaries are called into question. When I think about conversation as something where unavoidably the researcher is somehow part of the observed phenomena and when we are talking about the form of films, these conversations might also lead to certain ways of framing the films, which are inherently political and therefore my research is also – I wouldn't dare to call it activism, because for that I am somehow too detached – but at the same time it doesn't have this neutral ring you were pointing at. I.F.: I agree, I think the fact that our conversation has grown over the years and it has sustained is because of that. Because you are not in that sense detached. These are very subtle and nuanced things. Say for me to carry on this conversation I have to feel comfortable in your intelligence if I may use that word. Like I said at the very beginning it is a two way process and this process can only carry on if some sort of a dialogue is happening. It may be happening consciously or unconsciously. That dialogue demands a certain degree of respect from both sides, a certain degree of understanding [...]. It has to be a dialogue between equals. A dialogue can only be between equals, otherwise it becomes something else...18

In dem Gespräch mit Fatima wurden vor allem drei Fragen angesprochen, auf die in diesem und dem folgenden Unterabschnitt näher eingegangen werden soll: die Produktivität von Gesprächen als Methode der Wissensgenerierung, die

18 Skype-Gespräch mit Fatima, 26.10.15.

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Überschneidungen dokumentarfilmischer und akademischer Praxis sowie – eng damit verknüpft – die dialogische Eingebundenheit der Forscherin und des Forschers in das Feld. Meinem Forschungsgegenstand entsprechend ging es weniger um die performative, soziolinguistische Dimension des Sprechakts – obgleich diese immer mitgedacht werden sollte –, sondern vielmehr um die Politik der Form und die Intentionen der Filmemacher_innen, die Konfliktimagination zu öffnen. Um noch einmal auf Kevin Robins (2004) zu verweisen: Eine Annäherung mit der Mobilitätslinse soll das Denken des Neuen in eine Perspektive bringen und verlangt daher nach einer dialogischen, konversationellen Form, die Raum für Neues bietet und gleichzeitig auf die filmische Kommunikation fokussiert bleibt. Um bestimmte Vorgänge der Filmpraxis zu verstehen, erwies es sich jedoch als sinnvoll, erst in semi-strukturierten Interviews z.B. die Abläufe der Filmproduktion, die Aushandlungen mit Institutionen und die Rezeptionserfahrungen der Filmemacher_innen zu erfragen, wenn es sich vorwiegend um »Expertenwissen«19 handelte. Politische und ästhetische Aspekte der Filme konnten dagegen oft schon von den ersten Monaten der Forschung in offeneren Konversationen angegangen werden, da hier die Wissensbestände zwischen den Filmemacher_innen und mir symmetrischer verteilt waren. Wie aus dem obigen Exkurs zur Feldforschung ersichtlich, war für mich die Frage nach Distanz und Nähe methodisch interessant. Mir war es wichtig, bestimmte Filmemacher_innen, die sich intensiv mit Kaschmir befassen, nicht durch zu große Nähe zu anderen Filmemacher_innen als Ansprechpartner zu verlieren. Richard Sennett formuliert das methodische Problem der Nähe und Distanz bei Interviews folgendermaßen: »In-depth interview is a distinctive, often frustrating craft. Unlike a pollster asking questions, the in-depth interviewer wants to probe the responses people give. To probe, the interviewer cannot be stonily unpersonal; he or she has to give something of himself or herself in order to merit an open response. Yet the conversation lists in one direction; the point is not to talk like friends do. The interviewer all too frequently finds that he or she has offended subjects, transgressing a line over which only friends or intimates can cross.

19 In Experteninterviews gilt das Interesse in erster Linie dem »Betriebswissen« einer Arbeit oder dem »Kontextwissen«, das die Akteure über Institutionen besitzen (Meuser und Nagel 1991). Die Auswertung solcher Interviews zielt dabei oft auf die »Rekonstruktion spezifischer Handlungsabläufe und deren Verortung in institutionellen Kontexten oder auf die damit verbundenen Interpretations- und Deutungsmuster der befragten Experten« (Aufenanger 2006, 105).

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The craft consists in calibrating social distances without making the subject feel like an insect under the microscope« (Sennett 2004, 37–38).

Ich sehe in meiner Forschung die meisten Akteuren distanzierter, als eine Begleitung es nahelegen würde, in der die Kollaboration mit zwei oder drei Filmemacher_innen den Zugang zu anderen – und der Komplexität verschiedener Konfliktnarrationen – vielleicht auch verstellen kann. Tatsächlich spricht Sennett hier von einer Subjektposition, die – egal was sonst das Verhältnis zum anderen ist – für ein forschungsrelevantes Gespräch eingenommen werden kann. In diesem Sinne habe ich von dieser Kalibrierung der Nähe und Distanz auch bei Menschen, die mir persönlich nahe sind, Gebrauch zu machen versucht und die für Forschungszwecke nötige soziale Maske aufgesetzt. Während also die Mobilitätslinse im Dialog zwischen gegenwärtigen Fragestellungen der transnationalen Filmwissenschaften und den Filmemacher_innen in Konversationen entwickelt wurde, stellt sich die Frage, was ein solches Wissen als dialogisch, also auf Konversationen beruhend, ausweist. In dem Feld der transnationalen Filmwissenschaft liegen insbesondere mit den Arbeiten von Ella Shohat und Robert Stam dialogische Konzeptionen von filmischer Kommunikation vor. Sie sind hinsichtlich der ethnographischen Methode anschlussfähig und haben den Vorzug, eine diskursive Politik der Repräsentation einzubeziehen. Dies gilt auch für andere Konzeptualisierungen qualitativer Forschung, wie bspw. den symbolischen Interaktionismus (Denzin und Lincoln 2005). Der theoretischen und disziplinären Kohärenz halber werde ich jedoch Shohat und Stam folgend Anknüpfungspunkte zur dialogischen Anthropologie aufweisen. Kritik an dialogischen Strategien in der Anthropologie20 bezieht sich oft darauf, das Machtgefälle zwischen Ethnographen und Ethnographierten vorgeblich zu neutralisieren, während die Gewalt über den Text immer noch auf Seiten des Ethnographen verbleibt (Reinhardt 2000, 17). Thomas Reinhardt fasst die daraus folgende Frage so zusammen: »Wie aber soll es gelingen, zur selben Zeit dem Anderen eine Stimme zu geben und einen Text zu schreiben bzw. zu editieren, der den Anforderungen des Wissenschaftsdiskurses genügt?« (ebd.).

Reinhardt kommt zu dem Schluss, dass dies eine unmögliche Forderung ist. Als Ausweg verweist er auf das Kommunikationsmodell von Mikhail Bakhtin

20 Ein bekanntes Beispiel für eine dialogische Anthropologie wäre Paul Rabinows »Reflections on Fieldwork in Morocco« (1977).

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(1981). Dieses ermögliche, eine pragmatische Kommunikation zu konzeptualisieren, was vor allem eine ethische Reflexion der Forscherin oder des Forschers voraussetze. Die Äußerung der Anderen könne damit nicht »besessen«, aber gelegentlich – in den Worten des Dialogtheoretikers Michael Holquist – »geliehen« werden (Holquist 1981). Dieses Verständnis berührt auch zentrale Anliegen einer transnationalen Filmwissenschaft aus der Perspektive von Shohat und Stam (1994). Diese Autor_innen setzen sich kritisch mit filmischer Ästhetik und Politik vor dem Horizont eines Bakhtin folgenden transtextuellen, diskursiven Verweishorizonts auseinander. Auch wenn Begriffe wie »Konversation«, »Gespräch«, »Dialog« oder »Interview« als qualitative Forschungsmethoden und als epistemologische Zugänge in der qualitativen Methodendiskussion verwendet werden, sind sie je nach Art der begrifflichen Klärung in der gegenwärtigen Debatte (Brinkmann 2013; Fontana und Frey 2005; Denzin und Lincoln 2005; Gubrium und Holstein 2003; Reinhardt 2000; Denzin 2000) als performative Aspekte einer vielstimmigen, situierten und diskursiven Wissensproduktion zu verstehen, die einen reflexiven Zugang der Forscherin und des Forschers verlangen. Thomas Reinhardt schlägt daher vor, zu einem alltagsnahen Verständnis von »Dialog« als »Gespräch« zurückzukehren: »Diese Rückkehr muss keineswegs auch zwangsläufig einen Rückfall in die romantische Konzeption des herrschaftsfreien Diskurses bedeuten. Der Dialog als Gespräch kann in perfekter Symmetrie von gleichberechtigten Partnern geführt werden. Er kann der Suche nach einer den Dialogpartnern bis dahin unbekannten Wahrheit dienen. Er kann von tiefer Freundschaft statt von Macht geprägt sein. Aber er muss nichts von alledem« (Reinhardt 2000, 181).

An dieser Stelle schließen Überlegungen an, die eine filmische und wissenschaftliche Praxis in Verbindung setzen und deren Zusammenspiel betrachten.

Interview und Dokumentarfilm: Überschneidungen wissenschaftlicher und filmischer Praxis Durch den Bezug auf imaginative und intellektuelle Mobilität ging es mir nicht darum, alltägliches Praxiswissen aufzurufen, sondern das Gespräch mit den Filmemacher_innen weiterzuentwickeln. Dies geschah nicht zuletzt aus der Erwägung, Abgrenzungen zwischen Praxis und Theorie in Bezug auf empirische Überscheidungen des akademischen und filmpraktischen Feldes zu lockern.

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Interviews und Konversationen sind auch ein wichtiges Element der dokumentarfilmischen Forschungspraxis und Form. Hier besteht eine eigenständige Tradition, die methodologische und ethische Überlegungen mit einem Auge bzw. Ohr für die audiovisuellen Spezifika des Mediums und seiner Repräsentationsformen verbindet (Wayne 2008). Chris Berry (2010) verweist auf die Zunahme anthropologischer Forschungstechniken nach dem digital turn in unabhängigen Dokumentarfilmen in China, die oft lang dauernde Feldforschungen beinhalten. Schon Mitte der 1990er Jahre wiesen George Marcus und Fred Myers (1995) darauf hin, dass anthropologische Arbeitsweisen sich immer mehr entwickeln zu »one of the main sites for tracking, representing, and performing the effects of difference in contemporary life« (ebd., 1). Julian Stallabras (2013) bemerkt, dass sich – mit der neuen Proliferation und Popularität von dokumentarfilmischen Formen – auch Künstler_innen zunehmend mit der Herstellung von Zeugenschaft in Zeiten gegenwärtiger, durch den Neoliberalismus und den »War on Terror« geförderten Unsicherheiten auseinandersetzen (Stallabras 2013, 14). Steffen Köhn (2016) verweist in seiner Darstellung der Überschneidungen von künstlerischen Praktiken und anthropologischer Forschung auf den ethnographical turn unter Künstler_innen (bspw. Alfredo Jahr, Lothar Baumgarten und Susan Hiller) – insbesondere der conceptual art – die auf ethnologische21 Methodologien der Konversation, auf dem Interview und der teilnehmenden Beobachtung beruhen. Ähnliches ist bei allen hier im Detail zu besprechenden Filmpraktiken zu beobachten, deren Produktionen sich oft über Jahre hinziehen und die sowohl tief in der politischen Landschaft des Kaschmirtals als auch in globalen Dokumentarfilmdebatten zu verorten sind. Insbesondere Nicole Wolf (2007) beschäftigt sich aus einer anthropologischen Perspektive mit der Frage situierter Wissensproduktion in Hinblick auf politische Dokumentarfilmpraktiken in Mumbai. Ihre Arbeit setzt eine Nähe zu den Filmemacherinnen voraus und spiegelt sich in den zu besprechenden Filmen und Filmpraktiken: »Through a constant mirroring effect (as in similar and yet different), my seemingly constant and immediate implication in what I was researching, I became haunted by thinking through the implications this might have on my particular knowledge production through these encounters. What was supposed to be subject and object of research

21 Diese qualitativen Praktiken sind jedoch nicht notwendigerweise »ethnologisch«, sondern als qualitative Forschung genauso in der Soziologie und den Kultur-und Medienwissenschaften anzutreffen (siehe bspw. Holstein und Gubrium 2003; Denzin 2005).

80 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT interviews became conversations between cultural producers engaged in researching, questioning, filing, structuring and editing other people’s lives, producing various kinds of films or texts« (Wolf 2007, 33).

Zuletzt sind in den Dokumentarfilmstudien mit Bezug zu Indien einige Gespräche veröffentlicht worden (Sen und Thakker 2011; Sarkar und Wolf 2012). Nadja-Christina Schneider stellt in diesem Zusammenhang fest: »Contrary to feature films, this discussion is led not just by academic circles, but also by documentary filmmakers themselves, who are often motivated and interested in contributing to and promoting the academic study of the past and present of the documentary film in India« (Schneider 2015b, 185).

Die hier ausgeführten Überlegungen verweisen also darauf, dass eine dialogische Wissensproduktion in der transregionalen Medienforschung ein Gespräch auf Augenhöhe schon deshalb nahelegt, da Filmemacher_innen und Akademiker_innen eine gemeinsame, theoretisch geprägte Sprache sprechen. So muss auch das in dieser Untersuchung elaborierte Wissen zur Form des Dokumentarfilms vor dem Hintergrund dieser dialogischen Forschungsweise verstanden werden.

A NALYSEN

DER

F ILMFORM

ALS MOBILE

Z EUGENSCHAFT

»What is clear is that through the course of the twentieth century, film and video became increasingly important vehicles of memory; and as we enter the twenty-first, the digital revolution has made video such a powerful, accessible and affordable medium that it will become more and more vital as a form of witnessing of current events and therefore of future historical evidence« (Waterson 2007, 52).

Das Zitat der Filmanthropologin Roxana Waterson verweist darauf, dass durch das Aufkommen des digitalen Films neue Formen medialisierter, öffentlicher Zeugenschaft möglich werden. Der Dokumentarfilm ist jedoch schon seit langem als eine auf Zeugnis ausgerichtete Form ausgewiesen; in diesbezüglichen filmtheoretischen Überlegungen spielt jedoch die Medialisierung des Films bislang eine untergeordnete Rolle.

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Die auf den ersten Blick etwas seltsam anmutende Formulierung »mobile Zeugenschaft«22 soll im Rahmen dieses Buches auf die Strategien der Filmemacher_innen verweisen, die umkämpfte Vergangenheit und mögliche Zukunft des Kaschmirkonflikts an der Schnittstelle von Öffentlichkeitsarbeit, multiplen Formen von Mobilität und der Politik der Filmform als kommunikativem Vermittlungsprozess zu analysieren. Dieses Verständnis einer durch multiple Formen der Mobilität vermittelten Zeugenschaft hebt sich ab von der common senseRezeption des Zeugnisses als passive Ressource der Wahrheitsfindung. In der Dokumentarfilmforschung führte eine jahrzehntelange Debatte23 zur Prüfung epistemologischer Protokolle, die den Realitätsstatus des dokumentarfilmischen Bildes entweder bekräftigen oder radikal in Frage stellen (Corner 2014, 205; kritisch hierzu Bruzzi 2006).24 Eine Mobilitätslinse fokussiert dagegen auf die Filmemacher_innen als Akteure sowie auf den durch ihre physische Mobilität ermöglichten Vermittlungsprozess, durch den die Filme zur Performanz eines Zeugnisses werden, das zwi-

22 Damit kommt meine Definition nahe an Sarkars und Walkers Begriff der »moving testimonies: […] the faces and voices that emanate from close or distant locations; the sounds and images that animate our ubiquitous screens; the archives we establish and the histories we resuscitate. These are the new assemblages that compel us to bear witness, move us to anger or tears, and possibly mobilize us to action for social justice« (Sarkar und Walker 2010, 5). Im Gegensatz zu diesen beiden Autor_innen betone ich dagegen weniger die »Bildseite« der »assemblages«, sondern die Akteurseite der Mobilisierung und Artikulation von Zeugnissen, in der die Form stets an die Intentionen der Filmemacher_innen rückgebunden bleibt. 23 Einen Überblick über diese – vor allem über das Verhältnis des dokumentarfilmischen Bildes und seines kognitiven Status geführten – Debatte gibt Platinga (2002). Hinsichtlich der Geschichte des Dokumentarfilms und der Auseinandersetzung mit dem Realitätsstatus siehe Winston (2008) und Nichols (2001). Ein Überblick der rezenten Infragestellung des kognitiv-typisierenden Paradigmas innerhalb der Dokumentarfilmforschung findet sich bei Corner (2008) und Bruzzi (2006). 24 Hier kommen natürlich auch die eng verwandten semantischen Felder von »Beweis«, »Zeugnis«, »Fakt« und »Dokument« zum Tragen. Im Duden beispielsweise wird die Bedeutung von Zeugnis als »etwas, was das Vorhandensein von etwas anzeigt, beweist« angegeben. Mit diesem Vorhandensein ist ein ontologischer Zustand der »Präsenz« gemeint und mit »beweisen« eine Handlung, die einen Nachweis liefert oder etwas aufzeigt (ebd.). Alle diese Begriffe der deutschen Sprache beinhalten also bereits eine semantische Ebene, die sich auf die Handlung von Akteuren bezieht, Zeugnis herzustellen.

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schen Filmemacher_in und Zuschauer_innen ausgehandelt wird. Mit dem Begriff der mobilen Zeugenschaft wird der Fokus also sowohl auf die physische Mobilität von Filmemacher_innen, Filmen und filmischen Netzwerken als auch auf die Medialisierung gelegt, welche die Herstellung einer ästhetischen Form und ihre Rezeption durch die Performanz des Films beinhaltet. In diesem Sinne verwende ich in diesem Buch oft die Formel, dass Zeugnisse (physisch, emotional, intellektuell und imaginativ) »mobilisiert werden«.

Filmform In den Konversationen mit den Filmemacher_innen kam die Rede oft auf die Möglichkeit, »neue Bilder« über die Konfliktregion Kaschmir zu schaffen. Aber wie versteht man nun solche neuen Bilder als Aspekt der Filmform? Ich folge hier der Theoretisierung von »Form«, wie sie in den Cultural Studies vorgelegt wird. Diese geht davon aus, dass mediale Formen als materiell-kulturelle, politische und soziale Prozesse analysiert werden sollten (Williams 1974). John Corner (2011) fasst hinsichtlich der Form drei ineinander verschränkte Momente zusammen, die allesamt die Inhalt-Form-Dichotomie hinter sich lassen: Organisation, Artikulation, Aufnahme. Die »Organisation« befasst sich sowohl mit der Produktion der Form als auch mit der Verfestigung des kulturellen Artefakts. Die »Artikulation« dagegen beschäftigt sich mit der Performanz und Prozesshaftigkeit und die »Aufnahme« fokussiert auf das Engagement hinsichtlich der Form durch die Rezipient_innen sowie ihrer Verortung in einer weiteren medialen Landschaft (Corner 2011, 50). Diese drei Momente gehe ich über die Medialisierung vorwiegend von »Filmbildern« und »Sequenzen« an. Damit möchte ich nicht die akustische Dimension der filmischen Kommunikation vernachlässigen, sondern den Debattenschwerpunkten der öffentlichen Filmrezeptionen sowie meiner Konversationen mit den Filmemacher_innen folgen, die sich vorwiegend auf Aspekte einer visuellen Kultur beziehen. In einer solchen Analyse geht es nicht um eine möglichst vollständige Beschreibung des Filmbildes oder einer audio-visuellen Sequenz. Vielmehr handelt es sich um »eine intersemiotische Übertragung eines Teils eines filmischen Diskurses in eine sprachliche Paraphrase« (Möller 1984, 50). Jeder Mensch, der einen Film verstehen will, nimmt solche Übertragungen vor. Es stehen dabei »explorative Analysen« (Wulff 2006, 233–234) im Vordergrund, die selbst theoriefähig sein können und nicht theoretisch auf das Bild »angewandt« werden (ebd.). Wie schon das Konzept der mobilen Zeugenschaft als formanalytische Perspektive aus der Auseinandersetzung mit den Praktiken

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der Filmemacher_innen und den rezenten Entwicklungen transnationaler Filmwissenschaft hervorgegangen ist, werden auch die Analysen und die Potentiale der Bilder in Gesprächen erprobt. Dies wiederum spiegelt das explorative Verständnis der Dokumentarfilmschaffenden, die zumeist selbst die Aushandlung ihrer Filme mit Zuschauer_innenschaften als multisensorische explorative Prozesse auffassen. Diese Prozesse beinhalten als Teil ihrer kommunikativen Form die Schaffung von Öffentlichkeit.

Öffentlichkeiten, Mobilität und Zeugenschaft Die Zeugenschaft ist mobil, da für die Filmemacher_innen eine räumlich gefasste Öffentlichkeit, der sie zeigen können, was es bedeutet, im besetzten Kaschmirtal zu leben, nicht einfach gegeben ist. Sie schaffen durch ihre Mobilität, durch das Begleiten ihrer Filme, durch die von ihnen geschaffene Form der Filme und durch die diskursiven Rahmungen von Vorführungen auf Festivals, in Film-Clubs und Universitäten eine von mobilen Praktiken hervorgebrachte Sichtbarkeit des Konflikts. Während ein Produzent des kommerziellen HindiFilms oder einer TV-Nachrichtensendung darauf bauen kann, eine Infrastruktur für die Distribution vorzufinden, die ihre (trans-)nationale Zirkulation sicherstellt, haben unabhängige Dokumentarfilmemacher_innen kaum Zugang zu etablierten Distributionskanälen. Mit der Videotechnologie etablierten sich alternative Distributionsmöglichkeiten und Produktionsinstitutionen, insbesondere im NGO-Bereich und an Universitäten (Battaglia 2013). Seit den späten 1990er Jahren erweitern digitale Technologien – insbesondere digitale Projektoren, Festplatten, günstige und gute Kameras sowie Schnittsoftware – diese Möglichkeiten alternativer Distribution und Produktion. Immer mehr Filmemacher_innen können die indische Zensur völlig umgehen und durch neu geknüpfte Netzwerke mit Film-Clubs und politischen Aktivist_innen alternative Öffentlichkeiten 25 mitgestalten.

25 Die normative, universalistische Ausrichtung von Habermas’ Konzept der »bürgerlichen Öffentlichkeit« ist von etlichen Theoretiker_innen kritisiert worden, wobei auf die impliziten Ausschlüsse dieses Modells aufmerksam gemacht wurde (Kluge und Negt 1972; Fraser 1992; Warner 2002). Alexander Kluge und Oskar Negt fragen in »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972), wie gesammelte Erfahrungen in ihrer »Klassenspezifik« vermittelt werden können. Dazu bedürfe es auch spezifischer Öffentlichkeiten, die von Habermas’ normativer bürgerlicher Öffentlichkeit überflogen werde, da diese sich nicht auf einen Produktions-, sondern auf einen Distributionszusammen-

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Um dieser Dynamik in Hinblick auf den Fokus des Kapitels näherzukommen, ist ein Begriff nötig, der sowohl die Zeugenschaft einer dokumentarfilmischen Praxis als mediale Vermittlung als auch die Repräsentation von Öffentlichkeit zusammenbringt. Stephan Coleman und Karen Ross (2010) schlagen den Begriff der »öffentlichen Zeugenschaft« (ebd. 20) vor, um eine Performanz anzusprechen, die gleichzeitig ein mediiertes Bild ihrer Öffentlichkeit konstruiert: »To give witness, in the sense of translating the sensation of direct observation into words or images that can be shared by others who then become vicariously complicit in an indirect experience, is what makes humans historically conscious animals« (Coleman und Ross 2010, 20).

Dieser Prozess verweist auf eine »mediated publicness« (Thompson 1995), die immer schon repräsentierter, öffentlicher Raum ist, in dem unbekannt adressierte »Fremde« (Warner 2002, 417-418) zu Zeugen der Erinnerung und Geschichte des Kaschmirkonflikts werden.

Öffentlichkeit und Filmform Öffentlichkeit kann also nicht von der multisensorischen Praxis der Filmform getrennt werden. Sarkar und Walker (2010) stellen in einer Erörterung des Zusammenhangs von Archiven und Dokumentarfilmzeugnissen zwei Fragen, die – sobald sie hinsichtlich »mobiler Zeugenschaft« durch eine Akteursperspektive betrachtet werden – für meine Fragestellung anschlussfähig sind: »What are the corporeal and performative dimensions of testimony? And how do they compensate for or exacerbate the frailty of memory [?]« (Sarkar und Walker 2010, 3). Eine mobile Zeugenschaft kann daher auch als eine Bewegung an den Grenzen des Persönlichen und der Materialität des audiovisuellen Materials verstanden werden. Kleine digitale Dokumentarfilme ermöglichen einen sehr persönlichen – oft autobiographischen – Zugang zu Konfliktnarrationen. Allerdings kann es misslingen, persönliche Erinnerungen und filmische Sequenzen vor den Zu-

hang beziehe (ebd. 17). Erst durch eine »Proletarische Gegenöffentlichkeit« entstehen die Bedingungen der Möglichkeit, die Erfahrungen bspw. von Fabrikarbeiter_innen in ihrem »Lebenszusammenhang« (ebd. 24) anderen Menschen zu vermitteln. Für meine Arbeit ist die Einsicht von Negt und Kluge relevant, dass Erfahrungen auf spezifische Art und Weise öffentlich werden müssen, um bezeugbar zu sein.

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schauer_innen als Bezeugung der Konfliktgeschichte und Erfahrung zu authentifizieren (eine Problematik, die ich besonders im sechsten Kapitel ansprechen werde). Eine mobile Zeugenschaft ist immer ein Streit um eine Auslegung von Geschichte. Sie wird durch die imaginative Mobilität (Robins 2004) der Filmemacher_innen in eine filmische Form gebracht, die ihre Adresse in einer weiteren poetischen Praxis mit den erst möglichen und auch den bereits repräsentierten Öffentlichkeiten sowie den Arten des »Öffentlichmachens« (McLagan und McKee 2012, 10) des Films verknüpft. Diese Art der Zeugenschaft mobilisiert politische Subjektivitäten und berührt die Zuschauer_innen emotional. Sie codiert öffentliche Räume, in denen bezeugt wird, als ethische und politische Räume. Dies wiederum stellt gleichzeitig eine Gefahr und ein Potential für die Filmemacher_innen dar. Empörte hindu-nationalistische Gruppen greifen dieses Potential affektpolitisch auf und versuchen die Filmemacher_innen zu beschämen oder ihre Vorführungen durch publizitätswirksame Proteste zu unterbinden.26 Zuschauer_innen werden durch diese Zeugnisse über Kaschmir oft in per-

26 Die Debatte über Politik und Affekt in indischen Medienlandschaften wurde bislang vorwiegend in Bezug auf die Thematik der Zensur geführt (Liang 2003; Ghosh 2010; Mazzarella 2013). Der Begriff »öffentlicher Affekt« wird von William Mazzarella (2013) in Anlehnung an die Affektforschung von Brian Massumi (2010) für ein bestimmtes Potential einer wiederholbaren aber schwer einschätzbaren Politik verstanden, in der es um die Realisierung von emotional vorgetragenen Inszenierungen geht, die in einem Sensorium stattfinden, in dem eine Massenzuschauerschaft von Fremden (Warner 2002) impliziert ist. In den Massumi folgenden Affektforschungen wird ein Gegensatz zwischen Affekt und Emotion postuliert. Emotionen sind in dieser Forschung im Gegensatz zu Affekt bereits symbolisch ausgestaltet. In dem Kontext meiner Forschung macht ein solcher Gegensatz epistemologisch keinen Sinn. Allerdings können die Begriffe heuristisch für verschiedene kommunikative Momente verwendet werden. Ich verwende daher den Begriff »Affekt« nur dort, wo es um ein weitestgehend unplanbares Potential geht – also nicht in Bezug auf die Produktion der Form, aber als eine Reflexion auf bestimmte Proteste, die sich realisieren können, ohne dass Menschen mit etwas anderem als dem Hörensagen oder digitaler Kommunikation über »eine Filmvorstellung, die für die Separatisten ist« eine Filmveranstaltung zum Schauplatz für eine politische Inszenierung zu machen versuchen. Da diese Inszenierung an den Rändern einer kommunikativen Form angelegt ist, kann es hier Sinn machen, von »Affekt« zu sprechen. Ansonsten bin ich der Auffassung, dass für eine Arbeit, die sich mit einer »emotionalen Mobilisierung« beschäftigt, ein Begriff der »Emotion« als schon immer schon auch symbolisch verarbeiteter kommunikativer

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sönliche Sinnkrisen gestürzt, während von den Filmemacher_innen eine ständige Wachsamkeit gegenüber den affektpolitischen Potentialen ihrer Filme gefordert ist.

Form genügt. Ontologische und erkenntniskritische Fragestellungen dürfen an dieser Stelle der Philosophie überlassen werden (Ich möchte mich für eine begriffliche Klärung bei den Teilnehmer_innen des Colloquiums »South Asia and Beyond«, Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin, bedanken).

Ein Filmkörper in Bewegung

In diesem Kapitel gebe ich einen Überblick über thematische und formale Trends in einem rasant wachsenden Körper von Filmen, die sich auf den Kaschmirkonflikt beziehen und unabhängig produziert wurden.1 Das Wort »Körper« sieht zunächst wie eine etwas unglückliche Übersetzung des englischen Begriffs »body« aus, im Sinne von einem »body of works«. Es steht gleichzeitig in markierter Differenz zum technischen Begriff »Korpus«, unter dem eine für Forschungszwecke generierte Datenbank an »Texten« verstanden wird. Der etwas ungewohnte Begriff sticht also selbst körperlich aus dem Text hervor. Das Unbequeme soll hier heuristische Zwecke erfüllen. In seinem linguistischen Sinne wird ein Korpus nach Kriterien erstellt und dann nach einer repräsentativen Kategorienbildung analytisch zerteilt. Er funktioniert extensiv, indem er Verteilungen in ihrer Breite und Repräsentativität bestimmt. Dann wären den jeweiligen Vorkommnissen als Instanzen von vorher festgelegten Kriterien wie auf einer durch die Fragestellung aufgefalteten Landkarte bereits Orte zugewiesen. Das Wort Körper ist zunächst alltäglicher als Korpus. Er ist die verbindende und trenne Wahrnehmungsschnittstelle zu unserer Umgebung. Gleichzeitig ist er die Bedingung und die Grenze unseres Sensoriums. Die andere Seite dieser Schnittstelle war ich als Forscher und Rezipient von Dokumentarfilmen selbst: derjenige, der mit diesem Körper von »Dokumentarfilm und Kaschmir« in Berührung kam. Er ist also eine kommunikative Größe und entsteht in Vermittlung durch mediale Formen: die Filme, die hier besprochen werden, haben mich erreicht, als jemanden, der in den Netzwerken des professionellen Dokumentarfilms in Indien und darüber hinaus gezielt nach ihnen

1



Auf die Repräsentationen Kaschmirs im Hindi-Film wird im folgenden Kapitel gesondert eingegangen.

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suchte (bspw. durch regelmäßige online-Schlagwortsuchen oder durch Gespräche mit Filmemacher_innen). Wie ich im letzten Kapitel sagte, überschneiden sich in der Medialisierung von Filmen kommunikative Ereignisse mit Präsentationsformen. Ich bespreche also vorwiegend Filme, die es aus dem einen oder anderen Grund geschafft haben während der letzten Jahre Teil von Debatten über »Film und Kaschmir« zu werden. Dies können sehr unterschiedliche Gründe sein, zum Beispiel journalistische Debatten zur Redefreiheit, die formale Komplexität eines Films, Auszeichnungen in Filmfestivals oder auch Aufsehen innerhalb der Netzwerke unabhängiger Filmpraxis. Schließlich werde ich in diesem Kapitel zum Teil auch solche Filme erwähnen, die im Jahr 2013 während meiner Feldforschung auf Festivals oder anderweitig diskutiert wurden, deren Unabhängigkeitsstatus jedoch stark umstritten ist. Es liegt mir also fern, eine Dichotomie zwischen intensiver, qualitativer Methodik und extensiver korpusbasierter Forschung aufzubauen (siehe den Abschnitt zu mobilen Methoden im vorausgehenden Kapitel). »Körper« ist in diesem Kontext vielmehr ein technischer Begriff, der es mir gestatten soll, diese Momente zusammenzudenken. Zum Schluss des zweiten Kapitels erwähnte ich, dass einigen reflexiven Stimmen ein epistemologisches Vorrecht gewährt werden soll. In der Einleitung sprach ich jedoch davon, dass meine Auswahl der Filme nicht in erster Linie aufgrund ihrer Repräsentativität getroffen wurde, sondern hinsichtlich der Intensität der Auseinandersetzung der Filmemacher_innen mit dem Kaschmirkonflikt und der Form des Dokumentarfilms während der Zeit meiner Feldforschung im Jahr 2013. Diese Relevanzkriterien – also Intensität, Reflexivität und Repräsentativität – können nicht getrennt voneinander betrachtet werden: eine Reflexivität gegenüber den die Filme umgebenden Diskursen kann nicht gegen das jeweils Einzigartige der individuellen Artikulation und der kommunikativen Form abgegrenzt werden. Vielmehr beansprucht ein Verständnis der Reflexivität der Filmemacher_innen, dass sich durch sie eine Öffnung zwischen den die Filme umgebenden Diskursen, Darstellungsweisen und Erzählungen ergibt. Aber wie können diese Filme übersichtlich präsentiert werden, ohne dabei Kategorien zu verdinglichen? Kevin Smets (2015) beispielsweise bildet in seiner Studie zum Konfliktkino an den Konflikt- und Friedensforscher Johan Galtung angelehnte Kategorien. Wie ich im vorletzten Kapitel besprochen habe, beinhalten diese Typisierungen bspw. das »kämpferische Kino«, das »Opferkino« und das »Menschenrechtskino«. Meine Kritik war, dass diese Typisierung nicht hilfreich ist, wenn man die ästhetischen, öffnenden Potentiale filmischer Praktiken in den Blick bekommen möchte. Aber auch zur Kontextualisierung eines Film-

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körpers in Bewegung scheinen sie mir nicht brauchbar, da Smets sie direkt aus der Konflikt- und Friedensforschung übernahm und gerade nicht – wie er eigentlich mit Bezug auf die Cultural Studies forderte – auf die Vermittlungspraxis der Filmemacher_innen bezog. Ich versuche hier, einen etwas anderen Weg zu gehen. Um einem Filmkörper Konturen zu geben, müssen notwendigerweise Einschnitte gemacht werden. Es müssen kontingente Grenzen zwischen bestimmten thematischen Trends und formalen Ansätzen gezogen werden. Diese Schnitte möchte ich jedoch erst aus den konkreten, empirisch beobachtbaren Debatten gewinnen. Statt »Kategorien« im korpuslinguistischen Sinne zu verwenden, sollen hier durch die im letzten Kapitel ausgeführte Methodologie »Tropen« vorgestellt werden, unter denen die Filme in meiner Begleitung und in dem Kommunikationsraum, in dem ich mich bewegte, ausgehandelt wurden. Wenn ich von Tropen wie »Exil der Kashmiri Pandits« oder »Menschenrechtsfilme« spreche, meine ich also nicht analytische oder inhaltliche Kategorien, sondern Begriffe, die den hier vorzustellenden Filmen in ihrer gesellschaftlichen Vermittlungspraxis diskursiv zugewiesen wurden. Diese Tropen erschlossen sich mir erst in der Begleitung, in der intermedialen Rahmung von Filmen und im Gespräch mit Rezipient_innen und Filmemacher_innen. Daher kann dieses Kapitel nicht ganz ohne die Erwähnung solcher Filme auskommen, die in einem stärker regulierten Umfeld produziert wurden. Obgleich dazu auch Hindi-Filme gehören, verzichte ich hier auf ihre Nennung und verweise die/den Leser_in auf die ausführliche Darstellung im nächsten Kapitel.

Erste Abgrenzungen Wenn nicht einige ordnende Entscheidungen getroffen werden, wächst jeder Körper an Filmen ohne Selektion ins Unüberschaubare. Alleine an Filmschulen wie dem Baramulla Medieninstitut der Kashmir University oder der MCRC der Jamia Millia Islamia, Neu-Delhi, werden jedes Jahr eine große Anzahl von M.A.-Abschlussfilmen zum Konflikt weitestgehend unabhängig produziert. Dazu kommt noch der rasant wachsende Output an videojournalistischen Beiträgen und Kurzvideos von Bürgerjournalist_innen und Prosumers – also Konsumenten, die selbst produzierend aktiv werden. Selbst einige zum Teil hochkontroverse Videos, die von indischen Soldaten angefertigt wurden, finden sich auf Plattformen wie YouTube und Facebook. Auch investigative, video-journalistische Dokumentarfilme werden in diesem Buch nicht näher betrachtet. Hierzu kann man den von Channel 4 produzier-

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ten Film »Kashmir Torture Trail« (2012), den von Al Jazeera produzierten »Kashmir: born to fight« (2017) und den ScoopWhoop Beitrag »Inside A Friday Protest« (2016) zählen. Diese Beiträge zeichnen sich durch investigativ auftretende Filmemacher_innen/Videojournalist_innen aus, die sich oft in gewalttätige Konfliktsituationen, etwa bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten, begeben. Dabei interviewen sie in der direkten Umgebung dieser Protestorte Teilnehmer_innen. Es ist zu beobachten, dass, trotz der Möglichkeit des Bürgerjournalismus und direkten Postings auf YouTube, die Inhalte von professionellen Medienunternehmen durch ihre stärkere Vernetzung und ihr offline-Kapital in der Regel größere Sichtbarkeit erhalten (Khan und Vong 2014, 633). Die Klickzahlen auf YouTube deuten zumindest auf eine Diskrepanz zwischen unabhängig produzierten Dokumentarfilmen einerseits und den Produktionen Al Jazeeras, ScoopWhoops und Channel 4s andererseits. Der Film »Kashmir Torture Trail« wurde während meines Aufenthalts auf dem JNU Campus von einer kaschmirischen Studentengruppierung für eine politische Filmveranstaltung mit späterer Diskussion verwendet. Auf meine Frage, warum sie nicht einen unabhängigen Dokumentarfilm kaschmirischer Filmemacher_innen gewählt hätten, der mit ihrer Perspektive auf den Konflikt übereinstimme, sagte mir ein Organisator, dass Channel 4 als britischer Kanal eine gewisse Neutralität und Seriosität impliziere. Diese könne nicht von kaschmirischen Filmemacher_innen erzeugt werden. Die Ränder des Dokumentarfilmgenres sind bekanntlich fluid. Falls alle Formate, deren Aktualitätsaufnahmen mit dokumentarischem Anspruch einhergehen (wenn auch nicht unbedingt mit dem Anspruch des »Films«), in den Filmkörper aufgenommen würden, wäre seine Stabilisierung ausgeschlossen. Auch wenn diese Videos Zeugenschaft ästhetisch inszenieren und politisch mobilisieren, fehlt ihnen oft der Moment des kreativen Umgangs mit der filmischen Form. Zudem sind die Akteure der Videos und videojournalistischer Beiträge zumeist nicht als professionelle Filmemacher_innen sichtbar, stellen sich selbst nicht so dar und erheben in der Regel keinen mit den unabhängigen Filmemacher_innen vergleichbaren Anspruch auf die Form sowie auf die Komplexität und Spezifik der dokumentarfilmischen Kommunikation. Sie wurden entsprechend in den Netzwerken, in denen ich mich bewegte, nicht thematisiert und traten auch in Pressebesprechungen nicht als Dokumentarfilme in Erscheinung.

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Kashmir Before Our Eyes Im Jahr 2013 wurde mit dem fahrenden Filmfestival »Kashmir Before Our Eyes« eine große Anzahl von Dokumentarfilmen wiederholt gezeigt und öffentlich besprochen. Ich möchte hier auf das Festivalprogramm eingehen, um ein praktisches Beispiel der Politik thematischer Tropen in ihrer Verwendung als kuratorische Kategorien zu geben. In der Eröffnungsrede des Festivals in Mumbai (31.04. – 02.05.13) sprach Ajay Raina als einer der Intendanten davon, dass das Festival versuche, die in sozialen Netzwerken, Zeitungen oder im Fernsehen geführten Debatten durch einen Blick »durch die Augen kaschmirischer Künstler«2 zu hinterfragen. Die Auswahl der Filme sollte die Ereignisse des Konflikts seit 1947 chronologisch widerspiegeln. Das reisende Festival fand in Kulturinstitutionen in Thrissur und Pune, in der Hyderabad University und dem Lamakaan Kulturzentrum Hyderabad, dem Asian College of Journalism in Chennai, Pondicherry University und an der JNU, Delhi, statt. In Mumbai fand es im Gebäude der Films Division of India (FD) im Stadtteil Malabar Hill als Teil der FD-Open Zone statt.3 Viele der in diesem Unterabschnitt angesprochenen Filme werden im weiteren Verlauf des Kapitels noch genauer vorgestellt. Zunächst soll hier nur der Zusammenhang mit der Politik der kuratorischen Kategorien interessieren. In Mumbai begann das Festival mit der Kategorie »Roots of the Conflict: The Nationalist Discourse«, in der staatspropagandistische Filme der Films Division of India gezeigt wurden. Die Dokumentarfilme »A Diary of Aggression« (1966) und »Aatish-e-Chinar« (1998) verorten den Ursprung des Konflikts in der indischen Imagination. Beide Filme greifen ein staatliches Narrativ auf, das von den 1950er Jahren bis heute durch die Trope der »Invasion tribaler muslimischer Kämpfer« erzählt wird (Gaur 2010). In Reaktion auf diese sogenannte »tribal invasion« wurde demnach der Vertrag zum Anschluss an die indische Union durch Hari Singh, dem letzten Dogra-Maharadscha, unterschrieben. Die beiden Filme beschäftigen sich also mit der Legitimation des indischen Anspruchs auf das Territorium von Jammu und Kaschmir. Der nächste Tag eröffnete mit der Kategorie »Paradise: Kashmir then and now«, in der Filme gezeigt wurden, die die Landschaft des Tals rühmen (»Before My Eyes« 1988 von Mani Kaul und »Loolab« 1990 von Moinuddin Mirza). Ein Film wie »Before My Eyes« – namensgebend für das Festival – würde heute

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Rede Rainas auf dem KBOE in Mumbai am 01.05.2014.

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Die Films Division führte nach einem Wechsel in der Führung ab 2011 FD-Zones ein, die in enger Kollaboration mit unabhängigen Filmemacher_innen kuratiert werden (Jayasankar und Monteiro 2016, 11).

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in dem Dokumentarfilmgenre, das Landschaften von oben darstellt, ohne größere Beachtung bleiben (Hörl und Hampel 2014). Es handelt sich um eine Ballonfahrt des Filmemachers Mani Kaul, während der die Landschaften des Tals taktil durch die darüber gleitende Kamera aufgezeichnet und dem Blick des Filmemachers und Zuschauers zur Verfügung gestellt wird. Mit Abir Bazaz’ und Meenu Gaurs »Paradise on a River of Hell« (2002) folgte ein Film, der die Landschaft des Tals nicht voyeuristisch auflädt, sondern allegorisch durch die Erinnerungen an die Konfliktgewalt problematisiert. In der nächsten Kategorie »Exile/Disappearance/Dislocation« wurden neben »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2001) Siddharta Gigoos fiktionaler Kurzfilm über Exillager kaschmirischer Pandits »The Last Day« (2013) und zwei Filme mit Bezug zu Frauen im Konflikt gezeigt: Iffat Fatimas »Where Have You Hidden My Crescent Moon« (2009) über die ‚Verschwundenen« und Sonia Jabbars »Autumn’s Final Country« (2003) über Vertreibung. Der letzte Tag begann mit der Kategorie »Azadi«, in der »Jashn-e-Azadi«, Sanjay Kaks Film über kaschmirische Forderungen nach politischer Selbstbestimmung, gezeigt wurde, direkt gefolgt von einem Propagandafilm der Jammu Kashmir Liberation Front »Flight Over the Cease Fire Line« (undatiert). In der letzten Kategorie »Marginalisations« wurde neben Pankaj Rishi Kumars Film »Pather Chujaeri« (2001) über ein satirisches Theater und Rajesh Jalas Erzählung über seinen schizophrenen und exilierten Verwandten in »23 Winters« (2013) auch Ajay Rainas Film über den Alltag von Menschen an der Line of Control »Apour ti Yapour. Na Jang Na Aman. Yeti Chu Talukpeth« (2011) gezeigt. In späteren Ausgaben des Festivals wurden einzelne Filme anderen Kategorien zugeordnet. Diese Bewegungen der Filme durch das Programm von KBOE zeigt die politische Natur dieser kuratorischen Entscheidungen auf. In Hyderabad etwa wurde Sanjay Kaks Film »Jashn-e-Azadi« zu Beginn in der Sparte »nationalistischer Diskurs« präsentiert,4 während im selben Festival der Film »Inshallah Kashmir« (2012) von Ashvin Kumar in die āzādī-Kategorie einrückte. Die gemeinsame Thematisierung der »Verschwundenen« des Tals zusammen mit Filmen über das Exil der kaschmirischen Pandits öffnet eine geteilte Perspektive auf die konfliktbedingten Verluste. Die Vorstellung von »Jashn-eAzadi« in der Kategorie des »nationalistischen Diskurses« einerseits und im Zusammenhang mit einem JKLF-Propagandafilm andererseits (in Abwesenheit des Filmemachers) lässt den Film »Jashn-e-Azadi« innerhalb des Festivalrahmens in Mumbai als extrem erscheinen. Dort war er sowohl an den thematischen als auch

4

Vielleicht auch, weil Kak dort, im Gegensatz zum Mumbai-Festival, persönlich anwesend war.

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an den zeitlichen Rändern des Festivals angesiedelt. Abir Bazaz’ und Meenu Gaurs Film wurden nur beim ersten KBOE-Festival in Mumbai gezeigt. Bazaz, der die Rahmung des Films beim KBOE als problematisch auffasste, bat die Veranstalter darum, den Film nicht mehr zu zeigen.5 Der Filmemacher sah vor allem die Gefahr einer nostalgischen Lesart seines Films. Diese, so Bazaz, biete sich aufgrund dessen poetisch-allegorischer Form an und werde durch das Zeigen in der Sparte »Paradise: Kashmir then and now« noch bestärkt. Dabei hatte das Festival selbst durch die Auswahl der Veranstaltungsorte, die das Territorium des indischen Nationalstaats widerspiegeln, eine gewisse Homotopie mit den verhandelten Kategorien geschaffen: das Festival bereist die Konturen der indischen Nation und findet in Institutionen mit nationalem Prestige statt. Deshalb verwundert es nicht, dass einige Zuschauer_innen die implizierten Augen des »unser« in »before our eyes« als »wir Inder« ansahen.6

T ROPEN Der Filmkörper resultiert aus Relevanzkriterien, die aus der Medialisierung der Filme abgeleitet werden: ihre Thematisierung in Zeitungen und Blogs, ihre Aufnahme in Festivalprogramme und schließlich meine Anwesenheit während der Performanz von Filmen in den Jahren 2013 und 2014. Fünf Tropen haben sich während meiner Forschungszeit als verbreitet genug erwiesen, dass sie hier zur überblicksartigen Organisation der Materialien dienen können, aus denen sich der Filmkörper zusammensetzt. Einige von ihnen überschneiden sich mit den kuratorischen Kategorien des KBOE-Festivals, gehen jedoch noch stärker als diese auf die während meiner Feldforschung problematisierten inhaltliche Aspekte der Filme ein: »Nationalistische Filme und Agitprop«, »Filme über die menschliche Seite des Konflikts«, »Filme über das Exil der Kashmiri Pandits«, »Kaschmirische Kultur« und »Filme über politische Kunst«. Ich habe schon mehrfach betont, dass sich solche Gruppierungsversuche nicht aus dem filmischen Material als solchem ergeben. Filme lassen sich nie auf einzelne Themen reduzieren, da signifikante formale wie auch politische Unterschiede bei ihrer inhaltlichen Diskursivierung abgeblendet werden. Natürlich überschneiden sich in den einzelnen Filmen auch inhaltliche und formale Aspekte. Selbst wenn die obigen Tropen Aspekte einer inhaltsbezogenen Kommunikation über einen Film gut treffen sollten, werden diese Gespräche doch von Dis5

Gespräch mit Abir Bazaz in Neu-Delhi am 14.02.2014.

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Gespräch mit Student_innen am 01.05.2013 während des Festivals in Mumbai.

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kursen durchquert, die transversal durch diese Kategorien hindurch verlaufen (bspw. ein Diskurs über Kashmiriyat oder die Trope des [visuellen] Säkularismus; siehe nächstes Kapitel). Eine kuratorische Kategorie des KBOE Festivals wie »Marginalizations« oder auch »Exile/Disappearance/Dislocation« hat beispielsweise den Vorzug, Querverbindungen zwischen Themen und Konflikterfahrungen aufzuzeigen, ähnlich wie eine Mobilitätslinse in der Analyse einige Differenzen herausarbeitet, die in anderen methodologischen Zugängen ausgeblendet oder – trotz etlicher empirischer Berührungspunkte – als unverbunden betrachtet werden.

N ATIONALISTISCHE F ILME

UND

A GITPROP

Diese Filme vertreten parteiische Positionen, die sich verhältnismäßig einfach einer indischen, pakistanischen oder kaschmirisch-nationalistischen Konflikterzählung zuordnen lassen. Agitprop bezeichnet eine auf politische Effektivität ausgerichtete Form und wird in Südasien oft als Fortführung des Dritten Kinos (siehe Kapitel 2) durch südasiatische Filmemacher_innen der 1970er Jahre verstanden (Vohra 2011, 43). Häufig wird davon ausgegangen, dass man es bei unabhängigen Dokumentarfilmen mit künstlerisch anspruchsvollen und/oder politisch linken, (trans- oder) internationalistischen, liberalen oder links-liberalen Positionen zu tun hat. Dies ist jedoch mit Blick auf die Produktion hindunationalistischer und kaschmirisch-nationalistischer Filme unangemessen. Insbesondere der hindunationalistische Filmemacher Ashok Pandit könnte hier beispielhaft aufgeführt werden. Ich behandele seine Filme jedoch unter der Rubrik »Filme über das Exil kaschmirischer Pandits«. Auch wenn sie nationalistisch sind sowie formal als Agitprop gelten können, wird in diesen Filmen doch ein Narrativ des Exils kaschmirischer Pandits artikuliert. Dieses inszeniert ambivalente Subjektpositionen zwischen Hindunationalismus und einem als von der Nation nicht anerkannt empfundenen Opferstatus (Datta 2017). Ein Beispiel für die unkritische, kaschmirisch-nationalistische Verbreitung von Märtyrererzählungen ist »Remembering Heroes: Martyrs of 13 July« (undatiert), das sich auf die Ereignisse des Jahres 1931 bezieht, der Formationszeit der kaschmirischen Bewegung zur politischen Selbstbestimmung. Zu nennen wäre hier auch der Film »Bring Him Back« (2015) des Journalisten Fahad Shah, Gründer des inzwischen recht bekannten Online Magazins »The Kashmir Walla«. Er behandelt den politischen Einsatz von Shamli Begum, der Mutter des 1984 in Indien gehängten kaschmirischen Separatistenführers und »Märtyrers« Maqbool Bhat, dessen Körper nach der Hinrichtung im Tihar-Gefängnis in Delhi

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bestattet wurde. Seit über dreißig Jahren kämpft Shamli Begum für die Rückführung des Leichnams ihres Sohns in das leer stehende Grab auf dem Märtyrerfriedhof Srinagars. Fahad Shahs Film beschäftigt sich mit der biopolitischen Dimension des Kaschmirkonflikts: er zeigt, wie nicht nur der Mobilität der Lebenden in einem militärisch besetzten Land enge Grenzen gesetzt sind, sondern auch, dass durch die Bewegung eines Leichnams aus der Sicht staatlicher Entscheidungsträger unkontrollierbare politische Leidenschaften unter der Bevölkerung »entflammen« könnten. Der Film begrüßt weitestgehend unkritisch den Märtyrerkult in Kaschmir, der ein wesentlicher Bestandteil kaschmirischnationalistischer Narrative ist. Udi Alonis Film »Kashmir: Journey to Freedom« (2008) wurde unter anderem auf der Berlinale 2009 gezeigt und muss als einer der sichtbareren Filme dieses Körpers gelten. Aloni ist vor allem als ein Filmemacher bekannt, der sich aus einer ethischen Perspektive kritisch mit der Politik des israelischen Staats beschäftigt. Seine selbst-reflexiven Dokumentarfilme »Local Angel« (2002) und »Art and Violence« (2013) sowie die Spielfilme »Forgiveness« (2006) und »Junction 48« (2016) zählen zu den komplexesten filmischen Auseinandersetzungen mit dem Israel-Palästina Konflikt. Die Filme dringen tief in den Bereich der Psychologie von Schuld, Vergebung und geschichtlicher Verantwortung ein. Vor diesem Hintergrund muss der Film »Kashmir: Journey to Freedom« als eine Ausnahme im Werk gelten, der eine ähnliche Komplexität und Reflexivität für Kaschmir nicht transportiert. Stattdessen überträgt Aloni – ähnlich den Bemühungen vieler Kaschmiris, die Dynamik ihres Konflikts auf Palästina zu kartographieren – eine säkular-nationale Konzeption der palästinensischen Bewegung auf die Konfliktsituation in Kaschmir. Dabei übernimmt Aloni die Auslegung des Konflikts größtenteils von der JKLF unter Yasin Malik, mit dem er während der Produktion eine enge Verbindung aufnahm. Der Titel »Journey to Freedom« ist die englische Übersetzung der Kampagne »Safar-e-Azadi« der JKLF, die im Jahr des Filmdrehs, 2007, stattfand. Aloni stellt die JKLF als Hauptrepräsentant der Bewegung dar und möchte so eine kaschmirische Perspektive auf gewaltlosen säkularen Widerstand aufzeigen.7 In seiner Erzählung dieser politischen Bewegung fokussiert er auf verschiedene Protagonist_innen und changiert formal zwischen diesen Porträts und diversen Archivaufnahmen. Die Letzteren stammen aus einem Archiv, das ihm von einer geheim gehaltenen Quelle zur verantwortlichen Nutzung übergeben wurde. Dann werden noch als »testimony«markierte Sequenzen eingeblendet, in denen Menschen - unter anderem Karan Singh, Sohn des letzten Maharadschas J&Ks sowie ein verschleierter militant -

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Konversation mit Udi Aloni in Berlin am 29.11.2014.

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in frontaler Kameraeinstellung mündliches Zeugnis ablegen. In diesen schwarzweißen Aufnahmesequenzen werden Expertenmeinungen und persönliche Erinnerung nicht differenziert. Ebenso werden die unterschiedlichen Archivmaterialien nicht nach Ort und Zeit markiert, womit es oft schwer fällt, sie den »testimony«-Sequenzen und den Porträts der Protagonisten zuzuordnen – oder als Zuschauer_in Beziehungen zwischen diesen zeitlichen Ebenen aus der vermeintlichen Autorität des unmarkierten »Archivs« herzustellen. Schließlich wäre in dem Zusammenhang als agitprop-naher Film auch Sanjay Kaks »Jashn-e-Azadi« (2007, wörtlich: »Feier der Freiheit«) zu nennen – zumindest nehmen viele Rezipient_innen den Film als eine Feier eines »kaschmirischen Nationalismus« wahr. Der Film wurde zeitgleich mit Udi Alonis »Kashmir: Journey to Freedom« produziert und beschäftigt sich ebenfalls mit einer »kaschmirischen Perspektive« auf den Konflikt durch eine ausgiebige Nutzung von Archivmaterialien. Er hebt sich jedoch von den vorher genannten Filmen in vielfacher Hinsicht ab. Dies betrifft vor allem den Filmschnitt. In meiner ausführlichen Besprechung im sechsten Kapitel zeige ich, dass der populistische Beweggrund hinter der Erzählung durch formale Mittel skeptisch distanziert wird. Ich argumentiere, dass mit »Jashn-e-Azadi« kein lineares Befreiungsnarrativ vorliegt, sondern die Vergangenheit argumentativ auf politische Selbstbestimmung hin ausgelegt wird und dass dieser argumentative Stil – in seiner performativen Begleitung durch Kak – immer wieder zu kritischen Interventionen der Zuschauer_innen einlädt.

Jashn-e-Azadi (Sanjay Kak, 2007) – Zusammenfassung Der Titel des Films bezieht sich ironisch auf den 15. August, Indiens Unabhängigkeitstag. An diesem Tag wird die indische Flagge auf einem zentralen Platz im Stadtzentrum von Srinagar gehisst. Kak zeigt, wie der sonst so belebte Ort unheimlich leer bleibt: nur ein paar Soldaten paradieren, einige bewachen die Parade und dann zeigen sich noch Medienteams. Kaschmiris sind nicht auszumachen. In dieser ironischen Distanz zu den als substanzlos dargestellten Legitimitätsbekundungen staatlicher Akteure präsentiert sich der Film als eine Erkundung der Bedeutung von āzādī als politischer Selbstbestimmung. Der Film bleibt fragmentarisch, repetitiv und hat Längen, die Sanjay Kak in einem Gespräch mit mir allegorisch auf die Temporalitäten des Konflikts selbst bezieht. So ist es an dieser Stelle nicht zielführend, eine genaue Abfol-

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ge der einzelnen Episoden des Films zu liefern. Vielmehr kombiniert »Jashne-Azadi« verschiedene stilistische Mittel und inhaltliche Aspekte, um Vergangenheit und Gegenwart in der Schwebe zu halten. Der Film zeigt den messianischen Kern der Sehnsucht nach āzādī auf, der nach Kaks Auffassung der Gegenwart der militärischen Besatzung trotzt. Dennoch sollen hier einige Sequenzen angesprochen werden, die nicht in der späteren Detailbesprechung von Kaks Praxis auftauchen werden, aber einen Einblick in die thematische Breite und den fragmentarischen Charakter des Films vermitteln. Zum Beispiel lernen die Zuschauer_innen einen alternden Vater auf dem Friedhof der Märtyrer kennen und treffen auf eine Gruppe von Männern, die eine Untersuchung zu Todesfällen in den Bergdörfern um den Ort Bandipora durchführen. Es ist eine Aufführung des satirischen Bhand-Theaters zu sehen, bei der auf einem Dorfplatz die Mächtigen verhöhnt werden. Die Zuschauer_innen lernen Menschen in einem psychiatrischen Krankenhaus Srinagars kennen und sehen eine Radiogeschenkaktion, die von der indischen Armee unter der – von Bewohner_innen des Tals oft als zynisch empfundenen – Sadhbhavna (goodwill) Kampagne durchgeführt wurde (siehe 4.).

F ILME

ÜBER DIE MENSCHLICHE

S EITE

DES

K ONFLIKTS

Viele Filme werden von Zuschauer_innen und Filmemacher_innen als Darstellung der »menschlichen Seite des Konflikts« verstanden. Dies kann – aber muss nicht – im Verweis auf Menschenrechte geschehen oder durch eine explizit humanistische Positionierung des/der Filmemacher_in. Viele der oft unter dieser Trope ausgehandelten Filme zeichnen sich durch Charakteristika aus, die im Bezug auf sogenannte »Menschenrechtsdokumentarfilme« über Konfliktregionen formuliert wurden (McLagan 2003). Dort wird in der Regel das Leiden der Opfer in den Mittelpunkt gestellt und Zeugnisse werden zumeist als Zeugenaussagen von einzelnen betroffenen Individuen durch eine frontal ausgerichtete, nahe oder halbnahe Einstellung als talking heads inszeniert. Sonia Jabbars Film »Autumn's Final Country« (2003) erzählt über solche Zeugenaussagesequenzen die Geschichten vierer Frauen, Indu, Zarina, Shahnaz und Anju, die sich innerhalb des Bundesstaats J&K als Vertriebene wiederfinden. Die Zeugnisse des Films wurden für den South Asia Court of Women (Dhaka, August 2003) aufgenommen. Der Film untersucht das Leben jeder Frau

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in ihrem individuellen Zusammenhang. Indem er die Umstände ihrer Vertreibung anspricht, dringt er in eine intime Dimension des Kaschmirkonflikts vor. Die Zeugenaussagen werden über Nahaufnahmen der Gesichter der vier Frauen intensiviert. Begleitet werden die Aussagen von Bildern kaschmirischer Landschaften und Aufnahmen der näheren Umgebung der vier Protagonistinnen. Obgleich der Film vorwiegend als Hinterfragung patriarchalischer Werte angesehen werden kann, kommen über die Gesprächsleitung der Interviewerinnen gelegentlich Fragen nach kulturellen Identitäten auf, die teilweise nicht ausreichend im politischen Zusammenhang kontextualisiert werden. Insgesamt hinterfragt der Film jedoch effektiv die größeren Narrative zu Indien, Pakistan oder āzādī durch einen Fokus auf Vertreibung, Gender, Verlust und Erinnerung. Um ein Beispiel zu geben: Zarina wurde mit vierzehn oder fünfzehn Jahren aus Dhaka, Bangladesh, durch einen Menschenhändler nach Kaschmir geschleust, um dort zu heiraten. Eine Migrationsnarration wie Zarinas kommt in diesem Filmkörper selten vor und ist minoritär in einem engeren Sinne: sie ist im Konfliktzusammenhang nicht repräsentativ und bewegt sich jenseits der Logik von Mehr- und Minderheiten. Der Film »Ocean of Tears« (2012) von Bilal Jan thematisiert die Massenvergewaltigung von Frauen durch Soldaten der indischen Armee in dem kaschmirischen Dorf Konan Poshpura am 23. Februar 1991. Jan ist der einzige mir bekannte professionelle, unabhängige Dokumentarfilmmacher, der gegenwärtig im Kaschmirtal lebt. Er sagte mir in einem persönlichen Gespräch8, dass sein Film von den Attraktionsmontagen Sergei Eisensteins geprägt sei. Im Schnitt des Films ist das Bemühen zu erkennen, durch starke Kontraste zu dramatisieren (bspw. rote Farbe auf der Kamera) – obwohl dabei eigentlich nicht »dialektische Bilder« im Sinne Eisensteins entstehen. Die Attraktionen schaffen es nicht, von den emotional geladenen Bildern zum bildlichen Gedanken überzugehen, sondern bleiben verstörendes Dekor in einem Film, dessen voice-over und Expertenmeinungen die Frauen aus Konan Poshpura ein weiteres Mal als immobilisierte Opfer rahmt. Dennoch kommt durch die Aussagen der Betroffenen die Problematik ihrer sozialen Stigmatisierung nach der Vergewaltigung und die bis heute ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung der Armeeangehörigen deutlich zur Sprache. Interessant sind vor allem die den Film umgebenden Debatten zur Redefreiheit nach der überraschenderweise erfolgreichen Zertifikation. Eine Vorführung in der Kashmir University, Srinagar, wurde im Dezember 2012 kurzfristig abgesagt, da die Veranstalter befürchteten, so Jan (Mehraj 2015), dass es auf dem

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Gespräch mit Bilal Jan in Srinagar am 20.10.2013.

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Campus zu Protesten gegen die Regierung kommen würde. Jan betonte hierauf in Presseinterviews, dass der Film von einer staatlich finanzierten Institution, der PSBT, produziert wurde und erfolgreich den indischen Zertifikationsprozess durchlaufen hatte. Nach dieser Aussage Jans distanzierte sich die PSBT von dem Filmemacher, da die Verantwortlichen den Ruf der PSBT als unabhängige Institution in Gefahr sahen.9 Sie entfernten eine häufig angeklickte YouTubeVorschau des Films von ihrem Kanal. Jans Film wurde noch ein weiteres Mal im Zusammenhang mit Redefreiheit thematisiert, nämlich als während des Filmfestivals VIBGYOR, Thrissur, im Februar 2014 eine Gruppe von hindunationalistischen Aktivisten die Vorführung von »Ocean of Tears« durch eine Protestaktion unterbrach. Sie behaupteten, dass der Film die Würde der indischen Armee verletze.10 Das Publikum erklärte sich daraufhin solidarisch mit dem Filmemacher und den Veranstaltern des Festivals, indem es blieb und den Angreifern mit einer Menschenkette und »Go Back«-Rufen begegnete. An den Klickzahlen und den verschiedenen Berichterstattungen in überregionalen Zeitungen lässt sich eine relativ große Sichtbarkeit des Films ablesen, der mir gegenüber durch die dokumentarfilmische Thematisierung des Konan Poshpura-Ereignisses von etlichen Gesprächspartner_innen im Kaschmirtal anerkennend erwähnt wurde. Allerdings hatten nur die wenigsten von ihnen den Film tatsächlich gesehen. So lässt sich sagen, dass der Film durch die Thematisierung im Kontext der Redefreiheit viel besprochen, aber wahrscheinlich relativ wenig – in ganzer Länge – gesehen wurde. Dieser Aspekt bringt ihn in eine gewisse Nähe zu Pankaj Butalias Film »Textures of Loss« (2012), der ebenfalls eine in der überregionalen Presse besprochene Auseinandersetzung mit der Thematik der Redefreiheit in Gang setzte. Butalia fokussiert auf den Umgang von Menschen mit Verlust und auf die psychologischen und sozialen Auswirkungen, die aus dem Leben in einer Konfliktzone resultieren. Der Film ist Teil einer Trilogie von Explorationen von Verlusterlebnissen in drei südasiatischen Regionen, die im Zusammenhang mit Subnationalismus und Nationalismus stehen: neben dem erwähnten Film über Kaschmir sind die weiteren Filme der Reihe »Manipur Song« (2007) und »Assam: An Inner Landscape« (2015) den Bundesstaaten Manipur und Assam gewidmet. Auch in »Textures of Loss« kommt es zur Nutzung von Archivmaterialien. Butalia entschied, wohl wissend, dass alternative Distributionsmöglichkeiten jenseits des durch die offizielle Zertifikation ermöglichten Bereichs (TV

9

Gespräch mit Ridhima Mehra in Neu-Delhi am 14.05.2015.

10 O.V. , »BJP Protest at Vibgyor Film Festival.« The Hindu, February 15, 2014.

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und nationale Festivals) vorhanden sind, den Film zur Zertifikation als politischen Akt einzureichen und bekam eine Reihe von Änderungsforderungen seitens des CBFC. Er weigerte sich, die Änderungen vorzunehmen und ging vor Gericht. Zur Verteidigung gegen die Vorwürfe des Supreme Court, der Film sei »unbalanced« – insbesondere betonte der zuständige Richter, dass in dem Film keine Soldaten gezeigt wurden, die aufrichtig ihrer Arbeit nachgehen – betont Butalia den Fokus auf »Verlust«: »At one level, The Textures of Loss is a harmless film – it’s not talking about Army brutality, but loss. The film consists of testimonies« (Ramnath 2015). In einem Interview mit dem online-Magazin »Scroll.in« äußert sich Bhutalia zu den Zensurmaßnahmen folgendermaßen: »This paranoia [betreffend Zertifikationsprovisionen zur Anstachelung von Gewalt] is only in the heads of the CBFC members. My argument is that the Constitution puts restrictions on free speech, but also specifies the circumstances within which these restrictions can operate. If a film doesn’t violate circumstances, then nobody can censor you« (ebd.).

Auch der Film »Inshallah Football« (2010), der erste von zwei11 kaschmirbezogenen Filme des für den »Oscar« nominierten Filmemachers Ashvin Kumar, hatte Debatten über Redefreiheit ausgelöst. »Inshallah Football« porträtiert den Jugendlichen Basharat, dessen Ambitionen als Fußballspieler von indischen Behörden und den Spannungen in Kaschmir durchkreuzt werden. Dies liegt vor allem daran, dass sein Vater, Bashir, einst Mitglied der Miliz Hizbul Mujahedeen (HM) war. Die narrative Form des Films ist »die Reise des Helden«, womit ein Erzählschema mit einem zentralen Charakter gemeint ist, der eine Reihe von Hürden überwinden muss und dabei eine Entwicklung durchmacht (Vogler 2010). Dieses Schema wurde – wegen seiner Popularität bei europäischen und amerikanischen Förderungsinstitutionen (Friedman 2015) – vermutlich für den globalen Festival- und Distributionszusammenhang gewählt. Der Film wurde mehrfach von der in Berlin ansässigen »Free Kashmir Organization« für Filmvorstellungen ausgewählt. Auf meine Anfrage hin wurde mir dort gesagt, dass sich dieser Film mehr als andere ihnen bekannte Dokumentarfilme eigne, europäische Zuschauer für ein Verständnis ihrer Position zu gewinnen. Wie schon erwähnt, hatte der Film Schwierigkeiten, den indischen Zertifikationsprozess zu passieren. Es kam zu Spannungen zwischen regionalen Behörden und einzelnen wichtigen Mitarbeiter_innen des CBFC wie Shamila Tagore, einer bekannten

11 Der zweite Film ist »Inshallah Kashmir« (2012).

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Schauspielerin und damaligen Leiterin der Behörde. Schließlich erhielt der Film ein A-Zertifikat, das sonst nur für soft-pornographische Inhalte vorgesehen ist. Es überrascht, dass der teilweise aus demselben Filmmaterial geschnittene »Inshallah Kashmir«, der sich auf den ersten Blick stärker als »pro-āzādī« interpretieren ließe, nicht nur nicht zensiert wurde, sondern auch noch den indischen »National Film Award« im Jahr 2012 in der Kategorie »Best Investigative Film« gewann. Aus Studien zur indischen Zensurbehörde (Mazzarella 2013; Ghosh 2010) und persönlichen Gesprächen mit Filmemacher_innen ist mir klar geworden, dass politische und persönliche Netzwerke oft entscheidend für den Erfolg von Filmen auf Festivals oder im Hinblick auf Zertifkation sind. »Inshallah Kashmir« ist eine wesentlich fragmentarischere Erzählung als der ältere Film. Er weist etliche Sequenzen auf, in denen Menschen über ihre Erfahrungen des Konflikts Zeugnis ablegen. Eine wichtige Rolle spielt hier abermals Bashir, der ehemalige HM-Militant und jetzt erfolgreiche Kaufmann, der eine Shopping-Mall errichtet.

Filme über »Frauen im Konflikt« und die APDP Einige Dokumentarfilme, die die Schnittstelle Gender und Konflikt im Menschenrechtsdiskurs artikulieren, behandeln die Arbeit der Association of the Parents of Disappeared People (APDP). Die Organisation wird von Parveena Ahangar12 geleitet, die im Jahr 2005 für den Friedensnobelpreis nominiert wurde. Innerhalb der menschenrechtlichen Diskurse einer globalen Zivilgesellschaft hat die Stimme der APDP daher relativ viel Gewicht. Bilder der Frauen der APDP, welche die Fotografien ihrer verschwundenen13 Angehörigen zeigen, gehören zu den vielleicht sichtbarsten Darstellungen des Kaschmirkonflikts. In dem rezenten Hindi-Filmhit »Haider« (2014), dem Actionfilm »Lamhaa« (2010) und dem unabhängig produzierten Film »Harud« (2012) werden sie als intermediäres Zitat zu einem dokumentarischen Moment der Spielfilme, das die inzwischen breite Sichtbarkeit dieser Bilder14 innerhalb der medialen Darstellungen des Konflikts verdeutlicht.

12 Die National Security Guard (NSG), eine Einheit der indischen Armee, hat Ahangars Sohn Javaid 1990 verschwinden lassen. 13 Zur Definition von »Verschwindenlassen« siehe Einführung. 14 Die Darstellungen von Frauen, die Bilder ihrer verschwundenen Angehörigen in den Händen halten, erreichten durch den für den »Oscar« nominierten Dokumentarfilm

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Im Mediendiskurs des Kaschmirkonflikts werden viele der Frauen als »halfwidows« bezeichnet, da der Vermisstenstatus ihrer Ehemänner nicht einer offiziellen Todesbekundung gleichkommt. In der staatlichen Erzählung überquerten die vermissten Männer die LoC und leben nun in Pakistan. Das individuelle Trauma der Frauen überschneidet sich oft mit einem unsicheren Sozialstatus und traditionellen Formen gegenderter ökonomischer Ausgrenzung (Kazi 2008, 153). Zum einen gilt die Wiederverheiratung von Witwen für viele Menschen im Kaschmirtal als Tabu, zum anderen kann eine Witwe nach dem in Kaschmir geltenden Muslim Personal Law keinen Anspruch auf Familieneigentum erheben, solange ihr Schwiegervater noch lebt. Die Ehefrauen der verschwundenen Männer beklagen emotionalen Stress, sexuelle Belästigung, physische Unsicherheit (Zahoor 2016) und Gefühle der Einsamkeit. »Verschwundensein« muss daher als ein multidimensionales Phänomen aufgefasst werden, das politische, rechtliche, ökonomische und soziokulturelle Aspekte verbindet. Das plötzliche Verschwinden eines Menschen wird oft durch den brutalen Einbruch von Sicherheitskräften in ein Zuhause eingeleitet. Den Verschwundenen drohen in der Folge Inhaftierung, Folter und Tod, während die Angehörigen warten. Die ungelösten Fragen der Verbliebenen drücken sich in einer Subkultur von Liedern, Gedichten und anderen Texten aus, die sich in den Erinnerungskulturen des Tals niederschlagen und auch in den im fünften Kapitel besprochenen Dokumentarfilmen von Iffat Fatima und Uzma Falak wiedergegeben werden. Die APDP verlangt von der indischen Armee Rechenschaft für die Verschwundenen und versucht, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen und sie zu veranlassen, die Fälle gesetzmäßig aufzuklären. Die Notstandsgesetze Public Safety Act (PSA) und Armed Forces Special Powers Act (AFSPA)15 garantieren den Sicherheitskräften Straffreiheit und ermöglichen es ihnen so, sich jeder Verantwortung zu entziehen. Diese Unverantwortbarkeit des Staats drückt sich auch im Umgang der Zertifikationsbehörde mit kritischen dokumentarfilmischen Darstellungen der Problematik aus. Ein früher digitaler unabhängige Dokumentarfilm, der sich mit den Frauen der APDP auseinandersetzte, war »Waiting« (2002) von Shabnam Ara und Atul Gupte. Er wurde von dem indischen Central Board of Film Certification (CBFC)

»Las Madres: The Mothers of Plaza de Mayo« (1985) eine breite transnationale Öffentlichkeit (Guembe 2008). 15 Während AFSPA der Armee weitgehende Rechte zu vor zivilen Gerichten nicht zu verantwortenden Militäroperationen im eigenen Land ermöglicht (bspw. Hausdurchsuchungen), können Sicherheitskräfte unter dem PSA Menschen ohne formale Anklage inhaftieren.

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mit folgender Begründung zurückgewiesen: »It does not deal with the complex and poignant situation in a comprehensive manner«.16 Gupte erinnerte sich an die Dreharbeiten: »We were threatened and pushed around by military authorities and faced hostile crowds who were suspicious of us«.17 Aufgrund der offiziellen Zensur konnte der Film auch nicht auf dem Mumbai International Film Festival desselben Jahres anlaufen, was wiederum zu Protesten seitens der Filmemacher_innen und Festivaldelegierten führte. Für Seema Kazi ist dies symptomatisch: »[T]he state’s unwillingness to contenance public debate regarding Kashmir’s widows is symptomatic of the profound lack of public accountability that also, simultaneously, places Kashmiri women beyond the pale of the official war story« (Kazi 2008, 152).

Solche Zensurmaßnahmen sind allerdings – wie vieles im Verhältnis des Bürgers zum postkolonialen Staat – eine Frage von Aushandlungsmacht. Unabhängige Dokumentarfilmemacher_innen haben dabei ein relativ geringes Verhandlungskapital, was viele von ihnen dazu bewog, wegen der Zunahme nicht staatlich regulierter Vorführstätten durch digitale Projektoren, kritische Dokumentarfilme gänzlich an der Zensur vorbeizuleiten (vgl. 6). Nach Aras und Guptes »Waiting« setzten sich weitere vorwiegend von der PSBT-produzierte, unabhängige Dokumentarfilme inhaltlich mit der Arbeit der APDP auseinander – wenn auch als nur ein Aspekt der weiteren Problematik von »Frauen im Kaschmirkonflikt«. Ähnlich wie »Waiting« zeigt Radhika Kaul Batras Film »Women in Conflict« (2002) die Frauen vorwiegend als passiv leidende Opfer eines religiösen Konflikts. Die voice-over-Stimme der Erzählerin identifiziert die Frauen in der Anfangssequenz stereotypisch (Kabir 2009) mit der Landschaft des Kaschmirtals: »ethereal beauty and intense pain – there are striking similarities between the women and the land. In Kashmir both have witnessed the devastation and borne the consequences«. In einer parallelisierten Form, die den epistemologischen Protokollen des Menschenrechtsfilms entlehnt sind (McLagan 2006), wird das Miteinander einer gemeinsamen Erfahrung der Hindu-/Muslim-/christliche-Frauen als »Konfliktopfer« ins Zentrum der Erzählung

16 O. V. »Censor Board Bans Documentary on Disappeared Kashmiris«, Greater Kashmir, 09.02.2006. 17 Ebd.

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gerückt.18 Die Form unterstreicht hier – wie auch in den meisten anderen in diesem Abschnitt genannten Filmen – die Immobilität der Subjekte: Statische Aufnahmen im Inneren oder der näheren Umgebung der Häuser der Betroffenen und parallelisierende Einschübe, in denen jeweils muslimische oder Hindu-Frauen thematisiert werden, schaffen getrennte Räume, die – von dem/der empathischen Menschenrechtsfilmemacher_in vermittelt – an einen humanistischen Diskurs anschließen. Der Dokumentarfilm »Athwaas – The Journey« (2008) von Ashima Koul verweist auf eine gewaltlose Schwesternschaft kaschmirischer Frauen unterschiedlicher religiöser Herkunft. Bewaffneter Konflikt ist hier die Sache der Männer, während Frauen stets zu den Opfern zählen. Frauen können allerdings ihre friedliche Position dagegenstellen, die der Film mit der »composite culture«, den »syncretic traditions« und dem »secular memory« des Tals in Verbindung bringt. Diese von der Erzählerstimme im Film verwendeten Begriffe deuten auf eine höhere, synthetische Ebene, in der die unterschiedlichen religiösen Gruppen miteinander Platz fänden. Eine solche Artikulation wird weiter durch die parallelisierende Montage von Schreinen, Moscheen und Tempeln unterstrichen, die in vielen Filmen über Kaschmir als visuelle Essenz der »composite culture« des Tals im Diskurs eines nationalen Säkularismus erscheinen (siehe nächstes Kapitel). Im deutlichen Gegensatz zu den bislang dargestellten Repräsentationen versuchen Iffat Fatima und Uzma Falak den politischen Zusammenhang der Arbeit der APDP sichtbar zu machen. Sie zeigen diese als Teil einer gegen die militärische Besatzung gerichteten āzādī-Artikulation. Daher umgehen sie in ihren Filmen die oben beschriebenen Formen einer religiös überdeterminierten parallelisierenden Opfererzählung.

Khoon Diy Baarav (Iffat Fatima, 2015) – Zusammenfassung Zu Beginn von »Khoon Diy Baarav« sagt Fatimas persönliche voice-over Stimme: »Over eight years I travelled with her [Parveena Ahangar] across the scarred landscapes of Kashmir, a witness to its brutalization, its trauma. The film is a testimony, a consequence of my baring witness.«

18 Dies erinnert an Gyanendra Pandeys (2000) Beobachtung hinsichtlich Reportagen über »communal violence« in Indien, wo in einer parallelen Form ‚Hindus und Muslime’ zu gleichen Anteilen als »säkulare Opfer« leiden.

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Aber wie setzt sie nun diese Zeugenschaft narrativ und formal um? Ich werde im fünften Kapitel argumentieren, dass Fatima die politischen Leidenschaften durch eine enge Begleitung des Alltags einzelner Menschen nachvollziehbar macht. Es geht ihr um die Schnittstelle von Emotionen (Bitterkeit, Trauer, Wut) und der Legitimität einer politischen Forderung (āzādī). Die emotionale Mobilisierung der Zuschauerschaften erhält in der filmischen Präsentationsform eine zweigeteilte narrative Struktur. In der ersten Hälfte lernen die Zuschauer vier Frauen kennen, deren Angehörige verschwunden sind. Die Kamera folgt den Frauen dabei durch die militarisierten Räume des Kaschmirtals, in ihren Alltag, zu Hochzeiten, zur Feldarbeit, zu einem Sufischrein und schließlich zu Orten, die mit dem Verschwinden ihrer Angehörigen in Verbindung stehen: Militärlager, Wälder, Massengräber. Ihre Bewegungen durch das Tal schreiben die vier Frauen in die Landschaft als politisch handlungsmächtige Akteure ein – in Fatimas Worten fordern sie das militärisch besetzte Land zurück. In der zweiten Hälfte des Films sehen wir emotional intensive Bilder kollektiven Trauerns, kollektiver Wut und Protestierens, für die wir in der ersten Hälfte vorbereitet wurden: āzādī-Slogans, Steinewerfen, das Verbrennen von Gegenständen, die filmische Wiedergabe von fahrenden Fotoausstellungen, welche die Opfer des Konflikts frontal abbilden. Schließlich endet der Film wie er begann: mit einer Bootsfahrt auf den Wasserwegen in und um Srinagar. Im fünften Kapitel werde ich noch detailliert ausführen, dass die Bootsfahrt ein subversives Zitat auf die ikonische Position ist, die Kaschmir in Südasien innehat. Sie zeigt an, dass der Film Menschen adressiert, die mit einer solchen Vorstellung vertraut sind. Fatima sendet mit solch einer Sequenz – sowie den zuvor beschriebenen Protestaufnahmen – folgende Botschaft: Menschen, die sich für eine politische Selbstbestimmung einsetzen, sind nicht so verschieden von den südasiatischen Zuschauer_innen. Sie verbindet eine Sehnsucht nach den kaschmirischen Landschaften, sie betrauern ihre Märtyrer und fordern ihre Freiheit auf eine ähnliche Weise, wie es Menschen tun, die sich mit Indien oder Pakistan identifizieren. Till Then The Roads Carry Her (Uzma Falak, 2015) – Zusammenfassung Falaks Film behandelt ähnliche Motive wie »Khoon Diy Baarav«, ist jedoch narrativ anders aufgebaut und wesentlich kürzer. Was die Filmgeschichte zu-

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sammenhält, sind die Gedichte der Filmemacherin, die vor dem Hintergrund evokativer Naturaufnahmen und Gemälden der Künstlerin Rollie Mukherjee dem Film eine beklemmende Ruhe und Schönheit verleihen, die etliche Rezipient_innen gegenüber der Filmemacherin ansprachen. Die Ruhe ist beklemmend, da sie immer von den Erzählungen zweier Frauen und eines Mädchens gerahmt bleiben, die von dem Verschwinden ihrer Angehörigen sprechen. Die Gedichte Falaks vermitteln das Persönliche ihrer Konflikterfahrung allegorisch mit den politischen Artikulationen der drei porträtierten Protagonist_innen. Der Film enthält neben dieser allegorischen Dimension auch komische Elemente, die das indisch-nationalistische Begehren nach einem touristisch konsumierbaren Kaschmir hinterfragen.

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ÜBER DAS

E XIL K ASCHMIRISCHER P ANDITS

Nach vielen Filmvorstellungen von Dokumentarfilmen, die den Kaschmirkonflikt behandeln, kam irgendwann folgende Frage aus dem Publikum: »what about the Pandits«. »Whataboutism« ist ein von dem Journalisten Edward Lucas (2007) geprägter Begriff, der sich auf die rhetorische Verwendung der Frage »what about...?« bezieht. Diese Frage nach einer nicht dargestellten oder systematisch ausgeblendeten Realität kann als rhetorisches Mittel dazu dienen, einem ernsthaften Dialog mit der Argumentation des Anderen aus dem Weg zu gehen oder sogar seine Position zu diskreditieren, ohne sich die Mühe machen zu müssen, sie zu widerlegen. Allein diese ständig wiederholte Frage nach »den Pandits« belegt entgegen der Einschätzung vieler Menschen, die sich selbst als Kashmiri Pandits identifizieren, dass diese Gruppe eine große Sichtbarkeit innerhalb indischer Mediendiskurse erzielt. Die kaschmirischen Pandits zählten vormals zur Bildungs- und administrativen Elite des Kaschmirtals, die während der Herrschaft der Dogra-Maharadschas vor allem im Staatsdienst angestellt waren (Rai 2001). Subjektpositionen von kaschmirischen Pandits artikulieren sich oft zwischen den Ansprüchen einer ehemaligen Elite und den gegenwärtigen Realitäten von Menschen, die zu »internally displaced people« (IDP) gezählt werden – also Menschen, die innerhalb der Grenzen eines Nationalstaats zur Umsiedelung gezwungen wurden (Datta 2017, 129 – 158). Historische Narrative kaschmirischer Pandits beziehen sich oft auf ihre Rolle als »ursprüngliche Einwohner« des Kaschmirtals. Viele Menschen, die sich mit diesen Identitätserzählungen identifizieren, sehen in dem

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»muslimischen Agressor« den Auslöser einer über Jahrhunderte währenden Geschichte der Ausgrenzung und Gewalt, deren letztes Kapitel der militärische Konflikt ab dem Jahr 1990 darstellt (Pandita 2013). Dieser nativistische Diskurs wird nicht nur von politischen Organisationen wie Panun Kashmir (wörtl. Unser Kaschmir) vertreten,19 sondern findet sich ebenfalls in der Literatur und im Film. Einige namhafte Autoren wie Rahul Pandita oder etwa der Hindi-Filmstar und ehemalige Vorsteher der indischen Filmzertifikationsbehörde Anupam Kher zählen zu jenen Stimmen, die eine Panditexilerzählung an einen hindunationalistischen Diskurs anschließen. Eng zusammen mit Anupam Kher arbeitet der Filmemacher Ashok Pandit, ein gegenwärtiges (2017) Mitglied des CBFC. Neben dem Spielfilm »Sheen« (2004) steuerte Pandit der Form nach agitprop-propagandistische Dokumentarfilme dieser Erzählung bei. Die zwei Filme »And The World Remained Silent« (2006) und »Village of Widows« (2010) artikulieren einen Opferdiskurs über die Vorstellung, als Pandit systematisch ignoriert zu werden und aus Menschenrechtsdiskursen zum Kaschmirkonflikt herauszufallen. Im sechsten Kapitel werde ich mit Ajay Raina auf einen Filmemacher zu sprechen kommen, der aus diesem Narrativ ausbricht. Rainas Filme »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2002) und »Apour ti Yapour. Yeti chu Talukpeth« (2011) sind von der persönlichen voice-over-Stimme des Filmemachers geprägt, die seine Konflikterinnerungen mit der jeweiligen Gegenwart der filmischen Aufnahmen zum Teil konfliktreich aushandelt. An dieser Stelle möchte ich mit Rajesh Jala einen weiteren Filmemacher vorstellen, der keinen nativistischen Diskurs vertritt. Jala wurde im Jahr 1970 geboren und floh Anfang 1990 mit seiner Familie aus Srinagar. Für acht Jahre lebte er in einem Flüchtlingslager für Kashmiri Pandits in der Nähe von South Extension in Neu-Delhi.20 Schon als Jugendlicher wollte er Filme machen, ihm fehlte jedoch das Geld für eine Ausbildung auf einer Filmschule. Er sammelte erste Erfahrungen als autodidaktischer Filmemacher während einer Arbeit bei All India Radio in den 1990er Jahren. Sein erster Dokumentarfilm Chinar (1997) verwendet die Figur des langsam verschwindenden Baums aus Kaschmir metaphorisch für das Verschwinden der Pandits aus dem Kaschmirtal. Jala widmet sich seither Themen der sozialen Marginalisierung aus einer, wie er sagt, »humanistischen Perspektive«. Er stellte eine Reihe weiterer Filme her, die sich direkt mit dem Kaschmirkonflikt und seinen psychologischen Auswirkungen beschäftigten.

19 Siehe die Erläuterung in Kapitel 6. 20 Alle Informationen zu Jala stammen aus einem persönlichen Gespräch (Neu-Delhi, 14.11.2013).

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»Azaadi« (1998) behandelt die Insassen einer psychologischen Klinik und »Floating Lamp of the Shadow Valley« (2006) das schwierige Leben des etwa zehnjährigen Sohns eines kaschmirischen militant. Sein erster größerer Erfolg war »Children of the Pyre« (2008), ein Film über die Kinderarbeit an den Verbrennungsghats von Varanasi. Mit diesem Film gewann Jala Preise für den besten Dokumentarfilm im Montreal World Film Festival und dem Sao Paulo International Festival (beide 2008) sowie in IFFLA (2009). Sein letzter Kurzfilm »23 Winters« (2013) behandelt die Rückkehr Botas in das Kaschmirtal nach einer dreiundzwanzigjährigen Abwesenheit. Bota ist ein unter Schizophrenie leidender Verwandter Jalas. Der Film hat zwei völlig divergierende und getrennt voneinander konzipierte Teile, die erst im Schnitt und durch das überraschende Verschwinden des schizophrenen Protagonisten Bota zusammenfinden. Während der erste Teil in aufwendig inszenierten, poetischen Bildern die Psyche Botas durch die Dachlandschaft und das Wetter Delhis widerspiegelt, ist der zweite Teil in einer streng beobachtenden Form gehalten. Jala folgt Bota zu seinem früheren Haus und trifft gemeinsam mit ihm Verwandte im Kaschmirtal. Ich möchte hier auf Jalas Film »Floating Lamp of the Shadow Valley« (2006) etwas detaillierter eingehen, da er mehr noch als seine anderen Filme Fragen zu Exil, Konflikt und seiner humanistischen Perspektive aufwirft. Der Film wurde von der in Delhi ansässigen Werbeagentur ESP finanziert. ESP ist keine Produktionsfirma, die normalerweise Dokumentarfilme von unabhängig agierenden Filmemachern fördert. Es kam im Verlauf der Produktion zu etlichen Spannungen mit der Firma, die dazu führten, dass schließlich zwei Versionen des Films zirkuliert wurden. Eine davon wurde von ESP unter Ausschluss des Filmemachers editiert und kursiert mittlerweile im Internet. Eine zweite Version, der von Jala autorisierte Directors Cut, wurde auf Filmfestivals gezeigt und besprochen. Jala betonte mir gegenüber, dass die zweite Version für ihn trotz einiger Abstriche noch in den Bereich des »unabhängigen Films« fällt. Der Konflikt mit ESP bezog sich auf die Forderung der Produktionsfirma, einige Archivmaterialien für eine »dramatische Wirkung« zu verwenden. Die meisten Materialien wurden von der India Today Group gekauft und zeigen die üblichen frontalen Darstellungen von Konfliktopfern. Die verantwortlichen Korrespondenten von ESP forderten Jala auf, den Film in ihren Worten mehr »war-scary« zu gestalten. Damit war, so Jala, eine Art von Gewaltästhetik gemeint, wie sie in den Sendungen des 24/7-Fernsehens vorkommt, oft begleitet von einem dramatischen Soundtrack und einer frontalen Sicht auf die Opfer als verstümmelte, blutüberströmte Leichen. Jala selbst war mehr an einem ruhigen »humanistischen Film« interessiert, der sich auf das Leben des jungen Protagonisten konzentriert und

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durch die Darstellungen kaschmirischer Landschaften ein friedvolles Versprechen der Vergangenheit an die Zukunft zum Ausdruck bringen sollte. Der Film beginnt und schließt mit einer Bootsfahrt auf dem Dal-See vor einem Berghintergrund. Die Bilder evozieren eine zeitlose natürliche Schönheit des Tals. Im Verlauf des Films kämpft der Junge gegen zwei erzählerisch parallelisierte kontingente Kräfte an. Auf der einen Seite sind es die Kräfte der Natur, auf der anderen die des Terrors. Das Leben des Jungen aus armen Verhältnissen ist von der Mühsal der Arbeit geprägt. Die Zuschauer sehen ihn in den vier pittoresk dargestellten kaschmirischen Jahreszeiten seiner Arbeit nachgehen. Eine Reihe natürlicher sowie von Menschen verursachter Katastrophen suchen ihn währenddessen heim. Dabei entsteht eine nostalgische Raumzeit des »imaginären Heimatlands« (Naficy 2001) in seiner idyllischen landschaftlichen Weite und Ruhe. Sie steht in starkem Kontrast zu dem wie aus dem Nichts kommenden Einbruch der Gewalt. Beide Darstellungsweisen sind, wie Hamid Naficy zeigt, typisch für filmische Erzählungen des Exils. Naficy spricht von dem Chronotopos - dem zeiträumlichen textuellen Nexus - des »imaginären Heimatlandes«, das sich durch eine originäre Güte und zeitlose Schönheit auszeichnet: »What is substituted for the impossibility of return and reunion is the staging of a metaphoric reunion with nature and a return to imaginatively constructed categories that represent prelapsarian wholeness« (Naficy 2001, 156).

Formal bringt »Floating Lamp of the Shadow Valley« den in ruhigen Bildern inszenierten Humanismus aus der Tradition Robert Flahertys – dem ewigen Kampf des Menschen gegen die Rhytmen der Natur (Nichols 2016, 68) – auf widersprüchliche Art mit dekontextualisierten Bildern der Gewalt im 24/7Nachrichtenformat zusammen, die in ihrem kurzzeitigen Aufflackern und ihrer ikonischen Frontalität in die Form des Films und seiner Narration einbrechen. Die Schwierigkeiten, solche Gewaltbilder in die zirkuläre, nostalgische Zeit des Exils einzupassen, konvergiert mit einem medialisierten »Nach-Gedächtnis« (Hirsch 2001) von Panditexildiskursen, auf die ich im sechsten Kapitel noch näher eingehen werde.21 Frontale Bilder der Gewalt haben dabei eine ambivalente

21 In ihrer Arbeit zum Zusammenspiel von Narration, Photographie und Nacherinnerung im Bezug auf die Verwendung von Photos von Margaret Bourke-White in einem durch Pramod Kapoor editierten Band von Khushwant Singhs »Train to Pakistan«, zeigt Ira Sarma (2015), wie editorische Entscheidungen von Kapoor, einen Konflikt der Nacherinnerung zwischen zwei Narrativen – einem der Vergebung und einem des moralischen Zusammenbruchs – teilweise im Rückgriff auf graphische Bilder der

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Resonanz mit dem audiovisuellen Register des Humanismus: dramatisierte Gewaltbilder im Stile der 24/7-Nachrichtenformate dringen in den Chronotopos des imaginären Heimatlands ähnlich ein wie das Trauma des Exils in den Nacherinnerungen kaschmirischer Pandits zu einer Dekontextualiserung des Konflikts der frühen 1990er Jahre führt (Duschinski 2007, Datta 2017). Diese werden nicht in einer weiteren politisch-historischen Dynamik kontextualisiert, sondern auf ein Ereignis von außen reduziert. Da Jala den Film weiterhin als unabhängigen Film ansieht, reicht es nicht aus, diesen Einbruch der Gewaltbilder in den humanistischen Diskurs durch den Druck von ESP zu erklären. Vielmehr können die formalen und inhaltlichen Spannungen im Film – die zu sehr divergierenden Lesarten einladen – mit einer verkörperten Erinnerung zusammenhängen, die es dem Filmemacher erschwert, das Ereignis distanziert zu betrachten. Diese Problematik werde ich in dem Abschnitt zu Ajay Rainas Filmpraxis noch weiter ausführen, wo die Spannung nicht so sehr in einem exilischen Chronotopos auszumachen ist, als vielmehr zwischen der Voice-Over-Stimme und dem Zeugnisgehalt dokumentarfilmischer Aufnahmen.

Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown (Ajay Raina, 2001) – Zusammenfassung Rainas Film beginnt mit einer Zugfahrt. Der Filmemacher kehrt nach über elf Jahren Exil zurück in das Kaschmirtal. Der Film wurde in sehr kurzer Zeit gedreht und entstand größtenteils erst später im Schnitt. Die Sequenzen folgen dabei keiner Hauptentwicklungslinie. Raina trifft Freunde, Verwandte, Bekannte und ehemalige Angestellte seiner Familie. Er führt Gespräche mit Menschen, die er in Srinagar während dieser zwei Wochen kennenlernt. Es finden sich darüber hinaus Interviews mit dem kaschmirischen Autor Akthar

Gewalt inszenieren. Sarma sieht hier die schwierige Situation Kapoors, die Zukunft als Mitglied einer Generation zu imaginieren, die sich nur medial vermittelt an die Gewalt der Teilung Britisch Indiens erinnern kann. Interessant für meine Frage ist hier, dass im Falle Jalas visuelle Tropen der Nacherinnerung (bspw. Leichen von ermordeten Pandits) durch die Produktionsfirma ESP eingeschleust wurden und Jala – obgleich sie seinem filmischen Stil zuwiderlaufen und er selbst zur Generation der Geflohenen gehört – ihnen eine Stelle im Directors Cut zuwies. Dies lässt sich womöglich ebenfalls auf das Trauma des Exils beziehen und die Schwierigkeiten, es filmisch zu thematisieren.

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Moinuddin und dem Vorsitzenden der Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF), Yasin Malik. Auch die Auswahl der Drehorte in und um Srinagar ist hoch divers. Als Unterkunft nahm sich Raina ein Hotel am zentralen Lal Chowk, er besuchte Verwandte im Pulwama Distrikt, sprach mit Menschen auf Hausbooten und öffentlichen Plätzen. Er geht durch Zeitungsarchive und trifft alte Freunde in Teeläden. Schließlich besucht Raina die verlassenen Orte von Kashmiri Pandits: das Altstadtviertel Rainawari und ganz zuletzt das Haus seiner Eltern, in dem er aufwuchs. Aber was verbindet diese Orte und Begegnungen? Wie wird daraus eine Geschichte, die bei vielen Zuschauer_innen – teils ambivalente – Resonanz erzeugt? Die Sequenzen werden durch die Person Rainas und insbesondere durch seinen Voice-Over-Kommentar zusammengehalten, der die Begegnungen und Orte erläutert und in Beziehung zu seinen persönlichen Erinnerungen und den weiteren Diskursen eines Exils der Kashmiri Pandits setzt. Die Allegorie in »Sag Ihnen, dass der Baum, den sie pflanzten, jetzt gewachsen ist« könnte als ein verbindendes Element aufgefasst werden, das eine gewisse vertikale Spannung durch die Erzählung laufen lässt. Schließlich fragt der Zuschauer sich, seitdem der Titel eingeblendet wurde, was aus diesem Baum geworden ist, von dem jemand sprach. Es stellt sich schließlich heraus, dass ehemalige Hausnachbarn seines Onkels diesen Satz Raina mitgaben. Mit dem »sie« sind Rainas Eltern gemeint. In der letzten Sequenz des Films lässt Raina diese hoffnungsvolle Metapher in einem Gestrüpp zerfallen, das vor dem Haus seiner Eltern verwelkt. Der Baum der Hoffnung scheint sich in der für die Wahrnehmung von Filmen so wichtigen Rahmensequenz am Ende nicht gegen eine bestimmte politische Bewertung des Geschehens in Kaschmir durchzusetzen. Formal zeichnet sich der Film durch sehr dynamische Kameraeinstellungen des Kameramanns Tanmay Aggarval aus. Seine Bilder, insbesondere in den verlassenen Häusern der Pandits, verleihen dem Film eine für das exilische Filmemachen so charakteristische haptische Qualität. In meiner Analyse im 6. Kapitels dieses Buches werde ich mich detailliert mit der Frage beschäftigen, wie Raina den ethischen Raum des Films mit verschiedenen Zuschauer_innenschaften verhandelt und was für eine Rolle dabei die Form des Films spielt.

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ÜBER KASCHMIRISCHE

K ULTUR

Es gibt eine ganze Reihe von unabhängigen Filmen, die sich mit kaschmirischen Dichter_innen und Kunstformen beschäftigen. An historischen Figuren wie der Mystikerin Lalla Ded und dem Sufi Sheikh Nooruddin Wali (beide 14. Jh) entzünden sich oft Debatten über die jeweilige historische Zuordnung. Diese werden noch verschärft durch die in einem religiösen Vokabular erzählten Konfliktnarrative von der Art »Hindu« vs. »Muslim«. Hier geht es beispielsweise um die Frage, ob die heterodoxe Lalla eine Art Protomuslima war (Khan 2002) oder durch die yogische Tradition des kaschmirischen Shavaismus gelesen werden sollte (Kaul 1973, Hoskote 2013). Ähnliche Debatten werden auch zu Nooruddin geführt. War er ein genuin muslimischer Poet (Khan 2002) oder Vertreter dessen, was heute als »Kashmiriyat« bezeichnet wird: die synkretische Tradition des Kaschmirtals, in der Elemente des Buddhismus, Hinduismus und Islam durch die Sufitradtion der Reshis zusammengeführt werden?22 Mir geht es hier nicht darum, diese Fragen zu beantworten – ich bin weder Historiker noch davon überzeugt, dass die so gestellten Fragen vernünftig beantwortet werden können. Es ist stark umstritten, ob Containerbegriffe wie Islam, Hinduismus oder Synkretismus – der Letzte eine Art Supercontainer, der alle in sich aufnehmen kann – vor dem Horizont narrativer Traditionen des 14. und 15. Jahrhunderts oder vor der lebensweltlichen Pluralität von Erzählungen bestehen, die heute noch lokale und translokale Gemeinschaftsbildungen in Südasien jenseits der Logik von »Hindu und/gegen Muslim« als politische Identitäten ermöglichen (Gottschalk 2000). Stattdessen werde ich hier auf die Filme zu dieser Thematik eingehen und ihre Navigation genauer betrachten, durch die sie aktuelle Forderungen an historische Persönlichkeiten in narrative Muster bringen. Die Schauspielerin Mita Vashisht hat mit »She of the Four Names« (2012) in einem PSBT-produzierten, teilweise fiktionalisierten Dokumentarfilm über die kaschmirische Dichterin Lal Ded Regie geführt. Der Film inszeniert Lal Deds Gedichte oft durch die Montage von Landschaftsbildern und fiktionalen Nachspielszenen. Die Gedichtsequenzen werden von Personen kommentiert, für die Lal Ded eine wichtige Inspirationsquelle war. Dazu kommen Interviews über die hagiographische Tradition, in denen die Kamera in hohem Tempo von einem Menschen zum nächsten springt. Diese fragmentarische Erzählweise der Hagiographie suggeriert metonymisch ihre Verbreitung unter Kashmiris. Der Film fokussiert dabei jedoch hauptsächlich auf Lal Deds Verbindung zur SanskritKultur des kaschmirischen Shivaismus.

22 Siehe meine ausführliche Darstellung von Kashmiriyat im nächsten Kapitel.

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M.K. Raina, Schauspieler, Dozent und Theaterintendant, hat in zwei Filmen zu künstlerischen Traditionen Kaschmirs Regie geführt. Der Film »Mann Faqeeri« (2012) beschäftigt sich mit kaschmirischer Sufiana-Musik. Er stellt den philosophischen und musiktheoretischen Kontext dar und behandelt auch materielle Fragen, die für das Entstehen der Tradition eine Rolle spielen. Der Film beschreibt in seinen Anfangssequenzen die kaschmirische Sufiana-Musik als ein Resultat des »kulturellen Mosaiks« Kaschmirs, in das »Elemente von islamischen, buddhistischen und Hinduprinzipien« eingingen. Ein Gedicht von Lal Ded vor dem Hintergrund der Bilder des Martand Tempels – eines dem Sonnengott gewidmeten Tempel aus dem 8. Jahrhundert – dient dem Film als Rahmen. »Rahi« (2010) von M.K. Raina behandelt den zeitgenössischen KashmiriDichter Rahman Rahi. Dieser Film ist für die indische Literaturakademie (Sahitya Academy) realisiert worden und stellt den mit dem Literaturpreis ausgezeichneten Dichter Rahi im biographischen Zusammenhang dar. Der Film thematisiert gegenwärtige Debatten zur Poesie in der Sprache Kashmiri und verbildlicht die existentialistische Lyrik Rahis.

Abir Bazaz und Kaschmir als Singularität Zum Abschluss dieses Abschnitts möchte ich noch auf Abir Bazaz eingehen, der in seinen Filmen versucht, das Singuläre, also das, was nicht schon in kulturelle Kategorien aufgeht, durch formale Experimente und persönliche Erinnerung aufzuzeigen. Abir Bazaz wurde Mitte der 1970er Jahre geboren und war gerade alt genug zu verstehen, was sich in den frühen 1990er Jahren vor seinen Augen zutrug, aber – wie er mir sagte – noch zu jung, um selbst an dem kaschmirischen Volksaufstand aktiv Teil zu nehmen. Damals war er als Jugendlicher von derselben Stimmung erfasst und meinte – wie viele andere junge Kashmiris –, dass die Unabhängigkeit nur einen Steinwurf entfernt sei. Doch schon damals begann er, sich Gedanken über die Form des Widerstands zu machen und las Bücher über philosphische Ethik und Gewalt(losigkeit). Abir stammt im Gegensatz zu den meisten anderen hier besprochenen Filmemacher_innen nicht aus der oberen Mittelschicht. Er wuchs bei seiner Großmutter auf und lebte in eher bescheidenen Verhältnissen. Seine Ausbildung als Filmemacher erhielt er an der MCRC der Jamia Millia, wo er bei Shohini Ghosh studierte. Sein Abschlussfilm »Kunaer« (2001) behandelte die Kashmiri Sprache und fokussierte auf den Dichter Rahman Rahi. Auf seinen nächsten kaschmirbezogenen Film »Paradise on a River of Hell« (2002), den er von der gerade gegründeten PSBT finanziert bekam, werde ich unten genauer eingehen. Zunächst ist aber noch ein anderer von der

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PSBT produzierter Film – »Swadhyaya – A Silent Singing Revolution« (2004) – zu nennen. Der Film über den Mystiker Athavale ist eine Fortsetzung Bazaz» Arbeit im Bereich der philosophischen Ethik, die sein filmisches und akademischen Werk zugleich umfasst. Diese Darstellung einer monastischen religiösen Reformbewegung in Gujarat erfolgte direkt auf die vom hindunationalistischen damaligen Ministerpräsidenten von Gujarat (und heutigen indischen Premierminister) Narendra Modi mit verantworteten anti-muslimischen Ausschreitungen des Jahres 2003. Die Bewegung versuchte, Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppierungen durch eine Theologie der Liebe und des Mitgefühls (bhava) aufzuheben. Heute begreift Bazaz den Film als eine Art Verzweiflungstat wegen finanzieller Zwänge. Der Film führte ihm gleichzeitig die Grenzen des freien Ausdrucks vor Augen und nährte seinen Wunsch, das Land zu verlassen. Dennoch ist seine langjährige Auseinandersetzung mit Gandhi für die Zuschaueradressierung seiner Filme entscheidend. Er sagte mir, dass sie – in gandhianischer Terminologie – an den »sahridaya« gerichtet sind: den Menschen mit einem guten Herz. Das Sanskritwort deutet einen leidenschaftlichen ethischen Appell an ein Publikum an, dass sich mit einer Sanskritkultur identifizieren kann. Doch es kommt von einem Filmemacher, der – zumindest in dem Film »Paradise on a River of Hell« – das Anliegen politischer Selbstbestimmung aus der Region vorbringt. Hier wird in einem Akt der Übersetzung diese partikuläre Anrufung universal: jeder Mensch, der ein gutes Herz hat, ist gemeint. Nachdem Bazaz für eine Dissertation zur negativen Theologie Sheikh Nooruddins ein Promotionsstipendium der Universität Minnesota erhielt, verließ er Indien und zog in die USA, wo er für knapp zehn Jahre lebte und lehrte. Heute (2017) unterrichtet er an der Ashoka University als Assistant Professor englische Literatur. Der Film »Paradise on a River of Hell« zeigt uns die visuellen Tropen Kaschmirs Spiritualität und vermeintlichen Synkretismus. Zu sehen sind Tempel und Schreine, die hier aber durch eine Reihe von Trennungen inszeniert werden: zwischen der idealisierten Vergangenheit und der Gegenwart von 2001, zwischen staatlicher Patronage und Bazaz’ Versuch im Jahr 2001, einen »Film über āzādī« zu machen, zwischen dem positiven Label »Synkretismus« und dem Abgrund der negativen Theologie Sheikh Nooruddins. »Paradise on a River of Hell« war einer der ersten von PSBT finanzierten Filme und die Auflagen für Bazaz und die Co-Regisseurin Meenu Gaur waren beträchtlich. Im Jahr 2001 befand sich der Konflikt in einer sehr intensiven Phase, deshalb nahm der Film, so Bazaz, eine stark allegorische Form an. Die Stimme des Erzählers oszilliert zwischen philosophischen Gedanken und Erinnerungsfragmenten und zeigt eine permanente innere Spannung auf, die an eine Tradition des ethischen Denkens des Tals anschließen möchte, ohne sie im staatlich-geförderten Kashmiriyat-

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Diskurs wieder zu verlieren. Der Titel fängt diese Doppelbindung durch den Verweis auf eine Zeile von Agha Shahid Alis Gedicht »Farewell« ein: »I am being rowed through paradise on a river of hell: Exquisite ghost, it is night.« Wie ich oben ausgeführt habe, bat Bazaz die Organisatoren des KBOE, den Film nicht mehr zu zeigen. Die allegorische Form seiner Kritik erschien ihm, gegen seine Intention, einer nostalgischen Sicht auf Kashmiriyat Vorschub leisten zu können. Ananya Kabir (2009) hat bereits eine Analyse von Bazaz und Meenu Gaurs Film vorgenommen, die ich weder kritisieren noch erweitern will. Anstelle einer Analyse möchte ich vielmehr zum Schluss dieses Unterabschnitts ein etwas längeres Gespräch mit Bazaz über seinen Film wiedergeben. Es soll einen Einblick in seine filmische Ethik und Politik vermitteln. Bazaz formuliert die Grundfrage seines und Gaurs Films folgendermaßen: »I was looking at the way […] the memory of the history of faith in Kashmir is fundamental to ideas of politics and future in Kashmir. And that does not necessarily mean that these ideas […] are not secular, you know. What it means is that they are different and their difference somehow escapes a certain logic of thinking secularism and a certain logic of thinking religion. M.K.: that is [silenced] by hegemonial discourses, so [your question is]: how can we dig up Kashmiri voices, how can we do this by looking at rishi traditions… A.B. : We will approach it through the rishis and the kashmiri language, both things I have done in the past. Again run the risk being reduced to some form of a discourse on national culture […]. That I feel is a mistake. Paul Celan is a good way, that is: you fight in the name of language with this understanding that you don’t own language. It is not your own. If one is going to think about language and if one is going to think about the rishis then one must not reduce Kashmir to either Kashmiri language or the rishis, but one must approach them with an understanding that they offer a possibility and nothing more. And one can not reduce this to a discourse of national culture, but one can turn to it for some sort of opening. M.K. : Ananya Kabir was […] saying that your film was deconstructing the spatial imagination by showing shrines and mosques and temples in their »singularity«. A.B. : Yes, I think she is in certain ways right […], the idea of singularity as we encounter it in contemporary french thought is somewhat of use in thinking about Kashmir. […] In a sense it is the question of the connection between singularity and sovereignty, which is at stake in Kashmir. […] We often fail to understand what is »belonging«. And that this be-

116 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT longing has nothing to do with »identities«. It might be easy for people to connect the struggle in Kashmir to questions of identity such as the question of the »resurgence of Islam«, or the question of a struggle as in the discourse of »nationalist liberation«, but to me these are all inadequacies of thought in addressing the singular history of Kashmir, where what has been at stake is the desire to envision a democratic political community, which is much more imaginative, much more open, much more - I don’t have the right words, I’m struggling with language here … - but »open« is the right word, »democracy« in a certain sense is also the right word. It is this vision that has been at work in Kashmiri cultural memory - in its text at least from the 14th century when we see the rise of Kashmiri literary culture, we see huge political turbulence in Kashmir, not unlike the present. From that time this cultural memory that has survived in Kashmiri culture, of the possibility of a different relationship between language, self and politics. The possibility of a different way of imagining, of two different communities, of dialogue, of borders, of place, […] of space and in the end of time. M.K. : What would »Kashmiri time« be? A.B.: I give you an example, a rather crude one. You have Ozu, he is a Japanese filmmaker, and at that time you have the classical hollywood realism, you have a camera on the tripod and that structure of Hollywood classical cinema shot structure and so on. And Ozu is rather incompatible. Japanese eat on the floor, they sit on the floor. An he is like: »I think I need to take the camera off the tripod. I need to place it on the floor.« I see that as an event in the real sense of the word »event«, in the history of cinema. If a modern technological form like cinema has to connect to the history of Kashmiri meaning, then it must also unfold in a history of such events […]. It only calls for courage and what Gandhi calls self-respect. And we are from that moment. I have not seen many of the new films that have been made like Valley of Saints and so on. I don’t know to what degree they are doing it. Largely I am a bit pessimistic about the future. The idea to reach out to the world with expression is there and my point is why? And I have myself struggled with this idea of audience which somehow already dictates what film you are going to make. In relation to which I look at poets and some poets and writers in Kashmiri language who know they have an audience, they also have their eyes on the Sahitya Academy award, but they are more free. Nobody is going to read them, so they are free. And if I could make films with the freedom that nobody is going to watch them and I don’t care, I think it might be possible to make better films. I, for instance, am thinking about certain inner spaces for many many years and I don’t know in which language I can express that space, that space, that memory of place which is Kashmir and which is being destroyed everyday, and there is something indestructible in its history, something which resisted. But nonetheless there is a forgetting and that forgetting is dangerous. You can have a thousand films made by

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Kashmiris, great cinema. You can have a Kashmiri winning at Cannes. You can have all of this, but it may involve the forgetting of the opening of cinema in Kashmir.«23

Würde man den philosophischen Begriff Singularität in das Register transregionaler Medienforschung übersetzen (und dabei natürlich eine völlige Transformation seines ontologischen Status hin zu einem ontischen Bereich des Sozialen in Kauf nehmen), so ließe sich damit die Herausforderung beschreiben, den spezifischen Kontext verschiedener Subjektivitäten und Konfliktdynamiken vor dem Hintergrund gleichzeitiger globaler und lokaler Prozesse zu denken. Damit ginge es auch um eine neue Imagination des Begriffspaars Souveränität und Territorialität. Doch aus dem Gespräch mit Bazaz wird ersichtlich, wie er darum ringt, über Besonderheiten Kaschmirs sprechen zu können, ohne dass sie verdinglicht und leicht konsumierbar werden. Es ist ein Anliegen, dass sich filmisch durch experimentelle Mittel der Verfremdung umsetzten lässt, aber dabei stets Gefahr läuft, an den empirischen Zuschauer_innen zu scheitern – oder wie Bazaz es sagt: die Freiheit, die Schriftsteller haben, die keine Leser bekommen. Doch dies ist eine Hoffnung auf Freiheit als Bedingung komplexen Ausdrucks, die in einem so tief kodierten und kontextsensitiven Film wie »Paradise on a River of Hell« dem fiktiven sahridaya als erst noch zu verwirklichende Möglichkeit erscheint.

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ÜBER POLITISCHE

K UNST

Neben den schon erwähnten Forschungstrends einer politischen Ästhetik gibt es gegenwärtig auch den dokumentarfilmischen Trend, die Schnittstelle von Politik und Kunst zu beleuchten. Insbesondere der »Arabische Frühling« wurde oft im Hinblick auf die Nutzung neuer Medientechnologien und neuer Formen ästhetischer Inszenierung betrachtet. Mit Blick auf Kaschmir ist ein cinematographisch aufwendiger Film »Take it in Blood« (2014) von Rana Ghose. Der Film porträtiert den kaschmirischen Rapper Roshan, auch bekannt als MC Kash (ein Wortspiel: kash bezieht sich sowohl auf Kaschmir als auch auf Bargeld – das Englische cash – und schließlich auf das Hindi-Verb kash karnā, inhalieren). Seit seinem vielbesprochenen Song »I protest« ist der Rapper für viele Kommentatoren zu einer Ikone des kulturellen Widerstands gegen die militärische Besatzung des Jahres 2010 geworden (Kak 2010). Ghoses Film re-artikuliert Roshans Position zur politischen 23 Gespräch mit Bazaz in Neu-Delhi am 14.02.13.

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Selbstbestimmung mit Blick auf sein durch den Song »Take it in Blood« thematisiertes Verhältnis zu einer anderen ikonischen Figur des kaschmirischen, gewaltlosen Widerstands, Parveena Ahangar. Dabei entstehen teilweise etwas hölzern wirkende narrative Momente, in denen Roshan so tut, als würde er die Leiterin der APDP zum ersten Mal kennenlernen. Tushar Madhavs und Sarvinik Kaurs Film »Soz – A Ballad of Maladies« (2016) behandelt die Thematik des künstlerischen Protests in einer größeren thematischen und politischen Breite. Der von der PSBT produzierte Film gewann unter anderem den indischen »National Film Award« (2016) in der Kategorie »bester nicht-fiktionaler Debütfilm«. Auch in »Soz« erscheint MC Kash wieder, diesmal jedoch neben anderen Künstlern wie der in Bangalore ansässigen Rockband Parvaaz, dem Dichter Zareef Ahmad Zareef, dem Cartoonisten Mir Suhail und dem Performance-Künstler Showkat Kathju. Der Film stellt die Künstler und ihre Ausdrucksformen im Lebenszusammenhang des KaschmirKonflikts dar. Die Zuschauer_innen bekommen dabei einen Eindruck von dem, was sie motivierte, ohne dass die Motivationen romantisch überhöht oder passgenau in die dominanten Konflikterzählungen eingelassen werden. So kommen auch Stimmen zu Wort, die an der gegenwärtigen Lage verzweifeln und den Forderungen politischer Selbstbestimmung mit Ambivalenz gegenüberstehen. Dennoch wird »Soz« von vielen Zuschauer_innen und der indischen Zensurbehörde als ein in mancher Hinsicht voreingenommener (biased) Film verstanden. Schon während der Produktion sind vorherige Versionen des Films von der Produktionsfirma PSBT zur Begutachtung an den staatlichen Geldgeber Prasar Bharati (siehe Kapitel 6) gegeben worden und kamen mit der Forderung nach einer »ausgeglicheneren (balanced) Darstellung« zurück.24 Die Komplexität politischer Positionen und ihre ambivalente Überschneidung mit künstlerischen Praktiken wurde schon in einem der frühesten digitalen Dokumentarfilme dieses Filmkörpers thematisiert. Dies ist der ebenfalls von PSBT produzierte Film »Pather Chujaeri« (2001) von Pankaj Rishi Kumar. Andere Filme wie »Jashn-e-Azadi« oder auch »Soz« nehmen inhaltliche Aspekte wieder auf, die hier zum ersten Mal im Medium des unabhängigen Dokumentarfilms artikuliert werden. Hierzu zählt beispielsweise die ironische Behandlung des Indian Republic Day in Srinagar, dessen Darstellung derjenigen des indischen Unabhängigkeitsfests in »Jashn-e-Azadi« ähnelt – wobei der ironische Gestus eine bekannte Trope linker Dokumentarfilmpraktiken seit der Zeit Anand Patwardhans darstellt. Die ausführliche Besprechung des Films soll als Überleitung zum nächsten Kapitel dienen, in dem viele der Tropen, die in »Pather Chu-

24 Gespräch mit Madhav in Neu-Delhi am 21.12.2014.

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jeari« aufgegriffen und kritisiert werden, in ihrem weiteren touristischen und sicherheitspolitischen Kontext thematisiert werden sollen. Kumar graduierte im Jahr 1992 am Film and Television Institute of India (FTII) in Pune und arbeitete zuerst in Bombay/Mumbai als Editor für Fernsehund Spielfilme. Sein erster Dokumentarfilm »Kumar Talkies« (1999) über ein provinzielles Kino im Besitz seiner Familie gewann international Preise und wurde in vielen großen Filmfestivals aufgenommen. Der mit biographischen Reflexionen begleitete Film fokussiert auf die lokale Medienkultur in der Kleinstadt Kalpi, Uttar Pradesh. Er bringt, teils ironisch, die Begierden junger, oft arbeitsloser Männer in Verbindung mit den Produkten der bildmächtigen Metropole Mumbai, die für die Imaginationen lokaler Kinogänger ein zwischen Nähe und Ferne oszillierender Bezugspunkt ist. Nach diesem Erfolg wechselte Kumar zum Dokumentarfilm und produzierte eine Reihe von kleineren NGOfinanzierten Filmen, die sich vorwiegend mit ökologischen und politischen Fragen marginalisierter Gruppen in Indien auseinandersetzten. Sein gegenwärtig letzter Film »In Gods Land« (2009) behandelt die Geschichte der Marginalisierung einer niedrigkastigen lokalen Bevölkerung durch eine Sonderwirtschaftszone, die auf ehemaligem Tempeleigentum in Tamil Nadu eingerichtet wurde. Auch wenn die Legitimierung der Ausbeutung mit der Zeit von religiöser Terminologie zum Fortschritts-Entwicklungs-Diskurs überging, blieb doch das Leben der Bauern als rechtlose Vasallen des Landes unverändert. Von »Kumar Talkies« (1999) bis zu »In Gods Land« (2009) kann bei Kumar die Auseinandersetzung von lokalen Artikulationen zu einer weiteren Ebene politischer Ökonomie und kultureller Politik beobachtet werden. Dies gilt auch für seinen auf Kaschmir bezogenen Film »Pather Chujaeri« (2001), in dem er einer Gruppe von Bhand-Theaterspielern folgt, die sich unter einer »paternalistischen und nationalistischen Kulturpolitik« (Arsenal Forum Berlin) marginalisiert fanden. Kumar stellte sich die Frage: »How does Art survive in a regime of fear? This question began to preoccupy me after I first visited Kashmir in 1999, to photograph the villages on the India-Pakistan border during the mindless Kargil war. On my way back, I stopped in Walhora and Akingam to meet with two groups of Bhands, performers of the traditional Kashmiri theater, the Pather.«

Kumars Film zeigt auf, wie die Pather-Schauspieler unter staatlicher Aufsicht ihrer Kunst nachgehen, ständig unter einer Doppelbindung, die auch für andere kaschmirische Künstler_innen unter den Bedingungen einer kulturellen und physischen Besatzung des Tals besteht. Sie können sich oft nur durch staatliche Gelder finanzieren, sind dabei aber in ein kulturpolitisches Regionalerbe-Programm

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eingebunden, das sie in eine staatlich legitimierte Fassung regionaler Identität zu integrieren versucht. Die paradoxe Lage der Pather-Schauspieler wird in dem Film über eine ähnlich gelagerte Problematik des Verhältnisses des Zentralstaats zu seiner Region allegorisiert. Dieses Verhältnis wird über die Imagination Kaschmirs als touristisches Paradies inszeniert (siehe nächstes Kapitel). Kumar verwendet die Trope der »Bootstour auf dem Dal-See« als reflexiven Zugang eines indischen Filmemachers, der wie ein Tourist von außen in die Region kommt. Zu Beginn des Films sieht man eine Shikhara, ein kaschmirisches Boot, über den Janpath, eine der Hauptstraßen Neu-Delhis, fahren. Sie ist auf einem Lastwagen aufgestellt und kaschmirisch verkleidete Bootsmänner rudern in Richtung Straßenverlauf als Teil eines regionalen Tableaux auf den Feierlichkeiten der Indian Republican Day Parade (RDP) des Jahres 2001. Der Kommentator des Ereignisses wird im Film eingespielt: »when we think of Kashmir, we think of tourism«. Vor diesem Auftritt der Shikhara auf dem kolonialen Layout NeuDelhis sah man die marschierenden Einheiten der Indo Tibetan Border Police. Der Kommentator feiert, dass diese »sturdy and brave soldiers« an der nördlichen Grenze und in »counter-insurgency« Maßnahmen in Kaschmir etliche Auszeichnungen für ihre Tapferkeit errungen haben. An diese widersprüchlichen Darstellungen des Verhältnisses der Nation zur Region schließt in Kumars Film direkt eine Szene an, in der die Kamera eine ähnliche Richtung und Geschwindigkeit aufnimmt wie die Tableaux auf dem Janpath. Der Übergang scheint dabei eine metonymische Kontinuität zwischen beiden Bildern zu evozieren. Dieses Mal allerdings gleitet die Kamera über verschmutztes Wasser und eine versunkene Shikhara, umgeben von den verzweigten Wurzeln der Wasserpflanzen des Sees. Dieses »Säubern des Sees« – sagte mir Kumar25 – sei als »Aufarbeiten des Konflikts« eine zentrale Metapher für den Film. In der gerade beschriebenen Sequenz sehen wir die nationale Trope Indiens, »Unity in Diversity«, in ihrer Performanz als Teil eines staatlichen Spektakels. Die RDP inszeniert nicht nur die Region im Zentrum, sondern erweitert ihre Logik der Zentralisierung und Streuung durch die simultane Inszenierung im Zentrum und in den Regionen (Roy 2007, 72). Srirupa Roy betont die Bedeutung von »Kultur« als einer Ressource, die Nation durch ihre Partikularitäten zu artikulieren. In dem RDP vereinigen sich die staatlich sanktionierten Bilder des Punjabs, Assams und Manipurs in der »leeren Zeit der Nation«: »[…] spaces otherwise configured in the national imagination as areas of danger and sedition filled with terrorist and militants […] are on display as desirable zones of carefree

25 Gespräch mit Kumar in Mumbai am 07.04.2014.

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cultural expression. The defining attribute of culture in this vision is its atemporality and its disconnection from social and political processes of change and contestation« (Roy 2007: 90).

Die RDP wird von Roy (2007, 66-104) als eine Praxis des »staging the nation« bezeichnet. Sie zeigt den Staat in Aktion, der nicht das Bild einer horizontal integrierten sozialen Bindung, bspw. der kulturell homogenen Nation, in den Vordergrund rückt, sondern die Fähigkeit, nationale Souveränität über eine vertikale Integration zu evozieren. In dieser kommen den regionalen panels, so Roy, die Aufgabe zu, als kulturelle Ressourcen die staatliche Ordnungslogik »Unity in Diversity« als formales Prinzip aufzuführen (ebd.). Später im Film kommt es zu einer signifikanten Wiederholung der Paradeszene. Dieses Mal sehen wir die regionale RDP in einem hochgesicherten Stadion in Srinagar, wie sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Personal der Armee und einigen ausgewählten Gästen vorgeführt wird. Kumars Kamera fokussiert von der Seite auf ein facettenreiches technologisches Monster: mehrere große Filmkameras, die statisch in einer Reihe stehen und so die Differenz zu Kumars kleiner handgehaltener Digitalkamera evozieren. Dabei unterbricht er mit seinen Kameraeinstellungen Bilder des staatlichen Fernsehsenders National Doordarshan (DD), Delhi, die die militärische Macht Neu-Delhis über die Darstellung von Panzern und Kampfjets vor riesigen Zuschauerschaften in teils surreal anmutenden Farben präsentieren. Die Bhand Pather Gruppe tritt auch hier auf: in der Mitte des Stadions, aber weitestgehend ohne Zuschauer. Im Hintergrund sieht man einige Soldaten durch das Stadion spazieren. Nur ein paar Filmkameras und einige Menschen mit Namensschildern - vermutlich von dem lokalen Doordarshan - gesellen sich zu den Pather-Schauspielern und nehmen den sonst unbeachteten Akt auf. Kumar spielt im voice-over die Stimme eines Pather Artisten ein, der die Problematik für die Künstler sarkastisch zusammenfasst: Do cīzoṃ se kalā mār’tī hai. Yā to āp’ne kabhī us kā dānā pānī band kar diyā. Āp us kī taraf ānkh uṭhākar dekheṃge. To miṭ jae. Dus’rā yah hai, ki āp us par it’nā dānā pānī ḍāl diyā ki vah dānā pānī ke nice hi ho gayā (Es gibt zwei Arten, die Kunst zu zerstören. Entweder man dreht ihr den Hahn ab und schaut zu, wie sie alleine zurechtkommt, oder man dreht ihn soweit auf, dass sie davon überschwemmt wird). In Kumars Film begegnen uns die Künstler in konstanter Bewegung. Sie werden auf verschiedene Festivals und Plattformen in Indien eingeladen, wo sie unter der Rahmung einer »synkretistischen Tradition« Kaschmirs auftreten. Im Tal selbst sehen wir sie am Republic Day als Kulturerbe - ähnlich wie auf einem anderen Tableau in der Delhi RDP, das zu Beginn des Films, neben den Shikha-

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ras, die Sufitraditionen Kaschmirs feiert. Nur gegen Ende des Films am SufiSchrein (astana) von Ashmuqam begegnen wir einer, wie Kumar sagt, selten offenen Aufführung der Pathergruppe innerhalb des Kaschmirtals. Kumars Film bleibt dabei ambivalent hinsichtlich des von den Protagonisten selbst konstatierten religiösen Pluralismus als Teil eines förderungsfähigen Kulturerbes innerhalb säkular-nationaler Diskurse. Im nächsten Kapitel möchte ich nun auf diese Diskurse und dominanten Repräsentationsregime näher eingehen.

Tourismifizierung und Securitization

»Agar firdaus bar rūy zamīn ast, hamin ast-ū hamīn ast-ū hamīn ast.« (»Wenn es auf der Erde ein Paradies gibt, ist es hier, ist es hier, ist es hier.«) Diesen Satz ließ der Mogulherrscher Jahangir (1569-1627) im schwarzen Pavillon des Shalimar-Bagh-Paradiesgartens anbringen. Er fehlt heute kaum in touristischen Broschüren und Reiseführern der Region. Viele Kashmiris empfinden die dreifache Wiederholung des hamin ast als Echo eines alten Fluchs und Versprechens, das auf Kaschmirs Status als »besonderen Ort« (Gaur 2010) in der südasiatischen Begehrensökonomie verweist. Seit dem Beginn des Konflikts sind Repräsentationen des Kaschmirtals von einer immer gleichen »Doppelsicht« (Kabir 2009) geprägt: Berge durch Stacheldraht aufgenommen, Äpfel und Kalaschnikows, Touristen und Terroristen, Schönheit und Armut. Dieses Kapitel behandelt die Rahmen einer Politik der Repräsentation, innerhalb derer und zwischen denen sich die unabhängigen Filmpraktiken artikulieren. Diese werden, so das Argument dieses Kapitels, heute von dem Zusammenspiel zweier Prozesse bestimmt: zum einen die touristische Durchdringung und ästhetische Normalisierung des Konflikts (Tourismifizierung bzw. tourismification) und zum anderen die sicherheitspolitische Rahmung einer den Status quo erhaltenen Politik staatlicher, militärischer und mainstream-medialer Akteure (Securitization). An der Schnittstelle dieser Prozesse hat sich seit einigen Jahren der durch staatliche und touristische Akteure geförderte Normalitätsdiskurs (normalcy-Diskurs) etabliert. Durch diesen wird u.a. versucht, ein Bild touristischer Normalität während der anhaltenden Kashmiri-Intifada aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig lässt das indische Fernsehen durch eine Proliferation von encounterSequenzen1 und der Hindi-Film durch das »cine-patriotische Genre« (Sethi

1

Encounter (dt. Begegnung) ist der Euphemismus für einen Mord durch die indischen Sicherheitskräfte. Es wird von den Sicherheitskräften behauptet, »Terroristen« in einem »encounter« begegnet zu sein, der für Letztere einen tödlichen Ausgang hatte.

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2002) die mediale Verknüpfung des Tals mit Terrorismus nicht abreißen. Um die Innovationen der Politik der Repräsentation unabhängiger Filmemacher_innen würdigen zu können (Kapitel 5 und 6), möchte ich zunächst die Tropen und Figuren eines visuellen Regimes vorstellen, die das Kaschmirtal in den indischen Mainstreammedien (vor allem in Hindi-Filmen und TV-Nachrichten) repräsentieren. Der heutige normalcy-Diskurs fügt sich in die kulturellen Politiken der Legitimität der jeweils Herrschenden ein, die von der – seit der in kolonialer Zeit zunehmend politisierten – Bevölkerung des Tals wenig Akzeptanz erfahren haben. Die Dogra-Maharadschas, eingesetzt durch die britischen Kolonialherren, legitimierten ihre Herrschaft über das mehrheitlich muslimische Kaschmirtal unter anderem mit der Hilfe kolonialer Philologen, die in Auslegung einer HinduMythologie nativistische Rechte der Dynastie nachzuweisen suchten (Rai 2004; Zutshi 2004). Seit den Staatsgründungen Indiens und Pakistans im Jahr 1947 ging die Legitimation der Herrschaft des ehemaligen Maharadschaterritoriums auf die nationalen Tropen »Islam«, »Säkularismus« und »Demokratie« der neu gegründeten Länder Pakistan und Indien über. Aus den Studien der subaltern studies group ist hinreichend bekannt, dass koloniale Diskurse eines unilinearen Projekts der europäischen Moderne in Südasien nach 1947 durch technokratische Bildungs- und Regierungseliten vermittelt wurden und für nur wenige Menschen in Südasien repräsentativ waren. Als Resultat setzte sich eine ganze Reihe kolonialer Asymmetrien fort – bspw. zentralstaatliche Entwicklungspolitik und Gesetze gegen Volksverhetzung (sedition)2 –, die durch formale Unabhängigkeit der neuen Staaten nicht überwunden wurden (Chatterjee 1993). Hinsichtlich der nationalistischen Legitimierung des indischen Anspruchs auf das gesamte Territorium des ehemaligen Maharadschastaats nach der Tei-

Hinter solchen Aktionen stehen oft geplante Polizeimorde. Ihre Legalität muss oft rückwirkend mit Bezug auf Sondergesetze zur Terrorismusbekämpfung konstruiert werden (Sethi 2013). 2

»Sedition« ist ein Paragraph des indischen Strafgesetzbuches, der in der Nähe zu Verbrechen gegen Staat aufgezählt wird und theoretisch entsprechend schwer bestraft werden kann – auch wenn in der Geschichte der Rechtsprechung den Anschuldigungen selten stattgegeben wurde (Liang 2016). Der Paragraph wurde von einem kolonialen Gesetz übernommen, das unter anderem zur Inhaftierung indischer Freiheitskämpfer wie Mahatma Gandhi angewandt wurde und insbesondere im Jahr 2016 bei der Inhaftierung des Vorsitzenden einer politischen Studentenorganisation, Kanheiya Kumar, in Neu-Delhi für Schlagzeilen und landesweite Debatten zum Thema (Anti-) Nationalismus führte.

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lung des Subkontinents stehen die widersprüchlichen Aussagen Nehrus im Zentrum geschichtlicher Darstellungen des Konflikts (Kabir 2005; Kazi 2008; Gaur 2010; Commuri 2010; Anderson 2012; Noorani 2013). Der Nexus zwischen touristischer Attraktivität, dem sogenannten religiösen Synkretismus als regionale Version eines nationalen Säkularismus (Zutshi 2004) und den sexualisierten Landschaften eines »Territoriums der Begierde« (Kabir 2009) fand bei ihm in kondensierter Form Ausdruck. Nehru begriff Kaschmir als symbolisch für die Legitimität der säkularen Nation (Commuri 2010, 108). Gleichzeitig stilisierte Nehru, dessen Vorfahren Pandits aus dem Kaschmirtal waren, die Region zur persönlichen Angelegenheit (Puri 2008, 11). In metaphysischer Begeisterung beschreibt er die Erfahrungen seines zweiten Besuchs in den frühen 1940er Jahren: »I wandered about like one possessed and drunk with beauty, and the intoxication of it filled my mind. [...] Like some supremely beautiful women, whose beauty is almost impersonal and above human desire, such is Kashmir in all its feminine beauty of river and valley and lake and graceful trees [...]. Sometimes the sheer loveliness of it was overpowering and I felt almost faint. As I gazed at it, it seemed to me dream-like and unreal, like the hopes and desires that fill us and so seldom find fulfillment« (Nehru zitiert nach Anderson 2012, 80).

Etwa ab den 1960er Jahren wurde der touristische Konsum einer emporkommenden indischen Mittelschicht, der nach einer konfliktbedingten Abwesenheit in den späten 2000er Jahren heute wieder an Fahrt aufgenommen hat, zu einem wichtigen Faktor der Bildproduktion (Gaur 2010; Kabir 2009). Er trägt nun dazu bei, die politischen Spannungen durch den touristischen Blick zu normalisieren (Panjabi 2009; Staniland 2013). Zu den Touristen werden nicht zuletzt die Pilger zum Tempel in Amarnath gezählt, deren offizielle Zahl in den letzten Jahren extrem angewachsen ist (Byerly 2012). Diese Form des hinduistischen Pilgertourismus führte über einen Streit um Landrechte wegen des Baus von neuen Pilgerunterkünften im Jahr 2008 zum Beginn des jüngsten populären Aufstands im Kaschmirtal, der seit dem Jahr 2010 von vielen Beteiligten als »Kashmiri-Intifada« bezeichnet wird. Viele Kashmiris sahen in dem Bau weiterer Unterkünfte eine indische Landnahme (Hussain 2008). Anders als andere südasiatische Regionen, die separatistische Bewegungen aufweisen, ist das Kaschmirtal durch seine mediale Hypervisibilität ein auf spektakuläre Weise anderer Ort, dessen Integration in die indische Nation unsicher bleibt. Aufgrund der stark emotionalisierten Atmosphäre von Debatten, die Forderungen politischer Selbstbestimmung oft begleitet, sowie der hyperbolischen

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Tropen von Paradies und Hölle kann das Kaschmirtal mit John Urry auch als ein »Ort nationalen Affekts« (Urry 2007, 254) bezeichnet werden. Kaschmirische Forderungen nach politischer Selbstbestimmung (āzādī) werden dabei von vielen indischen Nationalist_innen mit einem Schnitt in den Körper der Nation gleichgesetzt.3 Wie hat sich nun das touristische Bild stabilisiert? Wie verhalten sich die Produzent_innen touristischer Bilder zur gegenwärtigen Konfliktlage der Kashmiri-Intifada? Solche (zeit-)geschichtlichen Fragen der Politik der Repräsentation sind entscheidend, um die Interventionen der Filmemacher_innen kontextualisieren zu können. Um der Politik der Repräsentation unabhängiger Filmemacher_innen gerecht zu werden, muss die Reichweite einer solchen Kontextualisierung im intermedialen Raum weit aufgefächert werden: »[...] [E]nvisioning the media as part of a broader discursive network ranging from the erudite (poems, novels, history, performance art, cultural theory) to the popular (commercial television, pop music, journalism, theme parks, tourist ads)« (Shohat und Stam 1994, 5).

In diesem Sinne beginne ich im nächsten Abschnitt mit einer historischen Perspektive auf die intermediale Verfestigung des »touristischen Blicks« (Urry 2002) als Moment einer weiteren Tourismifizierung des Kaschmirtals. Der touristische Blick wird zuerst innerhalb der medialen, mobilen Dispositive kolonialer Reiseberichte, der kolonialen Photographie und des Hindi-Films besprochen. Diese verankerten Kaschmir als »besonderen Ort« (Gaur 2010) in der südasiatischen populären Imagination. Es bedarf dabei eines Blicks auf die Bewegungen von Menschen, Bildern, Technologien und Kapital (Appadurai 1996), um nachvollziehen zu können, was Kaschmir zu dem »begehrten Territorium« (Kabir 2009) gemacht hat, das es heute ist und in welcher Form seine militärische Besatzung von post-kolonialen Aporien durchdrungen ist.

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Dagegen verbindet der āzādī-Slogan zunehmend Gruppen, die von dem Nationalstaat ausgeschlossen oder marginalisiert werden. Der Anthropologe Mohamad Junaid berichtet über die Transformationen von āzādī im Kontext der JNU-Proteste von 2016: »The chant, and some of its seditious Kashmiri content, has come easily to JNU, a place known for raising critical issues. And why not? Azadi is on the move, and makes stops in all kinds of places. It takes on its singular and universal meanings in Kashmir, in Palestine, in Kurdistan, in Manipur, in Nagaland, in BlackLivesMatter, in DalitLivesMatter, in HCU/JNU/KUSU. These places speak to each other, and through each other« (Junaid 2016).

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Ich werde folgend zeigen, dass die Proteste der Kashmiri-Intifada andauern, während staatliche Akteure und die Tourismusbranche in Kooperation mit der Hindi-Filmindustrie ein neues regionales Branding Kaschmirs »als Paradies« vorantreiben. Gleichzeitig erschwert die aus der Securitization resultierende Rahmung Kaschmirs als »Sicherheitsproblem der nationalen Integrität« politische Gespräche über die Zukunft der Region.

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ALS

P ARADIES

Formen der touristischen Mobilität sind ein globales Phänomen der Moderne, deren regionale Kontexte stark variieren können (Wang 2000). So ist insbesondere bei Konfliktregionen oft von einem dark tourism die Rede, bei dem die Faszination für Gewalt und Tod einen wesentlichen Impetus der Reisen darstellt (Foley und Lennon 1996). Shalini Panjabi (2009) hebt in ihrer Forschung zum Tourismus im Kaschmirtal jedoch hervor, dass die seit Mitte der 2000er Jahre rasant wachsende Zahl meist indischer Tourist_innen in Kaschmir in keiner Weise von der makabren Seite des Konflikts beeinflusst ist. Indische Touristen konsumieren nach einer konfliktbedingten Pause die bereits etablierten Attraktionen des Tals erneut: die Berglandschaften, den Dal-See, Sport und Kunsthandwerk. Wie generierten sich nun diese Attraktionen und wie kann ihr Verhältnis zum Konflikt und schließlich zu den Praktiken unabhängiger Filmemacher_innen bestimmt werden? Ananya Kabir (2009) und Rafiq Ahmad (2011) haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Entwicklung des heutigen4 Regimes der Repräsentation Kaschmirs als touristisches Paradies in kolonialen Reiseberichten und Photographien zu verorten sei: »Tourism imaginaries of Kashmir from the colonial past to the »neo-colonial« present have remained essentially frozen in time even as Kashmir has actually moved from a ro4

Ronald Inden (2008) stellt einen sich über mehr als tausend Jahre erstreckenden Zusammenhang einer populären Darstellung Kaschmirs von frühen Sanskritschriften über Mogulgärten bis hin zum Hindi-Film dar. Kaschmir, so seine These, wurde in all diesen Quellen – obgleich sie aus sehr unterschiedlichen textuellen Traditionen stammen – als pleasure garden beschrieben. Ohne soweit zurückzugehen, möchte ich mich in diesem ersten Unterabschnitt mit der rezenteren Genese der paradiesischen Imagination durch eine Beschreibung transkultureller Prozesse der Kolonialzeit auseinandersetzen.

128 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT manticized space of the colonial past to a »strange confined space« of the »neo-colonial« present« (Ahmad 2011, 168).

Viele Filmemacher_innen aus Kaschmir, darunter Fahad Shah, Uzma Falak, Tamim Baba und Abir Bazaz, berichten von dem Einfluss der Schriften Edward Saids auf ihr Denken, insbesondere hinsichtlich der Aspekte des othering von Kashmiris im Hindi-Film und der touristischen Durchdringung »kaschmirischer Kultur«. Das Konzept der tourismification (Salazar 2009) gibt hier einen konzeptuellen Rahmen, der es ermöglicht, systematisch über Tourismus als Verknüpfung politischer Ökonomie, kultureller Repräsentationen und affektiver Erlebniswelten nachzudenken. Ning Wang beschreibt das Konzept als »a sociocultural and socioeconomic process by which society and its environment have been turned into spectacles, attractions, playgrounds, and consumption sites« (Wang 2000, 197).5 Einige Studien heben neben der Frage touristischer Repräsentationen auch Machtrelationen hervor, die sich auf Momente der Anfechtung, Anerkennung und Verdinglichung durch Tourismus beziehen (Coleman und Crang 2002; Hall und Tucker 2004). Andere (Picard 1996; Salazar 2009) betonen, dass die Produktion vermarktbarer, touristischer Bilder die Selbstwahrnehmung der »touristifizierten« (Picard 1996) Gesellschaften selbst zunehmend bestimmt. In jedem Fall beschreibt es einen Prozess, in dem es nicht nur um die Anwesenheit von touristischen Praktiken geht, sondern um ein ganzes Ensemble von Akteuren und Praktiken, die »Tourismus« hervorbringen (Salazar 2009, 49). Eine besondere Rolle hinsichtlich filmischer Praktiken kommt dabei der Etablierung eines »touristischen Blicks« (Urry 2002) zu. Dieser wird, sobald einmal als Blickpraxis etabliert, durch unzählige Postkarten, Webpages, Gemälde, Filmsongsequenzen etc. iteriert und auf eine Weise verfestigt, dass die Dinge, auf die der Blick gerichtet wird, sich »touristisch normalisieren« (ebd.). Diese Normalisierung spielt in der Analyse unabhängiger dokumentarfilmischer Praktiken eine zentrale Rolle, da hier die Überschneidung besatzungsbedingter Immobilität und touristischer Mobilität sinnlich nachvollziehbar gemacht werden kann. Die unabhängigen Dokumentarfilme zeigen so die Widersprüchlichkeit eines touristischen Bilds während des Alltags der Intifada auf. Aber wie und wann begann dieses Bild, Konturen anzunehmen, die auch heute noch wiedererkannt werden können?

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Wang (2000) und Picard (1996) bezeichnen den Prozess als »touristification«. Salazar (2009) betont dagegen die Bedeutung anderer, nicht touristischer Akteure in der Herstellung einer touristischen Durchdringung von Kultur und verwendet daher den Begriff »tourismification« (Salazar 2009, 49).

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The Happy Vale Mary Louise Pratt (1992) beschreibt in ihrer Arbeit zur kolonialen Reiseliteratur die zunehmende Bedeutung von Augenzeugenberichten in der Verschiebung hin zu einer »visuellen Wahrnehmung« in der europäischen Reisebeschreibung. Febvre betont, dass Reiseberichte bis ins 16. Jahrhundert multisensorisch waren und sich durch eher fließende Übergänge zwischen den Sinnen auszeichneten (Febvre 1985, 437). Landschaften konnten erst unter diesen veränderten epistemologischen und technologischen Bedingungen auf eine Weise imaginiert werden, die zu ihrer ästhetischen Distanzierung führt. Erst so, nämlich »abstracted from the hustle and bustle of everyday experience« (Urry 2007, 257), wurde die touristische Aussicht möglich. Es sind vom Alltag abstrahierte Bilder von Kaschmir, die sich heute nicht nur in Songsequenzen von Hindi-Filmen, sondern auch in unzähligen Restaurants, Hotellobbys und Reisebüros auf dem Subkontinent wiederfinden. Diese durch die Dispositive der Moderne ermöglichten Repräsentationen von außen, die das heutige Doppelbild des Tals als touristisches Paradies und terroristische Hölle im Hindi-Film bilden, wurden wiederum durch Tropen aus unterschiedlichen historischen Konstellationen präfiguriert. Diese reichen von MogulLobeshymnen über europäische Missionare und Abenteuerreisende bis zur Romanze »Lalla Rookh« des romantischen Poeten Thomas Moore und zu den Great-Game-Photographen Samuel Bourne (1834–1912) und John Burke (1843– 1900). Die Dispositive der Bilder – also die historischen Bedingungen, unter denen sie (re-)produziert und rezipiert werden konnten (Zimmermann 2011, 13) – waren in den letzten zweihundert Jahren vor allem von der geopolitischen Lage der Region und der Entwicklung technologischer Reproduktionen geprägt (Rai 2003; Kabir 2009). Im 19. Jahrhundert war Kaschmir ein Randschauplatz des kolonialen Great Game zwischen Großbritannien und Russland. Nach der Staatsgründung Indiens und Pakistans im Jahr 1947 kamen der indo-pakistanische Konflikt, der indo-chinesische Konflikt und schließlich, nach 2001, der »globale Krieg gegen den Terrorismus« hinzu. Parallel dazu entwickelten sich neue Technologien der Reproduktion von Bildern – von der im Great Game in großem Maße eingesetzten Photographie bis zum gegenwärtigen Kriegs- bzw. Terrorfilm. Im frühen 19. Jahrhundert wurden die bereits unter den Mogulherrschern6 geschätzten Landschaften des Tals durch die romantischen Motive des »Erhabe-

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Abu’l Fazl (1551–1602), Hofschreiber Akbars, spricht in seiner Beschreibung des Reiches Akbars, der Ain-i-Akbari, vom »Rosengarten Kaschmir«. Der folgende

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nen« der Berglandschaften und des »Pittoresken« der Hügel und Seen neu gerahmt (Kabir 2009; Ahmad 2011). John Barrel hebt hervor, dass die Oberschicht durch ihre Mobilität im 19. Jahrhundert »[...] Erfahrungen von mehr als einer Landschaft, von mehr als einer geografischen Region hatte; und selbst wenn sie nicht viel reiste, war sie, mittels ihrer Kultur, an die Idee der Mobilität gewohnt und konnte sich leicht andere Landschaften vorstellen« (Barrel 1972, 63). Das vielleicht wichtigste Moment in der Entstehung einer neuen romantischorientalistisch geprägten Sicht auf Kaschmir war die »orientalische Romanze Lalla Rookh« (1812) des britischen Dichters Thomas Moore. Moore bereiste zwar selbst nie das Kaschmirtal, las aber die Beschreibungen des Missionars Jerome Xavier (1549–1617) und des reisenden Philosophen Francois de Bernier (1620–1688), die beide im Gefolge der Mogulherrscher Akbar (1542–1605) bzw. Aurangzeb (1618–1707) das Tal besuchten (Keenan 2006).7 Berniers Wendung von Kaschmir als »Paradies Indiens« (Bernier 1916, 186) wurde von Thomas Moore aufgegriffen und popularisiert: Who has not heard of the Vale of Cashmere, With its roses the brightest that earth ever gave, Its temples, and grottos, and fountains as clear As the love-lighted eyes that hung over their wave?

Moores »Romanze« wurde zum Bestseller, der von dem Verleger Longman im Voraus bezahlt, in 55 Editionen 83500-mal gedruckt und europaweit rezipiert wurde (Keenan 2006, 114). Allerdings blieb es bis zur Entstehung des DograReichs nur bei vereinzelten Besuchen von Abenteuerreisenden und Forschern, die Moores Kategorisierungen des happy vale und seiner Landschaften weitestgehend reproduzierten (Ahmad 2011). Nach dem britischen Sieg über die SikhDynastie des Punjabs wurden der aus Jammu stammenden Dogra-Dynastie 1846 im Vertrag von Amritsar die Herrschaftsrechte über ein Territorium verliehen, das schon größtenteils dem Umfang des heute geteilten Territoriums des letzten

Großmogul und Kaschmir-Liebhaber Jahangir förderte nachhaltig das heutige touristische Bild des Tals, indem er die in der tentative list des UNESCO-Weltkulturerbes ⁠aufgenommenen Shalimar-Gärten anlegte. In Akbars Gefolge reiste auch der Poet Urfi mit nach Kaschmir und drückte seine Begeisterung für das Tal mit folgenden Worten aus: »Every scorched soul / That lands in Kashmir, / Will come to life and fly away / Even if it were a roasted bird« (Mufti 2013, xxxviii). 7

Francois de Bernier besuchte das Tal in den Jahren 1664 und 1665 (siehe Ahmad 2011, 72).

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Dogra-Maharadschas Hari Singh entsprach (Rai 2004). Die britische Kolonialregierung führte in Kaschmir eine indirekte Herrschaft ein und machte das Tal als Protektorat erstmals für einen breiteren Tourismus zugänglich. Die Konstruktion der Jhelum Valley Road von Srinagar über Baramulla in den Punjab machte die Region schneller und einfacher für Reisende erreichbar, die bis dahin mühselige Bootsfahrten auf dem Jhelum auf sich nehmen mussten. Im späten 19. Jahrhundert wurde dann begonnen, im Tal eine touristische Infrastruktur aufzubauen: Tennis- und Golfplätze wurden um Srinagar angelegt und zum Skifahren im Winter sowie zur Erholung im Sommer richteten die Briten hill stations in Gulmarg und Pahalgam ein. Das Kaschmirtal und seine angrenzenden Gebiete verwandelten sich zunehmend in ein »Urlaubsresort der Raj« (Keenan 2006, 159).8 Eine Reihe neuer Publikationen bediente den aufkommenden Tourismus. Sie gaben Auskünfte über Zugangsrouten, archäologische Stätten, Architektur, Sportstätten und Jagdgebiete sowie pragmatische Informationen zur Währung, Miete von Urlaubswohnungen, zum Umgang mit kaschmirischen Dienern und zu Shikhara9-Tarifen (Ince 1876; Collet und Mitra 1898). Wie aber bildete sich nun das populäre Bild Kaschmirs heraus, das wir heute auf Urlaubsphotos und in Hindi-Filmen sehen können, also sein gegenwärtiger Rahmen in vielen photographischen und filmischen Einstellungen?

Alpinismus, das Malerische und das Erhabene Koloniale Photographen begannen im 19. Jahrhundert damit, in den schwer zugänglichen Bergwelten noch jene »letzten Fleckchen Erde für das Empire« abzulichten, die bislang nur aus Beschreibungen bekannt waren (Ruelfs 2001, 134). Der aufkommende Alpinismus10 und der sich ebenso verbreitende nationale Wettkampf um Erstbesteigungen öffnete Märkte für ein neues bürgerliches Genre: Reiseberichte und Photoausstellungen (ebd. 125). Samuel Bourne war ein ausdauernder Wanderer, der sich im romantischen Sinne in die Natur begab, um

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Weil Kaschmir nicht direkt britischer Verwaltung unterstand, konnte es mit anderen hill stations wie Shimla und Mossourie wirtschaftlich – insbesondere hinsichtlich britischer Investitionen – konkurrieren (Kennedy 1996, 10).

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Eine Shikhara ist ein kaschmirisches Boot mit Baldachin, das oft von Tourist_innen verwendet wird.

10 Der britische Alpine-Club wurde im Jahr 1857 gegründet und war die erste europäische Institution, die sich der Bergsteigerei in ihren wissenschaftlichen, sportlichen und ästhetischen Dimensionen widmete (Ruelfs 2001, 124).

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dort, jenseits landschaftsdarstellerischer Konventionen, die ästhetische Erfahrung dieser »unzugänglichen Region« zu machen (Bourne 2001, 23). Inspiriert von »Lalla Rookh« war er auf der Suche nach dem Erhabenen (sublime) und dem Malerischen (picturesque). Seine ersten Erfahrungen mit der Kamera im Himalaya waren aber eher enttäuschend. Er verglich die Gegend um Shimla mit den seinerzeit zirkulierenden Photographien11 der Schweiz: »Keine Frage, die Berge hier [im Himalaya] sind größer, höher und insgesamt gewaltiger und eindrucksvoller; aber sie sind in ihrer Kontur nicht so kahl und scharf umrissen, sie stehen nicht für sich allein, weisen keine solche Vielfalt auf, besitzen nicht solch schöne und fruchtbare Täler, keine Seen, wenige Wasserfälle [...]« (Bourne 2001, 44).

Nach einem mühsamen Aufstieg auf die Pir Panjal-Bergkette war er dann umso glücklicher, im Kaschmirtal nicht nur Berge aufzufinden, die in ihrer rahmensprengenden Erhabenheit nur schwer zu fassen waren, sondern auch liebliche Rosenlauben und malerische Hütten zwischen orientalischen Platanen (ebd. 50– 51).12 Bournes Beschreibungen geben das Spannungsfeld zwischen malerischer Schönheit und erhabener Gewalt wieder, die in zeitgenössischen europäischen ästhetischen Theorien oft in der Schweiz ihre Apotheose fanden (Ruelfs 2001, 125). Aus seinen Beschreibungen geht hervor, dass es besonders der Abwechslungsreichtum Kaschmirs – wie auch der Schweiz – ist, der die Gegend »malerisch« macht. Als Bourne eine seiner Photographien mit einer Aquarellmalerei des gleichen Motivs verglich, schien die eigene Leistung nicht besonders »realistisch«: »Während Vordergrund und mittlere Distanzen »reizvoll wiedergegeben« wurden, verschwammen die weiteren Distanzen zu schwachen, unerkennbaren Linien« (Bourne 2000, 51).13 Dagegen war seine erklärte Absicht, eine »Brillanz« und »Klarheit« zu erzielen, die so auch von zeitgenössischen Rezipienten nachempfunden wurden (Sampson 2000, 135). Seine Arbeiten waren so erfolgreich, dass er zusammen mit dem Photographen Charles Shepard ein Studio in Kolkata und eine Filiale in Bombay einrichten konnte (ebd.).

11 Bourne nennt hier die Brüder Bisson sowie William England. Sie waren Teil eines romantischen Schweiz-Enthusiasmus insbesondere unter britischen Reisenden. 12 Vgl. Ananya Kabirs (2009, 60-75] detaillierte Ausführungen zur Signifikanz dieser technologisch und kulturell vermittelten Landschaftserfahrungen von Bourne. In diesem Unterabschnitt folge ich – mit einigen Ergänzungen – weitestgehend ihrer Darstellung. 13 Ein technisches Problem der Landschaftsphotographie, das Mitte des 19. Jahrhunderts mit Doppelbelichtungen gelöst wurde (Zimmermann 2000).

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Bourne steuerte zu der Rhetorik von Kaschmirs Besonderheit neben Landschafts-, Stadt- und Porträtaufnahmen einige nostalgische Blicke auf archäologische Ruinen bei. Ob diese Region nun als malerisch, erhaben oder nostalgischverloren galt: Sie blieb ein abenteuerlicher und begehrenswerter Ort. Auch wenn Bourne sich über den Dreck Srinagars beschwert (Bourne 2000, 54), ist auf seinen Aufnahmen davon nichts zu sehen. Vielmehr fokussieren die Bilder auf die malerischen Qualitäten des Tals und prägen ein nun weltweit sichtbares Kaschmir, dessen Bilder als Konsumwaren verkauft werden und dessen Territorium nun als erreichbar imaginiert werden kann (Kabir 2009, 69). Damit war ein Repertoire an Tropen, Figuren und Einstellungen etabliert, das Kaschmir der Welt bekannt machte und das die heutigen Darstellungen des Tals präfiguriert. Sie waren auch, wie Kabir erläutert, in ein erfolgreiches Gewerbe eingebunden, das mechanische Reproduktionen in hoher Geschwindigkeit herstellte und in großer Zahl weltweit zugänglich machte. Abbildung 1: Jhelum und Berglandschaft

Bourne und Shepard Studio. Ananya Kabirs Argument ist, dass die Konsumtion der Bilder von Sport, Bergen, Seen etc. ein ideologischer Aufschub der Auseinandersetzung zum einen mit einer brutalen Besatzungsgeschichte und zum anderen mit der spezifischen Geschichte des kaschmirischen »Anschlusses« sind. Gleichzeitig, so Kabir, werden Kashmiris als nicht-moderne Andere dem modernen indischen Mittelschichts-

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selbst gegenübergestellt, das diese Landschaften touristisch konsumiert (Kabir 2009, 16). Wie auch immer die ideologische Position einer Imagination der Moderne in Bezug auf den Kaschmirkonflikt eingeschätzt werden soll, der Fokus auf moderne touristische Freuden markiert jedenfalls die Transformation der Rahmen einer kolonialen Photographie zu den Darstellungen des Tals im HindiFilm der 1960er Jahre.

Der Hindi-Film im Urlaub Die Filmemacherin und Filmwissenschaftlerin Meenu Gaur (2010) zeigt auf, wie vor den 1960er Jahren Kaschmir im Hindi-Film in erster Linie über die romantische, spirituelle Krise des Hauptdarstellers Raj Kapoor repräsentiert wurde. Erst seit den 1960er Jahren kam es zu einem regelrechten Ansturm der HindiFilmindustrie auf das Tal. Der zum Hindi-Film enge Verbindungen unterhaltende Präsident der kaschmirischen Travel Agents Association, Nazir Bakshi, schätzt, dass im Jahr 198514 etwa 25 Filmteams gleichzeitig im Tal aktiv waren (Gaur 2010, 191). In den Repräsentationen des Films führte diese touristische Situation zu einer neuen Ästhetik des Konsums. Aus Technicolor-Darstellungen von Wasserski und Automobilität, der eher »westlich« orientierten Musik von Komponisten wie R.D. Burma, Shankar Jaikishen und OP Nayyar, resultierte das Bild Kaschmirs als Spielplatz für die modernen Vergnügungen der aufsteigenden indischen Mittelschichten (Rai 2001; Kasbekar 1996; Kabir 2005, 2009; Gaur 2010). Oft im Mittelpunkt der Besprechung des touristischen Bildes Kaschmirs im Hindi-Film (Kabir 2005; Gaur 2010) steht dabei der Schauspieler Shammi Kapoor als Verkörperung maskuliner indischer Mittelschichtsfreuden in Kaschmir. Seine ekstatischen Tänze in »Junglee« (»Wild«, 1961) und »Kashmir ki Kali« (»Die Blume Kaschmirs«, 1964) brachten ihm dabei den Spitznamen »indischer Elvis Presley« ein. Die politischen Spannungen im Kaschmirtal der 1960er Jahre ignorierend,15 wurde eine indische Moderne mit einer passiven kaschmirischen, pastoralen Idylle kontrastiert, die an Nehrus schwärmerische Berichte der Region erinnert (siehe oben; vgl. Kabir 2005, 91).

14 In diesem Jahr erschien auch Vidhu Vinod Chopras satirischer Film »Khamosh« (1985). Der Film erzählt von einem Filmdreh im Kaschmirtal, während dem ein Mord geschieht. Dabei parodiert er durch die verschiedenen narrativen Rahmenhandlungen auch eine ganze Reihe kaschmirischer Stereotypen des touristischen Genres. 15 Einen guten Überblick dieser turbulente Phase des kaschmirischen Nationalismus, in der sozialistische Artikulationen vorherrschten, gibt Haksar (2015).

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Dabei verbanden sich die romantischen Aspekte des Aufenthalts, die viele Mitglieder der Filmindustrie in Kaschmir genossen, mit den wirtschaftlichen Interessen der kaschmirischen Tourismusindustrie in zunehmend eng geknüpften Netzwerken (Gaur 2010). Insbesondere die Freundschaft Nazir Bakshis zum Starregisseur Yash Chopra führte zu einer großen Anzahl von touristisch geprägten Filmen, die das Bild Kaschmirs in Indien bis heute prägen. Die Bedeutung der Filmindustrie für das regionale Image Kaschmirs kann auf den ersten Blick an der Homepage der Tourismusbehörde von Jammu und Kaschmir abgelesen werden, die eine eigene Rubrik für die bisher produzierten Filme über das Tal hat. In einem Rückkopplungseffekt wurde die filmische Imagination auch auf die geographische Landschaft projiziert. Ein Seitental des Jhelum, das Betaab Valley, ist heute nach dem Film-Hit mit Sunny Deol und Amrita Singh benannt. Die visuelle Essenz und erquickende Imagination der Berge, Seen und Blumenfelder von Kaschmir gingen insbesondere in der Entwicklung des populären Films in Südasien eine Symbiose mit anderen Berg-, See- und Schneelandschaften ein, bspw. mit Shimla, der Schweiz oder den Bergen Tamil Nadus. Gemeinsam schaffen sie eine Art essentialisierte Landschaftsikonographie, die sich in unzähligen Musikvideos wiederfindet. Um die räumlich-imaginativen Transformationen kaschmirischer Landschaften zu verdeutlichen, möchte ich hier auf drei Hindi-Filme verweisen, die Hits am Box Office waren. Rachel Dwyer (2002) hebt hervor, dass Shah Rukh Khans berühmte Explorationen der Schweiz in »Dilwale Dulhania Le Jayenge« (1995) teilweise auf die konfliktbedingten Schwierigkeiten der Produktion von Filmen im Kaschmirtal nach 1990 zurückzuführen sind. Auch die Schauplätze von Mani Ratnams »Roja« (1992), der die filmische Assoziation Kaschmirs mit Terrorismus begründete, gab Schauplätze in Tamil Nadu und Shimla als Kaschmir aus (Vasudevan 2010). Dagegen wurde der kürzlich erschienene Hindi-Film »Yeh Jawaani Hai Deewani« (2013) von Jammu und Kaschmirs Ministerpräsident Omar Abdullah dahingehend kritisiert, dass er dem Tourismus in Kaschmir schade, da die kaschmirische hill station Gulmarg als Drehort für eine Imagination von Manali ausgegeben wurde (Bisht 2013). Viele Bilder in Songsequenzen von Hindi-Filmen rufen Assoziationen mit Kaschmir auf, ohne dabei eine Kaschmir-Referenz besitzen zu müssen. Da in den letzten Jahren Kaschmir wieder für Filme und Massentourismus zugänglich wurde, kamen nun auch verstärkt direkte Kaschmir-Referenzen und Drehorte in Mode (bekannte Beispiele sind die Hindi-Filme »Jab Tak Hai Jaan« [2012], »Haider« [2014] und »Bajrangi Bhaijaan« [2015]).

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Touristischer Blick, Nationalismus und Mobilität John Urry (2007) macht auf die deterritorialisierende Wirkung des enormen weltweiten Anstiegs touristischer Mobilität aufmerksam. Diese entfaltete sich nicht nur dank der technologisch bedingt größeren Reichweite und Geschwindigkeit des Reisens (ebd. 5–6), sondern auch durch die grenzüberquerenden Flüsse von Bildern der als touristisch erreichbar imaginierten Orte. Das Kaschmirtal verschwand allerdings nach einer in den Medien sehr präsenten Entführung einer Gruppe westlicher Touristen und dem späteren Mord an ihnen durch Terroristen im Jahr 1995 als beliebtes Reiseziel des globalen Nordens. Dieses gegenwärtige Desinteresse des Nordens an Kaschmir als touristischem Ort spiegelt das Desinteresse an dem politischen Konflikt. In der indischen Imagination blieb das Tal als Reiseort dagegen stets präsent. Nach dem Ende des intensiv geführten militärischen Konflikts wurde es wieder von inländischen Tourist_innen besucht. Die imaginäre Territorialisierung Kaschmirs ist, wie Kabir (2009) überzeugend argumentiert, in indisch-nationale Erzählungen der Moderne und ihrer Freuden eingebunden. Dabei sind die Repräsentationen zum einen solche der Mobilität, d.h., sie fokussieren auf mobile Akteure und ihre modernen Freuden. Zum anderen gingen sie nach dem bewaffneten Aufstand ab 1990 zur Darstellung von Terrorismus über (z.B. »Roja« 1992; »Mission Kashmir« 1999; »Yahaan« 2005). Es sind aber auch Repräsentationen, die von selbst hochmobilen Akteuren hergestellt wurden und bis heute die Selbst- und Fremdzuschreibungen der Region durch den Prozess der Tourismifizierung mitbestimmen.

S ECURITIZATION : D ER K ASHMIRISCHE M USLIM N ATIONALER S ÄKULARISMUS

UND

Mit der Explosion einer Shikhara auf dem Dal-See, der ruhig im romantischen Dämmerlicht vor Bergsilhouetten liegt (siehe Abb. 2) – also so, wie wir ihn auf zahlreichen Postkarten und Websites sehen können –, beginnt der Box OfficeHit »Mission Kashmir« (1999). Diese Attacke eines populären Films auf die populäre Vorstellung von Kaschmir als Paradies auf Erden trug unter anderem dazu bei, den inländischen touristischen Verkehr nach Kaschmir zu drosseln.16 Der 16 Diese Einschätzung stammt von Nazir Bakshi (Konversation mit Bakshi in Srinagar am 20.05.2014). Seit den 1960er Jahren betreut seine Tourismusagentur Hindi-

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Einbruch touristischer Zahlen verweist daher weniger auf die Intensität des Konflikts vor Ort, sondern mehr auf die (Un-)Sichtbarkeit des Konflikts im HindiFilm. Abbildung 2: Anfangssequenz mit Shikharaexplosion.

»Mission Kashmir« (Chopra, 1999). Insbesondere nach dem Kargil-Krieg (1999) wurden über etliche Jahre in indischen Kinos vorwiegend Bilder eines terroristischen Schauplatzes in dem neuen »cine-patriotischen« (Sethi 2002) Actiongenre geliefert, das die indische Nation in der Bedrohung durch einen Terrorismus, oft kaschmirischer Prägung, zeigte (Desai 2007; Kabir 2010). Dies gilt auch für Hindi-Filme wie »Lakshya« (2004), »Yahaan« (2005) und »Sikandar« (2009), die während der Zeit einer relativen Stabilisierung der Lage bis zum Beginn der Amarnath-Agitation von 2008 produziert wurden. Während es tatsächlich gegen Mitte der 2000er Jahre durch die militärische Übermacht der indischen Armee und einigen Aushandlungen zu einer Entspannung der Gefechtslage zwischen militants, indischem Militär und Paramilitärs kam (Commuri 2010), wurden in Mumbai weiterhin vorwiegend terrorzentrische Hindi-Filme über Kaschmir produziert. Diese Filme leisten einen wesentlichen Beitrag zur Securitization Kaschmirs, d.h., der Art und Weise, wie die Region als Sicherheitsproblem wahrgenommen wird. Das Konzept der »Securitization« verweist nach der Kopenhagener Schule für Konfliktstudien (Salter 2008) auf die Bemühungen von militärischen und zivilen Akteuren, die in einem Konstruktionsprozess bestimmen, was als Referent eines Sicherheitsrisikos betrachtet und wie dieser kommuniziert wird. Ich werde mich in diesem Abschnitt vorwiegend mit dem populären Format des Hindi-Films beschäftigen, da dieses das sogenannte »Sicherheitsproblem Kaschmir« in Bezug zur indischen Nation rahmt und eine große Sichtbarkeit erzielt. Filmproduzenten, die in das Kaschmirtal kommen. Er zählte unter anderem Yash Chopra zu seinem – nicht nur beruflichen – Freundeskreis. Die statistischen Angaben in der Forschung von Sharma (2009) bestätigen Bakshis Einschätzung hinsichtlich des Rückgangs der Zahlen des inländischen Tourismus nach dem Erscheinen von »Mission Kashmir« im Jahr 1999.

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Terror im Hindi-Film »Its power located in the extent to which it can be made legible to a mass audience, terrorism in many ways only exists as a mass-mediated text. The melodrama of action films and other media depictions of terror are not, then, merely sites where preexisting cultural anxieties are expressed and reaffirmed. They are the sites where the cultural anxieties regarding terrorism are actively created« (Meuff 2006).

Vor dem Hintergrund der Bilderregimes über das Kaschmirtal nach dem Jahr 1990 nimmt der stereotype muslimische Terrorist kaschmirischer Provenienz eine mindestens genauso zentrale Bedeutung für das Image der Region ein wie der stereotype Tourist. Ich habe bereits erwähnt, dass durch die gleichzeitigen Prozesse der Tourismifizierung und Securitization die Figuren des Touristen und des Terroristen nicht strikt voneinander zu trennen sind, sondern sich eher durch einen komplementären Charakter ergänzen. Wie der Tourist ist der Terrorist ein hoch mobiler cinematischer Protagonist, der in einer für Konfliktfilme typischen Verschränkung des diegetischen und nationalen Raums (Shohat 2010; Sengul 2012) Grenzen moralischer und physisch-territorialer Art überschreitet. Im Gegensatz zum Touristen löst der Terrorist jedoch Sicherheitsprobleme aus. Die Genrebestimmung von Filmen, die Terrorismus behandeln, wurden von Manisha Sethi (2002, 31–33) unter dem Begriff »cinepatriotism« beschrieben als »a set of films, indeed a genre now, that seeks to represent, visualize, and narrativize the sovereignty of the supposedly secular, but in practice upper-caste, Hindu Indian nation« (Rai 2012, 120). In diesen Filmen wird »der Muslim« als gleichermaßen notwendig und problematisch für die Sicherheit des indischen Staates dargestellt (ebd. 121). Oft behandeln die Filme einen »nicht-säkularen muslimischen Anderen«, der durch die Übertretung der Line of Control (LoC) zum Terroristen und damit zur Gefahr für die »nationale Integrität« der indischen Union wird (Gaur 2010; Kabir 2010). Dabei werden durch die melodramatische Form nationale Konflikte zumeist in der Sphäre familiärer Beziehungen figuriert17 (Raghavendra 2008; Kaplan 2002, 201–205; Mecklai 2012, 150–153).

17 Sumita Chakravarty (2000) betont die prekäre Position der Nation im HindiMelodrama, die stets über die Allegorie der Familie oder des heterosexuellen Paars verhandelt werden muss: »The story of a couple, family or group represents/represents the whole of which they constitute a part. Thus the »nation« as an entity is always eclipsed in cinema and has to be reconstituted by viewers through its screen absence. It is the absence which marks the fullness of the nation. The fragment is

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Zahlreiche Arbeiten zu Hindi-Filmen über Kaschmir beschäftigen sich daher mit der Art und Weise, wie innerhalb einer melodramatischen Form die patriarchale Familie zum narrativen Ort des Traumas der indischen Teilung wird (Dirks 2001; Kabir 2009; Rai 2012).

Nationaler Säkularismus In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf die Frage, wie der historische Moment des Terrorismus im Hindi-Film von Filmwissenschaftler_innen bislang analysiert wurde. Diese Frage stelle ich insbesondere in Bezug auf drei zentrale Ereignisse: die indische Teilung (1947), den Kargil-Krieg (1999) und die wirtschaftliche Liberalisierung (ab Mitte der 1980er Jahre). Es wird sich zeigen, dass für alle drei Ereignisse ein nationaler Säkularismus die Klammer darstellt, die Nation in Zeiten rasanten Wandels zu festigen. Der Konfliktforscher Paul R. Brass hat die Konvergenzen hindu-nationalistischer Artikulationen mit jenen von säkular-nationalistischen Akteuren für die Konstruktion einer nationalen Geschichte Indiens präzise zusammengefasst: »For the purpose of any survey, reconstruction, or fabrication of Indian history is to justify several claims: first, that Indian history has displayed a striving for unity of the subcontinent and its peoples that has persisted through time; second, that unity must never again be compromised; third, that unity is essential to achieve India’s rightful place in the world as a great power; fourth, that any threat to that unity must be squashed by utmost, should any group be recalcitrant enough to resist. In all these respects, secular and Hindu nationalists agree, as they do on the great goal that inspires it, namely, that of transforming India into a great, modern state« (Brass 2006, 162–163).

Worauf sich hier Hindu-Nationalisten und säkulare Nationalisten nach Brass einigen können, ist die Verteidigung des Nationalstaats – obgleich die Wahrnehmung dessen, was diesen Nationalstaat gefährdet, stark variieren kann. Mit dem Begriff »nationaler Säkularismus« spreche ich die Überschneidung der Normativität des Nationalstaats mit einem rhetorischen Bezug auf »Säkularismus« als verbindendes Element der Nation an. Damit geht es also nicht um die erheblichen Unterschiede zwischen den politischen Positionen von Menschen, die sich selbst als säkulare Nationalisten oder Hindunationalisten betrachten. Ich möchte

therefore both the nation’s source of fear and its object of desire, its threat and its promise« (Chakravarty 2000, 226).

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mit dem Terminus stattdessen die identitätsbezogene Verwendung des Begriffs »Säkularismus« problematisieren. Es ist bekannt, dass Hindunationalisten der Kongresspartei regelmäßig vorwerfen »pseudo-säkular« zu sein, während sie – zumeist durch eine bestimmte Interpretation »des Hinduismus« – sich selbst als authentischere Repräsentanten der Nation darstellen (Mohapatra et al. 2017). Wie Faisal Devji (2007) bemerkt, greifen hindunationalistische Akteure nicht direkt den Säkularismus an, sondern identifizieren sich selbst mit dem Staat. Da der Begriff des Säkularismus zu einer zentralen Trope des Staats geworden ist, beziehen Hindunationalisten ihn, so Devji, lieber negativ auf den politischen Gegner. Ich möchte an dieser Stelle Jose Casanova (2010) folgend zwischen einer Ideologie des Säkularismus und einem staatspolitischen Prinzip unterscheiden. Die Ideologie beantwortet die Frage, warum wir Säkularismus brauchen. Im Versuch, darauf eine Antwort zu geben, definiert diese Ideologie immer wieder neu, was Religion ist und kann. In der Rechtsprechung kann dagegen beobachtet werden, wie das staatspolitische Prinzip Anwendung findet. Dass sich hier die Einschätzung von Säkularismus im indischen Mediendiskurs teilweise stark von der Umsetzung des Prinzips in der indischen Rechtsprechung unterscheidet, hat Schneider (2006) im Bezug auf den Shah Bano-Fall aufgezeigt. Wenn eine Ideologie die Frage »warum brauchen wir Säkularismus« mit »um indische Muslime zu schützen« beantwortet – denn entlang der sogenannten »Muslim-Frage« (Ahmad 2009) hat sich in kolonialer Zeit diese Debatte entwickelt – dann ist klar, dass Kaschmir einen direkten Affront gegenüber der Logik der indischen Teilung auf Basis religiöser Zugehörigkeit und der folgenden Integration in den säkularen Nationalstaat darstellt (Rai 2011). Der kaschmirische muslimische Separatist ist damit eine an die Logik der Teilung rührende Gefahr des nationalstaatlichen Projekts und gleichzeitig eine seiner ermöglichenden Bedingungen (siehe nächsten Abschnitt). Dieser Narration folgend wird der heutige Konflikt oft als ein »religiöser« dargestellt, und damit geschieht eine Nivellierung der sehr viel komplexeren Motivationen der Konfliktakteure des Kaschmirtals und ihrer historischen Enttäuschungen mit der Politik des indischen Staats.18 Überdies merkt Maidul Islam (2015, 103) an, dass die sogenannte »Muslim Frage« in Indien selbst von den meisten marxistischen und Subaltern Studies-Autoren nicht als Klassenfrage betrachtet wurde, sondern sich in Debatten um »Kommunalismus und Säkularismus« sowie zwischen »Identität und Sicherheit« artikulierte. Dabei ist, wie Islam

18 Es mangelt nicht an detaillierten Studien zur Entstehung des Kaschmirkonflikts (Bose 1997, Puri 2008, Schofield 2010).

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(2015) im Verweis auf verschiedene sozio-ökonomische Studien vermerkt, gerade die ökonomische Ausgrenzung vieler Muslime in Indien frappierend, die zu den ärmsten Segmenten der indischen Bevölkerung zählen und darüber hinaus noch politisch marginalisiert werden (ebd. 102). Mit Blick auf den Konflikt im Kaschmirtal – dem einzigen Ort in Indien, an dem es eine breite muslimische Mittelschicht gibt – wurden ebenfalls die Klassenaspekte des Konflikts, insbesondere im Bezug auf die Politik der Jamaat-e-Islami und der einhergehenden Forderung nach Pakistan, selten auf den Klassenaspekt hin, sondern eher in Anlehnung an die indische Debatte vor allem kulturell, identitär und sicherheitspolitisch gelesen. Von dem oben Ausgeführten wird ersichtlich, dass durch die rhetorische Verwendung des Begriffs »Säkularismus« bestimmte Subjektpositionen ausgegrenzt werden können. Wenn von Bhargava (1999) in der philosophischen Säkularismusdebatte die Antwort auf die Notwendigkeit des Säkularismus mit dem Hinweis auf den Umgang mit einer »tiefen Diversität« gegeben wird, bleibt die Frage offen, innerhalb von was mit dieser Diversität umgegangen wird. Hier bleibt der Nationalstaat als Container einer säkularen Politik übrig. Weiter verkomplizierend kommt noch das »aktivistische Moment« (Devji 2007) des von Bhargava elaborierten indischen Säkularismus dazu, also die Interventionen in die Praktiken einiger Gruppierungen (bspw. des Hindu-Personenstandsrecht), um ein staatliches Projekt einer distanzierten Gleichbehandlung zu gewährleisten. Es dürfte klar sein, dass, sobald Menschen sich selbst nicht als einer Nation zugehörig betrachten, eine so eng (teils aktivistisch) mit dem Nationalstaat verbundene Trope wie »Säkularismus« für sie problematisch wird. So kann beispielsweise der Gegensatz der Jamaat-e-Islami Kashmir und der Jamaat-e-Islami Hind im Bezug auf Säkularismus verstanden werden. Für die indische Fraktion stellt seit einiger Zeit der von ihrem Gründer Syed Abul A'la Maududi stark kritisierte Begriff Säkularismus eine Möglichkeit dar, Minderheitsrechte innerhalb Indiens einzuklagen (Ahmad 2009; Islam 2015). Für die Jamaat-e-Islami Kashmir wird der Begriff jedoch auf der offiziellen Homepage noch als lādiniat übersetzt (wörtlich: Glaubenslosigkeit; bezeichnet oft auch Atheismus) und als hinderlich zur Errichtung eines stärker islamisch geprägten Staats angesehen. Nicht zuletzt aus diesem Grund soll diese Passage auf keinen Fall den Eindruck einer Kritik am »indischen« Säkularismus erwecken. Es soll nur auf die verschiedenen Kontexte hingewiesen werden, die es zu beachten gilt, wenn der Begriff rhetorisch verwendet wird, um die Normativität des Nationalstaats zu bestätigen, sozio-ökonomische Prozesse abzublenden oder ebenso ideologische Verkürzungen in der pauschalen Ablehnung einer »Ideologie des indischen Staats« vorzunehmen, wie es von einigen meiner kaschmirischen Gesprächspart-

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ner_innen artikuliert wurde. Nun möchte ich näher einzoomen, um diese rhetorische Verwendung der Trope »Säkularismus« im Hindi-Film über Bezug zur sogenannten Roja-Debatte zu beschreiben. Die Roja-Debatte, geführt von namhaftem indischen Filmwissenschaftler_innen über Mani Ratnams Film »Roja« (1992), ist aufschlussreich für die spätere Diskussion der historischen Rolle des Stereotyps vom muslimischen Terroristen und dient als Einstieg in das oben skizzierte Problemfeld.

Die Roja-Debatte Ausgangspunkt der Debatte war Tejaswini Niranjanas Essay »Integrating whose Nation? Tourists and Terrorists in Roja« in der Zeitschrift »Economical and Political Weekly« (EPW) und den Antworten von Chakravarthy und Pandian, Srinivas und Bharucha (alle in EPW, 1994). Die Besprechungen des Films hoben seine Bedeutung im Kontext der wirtschaftlichen Liberalisierung, dem Aufstieg neuer Mittelschichten, indischem Säkularismus, liberalem Humanismus und filmformalem Realismus hervor (Vasudevan 1994, 2010; Dirks 2001; Benjamin 2006). Gaur (2010) wirft der EPW-Diskussion vor, durch den zu engen Fokus auf den Hindu-Nationalismus und die wirtschaftliche Liberalisierung, den Blick für eine ganze Reihe von Kontinuitäten verloren zu haben, die sie in einer ausführlichen Analyse der Repräsentationen Kaschmirs im Hindi-Film seit der indischen Unabhängigkeit herausarbeitet. »Hindu-Werte« seien schon seit der Unabhängigkeit Indiens Bestandteil national-kultureller Identität. Im Hindi-Kino wurde die Artikulation von »indianess« und Moderne bereits über den Ausschluss des »traditionellen Muslims« erzielt (Gaur 2010, 242-243). Gaur betont, dass einige dieser Tropen dabei auf die klassische Artikulation des »nehruvianSäkularismus« zurückgehen. Sie hebt in einer ausführlichen Diskussion nicht nur des Films, sondern auch der zum Teil zeitgleich geführten, politikwissenschaftlich und philosophisch ausgerichteten Säkularismus-Debatte (Bhargava 1999) die Doppelbindung hervor, dass im nationalen Säkularismus »der Muslim«, um ein indischer Muslim zu sein, zugleich »Muslim und Nicht-Muslim« sein muss (ebd. 248): »Indian secularism requires the »Muslimness« of the Muslims [...] to be acknowledged, validated, redeemed, and to triumph« (Gaur 2010, 248). In Anlehnung an Vasudevans (1994, vgl. 2010) Besprechung des RegionZentrum-Verhältnisses betont sie, wie in »Roja« eine kaschmirische Partikularität über eine tamilische Identifikation mit der Nation erreicht wird. Dies gelingt, so Gaur (2010, 255), nur über den Ausschluss der Figur des Muslims. Dabei sieht sie auch einen Ausschluss der Thematik des Region-Zentrum-Verhältnisses

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an die philosophisch orientierte Säkularismus-Debatte (Bhargava 1999), die nur von wenigen Beteiligten erkannt wurde (Gaur 2010, 255). Die Dynamik der rhetorischen Verwendung eines nationalen Säkularismus im Hindi-Film muss für ein besseres Verständnis noch auf die Repräsentationen von kaschmirischmuslimischen Frauen bezogen und vor dem Hintergrund der Region-Zentrum Beziehungen betrachtet werden.

Kashmiriyat und Gender Die stereotype »kaschmirische Frau« wird dabei im indischen medialen Mainstream sowie in einigen auf Menschenrechtsvergehen ausgerichteten Forschungsberichten19 und Dokumentarfilmproduktionen oft als passives Opfer eines religiös überdeterminierten Konflikts dargestellt. Vor allem im Hindi-Film (z.B. »Mission Kashmir« 1999, »Yahaan« 2005, »Fanaa« 2006) wird »die muslimische Frau« als Projektionsfigur eines indischen Säkularismus in Kaschmir mit den zentralen diskursiven Knotenpunkten des Kaschmir-Indien-Verhältnisses aufgeladen. Diese Dynamik kann an der Mittlerrolle der Protagonistin Sufi (Preity Zinta) aus dem Film »Mission Kashmir« (1999) aufgezeigt werden.

19 Viele Beiträge der Sammlung feministischer Analysen gegenderter Gewalt im Kaschmirtal »Speaking Peace: Women’s Voices from Kashmir« (Butalia 2002) widmen sich der Thematik aus einer humanistischen Perspektive. Die oft dichten Beschreibungen des Leids – insbesondere von Rita Dewan (2002) – lassen wenig Raum für die emanzipativen Aspekte der Partizipation von Frauen in der Bewegung zur politischen Selbstbestimmung. Die einzige Ausnahme im Sammelband ist der Beitrag von Uma Chakravarti (2002), deren veröffentlichte Tagebucheinträge eine ethischpolitischen Begegnung des indischen Menschenrechtsteams, mit dem sie in das Tal kam, und der interviewten Menschen, die sie dort trafen, reflektiert. Ohne von intersektionalen Aspekten der Gewalt abzusehen, stellt sie klar, dass es eine grundsätzliche Zustimmung vieler Frauen im Tal zur āzādī-Bewegung gibt. Zum anderen macht sie deutlich, dass es klare Machtasymmetrien zwischen der Armee und den militants gibt, die sich auch in gegenderter Gewalt ausdrücken. Obgleich islamistische Initiativen punktuell auftreten, geht das Gros alltäglicher Unterdrückung von der Armee aus. Wenn man bedenkt, dass Chakravarti dieses Tagebuch im Jahr 2001 führte, sind vor allem die Kontinuitäten der militärischen Besatzung bei gleichzeitigem Rückgang der Aktivitäten militanter Gruppen frappierend. Der ethische Appell, der von den anderen Autor_innen dieser Anthologie nicht ausreichend thematisiert wurde, ist in Indien bis heute kaum gehört worden.

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Sufi steht als lebensfrohe Doordarshan20-Mitarbeiterin und Sufi-Humanistin – also als »gute muslimische Frau« – für Freizeitmobilität, Modernität und Humanismus im Verbund mit den uralten mystischen Traditionen des Tals. Ihre Mittlerrolle bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Nation und Region, das über die Vermittlung zwischen Moderne und religiös markiertem Konflikt verkompliziert wird. Sufi ist die Kindheitsfreundin Altaafs (Hrithik Roshan), der durch ein Trauma – der Mord an seiner Familie durch eine staatliche CounterinsurgencyOperation, den er miterleben musste – zum islamistischen Terroristen wird. Sufi gelingt es schließlich, Altaaf wieder »zum Guten zu bekehren«, womit der narrative Abschluss des Films erzielt wird (vgl. Kabir 2010, 279). Ananya Kabir (2009) argumentiert in einer Analyse der Filme der 1960er Jahre, dass das Kaschmirtal durch viele Hindi-Filme als Raum moderner Freizeitfreuden der indischen Mittelschicht repräsentiert wurde. Bilder der Mobilität moderner Freizeitgestaltung wie Bootstouren und Autofahrten, Skisport und Wanderausflüge spielen in diesem Szenario eine zentrale Rolle und setzen sich deutlich von dem Stereotyp sozialer und physischer Immobilität der kaschmirischen muslimischen Frau ab, deren Anschluss an die Moderne nur durch die Tradition des Tals vermittelt werden kann (Gaur 2010). Meenu Gaur (2010, 292–293) hebt hervor, wie in späteren Hindi-Filmen seit dem Beginn des bewaffneten Konflikts 1989 die Protagonist_innen gleichermaßen den Säkularismus Indiens und einen »aufgeklärteren Islam« (ebd. 293) in Kaschmir verkörpern und dabei von indischen Männern vor kaschmirischen Fundamentalisten gerettet werden.21 Der Begriff Kashmiriyat22 ist dabei in eine komplexe Dynamik zwischen Zentrum und Region einzuordnen. In vielen Kontexten tritt er als eine Repräsentation des indischen Säkularismus auf, der durch die Partikularität Kaschmirs beglaubigt und gerettet werden muss (Zutshi 2004). Zuweilen fungiert er auch als »leerer« Signifikant, der für fast jede politische Positionierung im Tal benutzt werden kann und eher ein Rauschen erzeugt, als dass er eine bereits gefestigte politische Artikulation wiederholen würde (Aggarwal 2008). Der Begriff nahm – während im Zentrum durch die Notstandsregierung Indira Gandhis nationale Feinde als »nicht säkular« bezeichnet wurden (Rajagopal 2007, 214) – neue legitimatorische Funktionen in der Region des Kaschmirtals an, wo seit den späten 1970er Jahren, nach dem Indira-Sheikh Accord23 (1974), immer

20 Doordarshan ist das indische öffentlich-rechtliche Fernsehen. 21 Zu dieser kolonialen Trope siehe auch Shohat (1989) und Spivak (2008). 22 Eine Wortschöpfung mit Kaschmir, auf Deutsch in etwa »Kaschmirheit«. 23 In diesem Abkommen mit Indira Gandhi wurde der seit 1953 inhaftierte Sheikh Abdullah wieder als Ministerpräsident von Kaschmir eingesetzt, unter der Bedingung,

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mehr akademische Arbeiten über Kashmiriyat publiziert wurden (Hangloo 2012). Im Kontext der Repräsentationen Kaschmirs im Hindi-Film bemerkt Gaur (2010): »[...] Kashmiriyat like Indian secularism is defined against the idea of »Muslim separatism« in Hindi cinema. [...] Kashmiriyat does not emerge in these films as a specific set of practices or beliefs which are rooted in Islam, and distinct to the history and culture of Kashmir. Like Indian secularism, Kashmiriyat is contained within the binary of secularism/communalism (Kashmiriyat/lslamic fundamentalism) in these films, rather than being a distinctively Kashmiri way of life« (ebd. 303).

Neil Aggarwal (2008, 232) weist darauf hin, dass der Begriff Kashmiriyat als catch-all für die »synkretistischen Traditionen des Tals« zum einen die inneren Differenzen der religiösen Gruppierungen überdeckt und gleichzeitig nichtreligiöse Teilnehmer_innen des Konflikts außerhalb der politischen Debatte platziert: »The shifting borders of the state exemplify how Kashmiriyat operates as an unrepresentative synecdoche for the aspirations of the people. Ironically, the post-colonial leaders of India, Pakistan and the APHC [All Parties Hurriyat Conference] continue to privilege colonial conceptions of regional security by refusing to interrogate notions of the state’s integrity in dealing with local interests« (Aggarwal 2008, 232–233).

Ideologisch verwandte Artikulationen eines »co-optive liberal pluralism« (Shohat und Stam 1994, 300) implizieren immer schon eine durch einen Überbegriff synthetisierte Gemeinschaft. Neil Aggarwals Kritik24 des Begriffs Kashmiriyat

sämtliche rechtliche Einschränkungen des Autonomiestatus Kaschmirs anzuerkennen. Heute gilt Abdullah vielen Kashmiris aufgrund dieses Abkommens als Verräter. 24 Aggarwal kontextualisiert Kashmiriyat nicht hinsichtlich seiner zentralen Position innerhalb einer säkular-nationalen Erzählung. Stattdessen sieht er Kashmiriyat als eingebettet in die Vorstellung eines regionalen Islams, der sich spiegelbildlich zum kommunalistischen Hindu-Mehrheitsdiskurs in Indien verhalte: »The exact opposite process occurs in the state of Jammu and Kashmir: although Kashmiriyat may represent the secular interests of the majority Muslim community, it has not yet shed its affiliation with Islam (Rai 2004; Zutshi 2004). Among others, Devji (1992) and Sharma (2002) have commented on the constricted space of the Muslim minority within Hindu nationalism, but in Jammu and Kashmir Hindu minorities struggle for sociopolitical space within a Kashmiri Muslim framework« (Aggarwal 2008, 233).

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als »leerer Signifikant« muss dahingehend erweitert werden, dass er zumindest nach 1974, dem Jahr des Indira-Sheikh Accord, zum rhetorischen Repertoire einer staatlichen Politik wurde, die Identitätsartikulationen im Kaschmirtal im Sinne des Zentralstaats »managen« wollte.

Die Terroristin Die »Terroristin« ist eine weitere – im Vergleich zu den oben dargestellten eher selten vorkommende – Frauenfigur, die weit ab von dem stereotypen Bild einer weiblichen Gewaltlosigkeit in zwei Filmen mit Kaschmirbezug auftritt: »Dil Se« (1998, Mani Ratnam) und »Lamhaa« (2010, Rahul Dholakia). In dem Actionfilm »Lamhaa« bewegt sich die Terroristin Aziza (Bipasha Bashu) in einer Burka wie eine Parcours-Artistin durch Srinagar. Ihr erster Auftritt im Film zeigt sie im Nahkampf mit einem mutmaßlichen Verräter der »kaschmirischen Bewegung«. Die Burka in der Szene dient der Exotisierung und gleichzeitig als Tarnung während ihrer Aktivitäten für die kaschmirische Bewegung. Hier wird eine Divergenz zum Stereotyp der muslimischen Burka tragenden khatūn evoziert (Kumar 2008, 179). Die āzādī-Bewegung wird in dem Film von dem korrupten Haji Syed Shah (Anupam Kher) repräsentiert, der offensichtliche Assoziationen zum Kopf der Jamaat-e-Islami, Syed Ali Shah Geelani, wachruft. Aziza ist sein Protegé und sie findet im Verlauf des Films seine wahre Intention heraus, die sie gegen Ende auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit mitteilt: Haji trägt verschiedene Pässe, nimmt Gelder aus Saudi-Arabien und Pakistan an und hat kein Interesse an einem Ende des Konflikts. In dem Verschwörungsplot des Films wird die schon in anderen Filmen verbreitete Perspektive eines Nullsummenspiels aus Korruption und machthungrigen Führern des Tals wiederholt (z.B. »Yahaan« und »Mission Kashmir«). Aziza bewegt sich zu Beginn des Films im Umkreis der Dakhteran-e-Millet, einer islamistischen Frauengruppe. Sie weicht zwar, indem sie dezidiert politisch agiert, von Darstellungen Sufis Humanismus

Hinsichtlich einer säkularen Artikulation verweist Aggarwal nur auf die vielfach kritisierte (vgl. Bhargava 1999), normative Konzeption eines indischen Säkularismus von Smith (1963). Durch diese Nichtbeachtung der Schnittstelle zum nationalen Säkularismus wiederholt Aggarwal ironischerweise die von ihm kritisierte Logik von Kashmiriyat als leerem Überbegriff, der gerade auch herangezogen wird, um kaschmirische Muslime – insbesondere aus Reformparteien wie der Jamaat-e-Islami – als »Kommunalisten« aus Gesprächen über die politische Zukunft des Tals auszuschließen.

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aus »Mission Kashmir« ab; ihre »Bekehrung« im Verlauf des Films schreibt sie jedoch wieder in ein indisches Narrativ ein. Obgleich der Film einige positive Kritiken bekam, war er am Box Office in Indien kein Hit. Im Gegensatz zu »Lamhaa« stellt der Film »Dil Se« (1998) von Mani Ratnam25 eine Herausforderung für die Interpretation der weiblichen Hauptrolle dar, auf deren filmwissenschaftliche Diskussion ich im Folgenden näher eingehen möchte. In Mani Ratnams Film scheint mit der Protagonistin Meghna/Moina (Manisha Koirala) das Verhältnis zwischen Terrorist_in und säkularer Liebhaber_in aus »Mission Kashmir« umgekehrt zu werden, wobei die national-säkulare narrative Auflösung der Erzählung erhalten bleibt (Singh 2010). Die in ihrer Kindheit durch Staatsgewalt traumatisierte Terroristin aus einem nicht genauer markierten Nordwesten der indischen Union – gebürtig jedoch aus Kaschmir mit dem Namen Moina – wird zum Ende des Films von dem säkularen All India Radio-Mitarbeiter Amar (Shah Rukh Khan) von ihrer Mission abgehalten: dem Bombenattentat auf die Republican Day Parade in Neu-Delhi. In der letzten Szene des Films explodiert die von Meghna/Moina getragene Bombe in engster Umarmung mit Amar, dessen Selbstopfer als eine säkulare Intervention in den wütenden Regionalismus der traumatisierten Meghna/Moina gewertet werden kann. Ratnams Filme sind bekannt dafür, regionale Diversität durch verschiedene Register – darunter Liedsequenzen und Charakterperformanz – mit dem »multikulturellen« Nationalstaat zu verbinden. Dazu gehören »intertranslated literature, theatre and popular music and lyrics ranging widely across languages and regions. Through these processes, the experience and emotion of one region consciously or imperceptibly move to others to intimate both surprising similarities and interesting differences« (Dasgupta 2001, 73). Der Name Meghna (abgeleitet von Sanskrit megha: wörtlich die Wolke) verweist auf die Beweglichkeit der Protagonistin, die wie auch Altaaf aus »Mission Kashmir« eine grenzüberschreitende Gefahr für die indische Familie – die arrangierte Hochzeit von Amar und Preeti (Preity Zinda) – darstellt. Diese fungiert in »Dil Se« jedoch nicht wie in vielen Hindi-Filmen als synekdochischer

25 Ratnam ist ebenfalls der Regisseur des Films »Roja« (1992), der das neue Genre terrorbezogener Filme einleitete (vgl. 3.2). Ratnams Filme wurden oft hinsichtlich der Dynamiken zwischen Region und Nationalstaat interpretiert: ein tamilisches Filmteam, das in Hindi synchronisierte Filme produziert, die sich allegorisch mit Krisen der nationalen Integrität auseinandersetzen (die Bombay riots von 1993 in dem Film »Bombay« (1995), Kaschmir in »Roja«, die Bewegungen »des Nordostens« in »Dil Se«).

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Anker der Narration (Raghavendra 2010). Stattdessen ist für die Entwicklung der Narration eine »Distanz« (Kabir 2003) zwischen Meghna und Amar zentral, die eher einem islamicate26-romantischen Plot der unmöglichen Liebe folgt (ebd.). Meghna behauptet sich in etlichen Sequenzen des Films gegenüber Exotisierungen ihrer regionalen Identität durch Amar. Verschiedene Sequenzen mit emotionsgeladenen Flashbacks von Meghna üben Kritik an der indischen Armee. So sehen wir, wie die Armee ein Massaker in Meghnas Dorf anrichtet, wobei ihre Schwester vergewaltigt wird (und vermutlich auch Meghna, was jedoch nicht gezeigt wird). Diese potentielle »Gegenerzählung zum nationalen Narrativ« (Kabir 2003, 141) wird im Film bis zum Ende parallel zur patriotischen Rolle Amars, dessen Vater ein Armeeoffizier war, entwickelt. Ananya Kabir (2003) argumentiert, dass die verschiedenen Register und Gegenerzählungen des Films, die mit regionalen Zugehörigkeiten verbunden sind, durch die nicht überwindbare Distanz zwischen Meghna/Moina und Amar die Nation fragmentieren. Diese Fragmentierung schafft – ihrer Lesart nach – eine subversive Öffnung für »minority subjectivities« regionaler Zugehörigkeit. Sie ende mit der Explosion als »narrative irresolution« (Kabir 2003, 145). Ich teile jedoch Sujala Singhs (2010) Bedenken hinsichtlich Kabirs Analyse, da es auch in »Dil Se« mit Amar dem säkularen Protagonisten vorbehalten ist – wie schon Sufi im »Mission Kashmir« –, die grenzüberschreitende, deterritorialisierende Mobilität der Terroristin innerhalb eines national-säkularen Narrativs einzuhegen (Singh 2010, 352–353). Singh hebt hervor, dass die Selbstmordattentäterin schließlich nur sich selbst und ihrem Geliebten schadet: Indem ihre politische Ambition vergeblich ist, wird der nicht korrumpierbare, urbane Hindu-Held, der Sohn eines Armeeoffiziers, wieder als zentrale Handlungsinstanz der Erzählung eingesetzt (ebd.). Im nächsten Abschnitt bespreche ich einige Filme, die sich mit dem KargilKrieg auseinandersetzten und ihren Fokus auf die indisch-pakistanische Grenze richten. Dabei verkörpert der »muslimische Terrorist« – oft gesponsert durch Pakistan – die Figur des verlorenen Sohns, dessen Trennung von der indischen Familie aus der Perspektive einer Pakistan einschließenden, imaginativen Einheit des Subkontinents problematisiert wird.

26 Der englische Begriff »islamicate« bezieht sich auf (bspw. regionale) Aspekte von kulturellen Phänomenen, die in einer Umgebung entstanden, die von Menschen islamischen Glaubens mitgestaltet wurden, aber nicht mit religiösen Praktiken zusammenhängen müssen.

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Filme über die Line of Control: Der weite Radius des nationalen Säkularismus Adrian Athique (2007) argumentiert, dass die cine-patriotischen Filme27 seit 1989 die indische Nation über die Performanz seiner Grenze zu seinem nationalen Anderen, Pakistan, inszeniert. Die Grenze in den von Athique analysierten Filmen J.P. Duttas enthält in ihrer notwendigen rhetorischen Performanz immer eine Ambivalenz, die selbst in dem hurra-patriotischen Film »Border« (1997) auf ihre Kontingenz verweist (ebd. 25). Interessanterweise versteht Athique diese Kontingenz auch als eine mögliche Bestätigung des realistischen geopolitischen Prinzips, das er wie folgt beschreibt: »[Sie] würden uns genauso attackieren wie wir sie« (ebd.; Übersetzung M.K.). Ich will diesen Gedankengang punktuell erweitern und zum Teil kritisieren. Selbst wenn die Figur »des Muslims«, verkörpert durch den Charakter namens Refugee in Duttas zweitem grenzbezogenen Film »Refugee« (2000), sich gegen qaum (die Glaubensgemeinschaft) und für mulk28 (die indische Nation) entscheidet und die Autorität der Grenze anerkennt (Athique 2007, 36–37), bleibt diese immer noch Teil eines säkular-nationalistischen Diskurses, in dem stets ein weiterer ethisch-politischer Körper als »indisch« hinter der Kontingenz der indischpakistanischen Grenze vorgestellt werden kann. Athiques Artikel erschien in Bharat und Kumars Sammelband »Filming the Line of Control« (2007), in dem sie betonen, dass die Pakistan-zentrische Logik vieler Kriegsfilme in den letzten Jahren einer zunehmenden Reflexivität weiche. Diese reflektiere die Rolle der indischen Teilung im Verhältnis beider Nationalstaaten (Bharat und Kumar 2007, xiv). Nicht hervorgehoben wird in dem Sammelband, dass einige der oben genannten, sich explizit auf die kaschmirische Grenze beziehenden Filme trotz Starbesetzung Flops am Box Office waren (insbesondere »LOC-Kargil« und »Lakshya«; »Border« war dagegen ein großer Erfolg). Filme, die sich dagegen mit Fragen einer ethischen Koexistenz von Hindus und Muslimen auseinandersetzen wie »Veer-Zaara« (2004), »Mission Kashmir« (2000) oder »Bajrangi Bhaijaan« (2015) wurden dagegen Publikumserfolge. Vielleicht verweist dies gleichermaßen auf die lange Tradition der allegorischen

27 Zu diesen Filmen zählen u.a.: »Border« (1997), »Mission Kashmir« (2000), »Lakshya« (2004), »LOC: Kargil« (2003), »Main Hoon Na« (2004) und »Lamhaa« (2010). 28 Diese Unterscheidung entnimmt Athique aus Vazira Fazila-Yacoobalis (2002, 183– 198) Analyse der Repräsentationen von muslimischer Identität in John Mathew Mattans Film »Sarfarosh« (1999). Sie differenziert dabei zwischen den drei Kategorien ghar (Haus/Familie), qaum (Gemeinschaft/Glaube) und mulk (Heimat/Nation).

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Aushandlung ethischer Thematiken29 in einer »melodramatischen Öffentlichkeit« (Vasuedevan 2010) und, worauf weder Bharat und Kumar noch Athique hinweisen, die hinsichtlich »Roja« von Gaur herausgearbeitete Dimension des nationalen Säkularismus. Die Konfliktfilme, die die Grenze zwischen Indien und Pakistan zum Thema machen, stehen nach Athique der realistischen geopolitischen Lehrmeinung der »Indian doxa« (ebd. 38) nahe: »[...] [C]onflict will continue as long as enemies outside the nation are trying to enter, the loyalties of border communities are suspect and must be policed, a secure border and the establishment of a clear demarcation between the two states and the adoption of unequivocal national loyalties are the only means of achieving peace. [...] They seek to suggest that once the border is finally naturalized, and everyone has positioned themselves unambiguously within two nation states that have each ceased to make claims upon the territory of the other, then peace can be achieved. The unfinished business of partition in a strictly territorial sense thus becomes both cause and solution to the nationalist problem, with the border driving as the fulcrum between secure and contested national spaces« (Athique 2007, 38–39).

Es ist aber eben nicht nur das von Athique kursiv gesetzte Problem eines territorialen Verständnisses der Nation, das die Filme nationalistisch prägt, sondern, so mein Argument, gerade auch die scheinbar deterritorialisierte Vorstellung kultureller Gemeinsamkeit, die eine höhere Ebene der unausgesprochenen »unity in diversity« als Trope nationaler Integrität schafft. Wenn indische Identität im Hindi-Film evoziert wird, dann geschieht dies oft durch das von Karen Gabriel (2010) angesprochene Paradox, eine mythologisierte unity in diversity zu feiern und dabei historische Einsichten in Konflikte und die regulativen, politischen Maßnahmen ihrer möglichen Beilegung zu ignorieren:

29 Vasudevan verweist auf die Ambivalenzen der melodramatischen Form hinsichtlich der Generierung einer ethischen und metaphysischen Publikumsadresse: »Melodrama's quest for truth used the real as a stage for its metaphysical operations, deploying expressionist means to plunge below the surface of things. In Brooks's argument, this allowed for the exposure of the moral occult, the realm in which spiritual values had become obscured. Innocence and suffering framed a new world in which the personality emerged as the crucial vehicle of ethical and experiential truth. Posed here as a critical dimension in the emergence of modern social and cultural forms, melodrama was defined by ambivalence, pitched at the junction between the old and the new, and often nostalgically evoked past harmonies to resolve the travails of its characters, even as it can to be associated with a struggle against the old order« (Vasudevan 2010, 18).

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»That this heterogeneity is celebrated in principle is no indication of the problems it creates for those who set themselves the task of cognising, defining or exploring the relevance of this »national« identity within current realities, as a base for a nation-state. Nor does it acknowledge the violence or exclusion that is practised in the name of unity« (Gabriel 2010, 235).

Daher versteht Gabriel »Territorialität« zum einen als Metapher der Schließung nationaler Identität gegenüber einem Außen und andererseits als »possible site of rupture, national or otherwise« (ebd. 235). In ihrer Analyse des Films »Border« verweist sie darauf, dass die Differenz zwischen indischen und pakistanischen Soldaten nicht auf ihrer Erscheinung, sondern auf dem »transzendental moralischen« Selbstverständnis des indischen Helden beruhe. In einer dramatisch dargestellten Szene des Films rettet ein indischer Hindu, dargestellt von Rajput Bhairav Singh, einen Koran aus einem brennenden Haus und evoziert so eine indisch-nationale Überlegenheit über das pakistanische Narrativ der Notwendigkeit der Teilung des Subkontinents auf religiöser Grundlage (Gabriel 2010, 240). Gabriel versteht diese »Rettungsaktion« seltsamerweise nicht als nationalsäkulares Narrativ, in dem der säkulare Hindu-Held seine »transzendentale Moralität« – also seine Fähigkeit, die eigene Community für die Nation hintenanzustellen – aus einem säkularen Narrativ bezieht. Gabriels Überlegungen können meines Erachtens um die These erweitert werden, dass die Territorialisierung eines mythologischen national-säkularen Indiens oft die Deterritorialisierung der indisch-pakistanischen Grenze einschließt (und eine weitere, nicht explizierte Territorialität »Indiens«). Diese Übersteigung der Grenze ist daher auch inszeniert als Übersteigung einer moralischen Grenze, die im indisch-nationalistischen Diskurs aus dem historischen »Fehler« der Entstehung Pakistans tans resultiert.

Wandelt sich das Bild des Konflikts im Hindi-Film erneut? Besonders hervorzuheben unter den rezenten Filmen, die nicht nur einige Kaschmirreferenzen haben, sondern den Kaschmirkonflikt direkt thematisieren, ist Vishal Bharadwajs »Haider« (2014). Die Hamlet-Verfilmung, die auf die biographische Erzählung »Curfewed Night« (2011) des kaschmirischen Journalisten Basharat Peer Bezug nimmt, ist insbesondere deshalb erwähnenswert, weil es der erste Hindi-Film mit direkten Kaschmirbezug ist, der die Rolle der indischen

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Armee bis zu einem gewissen Grad kritisch reflektiert.30 Es lässt sich jetzt jedoch noch nicht sagen, ob »Haider« eine neue Phase in der Politik der Repräsentation Kaschmirs im Hindi-Film jenseits von Paradies und Hölle und der eulogisierten säkularen Nation einleiten wird, oder ob der Film eine Ausnahme bleibt. Die Figur des kaschmirischen Muslims als Gefährder des Friedens und zugleich als potentieller Versöhner der umkämpften Region mit dem Mutterland (Gaur 2010) ist – wie ich bereits zeigte – durch ein mehrfaches othering gekennzeichnet: Entweder er bestätigt sich als guter, säkularer Muslim und damit als authentischer Kashmiri, oder er wird zu einer terroristischen Gefahr der nationalen Integrität. Wie ich in diesem Abschnitt zur Securitization gezeigt habe, wird Kaschmir im Hindi-Film seit den 1990er Jahren oft fernab von jedweder Normalität dargestellt. Die Spannungen zwischen dem Sicherheitsdiskurs und der gleichzeitigen Tourismifizierung werden durch einen vom Staat und der Tourismusindustrie geförderten Normalitätsdiskurs ergänzt und teilweise aufgehoben. Auf diesen gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

D IE I NTIFADA

UND DER

D ISKURS

DER

N ORMALCY

Der Begriff der Normalität (normalcy) steht seit Ende der 2000er Jahre – insbesondere unter der Regierung des Ministerpräsidenten Omar Abdullah – zwischen den Prozessen der Tourismifizierung und Securitization. Er verweist zugleich auf die Paradoxie der gegenwärtigen Politik der indischen Regierung in Kaschmir. Diese besteht darin, einen hochmilitarisierten Status quo mit Gewalt aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die touristische Durchdringung des Tals weiter voranzutreiben. Obgleich sich mit dem Beginn der Intifada 2010 der Konflikt in gewandelter Form erneut verschärfte, kam die Hindi-Filmindustrie mit etlichen Produktionen zurück in das Tal. Diese repräsentieren in einem Wiederaufleben der im Hindi-Film konfliktfreien 1960er Jahre die touristische Seite des Tals. In dem Film »Jab Tak Hai Jaan« (2012) mit Shah Rukh Khan führt der populäre Song »Jiya Re« den touristischen Blick wieder ein, außerhalb der seit »Mission Kashmir« etablierten Doppelsicht (Kabir 2009) des Paradieses und der Hölle, die bis in die späten 2000er Jahre vorherrschend war.

30 Über den Grad der Reflexion wird unter Kashmiris kontrovers diskutiert. Einige Kommentatoren sehen den Film trotz seiner Neuerungen als eine weitere Legitimation der indischen Gewaltherrschaft über das Tal (bspw. die Kaschmirforscherin Mridu Rai [2014] in einem Onlinebeitrag).

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Abbildung 3: Anushka Sharma tanzt in »Jiya Re«

»Jab Tak Hai Jaan« (Chopra, 2012) Die Songsequenz »Jiya Re« zeigt die lebensfrohe Hauptdarstellerin Anushka Sharma31 zusammen mit Shah Rukh Khan in etlichen Funsportaktivitäten, darunter Rafting, eine wilde Fahrt im Militärjeep und die Überquerung eines Flusses auf einem Seil (siehe Abb. 3). Sharma tanzt in einer blumengeschmückten Shikhara im Panjabi-Stil vor dem Hintergrund des blau glänzenden Dal-Sees. Sie ist dabei umringt von in Phiran gekleideten Bootsmännern, die ihren Tanz etwas ungelenk nachahmen. Der Songtext dazu ist: »piṃjre se uṛā; dil kā śikrā; khudī se maiṃne iśq kiyā re; jiyā jiyā re« (»Der Falke meines Herzens flog aus dem Käfig; ich liebte mich selbst und warf mich in das Leben«). Wie schon in den Filmen der 1960er Jahre, in denen moderne Freuden der oberen Mittelschicht im Vordergrund standen und Kashmiris in erster Linie als ethnische und konsumierbare Stereotypen dargestellt wurden (Kabir 2009), zeigt die »Jiya Re«Sequenz einen typischen Konsum der kaschmirischen Landschaft und Menschen32 durch eine hochmobile, freiheitsliebende indische Mittelschichtsheldin. Dabei kann die Behandlung moderner Liebe und die Identifizierung des weiblichen Körpers mit Landschaften und sportlichen Vergnügungen in »Jiya Re« gleichermaßen als intertextuelles Zitat auf Ritas »Yah Sama« in dem Film »Jab Jab Phul Khile« (1965) verstanden werden, der von Kabir folgendermaßen beschrieben wird:

31 In der filmischen Erzählung spielt sie eine Dokumentarfilmemacherin. Dies soll womöglich ihre Modernität und Unabhängigkeit unterstreichen. 32 Den hilfsbereiten Bootsmann kennen wir bspw. schon aus »Jab Jab Phul Khile« (1965).

154 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT Her extraordinary solo waltz on the houseboat deck, open arms repeatedly thrust outward and returning to caress her own body, accentuates the blank slot offered by Valley and the subject’s predisposition to romance within this space (Kabir 2005, 90).

Ein ebenfalls kürzlich veröffentlichter Film, der die Darstellung moderner Freizeit in Kaschmir wiederholt und teilweise in dem kaschmirischen Wintersportort Gulmarg gedreht wurde, ist der Box Office-Hit »Yeh Jawaani Hai Deewani« (2013). Allerdings gibt der Film die Schnee- und Berglandschaften Kaschmirs als Manali aus. Omar Abdullah kritisierte die Produzenten des Films hinsichtlich der fehlenden Erwähnung Kaschmirs als Schauplatz, da dies der Tourismusindustrie schaden würde. Die »Times of India« paraphrasiert Abdullah: »Given that films play a significant part in boosting tourism, it needs to be borne in mind that Kashmir is taking small steps towards normalcy, and reviving the local tourism industry is a critical part of the process. Projecting Gulmarg as a tourist destination has the additional virtue of getting away from stereotypical images of Kashmir as conflict-ridden. Naturally, to now have moviegoers confuse Gulmarg for Manali is disappointing« (Bisht 2015).

Tourismus ist seit den späten 2000er Jahren eine der größten und dynamischsten Wirtschaftszweige des Staates Jammu und Kaschmir.33 Während die Altstädte von Sopore, Islamabad (Anantnag) und Srinagar in Zeiten der Intifada durch Ausgangssperren nicht zugänglich waren, kommt es derzeit zu einem regelrechten Boom des inländischen Tourismus (Stand vor den Protesten von 2016). An dieser Stelle muss kurz auf einige Widersprüche touristischer Mobilität und der Tourismifizierung des Kaschmirtals eingegangen werden. Es handelt sich hier nicht um das oben erwähnte Phänomen eines dark tourism in Konfliktregionen, vielmehr genießen die indischen Mittelschichten die bereits etablierten touristischen Attraktionen des Tals, die Wintersportstandorte, Landschaften und die kunsthandwerklichen Arbeiten (Panjabi 2009). Die Korridore für Tourist_innen im Tal bleiben dabei offen und der Konflikt zwischen Steine werfenden Jugendlichen und dem Militär bzw. der Polizei durch ein dichtes Netz an Checkpoints für die Tourist_innen weitestgehend unsichtbar. Auch wenn die Checkpoints selber sichtbar bleiben – wie auch die Durchdringung des gesamten Stadtraums mit Bunkern und Militärlagern – betreffen die Reglementierungen vorwiegend die lokale Bevölkerung. Damit bleiben sie für indische Touristen

33 Die Marktforschungsabteilung des indischen Tourismusministeriums stellt die Entwicklungen der Branche auf ihrer Homepage dar (Government of India 2017).

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weitestgehend unproblematisch. Von Seema Kazi (2008) wurde die Dimension der Militarisierung herausgearbeitet, die dem sozialen Prozess der Mobilisierung von Ressourcen und der Entwicklung jener Strategien dient, die Probleme militärisch lösen sollen. Diese Dimension hat Popularität in weiten Bereichen der indischen polity und eines nationalistischen Sicherheitsdiskurses, in dem der muslimische Terrorist als immanente Gefahr nationaler Integrität figuriert (Kazi 2008, 65-66). Sie steht im Zeichen einer für »Neue Kriege« (Kaldor 2007) typischen Aufweichung des Gegensatzes von zivil und militärisch: »In an age where war can secure civilian approval, and nationalism can endorse collective violence, the claim that (civil) society is always a victim of warring states, military elites, or an ever-expanding military complex seems tenuous« (Kazi 2008, 20).

Aus einer von vielen politischen Formationen mitgetragenen Militarisierung in Indien (ebd. 24) lässt sich zum einen die Legitimierung militärischer Operationen innerhalb eines Staats verstehen. Zum anderen kann so auch die »entspannte« Haltung von Tourist_innen im Tal nachvollzogen werden, die Photos mit Soldaten schießen und diese so zu einer weiteren touristischen Attraktion des Tals im Familienalbum werden lassen. Die Einengung aufgrund der militärischen Besatzung der Altstadt ist allerdings erst im Vergleich mit der relativ demilitarisierten Seeseite zu erkennen. Wie der Touristenführer Abdul Bhat berichtet,34 besuchen die meisten Touristen nicht die dicht besiedelte Altstadt – obwohl sie eine ganze Reihe an archäologischen und architektonischen Sehenswürdigkeiten aufweist –, womit sie dem Alltag der militärischen Besatzung gar nicht erst nahekommen. Der Ministerpräsident Mufti Mohammed Syeed reiste gemeinsam mit dem Vorsitzenden des J&K Tourist-Board im ersten Jahr nach Amtsantritt nach Mumbai, um dort gezielt die Vertreter der Hindi-Film-Industrie zu ermuntern, im Kaschmirtal Filme zu produzieren und so die Tourismusbranche zu fördern. Auf der Veranstaltung äußerte er sich folgendermaßen: »People want to see the real beauty of Kashmir through your cameras. You become brand ambassadors of our tourism sector, which remains the backbone of our economy«.35 Ähnlich formulierte es im Jahr 2012 der damalige Vorsitzende des Jammu and Kashmir Tourism Board, Talat Parvez, in Reaktion auf sein Treffen mit Yash Chopras Filmteam:

34 Gespräch in Srinagar am 20.03.2014. 35 Syeed zitiert nach JandK (2015).

156 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT »They [Chopras Filmteam] were so convinced that they promised to be ambassadors of Kashmir’s beauty and hospitality and encourage more crews to shoot in the valley. We made permissions available to them, every department and authority went a step ahead to make them and their shooting convenient and comfortable«.

36

Ikonen der Hindi-Filmindustrie wie Shah Rukh Khan, Salman Khan, Yash Chopra und Amir Khan schwärmen gleichzeitig vor indischen Fernsehkameras von der Schönheit und Sicherheit Kaschmirs. Solche Auftritte sind laut Nazir Bakshi die vielleicht wirksamste Werbung für die Tourismusindustrie des Tals – alte Tropen und ökonomische Verbindungen werden wieder verknüpft und ein Bild der Normalität vermittelt. Während damit die letzten beiden Regierungschefs das regionale branding als bedeutsame eigene Angelegenheit betrachteten, sind die regionalen Regierungskompetenzen gegenüber den zentralstaatlichen Notstandsgesetzen derart eingeschränkt, dass in einer Zeitung aus Srinagar Omar Abdullahs Amtskürzel CM ironisch als »Chief Mourner« ausgelegt wurde (Jacob 2012), da ihm die Macht fehlt, einen politischen Dialog zu initiieren. Shalini Panjabis Forschung zum Verhältnis von Tourismusbranche und politischem Konflikt zeigt auf, wie der Staat J&K finanzielle Unterstützung anbietet, um die Tourismusbranche zu fördern und die Situation im Tal ästhetisch zu normalisieren (Panjabi 2009, 228). Die so evozierte Normalität der Lage im Tal ignoriert jedoch die gegenwärtigen politischen Transformationen des Konflikts und bleibt deshalb prekär (Staniland 2013; Bhavnagar et al. 2009; Panjabi 2009). Die Verwendung des Begriffes »normalcy« muss daher mit dem ständigen Aufschub sowohl der Demilitarisierung des Tals als auch der Aufhebung der Notstandsgesetze in Verbindung gebracht werden. Beide Schritte wären jedoch die Voraussetzung, damit die gewählten – oder anderweitig akzeptierten – Vertreter des Kaschmirtals in einen politischen Dialog mit der indischen Regierung eintreten können. Dabei hebt Staniland eine widersprüchliche Logik indischer »Gouvernementalität« hervor (Staniland 2013, 937): Einerseits wird über Schlagworte wie normalcy und das eng daran gekoppelte Wortpaar peace and developement eine friedliche und politische Lösung in Aussicht gestellt. Andererseits wird die militärische counter insurgency in alter Intensität fortgeführt. In den letzten Jahren ging die Regierung dazu über, die lokalen Konflikte und ihren Ausdruck – insbesondere das Steinewerfen – durch eine Stärkung der aus dem Tal rekrutierten Polizei vorwiegend »unter Kashmiris« austragen zu lassen (ebd.).

36 Parvez zitiert nach The Location Guide (2012).

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Obwohl sich im Kaschmirtal nach 2008 eine Wende hin zu der von Teilen der nationalen Öffentlichkeit und von Regierungsvertretern geforderten gewaltlosen Politik seitens der kaschmirischen Bewegung37 vollzog, ging der Staat nicht auf politische Forderungen der Bevölkerung ein, sondern versucht seither, (Stand 2016) den Status quo durch eine Mischung aus militärischer Gewalt und social engineering zu halten. Dies geschah nicht zuletzt durch ein oft rücksichtsloses und durch die Notstandsgesetze ermöglichtes Vorgehen, das in den Jahren 2010 und 2016 vielen Jugendlichen das Leben kostete.

I MMOBILISIERUNG UNABHÄNGIGER F ILMEMACHER _ INNEN DURCH DIE M ILITARISIERUNG DES T ALS Ganz im Gegensatz zu der hofierten Hindi-Filmindustrie haben es viele der von mir begleiteten oder interviewten unabhängigen Filmemacher_innen schwer gehabt, sich frei im Kaschmirtal zu bewegen. Der kaschmirische Hindi-FilmSchauspieler und unabhängige Filmemacher Aamir Bashir wies auf dem Filmfestival »Kashmir Before Our Eyes«38 in Mumbai (31.05.2013) in einer Besprechung seines Films »Harud« (2012) auf den Zusammenhang des touristischen Blicks mit seiner Mobilität als unabhängiger Filmemacher hin: »If you want to avoid trouble while filming in Kashmir, just shoot the lake«. Es ist hier der offizielle touristische Blick auf Kaschmir angesprochen, der als unproblematisch gilt und von den mit Kameras ausgerüsteten Reisenden um den Dal-See und die hill stations Gulmarg und Pahalgam als normal angesehen wird. Gleichzeitig wies mich Aamir Bashir in einem persönlichen Gespräch auf die Möglichkeiten hin, durch geschickte Verhandlungsstrategien Soldaten in dem eigenen Film auftre37 Ob Steinewerfen als »gewaltlos« eingeordnet werden kann, muss bezweifelt werden. Jedoch hängt eine mögliche Einordnung als »relativ gewaltlos« von einer relationalen Betrachtung der Gewaltlage während des Steinewerfens und der weiteren Gewaltsituation der militärischen Besatzung ab. Tatsächlich können Steinewerfer_innen an den oft hochgerüsteten und geschützten Soldaten wenig körperlichen Schaden bewirken (obwohl dies natürlich auch geschieht). Andersherum sind sie selbst kaum geschützt und gehen durch ihr Steinewerfen oft eine Mutprobe ein, die gelegentlich einer Initiation in bestimmte – wiederum potentiell gewaltätigeren – Formen eines politischen Protests gleichkommt. Dies suggerierten mir viele Gespräche mit jungen Männern im Kaschmirtal, die an dieser Protestform partizipierten. 38 Eine detaillierte Besprechung dieses Festivals findet sich in Kapitel 6.

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ten zu lassen. Kleine digitale Videokameras wurden möglicherweise von den Sicherheitskräften mit anderen Augen gesehen als Bashirs professionelle Ausrüstung. Auch seine Verbindung mit der glamourösen Welt des Hindi-Films – er spielte als Nebendarsteller in Filmen wie »Peepli Live« (2010) und »Haider« (2014) – gaben ihm vermutlich besonderes Verhandlungsgewicht. Auch Pankaj Rishi Kumar schaffte es, durch Aushandlungen mit dem Militär und einer harmlos erscheinenden thematischen Rahmung seines Films als »heritage film« nicht nur offiziell im Kaschmirtal zu drehen (und das kurz nach der Kargil-Krise 1999 in dem von starken Kämpfen gekennzeichneten Jahr 2000), sondern auch vom Militär eingeladen zu werden, um Paraden zu filmen, in denen die BhandTheaterdarsteller39 auftraten, die Protagonisten von Kumars Film.40 Eine solche Strategie kann vielleicht als taktisches Arrangieren mit dem Regime der Tourismifizierung und der militärischen Besatzung bei gleichzeitiger Unterwanderung aufgefasst werden. Fast alle Filmemacher_innen beschreiben die Produktion im Tal als Frage multipler Aushandlungen mit staatlichen Agenturen in einem generellen Klima der Immobilisierung. Während Aamir Bashir und Pankaj Rishi Kumar den Weg offizieller Anmeldungen gingen, sind von anderen Filmemacher_innen inoffizielle Strategien verfolgt wurden, da die Anfrage nach einer offiziellen Dreherlaubnis einige Projekte erheblich erschweren könnte. Drei Filmemacher_innen hatten dramatische Erlebnisse zu berichten, welche die Gefahren eines inoffiziellen Vorgehens verdeutlichen. Dem Filmemacher Udi Aloni wurde die Hälfte seines Materials noch auf dem Rollfeld des Flughafens Srinagars abgenommen.41 Nur durch das Geschick der Co-Produzentin Sarah Kamens konnte die andere Hälfte der digitalen Bänder gerettet werden. Noch während des Produktionsprozesses seines besatzungskritischen Films, der eine Kampagne des Anführers der Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF)42, Yasin Malik, begleitete, wurden Aloni keine neuen Visa für Indien mehr ausgestellt.

39 Bhand-Pather ist eine reisende und oft satirische Theatertradition des Kaschmirtals. 40 Konversation mit Pankaj Rishi Kumar in Berlin am 09.02.2016. 41 Konversation mit Udi Aloni in Berlin am 29.11.2014. 42 Die in 1977 in Birmingham gegründete JKLF versteht sich als säkulare separatistische politische Organisation, die für ein geeintes Kaschmir in den Grenzen des DograStaats agiert. Sie war maßgeblich am Beginn des bewaffneten Konflikts 1990 beteiligt, wurde aber schon in den frühen 1990er Jahren von verschiedenen stärker über religiösen Diskurs legitimierten Organisationen in den Hintergrund gedrängt. Nachdem 1994 unter der Führung von Yasin Malik ein Waffenstillstand mit Indien vereinbart

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Die in Bombay ansässige Journalistin, Konfliktforscherin und Filmemacherin Dilnaz Boga musste vor der Ausreise aus Kaschmir – durch mehrere Anrufe des Militärs verunsichert – ihr Filmmaterial im Schuh versteckt aus dem Kaschmirtal bringen, nicht zuletzt, weil sie in der Nähe von Kasernen filmte und dabei entdeckt wurde.43 Besonders drastische Erfahrungen machte die Filmemacherin Iffat Fatima gemeinsam mit ihrer Crew. Sie wurden während der Dreharbeiten in dem Dorf Bandipoora für einen Tag in einem army camp inhaftiert und schließlich unter der Begleitung etlicher Militärwagen zur Polizeistation Bandipoora eskortiert »like we were the biggest terrorists in the world«.44 Das Filmmaterial zur Dokumentation der Umweltverschmutzung durch die dortige Kaserne und deren Wirkungen auf Dorfökonomie und Sicherheit wurde am Ende des Tages von einem Geheimdienstagenten gesichtet und zerstört. Einen ganzen Tag mussten sie und ihr kleines Team in der zuvor gefilmten Kaserne ausharren, aus der schon wiederholt Menschen »verschwunden« sind, ohne dass das Militär dafür zur Verantwortung gezogen wurde. Fatimas Bekanntschaft mit einem Mann aus der politischen Elite des Tals verhalf ihr möglicherweise dazu, dass es schließlich bei einer Verwarnung verblieb und sie nach Überstellung in eine Polizeistation abends wieder gehen durfte. Beispiele für konflikt- und besatzungsbedingte Immobilität der filmischen Praxis werden von fast allen Filmemacher_innen angeführt, die im thematischen Bezug zu Kaschmir und der von den Filmemacher_innen gewählten filmformalen Strategie stehen (bspw. eher investigativ oder poetisch). Die Konfliktsituation während der Filmproduktion verschärft sich, wenn – wie im Falle Fatimas, Alonis oder Bogas – die Filme sich direkt mit der Sichtbarmachung der Gewalt der indischen Besatzung beschäftigen und relativ wenig institutionelle Unterstützung erfahren. Nur Fatimas Elitenposition innerhalb des Tals und ihr langjähriger Wohnsitz in Neu-Delhi gaben ihrem Team einen gewissen Schutz. Der Grad der Unabhängigkeit hängt davon ab, ob in Interaktionen mit dem Militär eine starke Verhandlungsbasis besteht. Diese gibt es bei »größeren« unabhängigen Filmemachern wie bspw. Aamir Bashir, solange sie nicht den Konflikt in das Zentrum ihres Films stellen, sondern indirekte Wege finden, ihn darzustellen. Der in Kanada lebende Filmemacher Musa Syeed, dessen Eltern aus dem Kaschmirtal stammen, hat einen der höchstdotierten unabhängigen Filme des

wurde, operiert sie nicht mehr militärisch und ist Teil der Hurriyat, einem Zusammenschluss verschiedener Gruppierungen, die sich für eine politische Selbstbestimmung des Kaschmirtals einsetzten. 43 Konversation mit Dilnaz Boga in Mumbai am 21.11.2013 44 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 26.10.15.

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Korpus der vorliegenden Arbeit gedreht: »The Valley of Saints« (2012), zu Hochzeiten der Intifada 2010 bis 2012 aufgenommen, hat u.a. den Publikumspreis des Sundance Film Festivals, den »World Cinema Audience Award« 2012 gewonnen. Der Film wurde weitestgehend von der Alfred P. Sloan Film Foundation finanziert, die Repräsentationen von Wissenschaft und Technologie im filmischen Medium fördert. Eine zentrale Rolle im Film spielt dementsprechend eine Wissenschaftlerin, die den verschmutzten Dal-See zu reinigen hilft und eine zarte emotionale Beziehung zu einem jungen Mann aufbaut, der offensichtlich zu den Hanji-Bootsleuten gehört; deren Darstellung Teil einer weiteren touristischen Trope mit langer Genealogie ist. Nach der Auffassung von Syeed eröffnet dieser Fokus einen frischen, nicht direkt konflikt- und gewaltbezogenen Blick auf das Alltagsleben im Tal. Diese Sicht bezeichnet er im Gespräch auch als »humanistische, nicht-politische Perspektive« auf Kaschmir. Während des Großteils der Zeit der Filmproduktion im Jahr 2011 bestanden im Tal Ausgangssperren.45 Daher ist davon auszugehen, dass ein Fokus auf den verschmutzten See nicht nur bei dem Erwerb der Mittel hilfreich war, sondern den Film zu Hochzeiten der Intifada vielleicht überhaupt erst ermöglichte, eben weil er in den offiziell geförderten Bereich fiel, der sich den touristischen und ökonomischen Entwicklungsperspektiven verpflichtet sieht.

Wahrnehmungskontrolle Alle eben genannten Beispiele sprechen von einer Kontrolle von Sichtbarkeiten, die noch über den Prozess der Konstruktion eines »Sicherheitsproblems« hinausgehen und auf die Breite der Techniken einer militärischen Kontrolle des Kaschmirtals hindeuten. Zu den Akteuren letztgenannter Sicherheitsdiskurse gehören Thinktanks, die der indischen Armee Vorschläge zum perception management (Wahrnehmungskontrolle) unterbreiten (Navlakha 2013). Darunter werden Counterinsurgency-Strategien gefasst, die in der Doctrine of SubConventional Operation der Armee folgendermaßen beschrieben werden: »The endeavor should be to bring about a realization that fighting the government is a »no win« situation and that their anti-government stance will only delay the return of peace and normalcy« (zitiert nach Navlakha 2013, 99). Im Rahmen derartiger Strategien, gerichtet auf »transforming the will and attitudes of the people« (ebd.), werden sowohl die physische als auch die imaginative Mobilität von Menschen in Kaschmir durch regelmäßige Vorladungen auf Polizeistationen be-

45 Skype-Konversation mit Musa Syeed am 18.12.13.

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schränkt. Ein Notstandsgesetz, der Public Safety Act (PSA)46, bereitet den rechtlichen Rahmen eines solches tracking von zumeist Jugendlichen. Das betrifft nicht nur ihre physische Mobilität, sondern auch ihre Aktivitäten in sozialen Netzwerken und ihre Telefonanrufe (Falak 2015). Die Strategie ist im Kaschmirtal nach einem Report von Amnesty International (2011) unter der Beschreibung »keeping some people out of circulation« (ebd. 3) bekannt und lässt vor allem durch die Vagheit der Anwendung des PSA ein Klima der Angst entstehen, in dem jede Person weiß, dass er oder sie abgehört oder beobachtet wird, aber nicht, ob und wann eine Reaktion des Militärs kommt und in welcher Art. Neben diesen Formen der Immobilisierung großer Teile der lokalen Bevölkerung bereitet der Staat eine Wahrnehmungskontrolle durch transnationale Sicherheitsstrategien wie »winning hearts and minds« vor, die seit einigen Jahren im Kaschmirtal im Sadbhavna47-Programm implementiert wurden (Chakrabarti 2015).

F AZIT In diesem Kapitel habe ich argumentiert, dass die Darstellungen des Kaschmirtals gegenwärtig zwischen den beiden Prozessen der touristischen Durchdringung (Tourismifizierung) und der sicherheitspolitischen Rahmung (Securitization) eingespannt sind. Der erste Prozess steht in der historischen Tradition früherer Imaginationen des Kaschmirtals – vom Gartenparadies der Mogulherrscher über einen Erholungsort des britischen Kolonialreichs bis zum von Mittelschichtsfreuden gekennzeichneten Hindi-Film der 1960er Jahre. Das Nachzeichnen der Genese dieser Imagination sollte die geschichtliche Kontinuität gefestigter Machtstrukturen, ausgehend von der Kolonialzeit, aufzeigen. Ich schloss mich dabei zwei Argumenten der Literatur- und Filmwissenschaftlerin Ananya Kabir (2009) an: zum einen, dass die heutigen Repräsentationsregimes nicht von ihrer historischen Einbettung in die medialen Dispositive der Photographie und die koloniale Situation zu trennen sind. Zum anderen folgte ich Kabirs Argument, dass die bereits durch die koloniale Photographie präfigurierte Abwesenheit des Konflikts in den Filmen der 1960er Jahre eine Unsicherheit hinsichtlich des Status Kaschmirs zur indischen Union widerspiegeln. Über die Konstruktion Kaschmirs als »othered space« moderner Freuden eines touristischen Konsums

46 Der Public Safety Act ermöglicht Sicherheitskräften, Menschen ohne formale Anklage zu inhaftieren. 47 Sanskrit für »Wohlwollen«.

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wurde die Auseinandersetzung mit der prekären Inklusion des Kaschmirtals in die indische Union umgangen. Ab dem Beginn des bewaffneten Konflikts im Jahr 1990 wurde Kaschmir im Hindi-Film als terroristisches Problem nationaler Integrität konstruiert. Mit der Roja-Debatte innerhalb der sich damals entwickelnden Studien zum Hindi-Film kamen vor allem Fragen zur wirtschaftlichen Liberalisierung und der Artikulation eines nationalen Säkularismus im Hindi-Film auf. Ich folge hier Meenu Gaurs Argument, dass die Repräsentationen Kaschmirs im Hindi-Film vor allem hinsichtlich des Verhältnisses des Zentralstaats zur Region gedeutet werden müssen. Der Großteil der Hindi-Filme vertritt dabei eine Perspektive, die der DelhiMumbai-Machtachse entspricht und Kaschmir als einen Ort »des nationalen Affekts« (Urry 2007, 254) inszeniert. Mein Argument war nun, dass die binäre Sicht von Kaschmir als Himmel und Hölle die Aufrechterhaltung einer Politik des Status quo ermöglicht, die heute eine Weiterführung der militärischen Besatzung des Kaschmirtals über einen Normalitätsdiskurs (normalcy-Diskurs) legitimiert. Dieser befindet sich an der Schnittstelle der beiden Prozesse der Tourismifizierung und der Securitization, indem durch ihn die Demilitarisierung des Tals aufgrund der »terroristischen Gefahr« mit einer unbegründeten Hoffnung auf eine Entspannung der Lage durch den touristischen Boom der letzten Jahre aufgeschoben wird. Das Jahr 2016 hat auf tragische Weise gezeigt, dass der Diskurs der Normalität in keiner Weise zu einer Entspannung des Konflikts beitragen konnte. Vielmehr muss nach dem abermaligen Aufbegehren der Intifada-Generation im Jahr 2016 und dem Tod vieler junger Menschen die Frage gestellt werden, ob die in diesem Kapitel besprochenen Prozesse der Tourismifizierung und Securitization bei einer zukünftigen Beruhigung der Lage in der hier geschilderten Form weitergeführt werden. Dass dies zu erwarten ist, geht aus der relativ wenig veränderten Sichtweise auf das Kaschmirtal und den Konflikt in nationalistischen Mediendiskursen48 sowie aus der weiteren wirtschaftlichen und geopolitischen Situa-

48 Mein Eindruck aus Zeitungslektüren und der Rezeption von TV-Nachrichten während meines Aufenthalts in Indien 2013/2014 ähnelten dem, was von Teresa Joseph (2000) in einer Korpusanalyse dreier national zirkulierender englischsprachiger Tageszeitungen aus Indien zum »Kaschmirkonflikt« gefunden wurde, nämlich dass eine staatszentrische Berichterstattung vorherrscht. Möglicherweise kam es 2016 zu einer gewissen Öffnung, als den Protesten kaschmirischer Jugendlicher von einer bekannten Journalistin wie Barkha Dutt mit Sympathie begegnet wurde (Dutt 2016). Dies ist jedoch immer noch eine Ausnahme, selbst wenn der Raum solcher Artikulationen sich

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tion hervor. In Letzterer sind die Handelsbeziehungen mit einem riesigen Absatzmarkt »Indien« und gemeinsam formulierte Sicherheitsdiskurse weiterhin tonangebend. Nachdem ich in diesem Kapitel die Zusammenhänge zwischen dem touristischen Bild des Kaschmirtals und der Normalisierung seiner militärischen Besatzung hervorgehoben habe, fokussiert das nächste Kapitel nun auf die Repräsentationen der (Im-)Mobilität kaschmirischer Frauen und auf die Arbeit der Filmemacherinnen Iffat Fatima und Uzma Falak. Beide stellen dieses Repräsentationsregime in Frage und legen durch ihre filmische Praxis ein Zeugnis des Alltags in einem besetzten Territorium ab. Die Filme von Fatima und Falak setzen sich dabei kritisch mit dem touristischen Blick und der sicherheitspolitischen Rahmung der Region auseinander, um der binären Einhegung von Kaschmir als Paradies und Hölle zu entgehen. Sie schaffen eine Kritik des othering der Bewohner_innen des Tals »durch das Auge der Repräsentation« (Hall 2004, 163– 164), indem sie die Blicke umkehren: Sie nehmen wie ein Touristenführer eine Shikhara-Fahrt auf, um die Zuschauer_innen dabei aus etwas Bekanntem in etwas Fremdes zu entführen. Sie geleiten die Betrachter_innen von der Postkarte in den vom indisch-nationalistischen Mediendiskurs oft ausgeklammerten Alltag einer militärisch besetzten Region.

möglicherweise in einer zivilgesellschaftlichen Opposition zum Hindu-Nationalismus ausweitet.

Die Wiederaneignung des besetzten Paradieses

In diesem Kapitel geht es um eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Praktiken zweier Filmemacher__innen: Uzma Falak und Iffat Fatima. Sie artikulieren durch ihre Filme »Khoon Diy Baarav« (2015, Fatima) und »Till Then The Roads Carry Her...« (2015, Falak) verschiedene Formen von Mobilität und Immobilität im Kaschmirkonflikt vor dem Horizont der im letzten Kapitel eingeführten Prozesse einer gleichzeitigen Tourismifizierung, der touristischen Durchdringung der Region und einer Securitization, d.h. der sicherheitspolitischen Rahmung einer den Status quo aufrechterhaltenen Politik staatlicher und medialer Akteure. Während durch den ersten Prozess die regionalstaatliche Verwaltung, die Tourismusbranche und der Hindi-Film das Kaschmirtal als touristisches Paradies (re-)konstruieren, repräsentiert der sicherheitspolitische Diskurs die Region als einen islamistisch-terroristischen Brennpunkt, der die Integrität der indischen Nation gefährdet. Wenn John Urry (2007, 271-291) bemerkt, dass die zwei Begriffe »global« und »Tourismus« heute nur noch zusammen gedacht werden können, schließt dieses ein, dass nur ihre jeweilige regionale Kontextualisierung das Verhältnis genau bestimmen lässt. Im Falle Kaschmirs war es seit 1990 eher die Abwesenheit eines globalen Tourismus und die starke Zunahme eines nationalen Tourismus, der die Region vor dem Hintergrund eines prekären Status quo in Zeiten der kaschmirischen Intifada ästhetisch normalisierte. Ich habe vor, in den Filmanalysen dieses Kapitels Momente einer Politik der Repräsentation von (Im-)Mobilitäten an Momente mobiler Filmpraxis als Politik der Filmform zu binden und so die Möglichkeiten einer Mobilitätslinse zur kritischen Analyse von Re- und Deterritorialisierungsprozessen zu erproben. Ich verstehe hier die Medienpraktiken von Iffat Fatima und Uzma Falak relational, d.h. im Verhältnis zu anderen me-

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dialen Praktiken und Formen, denen gegenüber sie sich abgrenzen oder mit denen sie im Dialog stehen. Der erste Abschnitt dieses Kapitels thematisiert den Komplex der Repräsentation von (Im-)Mobilität in Bezug auf Gender innerhalb von indischen Mediendiskursen. In den nächsten zwei Abschnitten gehe ich auf die Kritik der stereotypen Darstellung der Immobilität der muslimischen, kaschmirischen Frau im Kaschmirkonflikt ein und beziehe mich dabei vor allem auf Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, die sich mit der aktiven Rolle von Frauen während des Kaschmirkonflikts beschäftigen. In dem darauf folgenden Hauptteil dieses Kapitels beschäftige ich mich mit den Praktiken der zwei Filmemacherinnen Uzma Falak und Iffat Fatima. Meine Daten generierten sich aus Beobachtungen der filmischen Praxis beider Filmemacherinnen durch punktuelle Begleitungen auf Filmvorstellungen, sowie Gesprächen über die Form der Filme. Das Begleiten eines Films über eine gewisse Zeit hinweg führt dabei zu einer komplexen Schichtung der Beobachtungen von Praktiken, die im Fluss sind. Die Konversationen sind daher immer als Ausschnitte zu betrachten und die Analysen der Filmsequenzen reagieren auf die Ereignisse, in die sie eingebettet waren. Ich begleitete die Filmemacher__innen Iffat Fatima und Uzma Falak über drei Jahre (2013-2016) und bekam Eindrücke von unterschiedlichen Phasen der filmischen Produktion bis zur Rezeption ihrer Filme. Daher wird es in meinen Ausführungen immer wieder Vor- und Rückblenden geben, die auf unterschiedliche Probleme während dieser Zeit eingehen, in der die Filme noch nicht eine textuell abgeschlossene Form hatten. Die Filmanalysen sind an diese Momente gekoppelt und lassen sich daher nicht trennscharf in der Auseinandersetzung von anderen Ebenen der kulturellen Artikulation wie der Produktion, der Repräsentation, der Zirkulation und der Rezeption unterscheiden. In den Analysen behandele ich daher umstrittene Bilder und Sequenzen, die Momente der Form des Films stets in Bezug zu der Aushandlung seiner Bedeutung setzen. Dies beinhaltet auch, dass jede besprochene Szene zumindest von mir (als Rezipient) angesprochen und mit den Filmemacher_innen diskutiert wurde. Die meisten der ausgewählten Sequenzen wurden allerdings in mehreren Rezeptionssituationen von Zuschauer_innen problematisiert und aufgrund dieser öffentlichen Thematisierung ausgewählt. Nach einer solchen Thematisierung befragte ich die Filmemacher_innen erneut zu den entsprechenden Sequenzen und kontextualisiere sie in dem vorliegenden Kapitel

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unter Bezugnahme auf Debatten zur unabhängigen Dokumentarfilmpraxis in Indien und zu einer kritisch transnationalen Filmwissenschaft. Ein weiterer Grund, diese zwei Filme für eine detaillierte Analyse heranzuziehen, bezieht sich auf die Komplexität ihrer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Schnittstelle Gender und Konflikt. Beide Filme brechen die in Kapitel 3 vorgestellten gegenderten, touristisch konsumierbaren und militärisch besetzten Landschaften des Tals imaginativ auf, um die in indischen Mediendiskursen oft immobilisiert dargestellte kaschmirische Frau als aktive Teilnehmerin am Konflikt zu porträtieren. Auf diesen Kontext gehe ich nun in den nächsten zwei Unterabschnitten ein.

(I M -) M OBILITÄT UND G ENDER IM K ASCHMIR -K ONFLIKT In indischen Mediendiskursen besteht seit der wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes in den frühen 1990er Jahren eine Diskrepanz zwischen den Darstellungen der Immobilität muslimischer Frauen als »Andere« und der Konstruktion der als zunehmend mobil imaginierten »nationalen Familie«1 (Desai 2007). Chakravarty und Gooptu (2000) verweisen auf die seither zunehmende Bedeutung von Mobilität als Metapher in der indischen Werbung, wobei ein individueller Mobilitätszuwachs mit dem »Fortschritt der indischen Nation« verknüpft wird. Schneider (2015b) fasst diese Debatte hinsichtlich des gleichzeitig aufkommenden Diskurses um den hochmobilen »globalen Inder« zusammen: »This in its turn affects in a particular way the strongly essentialized depictions of Muslim women in India who are still perceived predominantly as »immobile« in every sense – socially, physically and also with regard to mediated communication« (Schneider 2015b, 169).

Um der Frage nach der (Im-)Mobilität »der kaschmirischen muslimischen Frau« in indischen Mediendiskursen nachzugehen, will ich die Überlegun-

1

Die Familie steht, wie oft beobachtet wurde, im kommerziellen Hindi-Film als Metapher für die indische Nation (Chakravarty 1998). Oft ist sie darüber hinaus der allegorische Motor der melodramatischen, narrativen Logik vieler HindiFilme (Raghavendra 2008).

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gen Schneiders in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Nation und Region erweitern. Es handelt sich hier, so mein Argument, um ein othering, das durch die Zentrum-Region-Dynamik einen weiteren diskursiven Bezug aufweist: Als »muslimische Frau« und als »kaschmirische Frau« erscheint sie an der Schnittstelle verschiedener Formen der Immobilität, wobei sie gleichzeitig in die Pflicht der indischen Nation genommen wird (siehe Kapitel 4). Dabei überschneiden sich ihre Repräsentationen zumeist mit jenen der »Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit«, wie sie von Nida Kirmani (2009) vor dem Hintergrund zweier Medienereignisse, dem bekannten Shah Banound dem Gudiya-Fall2, durch die Alltagserzählungen von Frauen im Stadtteil Zakir Nagar, Delhi, re- und dekonstruiert wurden: »The media frenzy around such cases repeatedly reinforces the notion that »Muslim women« are a uniform group suffering a common fate without any discussion of the complexity of actual women’s lives. Exploring the ways that women actually narrate their own identities demonstrates that there is in fact no consensus as to what the position of »Muslim women« is in India, and whether this category is at all relevant to the way women understand and represent themselves« (Kirmani 2009, 5).

Genau diese von Kirmani aufgeworfenen Fragen spielen auch für die Filmemacherinnen Falak und Fatima eine wichtige Rolle. Dabei erwähnte insbesondere Iffat Fatima im Gespräch mit mir, dass sie sich in ihrer Arbeit zu den Frauen der APDP nicht nur vom Hindi-Film, sondern auch von den Repräsentationen kaschmirischer Frauen im Menschenrechtsdokumentarfilm versucht abzusetzen, die ich im dritten Kapitel dieses Buches vorgestellt habe.

Kritik an der dominanten Erzählung Kaschmirische Frauen, die sich jenseits der Stereotype der »guten und der schlechten kaschmirischen muslimischen Frau« für eine politische Selbstbestimmung des Tals aussprechen, und damit andere Erzählungen formulieren als die indischen national-säkularen Narrationen, finden zunehmend in Blogs und sozialen Netzwerken Raum, ihre Positionen öffentlich zu vertre-

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In beiden Medienereignissen wurde »die muslimische Frau« vorwiegend als Opfer archaischer islamischer Gesetze und einer »herzlosen muslimischen Führerschaft« dargestellt (Kirmani 2009, 48).

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ten. Eine Teilnehmerin solcher Debatten ist Inshah Malik, eine Doktorandin der JNU (Stand 2015), Neu-Delhi, die nach einer Debatte auf einem feministischen Blog dezidiert indische Feminist_innen des Centre for Dialogue and Reconciliation (CDR) kritisierte, Machtasymmetrien zwischen Indien und Kaschmir nicht zu reflektieren. Gemeinsam mit der in Srinagar ansässigen NGO Women for Peace (WFP) wurde 2011 eine Konferenz unter dem Namen »Women’s Roles in Society: Issues of Mutual Concern« organisiert, deren Ausrichtung von Malik in Frage gestellt wird: »The discomfort of some Indian feminist views (often comes from Indian secular front) and which by rule also shares a power politics with the dominant class of India that does not understand »Kashmir as a problem of occupation« and most often embarks on a very apolitical determination for peace. Many though argue that peace is a political process in a violent environment, it remains unclear how are the women at the receiving end to make sense of the interpretations that women of Indian upper class make about their lives« (Malik, aus: Malik und Kachru 2012).

Diese Position von Inshah Malik wird von den Filmemacher_innen Iffat Fatima und Uzma Falak geteilt. Auch sie sehen eine besondere Herausforderung ihrer Repräsentationspraxis darin, die oft religiös motivierte Handlungsmacht ihrer filmischen Subjekte nicht einem säkularen Emanzipationsnarrativ unterzuordnen, das mit dem indischen nationalen Säkularismus konvergiert und so die neokoloniale Legitimation indischer Herrschaft wiederholt. Eine andere Form empirisch fundierter Kritik gegenüber Gender-Stereotypen in der Darstellung der Konfliktregion stammt aus der anthropologischen und politikwissenschaftlichen Forschung.

Frauen im Konflikt: Opfer und Teilnehmerinnen Aussagen zur Friedfertigkeit kaschmirischer Frauen sind empirisch nicht zu belegen und gehören zum Repertoire paternalistischer Stereotype, die aus anderen Konflikträumen – bspw. Palästina/Israel – bekannt sind (Sharoni 2001). Das Gros der Forschungen zur »Rolle der Frau in Konflikten« hat nationale Befreiungsbewegungen als wenig emanzipatorische Form betrachtet. Die Forscher_innen argumentieren, dass Frauen in den Befreiungskämpfen »instrumentalisiert« und nach dem Ende der Auseinandersetzungen wieder in die patriarchale Ordnung integriert werden (Sharoni 2001,

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86).3 Mit Bezug auf eine Reihe von Forschungsarbeiten zu Gender in Konflikträumen wird diese Position von der Friedens- und Konfliktforscherin Simona Sharoni, deren eigener Forschungsschwerpunkt u.a. die Beteiligung von Frauen an der ersten palästinensischen Intifada4 ist, zurückgewiesen: »This argument overlooks women's agency and their ability strategically to use their involvement in the national struggle to safeguard their gains during and after the revolution (ebd.)«. Zwei aus langjährigen Feldforschungen resultierende Studien zu Gender im Kaschmirkonflikt beschreiben die vielfältigen und aktiven Positionen, die Frauen während des bewaffneten Konflikts einnahmen (Kazi 2008; Shekhawat 2014). Die Politikwissenschaftlerin Seema Kazi betont, dass die āzādī-Bewegung vielen Frauen ein Gefühl von Freiheit, Mobilität und Handlungsmacht verleiht. Sie zitiert in diesem Zusammenhang den Bericht einer inzwischen pensionierten Lehrerin des Government College for Women, Srinagar: »I belong to a generation where the social norms and conventions were strong and women’s participation in public life was low. The situation [gemeint ist hier v.a. die

3

Auch in Hinblick auf Kaschmir wird dies als Tendenz hervorgehoben. In dem von Urvashi Butalia editierten Sammelband »Speaking Peace, Womens Voices from Kashmir« (2002) wird in einigen Beiträgen eine solche Position vertreten. Rita Manchanda (2001) unterscheidet zwei Erzählungen über »die Rolle der Frau im Kaschmirkonflikt«. Während eine menschenrechtliche Erzählung darauf abzielt, die Frauen Kaschmirs als Witwen und Mütter darzustellen, die aufgrund des Konflikts ihre Kinder und Ehemänner verloren haben, fungieren Frauen in der zweiten, patriarchalisch-lokalen Erzählung als trauernde Angehörige von Märtyrern oder als Vergewaltigungsopfer (Manchanda 2001, 43). Obgleich diese Erzählungen in der Tat – vor allem außerhalb des Kaschmirtals – verbreitet sind, werden hier »zwei Narrationen« ausbalanciert: Die im Tal verbreitete Perspektive einer Beteiligung vieler Frauen an der Bewegung zur politischen Selbstbestimmung wird ausgespart.

4

In einer vergleichenden Studie der Beteiligung irischer und palästinensischer Frauen an den populären Protesten stellt Sharoni die von beiden Gruppen artikulierten »transformativen Erfahrungen« in den Vordergrund, die aus einem von den Akteuren als »Prozess des Lernens« bezeichneten Vorgang resultierten. Aufgrund der konfliktbedingten Dislokation vorheriger diskursiver Grenzen zwischen privat und öffentlich führte dieser Lernprozess auch zur Entstehung neuer Solidaritäten zwischen Frauen (Sharoni 2001, 92).

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Militarisierung] in Kashmir changed that, women have been drawn outside into public roles. I walked with hundreds of women and men in 1990 during protests against the Indian government« (Kazi 2008, 140).

Kazis und Shekhawats Forschungen zufolge führten Frauen oft organisatorische und Schutztätigkeiten aus. Sie arbeiteten als Kuriere oder deckten militants, die sich in Häusern versteckt hielten. Auf der Straße waren es in einem Zusammentreffen mit dem Militär oft Frauen, die Wege blockierten und den Zugang zu den militants abschirmten. Es wurden Hymnen auf die Märtyrer des Freiheitskampfs gesungen und weibliche Familienangehörige spielten eine wesentliche Rolle für die Motivation des Kampfes junger Männer: »There was competition among women supporters to use their creativity to compose pro-militancy couplets [...]. Several former male militants that I interviewed admitted that they joined the militia after being motivated by their female relatives« (Shekhawat 2014, 84).

Kazi (2008) rückt in den Fokus ihrer Analyse die Perspektive einer räumlichen Politik, die eine Auflösung von Demarkationslinien zwischen privaten und öffentlichen Räumen im Kaschmirkonflikt reflektiert: »Militarisation in Kashmir is synonymous with a state of total war that is not confined to »public« military-militant encounters or the extra-legal offensive against Kashmiri men; it breaches conventional civil-military spatial distinctions and permeates domestic »private« spaces presumed to be beyond the realm of war/militarised conflict« (Kazi 2008, 139).

Gleichzeitig weist Kazi darauf hin, dass viele am Konflikt beteiligte Männer Frauen nicht als gleichberechtigt betrachten (Kazi 2008, 143). Innerhalb der organisierten Hurriyat – dem Dachverband von Gruppierungen für eine politische Selbstbestimmung Kaschmirs – gibt es mit dem Muslim Khawateen-e-Markaz (MKM) nur eine einzige Frauenorganisation. Auch in der weiteren politischen Landschaft des Tals, sowohl bei der Hurriyat als auch bei den parlamentarischen Parteien, sind Frauen oft nur »Sympatisant_innenplätze« vorbehalten (Kazi 2008, 146). In den anderen Gruppierungen der Hurriyat (z.B. der Jamaat-e-Islami oder der Jammu Kashmir Liberation Front) gibt es fast keine weiblichen Mitglieder. Die MKM ist neben der Association of the Parents of Disappeared Persons (APDP) ver-

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mutlich die bekannteste Frauenorganisation im Kaschmirtal. Sie ist, anders als die APDP, die durch Anbindung an den Menschenrechtsdiskurs eine gewisse globale Sichtbarkeit erzielte, Teil des politischen Islam. So begründet sich, zumindest Inshah Malik zufolge,5 auch ihre relative Unsichtbarkeit verglichen mit der APDP. Die Leiterin der MKM, Annum Zamrud Habib, wurde im Jahr 2004 von der indischen Regierung unter dem Prevention of Terrorism Act (POTA) inhaftiert. Ihr auf Urdu und mittlerweile auch auf Englisch veröffentlichter Erfahrungsbericht »Prisoner No. 100« (Habib 2011) zählt zu den dichtesten Beschreibungen einer Konflikterfahrung politisch organisierter Frauen aus dem Kaschmirtal. Im folgenden Abschnitt wird die filmische Praxis von Iffat Fatima besprochen. Dabei fokussiere ich auf die Art und Weise, wie Fatima die oben beschriebenen Darstellungen des Konflikts und der »kaschmirischen Frau« durch die Texturen ihres Films in Frage stellt. Im Anschluss beschäftige ich mich mit der Rezeption von Fatimas Film und den Strategien der Filmemacherin, die Form der Rezeption ihres Films mitzugestalten.

I FFAT F ATIMA : Z EIT

UND

W IDERSTAND

Iffat Fatima wuchs im Kaschmirtal auf und verließ es vor dem Beginn des bewaffneten Aufstands im Jahr 1989. Sie schloss im Jahr 1990 ein Studium in dem Mass Communication Research Center der Jamia Millia Islamia, Neu-Delhi, mit einem Master of Arts ab. Danach arbeitete sie für einige Jahre bei der University Grants Commission (UGC), einer autonom agierenden, staatlichen Institution, die in den 1990er Jahren ein pädagogisches Filmprogramm produzierte und es auf einem eigenen TV-Kanal ausstrahlte. Mit dem Wunsch, unabhängige Filme zu machen, verließ Fatima die UGC und arbeitete an einem Film »In the Realm of the Visual« (1999) über den indischen Künstler Dashrath Patel: »What fascinated me about this man was the way he used so many mediums. You know, he did not limit himself to painting or photography or to architecture or to collage form, he was experimenting. There was that constant search for an ideal aes-

5 Skype-Konversation mit Inshah Malik am 30.04.2015.

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thetic in a way, which was the driving force behind his venturing into different media.«6

Ausgehend von diesem ersten unabhängigen Film beschreibt Fatima ein Interesse an Fragen der »Multiplizität« und der künstlerischen Exploration als verbindendes Glied ihres Schaffens, das sie mir in einer Anekdote über den japanischen Künstler Hokusai – die sich auch in der Anfangssequenz von »In the Realm of the Visual« wiederfindet – erläuterte: »Hokusai was this great artist of Japan who started his career as a painter. So for many years he just mastered painting. So then he said Hokosai as a painter is over and then he changed his name and he became Take Hosai and he started doing embroidery […] for the next ten years [...]. [A]nd then after ten years he changed again his name and did some other form. So like this he kept changing his name every decade or so [...] till I think at the age of eighty or ninety he said now it is time for Hokusai to come back and he started painting again. So it is that thing to be able to explore this multiplicity which fascinates me.«

Seit dem ersten Film über Patel arbeitet Fatima als unabhängige Dokumentarfilmemacherin. Zunehmend beschäftigt sie sich mit den Fragen von oraler Tradition, Gewalt und geopolitischen Konflikten. Ihr nächster Film »The Kesar Saga« (2002) versucht, die vielfältigen Erzählstränge nachzuvollziehen, die in die oralen Traditionen der Region Ladakhs Eingang gefunden haben: »Kesar also took quite some time. It were multiple [tasks]: it was a film and I documented that story telling tradition, especially the Kesar Saga which is one of the longest epics at least in that region. I spend these long winter days in Ladakh because there is a tradition in Ladakh that you cannot narrate stories during summer.«

In diesem Film sind die narrativen Traditionen mit den Landschaften Ladakhs verwoben und nostalgisch von dem evozierten Verlust des Erbes der mündlichen Überlieferung durch den Lebensabend seiner letzten Erzähler vorgezeichnet. Dagegen behandelt »Lanka: The Other Side of War and Peace« (2005) eine Reihe von Fragen zu Konflikt und Gewalt, die ebenso wie das Thema der oralen Traditionen auch in den späteren »Kaschmirfil-

6

Skype-Konversation mit Fatima am 21.10.2015. Folgende Zitate von Fatima stammen – falls nicht anders markiert – aus demselben Gespräch.

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men« aufgegriffen werden. Der Sri Lanka-Film ist um eine Autofahrt auf dem – zu Zeiten des intensiv geführten Krieges des singhalesischen Südens und des tamilischen Nordens der Insel gesperrten – Highway A9 herum konzipiert. Formal und inhaltlich zeigt sich der Film investigativ, die natürliche Bewegung entlang der A9 führt zu einer Reihe von Begegnungen, die durch Zwischentitel geschichtlich kontextualisiert und analytisch synthetisiert werden, um die Komplexität der Motivationen hinter dem Konflikt und der Gewalt hervortreten zu lassen. Obgleich Fatima während der 1990er Jahre in ständigem Kontakt zu ihrer Verwandtschaft im Kaschmirtal stand – sie wusste von den Verschwundenen des Tals und kannte Parveena Ahangar bereits persönlich –, kam sie das erste Mal in Sri Lanka auf der A9 in nächste Berührung mit der strukturellen Dimension des Verschwindenlassens: »Though I knew of the issue in a way [...] in Kashmir since 1989, but not in an institutionalized manner. You knew this was happening. People were getting disappeared in Kashmir. But at that time there was no sense [of the institutionalized dimension]. People thought they were detained, because it was just happening. When I went to Sri Lanka I got introduced into [...] how enforced disappearances is introduced as a strategy.«

Erst nach der Abkühlung des bewaffneten Konflikts in den frühen 2000er Jahren entschied sich Fatima, einen Film über die Angehörigen der Verschwundenen des Tals zu machen. Während der Arbeiten zu den inzwischen drei Kaschmirfilmen, die aus dem Projekt zu den Verschwundenen resultierten, wurde Fatima von dem Advancing Performing Arts Programm (APAP), gefördert durch eine EU-Initiative, nach Salzburg eingeladen. Dort sollte sie einen Beitrag zu einer Installationsausstellung leisten, die in verschiedenen europäischen Städten gezeigt wurde. Die Exploration der Kunstform der Installation gab Fatima eine neue Sicht auf das filmische Medium, dessen Linearität sie nun problematisierte. Eine Reflexion darauf findet sich insbesondere in »Khoon Diy Baarav« wieder. Fatima schuf in ihrer Installation durch die Verbindung von Radio und visuellen Passagen eine Darstellung der Stadt Salzburg aus einer nicht europäischen, anthropologischen Künstler-Perspektive.7 Noch vor der Fertigstellung von »On A Trail Of Vanished Blood« (2012) koppelte Fatima das Material zu Mughal Mase aus, deren Sohn Nazir Ahmed im Jahr 1990 verschwand und die sel-

7 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 23.10.2015.

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ber im Jahr 2009 während des Film-Projekts verstarb. Fatima veröffentlichte diesen Kurzfilm als »tribute to Mughal Mase and her relentless quest for justice and redress« (Fatima 2013) unter dem Titel »Where Have You Hidden My New Moon Crescent« (2009). Der sehr persönliche Film kommt mit minimalen formalen Mitteln aus und beschränkt sich weitestgehend auf Gespräche mit Mughal Mase und Aufnahmen ihrer nächsten Umgebung.

Zeit des Films, ethisch-ästhetische Grenzgänge Iffat Fatima arbeitet anthropologisch, was oft zu einer langen Produktionszeit ihrer Filme führt. Während meiner Feldforschung in Delhi 2013 wurde mir die ständige Anwesenheit Kaschmirs in den indischen Medien bewusst, ob es nun um »Terroranschläge«, »Gespräche mit Pakistan« oder um »Afzal Gurus Tod am Galgen« ging, der – in den Worten eines zuständigen Richters des stark debattierten Medienereignisses – dem »nationalen Bewusstsein Genugtuung verschaffen« sollte (Vidyut 2011). In einem Gespräch in Delhi befragte ich Fatima zu dieser medialen Darstellung Kaschmirs, die von News-reel-Dokumentarfilmen auf YouTube über Berichterstattung über (photographisch) dokumentierte Menschenrechtsvergehen im Tal im Web 2.0 bis zu den 24/7-Nachrichtenkanälen reicht. Die meisten dieser medialen Kommunikationsformen sind »realistisch« hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit, beruhend auf einer Ansammlung von »Informationen« als Rohstoff einer Neuigkeit, die direkt als »Fakten« rezipiert und verarbeitet werden können (Rajagopal 2009, 209). Schließlich bezieht sich ein mimetisch-realistischer Anspruch auch auf die Form der von vielen Produktionsfirmen geförderten griersonischen Dokumentarfilme (vgl. Kapitel 1), die das Gros der Dokumentarfilme über Kaschmir ausmachen. Das hier wiedergegebene Gespräch stammt aus einer Phase kurz vor der endgültigen Fertigstellung des Films im Frühjahr 2015, in der Fatima mit Tushar Madhav als neuem Editor des Films die alte Fassung überarbeitete. Auf die Frage zu ihrer Einschätzung der medialen Formen des griersonischen Dokumentarfilmrealismus und der realistischen Attraktionsmontagen des indischen 24/7-Nachrichten-TV macht sie, sich von diesen Formen abgrenzend, auf die zentrale Bedeutung qualitativer Dauer in ihrer Filmpraxis aufmerksam: »I think a lot of documentary filmmakers use that newsreel element. For several reasons: first it is tried and tested, it gives a sense of credibility and truth. You want to

176 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT establish credibility about truth. It becomes journalistic in a way and the mainstream news-television has caught the imagination of people. They got lulled into that kind acceptance. Not criticizing it but sort of accept that this is the way it is, an objective truth in a way. But if you want to go beyond that, it means that you have to spend time. Time, I think, is a major element [of my practice]. You can do the films quickly or take time. You spend time with your subjects, you reflect on your subject, there has to be a sort of personal transformation - it may be a rather strong term. Think for example of Sanjay Kak, if you have heard when he was talking about Jashn-e-Azadi [siehe Kapitel 6]. He said that he had certain things in mind about Kashmir. Then when he went to Kashmir he didn’t know what to do and what to expect. There was something transformative happening when he embarked on the film. Personally something you learn and you experience and then you make a film. I think that is what I mean by time. It is art or an artistic reflection in a way you internalize. Art may be in the long run. But it is not like you go, shoot and make a film. That becomes very easy, quickly collect material and put it in a certain way. So, you acquire a certain credibility. I have been thinking about time and documentary filmmaking. I think there is a need for more reflection before you embark on a project. I think there has to be a certain kind of a personal association or commitment that gets triggered off and comes into the film. Otherwise, there has to be some passion about the subject, which needs to have some trigger. A friend told me that there is this french person who wants to make a film, so he called me up and he said that he wants to make a promotional film on the fast trains which France sets up in India. Obviously they have this massive budget, so I was thinking for some time: «I do this to get some money and maybe finish my film.« But I couldn’t get the energy. Filmmaking needs energy but to generate it for a film like that is very difficult. M.K.: I see time not just as working on but also the way of making it or the ethical considerations which go into time, right, or the closeness to the subjects which need to be gained through time. In the newsreel type of hit-and-run there is perhaps often not enough time to establish an ethical relationship with the subjects. I.F.: Yes, but it also depends on the sensitivity and how the filmmaker is approaching that subject, but there is a certain shallowness to something like that. M.K.: But also time as something which has to do with memory or what you called earlier the »transition of memory« which is really central to your film. The idea of the temporality of APDP. You know Atul Guptes »Waiting« is a certain form of temporality and you are working on a group that has not only been waiting but also

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resisting for more than 20 years now, and also your film has this very long, embedded time of production which has also to do with a lot of waiting [on your part]. I.F.: Right. M.K.: [...] So your point was about ethics and form, and ethics and production, right? In some way the form evolves out of the footage material you have, out of the process of production which is the process of living together – in any [also non filmic] sense – with the subjects you make the film on. So somehow the form is already there in the everyday life where you encounter the people. I.F.: Yes, but I think lots of people also looking at documentary films as not necessarily in that space where you relate to the subjects directly, they also sort of break that space and can get into an imaginary space where they look at the subject within their imagination. Out of their own experience they transform their experience in a different way. I think that is happening a lot in the documentary form.«

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Der Frage danach, wie sich die Bilder und Vorstellungen des Konflikts durch die praktischen Erfahrungen mit und in ihm verändern, widmen sich die folgenden Unterabschnitte.

V ON »O N A T RAIL OF V ANISHED B LOOD « ZU »K HOON D IY B AARAV « Der Film »Khoon Diy Baarav« (2015) ist die neueste Fassung einer Arbeit, die Iffat Fatima ursprünglich als ein in die Arbeit der APDP eingebettetes Filmprojekt von der norwegischen Frauenrechtsorganisation Fokus finanziert erhielt und die über zehn Jahre dauerte. Diese lange Produktionszeit hängt mit vielen Faktoren zusammen, nicht zuletzt mit der Form des Films, die auch langjährige ethische, ästhetische und politische Überlegungen Fatimas zum Ausdruck bringt. Die Filmemacherin betonte oft die Bedeutung der Rückgewinnung des Raums und der Mobilität der Akteure im Zusammenhang mit der Form des Films:

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Konversation mit Iffat Fatima, 16.12.2014, Neu-Delhi.

178 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT »Because I was really struggling with the form, that is why it also took such a long time. I needed a form which in some way reflected my experience and also this constant shift between the personal and the political, the public space, the private space, the individual getting into the collective, so I think this mobility, this movement from one to the other was a constant thing which was playing in my mind and is there in the film. [...] That is the shift from private memory to public memory. And then finally into the streets in a way. The shift happens in the ultimate public arena.«

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In dieser Aussage behandelt Fatima Fragen der Mobilität und des öffentlichen Gedächtnisses als miteinander verbunden. Sie gebraucht den Begriff Mobilität sowohl metaphorisch als auch empirisch, um bestimmte physische und medialisierte Formen der (Im-)Mobilität anzusprechen. Zum einen evoziert die Verwendung eine Bewegung zwischen den in der feministischen Theorie oft hinterfragten dichotomisierten Domänen des Privaten/Öffentlichen und des Persönlichen/Politischen und damit deren Infragestellung. Zum anderen spricht sie von dem Eingehen privater Erinnerungen, bspw. Photographien aus dem Familienalbum, in eine öffentliche Erinnerung, die politischer Natur ist. Zu Anfang des Films spricht Fatimas Erzählstimme davon, mit dem Film einen Bericht als Zeugnis abzulegen. Die Erinnerungen ihrer Subjekte werden durch die Dokumentarfilmpraxis zum Zeugnis vermittelt durch eine weitere Form, die – wie ich noch zeigen werde – vor allem an eine Zuschauerschaft adressiert ist, die mit Repräsentationen aus dem Hindi-Film vertraut ist. Unter Filmadresse verstehe ich die Art und Weise, wie ein Film Menschen durch die Filmform anspricht. Die kontinuierlichen Bewegungen der Protagonist_innen in Fatimas Film waren der Ausgangspunkt der Frage, die zu dem obigen Zitat von Fatima führte. Ihre Antwort bezog sich auf die komplexe Verschränkung verschiedener metaphorisch vermittelter Momente von Mobilität. Diese verbinden eine räumliche Politik mit Fragen der dokumentarfilmischen Form als Zeugnis vor dem Horizont einer kaschmirischen Erinnerungspolitik. Die Schaffung dieses Zeugnisses eines kaschmirischen Alltags unter militärischer Besatzung kann weiter anhand des Produktionsprozesses des Films untersucht werden. Ich konzentriere meine Besprechung dabei auf die Gespräche hinsichtlich der Adresse des Films zwischen Fatima, den Produzent_innen des Films und den Zuschauerschaften der ersten Testvor-

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Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 23.10.2015.

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führungen früherer Filmversionen. Ich untersuche die affektintensiven Filmsequenzen als emotionale Mobilisierung von Zeugenschaft und will damit gleichzeitig die Dynamik einer kritischen transnationalen Filmadresse verdeutlichen.

Produktionszeit Die von der Frauenrechtsorganisation Fokus finanzierte Arbeit Fatimas sollte die Produktion eines Dokumentarfilms mit der weiteren Förderung der Arbeit der APDP verbinden. In den ersten zwei Jahren der Produktion befand sich die APDP in einer institutionellen Krise und in einer Phase der Reorganisation. Gelder von Fokus, die ursprünglich für den Film veranschlagt wurden, kamen darum der Stabilisierung der Organisation zugute. Es ergaben sich nur wenige Möglichkeiten für Fatima, die alltägliche Arbeit der APDP filmisch zu begleiten. Die Finanzierung des Films wurde von Fokus daraufhin auf insgesamt fünf Jahre verlängert. Danach wurde der Film in einer ersten Fassung unter dem Namen »On a Trail of Vanished Blood« (2012) auf einem Festival in Norwegen veröffentlicht. Die Leitung von Fokus hat Fatima nie zu Änderungen im Film oder irgendeiner ästhetischen Vorgabe hinsichtlich des audiovisuellen Treatments aufgefordert. Vielmehr war die Organisation, so Fatima, offen gegenüber den ästhetischen Explorationen der Filmemacherin. Ebenso teilte Fokus die Reflexion über die regional divergierenden, gegenderten Ungleichheiten. Dennoch wurde Fatima hinsichtlich »On a Trail of Vanished Blood« öfters mit der Frage konfrontiert, warum sie sich selbst nicht mehr »reflexiv als kaschmirische Frau« in den filmischen Texturen verortet oder die Charaktere des Films stärker psychologisch entwickelt hätte. Fatima betont, dass eine solche Einschreibung ihrer Person als kaschmirische Frau unter kaschmirischen Frauen von den politischen Ansprüchen der Frauen der APDP ablenken würde. Diese Ansprüche seien bereits durch die oben genannten Dokumentarfilme mit menschenrechtlichem Fokus derart überdeckt, dass Fatima mit ihrem Film gegensteuern möchte. Zudem betonte sie in etlichen Filmvorstellungen, die ich begleitete oder als Aufzeichnungen einsah, auf Zuschauerfragen stets, dass es sich in Kaschmir um einen politischen Konflikt handelt, der es erfordert, die politischen Forderungen deutlich darzustellen.

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Insbesondere in Norwegen im Anschluss an das Festival, berichtet Fatima, sei sie von verschiedenen größeren Dokumentarfilmproduktionshäusern angesprochen worden, die ihr dazu rieten, den Film zu »pitchen«.10 »There are these joint productions happening [...], in fact when I was in Norway these big production houses approached me there, you know, they scout for people during that time and they were trying to tell me that I should »pitch« [the film]; [a filmmaker friend who participated] told me, it is such a uncomfortable and disgusting experience where you have to sell yourself and sell an idea. She [the filmmaker friend] was not at all pleased with it, but you have to do it. There is no other way. If you engage with these producers and companies that is the only way. There is something like an auction happening where you have to just sell an idea [laughing]. In that idea it is the character that you are selling: »There is this fascinating woman« 11

and so on and so forth.«

Fatima versuchte nicht, für ihren Film europäische Gelder durch die Teilnahme an den im dokumentarfilmischen Feld omnipräsenten pitching sessions zu akquirieren. Die normative Ausrichtung dieser Pitchs – bspw. auf das Erzählschema der »Heldenreise« (kritisch hierzu Wessely 2013) 12 – schien ihr wenig geeignet, die allegorische Dimension zwischen dem Persönlichen und dem Kollektiven eines gegenderten Widerstands auszudrü-

10 Solche Produktionsdiskurse werden von Deborah Matzner (2012) in einer Studie zum Dokumentarfilmschaffen der in Bombay arbeitenden Filmemacherin Nishta Jain beschrieben. In Matzners Artikel wird unter Bezug auf das Konzept des »interstitial mode of production« (Naficy 2001) ein bestimmter Aspekt der Praxis von Jain hervorgehoben, der im Rahmen der global stärker vernetzten Dokumentarfilmlandschaft über pitching workshops und ähnliche – oft europäische – Programme betrieben wird. Im Kontext meines Korpus ist es erstaunlich, dass nur ein einziger Film vorliegt, der sich an das in pitching workshops oft geförderte Schema der »Reise des Helden« (Wessely 2013) anlehnt, nämlich Ashvin Kumars »Inshalla Football« (2012). 11 Gespräch mit Iffat Fatima am 16.12.2014 in Neu-Delhi. 12 Die »Heldenreise« ist ein Erzählschema, das von dem Drehbuchautor Christopher Vogler auf Grundlage der Mythen-Forschung von Joseph Campbell entwickelt wurde (siehe zum Stellenwert dieser Erzählstruktur im gegenwärtigen Dokumentarfilm: Ballhaus 2013; Wessely 2013; zu seiner normativen Anwendung in internationalen Filmproduktionen mit europäischer Beteiligung siehe Friedman 2015).

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cken. Ihre finanzielle Sicherheit als Mitglied der kaschmirischen Oberschicht gab ihr darüber hinaus die Möglichkeit, die Form des Films über insgesamt zehn Jahre zu gestalten. So konnte sie auf Kritiken und Rezeptionen der früheren Fassung des Films »On A Trail of Vanished Blood« eingehen und sie in die Form von »Khoon Diy Baarav« integrieren.

Umstrittene Adresse Es gab zwei Filmvorstellungen von »On A Trail of Vanished Blood« innerhalb Indiens, die Fatima mit dazu veranlassten, die Adresse des Films zu überdenken. Einige der Anfangsszenen dieses Films sorgten bei zwei Vorstellungen in Indien für eine konfliktreiche Diskussion im Anschluss. In einer der ersten Szenen des Films wird ein rag’ṛa vorgeführt. Diese Protestform wurde im Zuge des Amarnath-Landrechtsstreits13 (2008) von Masrat Alam Bhat14 eingeführt und gehört seither zum Repertoire der KashmiriIntifada. In der Regel stehen die Protestierenden in einem Kreis, in deren Mitte sich bspw. eine indische Flagge oder eine Strohpuppe eines proindischen Politikers befinden. Die Gruppe tritt dabei auf die Gegenstände, die in der Mitte liegen und wiederholt dabei das Wort rag’ṛa (wörtl. zerrieben; sinngemäß: Nieder mit!). In der Szene aus »On a Trail of Vanished Blood« handelt es sich um ein rag’ṛa, bei dem eine wütende Gruppe nachts klatschend im Kreis steht und auf etwas Brennendes in der Mitte tritt (vgl.

13 In der Nähe des wichtigen Pilgerorts Amarnath übertrug die Landesregierung von Jammu und Kaschmir Land an die Organisation »Shri Amarnathji Shrine Board«. Durch diese sollten dort Unterkünfte für die steigende Zahl von Pilgern zu diesem für viele Hindus wichtigen Heiligtum gebaut werden. Obwohl im öffentlichen Diskurs ökologische Argumentationen vorherrschten, bedeuteten die Proteste gegen die Landübertragung für viele Menschen aus dem Kaschmirtal in erster Linie die Ablehnung einer Politik, die auf eine weitere Integration Kaschmirs in die sakrale Geographie Indiens abzielte. 14 Masrat Alam Bhat ist heute (2017) Generalsekretär der Geelani-Fraktion der Hurriyat. Insbesondere durch die Kashmiri Intifada gewann er als populärer Sprecher an Bedeutung und ist seither zumeist inhaftiert. Er wird auch als möglicher Nachfolger des sich in hohem Alter befindenden Syed Ali Shah Geelani gehandelt. Geelani ist einer der bekanntesten Repräsentanten der kaschmirischen Bewegung zur politischen Selbstbestimmung und Mitglied der reformislamischen Partei Jamaat-e-Islami.

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Abb. 4). Diese hochdynamische Aufnahme vermittelt ein intensives Gefühl der Wut und der Ablehnung, die von dem Publikum in Shimla während einer Vorführung des Films als erschreckend und verstörend wahrgenommen wurde. Für Fatima war mit den Bildern des rag’ṛa die Intention verbunden, die antagonistische, politische Dimension deutlich hervortreten lassen. Sie stellte sich im Verlauf der Publikumsreaktionen auf den Film hinsichtlich der rag’ṛa-Szene allerdings zunehmend die Frage, ob die Intensität der Bilder und die Platzierung zu Beginn des Films mögliche Interaktionen indisch-fühlender Zuschauer_innen mit der kaschmirischen Bewegung für politische Selbstbestimmung von vornherein vereiteln könnten. Ähnliche Bilder brennender Gegenstände im Zentrum, umgeben von protestierenden Menschen, gehören zum ikonischen Protestrepertoire Südasiens.15 Genau deshalb sind sie ein ambivalenter Nachweis der Forderung nach politischer Selbstbestimmung. Sie sagen, dass der Anspruch auf eine kaschmirische Nation dem Anspruch auf eine indische Nation äquivalent ist.16 Sie nahm die Kritik der Vorführung in Shimla letztlich zum Anlass, die Anfangsszenen umzustellen und einen emotional leichteren Einstieg in den von ihr selbst als »schwierig für indische Zuschauer« bezeichneten Film zu gestalten. Dabei reagierte sie auf die Kritik, indem die politische Artikulation der APDP-Frauen – immer noch im Mittelpunkt ihres Films stehend – durch eine neue Dramaturgie schrittweise aufgebaut wurde. Der neue Titel »Khoon Diy Bharav« spiegelt den gewandelten Bezug der Filmemacherin zu den Texturen ihres Films wieder. Im Gegensatz zu »vanished blood« evoziert der Titel »Khoon Diy Bharav« – der ins Englische mit »Blood leaves its trail« übersetzt wurde und wörtlich in etwa »Das Blut ruft aus« bedeutet – einen affirmativen Gegenwartsbezug.17 Zudem stammt der Titel von den Akteuren selbst, die im Film diesen Satz wiederholt artikulierten.

15 Ähnliches ließe sich auch über die Bilder direkt vor dem rag’ṛa Protest sagen. Dort sind Menschenmassen – ein Bildtext nennt die Zahl 800000 - auf dem Idgah, Srinagar, gezeigt, die nach Azadi verlangen. Hier ließe sich auf die berühmten Massenbilder der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten am Roten Fort in Delhi im Jahr 1947 verweisen, die in einer Reihe von FD Filmen als Archivmaterial gezeigt wurden. 16 Ich möchte mich für die Verweise auf die Geschichte dieser Tropen bei den Teilnehmer_innen des Colloquiums »South Asia and Beyond« von Margrit Pernau am Max Planck Institut für Bildungsforschung, Berlin, bedanken. 17 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 23.10.2015.

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Abbildung 4: ein rag’ṛa-Protest.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015). Fatima stellt die damit angesprochene Problematik der Film-Adresse in Zusammenhang mit der Arbeit an der Form des Films, die von den Widersprüchlichkeiten der Erzeugung von Empathie und den Vorwürfen der Verführung durch emotionale Reaktionen der von den Zuschauer_innen des Films oftmals imaginierten »irrationalen Öffentlichkeit« herrührt: I.F.: The first comment that comes out [of public debate on the film] is that it is a very powerful film. Now the term powerful, I do not know what is implied by that. M.K.: Perhaps that [sometimes] means «politically mobilizing in a problematic way« [...], people want to be polite. I.F.: They also say they are very moved by it [...], many of them have said that «the filmmaker is seducing us, but you don’t know what actually is there. Look at the Kashmiri Pandits, look what they have done to them.« So that these realities are wiped out and they seem to think that the film also can have the capacity to »inflame«. M.K.: Yes, William Mazzarella describes this in his book [»Censorium«, 2012]: [A] postcolonial mindset is thinking about crowds that are easily emotionally mobilized: as soon as »they« hear āzādī-slogans, »they« go out and demolish everything. But the way »crowds« are functioning is at the same time very well organized as a kind of staged drama they play out. That is a form of delegitimizing political articulation. In Persistence/Resistance [Filmfestival in Neu-Delhi, 18.02.2014] »Jashn-e-Azadi«

184 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT was screened and it [was criticized to] work somehow similar in the way it creates affects of āzādī. So you see movements, you see people marching, throwing stones, shouting »āzādī« and so on. When you watch it you [may also] feel sympathetic... I.F.: [...] It takes you with it [...], but that is the objective of the filmmaker. The filmmaker does want you to empathize with that women but that does not mean that people get out and start throwing stones. [...] But you also have to draw in your audience so that the viewer can also engage with it. Those are very serious questions when one is making a film. [...] You have to create empathy, that is in some ways the objective of the film. That empathy factor can get disrupted, it can become a reactionary taste. It is a thin line. That is why I sometimes have a problem with that title »vanished blood«. I feel that maybe that also goes into that disruptive area.18

Aufgrund solcher Überlegungen verlegte Fatima die Szenen des rag’ṛa in das letzte Drittel des Films und beginnt »Khoon Diy Baarav« nun mit einer touristischen Trope, der Bootstour auf dem Dal-See, die einen südasiatischen Zuschauer vermutlich aufgrund eines gewissen Grads der Vertrautheit anspricht. Die zehnjährige filmische Reise Fatimas mit der Produktion von »On a Trail of Vanished Blood« bzw. »Khoon Diy Baarav« wurde von einer ständigen Präzisierung der Form durch Aushandlungen hinsichtlich des transnationalen Moments (die Frauenrechtsorganisation Fokus), nationalistisch denkender Zuschauerschaften und lokaler Ebene (Verantwortung in Hinblick auf die politischen Artikulationen der Frauen der APDP) begleitet. Die Anfangs- und Endsequenzen – die Rahmen der filmischen Adresse – präsentieren die Komplexität der Adresse in verdichteter Weise: eine Form, die zunehmend auf die Komplexität der affektiven Seite dokumentarfilmischer Politik zugeschnitten wurde. Die Anfangsszene von »Khoon Diy Baarav« ist eine Traumsequenz, in der das lange Warten auf die Rückkehr der Verschwundenen und die bürokratische Interaktion mit unverantwortlichen staatlichen Akteuren über die Bootstour an eine räumliche Politik der Bewegungen durch das besetzte Land gekoppelt wird. Die Analyse gilt damit sowohl der Politik der Repräsentation – hier wird die Trope der Bootstour in einen anderen Zusammenhang gesetzt – als auch für die Kopräsenz der pro-filmischen Bewegungen von Filmemacherin und Protagonistinnen, wie sie durch eine dokumentarische Ethik des haptischen Bewegungsraums des Films eröffnet wird. Den ersten dieser beiden Momente werde ich im

18 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 27.10.2015.

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folgenden Unterabschnitt behandeln, der zweite Moment wird im übernächsten Abschnitt angesprochen.

B OOTSTOUREN

UND

T RÄUME

In diesem Unterabschnitt geht es um die Schnittstelle der filmischen Adresse und der Politik der Repräsentation. Ich werde aufzeigen, wie Iffat Fatima durch die Nutzung der verbreiteten touristischen Trope der Bootstour kritisch in das in den vorangehenden Kapiteln dargestellte Repräsentationsregime zwischen Tourismifizierung und Securitization interveniert. Sie kehrt den touristischen Blick um und verweist darüber hinaus auf die Schnittstelle touristischer Mobilität und gegenderter (Im-)Mobilität aufgrund der militärischen Besatzung des Tals. Durch die Visualisierung der Träume ihrer Protagonist_innen schafft sie eine mobile Zeugenschaft in kontextualisierter Form, die durch Verweise auf die Josephsgeschichte an die kulturellen Erinnerungspraktiken der Frauen der APDP gebunden bleibt. Darüber hinaus entsteht durch die Visualisierung der Träume eine affektive Form der mobilisierenden Bezeugung der Konfliktgewalt.

Die Protagonist_innen und die filmische Erzählung – vom Persönlichen zum Politischen »Khoon Diy Baarav« zeichnet sich sowohl hinsichtlich der narrativen Struktur als auch in der thematischen Grundspannung durch eine konstante Bewegung vom Persönlichen zum Politischen aus. In dem ersten Drittel des etwa eineinhalb Stunden langen Films begegnen wir den Porträts dreier Frauen, deren Angehörige verschwunden sind. Parveena Ahangar, die Leiterin der APDP, sucht Orte auf, die mit dem Leben und Verschwinden ihres Sohnes Javaid zusammenhängen. Die Kamera folgt ihr dabei durch militärische Checkpoints, vom Konflikt gezeichnete Gassen Srinagars und zu den berüchtigten ehemaligen Gefangenenlagern des Tals. Uns wird Ahangar dabei als hochorganisierte Leiterin der APDP vorgestellt, die sich auf globalen Menschenrechtsveranstaltungen und bei öffentlichen Protesten in Srinagar engagiert. Der nächsten Protagonistin, Haleema, begegnen wir dagegen in einem dörflichen Kontext, wo sie Feldarbeit leistet und mit den anderen Frauen des Dorfs Lieder zu Ehren ihres verschwundenen Mannes

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Rashid singt. Schließlich wird uns Hajra Begum vorgestellt, die vier Söhne in dem Konflikt verlor. Drei ihrer Söhne starben im Kampf gegen die Besatzung und einer verschwand. Nach diesen sehr persönlichen Porträts der drei Frauen wechselt der Film seine Erzähllogik und beschäftigt sich fortan mit verschiedenen Momenten struktureller Gewalt im Tal. Es sind vor allem die Schnittstellen militärischer Besatzung und touristischer Freizeitgestaltung, zwischen Zeugenschaft und Alltag, dem Besonderen einzelner Lebensgeschichten und dem Allegorischen der politischen Artikulation, die sich in den im Folgenden besprochenen Sequenzen in hochverdichteter Form wiederfinden. Ich werde einige Sequenzen untersuchen, die durch die Trope der Bootstour ihre Kritik »durch das Auge der Repräsentation«19 (Hall 2004) wiedergeben. Die Bootstour ist dabei von der Nacherzählung von Träumen der Protagonist_innen begleitet, oder andersherum: Die Träume werden durch die Bootstour verbildlicht.

Das Josephslied als poetische Ressource Etwa gegen Mitte des Films »On a Trail of Vanished Blood« adressiert Parveena Ahangar einen imaginären Yusuf in Kashmiri: »Komm mein Yusuf, ich rufe dich, du bist noch so jung, gehe noch nicht, mein Bräutigam, gehe noch nicht, deine Mutter ruft dich, gehe nicht«. Diese Zeilen eines Lieds aus einer kaschmirischen oralen Tradition der abrahamitischen Josephsgeschichte werden von Fatima als hermeneutischer Schlüssel herangezogen, um auf die Zeitlichkeit der Widerstandsartikulationen der Frauen der APDP zu verweisen. Das Josephslied kursiert in unterschiedlichen oralen und schriftlichen Fassungen im Kaschmirtal und wird auch in Uzma Falaks Film aufgegriffen. Damit werden Konflikterfahrungen wiedergegeben, in denen Realität und (Alb-)Traum auf das Engste miteinander ver-

19 Darunter versteht Stuart Hall (2004, 163) eine Repräsentationsstrategie, die nicht die dominanten Regime zu umgehen versucht oder sie mit positiver Gegendarstellung konfrontieren möchte, sondern sie kritisch aufnehmen will: die Tropen von »innen heraus« mit ihrer gesellschaftlichen Bedeutung konfrontieren und so zu dekonstruieren.

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flochten sind, so dass ihre oft den Alltag sichernde Grenze zu verschwimmen droht.20 Obgleich das Material der Josephsgeschichte im Koran als die vielleicht einheitlichste Erzählpassage des Texts erscheint, kann davon ausgegangen werden, dass in der persianate-Kultur21 des Kaschmirtals im 17. und 18. Jahrhundert die berühmteste lyrische Version mit der Popularität von »Yusuf va Zuleikha« (»Joseph und Zuleika«) des persischen Dichters Jami zusammenhing (Zutshi 2014). Im Gegensatz zu der eher prosaischen Erzählung in der koranischen Fassung – die auf das Leiden von Josephs Vaters Jakob fokussiert, dessen Lieblingssohn von den neidischen Brüdern in einen Brunnen geworfen wurde –, beschäftigt sich Jamis »Yusuf va Zuleikha« stärker mit der romantischen Beziehung der mauretanischen Prinzessin Zuleika mit dem schönen Jungen Joseph. Eine spätere KashmiriVersion des Dichters Mohammad Ghami stammt aus dem 18. Jahrhundert und kann als die verbreitetste literarische Fassung der Josephsgeschichte im Tal gelten, obwohl orale Traditionen der Erzählung parallel dazu in vielen Formen existieren und bis heute nicht verschriftlicht wurden. Fatima und Falak haben in Gesprächen mit mir wiederholt auf die Bedeutung der Josephsgeschichte für die Frauen der APDP hingewiesen. Die Erzählung ist eine wichtige Ressource im narrativen Umgang mit der Verlusterfahrung und gleichzeitig eine politische Forderung nach Gerechtigkeit, die in ihrer allmonatlichen öffentlichen Performanz vor der Press Colony Srinagar medienwirksam wie rituell wiederholt wird. Die Ansprache als Braut und als Mutter in der Anrufung Ahangars kann im Kontext verbreiteter mystischer Beziehungsmodelle gedeutet werden, die sich in vielen literarischen und oralen Traditionen des Tals (Zutshi 2014) sowie auch im persischen und südasiatischen Raum finden. Darüber hinaus ist Joseph im Koran als Meister des Traums bekannt und beglaubigt so – vor allem für eine kaschmirische Zuschauerschaft – die wichtige Position der Traumsequenzen zu Anfang und Ende des Films. Das Josephslied erscheint auch in »Khoon Diy Baarav« in der letzten Szene, in welcher der Abspann eingespielt wird. Dort wird es von Mugal Mase gesungen, der Protagonistin von »Where have you hidden my new moon crescent«. Sie sitzt am Spinnrad, nach einigen

20 Siehe auch die Beschreibungen zum palästinensischen Film von Bresheet (2007). 21 Der englische Begriff persiante steht für stark von persischen kulturellen Formen geprägte Erscheinungen.

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Strophen hört sie aber plötzlich auf zu spinnen, blickt in die Kamera und sagt »bas« (»es reicht«). Das über die Josephsgeschichte artikulierte Warten Ahangars kann also als eine Allegorie für die Zeitlichkeit in der APDP-Arbeit aufgefasst werden, in der, wie Fatima es mir sagte, »die Fähigkeit [der Frauen], so lange auszuhalten und Widerstand zu leisten«, eine zentrale Motivation für ihre Arbeit an beiden Filmen darstellte. Aber ich begreife die Verweise auf die Josephsgeschichte und ihre Umsetzung in Fatimas Film als ein weiteres Moment mobiler Zeugenschaft. Damit ist hier gemeint, dass die Josephsgeschichte als Teil einer alltäglichen Form des Umgangs der Frauen der APDP mit Verlust von Fatima aufgegriffen wird. Ihre poetische Form bewegt emotional und ist dabei nicht leicht als »parteiische Konflikterzählung« abzuweisen. Darüber hinaus liefert das Josephslied innerhalb der Texturen von »Khoon Diy Baarav« einen Schlüssel zum Verständnis der Bootstouren am Anfang und am Ende des Films, deren Form wiederum einen dokumentarfilmischen Realismus hinterfragt. Die experimentellen Sequenzen der Bootstouren bilden den Rahmen des Films und das weder als Polemik noch als Zeugnis in realistischer Form, sondern als filmformaler Aspekt einer mobilisierenden Zeugenschaft, die zum einen auf der Umkehrung der Trope der Bootstour aufbaut und darüber hinaus eine haptische Form des Films (Marks 2000) vermittelt: eine poetische Intensität und Nähe zum Alltag kaschmirischer Frauen, die unter die Haut gehen.

Bootsfahrten durch das Auge der Repräsentation Die Träume stellen in Fatimas Film die Verbindungsstelle zwischen Konfliktzeitlichkeit und der Politik der Repräsentation dar. Sie nahmen im Prozess der Produktion des Films eine zunehmend wichtige Rolle ein und können in »Khoon Diy Baarav« als Signatur der filmischen Adresse verstanden werden: Beide Sequenzen wanderten über etliche Schnittversionen von der Mitte von »On a Trail of Vanished Blood« in den Rahmen von »Khoon Diy Baarav«. Sie bilden nun Anfangs- und Endsequenz des neuen Films. Die beiden Protagonist_innen der Traumsequenzen, Parveena Ahangar und Shameema Banu, fahren auf dem Dal-See entlang eines komplexen Netzes von Wasserstraßen. Während die Sequenz mit Ahangar in »Khoon Diy Baarav« seine Form aus »On a Trail of Vanished Blood« völlig änderte, blieb Banus Szene weitestgehend unverändert. Mit ihrer Bootsfahrt beginnt der Film, noch bevor der Titel eingespielt wird:

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In einer winterlichen Szene rudert Shameema Banu ihr Boot durch ein inmitten des Dal-Sees gelegenes Dorf, das zum Teil auf Inseln liegt und dessen Häuser zum Teil auf Pfählen gebaut sind (vgl. Abb. 5). Trotz seiner Zentralität im Herzen des touristischen Srinagars stellt die Siedlung der Hanji-Bootsleute, zu denen Shameema selbst gehört, einen blinden Fleck in der populären Ikonographie des Sees dar. Hier trifft die Armut des Seedorfes unmittelbar auf die Extravaganz viktorianischer Wohnschiffe, die überflutungsgefährdeten, oft improvisierten Hütten der Hanji auf die Hotels an der Boulevard Road, der bevorzugten touristischen Adresse Srinagars. Während sie rudert, berichtet Shameema von einem Traum, in dem ihr verschwundener Ehemann zu ihr spricht: »Ich bin Shabir«. Sie erkennt zwar sein Gesicht, aber nicht seine Füße: »Du kannst nicht Shabir sein, ich habe ihn gekennzeichnet [...], wir müssen einen DNA-Test machen.« Die Kamera berührt flüchtig und nervös die dunkle Oberfläche des winterlichen Sees. Während die Kamera kurz ruckelt, fliegt ein kleiner Vogel links aus dem Bildrahmen.22 Jetzt zoomt die Kamera in ein nasses unscharfes Feld hinein und richtet sich dann wieder auf Shameema. Sie lenkt das Boot und sagt: »für einige kurze Momente fühle ich, dass er am Leben ist.« Der neue Titel »Khoon Diy Baarav« suggeriert zuerst einmal, dass das Blut nicht verschwunden ist, sondern »ruft«. Er verweist so auf die Gegenwart des verlorenen Menschen wie auch Joseph, der Meister des Traums, in den Träumen seiner ihn suchenden Eltern erscheint. Für Fatima ist die emotionale und poetische Intensität der Sequenz von Shameema Banos Bootsreise ausschlaggebend, weshalb sie diese an den Anfang des neuen Films verlegt.23 Die Erwähnung des DNA-Tests ist ein schockierendes Zeugnis, in dem sowohl die fehlenden Bürgerrechte als auch das Leben und der Tod von Menschen im Kaschmirtal als Objekt unverantwortlicher staatlicher Handlungen sichtbar werden. Die physische und kulturelle Besatzung des Tals gräbt sich tief in den Alltag der Frauen und bis in ihre Träume ein. Fatima betont aber auch, dass solche Träume einem verbreiteten Geisteszustand von Kashmiris unter der Besatzung Ausdruck verleihen. Sie leiden an

22 Diese Szene stammt aus »On a Trail of Vanished Blood« und erscheint in »Khoon Diy Baarav« mit minimalen Änderungen. Die neue Position zu Beginn des Films legt eine ruhigere Form nahe, die an dieser Stelle längere Einstellungen bevorzugte. Ich beschreibe die Szene aus »On a Trail of Vanished Blood«, weil sie Traum und Trauma in einer komplexen Form enger verknüpft und so wert ist, gesondert behandelt zu werden. 23 Iffat Fatima am 14.04.2014 in Neu-Delhi.

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der doppelten Besatzung24: des physischen Raums des Tals und des mentalen Raums der Träume.25

Abbildung 5: Bootsfahrt aus der Anfangssequenz.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015) Für die filmische Adresse ist die Veränderung der letzten Sequenz von Bedeutung. Die stakkatoartige Steigerung der Protestchoreographie des ersten Films wird in »Khoon Diy Baarav« vorgezogen. Das Ende bildet nun eine eher kontemplative Bootsfahrt Ahangars, die ähnlich der von Shameema Banu den Zuschauer_innen die politische Seite des Alltagslebens und der Träume zeigt, ohne zu polemisieren. Begleitet vom Geräusch des Ruderns sehen wir die Reflexion der Sonne und die Schatten der Bäume, die sich auf der Oberfläche des Dal-Sees spiegeln. Parveena Ahangar spricht von einem Traum, in dem ihr Sohn erschien: »Eines Tages sah ich ihn in einem Traum. Er war wie ein Kind, als wäre er in der sechsten oder siebten Klasse. Ich sah ihn vom Fenster. Er klopfte an der Tür. Ich öffnete die Tür und 24 Der Rapper MC Kash spricht in seinem Song »I protest«, der für viele kaschmirische Jugendliche zu einer Hymne der Intifada wurde, von einer »endless occupation of our lands and our minds«. Diesen Satz – und viele ähnliche – habe ich von Kashmiris während meines Forschungsaufenthalts im Tal oft gehört. Er bringt sowohl die Gefühle der Intifadageneration als auch die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Indien und Kaschmir auf einen populären Nenner. 25 Iffat Fatima am 14.04.2014 in Neu-Delhi.

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rief: »Wo warst du? Ich bin verrückt geworden auf der Suche nach dir.« Er antwortete: »Ich bin bei ihnen. Sie haben Photos von mir gemacht«.« Nun passiert das Boot einige Orte, die auf den Tourismus auf dem DalSee verweisen: Im Bildausschnitt spiegelt sich, schwer lesbar, ein Schild mit der Aufschrift »Handicraft Emporium«. Ahangar spricht weiter von der Traumstimme ihres Sohnes: »Sie sagen mir, dass nur meine Mutter nach mir sucht und dass sie mich vergessen soll.« In diesem Moment hebt sich die Kamera und wir sehen eine Shikhara mit Touristen vorbeifahren und im nächsten Bild sitzt Ahangar im Halbschatten einer Shikhara mit einem kleinen Lichtstreifen über dem Gesicht, während im Hintergrund ein dichtes Gestrüpp von Seepflanzen vorbeizieht. Mit einem Donnergrollen kündigt sich ein Sturm über dem Dal-See an, der in der nächsten Einstellung gezeigt wird. Fatimas Stimme ist zu hören, die auf Englisch einen Satz von Ahangar aufgreift: »Are they dead, are they alive? Have they become ether?« Die Kamera schwenkt zu einem schlanken und hohen, in vier Hauptstämme gegabelten Baum. Er trotzt den Winden und den bedrohlich wirkenden, tiefschwarzen Gewitterwolken. Das Bild blendet in schwarz über und eine Danksagung Fatimas erscheint, bevor der Abspann mit Mughal Mases Gesang des Yusufnamah abschließt. Abbildung 6: Bootsfahrt aus der Endsequenz.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015) Die Szene weicht stark von einer Sequenz von »On a Trail of Vanished Blood« ab, die teilweise aus demselben Material geschnitten wurde. Ich werde sie besprechen, weil Fatima hier direkt auf den »touristischen Blick« Bezug nimmt. Die Sequenz beginnt mit bunten Shikharas auf der leuchtend

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blauen Oberfläche des Dal-Sees vor dem Hintergrund der Pir PanjalBergkette. Genau so könnte es auch auf einem Urlaubsphoto aussehen. Ahangar erinnert sich, dass ihr Sohn sonntags oft zum Schwimmen hierher kam. Während die Shikhara auf die touristische Boulevard Road, die Seepromenade Srinagars, zusteuert, sagt sie zu Fatima: »Schau dir dieses Jamboree von Fremden an. Das Paradies Kaschmir hat man uns zur Hölle gemacht. Die von draußen kommen hierher und genießen es.« Das nächste Bild zeigt Parveena, wie sie in einer majestätisch anmutenden Haltung unter dem Baldachin einer aufwendig geschmückten Shikhara sitzt, während diese an Touristen, die in kleineren Booten sitzen, vorbeigerudert wird. Am Rand des Sees wird Stacheldraht erkennbar. Hinter einem gelben Vorhang – vermutlich von einer Shikhara – erscheint plötzlich eine Gruppe von bewaffneten Soldaten, die ihre Bootstour offensichtlich genießen. Die Szene schließt mit dem Bild zweier Vögel. Ein Falke wird von der Kamera zwischen dem Seegestrüpp eingefangen und ein Eisvogel verharrt bewegungslos auf einem abgebrochenen Stamm. Beide evozieren kontrastierende Momente von Ruhe und Überwachung, von touristischer Normalität des Feriengenusses und dem Trauma, das in die Landschaft eingeschrieben ist. Die Szene ist eine Reaktion Fatimas auf den von der Films Division produzierten »Aathish-e-Chinar« von Zul Vellani, »which begins with this man sitting relaxed on the Dal Lake just rowing and [he] says something like: »Oh what a wonderful thing this is, this great Kashmiri Culture!« Sitting on the boat as if he’s in complete control, as if he’s the maharaja there, that’s why I put Parveena in that style.«26 Alle hier besprochenen Sequenzen gewinnen eine traumähnliche Qualität durch die Verwendung von filmischen Verfremdungstechniken: Spiegelungen auf der Wasseroberfläche, hohe Variationen im Schnitttempo (sehr lange und sehr kurze Einstellungen), in-out of focus und das Spiel zwischen Motiven der Flora wie Fauna des Sees und Bildern einer touristischen Durchdringung und militärischen Überwachung des Tals. Die durch das Josephslied kontextualisierten Traumerzählungen von Banu und Ahangar verknüpfen Bilder der Besatzung mit Erinnerungen der Protagonist_innen. Wie es sich in der Besprechung der Dal-See-Sequenz mit Ahangar bereits andeutet, wird die von Fatima anvisierte Rückgewinnung des physischen und mentalen Raums des Tals im weiteren Verlauf des Films durch die gemeinsamen pro-filmischen Bewegungen der Filmemacherin und der filmischen Subjekte repräsentiert.

26 Iffat Fatima am 14.04.2014 in Neu-Delhi.

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B EWEGUNGEN

UND

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B EGEGNUNGEN

Eine Szene ungefähr in der Mitte von »Khoon Diy Baarav« verweist auf die Militarisierung des Tals mittels der Ziffern: »7800 sq km Land, 2229 private properties, 546 governmental buildings, 179 schools, 40 hospitals, 71 hotels, 49 industrial units«. Diese von dem J&K-Parlament herausgegebene Statistik über staatlichen Besitz indiziert die gewaltige Dimension der räumlichen Präsenz des Militärs im Tal, das in vielen dieser »hotels«, »governmental buildings« und »industrial units« nun Garnisonen eingerichtet hat. In der Szene direkt vor der Statistikeinblendung sehen wir unter der Textzeile »July 7, 2010, Army Flag March, Srinagar City« eine endlos anmutende, beflaggte Militärwagenkolonne. Das Ereignis bekommt intensive mediale Aufmerksamkeit. Fatimas Kamera überblickt von einem erhöhten Standort alle anderen Kameras, die die Armee von unten mit Stativen filmen. Als Zuschauer_innen könnten wir die Assoziation haben, dass die anderen Kameras eingebettet (embedded) sind und zugleich auf Fatimas Subjektivität als unabhängige Filmemacherin angespielt wird. Die hervorgerufene Differenz deutet auf eine weitere Perspektive hin, die sowohl die Dimension der Armeepräsenz im Tal als auch ihre Medialisierung reflektiert. Während diese Bilder erscheinen, berichtet die Stimme der Filmemacherin von den Notstandsgesetzen PSA und AFSPA. Die recht abstrakte Dimension des Staatsbesitzes und der Notstandsgesetze erlangt ihre Evidenz allerdings erst im Verhältnis zu den Alltagserfahrungen der Frauen und den pro-filmischen Konflikten mit dem Militär, wie sie in dem Film durch Fatimas Bewegungen im Tal entstehen. Erst so wird die strukturelle Gewalt der Besatzung sichtbar.

Vom Internierungslager zur touristischen Hochburg In einer Sequenz von »Khoon Diy Baarav« folgen wir Ahangar entlang einer Straße in Srinagar. Sie sagt, dass das jahrelange Auf- und Abgehen dieser Straße ihr »Kraft und Jugend geraubt habe«. In der nächsten Einstellung befinden wir uns vor dem Eingang eines ehemaligen Gefangenenlagers namens PAPA 2. Sobald Fatima und Ahangar dort eintreffen, öffnet sich das Tor der Anlage geräuschvoll. Ahangar schreckt für einen Moment zurück. Ein Soldat kommt aus dem Lager auf die Kamera zu und fragt, was sie machen. Fatima antwortet auf Hindi »Kuch shooting kar rahe haiṃ«

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(»Wir schießen«), und fügt nach einer kleinen Pause hinzu, »film banā rahe haiṃ, ham« (»wir machen einen Film«). Der Soldat schaut etwas verwirrt und geht zurück hinter das Tor. Die Kamera schwenkt zurück auf Ahangar, die sich sichtlich nervös mit den Händen über das Gesicht fährt. In der nächsten Einstellung sehen wir denselben Soldaten hinter einem kleinen Guckloch, wie er den Bereich vor dem Tor beobachtet. Darüber wird vor Abschluss der Szene eine Schrift eingeblendet, die erläutert, dass PAPA 2 momentan die offizielle Residenz des Ministerpräsidenten von J&K ist. Die Tatsache, dass selbst in einem Hindi-Blockbuster wie »Haider« (2014) von einem Internierungs- und Folterlager namens »MAMA 2« berichtet wird, verweist auf den seit Jahren wachsenden Bekanntheitsgrad dieser berüchtigten Einrichtung des indischen Militärs. Nach der Szene mit Ahangar vor PAPA 2 geht sie zu einem weiteren berüchtigten Internierungslager, dem in den Zabarwan Hills gelegenen Pari Mahal-Palast. Die erste Einstellung eröffnet einen frontalen Blick auf den Palast, wie wir ihn von touristischen Photographien kennen. Die touristische Erwartung wird jedoch bereits durch den winterlich bewölkten Himmel enttäuscht. Während der Einstellung erklingt ein rhythmisches Schlagen (vielleicht eines Steins), dem wir das erste Mal bei der Einstellung begegneten, in der auch die Statistik der militärischen Landbesetzung in J&K zu sehen ist. Das helle, regelmäßige Klopfen evoziert die lange Dauer und den zermürbend rituellen Charakter der Militarisierung. Die nächste Einstellung zeigt eine Informationstafel der Tourismusbehörde. Wir sehen einen Soldaten, der an dem Schild vorbeigeht und es anschaut. Vielleicht ist sein Blick von dem Interesse der Kamera an dem Bild motiviert. Die Schrift des Schildes besagt: »The grandeur of Parimahal lies in its majestic and commanding location chosen by our ancestors. Isn’t it our duty to maintain the beauty of the mahal and the environment that makes it so grand?« Der Schutz des archäologischen Erbes scheint hier mit dem Sicherheitsregister des militarisierten Staats zu verschmelzen. Dieses touristisch-militärische Register richtet seinen pathetischen Appell an die/den nationalistische_n Adressaten/Adressatin und leistet, gegen den Strich gelesen, selbst einen Großteil seiner Dekonstruktion für weniger patriotisch empfindende Leser_innen.

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Konfrontationen im besetzten Raum Immer wieder kommt es im Film zu Konfrontationen der Frauen mit dem Militär. Zwei kleine Szenen verweisen auf die Mobilität und Subjektivität der Filmemacherin. Fatima wurde von ihren an Dokumentarfilmen interessierten Freunden kritisiert, dass einige der Textstellen in »On a Trail of Vanished Blood« einen zu »faktischen« Eindruck hinterließen. Zudem kam in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis wiederholt die Frage auf, warum sie nicht ihre eigene Stimme benutze, um dem/der Zuschauer_in bei einem ohnehin sehr persönlichen Film den »Zugang zu erleichtern«. In »Khoon Diy Baarav« sind zwar noch immer einige Textstellen in einem nüchternen Stil gehalten, sie werden nun aber von der Stimme der Filmemacherin begleitet. Fatima interveniert jetzt auch physisch stärker in den Raum des Bildausschnitts, als sie es in »On a Trail of Vanished Blood« tat. Abbildung 7: Identitätskontrollen.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015). Eine Szene mit Parveena Ahangar zeigt die übliche Identitätskartenkontrolle, bei der die Menschen des Tals auf oft erniedrigende Weise öffentlich untersucht werden. Der Wagen von Fatima und Ahangar wird gestoppt und Ahangar kommentiert die Militärkontrolle: »Die sind hier die Eigentümer, wir müssen eine ID zeigen.« Direkt darauf folgt die erste Szene mit Haleema Begum in einem ländlichen Raum. Wir sehen sie auf die Kamera zugehen. Der Gesichtsausdruck ist etwas unsicher, hinter ihr steht ein Soldat mit Gewehr. Er ruft von hinten auf Hindi/Urdu: »Mach die Kamera aus.« Die Kamera beginnt zu wackeln und der Kameramann fragt Fatima, ob er die Kamera ausmachen solle. Fatima ruft dem Soldaten zu: »Wir müssen hier mit ihr schießen!«27 Haleema schaut sich kurz um und Fatima ruft ihr in Kashmiri zu: »Pāk« (»Lauf weiter«). Daraufhin geht Haleema weiter, bis

27 »Ham ko in ke sāth shooting kar’nā hai.«

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sie die Kamera passiert (vgl. Abb. 8). Es soll hier nicht der heroische Topos eines medialen shooting back gegen die Militärmacht des indischen Staats dargestellt werden. Was mich vielmehr an diesen Sequenzen interessiert, ist die dokumentarfilmische Verarbeitung einer räumlichen Intervention durch Protagonistin und Kamera sowie die damit suggerierte Subjektivität der Filmemacherin. Abbildung 8: Bewegungen im militarisierten Raum.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015). Aus anderen Szenen spricht eine enge Vertrautheit Fatimas mit den Protagonist_innen des Films, die sie zehn Jahre lang regelmäßig besuchte und in ihrem Alltag begleitete. Fatima selbst stammt aus einer hohen gesellschaftlichen Schicht des Tals, sie lebt in Delhi und ist als kaschmirische Intellektuelle und Filmemacherin weithin bekannt. Aufgrund ihres Sozialstatus kann sie Haleema Begum Vertrauen in einer durch die Kamera provozierten und gleichermaßen geschützten Situation geben. Während einer Vorstellung des Films bei dem Udaipur Pratirodh ka Cinema-Festival 2016 am 14-15.09.2017 (siehe Kapitel 6) kamen im Publikum Fragen hinsichtlich der Gefährdung der Frauen durch ihre Mitwirkung bei dem Film auf. Szenen wie die geschilderte wurden von einem Zuschauer als ethisch problematische Intervention der Filmemacherin zur Schaffung wirkmächtiger Bilder interpretiert. Fatima akzeptiert diesen Vorwurf nicht, da die Frauen, in Fatimas Worten, »die Handlungsmacht der Kamera« sehr wohl selbst einschätzen könnten und durch ihre politische Arbeit ohnehin den Sicherheitskräften bekannt seien.28 Vielmehr sieht Fatima die Szenen mit Haleema Begum ebenso wie viele andere mit Ahangar und Hajra Begum als ein Spiel der Protagonist_innen mit der Kamera. Fatima nannte es im Gespräch mit mir das »Greifen nach der Handlungsmacht der Kamera«, das sich nicht auf ihre Filme beschränkt, sondern einen Aspekt der Arbeit der APDP mit der medialen Sichtbarkeit darstellt:

28 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 26.10.2015.

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»I absolutely think that they are in control. They take control of the camera also, you know. The medium of the camera, I don’t know how it is in the film, but I know while in the process of making this film. What happened was that the camera very quietly used to »go away«, it used to be a »one on one«, the interaction is really between them and me. So the awareness of the camera is there but it is sort of minimal. So there is Haleema for instance. She is a great performer. She is aware of herself, she is aware of her body. [...] Very self-confident and totally aware of the camera.«

29

Die Spannung zwischen der Wahrnehmung der Kamera und der von Fatima suggerierten Vérité-Einstellung30 muss nicht als Paradox der Form aufgefasst werden. Es ist interessanter, sie im Verhältnis zur Mediatisierung der Menschenrechtsarbeit der APDP zu begreifen. Die Kameras sind inzwischen Teil ihres Alltags und daher kann die Kamera – so deutet es Fatimas Zitat an – gleichermaßen verschwinden und performativ einbezogen werden. Iffat Fatima hat oft auf die performative Emotionalität von Parveena Ahangar als Charakter von Dokumentarfilmen und Nachrichtensendungen hingewiesen. Sie nennt dies »Ahangars Sequenz«, welche die Leiterin der APDP für jede Kamera seit nun über 20 Jahren mit einer für vertraute Menschen verstörenden Professionalität darbietet.31 Dagegen versucht Fatima, diese »Ahangar-Sequenz« als medienreflexive Performanz in den Fokus zu rücken. Fatima wurde von Freund_innen nach einer Probevorführung auf den »NGO-type of Charakter«32 Ahangars angesprochen, den die Leiterin der APDP in ihrem Film hervorrufe. Für Fatima war diese organisatorische Seite der APDP-Leiterin vor allem der Weg, die Handlungsmacht und das Geschick Ahangars wiederzugeben, in einer Landschaft und einem Lebensraum zu navigieren, die von der Macht der Besatzer vorgezeichnet ist. Der alte Gegensatz des realistischen Zugangs dokumentarfilmischer Evidenz – selbst eines kognitiven »kritischen Realismus« bspw. Karl Platingas (2008) – löst sich hier in der gemeinsamen Praxis von Filmemacherin und

29 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 26.10.2015. 30 Ich setze mich weiter unten im Zusammenhang mit der Besprechung von Ajay Rainas Filmschaffen mit der vérité-Form auseinander (vgl. Kapitel 6). 31 Iffat Fatima am 28.02.2013 in Neu-Delhi. Weitere Verweise stammen aus demselben Gespräch. 32 In diesem Kommentar von Fatimas Freund_innen scheint die Vorstellung implizit zu sein, dass NGO’s in Kaschmir eine depolitisierende Wirkung haben oder nicht mit den sozialen Bewegungen vor Ort organisch vernetzt wären.

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Protagonist_innen auf. Auch dieser Schritt kann als eine Verfeinerung der spezifischen Form mobiler Zeugenschaft verstanden werden, da die präsentativen Momente die nicht planbaren Ereignisse als Aktualitätsaufnahmen des Films durch ihren eigenen Kontingenzcharakter in der Form dokumentarfilmischer Bezeugung Glaubwürdigkeit verleihen. Gleichzeitig beruhen diese Momente auf den Bewegungen von Filmemacherin, Kamerateam und filmischen Subjekten, die durch ihre Mobilität und Medienreflexivität die Ereignisse in Gang setzen.

A LLTAG UND Z EUGENSCHAFT : H APTISCHE F ORM UND MOBILE Z EUGENSCHAFT Während Shameema Banus Boot zu Beginn des Films das verschlungene Holzgerüst einer alten kaschmirischen Brücke erreicht, spricht Fatimas Erzählerstimme: »Over eight years I travelled with her [Parveena Ahangar] across the scarred landscapes of Kashmir, a witness to its brutalization, its trauma. The film is a testimony, a consequence of my baring witness.« Ich werde in diesem Unterabschnitt, der gleichzeitig auch als Fazit dieses Unterabschnitts dient, auf die Frage der spezifischen Form der Zeugenschaft in Fatimas filmischer Praxis eingehen. Ich beginne mit einer Besprechung zweier Sequenzen des Films und entfalte den Begriff der mobilen Zeugenschaft daraufhin weiter über Gespräche, die ich mit der Filmemacherin über die Frage der Erinnerungspraxis der Frauen der APDP, ihrer Darstellung in Fatimas Film und seine Rezeption führte.

»December 25, 2010, Cement Bridge, Sumbal« Die Sequenz ist am Anfang mit der Textzeile »December 25, 2010, Cement Bridge, Sumbal« markiert. In vielen Momenten des Films finden sich solche Schriftzüge, die bestimmte Aktualitätsaufnahmen an Ort und Datum binden. In dieser Sequenz überqueren Menschen die Brücke in Sumbal und passieren dabei ein Metallschild am Brückenkopf, auf dem verwaschen der allgegenwärtige Slogan »Go India, Go Back« steht. Weil die Kamera sich hinter dem Schild befindet und nicht deutlich zu erkennen ist, spekulieren zwei Frauenstimmen, bevor sie in den Bildrahmen treten, ob dort vielleicht eine LMG (Light Machine Gun) aufgestellt wurde. Sobald die Frauen in der

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nächsten Einstellung das Bild betreten, erwähnt eine ältere Frau, dass sie »Photos machen«, es sei nur eine Kamera. Sie schaut direkt in die Kamera, lacht und sagt: »Ich dachte, sie hätten dort eine LMG aufgebaut.« Abbildung 9: Sequenz »25.12.2010, Cement Bridge, Sambal«

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015). Was zeichnet nun die Markierung dieser Szene durch Datum und Ort in der chronologischen Zeit zeugenschaftlicher Evidenz aus? Ist es nicht einfach eine Alltagsszene in einem besetzten Land? Ist nicht die Feststellung, dass es sich hier um Alltag handelt, selbst eine Verdrehung des Begriffs »Alltag«, die auf die prekäre Natur des Lebens im Kaschmirtal aufmerksam macht? Steht das Lachen daher für eine Geste des Widerstands wegen der Normalität der Anwesenheit von Waffen im öffentlichen Raum? Steht es für die Erleichterung, dass es dieses Mal nur eine Kamera ist? Zeugenschaft scheint in Fatimas Film auf eine Auflösung der nur persönlichen Bezeugung der Besatzungsgegenwart und der traumatischen Vergangenheit des Verschwindens ausgerichtet zu sein. Es ist eine ständige Bewegung zwischen einer Bezeugung spezifischer Handlungen dieser Frauen – die in den meisten genannten Dokumentarfilmen über die APDP weitestgehend ausgeklammert bleiben – und dem breiteren Kontext struktureller Gewalt zwischen Tourismifizierung und Securitization. Es sind dabei vor allem die pro-filmischen Bewegungen durch den militärisch besetzten Raum Srinagars, die durch den Alltag der Besatzung eine Form der Zeugenschaft herstellen. M.K.: [This pertains to] the questions of testimony and the everyday. What makes the marking of the incidences by place, time and name, e.g. when you had this scene on the bridge »December 25th, 2010, Sambal Bridge« a testimony? It is an everyday type of scene. Is it right, that your intention was [to show] that there is no »everyday« in the usual sense, because that also can be marked in a chronological time?

200 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT I.F.: You are right in some ways. So I said that my film is my testimony. These markings are in some ways a subversion what would be... say you mark special events, you give them dates and timings and the everyday doesn’t need that, you are right. Like my diary notes in a way. These are regular occurrences, but for me they are testimonies, lamp-postings. Because it also makes the film non-sequential in a way, you know. It is not a linear film. So chronology gets subverted.33

Ich möchte Fatimas Antwort um die These erweitern, dass ihr Film hinsichtlich seiner Erzählung eher räumlich als zeitlich ausgerichtet ist. Es gibt praktisch keine psychologische Entwicklung der Protagonist_innen, keine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende, keine einzelne Heldin, die sich auf die Reise macht – also kein aus den europäischen Dokumentarfilminstitutionen bekanntes Heldenreiseschema. Stattdessen sind es Bewegungen durch den besetzten Raum, die wie in einem Kompendium der Besatzung und des Widerstands Zeugnisse zusammentragen, die selbst erst durch gemeinsame Bewegungen von Filmemacherin und filmischen Subjekten während der langjährigen Produktion des Films erzeugt wurden. Die Erzählung Fatimas folgt jedoch einer Bewegung, die der Zeugenschaft des Films dienen soll, nämlich von individuellen, biographischen Erzählungen der Protagonist_innen des Films bis hin zu der Darstellung von Protest ab der weiter unten zu besprechenden Szene des Schreins von Batamalloo gegen Mitte des Films. Darüber hinaus behandelt eine große Zahl von Sequenzen die Inversion von Tropen der touristischen Mobilität und zeigt gleichzeitig ihre Schnittstelle mit konfliktbedingter, gegenderter Immobilität und Militarisierung auf. Der Film schafft damit eine Kritik der Normalisierung und Kommodifizierung sowohl durch Tropen der touristischen Mobilität und der gegenderten (Im-)Mobilität als auch durch eine mimetische Darstellung des Konfliktalltags. Diese beobachtende Form der Mimesis34 beruht auf der engen Kollaboration zwischen Filmemacherin und filmischen Subjekten sowie dem Versuch, Zeugenschaft auf eine Weise zu

33 Skype-Gespräch mit Iffat Fatima 27.10.2015. 34 Ich gehe hier noch nicht auf die Details zwischen »observational form«, »direct cinema« und »cinema vérité« ein, siehe dazu Kapitel 6. Alle diese mimetisch ausgerichteten Formen des Dokumentarfilms bewegen sich weg von griersonischen Formen und hin zu einer beobachtenden Darstellung alltäglicher Interaktionen (siehe auch Winston 2013).

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codieren, die so nah wie möglich am Alltag der Frauen bleibt.35 So lässt sich auch die oben erwähnte Umstellung der Anfangssequenzen und die Entnahme einiger anti-mimetischer Bilder aus der Bootstour-Sequenz mit Shameema Banu erklären. Fatima sagte mir, dass diese Umstellung – auch wenn sie die traumartige Qualität der Sequenz mindert – als Signatur zu Beginn des Films eine neue Rolle übernimmt. Sie führt nun in die haptische Form (siehe unten) ein und soll durch die Trope der Bootstour gleichzeitig Menschen aus Indien mit einem bekannten Bild abholen.

Die Übertragung der Erinnerung Für Fatima war einer der faszinierendsten Aspekte der Arbeit der APDP die lange Dauer ihres Widerstands. Die Mitglieder der Organisation versammeln sich seit nunmehr über zwanzig Jahren an jedem ersten Montag des Monats, um gemeinsam vor öffentlichen Gebäuden und in Parks zu protestieren. Wie inszeniert Fatima die Zeitlichkeit dieses Protests durch die Form des Films und vor welchem medialen Hintergrund? Ich habe aufgezeigt, wie sich aktive Darstellungen der Frauen der APDP in Fatimas Film von vielen anderen Filmen absetzen, in denen die Frauen der APDP als passive Opfer des Konflikts gerahmt werden. Im Rahmen einer Identitätspolitik, die die Frauen schematisch auf ihre Gruppenzugehörigkeit reduziert, leiden sie an dem universellen Maßstab eines ungeschichtlichen Tertium comparationis, ausgewiesen als eine Menschlichkeit,36 die religiöse Gewalt nur durch Säkularismus begrenzen kann. Es ist dort kaum nachvollziehbar, was die Arbeit der APDP für das kollektive Gedächtnis kaschmirischer Subjektivitäten bedeuten könnte und in welchen unterschiedlichen Rollen die Frauen der Organisation an Konflikt und Politik beteiligt sind. Die zentrale politische Dimension ihrer Arbeit bleibt in den oben genannten Dokumentar- und Spielfilmen weitestgehend unbe-

35 In Bezug auf den feministischen Dokumentarfilm ist der von feministischen Filmemacher_innen identifizierte Nutzen der »vérité-Form« von Julia Lesage (1978) ausgeführt worden. 36 Es liegt mir fern, diese Darstellungen als »Ideologie des Menschenrechtsfilms« auszuweisen, doch es darf ebenfalls keine dekontextualisierte Aussage über diesen Typus von Filmen angestellt werden, deren realistisch-informativer Impetus oft normativ formuliert wird (Bronkhorst 1997, 348).

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rücksichtigt oder wird von einer religiösen Überdeterminierung des Konflikts verdeckt. Letztere parallelisiert das Leiden von Muslimen und Hindus. In diesem Zusammenhang ist eine Besprechung der für Konflikträume typischen Bilder von Grausamkeiten (atrocity images) in Fatimas Film angebracht, da sie intermedialen Bezug auf Mobilisierung von Zeugenschaft durch die filmischen Subjekte nimmt und sie so als aktive Teilnehmer_innen am Konflikt repräsentiert.

Bilder von Gewalt und haptische Form Bilder von Gewalt werden in Fatimas Film in einer Szene im Schrein von Batamalloo dargestellt, in der jährlich eine Sammlung von »Bildern der Märtyrer« von der Islamic Youth Organisation ausgestellt wird. Während des urs, des Geburtstages des Heiligen Sheikh Dawood von Batamalloo, kommen viele der Frauen der APDP zum Schrein, um für die Rückkehr ihrer Angehörigen zu beten. So wurde der Ort zu einer ersten Anlaufstelle der APDP in einer Zeit, als sich die Organisation formierte. Fatima erläutert: »Batamalloo has been the center of violence. It has been a very important area both in terms of militancy and in terms of counter-insurgency measures... Initially there was no APDP, there were just disappearances and these events that happened – so initially the women whose family members disappeared used to get together and be on the streets. Then the army disperses them, they would not allow them to gather, then they went inside the High Court premises where they used to gather and protest. They were also thrown out of there. Then they went to this Batamalloo shrine. Parveena used to live there. That was the area from where her son disappeared. A lot of them used to gather within the [area] of the shrine and that became a space for them to collect. Because it had both: it had healing associations as well as being able to get together and to collectivize.«

37

Dieser Typ von Ausstellung wird von den Beteiligten selbst mitgestaltet, indem sie der Islamic Youth Organization (IYO) die Photos geben, die dort ausgestellt werden. Fatima antwortete mir auf die Frage, wie sie die Aufnahmen in dem Schrein visuell organisierte:

37 Gespräch mit Iffat Fatima in Neu-Delhi am 27.10.2014.

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»I was interested in how it’s impact [was]. What is the objective of that whole exhibition? It is about memory, you are commemorating something that has happened over the years. So I was looking at it from that point of view. Also you see that there were small children there. This is how memory gets transferred. It is a process of transference, that is what happened through these events and the movement. [...] One of the primary concerns in this film is the whole idea of transference, the way 38

memory transmits and through which means it transmits.«

Die Reaktion von Parveena Ahangar wird durch die Gegenwart der Zuschauer der Veranstaltung vermittelt und markiert diese Bilder als die Performanz eines öffentlichen Betrauerns und Erinnerns, also einer Zeugenschaft, die performativ und zum Zweck der politischen Mobilisierung hervorgebracht wird. Obgleich die Bilder der Märtyrer die gleiche Frontalität haben wie Darstellungen aus den 24/7-Nachrichtensendern, sind sie in Fatimas Sequenz eingebunden in eine haptische Erinnerungspraxis. Die Bilder der Märtyrer werden als Momente dargestellt, in denen sich Handlungsmacht aus einer Form kollektiver Trauer generiert. Die Kameraarbeit unterstreicht diese Wirkung, indem sie sich ständig zwischen den Bildern und den Reaktionen der Zuschauer_innen hin und her bewegt (siehe Abb. 10). Sie evoziert ein affektives Feld, das die Wahrnehmung der APDP außerhalb des Tals als Menschenrechtsgruppe, die »nur« Forderungen an die höheren staatlichen und transnationalen Menschenrechtsinstitutionen stellt, um die selbstbewusste Beteuerung und das Verfestigen einer lokalen Erinnerungspraxis erweitert. Abbildung 10: Erinnerungsübertragung und haptische Form.

»Khoon Diy Baarav« (Fatima, 2015). Diese Rolle ist zentral für ein Verständnis der Bedeutung dieser Organisation im Kaschmirtal und der Position von Parveena Ahangar, die für viele Kashmiris ikonisch ist. Diese Übertragung von Gedächtnis kann uns auf die

38 Ebd.

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lange Dauer der Arbeit der APDP aufmerksam machen. Sie verweist gleichzeitig auf Fatimas eingebetteten Filmstil. Der anthropologische Blick der Filmemacherin zeigt die Opfer des Konflikts nicht nur als Argument in der Politik der Repräsentation, sondern verweist auch auf die Intensität sensorischer Erinnerungspraxen, ohne die sich ein dauerhafter Widerstand nicht aufrechterhalten ließe. Iffat Fatima sagte mir nach einer Vorstellung und Besprechung ihres Films in Hyderabad (04.12.15), dass die Schwierigkeit, die einige nationalistische Zuschauer_innen mit dem Film haben, in seiner »Nähe« zu den Akteuren liege. Dies erschwere es vielleicht, so Fatima, in einer realistischen »Politik der Tatsachen« die repräsentierten Vorgänge einfach abzustreiten oder als politische Polemik zu disqualifizieren. Interessanterweise machte ein Zuschauer in Hyderabad nach einer längeren Diskussion mit Fatima das Eingeständnis, der Film zeige »die menschliche Seite des Konflikts«. Der Humanismusdiskurs, den Fatima versuchte, politisch zu kontextualisieren, ist für viele Zuschauer_innen so präsent, dass er nach einer teils heftigen Auseinandersetzung geeignet erscheint, entweder die von Fatima geschaffene »Nähe« des Films zu reflektieren oder ein kontroverses Gespräch durch den scheinbar neutralen Begriff des »Menschlichen« beizulegen. Ein Freund von Fatima, der selbst Filmemacher ist, hat diese »Nähe« des Films nach einer Vorführung in Kathmandu hinterfragt. Er fragte Fatima, ob die Stärke des Films – die »Nähe« – nicht gleichzeitig seine Schwäche sei. Sie nehme der Öffentlichkeit zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, sich argumentativ mit ihm auseinanderzusetzen. Die Stille nach den Filmvorstellungen verweise auf eine »geschickte« (smart) Art und Weise, kritische Antwortmöglichkeiten zu unterbinden. Natürlich zeigen die oben wiedergegebenen Debatten, dass die Publika von Fatima durchaus kritische Fragen formulieren. Gleichwohl verweist dieser Kommentar auf eine Eigenschaft der haptischen Form: Die Fokussierung auf körperliche Reaktionen der Zuschauerschaft, die von Fatima während der Vorführungen stets genau beobachtet werden und die ihr auch als Index der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Film dienen. Im nächsten Unterabschnitt beschäftige ich mich nun mit den Fragen, wie sie ihren Film öffentlich macht und was für eine Rolle physische Mobilität und emotionale Mobilisierung dabei spielen.

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Emotionale Mobilisierung an der Wahrnehmungsschwelle der Massenpublizität Fatima begann ihre Reise mit »Khoon Diy Baarav« während der Studentenproteste in Delhi und Hyderabad im Jahr 2016.39 Sie versuchte dabei – auf Anraten ihrer Freundin, der Menschenrechtsanwältin Vrinda Grover – unter der Wahrnehmungsschwelle eines populistischen Potentials medialer Sichtbarkeit zu bleiben, damit sich die Menschen, wie Fatima sagt, mit ihrem Film als Film auseinandersetzen und nicht mit den ideologischen, nationalistischen Erzählungen, die den Konflikt umgeben. Zudem vermutete Grover, dass, sobald der Film für eine längere Zeit in Indien gezeigt würde, ohne größere »Unruhe« zu erzeugen, ihre Position in etwaigen juristischen Auseinandersetzungen sich verbessere.40 Bis auf eine einzige Vorführung im Indian Institute of Technology (IIT) in Delhi, ist Fatima bislang von Übergriffen von hindu-nationalistischen Gruppen verschont geblieben. Trotz einer Phase, in der in der indischen Medienlandschaft bei nur wenigen differenzierten Auseinandersetzungen eine regierungsgestützte Kampagne gegen alles angeblich Antinationale stattfand (Nair 2016), gelang es Fatima, den Film an einigen Universitäten in Bangalore und bei einem zivilgesellschaftlichen Festival in Delhi zu zeigen. Nur an den Zentren des Studentenprotests von 2016, der JNU und der Universität Hyderabad, sagte Fatima Vorführungen ab. Sie machte keine Werbung für ihren Film in sozialen Netzwerken, sondern verließ sich auf die Zuschauer_innen, die bereits

39 Die Studentenproteste an indischen Hochschulen im Jahr 2016 richteten sich gegen zunehmende Ausgrenzungen und Intoleranz unter der hindunationalistischen Regierung Narendra Modis. Sie weiteten sich aus mit dem Selbstmord von Rohith Vermula, eines Dalit-Aktivisten und Doktoranden an der Universität Hyderabad. Die Proteste erreichten ihren vorläufigen Höhepunkt mit der Inhaftierung des Vorsitzenden einer politischen Studentenorganisation, Kanheiya Kumar. In dem Zentrum der medialen Aufmerksamkeit standen vor allem die Universitäten Hyderabad und die JNU (Nair 2016).

40 Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Grundrechte wie bspw. die Meinungsfreiheit in Indien »in weiten Teilen antastbar« (Schied 2005) sind. Die indische Verfassung verweist in Artikel 19 (2) hinsichtlich der Einschränkung der Meinungsfreiheit unter anderem auf die »Wahrung öffentlicher Ordnung« und auf die »Staatssicherheit«. Dabei ist die von Grover vorgeschlagene Strategie, darauf zu beharren, dass der Film Menschenrechtsverletzungen aufzeigt und dass Indien internationale Menschenrechtsabkommen unterzeichnet hat.

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durch die Institutionen der Vorführungsorte vernetzt sind.41 Eine öffentliche Ankündigung könnte, so Fatima, RSS-nahe Gruppen auf den Plan rufen und ihrem Film jene Sichtbarkeit geben, in der die Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der Form keine Rolle mehr spielt, sondern nur eine schematisch-ideologische Aneignung stattfindet. Vor den Studentenprotesten zeigte Fatima ihren Film u.a. in alternativen Kulturräumen wie Lamakaan in Hyderabad, einem Filmclub in Chandigarh und auf dem GraswurzelFilmfestival Pratirodh ka Cinema (PKC, dt. »Kino des Widerstands«), Udaipur. Eine Fernsehdistribution in Indien ist aufgrund der fehlenden Zensurfreigabe nicht möglich. Die »Nähe« der Filmform kann hier im »haptischen Sinne«, wie ihn Laura Marks (2000, 2) darlegt, verstanden werden: Dabei geht es darum, dass Filmform, Filmproduktion und Filmrezeption »interkultureller, kleiner Filmpraktiken« eine berührende Intensität entfalten und damit nicht ausschließlich auf bereits bekannte Konfliktnarrationen oder symbolische Verständnisschlüssel verweisen. Die »Haut des Films« ist verletzlich. Sie besteht aus einer Infrastruktur von kleinen Netzwerken der Produktion und Rezeption, die oft mit geringen Mitteln ausgestattet sind (ebd.). Gleichwohl ist diese »Haut« in Hinblick auf die indische Medienlandschaft noch von einer anderen Verletzlichkeit gekennzeichnet, auf die ich im Verweis auf die Vorstellungen im IIT in Delhi einging: Die Wahrnehmungsschwelle nationalistisch codierter Öffentlichkeit, in der schwer berechenbare Publizitätseffekte durch die intermedialen Debatten über Filme entstehen können (Mazzarella 2013, 37). Diese Wahrnehmungsschwelle kann als »offenen Kante der Massenpublizität« (Mazzarella 2013, 37) verstanden werden. In seiner Arbeit zur Zensur in Indien entwickelt Mazzarella den Begriff mit Blick auf Michael Warner (2005, 81): [W]hat I call the open edge of mass publicity: namely, the element of anonymity that characterizes any public communication in the age of mass publics; the sense that what makes a communication public is not just that »it addresses me« by way of a public channel, but that »it addresses me insofar as it also, and by the same token, addresses unknown others«, others who share my membership in an emergent general public (Mazzarella 2013, 37).

41 Skype-Konversation mit Iffat Fatima am 07.04.2016. Die folgenden Aussagen entstammen derselben Konversation.

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Um unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle der Massenpublizität zu bleiben, überwachte Fatima die Dissemination und das affektive Potential ihres Films und achtete darauf, bei den Filmvorführungen stets selbst anwesend zu sein, damit diese »offene Kante« nicht überschritten wird. Die »Haut des Films« zu schützen erfordert also große planerische Vorrsaussicht und eine hohe Mobilität. An Hamid Naficy (2001) und Laura Marks (2000) anknüpfend und deren Argumentation erweiternd argumentiere ich, dass die Bewegungen Fatimas, ihre Erfahrungen mit den Frauen der APDP, mit den internationalen Produktionsinstitutionen und mit multiplen Zuschauerschaften sich überschneidende Kontexte produzieren, die vor allem mit der finanziellen, kulturellen und physischen (Im-)Mobilität der Filmemacherin und der filmischen Subjekte zusammenhängen. Fatimas Praxis ist unabhängig, transnational und eingebettet. Es ist eine Filmpraxis, welche die Nation gleichermaßen kritisch hinterfragt und eine partielle Einschreibung in eine kaschmirische pro-āzādī-Erzählung vornimmt. So kann man das oben angesprochene Potential einer Massenpublizität im Verhältnis zu Fatimas Filmvorführungen verstehen. Der Raum der Öffentlichkeit – auch wenn diese empirisch nicht mit dem Territorium eines Nationalstaats deckungsgleich ist – ist durch Repräsentation des Nationalen kodiert sowie mit Emotionen verbunden, die mit Begriffen wie »nationale Integrität« verschränkt sind. Fatimas Antwort auf die Problematik dieser Öffentlichkeit kann nicht einfach als kaschmirischer separatistischer Nationalismus aufgefasst werden. Vielmehr argumentiere ich, dass sie als politische Forderung, die noch einer weiteren Anerkennung bedarf, durch die Haptik der Form offen und anschlussfähig bleibt, aber eben auch verletzlich hinsichtlich unbeabsichtigter Publizitätseffekte im Namen des (Anti-)Nationalen. Die emotionale Mobilisierung als Verfeinerung der Präsentationsform durch wiederholte Testvorführungen und durch die Begleitung des Films kann also als eine Antwort auf die emotionale Dimension von national kodierter Öffentlichkeit verstanden werden.

Iffat Fatimas Filmpraxis als mobile Zeugenschaft Die Besprechungen von Iffat Fatimas Filmen »Khoon Diy Baarav« und »On a Trail of Vanished Blood« konzentrierten sich auf die Darstellungen des Alltags der APDP und auf die Vermittlung pro-filmischer Bewegungen innerhalb der Texturen und des weiteren medialen Wahrnehmungsraums des Films, zu dem auch die Reaktion der APDP-Mitglieder auf die Produk-

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tion und die Reaktionen des Publikums während der Rezeption früherer Versionen des Films gehören. Im Gespräch mit Fatima habe ich erkundet, wie sie die Frauen der APDP als aktive politische Akteure darstellt, so dass ihr reflexiver Umgang mit der mediatisierten Umwelt der »Verschwundenen« sichtbar wird und die tourismifizierten und militärisch besetzten Landschaften des Tals zurückgefordert werden. Die Darstellungen der Bootstouren auf dem Dal-See sind als imaginäre Erinnerungsreisen vor dem Horizont von Kaschmirs Repräsentationen als Paradies auf Erden angelegt, als Umkehrung des touristischen Blicks. In der Schaffung von Zeugenschaft operieren die pro-filmischen Bewegungen von Fatima und den Protagonist_innen des Films durch den besetzten Raum des Tals auf einer haptischen Ebene. Die repräsentativ-schematische Aneignung des Films wird so durch seine Form der emotionalen Mobilisierung erschwert. Es ist also die Politik sowohl der Repräsentationen von (Im-) Mobilität als auch die Politik der präsentativen, pro-filmischen Bewegungen mit den Subjekten und die spätere Begleitung des Films durch die Filmemacherin, die in ihrem komplexen Zusammenspiel eine eindringliche Form von Zeugenschaft mobilisieren. Diese Form der Evidenz appelliert nicht an eine dritte Instanz, wie es bspw. beim Humanismus des Menschenrechtsfilms der Fall ist (siehe Kapitel 3). Fatima wurde in einer Filmvorstellung in Berlin (06.08.2016) gefragt, wie sie ihren Film zirkulieren lassen wolle, um ihn in einer »globalen Zivilgesellschaft« anschlussfähig zu machen und für Verknüpfungen mit anderen sozialen Bewegungen zu öffnen. Zum einen gab Fatima zu bedenken, dass sich die Vorstellung einer globalen Zivilgesellschaft mit ihrer oft normativen menschenrechtlichen Ausrichtung nicht als Adressat ihres Films eigne. Vielmehr werde in den Texturen des Films ein Adressat konstruiert, dessen Wissen über dominante Repräsentationsregime Kaschmirs im Hindi-Film vorausgesetzt wird. Diese Ansprache funktioniert, so Fatima, am besten innerhalb der relativen Sicherheit des Raums von akademischen Institutionen, NGOs und Film-Clubs, also in jenen Institutionen, die das gängige Bild einer Zivilgesellschaft ausmachen. In diesem Zusammenhang spricht Fatima von ihrer Hoffnung, basierend auf einer aktuellen Tendenz,42 dass es innerhalb dieser Institutionen in den letzten Jahren eine zunehmen-

42 Eine Reihe von Journalist_innen hat sich während der Gewaltakte der Armee im Jahr 2016 mit der kaschmirischen Unabhängigkeitsbewegung solidarisiert. Darunter ist vor allem Barkha Dutt von dem in Delhi ansässigen Nachrichtensender NDTV zu nennen.

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de Offenheit für kaschmirische Stimmen gäbe: Menschen könnten durch ihr kulturelles Kapital Impulse für eine Veränderung des Mediendiskurses über Kaschmir stiften. Diese filmische Ansprache bedarf keines normativen Konzepts einer menschenrechtlich ausgerichteten Zivilgesellschaft: Mittels ihrer mobilen Praxis hofft Fatima, potentielle Entscheidungsträger und Medienkorrespondenten zu erreichen und zu beeinflussen. Während der Reise des Films in Großbritannien im Juni 2016 fanden Vorstellungen an vier englischen Universitäten statt. Die Filmvorstellungen wurden dort von Parveena Ahangar begleitet, für die Fatima während der Diskussionen übersetzte. Durch die Anwesenheit Ahangars – ihrer doppelten Präsenz als Zeugin und Aktivistin im Film und während der Vorstellung – wurde die haptische Wirkung der Form noch verstärkt. Ahangar wurde bei den Vorstellungen in Großbritannien immer wieder gefragt, »was getan werden kann, um zu helfen«.43 Ihre Antwort übersetzte Fatima so ins Englische: »Carry forth what you have witnessed.« Diese Mobilisierung von Zeugenschaft erschwert eine Anfechtung verschiedener Konfliktnarrationen als »bias«. Während in fast allen indischen Filmvorstellungen – sowie jener in Hamburg, die ich in der Einleitung erwähnte – sich mindestens eine Stimme über die »Voreingenommenheit« des Films und das Fehlen von »Ausgewogenheit« beklagte, kam diese Frage in Großbritannien in Anwesenheit Ahangars nicht auf. In der Vorstellung in Cambridge verließ eine Zuschauerin den Raum mit dem Kommentar, dass der Film voreingenommen sei und sie hoffe, dass jemand sich dazu noch äußern würde.44 Dass sie es selbst nicht tat, kann alle möglichen Gründe haben, aber es ist höchst interessant, dass ein deutlich parteilicher Film verhältnismäßig selten angegriffen wird. Vielleicht kontrolliert Fatima aus diesem Grund, anders als viele andere Filmemacher_innen, die Zirkulation ihres Films akribisch. Inzwischen verkauft sie DVDs des Films – ich war ihr Verkäufer während der Tour in Deutschland –, jedoch bat sie mich, darauf zu achten, wer diese erwirbt. Pakistanischem Botschaftspersonal beispielsweise sollte ich keine DVDs verkaufen. Der Film sollte, so der Rat von Vrinda Grover, einen gewissen

43 In indischen Vorstellungen des Films war die vielleicht häufigste Reaktion eine Betroffenheit, die sich oft in dem Satz äußerte: »wir haben davon nichts gewusst« (Fatima in einer Filmbesprechung in Cambridge, Großbritannien am 20.06.2016). 44 Dies wurde mir von dem Organisator_innenteam von »South Asia Watch« der Universität Cambridge nach dem Film berichtet.

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Bekanntheitsgrad erlangen, indem er auf Festivals und bei anderen Veranstaltungen gezeigt würde. Dieses würde es erleichtern, vor indischen Gerichten zu beweisen, dass von diesem Film keine Gefahr zu erwarten sei, er keine »kommunalen Unruhen« auslöse. Dabei hilft eine kontrollierte Zirkulation in der Anfangsphase. Fatima strebt danach, den Film fast ausschließlich in ihrer Gegenwart zu zeigen, um diese Art des Engagements mit der Thematik und Form herzustellen.45 Wann der Film ohne ihre Anwesenheit gezeigt werden solle bzw. könne, kann Fatima noch nicht abschätzen, obgleich sie auch das Potential einer weiteren Sichtbarkeit durch DVDZirkulation erkennt. Inzwischen (Anfang 2017) – nach etwa acht Monaten – ist sie bereit, es zu erproben. Iffat Fatimas Form mobiler Zeugenschaft blieb also bislang unterhalb der Wahrnehmungsschwelle populistischer Massenpublizität. Fatimas Praxis mobilisiert durch die haptische Intensität des Films starke Emotionen, die eine ständige Kontrolle der jeweiligen Form der Sichtbarkeit seitens der Filmemacherin erfordern. Diese Kontrolle wird insbesondere dadurch intensiviert, dass Fatimas Film sich durch die kontextspezifischen Verfremdungen populärer touristischer Tropen und durch die bisherige Zirkulation des Films hauptsächlich innerhalb der territorialen Grenzen der indischen Union als ethischer Appell aus der besetzten Region an einen »indischen Anderen« deuten lässt. Einen vergleichbaren Appell gibt es auch von der Filmemacherin Uzma Falak, dem sich der nächste Unterabschnitt zuwendet.

U ZMA F ALAK : D AS INDISCHE V ERLANGEN

IN SICH VERKEHREN

Uzma Falak wurde im Jahr des bewaffneten Aufstands, 1989, in Srinagar geboren und besuchte die englischsprachige Mallinson Girls School auf dem Campus der Tyndale Biscoe School.46 Nach dem Schulabschluss besuchte sie das College in Baramulla, das zu dem Zeitpunkt ihrer Immatrikulation den einzigen medienpraktischen Studiengang im Kaschmirtal anbot.

45 Dies wurde von Fatima in der Cambridge-Vorstellung (20.06.2016) explizit so formuliert. 46 Die elitäre Schule, benannt nach einem im Kaschmirtal aktiven Missionar und Humanisten, ist für ihre politisch-aktiven Schüler_innen bekannt.

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Dort absolvierte sie eine journalistische Ausbildung im Bereich Mass Communication. Ihre Zeit auf dem College in Baramulla koinzidierte mit den intensiven Anfangsjahren der kaschmirischen Intifada von 2008 bis 2010. Zu der Zeit gab es, so Falak, wichtigere Dinge als das Studium: Sie beteiligte sich mit ihren Freund_innen aus dem College an den Protesten auf den Straßen und Plätzen Srinagars. Falak erzählte mir eine Anekdote, die für sie die Bedeutung des Jahres 2010 als persönliche und kollektive Zäsur verdichtet. Bei einem Dokument, das sie als Teil einer Bewerbung für eine Bildungseinrichtung in Delhi im Jahr 2011 einreichen musste, wurde sie von dem Sekretär darauf aufmerksam gemacht, dass das Datum auf dem Bogen mit 2010 eingetragen war, »als ob das Jahr sich in meiner Erinnerung als Zäsur, als Haltepunkt eingeschrieben hätte«.47 Im Jahr 2010 verfasste Falak auch die meisten ihrer Gedichte. Seit der Übersiedlung nach Delhi ist ihre lyrische Arbeit vorerst zum Erliegen gekommen. Diese nahm allerdings eine neue poetische Form im filmischen Medium an. Im Jahr 2011 begann Falak an dem AJK Mass Communication Research Center (MCRC) der Jamia Millia Islamia, Neu-Delhi, ein Masterstudium in Mass Communication. Ihren ersten intensiven Eindruck von den Möglichkeiten der Form des Dokumentarfilms gewann Falak bei der Vorstellung des Films »There is Something in the Air« (2011) der in Delhi ansässigen Filmemacherin Iram Ghufran, den sie für den Eingangstest des MCRC sah. Ghufrans Film über Wahnsinn und das »Verschwinden« von Frauen als gesellschaftlich-spirituelles Phänomen, das von den Beteiligten oft als »Betroffenheit durch die Luft« verstanden und durch die Schreinkultur Nordindiens vermittelt wird, ist ein bekanntes Beispiel neuer, formalkomplexer Dokumentarfilme aus Indien. Falaks Interesse an der dokumentarischen Form steigerte sich durch die Filmverständniskurse am MCRC, wo u.a. Sanjay Kaks »Jashn-e-Azadi« und Filme des experimentellen Filmemachers Dziga Vertov einen starken Eindruck auf sie machten. Nach ihrem Abschluss an der MCRC erhielt Falak durch den Public Service Broadcasting Trust (PSBT) eine Förderung für ein Kurzfilmprojekt. Sie machte sich zu Beginn Sorgen, da einige Freund_innen aus Kaschmir ihr von jedweder Arbeit mit staatlichen oder staatsnahen Institutionen abrieten. Auch die PSBT beziehe schließlich Geld von der öffentlich-rechtlichen Film- und Radioagentur Prasar Bharati und sei damit dem Staat Rechenschaft schuldig. Tatsächlich werden PSBT-Skripte bei Prasar Bharati einge-

47 Skype-Gespräch mit Uzma Falak 05.10.2015.

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reicht und kommentiert, bevor sie fertigstellt werden.48 Dies führt jedoch nicht zwingend zu Änderungen in den Filmen, obgleich Aushandlungen mit Prasad Bharati nötig sind. Es können aber auch innerhalb der PSBT Verhandlungsspielräume entstehen.49 Zum Beispiel werden von der PSBT in Hinblick auf die indische Zensur als problematisch eingestufte Projekte oft auch ohne Durchlaufen des offiziellen Zertifikationsprozesses auf globale Festivals geschickt, während andere Filme nach der Zensurzertifikation an das Staatsfernsehen Doordarshan gehen, wo PSBT eigene Sendezeiten zur Verfügung stehen. Eine junge Filmemacherin aus Falaks Bekanntenkreis, Iffat Gazia, heute Journalistin bei dem in Delhi ansässigen TV-Sender NDTV, hatte während der Kashmiri-Intifada gezeigt, dass kritische Filme mit minimalen Mitteln fast völlig unabhängig produziert werden können. »Indisches Geld« sei, so Gazia, nicht nötig. Gazia lieh sich von ihren Eltern unter einem anderen Vorwand Geld und editierte heimlich, gemeinsam mit einem Freund, den investigativen Dokumentarfilm »Long Ago I Died« (2013) über den ungesühnten Polizeimord an einem kaschmirischen Jungen.50 Ich fragte Falak, warum sie trotz solcher Möglichkeiten und der Einwände ihrer Freunde dennoch Geld von PSBT annahm. Falak betonte, dass sie für ihr Proposal keine Selbstzensur vornahm und PSBT auch Freiräume gebe. Gleichzeitig hob sie hervor, dass die Organisation staatlich finanziert wird und damit Teil der Besatzungssituation sei. Diese Position wird auch von zwei anderen PSBT-finanzierten kaschmirischen Filmemachern, Abir Bazaz und Bilal Jan, vertreten. Beide sagen, dass die Problematik des neokolonialen Verhältnisses zwischen Indien und Kaschmir sich in ihrem Verhältnis zur PSBT spiegele, konkret manchmal in der Wahl des Gegenstands oder dem Austausch mit den Angestellten. Bazaz betont, dass die poetische Dichte seines Films »Paradise on a River of Hell« (2001) nicht zuletzt durch verschiedene Formen besatzungsbedingter Sublimierung zustande kam. Falak fasst dieses Dilemma in Bezug auf ihre Filmfinanzierung folgendermaßen zusammen: »Ideally the best thing in an occupation is a total disengagement from the state, [...] but then a total disengagement is not possible in such a situation, because that is

48 Interview mit Ridhima Mehra, Mitarbeiterin der PSBT in Neu-Delhi, am 14.05.2015. 49 Ebd. 50 Gespräch mit Iffat Gazia in Neu-Delhi am 03.11.2013.

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what occupation [also] means, that you can’t totally disengage with the state. I’m still negotiating with this question but I have spoken to people, to friends because I had a lot of internal conflict about it.«

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Falak beabsichtigt zwei Versionen des Films: eine kürzere, die von PSBT finanziert und distribuiert wird, und eine längere, die es ihr ermöglicht, in einem weiteren zeitlichen Rahmen die vielfältigen thematischen Bezüge und ästhetischen Strategien des Films unter Rückgriff auf das reichhaltige Filmmaterial auszugestalten. Der schließlich nur 17-minütige PSBT-Film beanspruchte über Verzögerungen, die sich aus der katastrophalen Flut im Kaschmirtal von 2014 ergaben, eine Produktionszeit von knapp zwei Jahren, in denen sich das Team etliche Male neu zusammensetzte. Der Film hatte seine Premiere bei dem von PSBT organisierten Open Frame Festival 2015, Neu-Delhi, und wurde ausgesprochen positiv von der Zuschauerschaft aufgenommen. Bei einem Festival der International Association of Women in Radio and Television (IAWRT) am 08.03.2016 in Neu-Delhi wurde ihr Film in einem gemeinsamen Panel mit Fatimas »Khoon Diy Baarav« besprochen. Die Vorstellungen wurden auf die Morgenstunden verlegt, aufgrund der – so vermutet Falak52– JNU-Studentenbewegung, ihrer eigenen Nähe zu kaschmirischen Forderungen und der allgemein aufgeheizten Stimmung in Delhi. Die Publikumsfragen bestätigen die in oben angeführte Problematik »haptischer Evidenz« für nationalistisch denkende Zuschauer_innen. Es wurden einige Fragen gestellt, die zum klassischen Repertoire gehören: die An- bzw. Abwesenheit von kaschmirischen Pandits in den Filmen, die Rolle der Armeeangehörigen als arme Menschen aus Südindien, die nicht unbedingt aus Leidenschaft an der Gewalt teilnähmen, und die Popularität von Wahlen als Nachweis kaschmirischer Akzeptanz des indischen Staates. Schließlich wurde versucht, so Falak, die filmischen Texturen durch einen »human angle«53 auszuhandeln, der den politischen Forderungen von ihrem und von Fatimas Film einen gemeinsamen Rahmen verleihen könne. Viele Menschen im Publikum, so betont Falak, waren allerdings tief von beiden Filmen bewegt und hoben insbesondere zwei Szenen ihres Films positiv hervor, die ich in den kommenden Unterabschnitten bespre-

51 Gespräch mit Uzma Falak in Neu-Delhi am 11.12.2014. 52 Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 09.03.2016. 53 Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 09.03.2016.

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chen werde: eine durch kontrapunktischen Ton unterwanderte Tanzeinlage Shammi Kapoors und die Anfangssequenz des Films.

»T ILL T HEN T HE R OADS C ARRY H ER …« Der Film beginnt mit dem Ultraschallbild eines Embryos. Über das wellenartige Rauschen des Bildes wird die Tonspur einer āzādī-Demonstration eingespielt. Dabei wird der pulsierende Herzschlag des Embryos mit den rhythmisch-rituellen Forderungen nach politischer Selbstbestimmung unterlegt. Es bleibt offen, ob diese Analogie als Metonymie, der Herzschlag zur āzādī-Rhythmik, oder als Metapher gemeint ist: als »Bürde« oder »Versprechen« einer unsicheren Zukunft. Alle drei Protagonistinnen des Films haben ein Familienmitglied in dem Konflikt verloren. Vermittelt werden ihre Kurzporträts durch die Gedichte der Filmemacherin, die durch diese Einschreibung eine weitere, allegorische Dimension zwischen ihren persönlichen Erfahrungen und den kollektiv-politischen Gefühlsstrukturen kaschmirischer Sehnsucht nach politischer Selbstbestimmung evoziert. Daneben werden zwei Gemälde der Malerin Rollie Mukherjee in dem Film positioniert, die Falak zufolge über ihre komplexen Texturen die Dimensionen von Trauer und Widerstand wiedergeben.54 Die im Film porträtierten Frauen sind Parveena Ahangar, die bereits erwähnte Leiterin der APDP, und Sakeena, eine junge Frau in einem Haushalt von fünf Schwestern, deren Bruder durch die Sicherheitskräfte – ermöglicht durch den PSA – regelmäßig inhaftiert wird. Die dritte Protagonistin ist Ashika, ein elf Jahre altes Mädchen. Ihr als ehemaliger militant auf Lebenszeit verurteilter Vater sitzt im Tihar-Gefängnis in Delhi. Falak begegnete dem Mädchen während eines Hungerstreiks zur Freilassung ihres Vaters in Jantar Mantar, Neu-Delhi. Die Demonstration wurde von der APDP unterstützt. Ashika nahm dort zusammen mit ihrer Mutter teil.

54 Alle weiteren Zitate Falaks aus diesem Unterabschnitt beziehen sich, wenn nicht anders markiert, auf ein Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 09.03.2015.

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Abbildung 11: Sakeena unterwegs am Ufer des Dal-Sees.

»Till Then The Roads Carry Her...« (Falak, 2015).

»Kashmir ki Kali« durch die Blume In einem Gespräch, das ich mit Falak vor der Fertigstellung der ersten Version des Films führte, sprach sie über ihre Intention, mit dem Film die Paradiesvorstellungen herauszufordern: »It [the film] aims to challenge the Kashmir ki Kali narrative. How in India and outside people see Kashmiri women. I mean the first thing that comes up is Kashmir ki Kali, that idea of beauty. So the aim is to challenge that stereotype. So either a Kashmiri woman is seen through that lens, that she is Kashmir ki Kali and she is beautiful, or she is seen through the lens of victimhood, she is a victim. So I think the film primarily aims to challenge these two notions. [...] Of course she is a victim of the conflict, but she is more than a victim. She has been an agent of resistance throughout. Say from the maharajas’ rule since we have been occupied by India. [...] At the core of it is to explore different kinds of resistance employed by women.«

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Exemplarisch für diesen Fokus ist eine Sequenz gegen Ende des Filmes, die aus der visuellen Spur einer ikonischen Filmsongsequenz von Shammi Kapoor auf dem Dal-See »Yah cāṃd sā rośan ceh’rā« besteht. Wir sehen Kapoor auf einer Shikhara, wie er sich, verzückt von der Schönheit des Tals und seiner Frauen, in an Elvis erinnernden Drehungen im höchsten Genuss dreht, windet und räkelt. Der Text des hier ausgeblendeten Originallieds 55 Gespräch mit Uzma Falak in Neu-Delhi am 17.10.2013.

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verknüpft den Körper der von ihm angebeteten kaschmirischen Schönheit mit der Landschaft des Tals: »Yah cāṃd sā rośan ceh’rā, zulfoṃ kā rang sun’harā, yah jhīl sī nīlī āṃkheṃ, koī rāz hai in’meṃ gah’rā, tārīf karūṃ kyā uskī, jis’ne tumheṃ banāyā« (»Dieses mondlichtgleiche Gesicht, die goldenen Haare, diese seeblauen Augen, in all diesem ist ein tiefes Geheimnis. Wie kann ich nur denjenigen preisen, der dich geschaffen hat?«). In Falaks Film wurde die Tonspur einer āzādī-Demonstration »kontrapunktisch«56 darübergespielt. Man hört eine rhythmisch klatschende Menge, die durch die Editorin Sarah Ewald äußerst genau synchronisiert wurde, was eine unheimliche Stimmung schafft. Shammi Kapoor klatscht ebenfalls und die rhythmische Überlagerung des Bildes und der nicht-diegetischen Tonspur führen zu einem komischen Effekt, der das indische Begehren des Tals mit der Sehnsucht nach politischer Selbstbestimmung verbindet und gleichzeitig beide in einer ironischen Schwebe hält. Diese Leichtigkeit wird aber in der direkt darauf folgenden Sequenz hinterfragt. Abbildung 12: Sequenz »Yah cāṃd sā rośan ceh’rā«.

»Till Then The Roads Carry Her...« (Falak, 2015). Dort singt eine Frau im melancholischen Timbre das Pahari-Lied »yah vādī-e-kaśmīr hai« (»Dies ist das Kaschmirtal«). In dem Lied begegnen wir wieder der bekannten Doppelsicht des Tals als Paradies und als Hölle aus der Perspektive eines »inneren Außen«, von den geographischen Rändern des Tals. Pahari-Gruppen sind eine stark betroffene Konfliktpartei, die wie auch die pastoralen Gujjar57 fast völlig aus den Repräsentationen des Konflikts herausfallen. Die Doppelsicht des Paradieses und der Hölle wird von der subalternen Stimme aus den umliegenden Bergen unterwandert, deren

56 Gespräch mit Uzma Falak am 17.10.2013 in Neu-Delhi. 57 Der Dokumentarfilm »Shepherds of Paradise« (2013) von Shabir Khan ist hier eine Ausnahme. In diesem sehr physischen Film folgt Khan einer Gujjargruppe unter lebensgefährlichen Umständen über den Pirpanjal. Dabei wirft er einen Blick auf die pastorale Kultur. Der Konflikt bleibt hier am Rande, wird in kleinen Szenen der Kontrolle sichtbar.

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düsteres Lied visuell durch eine Bootsfahrt zu dem armen, nie repräsentierten »Lake Village« untermalt wird. Dort, in der Mitte des Sees, aber in zahllosen Touristenbroschüren nicht sichtbar, leben Menschen, viele davon Bootsleute wie Shameema Banu aus Fatimas Film, die Angehörige verloren haben und trotz ihrer räumlichen Position »im Herzen des Paradieses« von den touristischen Shikhara-Touren gemieden werden. Abbildung 13: Sequenz mit Lied »Yah vādī-e-kaśmir hai«.

»Till Then The Roads Carry Her...« (Falak, 2015). Falak beabsichtigte ursprünglich, eine Protagonistin aus dem Seedorf in ihren Film aufzunehmen. Es ging ihr darum, »[to] challenge the idea of postcard perfect Dal. Bringing conflict right in the center of that very image. There are narratives where people told me that there were processions carried out in boats.« Obgleich in dem siebzehnminütigen Schnitt keine Protagonistin aus dem Seedorf auftritt, werden in der Bootsszene etliche Register der Ausgrenzung gleichzeitig suggeriert und in sich verkehrt. Das PahariLied evoziert die poetische Handlungsmacht dieser im Konflikt stark vernachlässigten Stimmen: »Yah vādī-e-kaśmir hai, jannat-e-benazir hai, yah vādī-e-kaśmir hai, zulm di lakīr hai« (»Dies ist das Kaschmirtal, ein unglaubliches Paradies; dies ist das Kaschmirtal, in das Verbrechen eingraviert ist«). Es erinnert so an eine seit der Mogulherrschaft bestehende, im Kaschmirtal erstmals von persisch schreibenden Chronisten festgehaltene nostalgische Erinnerung an ein verlorenes Paradies, das durch Gewalt »von außen« zerstört wurde (Zutshi 2004). Trotz Falaks polyphoner, dialogischer Strategie fällt doch auf, dass das Territorium von keiner der Stimmen profaniert wird. Es erinnert an den von Hamid Naficy beschriebenen Chronotopos des verlorenen Heimatlands, in dem die überhöhte Natur eine Aussicht auf eine ästhetische Versöhnung bereithält (Naficy 2001, 152). Alle Beteiligten begehren das Tal als »besonderes« Territorium, die āzādī-Kundgebung legt die wütenden Stimmen von Hunderten in den Mund des sich entzückt windenden Shammi Kapoor: »Yah phūloṃvālī

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āzādī, yah mah’kī mah’kī āzādī, jism kī raunak: āzādī, rū kī zīnat: āzādī, yah parbat māṃge: āzādī, yah miṭhī māṃge: āzādī; yah nadiyā māṃge: āzādī« (»Diese blumige Freiheit, diese duftende Freiheit, der Glanz des Körpers ist Freiheit, die Schönheit der Seele ist Freiheit, diese Berge verlangen nach Freiheit, diese Erde verlangt nach Freiheit, diese Flüsse verlangen nach Freiheit«). Der Liedtext von »Yah caṃd sā rośan ceh’rā« gendert die Landschaften des Kaschmirtals als »Kashmir ki Kali«, die Blume Kaschmirs. Der von Falak gewählte Ausschnitt der āzādī-Slogans bezieht sich nicht nur dialogisch auf den Text der fehlenden Originalspur, sondern auch auf die Körperlichkeit des Vergnügens von Kapoor. Auch die »Schönheit der Seele« und der »Glanz des Körpers« werden seinen verzückten Drehungen gegenübergestellt und auf die Freiheit zur politischen Selbstbestimmung bezogen. Die Sequenz mit Kapoor und der Pahari-Sängerin wurde von der für Falaks Film zuständigen PSBT-Korrespondentin hinsichtlich ihrer Funktion in der Erzählung kritisch hinterfragt. Falak betrachtet sie jedoch als eine der stärksten Sequenzen des Films und bestand auf ihrer Aufnahme. Die Szene gewinnt ihre Kraft und Brisanz vielleicht gerade dadurch, dass sie dem Begehren der gegenderten Landschaft ästhetischen Ausdruck verleiht: Damit geschieht eine Überschreitung der Konflikterzählungen über eine Umkehrung des Blicks zum Kern des territorialen Verlangens nach dem Tal. Aus dem gleichen Grund wurde sie vielleicht durch die Verantwortlichen der PSBT problematisiert. Stärker als ihre selbstreflexive Ironie zunächst vermuten lässt, zielt die Kashmir ki Kali-Szene auf etwas Gemeinsames, auf etwas Geliebtes, die Landschaft, die indisch und/oder kaschmirisch fühlende Menschen in einem kollektiven Trauma (der Teilung bzw. der Besatzung) teilen und sich als Nostalgie immer wieder aneignen. Dadurch schafft sie abermals ein Doppelbild, das sowohl eine kritische Reflexion als auch eine Wiedereinschreibung der Paradies-Hölle-Dichotomie hervorruft. Die Adresse beider Lieder ist also komplex. Zum einen richtet sich die Umkehrung des Blicks auf Adressat_innen, die mit Bildern der HindiFilmindustrie vertraut sind, andererseits wirft die folgende Szene des Pahari-Lieds einen Blick auf die Intersektionalität prekären Lebens im Bundesstaat J&K. Die Sequenz hat insofern auch āzādī-Erzählungen zum Gegenstand, um auf die Komplexität ihrer Ausschlüsse und Leerstellen aufmerksam zu machen.

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Z WISCHEN

DEN

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R ÄUMEN

Ahangar und Sakeena werden in Falaks Film vorwiegend außerhalb des Hauses gefilmt, bei Bewegungen durch die besetzte Stadt, in öffentlichen Orten wie dem monatlichen Treffen der APDP im Pratap-Park oder beim Spaziergang entlang des Dal-Sees. Überhaupt changiert der Film zwischen ruhigen Episoden, in denen Falak eigene Gedichte rezitiert, und dynamischen Kamerabewegungen, die den Protagonist_innen durch die Stadt folgen. Falak betonte die Zentralität von »Raum« als filmästhetisches Werkzeug im Umgang mit der Politik der Repräsentation.58 Die räumliche Dimension findet sich auch in der Reisemetapher des Titels »Till Then The Roads Carry Her...«. Das »Gehen« der Protagonist_innen verbinde sich, so Falak, mit ihrer eigenen Subjektivität und wird zu einer Frage des »Durchhaltens«: »The title is again the journey, I place a lot of emphasis on the journey, I guess it has to do with my own subjectivity as an individual. The title suggests that long walk and in the film you see that there are many walks, there is a walk with Sakeena there is a walk with Parveena and in the longer cut of course there [are] other characters that walk and I was planning to have an entire walking sequence in that sense. This little girl also said that we will not stop, we have to walk. And Parveena says we have to keep walking. [...] So this idea of continuing to walk is for me very important in the context of Kashmir, when sometimes everything is falling apart and you are still walking, that is very important and that is where the title also comes in.«

59

Diese Darstellungen kontrastieren mit den Repräsentationen Immobilität der »kaschmirischen muslimischen Frau«, der hypostasierten Landschaften und der religiösen Überdeterminierung des Konflikts. Falaks nur 17minütiger Film versucht, jede dieser Darstellungen zu demontieren und verfolgt gleichzeitig eine eigene ästhetische Strategie, deren eigentümliche Ruhe der Bilder die tiefe Grundspannung von Besatzung und Widerstand kontrastiert. Einige Zuschauer_innen in der ersten öffentlichen Vorstellung des Films im Open Frames Film Festival 2015 in Neu-Delhi, haben auf diese Ruhe hingewiesen. Falak wunderte sich über diese Publikumsreaktion,

58 Uzma Falak im Gespräch am 17.10.2013 in Neu-Delhi. 59 Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 09.03.2015.

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da sie selbst den Film als »beunruhigend« begriff. Sie stellte diese Publikumsreaktion in den breiteren Kontext des gestörten Alltags im Tal: »I think this is also how life in Kashmir is with the war going on. People make love, people make babies, there are celebrations, there are funerals, the everyday life goes on. So I think this is how war ruptures everyday life but everyday life goes on. That calm or whatever that means, is also there but it is also ruptured by so many other things.«

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Wie diese Brüche das vermeintlich ruhige Alltagsleben durchziehen, lässt sich vielleicht anhand einer Hochzeitsszene herausarbeiten, die für Falak in dem weiteren Zusammenhang der Transformationen von Räumen steht: Festlichkeiten werden zu Politik und politische Versammlungen gehen in festliche Treffen über: »Like the APDP protest where they remember their disappeared kin. [...] In the middle of that space which is meant for protest, which gets transformed into a space of celebration where these women meet, greet and talk. If you look at the sequence I have only showed these bits. Otherwise, if you look at the mainstream photographs of that space, I have seen photographers actually going too close and these women are almost programmed to either cry, it is very intimidating, the presence of these press cameras. I wanted to show it in a completely different light. Where these women would come and hug and greet each other and talk and laugh. [...] Again the wedding space is a celebration space but a simple song which reminds them of their realities can turn that space into a space of grieving. Which again is a very important political act. So these spaces get transformed: grieving, mourning, celebrating, they exchange their contexts, that’s what I was saying.«

61

Die Hochzeitssequenz ist auf drei Abschnitte des Films verteilt. Kaschmirische Hochzeiten werden oft als ausladende Feste dargestellt, als Teil eines Brauchtums, das in der indischen Vorstellungswelt und zwiespältigen Idealisierung dem genussreichen, entpolitisierten und alterierten Kaschmir entspricht (Kabir 2009). In einem von der indischen Public Diplomacy Division (PD) des Ministry of External Affairs produzierten Dokumentarfilm, »The Joyful Rhythms of a Kashmiri Wedding« (2005), verdichten sich die Hochzeiten mit der Wohnkultur des Tals zum Ideal eines kaschmirischen,

60 Ebd. 61 Ebd.

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volkstümlichen Hedonismus und dem Geist der »religösen Toleranz«. Diese Positionen werden von der »säkularen muslimischen Frau« vorgetragen, verkörpert durch die star persona Shabana Azmis.62 Es überschneiden sich hier die Darstellungen kaschmirischer Wohnkultur mit der kulturellen Zentralität der Hochzeit im Alltag des Tals – eine Statusfrage, die für das Alltagseben im Tal von großer Bedeutung ist. Der Fokus liegt in dem PD-Film auf den zahlreichen Vorbereitungen für die Feier sowie auf der Braut als moderne, junge Frau, die dennoch im Verbund mit der Tradition des Tals steht. Abbildung 14: Sequenz einer Hochzeitsfeier.

»Till Then The Roads Carry Her...« (Falak, 2015). Das Kaschmirtal besitzt eine ausgefeilte Wohnkultur, die genauso mit der winterlichen Kälte zusammenhängt wie mit der Notwendigkeit, bei Hochzeiten eine große Anzahl von Gästen zu beherbergen. Diese Prestigeproblematik kann skurrile Formen annehmen. Seit der Proliferation von Schwarzgeld als Teil der Konfliktwirtschaft werden große Bungalows mit ausladenden Dächern zwischen den Apfelhainen und Reisfeldern der näheren Umgebung von Srinagar errichtet. Viele dieser schlecht beheizten Gebäude werden von nur einer Familie bewohnt, mehr als die Hälfte der Räume wartet auf die Hochzeitsgäste und steht sonst leer. Ohne die Hochzeits- und Wohnkulturen im Kontext der Unsicherheiten des Konflikts und seiner Schattenwirtschaft zu sehen, können diese kulturellen Momente – wie es auch in einem anderen PD-Film »Glimpses of a Kashmiri Village« 62 Azmis Position gegenüber Kaschmirs Bewegung zur politischen Selbstbestimmung lässt sich aus einem Online-Interview der Times of India vom 17.05.2008 erschließen: »Questioned about the Kashmir violence having a wider communal ramification elsewhere in the country at present, she said, »That's why I am so distressed over what is happening in Kashmir. For heaven's sake it should be brought to a stop and it should have been brought to a stop right when they started that nonsense.« (»Indian democracy unfair to Muslims: Shabana Azmi« Times of India, 17.05.2008).«

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(2006) geschieht – als Aspekte der »Normalisierung« des Tals und seines »wirtschaftlichen Aufschwungs« im Sinne der PD-Public Relations ausgegeben werden. In Falaks Film wird dieses vermeintlich folkloristische Element der »prächtigen kaschmirischen Hochzeit« zum Raum politischer Artikulation und gleichzeitig zu einem formalen Element filmischer Rhythmisierung, das eine gebrochene Konfliktzeitlichkeit mit der Dimension der aktiven, politische Sehnsüchte und Wünsche ausdrückenden Gruppe von tanzenden und musizierenden Frauen zusammenbringt. Ein Lied wird auf der Hochzeit vorgetragen: »Oh Märtyrer, du kamst nicht mehr zurück und hast eine Tochter hinterlassen. Oh Geliebter, nur deine blutdurchtränkten Kleider kamen zur Wäsche zurück.«

Shekhawat (2014) erwähnt in ihrer Studie, dass Frauen auf Hochzeiten Lieder über Mudschahedin singen, um die Moral der Männer und die ehelichen Verbindungen zu militants zu stärken (Shekhawat 2014, 84). Shekhawat interviewt eine junge Frau, Naseema, die mit sechzehn Jahren einen »Freiheitskämpfer« heiratete: »All those present at the wedding praised me profusely and some said that I will definitely go to heaven for this action. After the marriage, I stayed with my mother-inlaw. My husband visited us every month until he was killed in 2003. I was aware that he may be killed any day. I mourn, but have no regrets. I had chosen an uncertain life. But in those days marriage was not for settlement but to motivate young militants to fight and die if needed« (ebd. 85).

In Falaks Film steht diese Szene allerdings im Kontext des Trauerns als politische Artikulation. Im Konfliktalltag stehen die Lebensrhythmen auf dem Kopf: Eine Hochzeit wird zum Ort gemeinsamen Trauerns und Erinnerns, ein öffentlicher Protest zu einem gemütlichen Treffen, und – wie wir bei Fatimas Film sehen konnten – ein Schrein wie Batamalloo wird zum Zentrum politischer Arbeit.

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G ERECHTIGKEIT

IN MESSIANISCHER

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Z EIT

Auch wenn die räumliche Politik wesentliche Aspekte der filmischen Texturen bestimmt, suggeriert der Titel »Till Then The Roads Carry Her...« eine zeitliche Achse, die Falak ebenfalls aus der Interaktion mit den Protagonist_innen des Films bezieht. Die Reise ist allegorisiert, die Bewegung geht nicht in der Suche nach dem Selbst auf, sondern greift darüber hinaus einer hoffnungsvollen Zukunft vor. Falak betont, dass nicht die Befreiung, sondern der »Weg der Befreiung« im Zentrum ihres Films steht.63 Im Gegensatz zu den meisten anderen Dokumentarfilmen, die Religion und Konflikt thematisieren, zeigt sie Sakeena in einer Moschee beten und nicht an einem Schrein, wie es das Kashmiriyat-Narrativ als örtlicher Anker eines visuellen Säkularismus nahelegt. In Antwort auf meine Frage nach dem allegorischen Charakter des Films verweist Falak auf eine mögliche Interpretation des zu Beginn eingespielten Verses Lal-Deds: M.K.: »So the film [has] definitely not a character driven [narrative], [it is] not a film which works by psychological causation or the »journey of the hero« but it works more thematically through memory and space and through basic conflict paradoxes which get articulated throughout the story. Let me start with the beginning. You start with Lal Ded. I was checking the whole Hoskote64 translation. It says: «I wore myself out looking for myself, no one could have worked harder to break the code. I lost myself in myself and found a wine cellar, nectar I tell you. There were jars and jars of the good stuff and no one to drink it.« That is the complete poem and now excuse my [contemporary] reading of Lal Ded. I read the rest of the poem as something like a meditation on forms of address. It could be seen as challenging documentaries yearning for strongly individualized »main characters: »who are you as a reflexive muslim women?« and so on. »I wore myself out looking for myself« seems to suggest to me, that you can’t really find yourself if you only look for a »self« but you have to look for something else, something bigger – like the embryo is embedded in the āzādī-struggle even before it is born. [...] U.F.: [...] For me it is this line [that] also symbolizes the continuation of that struggle of āzādī which we don’t have in any tangible form right now. It is goal oriented but it is not there. It is not there it has been over sixty years but we haven’t achieved

63 Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 05.10.2015. 64 Ranjit Hoskote »I Lalla« (2011).

224 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT it till now. But for me the idea of any struggle is in its journey. The goal is not there but the journey is there and the journey for me is more important than the goal itself. In that journey there are immense possibilities of finding yourself beyond yourself and finding other selves which may enrich your own self. And I mean selves not in the sense of the mortal frame but selves as larger philosophical construct. That was the main idea to show the continuation of a struggle and to suggest that [the] journey is more enriching and important.«

65

Was ist also mit den ebenso wichtigen und natürlich nicht getrennt davon zu analysierenden Zeitachsen der Erinnerung und der Hoffnung? Ich möchte diesen Unterabschnitt mit einigen Überlegungen zu dem von Falak und Fatima evozierten Gerechtigkeitsempfinden der APDP beenden. In einem Interview mit dem Reporter Abhishek Jha am 17.09.2015 für das Online-Magazin »Youth ki Awaz« (YKA) wurde Falak gefragt, ob die Handlungsmacht kaschmirischer Frauen mit ihrer religiösen Praxis in Widersprüche geraten würde. Jha spielt dabei auf einige Szenen des Films an, in denen man Sakeena beim Beten in der Freitagsmoschee in Srinagar sieht – gestellt in einen Lichtkegel und damit seltsam ruhig und gewissermaßen entrückt. In Hinblick auf die oben ausgeführten Diskurse der »immobilisierten muslimischen Frau« ist die kursive Markierung von movement im Originaltext von YKA interessant, da diese evoziert, dass in solch einer dichotomen Sichtweise sich Bewegung kaum mit Religion als statisch gedachtem Konzept verbinden ließe: A.J.: »In your documentary, we see women looking for solace in religion. But religions also are often oppressive of women. Does women’s agency in the resistance movement alter this position? U.F.: The identity of people is what they are in their own eyes, the self-image about which they feel strongly, irrespective of our interpretations. And faith is certainly a part of identity for many in Kashmir and integral to their resistance. The idea wasn’t to show whether women look for solace in religion or not (that is personal and subjective) but to highlight spaces which provide opportunities for women mobilization. Mosques, like other spaces, are integral to women mobilization in Kashmir and faith is also closely related to the idea of justice in a place where power of delivering »justice« is in the hands of the perpetrators« (Jha 2015).

65 Skype-Gespräch mit Uzma Falak am 05.10.2015.

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Die allegorische Geschichte von Falaks Film deutet auf eine Gerechtigkeit hin, die nicht von dieser Welt stammt und von ihr bereits in einem Essay ausgeführt wurde, der in einem Sammelband zu den Konflikterinnerungen der Intifada-Generation erschien (Falak 2013). Dort spricht sie von der Notwendigkeit, an eine göttliche Beobachterinstanz zu glauben, die schließlich für Gerechtigkeit sorgt, da der Staat keine Rechenschaft für seine Vergehen übernimmt. Falak bezieht diese Perspektive aus ihrer Interaktion mit den Frauen des Tals während der Forschung für das Filmprojekt: »I came across this divine idea of justice when I met many women who would say that we know that the state is not in the capacity to deliver justice but we are fighting these cases to keep our memory alive and to hold them accountable. And if we don’t get this... I do not even call this justice because it is very problematic to seek justice from a state that perpetuates the crime in the first place. So for me the term is legal redress rather than justice. A lot of women say that if we do not get justice here we will get justice in the here after and so forth. So this is how I came to know about this divine idea of justice which I had not thought about previously. But the title per se doesn’t suggest that but in the film it is very much there.«

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Wenn der Staat in Kaschmir mit dem in »neuen Kriegen« (Kaldor 2007) typischen Programm »Winning Hearts and Minds« (Chakrabarty 2015), mit der Förderung touristischer Mobilität (Panjabi 2008) und mit brutalen Counterinsurgency-Programmen (Staniland 2013) auftritt, stellt das messianische Zeitbewusstsein eine Art Notbremse dar. Sie resultiert aus der Not, eine Geschichte voller unverantworteter Trümmer als eine zu imaginieren, die gerettet werden kann (Benjamin 2010, 251-262). Erst so gewinnen wir gegenüber der Vergangenheit eine ähnliche Verantwortung wie gegenüber der Gegenwart und der Zukunft, ohne ihre möglichen emanzipatorischen Momente bereits für ein großes Projekt (bspw. der Moderne) zu beanspruchen (Eagleton 2015, 33–35).

Eine säkulare Praxis? In einer veröffentlichten E-Mail-Kommunikation mit Paromita Vohra argumentiert Arvind Rajagopal (2012), dass die meisten in Indien produzierten Dokumentarfilme zum Genre des »säkularen Realismus« zählen – im

66 Skype-Gespräch mit Uzma Falak 05.10.2015.

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Gegensatz zum »theologischen Realismus« der aktivistischen Filmemacher_innen der Hindu-Rechten. Gleichzeitig fragt er nach den »anderen Funktionen des Bildes«, die »durch die imaginative Kraft der Künstler_innen etwas Unsichtbares sichtbar machen« (Rajagopal und Vohra 2012, 14). Hier spielt er auf eine politische Ästhetik des nicht-repräsentativen Experimentierens an, wie sie hinsichtlich des unabhängigen Dokumentarfilmschaffens in Indien zum Beispiel von Nicole Wolf (2007) und Paromita Vohra (2011) untersucht wird. Rajagopal spricht dabei auch von der »globalen Form« (ebd. 15) des Dokumentarfilms. Dabei scheint die im Gespräch mit Vohra angedeutete Opposition zwischen dem neuen Experimentieren mit der Form und dem alten (Agitprop-) Realismus die Frage nach dem spezifischen, lokalen Kontext der jeweiligen Praxis von Filmemacher_innen außer Acht zu lassen. Sind nun die Artikulationen in Falaks Film durch solche Überlegungen zum rezenten Dokumentarfilm in Indien zu fassen? Provozieren die Brüche, Sprünge, Metaphern und Allegorien nicht auch, außerhalb einer säkularexperimentellen Form interpretiert zu werden? Evozieren sie vielleicht eine Fürsprache und Repräsentation, die gezielt ein religiöses Register der populären muslimischen Gemeinschaft Kaschmirs anspricht? In einem Artikel schreibt Falak: »Prayers are an act of resistance too – a cry for justice in a place where justice has becomes a utopian goal« (Falak 2013, 85). Über die Aussagen der Frauen der APDP rührt der Film auch formal durch seine fragmentierte Zeitlichkeit an ein messianisches Gefühl – dies jedoch im starken Gegensatz zum nicht-fiktionalen, theologischen Pilgerschaftsfilm (yātrā) oder auch zum hindu-nationalistischen Agitprop des »theologischen Realismus« Rajagopals (2012). Wenn die Bilder von Sakeena in der Moschee in das transzendentale Licht einer stilisierten Gebetsszene getaucht sind, steht dies für Falak in einem Zusammenhang damit, dass die Frage nach der Gewalt im Kaschmirkonflikt sowohl in den indisch-nationalistischen Diskursen als auch in der politikwissenschaftlichen Literatur oft religiös überdeterminiert ist. Durch die globalen Mediendiskurse über Terrorismus ist religiöser Fundamentalismus – insbesondere islamistischer Art – zur vielleicht sichtbarsten Quelle von Gewalt in unserer Zeit geworden (Morey und Yaqin 2011). Nilufer Göles (2002) Arbeit macht auf eine öffentliche Performanz von Mobilität aufmerksam, die über den Körper »der Muslimischen Frau« aus-

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gehandelt wird. 67 Im vierten Kapitel dieser Arbeit bin ich auf diese Problematik in Hinblick auf den Hindi-Film zu sprechen gekommen. Für Falak und Fatima warf die Kontextualisierung dieser Performanz – gebunden an die Komplexität der āzādī-Artikulationen, die religiös legitimiert werden – ebenso die Frage nach der Verortung religiöser Praxis auf. Die gegenwärtige āzādī-Bewegung, die von der Hurriyat-Fraktion von Syed Ali Shah Geelani geleitet wird, ist stark von einem reformatorischen Islam bestimmt, der nicht nur von vielen jungen männlichen Aktivisten geteilt wird, sondern, wie ich oben zeigte, auch von zahlreichen politischen Aktivistinnen. Die Ambivalenzen einer gegenderten kaschmirischen Position in Hinblick auf Mobilität lassen sich an der körperlichen Performanz von Sakeena in einigen Sequenzen von Falaks Film erkennen. Sakeenas Crossdressing und ihr gleichzeitiges Bewegen durch religiöse wie öffentliche Räume verwirren übliche Zuschreibungen hinsichtlich der Immobilität »der muslimischen Frau« oder etwa die Vorstellung, die kaschmirischen Frauen seien unterdrückt in jenem Maße, wie sie religiös sind – außer, wie es »Mission Kashmir« suggeriert, sie seien Teil einer humanistischen Sufi-Tradition.

F AZIT In der Besprechung von Fatimas und Falaks Filmen habe ich durch eine Mobilitätslinse zwei Momente filmischer Praxis aufgezeigt und in Beziehung zueinander gesetzt: Verschiedene Repräsentationen von gegenderter (Im-)Mobilität und mobile Zeugenschaft im Sinne einer Praxis der FilmForm, die sowohl die Produktion als auch die Wirkungen der Filme berücksichtigt. Die Titelunterzeile »Die Wiederaneignung des besetzten Paradieses« bezog sich zunächst auf die kritischen Interventionen der beiden Filmemacherinnen Fatima und Falak in die Politik der Repräsentation einer Region, die in den Bildern eines touristischen Paradieses und einer terroristischen Hölle erscheint (diese dominanten Bilder habe ich im 3. Kapitel vorgestellt). Repräsentationen »der kaschmirischen muslimischen Frau« im Do67 Göles Ansatz zufolge wird ein Bild der Öffentlichkeit performativ auch dadurch hergestellt, dass über den Körper und Habitus der Kopftuch tragenden Frau Ambivalenzen hervorrufen werden, die auf die brüchigen Grenzen zwischen den binären Oppositionen modern/traditionell und emanzipiert/unterdrückt verweisen.

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kumentarfilm sind dagegen oft weniger von exotisierenden Darstellungen der Region bestimmt als vielmehr von einem humanistischen Menschenrechtsdiskurs. So behandeln fast alle unabhängigen Dokumentarfilme, die sich mit der Bedeutung von Gender im Kaschmirkonflikt beschäftigen, die Frauen der Association of Parents of Disappeared Persons (APDP). Diese Sichtbarkeit geht zum Teil auf die Nominierung Parveena Ahangars, der Leiterin der APDP, für den Friedensnobelpreis im Jahr 2005 zurück. Allerdings impliziert die Sichtbarkeit der APDP, bis auf die Ausnahmen von Falaks und Fatimas Filmen, nicht die öffentliche Präsenz kaschmirischer Frauen, die sich für eine politische Selbstbestimmung der Region einsetzen. Im Menschenrechtsdokumentarfilm werden die Forderungen der kaschmirischen Frauen oft im Namen einer generalisierten Menschlichkeit transzendiert. Die teilweise elitären Subjektpositionen von Menschenrechtsfilmemacher_innen unterscheiden sich zwar von dem nationalistischen Blick vieler Hindi-Filme und ihrer exotisierenden Darstellung kaschmirischer Landschaften und Menschen. Sie reflektieren jedoch nicht die Asymmetrien zwischen Zentrum und Region sowie die Rechtsmacht der Nationalstaatsform. In den Unterkapiteln zu Fatimas und Falaks Filmpraxis wurde gezeigt, wie sich beide Filmemacherinnen in ihrer Politik der Repräsentation von den Darstellungen des APDP-Menschenrechtsfilms und des Hindi-Films aus Sicht einer kritisch-transnationalen Mobilitätslinse in drei wesentlichen Momenten unterscheiden: 1. Beide stellen die Frauen der APDP als aktive politische Teilnehmer_innen am Konflikt dar, 2. beide wählen dazu oft eine aus langjähriger, eingebetteter Arbeit resultierende (teilweise experimentelle) Form und 3. versuchen sowohl, für die politische Selbstbestimmung des Tals zu mobilisieren, als auch zwischen verschiedenen Konfliktnarrationen durch die Verwendung der Kategorie »Alltag« eine ästhetische Öffnung zu erzielen. Im Folgenden möchte ich die mobile Zeugenschaft von Fatimas und Falaks Praxis hinsichtlich einer kritisch transnationalen Filmwissenschaft weiter elaborieren. Dafür sind drei heuristisch trennbare Momente wichtig: 1. Produktion und soziale Mobilität, 2. Adresse der Filme sowie 3. deren Performanz.

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1. Die medialen Praktiken beider Filmemacherinnen werden durch ein relativ hohes »Netzwerkkapital« (Urry 2007, 194) ermöglicht, das nicht zuletzt aus ihrer Position als Absolventinnen der Jamia Millia Islamia Universität in Delhi und als Mitglieder der Oberschicht bzw. oberen Mittelschicht des Kaschmirtals herrührt. Nur so konnte Iffat Fatima in einer vielleicht lebensbedrohlichen Situation die Möglichkeit des »Ausgangs« (Bauman 2000, 11) wahrnehmen, als sie von indischen Sicherheitskräften während der Dreharbeiten inhaftiert wurde. Nach Zygmunt Bauman ist die Fähigkeit, einen Ort zu verlassen, eine der zentralen Ermöglichungen einer kinetischen Elite. Diese Möglichkeit ist anderen – in John Urrys (2007, 194) an Pierre Bourdieu angelehnter Terminologie –, mit weniger Netzwerkkapital ausgestatteten Menschen, und damit den meisten Mitgliedern der APDP, nicht gewährt. Letzteren kann aber eine gewisse Sichtbarkeit und Sicherheit durch die Filmemacherin ermöglicht werden, die mit ihrer eigenen Mobilität die politische Selbstbestimmung kaschmirischer Frauen in Indien und darüber hinaus repräsentiert. 2. Sowohl in »Khoon Diy Baarav« als auch in »Till Then The Roads Carry Her...« wird der im Kaschmirtal dominanten Forderung nach politischer Selbstbestimmung (āzādī) Ausdruck verliehen und diese als eine »Gefühlsstruktur« (Williams 1977) dargestellt. Eine solche Gefühlsstruktur ist im Sinne Raymond Williams’ emergent, da sie noch nicht die verhärteten Konturen einer klar abgrenzbaren Erzählung besitzt. Um diese Offenheit zu behalten, experimentieren Fatima und Falak mit der Form, sie bringen Ahangar und andere Aktive der APDP als hochmobile und politisch mobilisierende Akteure in den Fokus. Gleichzeitig brechen sie mit stereotypen Repräsentationen von immobilisierten kaschmirischen Frauen und gegenderten Landschaften, indem sie die Tropen des touristischen Blicks umkehren. Sichtbar werden die Überschneidungen zwischen besatzungsbedingter Immobilität und touristischen/terroristischen Tropen dominanter Repräsentationsregimes. Diese Film-Adresse erreicht durch die Praxis und die Netzwerke beider Filmemacherinnen ein vorwiegend »indisches Publikum«, das sich oft von ihren Filmen emotional bewegt zeigt, wie es die Rezeption der Filme auf Vorführungen innerhalb der indischen Union dokumentiert. Beide Filmemacherinnen umgehen nicht – anders als der Menschenrechtsfilm in seiner global-humanistischen Adresse (McLagan 2003) – eine emotional geladene Politik des »begehrten Territoriums« (Kabir 2009) des Kaschmirtals. Vielmehr setzen sie ihre Form unterhalb der Wahrnehmungsschwelle populistisch instrumentalisierbarer Publizität an. Diese Sichtbar-

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keit fasse ich mit William Mazzarella (2013) als das ermöglichende wie gefährliche Potential der »offenen Kante der Massenpublizität« (ebd. 37). Sobald diese »Kante« überschritten wird, verliert der Film seine politischästhetische Fluchtlinie und läuft Gefahr, als Publizitätspotential angeeignet zu werden, das sich auf die Nation bezieht und diese (positiv oder negativ) als Verweishorizont iteriert. Die mögliche emotionale Mobilisierung durch Zeugenschaft bleibt damit immer an die jeweilige Adresse des Films und seine Performanz gebunden. Damit wird neben der physischen Bewegung der Filmemacherinnen und dem Experimentieren mit der Form auch die qualitative Dauer der Produktion und die ethische Beziehung zu den filmischen Subjekten angesprochen. Diese letztgenannten Momente heben sich bei Fatima und Falak, markiert von einer »Beschleunigung der Zeit« (Rosa 2005) und von einer »Dematerialisierung des Raums«, in den immer stärker digital bestimmten Medienkulturen der Gegenwart ab (Stalder 2016, 149–151). Insbesondere Iffat Fatima betont die Bedeutung qualitativer Dauer als ethische Dimension ihrer Praxis. Sie veränderte daher die Form ihres Filmes in Auseinandersetzung mit den Reaktionen bei Testvorführungen über die Spanne von zehn Jahren ständig. Uzma Falak artikuliert die Subjektivitäten der Frauen der APDP in einer messianischen Zeitlichkeit, da sie die emotionale Einbezogenheit dieser Frauen in einem fast aussichtslosen Kampf mit dem indischen Staat hervorhebt. Die allegorische Dimension von Falaks Film greift das religiös-ethische Register gezielt auf, um die Ausdauer und Widerstandsfähigkeit der Frauen der APDP nachvollziehbar zu machen. 3. Die kritische transnationale Praxis von Falak und Fatima hat durch die obengenannte Form der Adresse und Performanz ein nationales Moment, das den indischen Nationalismus und seine affektive Investition in die Region des Kaschmirtals als zentral für die konstitutiven Machtasymmetrien des Konflikts aufgreift. Daher setzen sich beide Filme von Menschenrechtsdokumentarfilmen ab, die den Konflikt humanistisch transzendieren und im Verhältnis zum Kaschmirkonflikt eine oft unkritische transnationale Adresse aufweisen.⁠ Ich folge hier einer Kritik von Buchanan und Pahuja (2008) an dem Begriff der »globalen Zivilgesellschaft«. Die Autor_innen argumentieren, dass im internationalen Rechtsdiskurs die Nationalstaatsform selbst nicht hinterfragt wird: »Both the appeal and the difficulty of the notion of global civil society reside in the way in which it appears to sweep away the multiplicity and conflict that are neces-

G ENDER , M OBILITÄT UND DIE W IEDERANEIGNUNG DES BESETZTEN P ARADIESES

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sary part of interactions among actors situated in different parts of the world« (Buchanan und Pahuja 2008, 267).

Buchanan und Pahuja unterscheiden dabei in Anlehnung an Partha Chatterjee (2003) zwischen einer politischen Gesellschaft der Gouvernementalität – also der Art und Weise, wie Bevölkerungen regiert werden und im Gegenzug die Regierungen zur Verantwortung ziehen – und einer modernen aus Verbänden, Vereinigungen und sozialen Bewegungen bestehenden Zivilgesellschaft. Vor diesem Hintergrund sehen die Autorinnen die Notwendigkeit, den Bindestrich zwischen Nation und Staat aufgrund noch bestehender, national organisierter Machtverhältnisse vorerst innerhalb der Nation zu problematisieren (ebd. 268). In diesem Sinn porträtieren Iffat Fatima und Uzma Falak die Arbeit der APDP als einen Drahtseilakt zwischen der Not, rechtliche Forderungen an einen verantwortungslosen Nationalstaat zu richten, und gleichzeitig eine politische Selbstbestimmung der Region zu artikulieren. Diese Repräsentationen spiegeln sich in der Performanz ihrer Filme, die ebenfalls innerhalb des physischen Territoriums der indischen Union durch Universitäten und Film-Clubs zirkulieren und Menschen für sich gewinnen wollen, die kaschmirischen Forderungen oft ablehnend gegenüberstehen. Ich habe im ersten Kapitel argumentiert, dass sich die von mir analysierten Filme am besten durch das von Higbee und Lim (2010) elaborierte Konzept des »kritischen Transnationalismus« verstehen lassen, da sie die indische Nation, in deren Namen das Kaschmirtal militärisch besetzt wird, in Bezug auf die affektive Dimension und symbolische Zentralität hinterfragen, die Kaschmir in indisch-nationalistischen Diskursen einnimmt. Gleichzeitig artikulieren sie den Wunsch nach einer kaschmirischen politischen Selbstbestimmung, der aus einer Betroffenheit durch den indischen Nationalismus resultiert. Die leidenschaftliche Äußerung einer Gefühlsstruktur von āzādī wird an einen Anderen adressiert, der mit den nationalistischen Darstellungen des Kaschmirtals und des Konflikts im Hindi-Film vertraut ist. Diese machtvollen nationalistischen Affekte nicht für eine populistische Aneignung zu öffnen, erfordert von Iffat Fatima eine ständige Wachsamkeit hinsichtlich der Orte und Zeiten ihrer Filmvorstellungen. Denn sobald die Filmemacherin die Kontrolle über die Dissemination und das affektive Potential ihres Films verliert, könnten diese von hindunationalistischen Gruppen angeeignet werden, was die Fluchtlinie von Fatimas Praxis gefährden würde.

Umstrittene Zeugnisse von Gewalt My memory keeps getting in the way of your history. AGHA SHAHID ALI Kashmir’s politics is a prisoner of Kashmir’s past. BALRAJ PURI

Während der Vers des kaschmirischen Dichters Agha Shahid Ali die offizielle Geschichte des Anderen durch die persönliche Erinnerung in Frage stellt, zitiert die Geschichtswissenschaftlerin Chitralekha Zutshi den politischen Analysten Balraj Puri. Der Kontext ist ein gegenwärtiger: Verschiedene Interpretengruppen versammeln sich online in zunehmend getrennten Öffentlichkeiten und streiten sich über die Geschichte des Tals (Zutshi 2014, 298). Weder der Bezug auf Fakten noch der Verweis auf eigene Erfahrung und Erinnerung stellen in diesen Diskussionen epistemologische Garantien dar. Die in diesem Kapitel thematisierten Filme »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2001) von Ajay Raina und »Jashn-eAzadi« (2007) von Sanjay Kak haben, abgesehen von ihrem Bezug zu den Tropen »Erinnerung«, »Gewalt«, »Angst«, »Verlust« und »Trauma«1 formal, thematisch und politisch wenig gemein. Zu beiden Filmen begegneten

1

Der Literaturwissenschaftler Suvir Kaul beschreibt, wie die »Erfahrung von Trauma« zu einer zentralen Kategorie wurde, in der zivilgesellschaftliche und Menschenrechtsgruppen die Vergangenheit und Zukunft Kaschmirs aushandeln und medial inszenieren (Kaul 2015, 153).

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mir während der Feldforschung zwei stereotype Rezeptionspositionen.2 Kaks Film wurde oft beim Namen genommen: als Feier eines kaschmirischen Separatismus. Einige Zuschauer_innen sahen in ihm eine agitpropnahe Verführung (seduction), andere erkannten darin eine sensible Darstellung des kaschmirischen Freiheitskampfs und die radikale Infragestellung der indischen Demokratie. Rainas Film repräsentierte für einige einen sensiblen, persönlichen Zugang eines exilierten Pandits3 zum Konflikt, für viele kaschmirische Zuschauer_innen der Festivals Kashmir Before Our Eyes in Delhi und in Mumbai war es jedoch ein »islamophober Film«. Beide Filmemacher, Ajay Raina und Sanjay Kak, teilen jedoch eine explizit ethische Perspektive auf die Geschichte des Konflikts und auch auf die Praxis des Dokumentarfilms. Fragen der Ethik sind in der Analyse von Dokumentarfilmen in Indien oft mit der impliziten Annahme einer generellen politischen Progressivität der Form zurückgestellt worden (Kishore 2015). In diesem Kapitel stehen sie dagegen im Zentrum des Interesses. Gefragt wird: Wie verhandeln beide Filmemacher Konfliktgewalt und Konfliktgeschichte durch die Form ihrer Filme und die Mobilität ihrer Praxis? In diesem Sinne steht die Darstellung des Konflikts als ethische Frage der Filmform im Mittelpunkt. Wie mobilisieren die Filmemacher Zeugenschaft4 für eine bestimmte Interpretation kaschmirischer Zeitgeschichte? So

2

Diesen Zuschauer_innenreaktionen begegnete ich während des Kashmir Before Our Eyes-Festival in Mumbai (01.05.2013), auf dem Filmfestival Persistence/Resistance 2014 (18.02.2014) und einigen Ausgaben des Pratirodh ka Cinema. Zudem hörte ich von ähnlichen Zuschauerreaktionen auch in Gesprächen mit Raina und Kak, die ich über die Rezeption der beiden Filme führte.

3

Die kaschmirischen Pandits waren historisch eine Elite im Kaschmirtal, die unter der Dogra-Regierung (1848–1947) einen privilegierten Zugang zu staatsnahen Tätigkeiten genoss. Der Staat des Hindu-Maharadschas, dessen Subjekte größtenteils Muslime waren, suchte seine Herrschaft über hindu-religiöse Patronage zu legitimieren (Rai 2004; Zutshi 2004). Die kaschmirischen Pandits wurden dabei als Gruppe gefördert und waren unter anderem als Steuerinspektoren und im Bereich der Bildung tätig (Zutshi 2004, 52). Zu Beginn des bewaffneten Konflikts im Jahr 1990 flohen in einer Dynamik, deren Interpretation stark umstritten ist, viele Pandits aus dem Tal oder wurden von dem damaligen Gouverneur Jagmohan vorgeblich aus Sicherheitsgründen evakuiert (Puri 1993; Bose 1997; Duschinski 2007; Rai 2011).

4

Siehe die ausführliche Besprechung des Konzepts mobiler Zeugenschaft in Kapitel 2.

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richte ich den Blick weniger auf die narrative Struktur der Filme als vielmehr auf umstrittene, häufig thematisierte Sequenzen. Dabei betrachte ich die Schaffung eines »ethischen Raums«, in dem Konfliktgewalt und Trauma bezeugt werden können. Die Filmwissenschaftlerin Vivian Sobchack (2004) definiert den ethischen Raum des Dokumentarfilms in Hinblick auf die Epistemologie des dokumentarischen Bildes: »Documentary space is constituted and inscribed as ethical space: it stands as the objectively visible evidence of subjective visual responsiveness and responsibility toward a world shared with other human subjects« (ebd. 226).

Dieser Raum kristallisiert sich erst in der Performanz der Filmform heraus, vermittelt durch die imaginative und physische Mobilität der Filmemacher_innen, denen es gelingt, Menschen zu adressieren und zu affizieren. Gleichzeitig ist bei einer Betrachtung des ethischen Raums des Films auch die Auseinandersetzung des Publikums mit dem Film von großer Bedeutung, da die Zuschauer_innen diesen Raum betreten und mit den Filmemacher_innen aushandeln. Mein Argument ist, dass dieser Raum erst durch die multiplen Formen der Mobilität der Filmemacher hergestellt wird. Dazu zählen zum Beispiel die pro-filmischen Bewegungen und Begegnungen zwischen Filmemacher_innen und filmischen Subjekten sowie innovative Verwendungen der Filmform im Sinne einer »imaginativen Mobilität« (Robins 2004; vgl. Kapitel 2). Dabei werde ich immer wieder den Bewegungen der Filmemacher_innen in diesen ethischen Raum folgen – in seine Anfechtung durch verschiedene Zuschauer_innenschaften. Wenn der noch immer bestehenden Bedeutung verschiedener nationaler Momente in transnationalen Filmpraktiken Aufmerksamkeit geschenkt werden soll – wie ich es eingangs mit Verweis auf Higbees und Lims (2010) Konzept eines »kritischen Transnationalismus« forderte –, müssen Filmpraktiken gleichzeitig radikal kontextualisiert und von technozentrischen5 Prämissen befreit werden.

5

Ich möchte mich insbesondere von einigen technozentrischen Darstellungen des »digitalen Erzählens« abgrenzen, die im Bereich der Dokumentarfilmstudien anzutreffen sind und nicht-lineare Geschichtsdarstellungen ontologisch aus der dezentralisierenden »structural logic« (Ricciardelli 2014, 4) der digitalen Filmtechnologie ableiten: »undermining the very principle upon which traditional historical narration used to be conceptualized – that is the chronological order« (ebd.). Ich folge der Medienkulturforschung (Couldry 2000) in dem Sinne,

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Das Material dieses Kapitels besteht folglich aus Beobachtungen, die aus meiner Begleitung von Sanjay Kak und Ajay Raina auf Filmfestivals resultierten, sowie aus Gesprächen mit beiden Filmemachern, die ich größtenteils während meiner Feldforschung in den Jahren 2013 und 2014 in Delhi und Srinagar führte. Die Methode des Gesprächs dient nicht zur Gewinnung fertig abrufbaren Wissens, sondern soll dabei helfen, die multiple Aushandlung der Filme vor dem Horizont einer »imaginativen Mobilität« (Robins 2004) als offenes, veränderbares Potential zu verstehen. Es wird auch in diesem Kapitel wieder Vor- und Rückblenden geben, die ich narrativ in den Zusammenhang der Datenerhebung einbette und in der jeweiligen Fragestellung kontextualisiere.

A JAY R AINA : D IE G RENZEN

DES

P ERSÖNLICHEN

Die Filmkritikerin Shoma A. Chatterji nennt Ajay Raina in einer rezenten Publikation (Chatterji 2015) einen der wichtigsten unabhängigen Dokumentarfilmemacher Indiens und gibt die folgende inhaltliche Einschätzung des in diesem Abschnitt zu besprechenden, mehrfach prämierten Films »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2001): »The film follows the filmmaker through his travails and he is occasionally seen on camera as he meets various people and revisits places from his past. He also provided the narration for the film and recorded it in his own voice thus making it as personal a film as possible which is precisely the strength of the film« (Chatterji 2015, 168).

Mein Zugang zur Form des Films geht entgegen Chatterjis Lesart davon aus, dass das Persönliche nicht als »Stärke des Films« ausgegeben werden kann, sondern als Paradoxon interessante Fragen zur Mobilisierung von Zeugenschaft im ethischen Raum des Films aufwirft. Mit diesen Fragen versuche ich mich selbst an die »Grenzen des Persönlichen« zu begeben, indem ich durch den ethischen Raum sowohl dem Artefakt Film als auch über ihn vermittelt dem Filmemacher begegne. Diese Begegnung ist weiter dass es auf den Kontext der jeweiligen filmischen Praxis ankommt und Medieninhalte – wie bspw. eine Geschichtsdarstellung – nicht als überdeterminiert durch technologische Entwicklungen oder damit einhergehende Formensprachen (z.B. Montage) verstanden werden dürfen.

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eingebettet in Kommentare von Rezipient_innen und die auf diese Kommentare bezogenen Kontexte. Doch zunächst möchte ich den Filmemacher vorstellen. Ajay Raina wuchs im Kaschmirtal auf, das er Ende der achtziger Jahre vor dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts verließ. Er studierte an dem Film and Television Institute of India (FTII), Pune, und schloss dort mit einem Diplom in Filmregie ab. Er sagte mir, dass eine grundlegende Erfahrung, die sich schon in seinen ersten Filmen der 1990er Jahre widerspiegele, das Exil der kaschmirischen Pandits sei.6 Nach dem Abschluss des Studiums unterrichtete Raina Filmregie am Film and Television Institute of India und in der International School of Business and Media in Pune und war an etlichen kooperativen Filmprojekten in Ladakh sowie in Slums in Mumbai beteiligt, bei denen Kinder ohne Schulausbildung im Umgang mit der Kamera unterrichtet wurden. Heute (2017) lebt Raina in den Vereinigten Staaten, wo er unter anderem Kurse in cinema studies und Filmproduktion an der University of Pennsylvania gibt. Der erste kaschmirbezogene Film Rainas gewann eine Reihe von indischen Filmpreisen, darunter den Golden Conch des Mumbai International Film Festival (MIFF)7 und wird noch heute, fünfzehn Jahre nach seiner Fertigstellung, regelmäßig auf Festivals gezeigt und debattiert.8 Nach diesem ersten Erfolg führte Raina noch in zwei weiteren von der PSBT geförderten Filmprojekten Regie. Diese waren zwar nicht im selben Maße wie »Tell Them...« autobiographisch angelegt, sie blieben jedoch weiterhin von Rainas weicher, eindringlich-präsenter Stimme geprägt, die regelmäßig auf seine Konflikterinnerungen rekurriert. »Wapsi« (2005) gewann im Jahr 2005 den indischen National Film Award for Best Non-Feature Film Narration/Voice Over.9 Der Film nimmt seinen Ausgang bei dem ersten Cricket-

6

Gespräch mit Ajay Raina in Srinagar am 15.10.2013. Aus diesem Gespräch resultieren die meisten biographischen Angaben dieses Abschnitts.

7

Die weiteren Preise waren: Second Best Documentary, IDPA Documentary and Animated Films Awards, 2002 Best Documentary, Radio and Advertisers Practitioners Awards, 2002

8

Er war ein Teil des Filmfestival-Programms von Kashmir Before Our Eyes (siehe Kapitel 6). Vor kurzem wurde er auf dem Open Frame Filmfestival 2015, organisiert von dem Public Service Broadcasting Trust, wieder gezeigt.

9

Im Jahr 2015 gab Raina aus Protest gegenüber der wachsenden Intoleranz in Indien unter der hindu-nationalistischen Regierung Narendra Modis zusammen mit anderen Filmemacher_innen und Autor_innen den Preis zurück.

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spiel zwischen Indien und Pakistan nach einer längeren, konfliktbedingten Pause. Raina reist auf einer damals neu eröffneten – und inzwischen wieder geschlossenen – Buslinie von Delhi nach Lahore, um die Reaktionen der lokalen Bevölkerung und der mitgereisten Inder auf das Cricketspiel einzufangen. Der Film ist wie schon »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« von der eindringlichen Stimme Rainas gekennzeichnet, welche seine Begegnungen mit einzelnen Menschen in den Straßen Lahores kommentiert. Der Titel des Films »Wapsi« (»Die Rückkehr«) ist einem Gedicht Satyapal Anands entlehnt, das der zu Zeiten der Teilung emigrierte Dichter und Literaturwissenschaftler nach einer zweiundfünfzigjährigen Abwesenheit bei der Rückkehr zu seinem Geburtsort Kot Sarang im pakistanischen Teil des Panjabs verfasste. »Wapsi« baut wie »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« auf einer Reise auf. So finden viele der Begegnungen mit Menschen aus Indien und Pakistan unterwegs statt, in Bussen, Jeeps und Taxis. Die Reise von Delhi nach Lahore und die Begegnungen in und um Lahore werden vor einem weiten Horizont kontextualisiert: Diese transregionale Imagination wird in »Wapsi« nicht nur durch die originalen Filmaufnahmen, sondern auch durch die Zitation verschiedener Spielfilmclips, populärer Musik und Poesie suggeriert. Dies schafft eine kaleidoskopische Struktur, in der sich Populärkultur sowie medialisierte und persönliche Exilerinnerungen durchmischen. Raina widmet sich in »Wapsi« der Suche nach Hindu- und Sikh-Minderheiten in Pakistan und Kaschmir, die in den Texturen des Films auf Wunden der Teilung von 1947 verweisen. Die drei Regionen – Kaschmir, indischer Punjab und Lahore – werden durch eine national-säkulare (vgl. Kapitel 4) Erzählung gerahmt und stehen so in Bezug zur Katastrophe der religiös legitimierten Gewalt der indischpakistanischen Teilung. Dies ist der geschichtliche Dreh- und Angelpunkt in Rainas Filmschaffen. Im Gespräch verwendet er in diesem Zusammenhang die verbreitete Trope des »non finished business of partition«. Hier stellt sich die Frage, wessen »business« gemeint ist, das noch nicht »abgeschlossen« sei.10 Ich argumentiere, dass die transregionale Imagination der drei Filme Rainas stets innerhalb des Radius einer als national-säkular interpretierbaren indischen Erzählung bleibt. Sumita Chakravarty (1998, 65) spricht in Bezug auf den Hindi-Film davon, dass die Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen dort weniger direkt angesprochen als sublimiert werden, »by

10 Gespräch mit Ajay Raina in Srinagar am 15.10.2013.

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displacing it on to the canvas of history« (ebd. 65). In Rainas Filmen geschieht über die häufige Bezugnahme auf die indische Teilung genau dies, obgleich der Begegnungsmoment der vérité-Form gegenüber der Stabilisierung der geschichtlichen Erzählung Reibungen provoziert, auf die ich weiter unten noch eingehen werde. Dieselbe Problematik zwischen Geschichtlichkeit und vérité-Form zeigt sich auch bei seinem letzten Film »Apour ti Yapour. Yeti chu talukpeth« (dt. »Auf dieser und jener Seite. Hier ist die Grenze«, 2011). In diesem Film porträtiert er das Alltagsleben in dem Grenzdorf Tetwal11 in ruhigen Bildern und durch Gespräche mit den Bewohner_innen. Der Film zeigt die Willkürlichkeit der Grenzziehung in dem Bergtal auf, die Familien voneinander trennt und lokale religiöse und soziale Praktiken unterbricht. Beide Staaten erscheinen in diesem Film als Besatzer des Grenzlandes und der Film lässt gegen Ende durch die voice-overStimme das Bild gescheiterter geopolitischer Ambitionen auf beiden Seite der Grenze entstehen.

Arbeit an einem nostalgischen Ort In einem persönlichen Gespräch sagte mir Ajay Raina, dass er wie ein »anthropologischer Beobachter« vorgehe. So hielt er sich für eine längere Feldforschung im Jahr 2013 in Habbakadal, einem ehemals von KashmiriPandits bewohnten Altstadtviertel Srinagars, auf.12 Wir trafen uns einige Male in einem kleinen, holzgetäfelten Raum, dessen Fenster einen Blick auf eine Ruinenlandschaft freigaben, die vor 1990 von Pandits bewohnt worden war. Der Besitzer des Hotels war ein im Tal verbliebener Pandit. Außen gab es kein Schild, welches das Gebäude als Hotel ausgewiesen hätte. Nach dem Auszug der Pandits war von den prächtigen Fachwerkhäusern13 oft nicht mehr als ein Holzgerippe übrig; die Backsteine zwischen

11 Diese Ortswahl traf Raina aufgrund seiner Lektüre einer Kurzgeschichte Sadat Hasan Mantos. In »Ṭeṭwāl kā Kuttā« (dt. »Der Hund aus Tetwal«) allegorisiert Manto die Willkür der indisch-pakistanischen Teilung des Subkontinents. 12 Gespräch mit Ajay Raina in Srinagar am 15.10.2013. 13 Fachwerkhäuser waren bis vor kurzem der verbreitetste Haustyp im Kaschmirtal. Heute werden diese oft mit großer Kunstfertigkeit gebauten Häuser zunehmend durch einen neuen auf Beton basierten Baustil ersetzt. Die Gestalt der Fachwerkhäuser variiert dabei erheblich nach Vermögen der Besitzer. Die

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den Balken wurden für notbehelfsmäßige Unterkünfte entfernt. In diesen leben heute bengalische Arbeitsmigrant_innen in großer Armut. Die Häuser der kaschmirischen Pandits wurden auch von der indischen Armee als innerstädtische Bunker benutzt, was wesentlich zu ihrer Zerstörung beigetragen hat. Es muss eine Straße wie diese in Habbakadal gewesen sein, die in Chandrakantas Hindi-Roman »ailān galī zindā hai« (dt. »Die Ailan-Gasse lebt«, 1989) die Dichte des alltäglichen Miteinanders von Pandits und Muslimen auf humoristische Art beschreibt. Sie zeichnet ein Bild des Zusammenlebens, das frei von dem nostalgischen Glanz Kashmiriyats ist – der Begriff überhöhte noch nicht mit seiner nationalistisch aufgeladenen Abstraktion eines nationalen Säkularismus den Verlust der gelebten Gemeinschaft. Das Umschlagbild der englischen Übersetzung von Chandrakantas Roman »A Street in Srinagar« (2010) zeigt das Photo eines langen Fachwerkbaus mit vier prächtigen Holz-Erkern. Dieses eindrucksvolle Gebäude in ruinösem Zustand befand sich direkt gegenüber von Rainas Hotel. Eine Reihe von Ambivalenzen war für mich mit dem Ort unserer Treffen verbunden, den ich zunehmend mit der Schwierigkeit in Verbindung brachte, die Komplexität seiner Filme angemessen zu beschreiben. Zum einen war die von Raina vertretene Ethik der Koexistenz auf die geschichtliche Dislokation des Jahres 1989 rückbezogen. Während der Bauboom seit den frühen 2000er Jahren das Gesicht der Stadt – insbesondere seiner Außenbezirke – verwandelte, blieben die Ruinen von Habbakadal als Erinnerung an den Verlust der Kashmiri-Pandits sichtbar. Rainas Interesse am Konfliktalltag schien mir in einem unlösbaren Spannungsverhältnis zu seiner Entfremdung von dem Tal und seiner Identität als Kashmiri-Pandit zu stehen. Aus dem voice-over-Kommentar Rainas gegen Ende des Films »Wapsi« entnahm ich die Auffassung eines politischen Nullsummenspiels; den Hintergrund bildete eine inklusiv gedachte, aber nicht explizierte größere Einheit. In dem Film spricht Rainas voice-over über eine von ihm abgefilmte Sequenz der Rückkehr einer Sikh-Familie in ihr verlassenes Haus aus dem pakistanischen Spielfilm »Ladki Panjaban« (2004, Syed Noor): »The nostalgia and a sense of loss for things and memories left behind that any Pakistani would feel in India is no different from what an Indian feels in Pakistan [es beginnt hier eine neue Videosequenz, die nächtliche Tanzszenen der Urs von Data Ganj Baksh zeigen, MK]. Even most of our festivals and the way we celebrate them

prächtigsten wurden von Erkern mit reichem Schnitzwerk geziert. Viele solcher Häuser waren bis 1990 im Besitz von Kashmiri-Pandits.

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are the same. My trip to Pakistan coincided with the urs of Data Ganj Baksh, the patron saint of Lahore. He was among the first mystic saints to have come here to spread the faith through the sufi message of love and brotherhood. It was heartening to see a centuries old Indian tradition in full flow. A tradition in a way my own, but now under threat. [...] In the one thousand years since the coming of Islam to India, Sufism, various Bhakti movements, Sikhism and even the core values of Hinduism have impacted on each other on ways profound to create a culture which is uniquely Indian, but at some point of time there was a breach, a breakdown, a turning away from a common believe in the oneness of human kind.«

Dieser historische Bruch wird in den letzten Minuten des Films durch den Bezug der Erzählerstimme auf das Aufkommen eines islamischen Fundamentalismus gerahmt. Wie im Kashmiriyat-Diskurs die politischen Artikulationen von Akteuren des Kaschmirtals mit einer Vorstellung nationaler Integration versöhnt werden (siehe Kapitel 4), führt Rainas Kommentar gegen Ende von »Wapsi« eine ähnliche rhetorische Operation für Pakistan aus. Die Entstehung Pakistans – auf einer »höheren« Ebene, nämlich angesichts der kulturellen Gemeinsamkeiten beider Länder – als Fehler der Geschichte zu betrachten, ist ein bekanntes Verfahren einer indischnationalistischen Imagination.14 Bei Raina überschneidet sich diese Vorstellung mit einigen Werten, die im Produktionsdiskurs des Public Service Broadcasting Trusts (PSBT) artikuliert werden. Im folgenden Abschnitt zeige ich auf, wie dieser Produktionsdiskurs gleichzeitig in Analogie zur Schaffung eines ethischen Raums der Begegnung in Rainas Filmen steht. Der Film »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« war einer der ersten unabhängigen Dokumentarfilme über das Kaschmirtal, der von dem damals neu gegründeten PSBT finanziert wurde.15 Bis heute (2017) wurden drei Filme von Raina von der PSBT gefördert. Dies legt na-

14 Hier muss nicht nur die seit der wirtschaftlichen Liberalisierung verstärkt aufkommende mediale Thematisierung von hindu-nationalistischen Vorstellungen eines größeren – Pakistan, Bangladesch und Nepal einschließenden – »ungeteilten Indiens« (akhand bhārat) angesprochen werden (Chakravarti 1998, 250). Ebenso soll Nehrus Vorstellung eines die religiösen Gruppengrenzen transzendierenden säkularen Nationalismus hinterfragt werden. Talal Asad (2003) zeigt auf, wie letztere Artikulation eine legitimierende Verbindung zum modernen Territorialstaat und seiner impliziten Aus- und Einschlüsse unterhält. 15 Die anderen (ebenfalls 2001) waren Abir Bazaz und Meenu Gaurs »Paradise on a River of Hell« und »Pather Chujaeri« von Pankaj Rishi Kumar.

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he, dass der etablierte Filmemacher für die Institution, die oft Neulinge in der Branche fördert, eine große Schnittmenge mit ihrer inhaltlichen und formalen Ausrichtung aufweist.

D ER P UBLIC S ERVICE B ROADCASTING T RUST Der PSBT ist eine weitgehend durch staatliche Gelder finanzierte, relativ unabhängig operierende Treuhandgesellschaft. Sie kam zusammen mit digitalen Filmtechnologien auf und ermöglicht seither mit kleinen Budgets die Produktion oft kostengünstiger digitaler Dokumentarfilme. Der Großteil des Geldes wird direkt an die oder den Filmemacher_in ausgezahlt und nur ein Teil der veranschlagten Summe für Distribution und Werbung eingesetzt. Eine Leitidee des Fonds besteht darin, Erstlingsprojekte von jungen Filmemacher_innen zu unterstützen. In den Worten des Leiters des PSBT, Rajiv Mehrotra, soll die Treuhandgesellschaft als eine Plattform der Diversität fungieren, die nah an den »communities« eine neue Medienkultur schafft: »Public Broadcasting when successful sets exemplary standards of quality and serves as an example of good taste, of decency and values; it is impartial, balanced and works to meet the information and entertainment needs of the community, particularly of the disadvantaged and the marginalised; it synchronises with the principles of a good »public enterprise« committed to transparency and accountability. [...] Public Service Broadcasting is not merely the supply push of development support programs: of what a centralised bureaucracy or a group of »experts« believe the community must be told. The imperative is to create a public culture through the airwaves that is plural and equitable in its representation. Even as the broadcast media have become more powerful and influential, public entitlement to the creation 16

and shaping of content has not grown in proportion to its growth«.

Der Verweis auf Werte wie »Balance« und »Unparteilichkeit« findet sich weltweit in den Diskursen über die Produktion von Beiträgen in öffentlichrechtlichen Institutionen (Hendy 2013), die seit ca. 1980 um den Wert der »kulturellen Vielfalt« erweitert wurden (Rodrigues 2010, 182). Die Richtli-

16 Diese Passage fand sich auf der Homepage von PSBT und wurde inzwischen (2018) entfernt. Mein letzter Zugriff auf diesen Text war am 01. Juni 2011.

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nien des indischen öffentlichen Rundfunks Prasar Bharati (PB)17 stimmen weitgehend mit den von der United Kingdom’s Broadcasting Research Unit postulierten Prinzipien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks überein.18 Allerdings beinhalten sie auch eine für den Mediendiskurs in ehemals kolonisierten Ländern charakteristische Richtlinie: »Upholding the unity and integrity of the country and the values enshrined in the Constitution« (in Rodrigues 2010, 200–201). Solche Richtlinien können für eine Einschätzung der »Unabhängigkeit« des PSBT vor dem Hintergrund seiner finanziellen Abhängigkeit von staatlichen Töpfen nicht ignoriert werden. PSBT wird größtenteils aus staatlichen Geldern des indischen öffentlichen Rundfunks PB finanziert. Dies geschieht nicht zuletzt deshalb, weil sich für den PSBT bislang über die Distribution der Filme kaum Kapital generieren ließ.19 Während der Filmproduktion werden Zwischenschnitte von PSBT-Filmen an PB zur Evaluierung eingereicht.20 Einigen Dokumentarfilmemacher_innen, die im Rahmen des PSBT über kaschmirbezogene Themen arbeiten, wurden von PB »unverbindliche« Änderungsvorschläge unterbreitet, die sich bspw. auf die Ausbalancierung von Narrativen bezogen.21 Neben PB unterhält die Institution noch einen projektbasierten Vertrag mit der Public Diplomacy Division (PD), des Indian Ministry of External Affairs und dem Staatsfernsehen Doordarshan (DD) als Zirkulationsplattform der Filme. Auch wenn PSBT eine große Unabhängigkeit während der Produktion von Filmen genießt, wurde mir von den Filmemachern Abir Bazaz, Bilal Jan und Tushar Madhav von versuchtem Einfluss durch die Verantwortlichen von PSBT bzw. PB berichtet. Dieser regulatorische

17 Auf Initiative der Janata-Regierung in Reaktion auf die mediale Staatspropaganda von All India Radio (AIR) und Doordarshan (DD) während des unter Indira Gandhi verhängten Ausnahmezustands (1975–1977) wurden Forderungen nach einem unabhängigeren öffentlich-rechtlichen Rundfunk laut. Mit der Implementierung des Prasar Bharati Acts (1990) kamen beide Institutionen 1997 unter den Schirm der neuen nationalen Sendeanstalt »Prasar Bharati« (Rodrigues 2010, 189). 18 Ridhima Mehra, eine Mitarbeiterin des PSBT, sagte mir, dass einige der ethischen Richtlinien des PSBT von der BBC entlehnt sind (Gespräch mit Mehra in Neu-Delhi am 14.05.2015). 19 Gespräch mit Ridhima Mehra in Neu-Delhi am 14.05.2015. 20 Hinter den »Änderungsvorschlägen« Prasar Bharatis steht ein gewisser Druck, jedoch muss, so Ridhima Mehra, nicht zwingend auf sie reagiert werden. 21 In Gesprächen mit Uzma Falak und Tushar Madhav wurde dies angesprochen.

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Druck ist durch die relative Abhängigkeit von PB von der jeweiligen Regierungspartei zu erklären, welche die Mitglieder des Ausschusses bestimmt (Rodrigues 2010, 189). Daher liegt es nahe, dass mit kaschmirbezogenen Themen eine gewisse Vorsicht seitens verschiedener PSBT-Akteure einhergeht, was wiederum den von PSBT postulierten Unabhängigkeitsstatus fraglich werden lässt. Gleichzeitig produziert PSBT sehr unterschiedliche Filme und auch die Politiken der einzelnen Mitarbeiter_innen unterscheiden sich stark. Daher entstehen viele Filme, die dem »offiziell« dargestellten Produktionsdiskurs nicht entsprechen oder ihn gezielt unterwandern. Hinsichtlich des Outputs der PSBT könnten hier sehr viele Filmemacher_innen genannt werden, die innerhalb dieses Raumes die weitreichenden Möglichkeiten formaler Experimente und die in Bezug auf Kaschmir beschränkten inhaltlichen Möglichkeiten ausreizen (bspw. Iram Ghufran, Fathima Nizaruddin, Uzma Falak, Bilal Jan und Abir Bazaz). Die letztgenannte Problematik der Einflussnahme besteht oft darin, dass kaschmirbezogene Themen national gerahmt werden. So zeigen Aussagen zur »kulturellen Vielfalt« Ähnlichkeit mit der indisch-nationalistischen Trope der »unity in diversity«. Dies kann durchaus in die Richtung einer Soft-power-Strategie gehen, die »größte Demokratie der Welt« zu vermarkten22 (Thussu 2013, 174). Obgleich diese Strategie für die PD-Filme signifikant ist, reartikulieren auch Ajay Rainas Filme die Trope unity in diversity. Eine hier ansetzende ideologiekritische Lesart würde allerdings weder der komplexen Vermittlung von Gefühlsstrukturen eines innerindischen Exils gerecht werden, noch dem ethischen Impetus von Rainas Filmschaffen oder seiner formalen Umsetzung. Um diesem Komplex näher zu kommen, möchte ich zunächst den Blick auf einige produktionsethische Richtlinien der PSBT werfen.

Ethische Vorgaben in der Produktion Im Prozess einer PSBT-Produktion kommt es zu etlichen Rücksprachen mit den Filmemacher_innen und Evaluierungen der Produktion: Das beginnt mit dem Treatment, geht über den ersten Zwischenschnitt und schließt mit

22 Diese Tropen finden sich wenig überraschend auch in vielen Dokumentarfilmen zu Kaschmir des Public Diplomacy Department des Indian Ministry of External Affairs (siehe auch Kapitel 4).

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den oder der Endfassung(en).23 Der PSBT gibt dabei eine Reihe von ethischen Richtlinien hinsichtlich der geförderten Projekte produktionsleitend als sogenanntes tutoring mit. Die Richtlinien beziehen sich insbesondere auf Verweisverhältnisse zur extra-diegetischen Welt – also der Welt außerhalb der Erzählwelt des Films –, sowie auf das Verhältnis zwischen Filmemacher_in und filmischen Subjekten. Die ersten drei Richtlinien sind: »1. Accuracy, Filmmakers should take care not to include inaccurate, misleading or distorted information/material in their films. 2. Opportunity to Reply, a fair opportunity for reply should be given to individuals, groups or organisations, directly or indirectly implicated in the film for some misdeed or wrongdoing. 3. Comment, Conjecture and Fact, filmmakers, while free to be partisan, should distinguish clearly between comment, conjecture and fact.«

24

Liest man diese ethischen Richtlinien eines eher journalistischen Produktionsdiskurses zusammen mit dem oben zitierten Auszug aus dem Vorsatzpapier Rajiv Mehrotras, treten einige Widersprüche an der Schnittstelle zwischen balancing, bias und being partisan sowie der Repräsentation von Gruppen und Individuen hervor. Wie sollen wir uns zum Beispiel die »faire Antwortmöglichkeit« einer Gruppe vorstellen? Wenn die modale Dreiergruppe »Kommentar, Vermutung und Fakt« im Gespann mit »Genauigkeit« als Vermeidung »verzerrter Information« erscheint, darf man sich fragen, welche formalen Protokolle diese Unterschiede in dem weiteren medialen Diskurs des Films garantieren sollen. Es ist klar, dass die Vorgaben, gleichzeitig partisan und impartial-balanced zu sein, widersprüchlich sind – außer man versteht dies nach bestimmten, zum Beispiel liberalen Spielregeln, die einer parteiischen Haltung auf verfahrensbezogene Art eine unparteiische kommunikative Ebene hinzufügen (bspw. Habermas 1990; Rawls 1999).

23 Filme, die für die indische Zensur als zu heikel eingestuft werden, erscheinen dann in verschiedenen Ausgaben. Uzma Falaks Film bspw. erscheint als für Doordarshan zensierte Fassung für indische Festivals und als ein unzensierter Director’s Cut für die globale Festivaltour (Gespräch mit Ridhima Mehra in Neu-Delhi am 14.05.2015). 24 Diese Angaben waren der Homepage der PSBT entnommen und wurden inzwischen (2018) entfernt. Mein letzter Zugang war 24.05.2015.

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Für meine Analyse ist hier von besonderem Interesse, dass diese Richtlinien fordern, einer möglichen Antwort Raum zu geben. Die Rezeptionsreaktionen vieler Zuschauer_innen auf Rainas Filme lassen sich selbstverständlich nicht auf die Protokolle der PSBT reduzieren. Ich argumentiere jedoch, dass zum Verständnis von Rainas Filmpraxis die Überschneidungen zu dem »offiziellen«, liberal-multikulturellen Diskurs der PSBT eine Rolle spielen, die in der Folge dieses und des nächsten Kapitels weiter differenziert werden sollen.

A NGST UND SITUATIVE O FFENHEIT , N ACHERINNERUNGEN UND C INEMA V ÉRITÉ Der Film »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (2001) folgt dem Filmemacher bei seiner Rückkehr nach einer elfjährigen exilbedingten Abwesenheit aus dem Kaschmirtal. Er trifft bei seinem Besuch auf viele alte Bekannte und sucht Orte seiner Vergangenheit auf. Darunter sind u.a. das verlassene Wohnhaus der Familie in Srinagar und das Haus seines Onkels in dem Dorf, in dem seine Familie lebte, bevor sie in die Stadt umzog. Die persönliche Erinnerung figuriert in den Dokumentarfilmstudien oft als eine Trope, die in Opposition zum offiziellen staatlichen Diskurs steht (Wang 2014; Renov 2004; Gómez 2014). Die Potentiale einer unabhängigen Dokumentarfilmpraxis werden in vielen dieser Arbeiten an der Schnittstelle persönlicher Erinnerungen und reflexiver Vermittlungen alltäglicher Raum- und Zeiterfahrungen angesiedelt. Es wird darauf verwiesen, dass durch die Proliferation digitaler Technologien persönliche Geschichten leichter erzählbar werden. Immer mehr Menschen haben die Möglichkeit, aus der Perspektive marginalisierter Subjektpositionen in die offizielle Geschichte zu intervenieren (Renov 2004). Insbesondere Diaspora- und Exilsubjektpositionen wurden in der Analyse von der Trope »Erinnerung« in unabhängigen transnationalen Filmpraktiken aufgrund ihrer »Zwischenposition« geschätzt und epistemologisch bevorzugt (Higbee und Lim 2010; Naficy 2001; Marks 2000). Um die Politik und den Stil eines Dokumentarfilms einzuschätzen, sind oft die ersten Sequenzen aufschlussreich, da sie gelegentlich eine Signatur erkennen lassen und mit Rahmentexten in den zeitpolitischen Kontext einführen. Rainas Film beginnt mit der Widmung: »This film is dedicated to

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the suffering people of Kashmir. Victims are on both sides, victors none.« In der nächsten Szene sehen wir den Filmemacher in einem fahrenden Zug und hören zum ersten Mal seine sonore weiche Stimme: »I’m going back to my home in Kashmir after eleven years, I want to find out if it is possible to break the walls of mistrust and of hate we build in a once beautiful valley, that was Kashmir«. Die auktoriale Perspektive setzt hier auf eine reflexive Auseinandersetzung unter nostalgischen Vorzeichen, die für exilisches Filmschaffen charakteristisch sind (Naficy 2001). In der nächsten Sequenz, am Eingang des Kaschmirtals, bekundet Rainas Stimme, dass man hier angesichts der schönen Berglandschaften ein Gefühl von »normalcy« (siehe Kapitel 4) haben könnte, doch dann ertönen Schüsse: »my confrontation with fear has started from the exact moment when I stepped into the valley«. Nachdem ein »Sikh-Freund« von Raina ein Treffen mit ihm abgesagt hatte, weil einige Mitglieder seiner Gemeinschaft (community) getötet wurden, befinden wir uns nun in einem holzgetäfelten kaschmirischen Teehaus. Innerhalb des Teehauses führt die Kamera einen langsamen Schwenk aus, der die Vorstellung eines Ortes aufkommen lässt, in dem die Menschen vorwiegend muslimisch sind (vgl. Abb 15.). Die Einstellung der Kamera, die wir vielleicht mit dem Blick des Filmemachers identifizieren, da wir schließlich auch seinen Gedanken aus dem Off-Kommentar zuhören, fängt die stillen und intensiv blickenden Augen der Menschen im Teehaus ein. Rainas Stimme erklärt dazu: »I had to take a risk to really understand to face up to fear, the fear and apprehension I feel for my unit, my Sikh friend and for myself now is the same kind of fear that drew us out then [...]. I’m back to unravel the sinister workings of fear [...]. I do not know what exactly I’ll be looking for or what I’ll find.«

Für ein Verständnis von Rainas Film spielt die Emotion Angst eine entscheidende Rolle. Der Filmemacher Sanjay Kak, der sich selbst nicht als Mitglied einer Panditgemeinschaft identifiziert, bezeichnet gerade diese Angst vor muslimischen Fundamentalisten als einen »historiographischen Engpass des Exildiskurses« vieler kaschmirischer Pandits.25 Ich werde jedoch weiter unten zeigen, dass ein rein negatives Verständnis der ideologischen Funktion von Angst hier nicht ausreicht, um Rainas Stimme und seine Praxis in Bezug auf die Aushandlung des ethischen Raums zu kontextualisieren.

25 Gespräch mit Sanjay Kak in Neu-Delhi am 06.11.2013.

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Abbildung 15: Sequenz im Teehaus.

»Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (Raina, 2001). Im Folgenden wird diese Angst durch umstrittene Sequenzen des Films »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown«, in denen Raina auf seiner Reise kaschmirischen Bekannten begegnet, näher beleuchtet. Der Schwerpunkt der Diskussion liegt auf der Auseinandersetzung mit der Form des autobiographischen Exilfilms und den – aus dem Exildiskurs kaschmirischer Pandits resultierenden – Paradoxien, die in der Aushandlung eines ethischen Raums des Films zum Vorschein kommen.

Eine Ethik der Begegnung im Dokumentarfilm Es wurde gezeigt, dass Überlegungen zu einer Dokumentarfilmethik in Produktionsdiskursen und Zuschauerreaktionen sowie in filmtheoretischen Überlegungen oft im Zeichen der Indexikalität des Dokumentarfilmbildes stehen, also der maschinellen Aufzeichnung eines materiellen Referenten und den daraus resultierenden Verantwortlichkeiten. Im Zusammenhang mit digitalen Dokumentarfilmpraktiken in China erkennen Berry und Rofel (2010, 9) im digitalen Film neue Möglichkeiten, in ein spontanes, teils ethnographisches Verhältnis zur Realität zu treten. Das kann als Fortführung der vormals mit der technologischen Entwicklung der mit 16mm-Filmen verbundenen Praktiken des amerikanischen direct cinema und des französi-

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schen cinéma vérité gesehen werden (Renov 2004).26 Debatten zur Ontologie des digitalen Bildes sind für die meisten unabhängigen Filmemacher_innen von eher geringem Interesse.27 Vielmehr interessieren sie sich für die größere Zugänglichkeit des neuen Mediums, die geringe Größe und das geringe Gewicht der Kameras, die günstige nicht-lineare Schnittsoftware etc. In anderen Worten, für die filmische Praxis meist entscheidend ist »nicht die grundsätzliche Manipulierbarkeit des digitalen Codes, sondern die Tatsache, dass die unmittelbare Verfügbarkeit dieses Codes eine Dezentralisierung der Postproduktion ermöglicht« (Förster 2011, 420). »Tell Them...« war der erste Film Rainas im digitalen DV-Format, der von nur zwei Crewmitgliedern, Raina und dem Kameramann Tanmay Aggarval, innerhalb von zwei Wochen auf insgesamt etwa vierzig Stunden Originalmaterial gefilmt wurde. Nur durch die technologischen Neuerungen des digitalen Films war unter solchen Bedingungen – Angst, minimale Finanzierung, Zweimanncrew – ein Film mit so viel hochwertigem Originalmaterial überhaupt möglich. Ajay Raina antwortete mir auf die Frage, ob er eine spezifische formale Technik benutzte, um seine Exilerinnerungen im Film darzustellen, indem er auf den Cinéma-vérité-Stil verweist: »[I]t was very basic cinéma vérité. It is about homecoming, it is about exile [...]. See, it was supposed to be a very different kind of film, you know. Much more thoughtful, much more planned. Much more formally cinematic. But when the film actually happened, the film was dictated by my situation here, my situation of fear that I could not place my camera firmly on the ground anywhere for a longer duration. So when the camera is mostly handheld and you are scared to be at one place for a longer time. So those things have dictated the film. You know, the camera be-

26 Im indischen Kontext muss vor allem die Bedeutung von Videotechnologie betont werden, die es Filmemacher_innen ermöglichte, durch verkleinerte Filmcrews und Ausstattung unaufdringlichere und informellere Zugänge zu den Subjekten der Filme aufzunehmen (Jayasankar und Monteiro 2016, 34). 27 Die Filmemacher_innen, die in der vorliegenden Dissertation thematisiert werden, haben sich kaum für Fragen der »digitalen Manipulierbarkeit« interessiert. Dies entspricht ebenfalls der chinesischen Szene (Berry et al. 2010; Förster 2011). Im Übrigen hat Gaut (2010) in Hinblick auf die Debatten zur Ontologie des digitalen Bilds aufgezeigt, dass auch digitale Filme sich durch Indexikalität auszeichnen. Das kausale Verhältnis zwischen Referent und Bild ist nicht unterbrochen, sondern kommt nur anders zustande (nicht mehr chemisch, wie zuvor, sondern durch Lichtsensoren, die den Eingang digital codieren).

250 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT came a really a recording instrument. There was no formal decision that I must take a shot like this. It was just off the cuff, it was just a record and there is a character. So the camera is just following one character and what he does.«

Diese Off-the-cuff-Vorgehensweise kann mithilfe von Vivian Sobchacks Überlegungen zum ethischen Raum des Dokumentarfilms weiter entfaltet werden. Ich möchte hier nahelegen, dass in einer offenen Cinéma-véritéForm die Gestaltungskontrolle des Filmemachers sowohl durch die profilmischen Begegnungen als auch die Reaktion der Rezipient_innen auf diese Begegnungen herausgefordert wird. Dies geschieht in »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« über die Aushandlung der Bedeutung bestimmter Szenen, die während Diskussionen nach den Filmvorführungen ethische Fragen im Publikum aufwarfen. Es ist hier – um wieder auf Rainas Bemerkung zu verweisen – entscheidend, wie die Kamera dem Charakter des Filmemachers folgt, was sie dabei zeigt und wie die Zuschauer_innen darauf eingehen. Raina präsentiert seine Rückkehr aus dem Exil als eine Reise, in der es immer wieder zu Begegnungen mit alten Bekannten, Freund_innen und ehemaligen Nachbar_innen kommt. Die narrative Form des Reisefilms im Stile des cinéma vérité schafft einen Raum für Begegnungen. Diese Präsentationsform des Films lässt die ethische Frage aufkommen, wie Filmemacher_innen und filmische Subjekte im pro-filmischen Raum des Dokumentarfilms als Referenten der Einstellung inszeniert werden. Hamid Naficy verweist in seiner Arbeit über den »akzentuierten Exil- und Diasporafilm« (Naficy 2001) auf die körperliche und spirituelle Ebene einer dislokativen Erfahrung, die oft durch eine »taktile Optik« (ebd. 28) wiedergegeben wird. Eine taktile Optik kann bspw. durch die relationale Nähe der Kameraeinstellung oder ihre situative Einbezogenheit evoziert werden. Gleichzeitig wird für viele exilische Filmemacher_innen das verlorene Heimatland zum Fetisch und rückt so in eine nostalgische Ferne: »[...] they memorialize the homeland by fetishisizing it in the form of cathected sounds, images, and chronotopes that are circulated intertextually in exilic popular culture, including in films and music videos« (Naficy 2001, 12).

Der ethische Raum von Rainas kaschmirbezogenen Filmen ist ebenfalls von einer taktilen Optik geprägt, aber sie öffnet sich in einem viel weiteren Maß gegenüber dem pro-filmischen Anderen als in den von Naficy beschriebenen, das verlorene Heimatland fetischisierenden exilischen Spiel-

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filmen. Dies geschieht gelegentlich aufgrund der taktil-gefilmten Bewegungen des Filmemachers: Während die Kamera ihm auf Schritt und Tritt folgt, subjektiviert sie den filmischen Raum. Wie oft in digitalen Filmprojekten, bei denen aufgrund günstiger Technologie weniger Planungsdruck besteht, entstand auch dieser Film vor allem im Schnitt. Dadurch ist es hilfreich, die Spontanität der Aufnahmen – ihre teilweise wilde Realität – mit der Ruhe von Rainas Stimme zu kontrastieren. Dieser konnte die intensiven Erfahrungen und Aufnahmen der zwei Wochen monatelang überdenken, um einen hoch komplexen, emotional bewegenden Film zu schneiden. Mein Argument ist, dass Rainas Film durch die Ambivalenzen der Form einer persönlichen Reise – deren Authentizität vorwiegend durch die Subjektivität des Filmemachers, seiner Erzählerstimme und Anwesenheit in den Einstellungen garantiert wird – in seiner allegorischen Dimension eine sedimentierte Pandit-Exilnarration wiederholt, die der Vérité-Stil nur ungenügend verbürgt. Die formale Umsetzung des Topos der Angst beschreibt Gefühlsstrukturen des Exils allerdings auf eine sehr verletzliche Art, da die Aussagen Rainas oft von der audiovisuellen Evidenz der filmischen Einstellungen unterlaufen werden. Dies soll an zwei Sequenzen expliziert werden.

Ein Besuch bei dem Hausangestellten In einer Vorführung des Films in dem Festival »Kashmir Before Our Eyes« in Mumbai (01.05.2013) wurde Raina von einem jungen Mann aus dem Publikum auf eine Szene angesprochen, die mir gegenüber auch von anderen südasiatischen Rezipient_innen, die sich an den Film aus vormaligen Vorführungen erinnerten, mit ähnlicher Kritik genannt wurde. Es ist der Besuch Rainas in dem Dorf seiner Vorfahren, Sirnoo, im Pulwama-Distrikt. Raina wurde dorthin von einem befreundeten Journalisten und dem Kameramann Tanmay begleitet.

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Abbildung 16: Besuch bei dem Hausangestellten.

»Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (Raina, 2001). Zu Beginn der Sequenz sehen wir Raina, wie er sich auf der Dorfstraße mit dem ehemaligen Hausangestellten (retainer), Rahman, unterhält, der ihn in sein Haus eingeladen hat. Dort erfährt Raina, dass Rahmans Familie seiner eigenen sehr nahestand und dass Rahman seine Brüder mit aufgezogen hatten. Auf Rainas Frage, ob er das Tal gelegentlich verlassen würde, bekundet Rahman auf Kashmiri: »ich hatte Angst, weil ich nicht weiß, wie es hier weitergeht«. Die Kamera zeigt dabei das Haus als klaustrophobischen Raum. Von der düsteren Ecke der Treppe her sehen wir Raina, wie er dem ehemaligen Hausangestellten seiner Familie Fragen stellt (vgl. Abb. 16). In der umfangreichen Literatur kaschmirischer Pandits werden Klassenbeziehungen zumeist ausgespart oder durch ein zeitloses Ideal einer harmonischegalitäreren kaschmirischen (Pandit-)Gesellschaft transzendiert, in der außer Pandits keine anderen Hindukasten in Erscheinung treten.28 In dieser Szene scheint sich eine interreligiöse Gemeinsamkeit in dem Dialog über die Angst, im Tal zu leben und die Angst vor der Rückkehr aus dem Exil herzustellen. Die Frage nach dem Klassenverhältnis des ehemaligen PanditHerren und seines Hausdieners bleibt dabei unausgesprochen: A.R.: »Jaum waum chukh nā tarān?« (»Gehst du nicht nach Jammu?«) Rahman: »Be chus khozāniy. Dapān chus khabar chā kyah dalīlah rozi?« (»Ich habe Angst, wer weiß schon, was passiert?«) A.R.: (unterbricht): »Yeti kyah halāt chi?« (»Wie läuft es hier?«)

28 Dieser Diskurs wird auch von kaschmirischen Muslimen – insbesondere aus der Oberschicht – vertreten. Obgleich das Kaschmirtal relational gesehen weniger kastendifferenziert ist als bspw. die Ganges-Ebene, bestehen Klassengegensätze und eine breite Palette an gesellschaftlichen Konflikten zwischen Kasten und Sufi-Bruderschaften. Die Analyse dieser Dynamiken, auch zugunsten eines besseren Verständnisses des Konflikts, bleibt bislang ein Forschungsdesiderat.

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Rahman: »Thīk chu.« (»Alles ist ok.«) A.R.: »Thīk chā?« (»Wirklich?«) Rahman: »Halāt thīk chi. Parvāi chune kenh.« (»Es ist alles in Ordnung. Es gibt hier keinen Grund zur Sorge.«) A.R.: »Go hālāt chu thīkhi...? Khūz khūziy ās be tiy?« (»Ist es wirklich ok hier...? – ich mache mir schon ein paar Sorgen.«) Rahman: »Tse chukh zyādiy khozān.« (»Du machst dir zu viele Sorgen.«)

Als ich Rainas Film einem kaschmirischen Bekannten aus dem PulwamaDistrict zeigte, sagte er mir, dass ihn an der Sequenz am meisten wunderte, dass Raina viel Zeit gehabt haben muss, das voice-over in der Ruhe seiner Wohnung außerhalb des Tals zu überdenken – ohne die in der Situation vermutlich empfundene Angst. Für ihn überkreuzen sich hier zwei Zeitlichkeiten in paradoxer Weise. Zum einen ist dort die reflexive Spur der Autorenstimme, aufgenommen in einem Studio fernab der empfundenen Gefahr und gleichzeitig die durch den Vérité-Stil beglaubigte pro-filmische Gegenwart des Geschehens. Weiter unten werde ich jedoch auf diese Zeitlichkeiten ein weiteres Mal zu sprechen kommen, um ihren scheinbaren Widerspruch als mögliches Resultat einer für die Erzählstimme des Selbst schwer rekonstruierbaren, verkörperten Erinnerung zu deuten. Doch nähern wir uns erst einmal der Frage, was die durch Erinnerungen beglaubigte Gegenwart des filmischen Zeugnisses in der Form des cinéma verité eigentlich sein soll. Als Waugh (2011) über die Besonderheiten des »direct cinema« in Indien berichtete, betonte er, dass »[…] in addition to the democratic potential of multiple-directional communication, direct cinema counters the centralizing and bureaucratic effect of the Films Division voice-over with the program of regional cultural autonomy symbolized by the state languages and their countless dialects« (Waugh 2011, 255).

Bei Raina werden die vielen Stimmen stets über die persönliche Stimme des Filmemachers dialogisiert – authentifiziert durch seine Verlusterfahrung. Obgleich filmgeschichtlich erhebliche Unterschiede zwischen dem amerikanischen direct cinema und dem französischen cinéma vérité bestehen (Winston 2008), werden beide Begriffe im indischen Kontext oft synonym verwendet. Es ist dabei vor allem ein beobachtender Stil gemeint, der seit den 1960er Jahren durch kleinere, handgehaltene 16mm-Filmkameras möglich wurde. Ich denke jedoch, dass im Falle des Filmdozenten Raina die Bedeutung des Begriffs vérité, wie sie von Jean Rouch, einem der be-

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kanntesten Vérité-Filmemacher, vertreten wird, impliziert war. Sie kann auch zur Analyse seines Film herangezogen werden: »Cinéma vérité authorized the director to initiate characteristic events and to probe for what Rouch called privileged moments rather than passively await them« (Rabiger 2004, 28). Rabiger führt zum partizipatorischen Charakter dieser stilistisch verbürgten Wahrheit weiter aus: »By acknowledging documentary as a collaboration with participants, rather than an objective observation of them, the directors of participatory cinema could now catalyze or even provoke events, and probe for truth rather than simply await its appearance. Rouch particularly prized the »privileged moments« when a human truth emerges plainly and miraculously like an egg from a chicken« (Rabiger 2014, 52).

Die zweite zu analysierende Sequenz schließt an den obigen Hausbesuch an und ist unter vielen Zuschauer_innen nicht zuletzt aufgrund der prekären Mischung aus Beobachtung und Provokation umstritten. Raina ist auf dem Dorfplatz von Sirnoo von ehemaligen Nachbar_innen umringt. Die Kamera bewegt sich nervös in einem äußeren Kreis um die Menschen herum, die auf Raina gastfreundlich einreden. Sie fragen, ob er noch ein Glas Tee möchte und ob er bald wiederkommen würde. Sie bitten ihn Grüße an den Onkel und die Großmutter auszurichten. Während die Kamerabewegungen eine klaustrophobische Stimmung evoziert, kommentiert Rainas voice-over: »I didn’t really feel safe here, with the crowd of people around us... I promised Rahman, I would be back soon, but then I did not believe in it myself. At the time of leaving, when I asked Rahman if he had any message for my grandmother in Jammu and for my parents he said: «Tell them the tree they have planted has now grown«.«

Der kreisende Blick der handgehaltenen Kamera verlangsamt sich vor Ende der Szene und ein Junge aus der Gruppe schaut direkt in das Objektiv (vgl. Abb. 17). Ich betrachte diesen Blick als die Antinomie der von Raina verwendeten Vérité-Form: Die Offenheit von Rainas Einladung zur gemeinsamen Aushandlung des ethischen Raums (der Blick lädt uns ein) und das gleichzeitige othering des muslimischen Kashmiri in dem Bild einer »gefährlichen Öffentlichkeit«, das bereits durch einige Hindi-Filme geistert (siehe Kapitel 4).

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Abbildung 17: Auf dem Dorfplatz von Sirnoo.

»Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« (Raina, 2001). Ein junger Mann aus der Zuschauerschaft von dem von Raina mitorganisierten Filmfestival »Kashmir Before Our Eyes« hat Raina während der Filmbesprechung gefragt, warum er denn solche Angst vor Menschen hat, die nur freundlich auf ihn zukommen. Raina kontextualisierte diese Bemerkung im Gespräch mit mir vor dem Hintergrund seiner exilbedingten Skepsis gegenüber den Intentionen der ehemaligen Nachbar_innen: »At that point, and also somebody in the Bombay audience pointed to this, you know, you have shown that the people are nice and good to you and yet you say, that people did not repent. But that was the feeling I had, people were nice but off camera, people would debate with me and ask what were the reasons you left. And they said you went because of Jagmohan. They didn’t realize that I had come on my own back to Kashmir, to be with them. I had taken a risk to be back.«

29

Diese Position scheint mit der Vorstellung zusammenzuhängen, dass ein friedliches Miteinander bereits verloren ist. In der letzten Sequenz des Films unterrichtet uns Rainas voice-over-Stimme darüber, dass die Bäume,

29 Gespräch mit Ajay Raina am 15.10.2013 in Srinagar.

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die seine Eltern vor ihrem Haus in Srinagar gepflanzt hatten, entwurzelt seien oder gestorben sind. Die vom Titel des Films suggerierte Hoffnung auf Versöhnung wird negiert. Viele Menschen, die sich zur Gruppe der Kashmiri Pandits zählen und mit denen ich während der Feldforschung sprach, äußerten sich ähnlich gegenüber dem Konzept »Kashmiriyat«, das zumeist nostalgisch als etwas Verlorenes aufgefasst wird. In einem Gespräch mit Ajay Raina in Srinagar30 erwähnte ich, dass einige Filme, darunter auch seine eigenen Filme zu Kaschmir, die Begriffe Säkularismus und Kashmiriyat im voice-overKommentar thematisieren. Ich sprach ihn auf das Festivalprogramm von KBOE an und nannte fälschlicherweise den Begriff »Ethik der Koexistenz« als Festivalkategorie für »Tell them...«. Raina korrigierte meine Aussage: A.R.: So in the festival the film was screened under »Exile« and »Displacement«. I don’t use the word secularism or kashmiriyat. I have not used it in this festival. The key words are: »what is the nationalist discourse on Kashmir?«, »what has the rest of India been saying about Kashmir?« and »what was the pre-1990 idea of Kashmir?«. And I call it »paradise«. One of the first things that happened when incidence started here was »exile« and »displacement« of the entire minority community. And then I also wanted to talk about the yearning for freedom. The movement and the sentiment around it has been articulated. And it has also displaced and marginalized a lot of things. For example what happened to the arts in Kashmir. And what has happened to the other »non-Kashmiri-Kashmiris« who were not part of the movement. But the idea of secularism, I don’t talk about in the festival. It comes from the films themselves... what happened to secularism. But it is not a section. M.K.: It comes from the films but it somehow links up the question of exile. Because it seems to be some kind of answer [to that]. More than ten years have gone by since you did the first film. The situation has changed. Let’s start with the closure of your films. There is a citation of Nund Reshi. You are evoking kashmiriyat and secularism in various places through the narrator’s voice but also through the imagery. A.R.: Still I don’t use the word Kashmiriyat, even though I have used it in the film. It is the influence of Kashmir, it is the way Kashmir was. It is what has been lost in Kashmir, the kind of sharing that was there. The coexistence of two different faiths, although of the same people. So it is more about what has been lost in terms of a coexistence idea. I think that the uppermost point of that was Lal-Ded and Nund-Reshi

30 Gespräch mit Ajay Raina am 15.10.2013 in Srinagar.

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when I speak about them. Since then when I came back home in early 2000 you see everything destroyed. There is a sense of loss. It is not really about defining Kashmiriyat as coexistence. It is talking more about what has been lost.31

Dieser paralysierende Diskurs des Verlusts schafft möglicherweise keinen gemeinsamen Raum gegenseitiger Anerkennung der Trauernden, sondern zeigt die Widersprüche einer Exilartikulation auf. Die Diskurse des Exils der kaschmirischen Pandits sollen daher im nächsten Abschnitt historisch kontextualisiert werden. Die Artikulation von Angst in Exildiskursen kaschmirischer Pandits Im weiteren Bereich kultureller Artikulationen von Menschen, die sich nach 1989 als kaschmirische Pandits positionieren, stehen Rainas Filme im deutlichen Gegensatz zu relativ sichtbaren Positionen, die durch HindutvaFilmemacher Ashok Pandit32, dem Hindi-Film-Schauspieler Anupam Kher33 und dem Journalisten Rahul Pandita34 vertreten werden. Mediendiskurse zum Pandit-Exil – oft auch als »Exil im eigenen Land« bezeichnet – werden von den letztgenannten durch einen nativistischen, islamophoben Opferdiskurs artikuliert, der in die hindu-nationalistische Ideologie eingebettet ist und durch die Verwendung des Begriffs »Pandit-Exodus« ein transnationales Imaginäres eröffnet (siehe Duschinski 2007; Rai 2011). Rainas Filme erkunden dagegen die Möglichkeiten einer ethischen Begegnung und Versöhnung zwischen kaschmirischen Pandits und der muslimischen Bevölkerung des Tals. Dennoch konvergiert Rainas Perspektive 31 Gespräch mit Ajay Raina am 15.10.2013 in Srinagar. 32 Ashok Pandit sitzt nach der Regierungsübernahme der hindu-nationalistischen BJP im Komitee der Zensurbehörde. Er selbst hat einige Dokumentarfilme und Spielfilme produziert, die als hindu-nationalistische Agitprop angesehen werden können. 33 Anupam Kher – selbst weder im Kaschmirtal geboren noch Opfer der Vertreibung – ist seit der Machtübernahme der BJP im Jahr 2013 durch eine Vielzahl von Agitationen im Namen der Kashmiri-Pandits sichtbar geworden. 34 Rahul Pandita ist der Autor der autobiographischen Pandit-Exilerzählung »Our Moon has Blood Clots« (2013). Das in Random House India veröffentlichte Buch gehört mit Basharat Peers »Curfewed Night« (2011) zu den am stärksten verbreiteten englischsprachigen Publikationen über den Konflikt.

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auf den Konflikt mit einer Artikulation von Angst, die in Zeugenberichten (Bose 1997) und meinen eigenen Konversationen mit Pandits immer wieder aufkam. Diese Angst wurde im Exildiskurs seit 1990 artikuliert und sie findet sich in einer Reihe kürzlich veröffentlichter Romane, Dokumentarfilme, Spielfilme, Autobiographien und Online-Dokumentationen über das Los der Pandits wieder (Gigoo und Varma 2016, Gigoo 2014, 2010; Pandita 2013; Pandit 2004). Diese Angst wurde zu Jahresbeginn 1990 durch gezielte Angriffe auf einflussreiche Mitglieder der Gemeinschaft angestachelt (Bose 1997, 74). Die Angriffe prägten sich der kollektiven Erinnerung zusammen mit der Tonspur der Slogans »Allah-u-akbar« und »Ham kyā cāh’te? Nizām-e-mustafā!« (»Was wollen wir? Die Ordnung des Propheten!«) ein. Pandits, die keine Angehörigen außerhalb des Tals hatten, wurden in notdürftigen Flüchtlingssiedlungen vorwiegend in Jammu und SüdDelhi untergebracht. Viele mussten jahrelang in den behelfsmäßigen Unterkünften bleiben; sie betonen die anhaltende Bedrohungslage im Tal, die sie heute noch an der Rückkehr hindere. Zu dieser Imagination passt, dass etliche Gesprächspartner unter den Kashmiri Pandits – darunter auch Raina35 – mir gegenüber erwähnten, »die Juden Kaschmirs« zu sein. Diese problematische Selbstzuschreibung wird auch gestützt durch einen pseudo-wissenschaftlichen Diskurs, in dem Kashmiris als verlorener Stamm Israels und »die kaschmirische Nase« als phrenologischer Beweis dieser Siedlungsgeschichte firmieren soll (siehe z.B. Kersten 1998; Bhandari 2006; Hasnain 2011). Auffallend sind hier die Konvergenzen zwischen Rainas Aussage, den Online-Repräsentationen von politischen Pandit-Organisationen und den Beobachtungen Rohit Chopras (2006) zu Dalit- und hindu-nationalistischen Online-Artikulationen. Chopra stellt dar, wie Menschenrechts- und Genoziddiskurse in Südasien den Mitgliedern politisch sehr unterschiedlicher Gemeinschaften als argumentative Ressource zur Verfügung stehen. Die globalen Konnotationen von Begriffen wie Genozid und Exodus verweisen mit Nachdruck auf das Problem der Darstellung von Geschichte im Film und die Mittel ihrer Legitimation. Die Ethnologin Haley Duschinski (2007) zeigt, wie Kaschmirs Pandits insbesondere von Akteuren, die der Sangh Parivar36 nahestehen, nach ihrer

35 Gespräch Ajay Raina in Srinagar am 15.10.2013. 36 Sangh Parivar ist der Name für einen Verbund von hindu-rechten Organisationen und Parteien. Sie wurde von Mitgliedern des Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS; Nationaler Freiwilligendienst) gegründet und beinhaltet als politi-

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Dislokation aufgefangen wurden. Dies trug zum Vokabular späterer nativistischer und islamophober Artikulationen bei: »By seeking to protect Kashmiri Hindus and reclaim the Kashmir Valley on their behalf, Hindu nationalist parties enhanced their image as the protectors of »positive secularism« as opposed to what they termed the »pseudo-secularism« of their opponents, and strengthened their position as the defenders of national boundaries and national interests in India« (ebd. 94).

Bei einer Betrachtung, die auf die Opferrolle der Minderheit fokussiert bleibt, muss stets ausgeblendet werden, dass der indische Staat über die ausführlich dokumentierte Methode »Gewalt plus Zeit« die kaschmirische Bewegung der frühen 1990er Jahre »erfolgreich« gebrochen hat (Bose 1997) und momentan dabei ist, die weitgehend friedlichen Proteste seit 2010 gewaltsam zu bekämpfen und diese dadurch zu remilitarisieren. Für viele Menschen, die sich zur Gruppe der kaschmirischen Pandits zählen, bleibt das »Kashmir problem« jedoch vorwiegend religiös codiert, während die Legitimität des indischen Anspruchs auf das Territorium nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Aber wie ich oben ausführte, wird diese erinnerungspolitische Dimension durch die Form des Films bereits hinterfragt. Ich bezog diese bislang auf Widersprüche zwischen der Erzählstimme, die einen identitären Exildiskurs artikuliert und der Offenheit des cinéma verité. Aber die Anerkennung, die der Film von vielen Menschen erhielt,37 könnte auch auf Resonanzen jenseits erinnerungspolitischer Diskurse hindeuten, denen nachzugehen sich lohnt. Im nächsten Unterabschnitt argumentiere ich, dass die Erfahrungen mit Ausgrenzung im Kaschmirtal sowie die Schwierigkeit, sich in einer polemisch geführten Debatte zum Pandit-Exil zu bewegen, um die Erinnerungen durch eine persönliche Stimme zu beglaubigen, zu der Komplexität des Films als »verkörperte Erinnerung« beitragen.

sche Partei die gegenwärtig (2016) regierende Bharatiya Janata Party (BJP; Indische Volkspartei). 37 Diese lässt sich nicht nur an dem gewonnen Filmpreis festmachen, sondern an vielen Anfragen an Raina, den Film zu zeigen, sowie etlichen positiven journalistischen Filmbesprechungen.

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V ERKÖRPERTE E RINNERUNG Wie ist die Metapher der »verkörperten Erinnerung« im Zusammenhang von Rainas Film-Form und den inhaltlichen Aushandlungen des filmischen Zeugnisses unter den Tropen »Trauma« und »Angst« zu verstehen? Die verité-Sequenzen sind schließlich nicht einfach der ideologische Ausdruck einer Angst oder gar eines Traumas, die als Versatzstücke für Identitätsnarrative bereits vorliegen. Vielmehr entspringen sie einer Exilerfahrung und haben eine existentielle Verbindung zu der einst erlebten Dislokation des Filmemachers. Angst wird oft als regressive, wenngleich evolutionär notwendige Emotion betrachtet (Jensen 2017). Als unbewusste Spur im Film kann sich die einstmals – oder immer noch – empfundene Angst in Leerstellen und Widersprüchen eines »nicht rekonstruierbaren Selbst« (Vasallo 2008, 191) manifestieren. Unter verkörperter Erinnerung versteht Michael Humphrey (2002, 143), dass Menschen, die gewalttätige Konflikte überleben, oft von privaten Erinnerungen ihrer Vergangenheit heimgesucht werden, die sich nicht in eine öffentliche Erinnerung assimilieren lassen: »Consequently, their experience cannot be commemorated, preventing them from reconstructing the self through narration. Instead, the mnemonic of violence leaves the mark of repression buried in the individual; through terror and trauma the victim is silenced.« (Humphrey 2002: 144)

Aus diesem Grund ist es schwierig, die zwei oben angesprochenen Temporalitäten des Schnittraums und des Filmens in Kaschmir schlicht als eine Frage situativer Einbezogenheit und rückwirkender ideologischer Überzeichnung zu begreifen. Andererseits scheint es auf den ersten Blick schwer, hier davon zu reden, dass ein preisgekrönter Filmemacher wie Raina seiner Stimme oft enthoben sei. Dies ist jedoch sein eigener Eindruck, nicht nur in der Auseinandersetzung mit vielen Jugendlichen aus dem Kaschmirtal, die ihm durch ein verbreitetes Stereotyp (vgl. Datta 2017) über Kashmiri Pandits vorwerfen, »zu ängstlich« zu sein. Auch in Bezug auf die oben erwähnte Panditexilnarration sieht er seinen Film als falsch wahrgenommen. Er musste sich zum Beispiel bemühen, den Film nicht von der hindunationalistischen und nativistischen Gruppen38 vereinnahmen zu lassen.39

38 Unter diesen Gruppen ist insbesondere »Panun Kashmir« (dt. »Unser Kaschmir«) zu nennen. Die Organisation von Exil-Pandits möchte einen großen Teil

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Die Position Rainas zwischen einer unabhängigen, links-liberalen Filmpraxis, staatlichen Akteuren, kaschmirischen Rezipient_innen und hindunationalistischen sowie nativistischen Organisationen kaschmirischer Pandits zeigt ethische Dilemmata auf. Beispielsweise empörte sich Raina über rezente Entwicklungen des Hindu-Nationalismus in Indien und gab 2015 zusammen mit anderen Filmemacher_innen in einer Protestaktion den nationalen Filmpreis zurück, den er für »Wapsi« erhielt. In einem jüngst publizierten Kommentar (Raina 2016) setzt er sich kritisch mit einer seit kurzem relativ lauten Stimme im Pandit-Exildiskurs auseinander. Diese Stimme gehört dem Hindi-Filmstar Anupam Kher, der zunehmend als Repräsentant der Kashmiri-Pandits in indischen Medien auftritt. Raina äußert sich darüber in einem vor kurzem veröffentlichten Onlineartikel: »Speaking specifically about the Pandits, after their exodus in 1990, this selfprofessed learned and intelligent community, had two choices to make. They could either cast themselves, in communal terms, as the eternal victims of ancient hatred from days of our mythologised past, and see their present predicament as part of the continuous processes of persecutions, resulting from an aggressive Islamisation process of Kashmir initiated by its first Muslim rulers that culminated in their eighth exodus from the valley [nach Raina ist dies die Position von Kher, MK]. Or, they could see their present predicament, in secularly equalising terms, as the victims of the after-life of Partition that affected and continues to affect the Hindu, Muslim, Sikh and Bengalis in diverse ways across India and Pakistan, as in 1947. The choice they made, as demonstrated by their narratives of various exoduses since Islamisation of Kashmir et al, and the gifting away of their story to the Hindu-Nationalist Bharatiya Janata Party makes them stand irrevocably on the communal path« (ebd.).

Die oben vorgenommene Analyse der Medialisierung einiger Filmsequenzen lässt an dieser Stelle Zweifel aufkommen, ob die Intention Rainas, in den Dialog mit jungen Menschen aus dem Kaschmirtal zu treten, auf der Grundlage dieser »zwei Optionen« umzusetzen sei. Beide Positionen identifizieren sich schließlich mit dem indischen Nationalstaat in bereits bekannten Narrativen, wobei die »säkulare« Artikulation hier ebenfalls die

des Tals in ein Heimatland für Pandits unter indischem Union Territory-Status verwandeln, in dem die virtuellen – da historisch nie realisierten – Autonomierechte des Bundesstaates Jammu und Kaschmir aus dem Artikel 370 der Indischen Verfassung nicht gelten sollen. 39 Gespräch in Bombay/Mumbai am 31.04.2013.

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spezifische Geschichte von Kaschmirs Verhältnis zum indischen Staat über einen Bezug zur Einordnung des historischen Moments der indischen Teilung als »religiöse Konflikte« transzendiert. Dass dies eine höchst problematische Darstellung ist, wurde vielfach nachgewiesen: die Motivationen, die zur Teilung des Subkontinents führten, sind nicht auf die religiös legitimierte »Zwei Nationen Theorie« oder gar auf »religiös motivierte Gewalt« reduzierbar. Rainas Verwendung der Trope »the unfinished business of partition« steht folglich einem historisch komplexeren Verständnis der Dynamiken eher im Weg, als dass sie die Zeit um 1990 oder die gegenwärtige Konfliktlage erklären könne. Doch wäre es zu übereilt, die durch den Titel evozierte Hoffnung zum Ende des Films – also in der für eine politische Einordnung der Erzählung so wichtigen Rahmensequenz, die den Rezipient_innen oft in Erinnerung bleibt – in dem verdorrten Zweig als begraben zu betrachten. Ist nicht dieser Letzte von vielen Brüchen im Film signifikant für den Film als Ganzen? Er ist vielleicht mehr noch als durch die versprachlichte Angst durch eine verkörperte Angst geprägt, die möglicherweise an der breiten positiven Resonanz Rainas Films bei vielen Zuschauer_innen teilhat und das Persönliche davor bewahrt, in eine lineare, einfach anschlussfähige Narrative übersetzt zu werden. Es muss hier abschließend hervorgehoben werden, dass in der Zeit der hindunationalistischen Regierung Narendra Modis, in der säkulare Positionen zunehmend unter Druck geraten, Raina sich öffentlich entschieden gegen eine hindunationalistische Aneignung seiner Filme wehrt und auch seinen National Film Award aus Protest zurückgab. Dabei artikuliert er seine Filmpraxis – im Gegensatz zu Sanjay Kak, dessen Familie ebenfalls zu den Pandits gehört – von innerhalb einer Subjektposition des Panditexildiskurses gegen den dominanten Diskurs der Gruppe. Schließlich wird mit dem letzten Film »Apour ti Yapour« (2010) die Bewegung zu einer Position erkennbar, die über eine intensive Auseinandersetzung mit bislang wenig betrachteten Konfliktparteien an der Line of Control gerade ein dialogisches Potential enthalten kann, das dem ersten Kaschmir Film in einigen kommunikativen Situationen insbesondere bei jenen Personen, die Raina gezielt ansprechen wollte, abging.

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S ANJAY K AK : Z WISCHEN M ÄRTYRERN

UND

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Z EUGEN

»How do you find a language which is appropriate to the complexities of your own politics? And, of course, someone could see that as a simple one sided reading. But many people will see the kind of complexity that you want to suggest. [...] In a sense it is like ju-jitsu: where you don’t hit your opponent but you still disarm them. That would be the ideal form of documentary filmmaking for me« (Sanjay Kak im Gespräch mit Filmemacher_innen auf dem Festival Persistence/Resistance; New Delhi am 18.02.2014).

Der folgende Unterabschnitt beschäftigt sich damit, wie die affektgeladenen Bilder physischer Gewalt aus dem Kaschmirkonflikt von Sanjay Kak als audiovisuelles Archivmaterial aufgegriffen werden, um Subjektivitäten im ethischen Raum des Films auszuhandeln. Wenn Kak im oben zitierten Gespräch mit Vertreter_innen seiner Zunft etwas martialisch von »JuJutsu« als »don’t hit but […] disarm« spricht, ist damit die agonistische Kunst gemeint, politische Gegnerschaft beizubehalten, diese aber nicht in eine antagonistische Feindschaft zu überführen. Das agonistische Prinzip steht seit dem Film »Jashn-e-Azadi« (2007) hinter Kaks politischer Subjektivität und auch hinter seinem Umgang mit der Filmform in Bezug auf die Darstellung einer kaschmirischen Konflikterfahrung. Kak wuchs in den 1960er bis 1970er Jahren in Delhi auf und studierte dort Soziologie an der Delhi-University. Zuerst arbeitete er für das Fernsehen, wo er unter anderem für eine TV-Serie über den Ganges namens »Pradakshina« (1987) Regie führte. Den Weg in die unabhängige Dokumentarfilmpraxis verknüpft er mit dem Film »Sacrifice of Babulal Bhuiya« (1989). Dieser Film machte ihn mit dem politisch-ästhetischen Potential der Dokumentarfilmform vertraut und führte letztlich zur Entscheidung, die Anstellung beim Fernsehen aufzugeben, um selbstständig Dokumentarfilme zu produzieren.40 Seine frühen Dokumentarfilme beschäftigten sich mit einer Bandbreite von Themen, darunter die Khalistan-Bewegung in »Punjab: Doosra Adhay« (1986), dem Angkor Wat-Tempel in Kambodscha in »Angkor Remembered« (1990) sowie die indische Diaspora in England in »This Land, My Land, Eng-land« (1993) und in Südafrika »A House and a Home« (1993). Mit »One Weapon« (1997) begann Kaks Exploration indi40 Diese Angaben sind einem Videointerview mit Sanjay Kak entnommen von der Plattform Culture Unplugged (2008).

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scher repräsentativ-elektoraler Demokratie und seine Reise als dezidiert politischer Filmemacher (Sengupta 2013). Produziert von der Foundation of Universal Responsibility und Teil der Dokumentarfilmserie »India’s Quest« zur Feier des fünfzigsten Jahrestages der Unabhängigkeit Indiens beschäftigt sich Kak in »One Weapon« mit dem Wahlprozess und der Frage der Repräsentation des Willens der Bevölkerung in einem Land großer Diversität. Dieser Film stellt auch seine letzte positive Einschätzung liberalrepräsentativer Demokratie in Indien dar, von der er sich mit den folgenden, zunehmend staatskritischen und antikapitalistischen Filmen abwendete. Der Film »In the Forest Hangs a Bridge« (1999) kann für Kaks Sichtbarkeit als unabhängiger Filmemacher als Durchbruch gelten, da ihm und seinem Kameramann Ranjan Palit für die Arbeit der indische National Film Award verliehen wurde. Der Film porträtierte die kollektive Arbeit einer Adivasi-Gruppe bei dem Bau einer Bambusbrücke in geradezu betörend schönen Bildern des Dschungels und der dörflichen Kooperation. Die oft auf die Idylle des Films gerichteten Rezipient_innenkommentare motivierten Kak, in seinen nächsten Filmen auf problematischere Aspekte der indischen Gegenwart einzugehen. Der folgende Film »Words on Water« (2004) widmete sich der damals starken Narmada Bachao Andolan (NBA), einer sozialen Bewegung gegen den Bau der Narmada-Staudämme, und die Vertreibung der dortigen, vorwiegend indigenen Bevölkerung. Im Verlauf dieser Arbeit über die zivilgesellschaftlich agierende, auf den legalen Prozess fokussierende NBA bekam Kak zunehmend Zweifel, dass sich die Interessen subalterner Gruppierungen innerhalb der liberalen gesetzlichen Ordnung Indiens durchsetzen können. Ein gescheitertes Gerichtsverfahren der NBA ließ ihn an der Fähigkeit des Staats zweifeln, Interessen solcher Gruppen überhaupt akzeptieren zu können. Diese Erfahrung drückte sich in einem markanten Bruch in der politischen Stimme des Filmemachers in seinem nächsten – im Folgenden detailliert besprochenen – Film »Jashn-e-Azadi« (2007) aus. Kak betont, dass dieser Film wie sein Vorgänger thematisch genauso auf die Vorgänge im Kaschmirtal wie auf den Status indischer Demokratie als solcher bezogen sei. Die Stimme des Filmemachers scheint sich dort nicht mehr selbst als Teil der Bewegung zu artikulieren. Stattdessen werden die Forderungen der Bewegung durch eine Kommentierung des audiovisuellen Materials skeptisch in Betracht gezogen. Eine Identifizierung als »kaschmirischer Filmemacher« übernahm Kak erst im Anschluss an ein Medienereignis, an dem er direkt beteiligt war. Es war der Prozess gegen S.A.R. Geelani, einen Do-

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zenten für Arabisch an der Jamia Millia Islamia-Universität in Neu-Delhi. Geelani wurde nach den Anschlägen auf das indische Parlament im Jahr 2001 von vielen indischen Medien in Zusammenarbeit mit der Polizei fälschlicherweise als »Kopf der Terroraktion« ausgegeben (Haksar 2007). Kak nahm als Mitglied des Verteidigungskomitees an dem Gerichtsverfahren gegen Geelani teil und fertigte eine Neuübersetzung eines Telefonanrufs an, der für das Verfahren relevant war: Er diente der Anklage als wichtigstes Beweismaterial.41 Im Zuge der Verhandlungen war die Neuübersetzung des Gesprächs vom Kashmiri ins Hindi der Schlüssel zum Freispruch Geelanis. Im Anschluss an das Verfahren begab sich Kak – teilweise unter Vermittlung des Filmemachers Abir Bazaz – in das Kaschmirtal und begann den langjährigen Prozess, an dessen Ende »Jashn-e-Azadi« steht. Dieses Oszillieren zwischen innen und außen in der Repräsentationspraxis von Kak zeichnet auch seinen nächsten Film »Red Ant Dream« (2013) aus. Der Film handelt von den Kämpfen und der Kultur indigener Kommunist_innen und marxistischer Gruppen im Punjab. In diesem Film werden die ökonomische Ausgrenzung von Adivasi-Gruppen und eine Kultur des Widerstands aufgezeigt, ohne dass uns die Erzählerstimme Kaks viel Aufschluss über die Position des Filmemachers zu den Subjekten des Films gibt. Es scheint so, dass Kak in den beiden letztgenannten Filmen die Forderungen der Bewegungen als skeptisch vermittelten Vorschlag einer weiteren, nicht national adressierten Öffentlichkeit unterbreiten möchte. Kak versucht vielmehr, mit den beiden Filmen zunehmend transregionale und transnationale Imaginationen des Widerstands gegen eine kapitalistische Globalisierung und eine nationalstaatlich legitimierte Gewaltherrschaft in Kaschmir, Gujarat und Bastar42 zu schaffen.

41 Gespräch mit Sanjay Kak in Neu-Delhi am 12.04.2014. 42 Bastar ist ein Distrikt des indischen Bundesstaat Chhattisgarh, in dem vor allem die Adivasi Landbevölkerung durch wirtschaftliche und staatliche Akteure – und in geringerem Maße auch durch maoistische Gruppierungen – in einem Konflikt gefangen ist, der das Überleben von Menschen und Lebenswelten auf grundlegende Weise gefährdet (einen detaillierten Bericht über den (Bürger-)Krieg in Bastar bietet Nandini Sundar [2016]). Kaks Film »Red Ant Dream« beschreibt eine lokale Kultur des Widerstands gegen die Dynamiken neoliberaler Förderung von Bodenschätzen und staatlicher counter-insurgency, deren unverantwortbares Handeln die Zivilgesellschaft im Namen der Terrorismus- und Naxalitenbekämpfung terrorisiert (siehe Sundar 2016, 89-118).

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Seit 2007 arbeitet Kak eng mit dem Filmemacher, Hindi-Dichter und Editor Tarun Bhartiya zusammen. Die Form von Kaks letzten Filmen kann ohne Bezug zu Bhartiya nicht ausreichend kontextualisiert werden: Letzterer schnitt diese nicht nur, sondern tritt auch oft gemeinsam mit Kak in Filmvorstellungen und in Interviews als Filmteam auf. Bhartiya lebt in Shillong43 und führte neben seiner Arbeit als Editor auch bei mehreren Dokumentarfilmen Regie. Dazu zählen »When the Hens Crow« (2013) und »Darjeeling Himalayan Railway« (2010) sowie eine sechsteilige Filmreihe »Songs to Live By« (2016) über die Rolle von Liedern als Erinnerungspraxis unter sozioökonomischen Wandlungsprozessen im Nordosten Indiens. Bhartiya absolvierte ein Studium in Mass Communication an der Jamia Millia Islamia-Universität, Neu-Delhi, und arbeitete zunächst für das Nachrichtenfernsehen. Er gewann den National Film Award in Editing für seine Arbeit »In Camera« (2009). Bhartiya kooperierte mit einer Reihe namhafter indischer Dokumentarfilmmacher_innen, darunter Ranjan Palit und Vasudha Joshi. Sowohl Bhartiya als auch Kak unterhalten seit einigen Jahren enge Verbindungen zu der Filmfestivalbewegung Pratirodh ka Cinema (dt. Kino des Widerstands), die in der nordindischen Stadt Gorakhpur gegründet wurde. Diese Bewegung hilft Kak und Bhartiya, eine Öffentlichkeit in Indien für ihre letzten, unabhängig produzierten und an der Zensur vorbeigeleiteten Filme zu finden. Pratirodh ka Cinema ist eine über mehrere Städte vernetzte Filmfestivalbewegung im Norden Indiens. Sie orientiert sich politisch am Dritten Kino (Solanas und Gettino 2000) und ist inspiriert von dem Odessa Filmcollective.44 Die rasante Geschwindigkeit, in der sich die Festivalbewegung in inzwischen 14 indischen Städten ausbreiten konnte, beruht auf der Graswurzelstrategie dezentraler, transregionaler Netzwerke und einer zentralen mobilen Organisationseinheit namens The Group in Delhi. Sanjay Joshi, Hauptorganisator der Group, sieht in dem Verzicht auf »corporate sponsorship, NGO-funding und governmental support« (Joshi 2014, 7) eine Erklärung für die schnelle Ausbreitung und den Publikumserfolg der Bewegung. Diese, so Joshi, beruhe auf der gemeinsamen Arbeit von Freiwilligen. Joshi spricht davon, dass ihm für die Festivalorganisation Geld von Unternehmen und NGOs angeboten wurde. Dieses Geld würde

43 Shillong ist die Hauptstadt des Staates Meghalaya in Nordostindien. 44 Das Odessa-Kollektiv um den Filmemacher John Abraham bereiste in den 1980er Jahren mit Projektoren die Dörfer Keralas, um die lokale Filmkultur jenseits von urbanen Zentren zu beleben (Jayasankar und Monteiro 2016, 30).

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allerdings nach Auffassung von Joshi sowohl die Glaubwürdigkeit des politischen Programms als auch den Enthusiasmus der freiwilligen Mitarbeiter_innen in Mitleidenschaft ziehen. Die Group setzt daher auf lokale Filmclub-Netzwerke und schafft mit und unter ihnen neue Verknüpfungen. Einen weiteren Grund für die schnelle Ausbreitung sieht Joshi (2014) in den günstigen digitalen Projektoren, Festplatten und Filmkopien, ohne die eine mit minimalen Mitteln ausgestattete Festivalbewegung nicht möglich wäre. Im nächsten Abschnitt beschäftige ich mich mit der Materialität des Archivmaterials und seiner Darstellung in Sanjay Kaks »Jashn-e-Azadi« sowie mit der spezifischen Adresse und politischen Subjektivität, die sie für Kak und Bhartiya implizieren. Die Archivmaterialien wurden zum Gegenstand verschiedener Rezipient_innenkommentare, die sich kritisch in die Aushandlung des ethischen Raums einbringen.

A RCHIVMATERIALIEN

UND

G ESCHICHTE

»Jashn-e-Azadi« ist mit zwei Stunden und etwa zwanzig Minuten ein ausgesprochen langer Film. Kak bezeichnet ihn als ein »Kompendium des kaschmirischen Widerstands«.45 Der Film weist weder eine lineare Erzählung noch Charakterentwicklungen auf. Tatsächlich scheint die narrative Form des Kompendiums mit ihren regelmäßigen Einschüben von Montagen aus Archivmaterial die zentripetale Kraft des Films darzustellen. Die Archivmaterialien dienen als Argumente hinsichtlich der Geschichte und Gegenwart des Kaschmirkonflikts und sollen – wie Kak betont – ein »Gefühl für Azadi« erzeugen. Ich möchte nun die Eingangssequenz des Films näher betrachten. Sie lässt sich vielleicht am besten als eine Signatur der Form verstehen, da hier Elemente eingeführt werden, die im späteren Verlauf wiederholt werden. Der Kamerablick gleitet von einer Shikhara über die ruhige Oberfläche des Dal-Sees. Die Wellen des Boots verzerren eine Reihe spiegelverkehrt erscheinender Objekte. Darunter sind eine Vogelscheuche und eine Krähe, die auf einem toten Baum steht. Durch eine digitale Bildschichtung – ein Prozess, dessen visuelles Resultat in analogen Zeiten mit dem Begriff Doppelbelichtung erfasst wurde – verweben sich während der Bootsfahrt Ar45 Gespräch mit Sanjay Kak in Neu-Delhi am 12.04.2014. Folgende Angaben von Kak stammen – wenn nicht anders markiert – ebenfalls aus diesem Gespräch.

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chivmaterialien mit den Texturen des Sees. Sie flackern auf und evozieren so ein Gefühl des Zögerns ob ihrer Fähigkeit, die Oberfläche des gegenwärtigen Filmmaterials zu durchdringen. Das metonymische Gleiten beider Zeitschichten, der Vergangenheit des Archivmaterials und der Gegenwart der Bootstour, trifft auf die Präsenz der voice-over-Stimme des Filmemachers, der die Bilder skeptisch begleitet. Diese geschichteten Bilder werden von Kak und Bhartiya als Brüche und Fragmentierungen des Zeitflusses inszeniert. Gegen Ende der Anfangssequenz erscheint ein Straßenkampf, der offensichtlich aus etlichen Lagen von digital bearbeiteten Bildern zusammengesetzt wurde. In einer komplexen Textur von Rauch, Demonstrant_innen und Polizei bewegt sich ein Photojournalist scheinbar rückwärts – vielleicht durch eine Umkehrung der Filmrichtung –, bis er in der vorwärts marschierenden Gruppe protestierender Menschen verschwindet (vgl. Abb 18). Abbildung 18: Anfangssequenz.

»Jashn-e-Azadi« (Kak, 2007). Hier sehe ich eine Metapher für die politische Subjektivität Sanjay Kaks und Tarun Bhartiyas, wie ich sie in den letzten Abschnitten bereits angedeutet habe. Beide scheinen nicht im vollen Maße Teil der marschierenden Gruppe zu sein, sie adressieren nicht den/die Zuschauer_in als potentielle/n Teilnehmer_in der Demonstration. Kak und Bhartiya stehen weder innerhalb noch außerhalb der Bewegung, sondern öffnen den Raum eines (un-) möglichen Wir, das bereits im Beititel des Films angesprochen ist: »This is how we celebrate freedom«. Dieses Wir wird nicht allegorisch – wie bei Falak oder Raina – in einem Ich verborgen, sondern ständig neu evaluiert.

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Kak wurde von einem in Indien bekannten experimentellen Filmemacher hinsichtlich der »Verführungskraft« (seduction) seines Films und seines »privilegierten Sprechortes« in einer Debatte während des Persistence/Resistance-Festivals (2014) befragt. Kaks Antwort darauf bezog sich auf die Politik der Repräsentation als eine Frage filmischer Ethik: »When I say that »I’m with them« I never had any illusion that »I am them«. I’m not one of those who decided to be a political activist because I know what political activists are like and what they put on the line and how their lives are, so you are absolutely right. One is coming from a position of enormous privilege but [...] [you] 46

bring in your ethical responsibility in how you represent.«

Dieser Frage der ethischen Verantwortung für die Art der Repräsentation wende ich mich im nächsten Unterabschnitt zu.

Die Herkunft des Archivs und die Verantwortung seiner Verwendung Sanjay Kaks Film verwendet immer wieder Archivmaterial, das in den Credits dem »unknown cameraman« zugeschrieben wird. Er berichtete mir, wie das Material eines Tages in einem Karton vor seiner Tür in Srinagar auftauchte. Kak hatte zuvor etliche Journalist_innen und Kamerapersonen kontaktiert und nach Archivmaterialien aus den 1990er Jahren gefragt. Das Paket vor seiner Tür gab allerdings keine Hinweise auf seine Herkunft. Die Bänder waren extrem verschmutzt und mussten von Kaks Assistenten sorgfältig gereinigt werden. Das Material bestand größtenteils aus 8mmVideobändern und war angesichts seines Zustands wahrscheinlich etliche Jahre über in dem Karton versteckt worden. Durch diese Aufbewahrung sind die Bänder selbst von den Spuren des Konflikts gezeichnet. Kak stieß so auf eines der wenigen und schwer zugänglichen audiovisuellen Archive der 1990er Jahre.47 Die sehr unterschiedlichen Sequenzen in dem Material

46 Sanjay Kak im Gespräch mit Filmemacher_innen auf dem Festival Persistence/Resistance; New Delhi am 18.02.2014. 47 Ein anderes dieser »Archive« wurde dem israelischen Filmemacher Udi Aloni von einer durch ihn geheim gehaltenen »indischen Journalistin« angeboten. Auch sie erwähnte nicht die Umstände, unter denen sie an das Material gelangt war (Gespräch mit Udi Aloni in Berlin am 29.11.2014).

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deuten Kak zufolge darauf hin, dass es sich um einen oder mehrere Videojournalisten handelt, der oder die »freiberuflich« für alle am Konflikt beteiligten Parteien filmten: für TV-Sender, für das Militär und für die militants. Tarun Bhartiya nennt die Archivbilder »minor images«. Im Film sollen ihre digitalen Markierungen mit horizontalen TV-Streifen auf ihre Abwesenheit in der indischen Medienlandschaft jener Zeit hinweisen. Gleichzeitig appellieren sie an unsere Vorstellungskraft, diese Bilder in den frühen 1990er Jahren zu verorten.48 Obgleich die Liberalisierung des Fernsehsektors bereits unter der Regierung Rajiv Gandhis Mitte der 1980er Jahre einsetzte (Oza 2006, 15), muss die Einordnung als »minor images« hinsichtlich der Dominanz des staatlichen TV-Senders Doordarshan (DD) als damals einzige Quelle von Nachrichtenfernsehen begriffen werden, da private Sender erst in den 1990er Jahre in Indien aufkamen (Mehta 2008, 32). Während intensive Gefechte zwischen übergelaufenen Guerillas, Militär, Paramilitärs und militants ausgetragen wurden, bot DD ein konfliktabgewandtes TV-Programm, das weder in einem Bezug zum Alltag noch zum politischen Leben des Tals stand. Ich möchte hier einen etwas längeren Dialog mit Kak wiedergeben, der sich auf die Herkunft des Archivs bezieht: M.K.: The man you credited as the »unknown cameraman«, in a way he stands for the archive in its totality but [empirically] it will be two or three persons... S.K.: Definitely. [...] See, both these I’m describing to you are authorial, the work of one person who has been asked to make a propaganda video. So he goes and he shoots the rushes... But there is some more news type of stuff and there is one cameraman who is obsessed with animals. So I used one of those clips in »Jashn-eAzadi«. A cow which has its side kind of burned – just a fragment of a shot – there is house which is on fire and people are putting it out and there is a brief shot of cow which shows its burned rump to the camera. And on that tape I saw that if that guy was ever covering an encounter – people are here and the action is going on there and he always frames chicken and in the coop. And it is not a shot anybody can use, but he just wants to shoot it. Or there is a dog... That is the stuff I was actually interested in [...]. One was this guy – I wonder who would have employed him – who was always in what was called the »police control room«. The police control room was not a room but a big yard in which the trucks would come with the bodies. On this one tape –

48 Gespräch mit Sanjay Kak und Tarun Bhartiya am 15.04.2013 in Neu-Delhi.

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I’m assuming it is the same guy who takes the tapes out and takes it in, because he must have been doing other stuff – he would sometimes shoot processions in the early nineties but most of the time he was shooting in the police control room. So each of those occasions start with a shot of those trucks and terrified people going up to it to see »who is it« and then he is inside the truck and he is looking down at the floor of the truck and the people out there near the tail are looking in a scared way. And then someone will come and do a rudimentary autopsy. This goes on for – I don’t know if I’m exaggerating this in my mind now – but at least 70 times, these trips 49

made to that police control room and just the days keep changing.

Kak geht hier auf die wilde Realität des Materials ein, die ethische Fragen während der Produktion und insbesondere der späteren Archivierung aufwirft. Viele für Kak interessante Passagen fanden aus ethischen Erwägungen nicht ihren Weg in »Jashn-e-Azadi«. Kak sieht sich dem Material gegenüber mit einem Nutzungsmandat ausgestattet, dessen Verantwortung sich von künstlerischen Verwendungen abhebt. Gleichzeitig sieht Kak einen zum Teil problematischen Trend in der Schaffung offen zugänglicher digitaler Archive in Südasien.50 Er sieht in diesen Archiven zum Teil ein »Abflachen von Machtdynamiken«: »You can’t look at it [die Zugänglichkeit von Bildern in offenen Archiven; MK] as if it is compressed within the two dimensions either of photographic image or projected image. There are valleys and chasms of power in between. For example, I know that police control room material. Can you not image that being part of an art installation? And that is why I want to say: I don’t want to ever use it like that. Maybe I want to write about it. I would prevent a certain kind of use of that material.«

Die Verwendung von Archivmaterial in »Jashn-e-Azadi« kann nicht nur als formalistisches Verfahren angesehen werden. Vielmehr stellt sie eine stark kontextualisierte Verfremdung innerhalb der Form einer »politischen Mimesis« (Gaines 1999) dar. Als »politische Mimesis« begreift die Filmwissenschaftlerin Jane Gaines eine Filmform, die das Publikum weder didak-

49 Gespräch mit Sanjay Kak am 20.04.2014 in Neu-Delhi. Die folgenden Zitate beziehen sich, wenn nicht anders markiert, ebenfalls auf dieses Gespräch. 50 In einigen Archivprojekten wie PadMa von Machlis, Bombay/Mumbai, das durch die Filmemacherin Madhushree Datta initiiert wurde, findet sich eine große Anzahl von Clips über Kaschmir. Viele Dokumentarfilmemacher_innen aus Indien haben dem Projekt Teile ihres Materials zur Verfügung gestellt.

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tisch noch pädagogisch anspricht, sondern durch ihre Ästhetik in den Körpern der Zuschauer_innenschaft Nachahmungseffekte hervorbringt (ebd. 99). Die affektiven Gewaltbilder wurden also unter einem ethischen Mandat zur Repräsentation gewählt. Dieses Mandat ist für Kak an ein Argument für die āzādī-Bewegung gekoppelt. Die oft leidenschaftlichen Reaktionen auf den Film scheinen ein solches Konzept politischer Mimesis nahezulegen, beispielsweise durch die euphorische Rezeption des Films in der ersten Vorstellung in Srinagar. Die Zuschauer_innen, so Kak, riefen Slogans und feierten den Film, der »ihre Perspektive auf den Konflikt« wiedergab, was viele dort das erste Mal erlebten. Gleichwohl wird diese Mimesis oft durch die Voice-over-Stimme Kaks skeptisch moderiert und durch kontextualisierte Verfremdung Distanz zur realistischen Form erzeugt. Verfremdungstechniken werden auch für die in »Jashn-e-Azadi« gelegentlich vorkommenden Bilder getöteter Menschen angewandt. Bildern der Gewalt werde ich mich im nächsten Abschnitt zuwenden. Diese Darstellungen wurden von verschiedenen Publika angesprochen, da sie – wie kaum ein anderes Material – Gespräche über das visuelle Zeugnis des Films im ethischen Raum eröffnen.

B ILDER

DER

G EWALT

UND KONTEXTUALISIERTE

V ERFREMDUNG

In einem vor Kurzem veröffentlichten Sammelband zum Thema Gewaltbilder im Dokumentarfilm stellt Michael Chanan fest, dass der Diskurs über Gewalt verschiedene Formen der Gewalt miteinander vermischt: Oft würde nicht ausreichend unterschieden zwischen »violence and aggression, strife and struggle, force, brutality and cruelty, as well as differences between individual and social violence« (Chanan 2013, 89). In vielen Konfliktregionen führt die verbreitete mediale Darstellung von Akteuren, deren »Gewaltausbrüche« gezeigt werden, zu dem Ergebnis, historisch gefestigte, strukturelle Gewalt vor Ort auszublenden. Es wird implizit davon ausgegangen, dass die verschiedenen beteiligten Gruppen vor dem »Ausbruch der Gewalt« in relativ geordneten und gewaltfreien Verhältnissen gelebt hätten. Gleichzeitig suggeriert diese Darstellung eine chaotische Situation, der gegenüber ihr/e Betrachter_in eine überlegene Position einnehmen könnte – um dann vielleicht das, was dort vor sich geht, als beidseitige, gleich zu bewertende Gewalt einzuordnen.

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Ein weiterer Aspekt von Gewaltbildern ist der »direkte Zugang zu Informationen« (Rheingold 1993, 61). Damit beziehe ich mich hier auf die digital erweiterten Möglichkeiten, Bilder von physischer Gewalt durch digitale Medien sofort sehen zu können. Solche Bilder könnten zu dem positivistischen Kurzschluss führen, dass das Wissen über die Gewalt in Konfliktregionen bereits mit einem Klick vorliegt und dieses Wissen nicht intensiver Analyse und ästhetischer Rahmung bedarf.51 Der Medienwissenschaftler Shuddhabrata Sengupta des Raqs Media Collective beschreibt, wie zu Zeiten des globalen Kriegs gegen den Terror Bilder von encounter killings in ihrer visuellen Choreographie von »attack-counterattack-encounter-neutralization« (Sengupta 2013, 303) zwischen 24/7-Nachrichtenkanälen, Online-Archiven und sozialen Netzwerken zirkulieren. Sengupta zeigt, wie einige auf Facebook und YouTube kursierende Videos von Gewaltakten des indischen Militärs in Kaschmir mit zur Mobilisierung von Protestaktionen im Jahr 2010 führten (Sengupta 2010). Dokumentarfilmer_innen stehen dagegen schon seit den Frühzeiten des Genres eher in einem Spannungsverhältnis zu dem realistischen, auf schnellen Zugang gerichteten Informationsdispositiv solcher Bilder. Sie betonen die kreativen Aspekte ihrer Praxis sowie – aus erkenntnistheoretischer Perspektive – die Komplexität audiovisueller Medien. In den Dokumentarfilmstudien und der Photografietheorie gibt es seit längerem eine Debatte über die affektive und (de-)sensibilisierende Kraft des Gewaltbildes, die sich um den klassischen Topos der Holocaustdarstellung dreht (Winston 2012). Die ethisch motivierte Ablehnung von Archivbildern des Holocaust durch den bekannten Dokumentarfilmemacher Claude Lanzmann beeinflusste stark die Überlegungen zur Ethik der Form (ebd.). Lanzmann sah in diesen damals (1985) weithin bekannten Archivbildern eine problematische Sensationalisierung des Ereignisses, die das Nacherzählen der traumatischen Begebenheiten erschwere (ebd.). Die Holocaustforscherin Marianne Hirsch spricht diesbezüglich von der monokularen Sehweise des Genozids, »which conflates the camera with the weapon« (Hirsch 2001, 232). In einer solchen Sehweise stimmt der Ort des Vollstreckers mit dem des Betrachters überein. Gemeint ist der Typ der frontalen Darstellung von Toten, die dadurch

51 Howard Rheingolds positive Einschätzung des »instant access« als demokratisches Potential neuer Vernetzungen durch das damals (1993) aufkommende Internet muss heute nicht nur hinsichtlich des Dekontextualisierungspotentials seiner Zeitlichkeit hinterfragt werden, sondern auch hinsichtlich der affektiven Produktivität ‚schneller Reaktionen’ im Informationskapitalismus (Han 2014).

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dem Betrachter in ihrer leblosen Form als Objekte verfügbar werden. Solche Bilder finden sich in transnationalen Medienlandschaften von OnlineGewaltbildarchiven bis hin zu den Kanälen des indischen 24/7-Nachrichtendienstes und älterer Medien wie in wandernden Photoausstellungen, von denen ich schon im Abschnitt über Iffat Fatimas Filmpraxis berichtete (siehe Kapitel 5). Bereits in vordigitalen Zeiten schrieb Lawrence Langer (1978) in seiner Studie über das Gewaltbild in der Literatur: »In einer Zeit privater Gewalt und öffentlichen Gemetzels, in der die Grausamkeit sozial anerkannt zu werden droht, ist der unangemessene Tod zu einer Angelegenheit geworden, die wir nicht mehr als Abweichung von normalen Erfahrungsrhythmen ansehen können« (Langer 1978, 6; zitiert nach Sobchack 1998, 174).

Diese Aussage trifft insbesondere auf Regionen wie Kaschmir oder Palästina zu, in denen lang andauernde Konflikte zu routinierten Formen physischer Gewalt sowie ihrer Darstellung führten. Dort sind Märtyrerkulturen und Opferdiskurse samt ihrer visuellen Komponente stark verbreitet und perpetuieren eine Logik von Gewalt und Gegengewalt (Bar-Tal 2003), die allerdings stets in Bezug zu multiplen Machtasymmetrien der unterschiedlichen Konfliktteilnehmer betrachtet werden muss. Kak bezog mit der Darstellung der Archivmaterialien Position für die politische Selbstbestimmung der Mehrheitsbevölkerung des Kaschmirtals. Dies beruht auf seiner Einschätzung der Asymmetrien in der Konfliktwahrnehmung: zwischen den Möglichkeiten der kaschmirischen Bewegung sich Gehör zu verschaffen und den Möglichkeiten der indischen Regierung, eine militärische Besatzung in der Region aufrechtzuerhalten und die weitere Sichtbarkeit des Konflikts effektiv zu steuern, so dass die Menschenrechtsverletzungen und die verweigerten politischen Forderungen nicht eine größere, internationale Sichtbarkeit erhalten. Zuschauer_innenkommentare, die sich auf eine propagandistische Wirkung seines Films bezogen, gehen von genau dieser scheinbaren Eindeutigkeit seiner Parteilichkeit aus. Gerade die Verwendung von Bildern von Toten als Teil der filmischen Narration wird – wie oben dargestellt – als die Wiederholung eines konfliktperpetuierenden Märtyrerkults gesehen. Obgleich ich diese gelegentlich geäußerte Kritik von Zuschauer_innen nicht zurückweisen will, möchte ich dagegenhalten, dass durch Verfremdungstechniken die Bilder von Toten das Potential haben, nicht voll in einer linearen Logik der kaschmirischen Widerstandsgeschichte aufzugehen, sondern in der eher fragmentarisch-räumlichen Logik eines »Kompendiums des Widerstands« die Affekte kaschmirischer

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Entfremdung vom indischen Staat aufzuzeigen. Gleichzeitig versuchen Kak und Bhartiya kontextsensibel auf die Proliferation von Gewaltbildern in visuellen Kulturen zu reagieren, wie sie in diesem Abschnitt geschildert wurden. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf eine Sequenz eingehen, in der Zarif Ahmad Zarif52 eines seiner Gedichte vorträgt, das, wie Kak betont, bereits vor 1989 geschrieben wurde. Diese Sequenz wurde von einer/einem Nutzer_in geschnitten und bei YouTube heraufgeladen. Die spätere Resonanz des Gedichts, das inzwischen als separate Attraktion des Films gesehen werden kann, lässt den Dichter scharfsinnig erscheinen und so wird er hier auch inszeniert. Er befindet sich umgeben von Grün, vielleicht ist er in einem Garten. Das Gesicht wird in einer Zoomeinstellung gefilmt. Es ist zum Teil von gelben Blumen gerahmt, die vor ihm wachsen. Sein stechender Blick »schießt« hinter Blumen zurück auf die vertrauten Bilder der Besatzung: patrouillierende Soldaten (vgl. Abb. 19). Ein Ausschnitt des Gedichts in Ghazal-Form »Yūt matsar kyah« soll hier wiedergegeben werden, um nachvollziehbar zu machen, wie sich sowohl der Text als auch der Blick des Dichters – rückwirkend gelesen auf hellseherische Weise – auf die Besatzung bezieht, wie Vergangenheit und Gegenwart in einer gegenseitigen Schwebe gehalten werden: Mein Blick wurde zum Schweigen gebracht. Was ist das für ein Wahnsinn? Die Stadt der Liebe, einst gefunden, ist verloren. Was ist das für ein Wahnsinn? Ich habe mein Leben lang Schatten verehrt und nun sehe nur ich nicht den Morgen. Was ist das für ein Wahnsinn? Ich beschmierte das Glas mit Blut um Spiegel zu schaffen.

52 Zarif Ahmad Zarif ist ein kaschmirischer Dichter. Seine oft ironischen Gedichte setzten sich unter anderem mit ökologischen Themen und existentiellen Fragen auseinander und enthalten oft subtile Referenzen zum Konflikt. Zarif tritt auch in einer zentralen Erzählerrolle in Tushar Madhavs Dokumentarfilm »Soz« (2016) auf.

276 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT Mein Bild – ein Fremder. Was ist das für ein Wahnsinn?

53

Die Bilder der Gewalt wurden in dieser Sequenz (wie auch im restlichen Film) von Bhartiya kurz vor oder kurz nach der Klimax der Aktualitätsaufnahme geschnitten. Bhartiya sagt, dass diese Schnitttechnik »zu Frustrationen des Zuschauers« führen kann, der sich fragt: »Why are they not showing us the film? What we are showing in the present is equally [important] – it may not be that full of blood and war and all those kind of things – so, and if we show you the archive in its »full«, would that make our argument more plausible?«

Abbildung 19: Gedichtssequenz.

»Jashn-e-Azadi« (Kak, 2007). Es geht hier also auch um einen Umgang mit Zuschauererwartungen, die möglicherweise durch formale Gestaltung enttäuscht werden. Kak kritisiert die zunehmende Tendenz in dem dokumentarfilmischen Feld Indiens, mit den europäischen Geldern oft auch erzählerische Prinzipien übernehmen zu müssen, die er auf einem Vortrag auf der Konferenz Visible Evidence in Neu-Delhi 2014 als »narrative pleasure« bezeichnete. Damit meint Kak globale Dokumentarfilmworkshops und Finanzierungsinstitutionen, die Filme auf charakterzentrierte Erzählung trimmen. Seine Vorgehensweise bestimmt er hingegen als »Lust am Hinterfragen«:

53 Übersetzung durch MK, der Originaltext in Kashmiri lautet: Aem phuit chi gaemits myaen nazar / yūt matsar kyah? / mei rov labith lol śahar / yūt matsar kyah? / Poozai karān aes gaemits vaens me tsayen / aeyov ti mei ma vuch na sahar / yūt matsar kyah? / Mei khūn mailith śīsha patyan āene baneyvim / aesīna panin pāna khabar / yūt matsar kyah?

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»What about other forms of documentary pleasure – what one would like to call »interrogative pleasure«, in which the smoothening of a narrative, far from smoothening the narrative you work towards creating a kind of jagged character for the narrative, in the hope that it gives a different kind of response. In this rush of narrative smoothness, what happens to the ways of asking questions to the world around us, shown to us by Dziga Vertov or Alain Resnais, Chris Marker or Harun Farocki and I think that I am personally deeply invested in the questions of legibility and circulation.«

Diese Forderung nach einer forschenden Haltung kann auch dem rational erwägenden Voice-over-Kommentar entnommen werden, der suggeriert, dass die Bilder weder für die/den Betrachter_in noch für Kak vorgegeben sind, sondern sich in einem Prozess der Konstruktion und Reflexion befinden. Dies wird durch die montagebetonte Technik der Verfremdung (ostranenie)54 gestützt, die sich von einer linearen Erzählung abwendet und der aktiven Konstruktion von Geschichte55 zuwendet. Im nächsten Abschnitt stelle ich die Frage, ob diese Reflexivität der Form einer kontextualisierten Verfremdung nicht durch eine populistische

54 Die vielleicht bekannteste theoretische Formulierung der Verfremdung lässt sich in Bertold Brechts Programm des epischen Theaters finden. Wegen eines konstruktivistischen und reflexiven Umgangs mit Geschichte wird oft auf Walter Benjamin und Alexander Kluge verwiesen, die auf die konstruktive Rolle von Montage in dem Prozess eingingen, Rohmaterial in »Geschichte« zu verwandeln. Als Konzept des Ästhetischen in der Werk-Form ist Verfremdung zuerst von den russischen Formalisten – zunächst literarisch – konzeptualisiert wurden. Bei Sklovski (1974, 28) vollzieht der Dichter eine semantische Verschiebung, indem er einen Begriff aus seinem gewöhnlichen Kontext entfernt und ihn mit Hilfe des Wortes (der Trope) in eine andere »Bedeutungsreihe« einsetzt. Dabei bemerken, so die Annahme von Sklovski, die Leser_innen die Neuheit bei dieser Positionsveränderung. 55 Filmwissenschaftliche Debatten zum Komplex Geschichte und Film reichen zurück zu geschichtskonstruktivistischen Montagetheorien von Sergei Eisenstein und Dziga Vertov sowie zu den Überlegungen Walter Benjamins in Hinblick auf die demokratischen Potentiale des Films als modernem Medium par excellence. Mit Blick auf das unabhängige Dokumentarfilmschaffen ist eine geschichtskonstruktivistische Theorie und Praxis schon vor dem Postmodernismusdiskurs (siehe Nichols 1994; Rosenstone 1995) von Alexander Kluge und Oskar Negt (1972) formuliert wurden.

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Film-Adresse wieder eingegrenzt wird. Ich werde auf eine Reihe von Widersprüchen zu sprechen kommen, die meines Erachtens dazu führen, dass Kaks Praxis zwar Momente einer transregionalen Öffnung enthält, aber auch unwillentlich zu einer Verfestigung von konfliktreichen Grenzen des Nationalen und damit zu einer Reterritorialisierung führt. Diese Reterritorialisierung lässt sich abermals als Teil der Aushandlungen des ethischen Raums seiner Filmpraxis verstehen. Auf dem Filmfestival mit anschließender Konferenz56 Persistence/Resistance 2014 (P/R) in Neu-Delhi wurde Kak von einigen Kolleg_innen der indischen Dokumentarfilmszene hinsichtlich seiner »wütenden Stimme« kritisch befragt. Im Folgenden werde ich auf die sich dort anschließende etwa zweistündige Debatte zwischen einigen der erfahrensten Dokumentarfilmemacher_innen Indiens im Detail eingehen, um eine mögliche populistische Reterritorialisierung in Kaks Praxis zu diskutieren.

A MBIVALENTE M OBILISIERUNG

IM ETHISCHEN

R AUM

Kak begann die Antwort auf die Frage, warum er mit einer wütenden Stimme spreche, mit zwei Anekdoten über die Narmada Bachao Andolan (NBA, dt. Rettet die Narmada-Bewegung), der er seinen Film »Words on Water« (2004) widmete. Er berichtet von einem jungen Mann, der zuerst über die Bewegung differenziert und mit einer gewissen Sympathie berichtete, dann aber eine Arbeitsstelle bei der Weltbank annahm: »So it is a very fluid and slippery zone, the anger is necessary to be im-balanced enough to say: »no, I don’t want to get into that dialogue«; I don’t care if my argument is one sided, because the balance is actually the loss of the argument. [...] I mean I am not afraid of invoking morality, saying »no this is the right thing, the NBA are right, they have lots of flaws but they are right«, it is an ethical stance. The same when you go to Kashmir, »yes the movement is not perfect and it has a lots of flaws but essentially they are right«.«

Hier formuliert Kak klar eine agonistische Position, die sich entschieden gegen das Ausbalancieren von politischen Positionen richtet und dies ethisch und politisch begründet.

56 Die Konferenz fand am 18.02.2014 in Neu-Delhi statt.

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Um Kaks politischer Subjektivität näherzukommen, möchte ich die Artikulation einer Subjektposition in Bezug zum linken Topos »people»s movement«57 näher bestimmen. »The people« als anschlussoffene Identität bringt die historische Dringlichkeit zum Ausdruck, eine Ungerechtigkeit kollektiv zu adressieren. Das verleiht Verwendungen des Konzepts eine charakteristische Dimension, die auch »populistisch« genannt werden könnte. In Besprechungen des Verhältnisses von Populismus und Medienpraktiken wird auf die affektpolitische Dimension des Populismus und die Verwendung von einfachen Gegensätzen hingewiesen (Mayer 2008; Corner 2011). Des Weiteren wird oft die Frage nach der kommunikativen Effektivität einer filmischen Form an der Schnittstelle von Propaganda, Manipulation und Populismus gestellt (Corner 2011). Diese Aspekte sind für eine kritische Kontextualisierung von Sanjay Kaks Filmpraxis relevant. Ich möchte diese Fragen zum Populismus Kaks jedoch um ein weiteres Konzept erweitern, das meiner Ansicht nach die spezifische Form seiner politischen Positionierung klarer hervortreten lässt. Bei Kaks Film »Jashn-eAzadi« erinnert die Konstruktion eines politischen Anderen eher an einen Populismus im Sinne Ernesto Laclaus (2007): Durch die Gegenüberstellung mit diesem Anderen und durch einen historischen Bezug zu den Forderungen, die an diesen Anderen gestellt werden, wird das demos demokratischer Forderungen erst konstruiert. Diese Subjektposition lässt sich am Beispiel der Diskussion über eine Sequenz von »Jashn-e-Azadi« verdeutlichen, in der Shakeel Bakshi, der Vorsteher der Islamic Youth Organization, seine Position zum Konflikt artikuliert. Ein namhafter kaschmirischer Filmemacher zeigte sich in einem persönlichen Interview mit mir und auch in öffentlichen Debatten über »Jashn-e-Azadi« »erschrocken« (shocked), dass Kak »islamistischen Fundamentalisten« wie Bakshi Raum in seinem Film gebe. Kak distanziert sich in der kritisierten Szene nicht von Bakshis dramatischer Erzählung des »über 300 Jahre unterdrückten, weiterkämpfenden Volkes«. Vielmehr übernimmt er diese Darstellung einer im Kaschmirtal verbreiteten Identitätserzählung von dem populären Sprecher. Die Filmemacherin Surabhi Sharma greift in der P/R-Debatte Kaks Wendung »emotional pitch« auf, um seine Abkehr von in der Dokumentarfilmszene verbreiteten »Filmwerten« zu kommentieren:

57 Der deutsche Begriff »Volksbewegung« ist im Gegensatz zum englischen Ausdruck »people‘s movement« zu stark von rassistischen Diskursen überzeichnet, um ihn in diesem Zusammenhang verwenden zu können.

280 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT »The last two films have been very important interventions or provocations of the documentary films that have been made and the fraternity that we have co-created, for the very simple reason that in the Narmada film you are representing your outrage and you are able to show to the audience your outrage about the Narmada movement, but in the Kashmir film and »Red Ant Dream« you even leave that behind and enter the emotional pitch of the Kashmiris and their movement which I think takes audiences very uncomfortable, because you don’t even attempt to say that »you and I should also feel outrage about this«. You just get to the core of the emotional pitch that the Kashmiris feel. And your film is from there. And that is what I remember when I saw the film, what struck me as an important departure from documentary filmmaking values. You are not saying »come let’s meet them halfway through«, [...] in »Red Ant Dream« you go one step further into the »everyday« of that violence. Again refusing to make that »riff« with the audience: »come let me draw you in«.«

58

Kak betont in seiner Antwort auf Sharmas Frage, dass sein Film zum Teil auf dem Gefühl beruhe, »dort gewesen zu sein«: »It is not a question of embedding yourself in that place, it is that what did I feel not »how am I reading this«, what is it like to be »walking with the comrades« for eighteen days. In that sense it is not cinéma vérité, it is not observational, but just to be able to evoke my reading of the essence. Similarly in Kashmir, what does it feel like to be walking in the streets of Srinagar, to go to a village, the sense of continuous feel? [...] It is coming from a very strong desire to share a sense of thereness. [...] In the last ten years I screened a lot, I travelled a lot, I showed my films very widely. Audiences outside of our circle or our class, they don’t say »why is your film not balanced«. I never get that questions in small towns. In fact people would say: »ācchā āp ne dikhā diyā na« [»aha, Sie haben das jetzt also gezeigt (wie es ist)«, Übersetzung MK]. I think that the metropolitan response is a response of people who are conflicting themselves. You are not doing it because you want to make your peers uncomfortable but that question of balance or »why are you silent about this« and »why are you silent about that«, I find that most people don’t have that problem.«

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58 Sanjay Kak im Gespräch auf dem Persistence/Resistance-Festival am 18.02.2014 in Neu-Delhi. 59 Sanjay Kak im Gespräch auf dem Persistence/Resistance-Festival am 18.02.2014 in Neu-Delhi.

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Kaks Repräsentation der emotionalen Tonhöhe sozialer Bewegungen – ein Aspekt der im letzten Abschnitt angesprochenen politischen Mimesis (Gaines 1999) –, wird allerdings durch einige formale Verfremdungen und seine Voice-over-Stimme distanziert dargestellt: Das Gefühl wird also in einem gewissen Grad skeptisch gerahmt. Obgleich Kaks und Bhartiyas Filme einige formale Verfremdungsmomente beinhalten, betont Bhartiya, dass er und Kak Experimente mit der Form nicht in einem direkten Verhältnis zu der politischen Dringlichkeit eines bereits artikulierten demokratischen Bedürfnisses sehen60. Politik verlange inhaltliche Positionierung, während Experimente auch ohne diese auskommen. Hier wird von Bhartiya ein altes Kernparadox politischer Ästhetik angesprochen, dessen antinormative präsentische Differenz im Raum politischer Bewegungen stets durch den Prozess der Repräsentation vermittelt wird. Diese Politik der Form zwischen politisch-mimetischer Repräsentation einer Konfliktnarration und ästhetischer Öffnung in einer von transnationaler Mobilität geprägten Filmpraxis führt daher zu einer Reihe von Spannungen, die ich zum Abschluss dieses Abschnitts noch einmal ansprechen möchte. Gehört Kak als Kashmiri oder als solidarischer, linker Filmemacher zu dem »Wir« und zu der Bewegung, die eine soziale und politische Forderung aufstellt? Im diesem Fall würde der Filmemacher vielleicht seine Aufgabe darin sehen, die von ihm als populär eingeschätzte Position durch seine Sichtbarkeit auszuweiten. Nach einer Vorstellung in Tagore Hall in Srinagar im Jahr 2007 war das Publikum geradezu ekstatisch, wie mir Kak und andere berichteten, die dabei anwesend waren. Es wurden āzādīParolen gerufen und nach Abschluss des Films kam ein älterer Herr auf Kak zu und überreichte ihm einen Schal als spontane Geste der Anerkennung. Für Kaks Verständnis der eigenen Praxis war dieser Austausch in Tagore Hall wichtig. Der Schal drückt für ihn eine gelungene Kommunikation mit dem »Wir« des Films aus. Gleichwohl ist seine hochmobile Praxis auf viele Übersetzungsprozesse angewiesen – unter anderen die formalistischen Verfremdungstechniken und die Filmform der politischen Mimesis –, in denen deutlich wird, dass das »Wir« gebrochen ist und schon im Film

60 Skype-Gespräch mit Tarun Bhartiya am 21.05.2016. Es muss hier erwähnt werden, dass Filme mit anti-mimetischen Momenten – deren Anzahl in Indien nicht zuletzt durch die Förderung experimentellen Filmschaffens durch den PSBT zunimmt – nur schwer von den Forderungen demokratischer Bewegungen zu trennen sind.

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samt seinem Titel über die skeptisch erwägende Stimme des Filmemachers ständig re-kontextualisiert werden muss. Es bestehen Gründe zu fragen, inwieweit diese an eine visuelle Lesefertigkeit gebundene Kontextualisierung auch in den »non-metropolitan spaces«, in denen sich Kak zunehmend artikulieren möchte, vorhanden ist. Vor Kurzem sagte mir Kak, dass ein Freund aus Kaschmir ihm davon berichtete, wie sein Film dort zur Politisierung von jungen Menschen verwendet wird. 61 Ähnliches sagten mir auch andere Menschen aus dem Kaschmirtal während der letzten zwei Jahre. Tatsächlich ist Kaks Film innerhalb des Tals bekannter als jeder andere Film im Korpus dieser Arbeit. Kak war von der Bemerkung seines Freunds verstört, da er seinen Film vorwiegend an eine »indische Zuschauerschaft« adressiert hatte und er nicht der Politisierung von Kashmiris dienen sollte. Diese Rückkopplungseffekte haben vermutlich etwas mit der Nähe zu einer populistischen Narrativierung zu tun, in denen die Bilder der Gewalt (kontextuell verfremdet oder nicht) sowie die Präsenz von Akteuren wie Shakeel Bakshi eine wichtige Rolle spielen. Ohne eine kritische Lesart können Gewaltbilder in Kaks Film jederzeit wieder als Teil eines »Kompendiums des Widerstands« verstanden werden und einem relativ gefestigten Narrativ politischer Selbstbestimmung – und Jahrhunderte langer Viktimisierung – dienen. Ein möglicher Ausweg aus diesem formalen Engpass besteht in der Praxis der argumentativen Begleitung des Films. Wie ich oben erwähnte, engagieren sich Kak und Bhartiya im Netzwerk des Pratirodh ka Cinema. Obwohl sich viele Filme, die dort gezeigt werden, kritisch mit der Rolle des Staats in Regionen wie Kaschmir, Manipur und Chhattisgarh beschäftigten, kam es nur selten zu publizitätswirksam Aneignugsversuchen durch hindurechte Gruppierungen. Das sich schnell ausbreitende Netzwerk des Pratirodh ka Cinema ermöglicht es ihm also – ähnlich wie ich es im letzten Kapitel in Bezug auf Iffat Fatimas Praxis darstellte – unterhalb dieser Wahrnehmungsschwelle zu bleiben. Vielmehr gelingt es ihm oft durch seine Begleitung der Filme, sowie durch die Festivalrahmung62 mit Zuschau-

61 Gespräch mit Sanjay Kak in Neu-Delhi am 26.12.2016. 62 Das Pratirodh ka Cinema fördert gezielt die Form des Dokumentarfilms. Dabei verfolgen die Organisatoren sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der Finanzierung der Filme strenge Selektionskriterien. Diese Selektionsverfahren werden unter den programmleitenden »drei J’s« jal, jaṃgal, jamīn (Wasser, Wald und Land) zusammengefasst: »Often people have asked about the meaning of »resistance« in the name. Resistance against what? At the heart of the matter is

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erschaften bis spät in die Nacht hinein zu argumentieren. In vielen Vorführungen, die ich sah, hob Kak diesen Moment hervor. In den Ausgaben des Pratirodh ka Cinema beginnt er Diskussionen mit dem Publikum oft mit den Worten: »mein Film ist ein Argument« (merā film ek tark hai). Um das Argument überzeugend vorbringen zu können, beschäftigen sich Kak und Bhartiya intensiv mit der visuellen Lesbarkeit ihrer Filme als einen Aspekt der Schaffung von Gegenöffentlichkeit63 (Warner 2002). Bhartiya gibt daher gelegentlich Einführungen in die Ästhetik und Politik des Dokumentarfilms, die in das reguläre Programm des Filmfestivals Pratirodh ka Cinema eingebunden sind. Ohne diese Lesbarkeit können selbst innerhalb des relativ sicheren Raums des PKC die Fluchtlinien ihrer Praxis nicht stabilisiert werden.

F AZIT In diesem Kapitel habe ich die Aushandlung des ethischen Raums des Films (Sobchack 1998) – einem Raum, der durch die mechanische Aufnahme und unsere konventionelle Akzeptanz des dokumentarischen Charakters von dokumentarfilmischen Bildern etabliert wird – in den Praktiken der beiden Filmemacher Sanjay Kak und Ajay Raina besprochen. Dabei konzentrierten sich die Besprechungen auf zwei Typen von Aktualitätsauf-

people’s resistance – against the neoliberal economic onslaught, the feudal fetters, the imperialist domination and that of patriarchy, caste-oppression and communalism. The fight for people’s rightful control over jal-jangal-jameen (water, forest and land) and their preferred means of livelihood, and the fight towards equality is at the pulsating heart of resistance (Joshi 2014). 63 Michael Warner (2002) behandelt die Dynamik einer modernen Imagination zwischen empirischen Öffentlichkeiten (a public) und den virtuellen Momenten der Adressierung an eine Öffentlichkeit (the public, bspw. als subkulturelle, nationale, regionale oder Weltöffentlichkeit), bestehend aus Fremden, sowie ihre politische Abgrenzung von anderen Öffentlichkeiten (bspw. einer hegemonialen Öffentlichkeit). Die Spannung zwischen einer Gruppe von Menschen, die zum Beispiel einem Film gemeinsam Aufmerksamkeit schenken, und der Adressierung dieser Menschen als Öffentlichkeit enthält über die Anrede von Fremden



immer eine gewisse Offenheit, die durch die diskursive Herstellung von einem Bild dieser Öffentlichkeit wieder territorialisiert wird.

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nahmen. Die Wahl fiel auf umstrittene Sequenzen, die in verschiedenen Publika von einzelnen Rezipient_innen während verschiedener Filmvorführungen thematisiert wurden. Durch die Besprechung dieser Aushandlungen lassen sich wichtige Ansatzpunkte für das Verständnis der Komplexität von Artikulationen kaschmirischer Subjektivitäten durch unabhängige Dokumentarfilmpraktiken gewinnen. Bei Raina standen Sequenzen des Films »Tell Them The Tree They Have Planted Has Now Grown« im Mittelpunkt, in denen der exilierte Filmemacher seinen ehemaligen Nachbar_innen begegnet. In der Besprechung von Kaks Film »Jashn-e-Azadi« lag der Fokus auf der Repräsentation von Gewaltbildern. Der weitere Kontext beider Filme wurde hinsichtlich ihrer Darstellung von Geschichte in Bezug gesetzt zur Legitimation bestimmter Konfliktnarrationen: zum einen Narrative des Exils der Kashmiri-Pandits und zum anderen Narrative des seit langem der Unterdrückung widerstehenden kaschmirischen Volkes. In den einzelnen Besprechungen ging ich auf die formalen Strategien beider Filmemacher ein, ein Zeugnis des Konflikts zu mobilisieren und über ihre physische und imaginative Mobilität (Robins 2004) dieses Zeugnis der (Zeit-)Geschichte Kaschmirs im ethischen Raum des Dokumentarfilms mit verschiedenen Publika auszuhandeln. In diesem ethischen Raum können die Bilder der Gewalt sowie die Darstellung von Trauma und Verlust ihre Selbstverständlichkeit verlieren und als Konstruktion sichtbar werden. In Hinblick sowohl auf Rainas als auch auf Kaks Filmpraxis habe ich die Möglichkeiten einer solchen Öffnung benannt, aber auch auf die oft widersprüchliche identitätspolitische Rahmung der Kategorien Trauma und Gewalt hingewiesen. Um Kaks Praxis zu kontextualisieren, wurde aufgezeigt, dass die im Rahmen des Mediendiskurses über den Terror repräsentierten Gewaltbilder die Gewalt oft über eine Form des direkten Zugangs vermitteln und dabei dekontextualisieren. Für Kak und Tarun Bhartiya, dem Editor des Films, war es wichtig, durch Verfremdungstechniken gleichzeitig die Erinnerung und Leidenschaften zu evozieren, die den Konflikt perpetuieren, und die zeitliche Differenz zu markieren, die Vergangenes nicht linear in der Gegenwart aufgehen lässt. Aufgrund der populistischen Tendenz des Films – Kak nannte ihn ein »Kompendium des Widerstands« – besteht die Gefahr, durch seine »politische Mimesis« (Gaines 1999), das heißt, durch die Art und Weise wie der Film die Leidenschaften der Bewegung spiegelt, die Fronten zwischen den Konfliktparteien wieder zu verhärten. Im Kontext des Jahres 2007 betrachtet – in einer Zeit, in der kaum Filme zu den (verschiedenen) populären kaschmirischen Erzählungen vorhanden waren –,

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kann jedoch hervorgehoben werden, dass der Antagonismus einer āzādīNarration vis-a-vis der militärischen Besatzung durch den »indischen Anderen« das erste Mal im Medium des Films deutlich artikuliert wurde. Diese formalen und kommunikativen Aspekte von Kaks filmischer Praxis ergeben das Bild eines Filmemachers, der sich immer wieder in den ethischen Raum des Films einschreibt, in dem er sich diegetisch, profilmisch und in seiner weiteren politischen Praxis bewegt, um Zuschauer_innen politisch zu mobilisieren. Dieses geschieht jedoch mit einem Blick auf die rhetorische Kraft und die desensibilisierende Gefahr von Gewaltbildern. Das Sehen der Bilder der Gewalt erfolgt bei Kak zwar nicht aus einer »monokularen« (Hirsch 2001, 232) Perspektive, die die Opfer aus der Sicht des Täters zeigt, um die Erzählungen der Lebenden affektiv aufzuladen und imaginativ zu immobilisieren. Kaks Verwendung der Gewaltbilder korrespondiert mit der doppelten Lesart des Begriffs śahīd: In »Jashn-e-Azadi« erinnert seine Erzählerstimme daran, dass das Wort sowohl Zeuge als auch Märtyrer bedeuten kann. Inwieweit er es, den eigenen Intentionen folgend, schafft, ein Zeugnis für ein »indisches« – von nationalistischen Diskursen vorgeprägtes – Verständnis gegenüber Forderungen politischer Selbstbestimmung aus Kaschmir zu mobilisieren, hängt zentral mit seiner Begleitung des Films, also mit seiner argumentativen und performativen Rahmung zusammen. Durch diese Begleitung gelingt es Kak zeitweilig, das populistische, antagonistische Moment durch sein »Ju-Jutsu« argumentativ in einen Agonismus zu verwandeln. Die hieraus sich ergebende Spannung zwischen der Distanz kontextualisierter Verfremdung und einer mobilisierenden politischen Mimesis bleibt in Kaks Praxis letztlich unaufgelöst. Diese Spannung treibt jedoch gleichzeitig die lebhaften Diskussionen über den ethischen Raum seines Films an. In dem Unterabschnitt zu Ajay Rainas Filmschaffen habe ich im Rahmen des Konzepts der mobilisierenden Zeugenschaft medienkulturelle Prozesse der Herstellung von Zeugenschaft vor dem Hintergrund seiner durch das Exil geprägten Subjektivität durch die Cinéma-vérité-Form besprochen. Auch wenn einzelne Aspekte der Filmbesprechungen sehr unterschiedlichen kommunikativen Ebenen zuzuordnen waren – darunter Form, Intertext, Rezeption, Produktion, Zirkulation – habe ich aufgezeigt, wie diese Momente in einer Mobilitätslinse gebündelt werden können, indem der Fokus auf Aushandlungen im ethischen Raum des Films gerichtet wird. Dieser ethische Raum wird durch eine in vérité-Form gefasste persönliche Reise aus dem innerindischen Exil in die verlorene Heimat und dort über die

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Bewegungen des Filmemachers im Kaschmirtal hergestellt: über seine Treffen mit Bekannten und Freunden auf offener Straße und in Häusern. In der transnationalen Filmwissenschaft wird oft betont, dass persönliche Filme über Exil und Diaspora aufgrund der in ihnen oft komplex artikulierten Subjektivitäten Öffnungen in festgefügten Identitätserzählungen ermöglichen können (Higbee und Lim 2010; Naficy 2001; Marks 2000). Der von Raina eröffnete ethische Raum der Begegnung wurde jedoch durch national-säkulare Diskurse und durch die Erzählerstimme des Filmemachers auf den indischen Nationalstaat und auf Exildiskurse kaschmirischer Pandits rückbezogen. Gleichzeitig habe ich auf Momente in dem kommunikativen Prozess der Form des Films hingewiesen, in denen diese indischnationale Rahmung auf- und angegriffen wurde, zum Beispiel, indem das Zeugnis des Films von Zuschauer_innen ethisch befragt wurde. Diese Möglichkeit der Hinterfragung von Rainas Exildiskurs ist durch normative Produktionsdiskurse des Public Service Broadcasting Trusts und Rainas Verwendung der vérité-Form schon in der Produktion und der Form des Films angelegt. Diese Paradoxien zwischen Territorialisierung – der Kopplung des Films an das nationale Territorium – und Deterritorialisierung als Öffnung des ethischen Raums verweisen auf die komplexen Verschränkungen und Grenzen des Persönlichen und des Nationalen in Rainas Praxis. Während der kaschmirische Pandit Ajay Raina einerseits von einem kulturellen Garten träumt, in dem »seine Gruppe« unter revidierten Umständen wieder ihren Platz neben der Mehrheitsgruppe – also »den Muslimen« – einnehmen kann, trifft der Vérité-Filmemacher Raina andererseits durch einen methodologischen Individualismus auf andere Menschen, wobei er diesen Begegnungen einen hohen Wahrheitswert zuweist. Diese Begegnungen bringen wiederum den durch seinen Filmschnitt gepflegten kulturellen Garten in Unordnung. Diese Unordnung birgt ein dialogisches Potential.

Mobilität, Film-Form und Ethik Sāre panim chim bekhabar Insāf kar, insāf kar Alle, die zu den Meinen gehören, wissen nichts, übe Gerechtigkeit, übe Gerechtigkeit SAMAD MIR

In den Augen des jeweils Anderen sieht mich der Dritte an – Die Sprache ist Gerechtigkeit EMMANUEL LEVINAS1

Formen einer hochmobilen Filmpraxis sind seit dem Dritten Kino bereits als politische Praxis theoretisiert worden und haben auch spezifisch südasiatische genealogische Anknüpfungspunkte, von reisenden bioscopewallahs,2 fahrenden Filmkollektiven bis zu gegenwärtigen Filmemacher_innen, die der Begleitung ihrer Filme eine zentrale Bedeutung beimessen. Mobilität als Konzept zum Verständnis von Filmpraktiken antwortet auf diese in der Geschichte eines aktivistischen Dokumentarfilms – zumal in Südasien – stark verankerten, digital ausgeweiteten Möglichkeiten einer relativ unabhängigen mobilen und mobilisierenden Praxis. Aber sobald wir von den vertrauten Metaphern physischer Mobilität zur

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Übersetzung des Zitats von Levinas aus Delhom und Hirsch (2007, 26).

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Eine reisende Filmkultur war bereits schon durch die seit kolonialer Zeit bestehende und seither sich in neuen Medienlandschaften adaptierend wandelnde Profession der biscopewallahs in Südasien vorhanden (Mahadevan 2010). Mit aus Resten selbst zusammengebauten, improvisierten Projektoren und zu Kilopreisen erworbenen Restpostenfilmbändern stellt dies eine spezifisch südasiatische Genealogie einer auf Mobi-



lität beruhenden Filmpraxis dar.

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Herstellung von Zeugenschaft durch verschiedene Mobilitätsebenen kommen, spielen ethische Momente eine wichtige Rolle, die ich über phänomenologische Ansätze anging: wer kann sich mit verschiedenen Formen des Erscheinens des Anderen identifizieren, wer nicht, und wer kann darüber hinaus, darunter hindurch oder dazwischen denken? Das sind Fragen, die die negative Theologie des kaschmirischen Mystiker Samad Mir und den von der jüdischen Mystik geprägten Denker Emmanuel Levinas mit dem Inhalt dieses Buchs verbindet. Die Denkfigur des Dritten ist bei Levinas an die subjektive Position gegenüber dem einzelnen Anderen gebunden, die das Maß staatlicher Regulation und Legimtität (also dem Staat als Dritten) vorgeben sollte und folglich an die Souveränität als Frage der Ethik appelliert (Delhom und Hirsch 2006, 29). Samad Mir deutet darüberhinausgehend eine radikale Unsicherheit von Subjektivität und Souveränität an, ein jenseitiges Drittes: wer gehört zu wem, wenn die Eigenen keine Ahnung haben? Dann hängt der offene Appell »übe Gerechtigkeit« in der Luft. Er könnte sich messianisch in den Wolken andeuten, oder, wie ein weiterer kaschmirischer Mystiker, Sheikh Nooruddin, sagte, helfen, eine »Brücke über das Nichts« zu schlagen. Es bleibt offen, wer der Adressat dieser Zeilen ist: Gott, der Staat oder der jeweils andere Mensch? Genau aus dieser Offenheit beziehen die Zeilen ihre Kraft. Diese in vorherigen Kapiteln immer wieder thematisierten Fragen von Subjektivität, Territorialität (Imaginationen von Souveränität, Geopolitik, Tourismus, Terrorismus, etc.) und Ethik habe ich über Momente der Mobilität als öffnendes, ermächtigendes Potential einzelner Menschen zu fassen versucht, identitätspolitische Artikulationen zu hinterfragen. Aber der Begriff Mobilität wurde auch im Zusammenhang mit filmischen Texturen und sozialen Strukturmomenten verwendet. Im Verlauf des Buches habe ich gezeigt, wie Repräsentationen von (Im-) Mobilität, emotionale Mobilisierung, imaginative Mobilität und physische Mobilität als zentrale Momente der filmischen Praxis der von mir begleiteten Filmemacher_innen ineinandergreifen. So ist Mobilität nicht nur eine beliebige Linse, die dabei helfen soll, die Dynamiken des Konflikts in den Blick zu bekommen – insbesondere Aspekte, die im identitätspolitischen Kampf aus- und abgeblendet werden. Vielmehr argumentiere ich, dass sie mediale Praktiken an den Orten ihrer höchsten Intensität zu bündeln hilft, in Momenten der Anfechtung, der Argumentation, der Sehnsucht nach politischer Handlungsmacht, dem narrativen Kampf um Erinnerung und Geschichte, der gemeinsamen Suche nach etwas Verbindenden und, schließlich, der möglichen Öffnung hin zu Vergebung und Einsicht. Diese Pluralität von Momenten des Engagements mit der Film-Form – jenseits textueller Repräsentationen oder ausschließlich auf narrative Schemata ausgerichtete Forschungen – ist nicht peripher für eine filmische Praxis zu Kon-

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fliktregionen: sie steht vielmehr für das Ensemble von Erwartungen und Erfahrungen, das immer wieder Menschen um das Medium Dokumentarfilm versammelt. Diese Momente liefern die Energie, mühsame Filmprojekte ohne viel Aussicht auf Monetarisierung über viele Jahre zu verfolgen. Sie lassen uns die leidenschaftlichen Zuschauer_innenschaften in Indien verstehen, die sich in Kleinstädten bei vierzig Grad in nichtklimatisierten Räumen zusammenfinden, um die Filmemacher_innen bis spät in die Nacht in Gespräche zu verwickeln. Sie graben die Zeugnis-Sequenzen der Filme auf der Suche nach der Wahrheit des Dokumentarfilms um. Ich konnte durch punktuelle Begleitung der Filmemacher_innen zu den Orten, an denen sich die Form zwischen multiplen Aushandlungen, Emotionen, Argumenten und Leidenschaften realisiert, einiges von den oben erwähnten Momenten einfangen und in Detailanalysen darstellen. Um es noch einmal in anderen Worten zu sagen: die methodologischen Vorzüge einer Mobilitätslinse in der Konfliktfilmforschung bestehen darin, die oft getrennten – aber von Synergien durchzogenen – Ebenen der Handlungsmacht, der Repräsentationen, Emotionen und sozialen Strukturmomente in einem gemeinsamen Begriffsfeld zu konzipieren und so oft disziplinär getrennt betrachtete Aspekte unter einem vom empirisch beobachteten Phänomen geleiteten Überbegriff zusammenzudenken. Ist dieser Begriff nun zu lose, wie ich gelegentlich bei meinen Vorträgen zum Thema hörte? Eine Metapher ist etymologisch ein Fortbewegungsmittel und solche können bekanntermaßen mit uns durchgehen. Der Griff des Begriffs auf das Empirische setzt für jede sozialwissenschaftlich genutzte Metapher in seiner Kapazität an, zu verstehen und zu erklären, sich mit den Phänomenen auf eine nachvollziehbare Weise zu verzahnen. Eine Verbindung so unterschiedlicher Bereiche durch eine zugegebenermaßen recht fluide Metapher (fluide auch deshalb, weil sie noch relativ ungewohnt ist) muss daher umso mehr in spezifischen Handlungskontexten ansetzten und über Detailanalysen seine analytische Kraft unter Beweis stellen. Dafür gibt es noch viele Möglichkeiten in anderen Konflikträumen eines »Cinema of Conflict«, die schließlich nicht nur geopolitisch verstanden werden müssen, sondern sämtliche Konflikte einbeziehen können, in denen Mobilitäten von zentraler Bedeutung sind. In diesem Fazit möchte ich aus den spezifischen Kontexten des KaschmirKonflikts herauszoomen und weitere Anknüpfungspunkte einer medienkulturellen Mobilitätsforschung zu Dokumentarfilmpraktiken aufzeigen. Ich möchte noch einmal auf die politische Ökonomie zu sprechen kommen: Im gegenwärtigen Informationskapitalismus kommen Affekten als Akkumulationsmittel eine immer größere Bedeutung zu. Dies eröffnet Fragen zu globalen Förderungsstrukturen, die durch pitching sessions ein bestimmtes emotionales Engagement normativ voraussetzen, wie zum Beispiel durch das narrative Schema der Helden-

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reise oder durch die Darstellung von Opfern in einer Form des Menschenrechtsdiskurses. Wenn also – wie es in den von mir beachteten Filmen oft der Fall war – in eher globalen Diskursen der Menschenrechte oder in Verbindung mit den Tropen »Terror« und »Tourismus« nicht einfach anschlussfähige Subjektivitäten artikuliert werden, spielt die intensive Arbeit mit der Form und mit Emotionen eine zentrale Rolle dabei, Menschen zu berühren, ohne auf stereotype Erzählschemata zurückzugreifen. Gleichzeitig zeigt sich momentan in weltweit geführten Debatten zum Populismus, dass neue mediale Formen, die eine ausgearbeitete emotionale Präsentationsform mit einer gewissen Ruhe ihrer kommunikativen Vermittlung verbinden, eine besondere Aktualität haben, um über komplexe Themen wie Konfliktregionen über territoriale Grenzen hinaus zu sprechen. Die 24/7 Nachrichtenkanäle und der direkte Zugang zu Informationen auf sozialen Netzwerken werden oft im Kontext einer Gleichzeitigkeit besprochen, die gelegentlich auch auf die Digitalität, also die Prägekraft einer neuen medialen Konfiguration bezogen werden, in der »das Digitale« tonangebend sei. Meine Analysen haben jedoch gezeigt, dass medienkulturelle Ansätze nicht etwas über »digitale Bildkulturen« aussagen können, wenn sie nicht durch den Fokus auf spezifische Praktiken kontextualisiert werden. Diese »Ruhe« der Praxis der von mir begleiteten Filmemacher_innen war sowohl von den billigeren Produktionsbedingungen als auch von den nicht-linearen Möglichkeiten des digitalen Filmschnitts mitbedingt. Fatima, Falak und Kak haben ihre Filme über Jahre hinweg immer wieder neu schneiden können – zumeist in Auseinandersetzung mit Kommentaren von Zuschauer_innen oder den Reaktionen von Freunden, Bekannten und Akademiker_innen. So gelten filmische Artefakte nicht als fertig mit Abschluss der Präsentationsform, sondern weiterhin als dialogisch offen: sie wurden über Jahre hinweg regelmäßig gezeigt und in Begleitung der Filmemacher_innen besprochen. Aber auch hinsichtlich der Regulation spielen die Begleitung der Filme und neue Verknüpfungen einer digitalen unabhängigen Filmkultur eine wichtige Rolle. Da viele Filme nicht durch den offiziellen Zertifikationsprozess gingen, kann durch die Mobilität der Filmemacher_innen diese legale Verletzlichkeit durch die Wahl von spezifischen – zahlenmäßig durch digitale Projektoren jedoch rasant wachsenden – Orten und Umständen der Filmvorstellung reduziert werden. Alle diese Möglichkeiten entspringen also nicht den digitalen Medien, sondern müssen in der schnell getakteten und gleichzeitig in bestimmten Formen sich demokratisierenden und wandelnden Welt zunehmend digital bestimmter Medienlandschaften verortet werden. Das ständige neue Editieren der Filme, die langen Produktionszeiten, die extrem vorsichtige Ausgestaltung und die Kontrolle der emotionalen Ebene des Films: alle diese Aspekte in Fatimas, Falaks, Kaks

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und Rainas Praxis zeigen mögliche Wege einer audiovisuellen Kommunikation auf, die jenseits spezifisch südasiatischer Kontexte mögliche Anknüpfungspunkte für eine emanzipatorische Medienpraxis bereithalten. In einer solchen Praxis spielt die begleitende Kopräsenz der Filmemacher_innen mit den Filmen eine entscheidende Rolle, gerade weil eine schnelllebige Politik des Skandals und der publizitätswirksamen Aneignung droht. Diese durch digitale Technologien erweiterten Möglichkeiten der Mobilität und Zeitlichkeit unabhängiger Filmpraxis sollte uns jedoch nicht die Einschränkungen des Feldes – von der prekären finanziellen Situation vieler unabhängiger Dokumentarfilmemacher_innen bis hin zu den oft nationalistisch codierten Öffentlichkeiten – vergessen lassen. Zum Schluss eines Buchs gibt man sich gerne hoffnungsvoll. Aber die letzten zwei Jahre des Kaschmirkonflikts (2016 und 2017) sprechen nicht die Sprache der Hoffnung, falls unter dem Begriff eine erkennbare Tendenz verstanden sein sollte, dass in absehbarer Zeit die Nationalismen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, die den Konflikt am Laufen halten, an Stabilität verlieren würden. Die Hoffnung ist ein ambivalentes Gefühl, das auf Wissen aufbaut, ohne auf dieses reduziert werden zu können. Ohne sie schaffen wir es morgens manchmal kaum aus dem Bett, doch dürfen wir sie nicht im Optimismus verwässern. Dann verlieren wir den den Grund unter den Füßen. Wir gehen dann nicht über die oben zitierte »Brücke über dem Nichts«, sondern durch die Weiten unserer Vorstellungskraft, in der Gläser entweder halbvoll oder halbleer sind. Vielleicht ist die Hoffnung negativ zu verstehen – so hätten es kaschmirische Mystiker wie Sheikh Nooruddin oder Lal Ded vielleicht gesehen: könnte die geteilte Unsicherheit und der im Alltag erlebte Verlust Menschen verbinden, die sich im Positiven, also in dem, was sie kulturell von sich und anderen sagen, immer weniger teilen? Vielleicht kann ich durch zwei kleine Sequenzen aus Sanjay Kaks »Jashn-eAzadi« diese Form der Hoffnung veranschaulichen. Beide Sequenzen beschäftigen sich mit dem Exil der Kashmiri Pandits. Ihre Kürze im Verhältnis zum insgesamt sehr langen Film brachten Kak gelegentlich den Vorwurf ein, die »Panditfrage« einer »azādī-Propaganda« unterzuordnen und sie nur zur Wahrung einer oberflächlichen politischen Korrektheit erwähnt zu haben. Aber viele sahen in ihnen auch eine subtile Darstellung eines verbindenden Verlusts, der einer komplexen Form bedarf, um nachvollziehbar zu werden. Beide Sequenzen bilden ein thematisches Ensemble. Sie bestehen aus Beobachtungen eines verlassenen Hauses und anschließenden Kamerabewegungen durch die leeren Räume und die besetzte Stadt. Entscheidend ist die Tonspur. Sie ist ein mehrfach unterbrochener Telefonanruf mit dem Dichter Pyare Hatash. Er trägt sein Gedicht »Verlust« am Telefon vor, und zwar aus seinem Haus in Jammu-Stadt, vom in-

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nerindischen Exil aus. Während die Kamera tastend die Räume des leeren Hauses im Kaschmirtal durchforscht, bleibt die Distanz zwischen Stimme und Bild, zwischen 1990 und 2007 - dem Exil und dem Erscheinungsjahr von Kaks Film bestehen, während die durch die Leitung rauschende, gebrochene Stimme sein Gedicht paraphrasiert. Schließlich spricht er davon, sein Haus in Jammu nicht mehr zu verlassen aufgrund von Politik und Gewalt, die sich wie ein Nebel um ihn und das Tal legen. Ich möchte hier zwei Verse mit meiner Übersetzung wiedergeben: Vand ratsan hund yāranae rov Sombrith bas aes akh partit 

 Voth banas thann, khazanae rov. Aekhir gayre yaelle noon chond drav Dai zānan, kaemsana vanay rov. Yus tsaenan aus paghuk raz Sui darvesh, mastaney rov. Die Freundschaften winterlicher Nächte sind verloren Wir sorgten uns um nur eine Würde Unsere Truhen waren wachsam, doch der Schatz verloren.
 Wenn wir schließlich mit leeren Händen hinausgehen

 Gott weiß, in was für Wäldern er verloren ging. Der das Geheimnis von Morgen kennt,
 dieser verrückte Heilige ist verloren. Mit der Hoffnung, dass der Verlust des verrückten Heiligen auch eine Chance auf die Aufgabe des hyperbolisch aufgeladenen Raums des Kaschmirkonflikts bereithält, möchte ich das Buch beenden. Den Alltag der Konfliktregion in der Politik zu berücksichtigen, ist notwendig, um zwischen den verhärteten Erzählungen Öffnungen zu schaffen. Der unabhängige Dokumentarfilm ist eine der differenziertesten und emotional bewegendsten Quellen, um diesen Alltag – sowie seine Leerstellen – darzustellen und so Menschen jenseits ihrer identitätspolitischen Schemata anzusprechen und Empathie zu erzeugen.

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Register

Abdullah, O., 135, 152, 154, 156 Abdullah, S., 144 Ahangar, P., 193, 194, 195, 203, 209 Repräsentation von, 197 Armed Forces Special Powers Act (AFSPA), 102, 193 Association of Parents of Disappeared Persons (APDP), 59, 101, 102, 104, 171 Ästhetik, 19 alternative, 32 Begriff der, 19 des Films, 30 politische, 38 Athique, A., 149, 150 Bakshi, N., 134 Bazaz, A., 29, 55, 62, 73, 74, 92, 93, 113, 114, 115, 117, 128, 212, 243, 265 Bruzzi, S., 20 Butler, J., 20 Casanova, J., 140 Central Board of Film Certification (CBFC), 100, 102, 107 Chopra, V.V., 134 Chopra, Y., 135, 155, 156 Cinemas of Conflict, 21, 30, 36

Begriff des, 35, 66 Deleuze, G. und Guattari, F., 22 Delhi, 14, 23, 48, 55, 57 Dokumentarfilm Begriff des, 40, siehe Performanz global, 29 in Indien, 39 kreativer, 40 und Zeugenschaft, 25 Doordarshan (DD), 243, 270 Drittes Kino, 30 Ewald, S., 216 Exil, 252, 256, 257 der Kashmiri Pandits, 251, 257, 258, 259, 260, 291, 292 Gefühlsstrukturen des, 251, 260 Falak, U., 18, 19, 24, 62, 63, 74, 104, 105, 128, 163, 169, 187 Biographisches, 210, 211 Politik und Film, 216, 218, 226, siehe Säkularismus Filmpraxis, 40 unabhängige, 15 Dokumentarfilm, 41, 54 und wissenschaftliche Praxis, 21 Films Division of India (FD), 42, 43, 91, 253

322 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT

Gaur, M., 29, 92, 93, 114, 134, 142, 144, 145, 162, 241 Geelani, S.A.R., 264 Geelani, S.A.S., 146, 181, 227 Geelani, S.B., 23 Ghufran, I., 211, 244 Habermas, J., 83 Haut des Films, 206, 207 Higbee, W. und Lim, S.H., 45, 46, 231, siehe Transnationalismus Hurriyat, 61, 145, 159, 171, 181, 227 Imagination, Begriff der, 22 der Moderne, 134 siehe Moderne des Konflikts, 67, 117 ethische, 70 Kaschmir als Paradies, 135, räumliche, 115 transregionale, 238, 265, 288, 117 Jala, R., 107, Jamaat-e-Islami, 56, 141, 146, 171 Jamia Millia Islamia, 74, 89, 229, 265 MCRC, 113, 172, 211, 266 Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF), 158, siehe Hurriyat Jan, B., 98, 212, 243 Joshi, S., 266 Kabir, A., 115, 127, 133 Kak, S., 23, 27, 58, 62, 74, 96, 176, 211, 234, 267, 271 Biographisches, 263 Politik und Film, 264, 268, 271, 272, 281, siehe Pratirodh ka Cinema

Kashmir Before Our EyesFilmfestival (KBOE), 91, 157, 234, 237, 251, 255 Kashmiri Pandits, 13, 106, 111, 183, siehe Kashmiriyat, siehe Exil Identitätsdiskurse von, 258 Kashmiriyat, 94, 112, 114, 115, 145, 240, 241, 256, siehe Säkularismus als leerer Signifikant, 145 Kher, A., 107, 257, 261 Köhn, S., 70, 79 Konversation als Methode, 73, 76, 78 Kumar, A., 92, 100 Kumar, P.R., 158 Marks, L., 206, 207 Medialisierung, 80, 82, 88, 93 Begriff der, 68 Mehrotra, R., 242, 245 Menschenrechte, 97, 290 Militarisierung, 12, 155, 156, 162, 193, 194 Minderheiten Film und, 41 Hinterfragen der Logik von, 98 in Kaschmir, 238 Muslime in Indien, 141 Mobilität, 20, 52, 53 Begriff der, 20 imaginative, 78 Mobilitätslinse, 21, 53, 66, 68, 69, 70 Moderne, 124 Imagination der, 134 Othering und, 133, 142 Tourismus und, 129 Mufti, M.S., 155

R EGISTER | 323

Mumbai International Film Festival (MIFF), 103, 237 Naficy, H., 217, 250 Nationalismus Anti-, 124 Hindu-, 94, 142, 163, 261 indischer, 48, 230, 231 kaschmirischer, 96, 134, 207 methodologischer, 44 säkularer, 241 Sub-, 99 Nichols, B., 37 Nizaruddin, F., 244 Normalcy, 123, 124, 154, 156 Begriff der, 152 Öffentlichkeit, 46, 47, 62, 68, 83, 84, 85, 183, 206 bürgerliche, 83 Gegenöffentlichkeit, 83, 266, 283 Imagination der, 21, 283 nationale, 47, 207, 291 transregionale, 265 Pandit, A., 94, 257 Performanz, 20 Prasar Bharati, 118, 211, 243 Pratirodh ka Cinema (Cinema of Resistance), 196, 234, 266, 282, 283 Public Diplomacy Department des Indian Ministry of External Affairs, 220, 243, 244 Public Service Broadcasting Trust, 23, 43, 55, 99 Raina, A., 27, 58, 62, 91, 107, 110, 111, 233, 234, 236, Biographisches, 237 Raina, M.K., 113 Rajagopal, A., 225, 226

Rancière, J., 38 Ratnam, M., 135, 142, 147 Robins, K., 68, 69, 76 Säkularismus, 142, 201 Debatte, 142 nationaler, 139 Hindi-Film und, 142, 150, 162 Ideologie des, 140 indische Polity und, 141 indischer, 141, 142, 143 Kommunalismus und, 140 nationaler, 104, 125, 139, 142, 144, 146, 169, 240, siehe Kashmiriyat visueller, 94, 223 Sarma, I., 109 Schneider, N.-C., 53, 69, 72, 80, 140, 168, siehe Mobilitätslinse Securitization, 123, 127, 138, 152, 161, 162, 165, 185 Begriff der, 26, 137 Sennett, R., 76, 77 Sharma, A., 153 Sharma, S., 279 Sheller, M und Urry, J.. siehe Mobilität Shohat, E., 32 Shohat, E. und Stam, R., 50, 66, 78, 77 Singh, H., 91, 131 Singh, K., 95, 109 Singh, S., 148 Smets, K., 25, 35, 36, 37, 38, 46, 47, 88, 89 Teilung Britisch-Indiens, 238, 239, 262 Territorialisierung, 22, 70 Begriff der, 22 Deterritorialisierung, 22, 32, 69

324 | M OBILITÄT UND Z EUGENSCHAFT

imaginäre, 136 nationale, 151, 286 Reterritorialisierung, 278 Terrorismus Imagination des, 135, 137, 139 Mediendiskurse des, 226 Tourismifizierung, 26, 27, 123, 152, 154, 158, 161, 162, 165, 185 Begriff der, 128 Transnationalismus Begriff des kritischen, 45, 48 kritischer, 30, 69, 231, 235 Urry, J., 136, 165, siehe Mobilität Vasudevan, R., 142, 150 Verschwindenlassen, 174

Definition von, 14 VIBGYOR-Filmfestival, 99 Vohra, P., 42, 43, 226 Winston, B., 42, 43 Wolf, N., 79, 226 Zeugenschaft Begriff der, 17, 60 emotionale Mobilisierung von, 179 haptische, 203 künstlerische Praktiken und, 79 mobile, 27, 60, 81, 82, 84, 85, 185, 188, 198, 199, 207, 209, 227, 228, 288 öffentliche, 83 der Dokumentarfilm und, 40

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