Transdifferente Lehre: Über den didaktischen Umgang mit Heterogenität 9783839449479

In der transdifferenten Lehre wird die kulturell heterogene Situation des zeitgenössischen akademischen Lehrbetriebs nic

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German Pages 196 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Danksagung
Einleitung
Universität als Raum der Differenzen.Forschungsobjekt
Forschungsstand
Didaktischer Umgang mit Heterogenität
Heterogenität in der akademischen Lehrpraxis
Praxeologische Ansätze der Interkulturalität in der akademischen Lehre
Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz
Interkulturalität in der akademischen Literaturvermittlung
Interkulturalität in der Fremdsprachenvermittlung
Subjektive Theorien als methodische Grundlage
Differenz als Kategorie in der akademischen Lehre
Universität als Denkkollektiv nach Ludwik Fleck
Die (non-)duale Betrachtung der akademischen Lehrenach Josef Mitterer
Transdifferenz im Kontextdes akademischen Lehrbetriebs
Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung
Universität als Institution im Sinne von Mary Douglas
Akademische Lehre im Kontext der Bologna-Reform
Institutioneller Umgang mit Differenzen – ›Diversity‹
Universitäten als relativ stabile Denkkollektive
Wissensvermittlung und Wissensproduktion
Wissensvermittlung im akademischen Lehrbetrieb
Wissensproduktion in der akademischen Lehre
Transdifferente Lehre
Nichtverstehen und emotionale Erfahrung
Lehrende als Moderierende
Der transdifferente Seminar-Raum
Seminar-Gemeinschaft
Literatur in der transdifferenten Lehre
Phänomenologische Zugänge
Mediale Funktion der Literatur
Fiktionaler Text als Medium der Wissensproduktion
Der transdifferente Leseakt
Erfahrung als Grundlage bei Erschließung fiktionaler Texte
Textwirkung in der transdifferenten Lehre
Spiel als Regelwerk der transdifferenten Lehre
Fallbeschreibung
Modell der transdifferenten Lehre
Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Gedruckte Veröffentlichungen
Internetressourcen
Internetressourcen ohne Angabe der Autorenschaft
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Transdifferente Lehre: Über den didaktischen Umgang mit Heterogenität
 9783839449479

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Antonina Balfanz Transdifferente Lehre

Pädagogik

Für Studierende, die mir einen Einblick in ihre Welten gewährt haben.

Antonina Balfanz, geb. 1968, ist Germanistin an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina. Als Studienfachberaterin und Lehrende im Studiengang Interkulturelle Germanistik arbeitet sie mit kulturell heterogenen Studierendengruppen, in denen sie die aus der Vielfalt resultierenden Differenzen produktiv in den Lehrbetrieb einbindet. Sie publizierte u.a. zu interkulturellen Verflechtungen und zur Entwicklung der Zivilgesellschaft im deutsch-polnischen Kontext.

Antonina Balfanz

Transdifferente Lehre Über den didaktischen Umgang mit Heterogenität

Das Buch entstand als Dissertation an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Gutachterin und Gutachter: Prof. Dr. Bożena Chołuj Prof. Dr. Maciej Mackiewicz Die Disputation fand am 7. Februar 2019 statt. Diese Publikation wurde durch die Kulturwissenschaftliche Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) finanziell gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Wenke Lewandowski, Berlin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4947-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4947-9 https://doi.org/10.14361/9783839449479 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung.............................................................................................7 Einleitung .............................................................................................. 9 Universität als Raum der Differenzen. Forschungsobjekt ....... .............................................................................. 17 Forschungsstand ...................................................................................... 21 Didaktischer Umgang mit Heterogenität .................................................................... 23 Heterogenität in der akademischen Lehrpraxis ............................................................ 29 Praxeologische Ansätze der Interkulturalität in der akademischen Lehre ......................... 33 Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz .............................................. 35 Interkulturalität in der akademischen Literaturvermittlung .................................... 41 Interkulturalität in der Fremdsprachenvermittlung................................................48 Subjektive Theorien als methodische Grundlage ................................................ 53 Differenz als Kategorie in der akademischen Lehre ..................................................... 58 Universität als Denkkollektiv nach Ludwik Fleck ......................................................... 63 Die (non-)duale Betrachtung der akademischen Lehre nach Josef Mitterer........ ........................................................................................66 Transdifferenz im Kontext des akademischen Lehrbetriebs ....... ............................................................. 71 Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung ....... ...................................................................... 77 Universität als Institution im Sinne von Mary Douglas.................................................... 78 Akademische Lehre im Kontext der Bologna-Reform.....................................................82 Institutioneller Umgang mit Differenzen – ›Diversity‹ .................................................. 86 Universitäten als relativ stabile Denkkollektive ............................................................ 87

Wissensvermittlung und Wissensproduktion...................................................... 91 Wissensvermittlung im akademischen Lehrbetrieb ....................................................... 92 Wissensproduktion in der akademischen Lehre ...........................................................95 Transdifferente Lehre ............................................................................... 101 Nichtverstehen und emotionale Erfahrung .................................................................104 Lehrende als Moderierende..................................................................................... 110 Der transdifferente Seminar-Raum .......................................................................... 112 Seminar-Gemeinschaft .......................................................................................... 114 Literatur in der transdifferenten Lehre ........................................................... 119 Phänomenologische Zugänge..................................................................................120 Mediale Funktion der Literatur................................................................................. 124 Fiktionaler Text als Medium der Wissensproduktion ..................................................... 127 Der transdifferente Leseakt ....................................................................... 133 Erfahrung bei der Erschließung fiktionaler Texte ........................................................ 140 Textwirkung in der transdifferenten Lehre ................................................................. 142 Spiel als Regelwerk der transdifferenten Lehre...........................................................148 Fallbeschreibung ..................................................................................................155 Modell der transdifferenten Lehre ................................................................ 169 Zusammenfassung und Ausblick.................................................................. 173 Literaturverzeichnis ................................................................................ 179 Gedruckte Veröffentlichungen ................................................................................. 179 Internetressourcen ............................................................................................... 187 Internetressourcen ohne Angabe der Autorenschaft .................................................... 191

Danksagung

Ein Dissertationsprojekt neben Familie und Beruf zu verfolgen ist nicht selbstverständlich und ohne die stetige, leise, aber starke Unterstützung meiner beiden Töchter, meiner Schwester und Freunde wäre es wohl nie zustande gekommen. Besonders wichtig war mir der fachliche Austausch mit interessierten Kolleginnen und Kollegen, deren Beobachtungen und Hinweise oft richtungsweisend oder korrigierend auf meine Arbeit wirkten. Meiner Erstbetreuerin, Prof. Dr. Bożena Chołuj, danke ich dafür, dass sie mich mit Expertise und Geduld durch dieses Projekt begleitet hat. Mit Ermutigung zum »anders denken«, aber auch mit konstruktiver Kritik half sie das herauszufinden, was die Arbeit weitergebracht hatte. Viele Inspirationen schöpfte ich aus dem Forschungskolloquium »Grenz- und Differenzstudien« an der Europa-Universität Viadrina. Zu einem momentanen Denkkollektiv zusammengekommen, verstanden es die Teilnehmenden, aus dem individuell vorhandenen Wissen ein kollektives zu produzieren, das dann wieder individuell weiterentwickelt wurde. Ein weiterer Dank gilt meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Maciej Mackiewicz, der trotzt großer Arbeitsbelastung Zeit und Energie gefunden hat, sich meiner Dissertation zu widmen und wertvolle Tipps zu geben. Der größte Dank jedoch gilt zwei Personen, die das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben können, ohne die es aber nie dazu gekommen wäre: meinen Eltern. Klugen, bescheidenen Menschen, die uns Kindern ihre tiefe Überzeugung, dass es im Leben auf Erkenntnis ankommt und dass Denken Freude macht, weitergegeben haben.

Einleitung

Von zeitgenössischer akademischer Wissensvermittlung an einer von Internationalität geprägten Universität in Deutschland zu sprechen heißt, über Heterogenität und Umgang mit Differenzen zu sprechen – und dies nicht mit dem Ziel, Harmonie zu schaffen, in der die Differenzen ihre Eigenheiten verlieren und keine Konflikte mehr erzeugen, sondern um in den Konflikten und Interaktionen ein Potential für neue, fruchtbare Konfigurationen für akademische Wissensproduktion und Wissensvermittlung zu finden. Die Heterogenität an den zeitgenössischen europäischen Universitäten nahm unter anderem mit der Einführung des sogenannten Bologna-Systems zu und steht in Verbindung mit den Instrumenten, wie beispielsweise Gesetzen und Förderprogrammen, mit denen die Länder die Internationalisierung von Wissenschaft und Lehre fördern. Das Phänomen Heterogenität begleitet die Institution Universität seit ihrer Entstehung. Durch den Bologna-Prozess wurden die Transferprozesse verstärkt und Differenzen zwischen Wissenschaftskulturen, zwischen Kulturen der Wissensvermittlung und zwischen den Menschen sichtbarer. Im Effekt der Bologna-Reform gibt es kaum eine Universität, an der keine Dozierenden aus anderen Wissenschaftskulturen forschen und lehren würden und an der es nicht sprachlich und kulturell verschiedene Studierende gäbe. An diesem Ort der interkulturellen Begegnung und Zusammenarbeit beschränkt sich die Vielfalt nicht nur auf sprachliche und kulturelle Differenzen, sondern sie ergibt sich aus unterschiedlichen Konstitutionen und Konstellationen von Identitäten und Zuschreibungen. In der Beschaffenheit der akademischen Lehre können zunächst binäre Oppositionen erkannt werden, z.B. Kultur- und Naturwissenschaften, Theorie und Praxis, eurozentrische und außereuropäische Wissenstraditionen. Bei näherem Betrachten erscheinen Markierungen und Grenzen aber als vielschichtige und komplexe Verflechtungen und die universitäre Lehre im Kontext dieser Heterogenität als dynamischer Raum zahlreicher Interaktionen, die ich in dieser Arbeit zu beschreiben versuche. Als Ausgangsgedanken meiner Untersuchung verwende ich dabei die von Homi Bhabha gestellte Frage, ob Oppositionen nicht als verschiedene Facetten einer Erscheinung betrachtet werden können.1 1 Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. S. 33.

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Transdifferente Lehre

Differenzen betrachte ich nicht als Oppositionen, nicht voneinander getrennt, nicht als Zustand. Ich sehe sie in einem ständigen Prozess interagieren, der in fluktuierenden Relationen mal mehr mal weniger intensiv verläuft. So schreibt Elisabeth Bronfen: »Differenz ist nicht die Marke für eine Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Zentrum und Rändern, sondern ein unumgänglicher Ort mitten im Zentrum.«2 Die Verschiebung von Differenz ins Zentrum der Aufmerksamkeit macht ihre Beweglichkeit sichtbar. Sie erscheint als fließend, flexibel, stellt keine feste Form mehr dar. Jede Stabilität ist ein Ergebnis permanenter Dynamik der Differenzen, das jedoch wandelbar ist. Dieses Attribut der Differenzen betont Antje Kley. Sie schreibt, Differenzen seien kein statisches Merkmal der Unterscheidung (distinctio), sondern sie würden sich durch »Inkommensurabilität oder mangelnde Anschließbarkeit, welche die Suche nach und Konstruktion von Anschlussmöglichkeiten generiert«3 , auszeichnen. In diesem Sinne gehe ich der Frage nach, wie die Prozesse der ›Suche nach und Konstruktion von Anschlussmöglichkeiten‹ verlaufen können, ob daraus erkennbare Muster abgeleitet werden können und was die Folgen der Überlagerung und Vermischungen verschiedener Differenzen sind – und zwar in Bezug auf die akademische Wissensvermittlung in der Arbeit mit Seminargruppen, die aus internationalen und kulturell heterogenen Studierenden bestehen. Heterogenität ergibt sich, wie bereits gesagt, aus der Mobilität der Studierenden sowie aus dem Wahrnehmen persönlicher Konditionen und muss nicht erst hergestellt werden.4 Besonders in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen bieten sich viele Themen und Momente der akademischen Arbeit an, die sich mit der kulturbewussten Wissensvermittlung, d.h. einer Vermittlung, die die Heterogenität der Studierenden und Dozierenden produktiv berücksichtigt, verbinden lassen. In der vorliegenden Arbeit suche ich nach Parallelen zwischen literaturtheoretischen sowie erkenntnistheoretischen Ansätzen und der Wissensvermittlung und frage, inwieweit die Erkenntnisse aus diesen Bereichen Aufschluss über den didaktischen Umgang mit Heterogenität in der akademischen Lehre geben können. In diesem Zusammenhang schlage ich ein Modell vor, das ich ›transdifferente Lehre‹ 2 Bronfen, Elisabeth (2000): Vorwort. In: Bhabha, Homi K. Die Verortung der Kultur. Tübingen. S. XI. 3 Kley, Antje (2002): »Beyond control but not beyond accommodation«: Anmerkungen zu Homi K. Bhabhas Unterscheidung zwischen cultural diversity und cultural difference. In: Christof Hamann und Cornelia Sieber (Hg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hildesheim. S. 53-65, hier S. 57. 4 Wie das oft z.B. im Fremdsprachenunterricht in Gruppen, die eine homogene Ausgangssprache sprechen, oder in interkulturellen Trainings der Fall ist. In diesen Formaten wird auf Rollenspiele zurückgegriffen, was eine Möglichkeit ist, Differenzen sichtbar zu machen. Eine Rolle zu spielen heißt jedoch, mit eigener Interpretation des Anderen zu arbeiten.

Einleitung

nenne, in dem ich literaturwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Herangehensweisen auf die Prozesse der Wissensvermittlung in kulturell heterogenen Gruppen im Seminar-Raum übertrage. Der Seminar-Raum stellt im Kontext meiner Untersuchung sowohl einen physisch markierten Raum (Seminarraum) im Gebäude dar, in dem sich die Seminargruppe im Laufe eines Semesters trifft, als auch einen Zeit-Raum, das Semester, während dessen gemeinsam gearbeitet wird, sowie einen Denk-Raum, der durch vorhandenes Wissen und Differenzen entsteht, die sich zu neuen Konstellationen fügen, und Erkenntnisse, aber auch Konflikte produzieren.5 Im Modell der transdifferenten Lehre berücksichtige ich sowohl die Erkenntnisse als auch Defizite der bisherigen Forschung. Es gibt bereits Untersuchungen, die Heterogenität, Differenzen und Interkulturalität aus der Perspektive der Erziehungswissenschaften6 , Kulturgeschichte7 , Literaturwissenschaft8 , Kommunikationswissenschaft9 etc. analysieren und beschreiben.10 Diese versuche ich zu ergän5 Vgl. Kesper-Biermann, Sylvia (2013): Kommunikation, Austausch, Transfer. Bildungsräume im 19. Jahrhundert. In: Esther Möller, Johannes Wischmeyer (Hg.): Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion. Göttingen. S. 21-41, hier S. 27. 6 Z. B. Göhlich, Michael/Leonhard, Hans-Walter/Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hg.) (2006): Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz. Weinheim/München. Vgl. auch weitere Beiträge in diesem Band. 7 Z. B. Möller, Esther/Wischmeyer Johannes (2013): Transnationale Bildungsräume – Koordinaten eines Forschungskonzeptes. In: Esther Möller und Johannes Wischmeyer (Hg.): Transnationale Bildungsräume. Wissenstransfers im Schnittfeld von Kultur, Politik und Religion. Göttingen. S. 7-20.Vgl. auch weitere Beiträge in diesem Band. 8 Für die Literaturwissenschaft sind vor allem die Arbeiten von Wolfgang Iser zu nennen. In der interkulturellen Literaturdidaktik publizierten u.a. Karl Esselborn und Lothar Bredella. Interkulturalität in der Literatur erforschen u.a. Ortrud Gutjahr, Ansgar Nünning und David Simo. Die Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik Nr. 1/2017 enthält mehrere Interkulturalitätsbeiträge zum Schwerpunktthema »Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt«. Erwähnenswert ist auch die aktuelle Forschung zur Migrationsliteratur, mit der sich u.a. die Postcolonial Studies befassen. Andrea Leskovec hat eine Monographie im Rahmen der interkulturellen Literaturwissenschaft vorgelegt, in der sie phänomenologische und hermeneutische Ansätze, vor allem in Bezug auf das Fremde, zu einem Konzept der interkulturellen Literaturdidaktik verarbeitet. 9 In den Kommunikationswissenschaften werden Relationen und Interaktionen zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen besonders intensiv erforscht, was sich in den Publikationen (insbesondere) zur interkulturellen Kommunikation niederschlägt. Der Begriff Interkulturalität wird in den neueren Veröffentlichungen mitunter kritisch analysiert und neu ausgerichtet. Vgl. z.B. Castro Varela, Maria do Mar (2010): Interkulturelles Training? In: Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold (Hg.): Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld. S. 117-130. 10 Detailliert gehe ich auf diese Forschungsergebnisse im methodischen und im konzeptuellen Teil der Arbeit ein.

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Transdifferente Lehre

zen und zu einem Konzept zu bündeln, das auf die didaktische Arbeit mit kulturell heterogenen Gruppen anwendbar ist. Den Kern der vorliegenden Untersuchung bildet der Umgang an einer deutschen Universität mit den Herausforderungen, die Vielfalt an die akademische Lehre stellt – am Beispiel der Europa-Universität Frankfurt (Oder), an der ich langjährige Beobachtungen und Erfahrungen als Koordinatorin des deutsch-polnischen Bachelorstudiengangs Interkulturelle Germanistik sowie als Lehrende an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät gesammelt habe. Kulturelle Vielfalt wird in der Praxis der Wissensvermittlung von Akteurinnen11 als bereichernd, aber auch als herausfordernd wahrgenommen. Da die Universität als Raum dieser Vermittlung und als Institution eine hierarchische Struktur hat, hängt der Umgang mit der Vielfalt von Machtordnungen ab, die einen Einfluss darauf haben, was im Seminar-Raum passiert, wer dorthin kommt und mit welchen Erwartungen. So wird der Seminar-Raum in all seinen Formen vom Rahmen der Universität als Institution beeinflusst und bestimmt. Die doppelte Rolle der Universität – als Institution und als Ort der Wissensvermittlung – beeinflusst auch Erkenntnisse, die in diesem Seminar-Raum entstehen. Werner Kogge verweist darauf, dass in der Philosophie Lehre aus zwei Perspektiven diskutiert wird, zum einen aus der Perspektive der ›Werte‹ und zum anderen aus der Perspektive der ›Prozeduren‹.12 Zu untersuchen gilt daher, inwieweit die Universitäten von qualitativen Werten, die einen Freiraum einfordern, oder von Systemen und Prozeduren, die eine Wahrung des Ist-Zustandes garantieren sollen, geleitet werden; inwieweit die Antriebskraft einer zeitgenössischen, akademischen Wissensvermittlung, die Heterogenität produktiv nutzt, im Verstehen, Erkennen und Wissen liegt; oder in den Identifikationssystemen, in Standards und quantitativen Kontrollen zu suchen ist. Ich gehe der Frage nach, ob im Fall der zeitgenössischen deutschen Universität Werte und Systeme ähnlich wie Differenzen relational zueinander betrachtet werden können. Diese Möglichkeit sehe ich gegeben, solange es im System Universität Freiräume gibt, in denen der Perspektive der Werte nachgegangen werden kann und in denen zu allem kritische Fragen gestellt werden können. Entscheidend dabei ist die Autonomie der Lehrenden in ihrer akademischen Didaktik. Von diesem Punkt aus kann der Prozess der mit dem Identifikationssystem13 verbundenen Erkenntnisproduktion, die aus Interferenzen und Differenzen schöpft, begonnen werden. 11 Mit Nennung der weiblichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche Form mitgemeint. 12 Vgl. Kogge, Werner (2002): Die Grenzen des Verstehens. Kultur, Differenz, Diskretion. Weilerswist. S. 312. 13 Universitäten stellen Identifikationssysteme in dem Sinne dar, als sie bestimmte Wissenschaftskulturen repräsentieren.

Einleitung

Der Seminar-Raum spiegelt die Relation zwischen Werten und Systemen wider. Wird er als Ort der Wissensproduktion gesehen, dann wird die dort geleistete, gemeinsame Arbeit eher von Werten geleitet. Wird er als Ort der Wissensreproduktion gesehen, dann handelt es sich eher um Weitergabe von gefestigtem Wissen nach dem Top-down-Prinzip, von Lehrenden zu Studierenden. Unabhängig davon, welche Perspektive realisiert wird, die Perspektive der Werte oder die Perspektive der Prozeduren, ist der Seminar-Raum ein Ort für kontingentes Zusammentreffen von Differenzen, deren Trägerinnen die Seminarmitglieder sind. Bei der Option der Werte werden Differenzen für Austausch und Interaktion »frei gegeben« und als produktiv angesehen. Diese Option ist für meine Untersuchung interessant und ich versuche, die Mechanismen und Bedingungen, nach denen beim Analysieren von literarischen Texten Differenzen zum Vorschein kommen und Interaktionen zwischen ihnen entstehen, zu identifizieren und analytisch darzustellen. Das Konzept der transdifferenten Lehre lehnt sich des Weiteren an die Subjektiven Theorien im Sinne von Jörg Schlee und Norbert Groeben14 , an verschiedene und nach Bedarf variabel einzusetzende Methoden aus der Literaturwissenschaft, auch aus der interkulturellen Literaturwissenschaft und der interkulturellen Kommunikation, an. Das Adjektiv »transdifferent« ist dem Konzept der ›Transdifferenz‹15 entlehnt, welches sich für meine Suche nach einer Methodik der akademischen Lehre, die Differenzen als Faktor der Wissensvermittlung betrachtet, als fruchtbar erwiesen hat. Das Wort »Lehre« bedeutet hier keine Doktrin, das würde der Idee der transdifferenten Lehre widersprechen. ›Lehre‹ verstehe ich als einen aktiven Austausch von Wissen und individuellen Erfahrungen, an dem sich sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden beteiligen. Hanne Seitz schreibt, durch die Aufwertung von Handeln in den Geistes- und Sozialwissenschaften sei das Interesse an Erfahrungshorizonten und an Erfahrung, besonders an ästhetischer Erfahrung in den Hintergrund geraten. Die Prioritäten lägen beim Handeln, Herstellen, Bewirken, Konstruieren, Strategien entwickeln oder Praktiken anwenden.16 Ebenso in der akademischen Lehre wird das Erfahrungspotential von Studierenden meines Erachtens nach wenig genutzt, und die Lehre wird immer noch weitgehend als eine lineare Vermittlung des Wissens 14 Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (Hg.) (1998): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. S. 17-23. www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2765 [13.10.2018]. 15 Idee und Inspiration verdanke ich dem Beitrag von Klaus Lösch: Lösch, Klaus (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars AllolioNäcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 26-52. Vgl. auch weitere Beiträge in diesem Band. 16 Vgl. Seitz, Hanne (2013): In Bewegung – Ereignisfeld für ästhetische Erfahrung. In: Johannes Bilstein und Helga Peskoller (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden. S. 143-158, hier S. 143.

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Transdifferente Lehre

durch die Lehrenden an die Studierenden realisiert. Dieses Defizit resultiert aus der Tatsache, dass der individuellen Erfahrung an der Universität, bis auf in der Psychologie und Pädagogik, jegliche Bedeutung abgesprochen wird; sie wird kaum als Kategorie gesehen. Selbst in den Erziehungswissenschaften setzt sich die Erkenntnis über die Rolle und Bedeutung von individueller Erfahrung in der Wissensvermittlung erst allmählich durch.17 Die von kulturell heterogenen Studierenden mitgebrachten Erfahrungen werden weder in die Forschung noch in den Prozess der akademischen Wissensvermittlung direkt und aktiv einbezogen. Die hochschuldidaktische Forschung kreist um Kulturstandards, um das Definieren von Inter- und Transkulturalität, um interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz, um Standards und Rahmenprogramme der akademischen Sprach- und Wissensvermittlung, um Absolventenprofile. Da die Fragen des Umgangs mit den aus der hochschuldidaktischen und auch kulturwissenschaftlichen Forschung resultierenden Ergebnissen sowie die Fragen des Umgangs mit den täglich im akademischen Lehrbetrieb aufscheinenden Differenzen immer noch nicht die ihnen zustehende Aufmerksamkeit bekommen, versuche ich diese Lücke mit meinem Konzept der transdifferenten Lehre zu schließen. Der komplexe Untersuchungsgegenstand wird durch das Medium fiktionale Literatur in den Blick genommen. Literatur ist ein vielfältiges Medium und die Lektüre fiktionaler Texte eine Möglichkeit, Wissen über den, die oder das Andere zu erlangen. In der transdifferenten Lehre geschieht dies als Effekt kulturell bewusst moderierter Analyse des Lektürevorgangs: des ›Leseaktes‹.18 Die Reflexion über den Leseakt, die mit der Seminar-Gruppe gemeinsam diskutiert wird, bietet eine »sichere«, weil neutrale Plattform, die individuellen Wahrnehmungen des Textes zu analysieren. Was nicht bedeutet, dass die Diskussion »neutral« verläuft. Die Neutralität der Plattform beruht darauf, dass der Diskussionsgegenstand das ästhetische Erlebnis des Textes ist, über welches kontrovers diskutiert wird. Das ästhetische Erlebnis resultiert aus individueller Erfahrung der Teilnehmerinnen, die in der Diskussion spontan zum Vorschein kommt und für Polemik sorgt. Die Erkenntnisse der vorliegenden Arbeit basieren auf meiner Expertise aus literaturwissenschaftlichen Seminaren, die zwischen 2012 und 2018 im Bachelorstudiengang Interkulturelle Germanistik an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät 17 Vgl. Billstein, Johannes und Peskoller, Helga (2013): Vorwort zum Konferenzband Erfahrungen – Erfahrungen. In: Johannes Bilstein und Helga Peskoller (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden. S. 7-17, hier S. 8. 18 Den Leseakt analysiere ich in der vorliegenden Arbeit vor dem Hintergrund der literaturtheoretischen Erkenntnisse u.a. Wolfgang Isers und Nelson Goodmans, vgl.: Iser, Wolfgang (1990): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München, sowie weiterer, im Literaturverzeichnis angegebener Arbeiten dieses Autors. Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M.

Einleitung

der Europa-Universität Viadrina stattgefunden haben. Die Interkulturelle Germanistik an der Europa-Universität Viadrina ist interdisziplinär zwischen Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaft angelegt.19 Das Studienprogramm beinhaltet die Analyse und Diskussion kultureller Phänomene, die aus Interaktionen, Überlappungen und Verflechtungen von Differenzen resultieren. Die Inhalte bewegen sich oftmals im Bereich der deutsch-polnischen Nachbarschaftsdiskurse. Die Interkulturelle Germanistik an der Viadrina ist ein Double-DegreeProgramm mit der Germanistik an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań. Das Programm wurde gemeinsam konzipiert und wird von Lehrenden beider Universitäten zusammen realisiert. Im Vergleich zu anderen bi- und trinationalen Studienprogrammen wechseln die Studierenden nicht den Studienort, sondern studieren an einem Ort, der von beiden Partneruniversitäten gemeinsam betrieben wird: am Collegium Polonicum in Słubice (Polen, direkt an der Grenze zu Deutschland). Die Lehrenden kommen ans Collegium Polonicum entweder von der Viadrina oder von der Adam-Mickiewicz-Universität. Das heißt, sie verlassen ihren regulären Arbeitsort und wirken in einem ›dritten Raum‹. Am Collegium Polonicum interagieren auch die Verwaltungssysteme der beiden Universitäten, d.h. die Differenzen beider Systeme werden hier sichtbar und müssen im Interesse der Lehre und Forschung in Relation betrachtet und angewandt werden. Dies führt zu Einschränkungen, aber auch zu Möglichkeiten. Aufgrund der Heterogenität der Studierenden, zu denen deutsche, polnische, osteuropäische, asiatische und andere Studierende zählen, war es in den literaturwissenschaftlichen Seminaren kaum möglich, sich auf eine gemeinsame kulturelle Basis20 in der Textarbeit zu beziehen. Das Ausprobieren unterschiedlicher Zugänge ergab, dass die individuelle Erfahrung eine Grundlage der Erschließung eines fiktionalen Textes bilden kann. Das Reflektieren der eigenen Erfahrung und der Erfahrung anderer Seminarteilnehmender machte Differenzen in der ästhetischen Wahrnehmung sichtbar und führte zur Beschäftigung mit dem Anderen, dem Fremden. Im Ergebnis dieser Beschäftigung, zu der auch das Lesen theoretischer Texte gehörte, wurde das Fremde wahrgenommen. Ziel dieser Wahrnehmung war aber weder Harmonisierung noch Kritik, sondern den Mechanismen der Wahrnehmung auf die Spur zu kommen. Diese Mechanismen haben sich bei näherer Betrachtung den Regelwerken des Spielens ähnlich erwiesen. Sie erlauben, nicht nur die Lektüreprozesse, sondern auch die Wahrnehmungsprozesse zu verstehen. Um die Prozesse der Differenzerscheinung, -wahrnehmung und 19 Vgl. Modulhandbuch des Bachelorstudiengangs Interkulturelle Germanistik: www.kuwi.europa-uni.de/de/studium/bachelor/germanistik/Studien-und-Pruefungs angelegenheiten/StPO/Modulhandbuch_BA_IKG_SPO_2017.pdf [20.08.2018]. 20 Die ›gemeinsame kulturelle Basis‹ speist sich u.a. aus einem gemeinsamen kollektiven Gedächtnis und Werte- und Wissenskanon.

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-verarbeitung zu veranschaulichen, beschreibe ich in der vorliegenden Arbeit ein Fallbeispiel. Aus dieser Beschreibung und Analyse leite ich das Modell der transdifferenten Lehre ab. Ich erhoffe mir, dass die Erfahrungen und mit ihnen das Modell der transdifferenten Lehre für die didaktische Arbeit mit kulturell heterogenen Gruppen an zeitgenössischen, internationalisierten Universitäten exemplarisch werden, zumindest in den geisteswissenschaftlichen Fächern, und dort Anwendung finden. Wichtig scheint mir die Anknüpfung an die Humboldtsche Bildungsidee, die in der Epoche der Digitalisierung an Bedeutung gewinnt, weil sie die Lernenden als Menschen im Blick behält. Eins kann die im Modell der transdifferenten Lehre vorgeschlagene Methode nämlich nicht: Sie kann nicht auf eine E-Learning-Plattform delegiert werden. Sie kann nur unter physischer und mentaler Beteiligung der Studierenden und Dozierenden realisiert werden. Sie findet statt im universitären Raum, der sich durch direkten Austausch und individuelle Erfahrungen in einen Raum der Wissensproduktion verwandelt, in dem der Zauber der Universität, von dem Jacques Derrida spricht,21 trotz der Digitalisierung erhalten bleibt.

21 Vgl. Derrida, Jacques (2001): Die unbedingte Universität. Frankfurt a.M.

Universität als Raum der Differenzen. Forschungsobjekt

An deutschen Universitäten werden internationale Kooperationen angestrebt. Neben den Umständen, die sich aus der institutionellen Situierung der Universität im staatlichen System ergeben, sind daher auch Umstände der internationalen Zusammenarbeit von Bedeutung. Die Universitäten werden sehr stark von kulturell heterogenen Wissenschaftlerinnen und Studierenden frequentiert. Die Begegnungen im Zuge der Internationalisierung der Universitäten machen Differenzen sichtbar: Die internationalen Wissenschaftlerinnen und Studierenden kommen aus unterschiedlichen Wissenschafts- und Wissensvermittlungskulturen, aus unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten und sie bringen insbesondere ihre individuellen Erfahrungen und persönlichen Distinktionen mit. Grundsätzlich ist in Bezug auf die Kategorie ›Differenz‹ gedanklich nicht zu vernachlässigen, dass nicht nur durch internationale Kontexte Differenzen entstehen, sondern dass sich auch sprachlich respektive ethnisch homogene Studierendengruppen durch individuelle und persönliche Distinktion der Einzelnen auszeichnen. Die kürzeste Charakterisierung der zeitgenössischen öffentlichen Universität in Deutschland könnte lauten: Die Universität ist eine Institution, die eingebunden ist in das Gefüge des staatlichen Bildungssystems; sie ist eine Forschungsund Lehrstätte, die im internationalen Netzwerk gleichgearteter Betriebe arbeitet; ein Ort, an dem Wissen produziert und vermittelt wird; und in Wissensproduktion und -vermittlung ist sie an internationale Qualitätsstandards der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen gebunden. Aus dieser Charakterisierung ergeben sich zwei Forschungsfelder, die ich in der vorliegenden Arbeit beschreibe und analysiere. Mich interessiert die Rolle der zeitgenössischen deutschen Universität als Institution der Wissensvermittlung und insbesondere die Dynamik, die sich in kulturell heterogenen Seminargruppen innerhalb der Universität entwickelt sowie der didaktische Umgang mit dieser Dynamik im Prozess der akademischen Wissensvermittlung. Da diese Prozesse der Wissensvermittlung in einem Rahmen, den die Universität als Institution absichert, stattfinden, sind Prozesse und Institution als sich gegenseitig beeinflussend zu betrachten.

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Die Universität ist Ort und Raum der Begegnung von Differenzen, die sich mitunter aus den Mobilitätsprogrammen für Studierende und Forschende sowie aus Migration und gesellschaftlichen Umständen ergeben, z.B. aus dem demographischen oder technologischen Wandel. Sie ist ein Raum, in dem Vielfalt zum Alltag gehört, welche die Akteurinnen dieses Raumes, also Studierende, Lehrende, Forschende und die universitäre Verwaltung, vor Herausforderungen des Umgangs mit Heterogenität stellt. Die Universität und die akademische Lehre betrachte ich unter der Perspektive postkolonialer Theorien,1 weil diese ›Differenz‹ als Phänomen und Kategorie verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen behandeln. Differenz sehe ich als eine Kategorie und zugleich als einen Ausgangspunkt für die Beschreibung von Heterogenität und des Umgangs mit Heterogenität. Auch die Kategorie des ›Raums‹ betrachte ich unter der Perspektive der postkolonialen Theorien.2 Die Universität als Institution sowie die akademische Lehre schaffen beide und nutzen Räume, in denen es zur Begegnung, zur Verhandlung von Positionen, zu individuellen und gemeinsamen Handlungen der Wissensvermittlung und Wissensproduktion kommt. Beide Kategorien – ›Differenz‹ und ›Raum‹ – sind für meine Untersuchung zentral. Die Universität ist eine Institution und die akademische Lehre ein Prozess der Wissensproduktion. Prozesse der Wissensproduktion und deren Bedingungen und Umstände beschreibe ich in Anlehnung an das Konzept der ›Denkkollektive‹ von Ludwik Fleck,3 denn sowohl die Universität als Institution als auch die akademische Lehre im Seminar-Raum weisen Hauptmerkmale auf, die Denkkollektive auszeichnen. Bei der Analyse der in einem heterogenen Denkkollektiv verlaufenden Prozesse der Wissens- und Erkenntnisproduktion beziehe ich mich hingegen auf den Ansatz der ›Non-Dualität‹ von Josef Mitterer.4 Diese Betrachtung erlaubt es, die hier zu analysierenden Phänomene der Vielfalt in Relation statt in Opposition zu sehen. Die Prozesse der Begegnung von Differenzen werden in der Konzeption der Transdifferenz5 , aus der ich das von mir vorgeschlagene Modell der transdifferen1 Hier stütze ich mich vor allem auf die Erkenntnisse Bhabhas. Vgl. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. 2 Ebenfalls basierend auf den Erkenntnissen von Bhabha. Ebd. sowie Bhabha, Homi K. (2012): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien/Berlin. 3 Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 4 Mitterer, Josef (2011): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerswist. 5 Vgl. Lösch, Klaus (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 26-52.

Universität als Raum der Differenzen. Forschungsobjekt

ten Lehre herleite, ›räumlich‹ und ›polytemporär‹, d.h. weder linear noch konsekutiv gefasst. Differenzen bilden so keine Oppositionen, sondern positionieren sich, je kontextbedingt, in einem Raum. Die transdifferente Herangehensweise ermöglicht die Betrachtung von Prozessen, die in heterogenen Seminar-Gruppen und im Rahmen der Universität als Institution in dynamischer, kontingenter und situierter Weise stattfinden. Zu dem in der vorliegenden Arbeit entworfenen Modell der transdifferenten Lehre gibt es bislang keine Publikationen, an die ich anschließen könnte. Es gibt jedoch Ansätze zur Entwicklung von Didaktiken, die Elemente enthalten, die auch Bestandteil der transdifferenten Lehre sind. Hier wären der Ansatz der ›affirmativen Didaktik‹ von Monika Rogowska-Stangret,6 die ›Didaktik der Literarizität‹ von Michael Dobstadt und Renate Riedner7 sowie das Modell der ›Poetik des schrägen Blicks‹ von Andrea Leskovec zu nennen.8 Die ›affirmative Didaktik‹ ist unabhängig von Disziplinen und kann in jedem Fach angewandt werden. Für die Konzeptualisierung der transdifferenten Lehre ist der von Rogowska-Stangret entwickelte Ansatz von Bedeutung, weil die transdifferente Lehre dem Individuum und seiner Erfahrung eine grundlegende Bedeutung beimisst sowie die nichthierarchische Kooperation im Seminar-Raum, die die Autorin beschreibt, als Basis der Arbeit betrachtet. Michael Dobstadt und Renate Riedner beziehen sich auf zwei konkrete, miteinander verschränkte Disziplinen, auf die interkulturelle Literaturvermittlung und die Fremdsprachenvermittlung. Dobstadt und Riedner verbleiben mit ihrem Konzept auf der Ebene der kulturellen Bezüge von literarischen Werken und untersuchen sie damit nicht im Zusammenhang der Hochschuldidaktik und hinsichtlich der Heterogenität individueller Potentiale der Lernenden oder Studierenden. Die von Andrea Leskovec in Anlehnung an den Umgang mit Fremdheit in der Literatur entwickelte ›Poetik des schrägen Blicks‹ steht der transdifferenten Lehre nahe. Die Autorin entwickelte das Modell aus dem Ansatz der Hermeneutik der Fremde und auf der Grundlage einer detaillierten Analyse der dazu erschienenen Arbeiten, vor allem von Bernhard Walsenfels, Alois Wierlacher, Dietrich Krusche, Swantje Ehlers u.a.9 Leskovec schreibt, die Poetik des schrägen Blicks sei ein li6 Rogowska-Stangret, Monika (2016): Ku dydaktyce afirmatywnej [Zur affirmativen Didaktik]. In: Agnieszka Ogonowska (Hg.): Annales Universitatis Paedagogicae Cracoviensis. Studia de Cultura VIII. S. 57-65. http://studiadecultura.up.krakow.pl/issue/view/238 [07.07.2018]. 7 Dobstadt, Michael/Riedner, Renate (2011): Überlegungen zu einer Didaktik der Literarizität im Kontext von Deutsch als Fremdsprache. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 99-115. 8 Leskovec, Andrea (2009): Fremdheit und Literatur. Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literaturwissenschaft. Berlin. S. 180f. 9 Vgl. ebd., S. 84-122.

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teraturtheoretisch fundiertes und im Sinne des handlungsorientierten Interkulturalitätskonzepts entworfenes Modell, das bei der literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Auseinandersetzung mit literarischen Texten unter Einbeziehung interkultureller Aspekte eingesetzt werden könne.10 Leskovec sieht die Anwendung ihres Modells vor allem in der interkulturellen Literaturvermittlung in der interkulturellen Germanistik. Für die transdifferente Lehre ist an der Poetik des schrägen Blicks vor allem der Aspekt von Literatur als Medium der Wahrnehmung des Fremden interessant. Durch den Hinweis auf die Konstruktion der von literarischen Texten entworfenen und erwirkten Wahrnehmungsräume werde, so die Autorin, der Umgang mit Eigenem und Fremdem bewusster.11 Die Wahrnehmung von Fremdheit durch die Wahrnehmung von Differenzen sowie die Kontingenz dieser Prozesse ist auch für die transdifferente Lehre zentral. Diese Konzepte – das allgemeine von Rogowska-Stangret, das disziplinär konkretisierte von Renate Riedner und Michael Dobstadt sowie das disziplinäre mit allgemeinen Bezügen von Andrea Leskovec – sprechen sowohl die Heterogenität, gebunden an Individualitäten der im Seminarraum versammelten Personen, als auch den Umgang mit den unterschiedlichen Zugängen zu Wissen12 an. Die Konzepte Didaktik der Literarizität und Poetik des schrägen Blicks behandeln zudem aufgrund ihrer Verortung in der Literatur- und Fremdsprachendidaktik die Vermittlung von Wissen über Phänomene, die mit Heterogenität verbunden sind. Sie betrachten also die Heterogenität auch im Sinne der Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand des Wissens und der Untersuchung. Die Erkenntnisse aus diesen Konzepten finden Berücksichtigung in der transdifferenten Lehre. Sie werden jedoch um den Aspekt der individuellen Erfahrung der Studierenden und Lehrenden, um die Moderation der Prozesse und die gezielte Beachtung von Dynamiken der Wissensvermittlungsprozesse sowie die Bewusstmachung der Unabschließbarkeit dieser Prozesse ergänzt.

10 Vgl. ebd., S. 181. 11 Vgl. ebd. 12 Die Studierenden kommen aus unterschiedlichen Wissensvermittlungskulturen, sie haben unterschiedliche Schulsysteme absolviert und ihre Motivation und Ziele des Wissenserwerbs sind individuell. Mit den daraus resultierenden Erkenntnissen und Erfahrungen gehen sie im Seminar-Raum an neues Wissen heran.

Forschungsstand

Die Verläufe von Wissensvermittlung und Wissenserwerb im kulturell heterogenen Kontext der zeitgenössischen deutschen Universität werden vorrangig von der Hochschuldidaktik erforscht. Diese komplexen Phänomene gehören darüber hinaus, gerade dann, wenn sie den Fokus auf die kulturelle Heterogenität des zeitgenössischen Bildungswesens legen, zur interdisziplinären, kulturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere zur Grenz- und Differenzforschung.1 Die Grenzund Differenzforschung betrachtet Differenzen, wie Bożena Chołuj schreibt, nicht als stabile, sondern als dynamische Phänomene.2 Die Vielfalt – und hier sind nicht nur ethnische oder sprachliche Unterschiede im herkömmlichen Sinne des Konzepts ›Interkultur‹3 gemeint, sondern die vielfältigen Distinktionen, die die Identität eines Individuums beschreiben – wird aus der Perspektive verschiedener Disziplinen diskutiert. Dazu gehören u.a. Literaturwissenschaft, Kulturgeschichte, Gender- und Queerstudies. Wie ich im Vorwort zum Sammelband »Interkultu1 Mit den Fragen der Wissensvermittlung an Hochschulen vor dem Hintergrund der bi- und trilateralen Studiengänge sowie der Mobilität von Dozierenden und Studierenden beschäftigte sich unter anderem die 2015 am Collegium Polonicum in Słubice (Polen) veranstaltete Konferenz »Internationalität und Wissensvermittlung in der Germanistik und anderen interkulturellen Studiengängen«. Auch das Forschungskolloquium »Grenz- und Differenzforschung« an der EuropaUniversität Viadrina bietet seit dem Wintersemester 2009/10 kontinuierlich Raum zur Arbeit mit dem Phänomen der Differenz. 2 Vgl. Chołuj, Bożena (2016): Ambivalenzen der Interkulturalität in Lehre und Forschung. In: Antonina Balfanz und Bożena Chołuj (Hg.): Interkulturalität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen. Frankfurt (Oder)/Słubice. S. 13-24, hier S. 15f. https://opac.europauni.de/00/bvnr/BV044351904 [15.07.2019]. 3 Jürgen Bolten schreibt, dass Interkulturen dann entstünden, wenn Mitglieder unterschiedlicher Welten miteinander agieren, aber die Regeln, nach denen »die Anderen« agieren sowie die Regeln, nach denen man bei diesem Zusammentreffen agieren soll, unklar seien. Vgl. Bolten, Jürgen (2012): Interkulturelle Kompetenz. Erfurt. S. 40. Von ›Interkultur‹ kann also auch dann die Rede sein, wenn Begegnungen von Menschen stattfinden, die sprachlich und ethnisch einer Gruppe angehören, aber z.B. unterschiedliche Werte vertreten. Es ist die Möglichkeit gegeben, dass sie auf die Regeln der Anderen mit Unverständnis reagieren.

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ralität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen«4 schreibe, kann es sich um »Differenzen unterschiedlicher Art: Nation, Gender, Konfession, soziale Herkunft, Profession, körperliche und geistige Verfassung, individuelle, psychische Merkmale« handeln.5 In Bezug auf den Umgang mit Vielfalt an Hochschulen ist allerdings folgende Tendenz zu beobachten: »Im aktuellen Diskurs stehen die Heterogenitätsdimensionen kulturell-ethnische Vielfalt und Gender im Vordergrund, andere Dimensionen von Vielfalt geraten dabei möglicherweise aus dem Blick.«6 Zudem ist bei der Betrachtung von Distinktionen zu beachten, dass durch Zuschreibungen, aber auch durch Unterstützungsmaßnahmen für klar definierte Gruppen nach Helen Knauf die Gefahr entsteht, Stigmatisierung zu befördern.7 ›Heterogenität‹ respektive ›Vielfalt‹8 in der akademischen Lehre ist kein neues Phänomen. Die Universität ist per se ein Ort des intellektuellen Austausches und der Debatten. Dieser Austausch bezog sich bis zur Umsetzung der BolognaReform9 in erster Linie auf Forschende, die in den Kategorien der Denkkollektive betrachtet eine Gruppe darstellen, die einen identifizierbaren Denkstil repräsentiert. Die Forschenden gehören zwar unterschiedlichen Wissenschaftskulturen an, diese aber weisen gemeinsame Ebenen auf, z.B. Kanons, Standards, Methoden und Diskurse.10 Mit der Internationalisierung der Universitäten und Förderung der Studierenden- und Dozierendenmobilität sind Differenzen sichtbarer geworden, weil sie nicht nur die Wissenschaft und Forschung betreffen, sondern auch 4 Balfanz, Antonina (2016): Bilder eines Kaleidoskops. Interkulturalität und die Wissensvermittlung an Hochschulen. In: Antonina Balfanz, Bożena Chołuj (Hg.): Interkulturalität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen. Frankfurt (Oder)/Słubice. S. 9-13. https:// opac.europa-uni.de/00/bvnr/BV044351904 [15.07.2019]. 5 Ebd., S. 9. 6 Knauf, Helen (2016): Heterogenität – ein umfassendes Projekt für Hochschulen. In: Taiga Brahm, Tobias Jenert und Dieter Euler (Hg.): Pädagogische Hochschulentwicklung. Von der Programmatik zur Implementierung. Wiesbaden. S. 325-336, hier S. 326. 7 Vgl. ebd. 8 ›Vielfalt‹ und ›Heterogenität‹ verwende ich synonym. Es gibt zwar in den Sozialwissenschaften eine semantische Unterscheidung, wonach Vielfalt positiver als Heterogenität konnotiert sei, wie Halyna Leontiy schreibt. Doch auch sie bestätigt, dass die Begriffe kontingent seien und diese Kontingenz vom Kontext der Disziplin und des Forschungsfeldes abhänge. Vgl. Leontiy, Halyna (2019): »Der Eindruck ist natürlich schon, dass wir jetzt ›ne viel heterogenere Studierendenschaft haben«. Deutungsmuster von Diversität in verschiedenen Fachkulturen. In: Florian Feuser, Carmen Ramos Méndez-Salender und Christiane Stroh (Hg.): Diversität an Hochschulen. Unterschiedlichkeit als Herausforderung und Chance. Bielefeld. S. 33-58, hier S. 34. 9 Bundesministerium für Bildung und Forschung (ohne Jahresangabe): Der Bologna-Prozess – die Europäische Studienreform. www.bmbf.de/de/der-bologna-prozess-die-europaeischestudienreform-1038.html [07.07.2018]. 10 Im Fall dieser Untersuchung der westeuropäisch-amerikanischen Kultur(en).

Forschungsstand

in der Lehre und dem täglichen Interagieren unterschiedlich sozialisierter und enkulturierter Akteurinnen mehr zum Vorschein kommen. Die Differenzen sind zu dem Grad sichtbar geworden, dass ihre Thematisierung unumgänglich geworden ist. Ein bewusster Umgang mit der Vielfalt erschöpft sich also nicht in der Konstatierung von Unterschieden und der Kompensation von Benachteiligung, sondern liegt in Beachtung und Nutzen von individuellen und kulturellen Potentialen aller Beteiligten. Erst dann kann in Wissensvermittlungsprozessen auf Differenzen produktiv zurückgegriffen werden. In diesem Verständnis der Prozesse sehe ich das innovative Potential der transdifferenten Lehre.

Didaktischer Umgang mit Heterogenität Die durch Differenzen sichtbare Vielfalt wird vor allem hinsichtlich des Umgangs mit ihr in der Lehre thematisiert und ist Forschungsgegenstand der Hochschuldidaktik. ›Vielfalt‹ wurde zunächst in den Kategorien der Interkulturalität diskutiert und ist dort ein Forschungsfeld, das weiterhin aktiv untersucht wird.11 In den deutschen Erziehungswissenschaften sind Ansätze zu finden, die über das Verständnis der Heterogenität als Interkulturalität hinausgehen und sich mit Differenzen im holistischen Sinne befassen. Daneben wird ›Heterogenität‹ in erziehungswissenschaftlichen Konzeptionen behandelt. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass Einrichtungen der frühkindlichen Erziehung und Schulen schon länger Erfahrungen mit Vielfalt machen – wodurch die Erziehungswissenschaften in der Verantwortung stehen, geeignete Instrumente zu erarbeiten. Dieser Strang der schuldidaktischen Forschung ergibt sich insbesondere aus der historischen, politischen und gesellschaftlichen Situation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland12 sowie aus den globalen Entwicklungen im Bereich der Wirtschaft und Politik. Der Umgang mit Heterogenität stellt angesichts der globalen Migrationsprozesse und der politischen, ökonomischen und ökologischen Krisen der letzten Jahre eine komplexe Herausforderung im inhaltlichen und strukturellen Sinne dar.13 Die in diesem Kontext von den Erziehungswissenschaften thematisierten Probleme beziehen sich auf Identitäten Lernender und Lehrender und ih11 Hier sind als Forschende exemplarisch Jürgen Bolten, Alexander Thomas, Alois Wierlacher zu nennen. 12 Vgl. Herbert, Ulrich (2001): Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München. 13 Vgl. Gogolin, Ingrid (2006): Erziehungswissenschaften und Transkulturalität. In: Michael Göhlich, Hans-Walter Leonhard, Eckart Liebau und Jörg Zirfas (Hg.): Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annährungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz. Weinheim/München. S. 31-44. Vgl. auch weitere Beiträge in diesem Band.

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re transkulturellen Erfahrungen. Ingrid Gogolin stellt jedoch fest, dass selbst der erziehungswissenschaftliche Diskurs zum Thema Migration noch vergleichsweise undifferenziert sei. Um einen Migrationshintergrund auszumachen, also um kulturelle Distinktionen festzustellen, werden immer noch der Geburtsort des Kindes bzw. der Elternteile, oder die gesprochenen Sprachen als Kriterium herangezogen.14 Dies ist zwar eine Korrektur gegenüber der Frage nach der Staatsangehörigkeit, doch solche Angaben sind Indikatoren, die nur ein Merkmal im Gefüge mehrfach kultureller Zuschreibungen benennen. Die gesprochenen Sprachen müssen nicht mit der kulturellen oder gar nationalen (Geburtsort) Identität der Kinder und ihrer Eltern identisch sein. Allein in einer Situation, in der Eltern eines Kindes mehrere Sprachen sprechen, sind unterschiedliche Möglichkeiten von Identitätszuschreibungen in Bezug auf eine familiäre Einheit vorhanden. Die traditionelle Modellierung von Migration bleibt, wie Gogolin bemerkt, hinter der faktischen Komplexität zurück,15 da sie als linearer Prozess von »Auswanderung – Einwanderung – Integration am neuen Lebensort«16 gedacht werde. Die individuellen Migrationsverläufe und Biografien entsprechen selten einem solchen Modell und die Heterogenität an den Schulen ist nicht allein auf Migration zurückzuführen. Migrationsphänomene sind zwar eine der Bedingtheiten kultureller Distinktionen von Schülerinnen, die Differenzen gehen aber über ethnische und sprachliche Zugehörigkeiten hinaus. Aufgrund dieser Erkenntnisse entwerfen die Erziehungswissenschaften Konzepte des Umgangs mit Heterogenität, eine ›Pädagogik der Vielfalt‹17 , die sowohl ethnische und sprachliche Differenzen als auch Differenzen in Bezug auf Geschlechter, auf Begabungen und Behinderungen, auf soziale Herkunft und Verortung in Subkulturen berücksichtigt und in diesem Sinne intersektional arbeitet. Die Eingabe des Suchbegriffs »Pädagogik der Vielfalt« in die Datenbank des Fachportals Pädagogik18 ergibt sieben Dissertations- und Habilitationsschriften aus dem Zeitraum 2000 bis 2014, die um die skizzierten Subthemen kreisen. Der Suchbegriff »Interkulturelle Pädagogik« ergibt 47 Positionen; die Bandbreite er14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 32. Vgl. ebd. Ebd. Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden. 18 Die nachfolgend aufgeführten Titel sind in der Forschungsdatenbank des Deutschen Bildungsservers zu finden: www.fachportal-paedagogik.de/literatur/produkte/prohabil/prohabil_start.html [06.05.2018].

Forschungsstand

streckt sich von empirischen Studien19 , über konzeptionelle Arbeiten20 bis hin zu interdisziplinären Analysen21 . Diese stichwortartig aufgeführten Beispiele zeigen, dass die Erziehungswissenschaften sich bereits des komplexen Themas Heterogenität an Schulen angenommen haben und die mit Heterogenität zusammenhängenden Phänomene, wie z.B. unterschiedliche Zugänge zum Wissen, betrachten. Während in den Erziehungswissenschaften heterogenitätsbezogene Themen wie Umgang mit Vielfalt, Exklusionsmechanismen, Inklusionspolitik und -strategien auch im Kontext von Migration aktuell sind, erscheinen in der Hochschuldidaktik Probleme der Heterogenität und die der Differenzen seltener im Zusammenhang mit Migration,22 eher im Zusammenhang mit Mobilität.23 Insbesondere sind diese Probleme mit dem Bologna-Prozess verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die organisatorische Homogenisierung des europäischen Hochschulraumes stieß im Zuge dieser Prozesse auf eine Bandbreite von bis dahin nicht wahrgenommenen Differenzen. Sie wurden bis dahin nicht wahrgenommen, weil sie als Merkmale einzelner Systeme galten und der direkte Vergleich mit anderen Systemen fehlte. Die Differenzen kommen vor allem dort zum Vorschein, wo Begegnungen von Akteurinnen stattfinden, verstärkt in der 19 Z. B. Schliessleder, Martina (2012): Orientierungen und Engagement von pädagogischem Personal in multikulturellen Kindergärten. Eine empirische Untersuchung zu interkultureller Erziehung und Friedenserziehung im Elementarbereich in einer süddeutschen Großstadt. Passau. 20 Z. B. Kusche, Ramona (2011): Interkulturelle Öffnung von Schulen: Anforderungen an interkulturelle Lehrerfortbildungskonzepte in Sachsen. München. 21 Z. B. Nguyen, Vu Hao (2002): Das Konzept vom Menschen in der Sprachphilosophie Wittgensteins. Die anthropologischen Grundlagen für Erziehung und interkulturelles Verstehen. Hamburg. 22 Die Zugangskriterien für Hochschulen und Universitäten für sogenannte Bildungsausländerinnen, besonders für Nicht-EU-Bürgerinnen, stellen oft eine schwer zu überwindende Schwelle dar, die bei der Notwendigkeit einer systematisierten und automatisierten Bewerbung, die nicht alle Lebenslagen erfasst, beginnt, und die über die geforderten Sprachkenntnisse bis hin zur Nichtanerkennung von Zeugnissen, die im Heimatland zum Studium berechtigen, reicht. Z. B. werden in Deutschland Zeugnisse von beruflich ausgerichteten polnischen Lyzeen für ein Universitätsstudium beschränkt zugelassen. Als Studiengangskoordinatorin beobachtete ich generell, nicht nur in Bezug auf Deutschland, dass der Zugang zum Studium der »nicht eigenen« Staatsangehörigen durch schärfere Kriterien erschwert wird. Dies erkläre ich unter anderem mit den Finanzierungsmechanismen der Hochschulbildung. Die Erschwerung steht allerdings im Widerspruch zur erklärten Demokratisierung und Internationalisierung der universitären Lehre. 23 Mobilität im Kontext der Universität und der Bologna-Reform hat zwar auch mit Migration, also mit Bewegung, Verlassen und Ankommen zu tun, doch geschieht sie innerhalb des globalen Hochschulsystems. Das heißt, wenn eine studierende/forschende/lehrende Person dem System in einem Land angehört, kann sie auch im System eines anderen Landes agieren, was durch Bologna gefördert wird.

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Lehre. Vor dem Hintergrund der Bologna-Reform wurde der Bedarf nach innovationstheoretischen und hochschuldidaktischen Konzepten des Umgangs mit Vielfalt also immer stärker sichtbar.24 Allgemein ist festzustellen, dass die hochschuldidaktischen Konzepte hauptsächlich mit dem Ziel der Qualitätsentwicklung der Lehre und des Studierens erstellt werden. So schreiben auch Taiga Brahm, Tobias Jenert und Dieter Euler,25 die Hochschuldidaktik werde als Dienstleistung für die Lehre verstanden, d.h. ihr Zweck liege darin, Dozierende in ihren Lehr- und Beratungskompetenzen weiterzubilden, während eine interdisziplinäre bzw. intersektionale Perspektive in diesem Bereich bisher keine Priorität habe.26 Die Hochschuldidaktik beziehe sich so vor allem auf bestimmte Disziplinen oder Fächer, disziplinäre Kulturen, Studienprogrammentwicklung oder Hochschulmanagement. Das Verhältnis von Studienfach, Lehrenden und Studierenden und Programmentwicklung sei zwar von Interesse, verbleibe jedoch eher innerhalb einer Disziplin.27 Hinsichtlich der Studienprogrammentwicklungsforschung konstatieren die genannten Autorinnen, dass vorhandene Publikationen, Konzeptpapiere und Praxisberichte sich hauptsächlich »[…] mit Fragen wie Definition von Kompetenzen als Programmziele, der Modulgestaltung oder der Umsetzung des European Creditpoint Systems befassen.«28 Ebenso gehe es in der Hochschulmanagementforschung um die Entwicklung von Qualitätsstandards für Lehre und Forschung.29 Die vorgestellten Ansätze konzentrieren sich auch auf die organisatorisch-institutionellen Aspekte der Lehre. In diesem Zusammenhang ist die Hochschuldidaktik als ein Instrument zur Erreichung aufgestellter Ziele wie Wissensstand oder Kompetenzen interessant, denn die hochschuldidaktische Forschung dient der Lehr- und Lernprozessoptimierung. Diese noch zu einseitige Perspektive auf die Hochschuldidaktik bestätigt die Autorin Monika Rogowska-Stangret.30 Sie schreibt, man verwende viel Aufmerk24 Vgl. Müller, Wilfried (2016): Vom ›Durchwurschteln‹ zur kontinuierlichen Verbesserung? – Akteurskonstellationen deutscher Universitäten bei Innovationsprozessen von Lehre und Studium. In: Taiga Brahm, Tobias Jenert und Dieter Euler (Hg.): Pädagogische Hochschulentwicklung. Von der Programmatik zur Implementierung. Wiesbaden. S. 189-202, hier S. 189. 25 Vgl. Brahm, Taiga/Jenert, Tobias/Euler, Dieter (2016): Pädagogische Hochschulentwicklung als Motor für die Qualitätsentwicklung. In: Taiga Brahm, Tobias Jenert und Dieter Euler (Hg.): Pädagogische Hochschulentwicklung. Von der Programmatik zur Implementierung. Wiesbaden. S. 19-38, hier S. 20f. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd. 28 Ebd. S. 25. 29 Vgl. ebd., S. 27. 30 Vgl Rogowska-Stangret, Monika (2016): Ku dydaktyce afirmatywnej [Zur affirmativen Didaktik]. In: Agnieszka Ogonowska (Hg.): Annales Universitatis Paedagogicae Cracoviensis.

Forschungsstand

samkeit auf die Frage, was gelehrt werden solle. Die Frage, wie gelehrt werden solle, werde übersehen.31 Der Überblick zeigt, dass zu Strukturen und Prozessen in der Hochschuldidaktik mehr Fachliteratur vorhanden ist als zur didaktischen Gestaltung der Lehre. Es ist feststellbar, so auch Peter Salden, Kathrin Fischer und Miriam Barnat,32 dass Lernziele definiert und auf die Lehrveranstaltungen übertragen wurden. Dennoch gibt es viele praktische Herausforderungen in der Didaktik, die von den theoretischen Modellen bisher nicht erfasst wurden.33 Die Konzeptualisierung des Umgangs mit kultureller Vielfalt in der Lehre kommt erst in der letzten Zeit zur Sprache.34 Selbst die Begriffe, die in der auf die Hochschuldidaktik bezogenen Diskussion genutzt werden, sind nicht endgültig geklärt.35 Ich konnte zwei theoretische Strömungen ausmachen, die sich mit dieser Thematik in Kontext der Hochschullehre befassen: die Forschungen zu ›Diversity‹ und zu ›Inklusion‹. Nach Helen Knauf, die sich hier auch auf weitere Autorinnen bezieht,36 fordern beide Kategorien die Wertschätzung und Nutzung der Vielfalt.37 Diversity und Inklusion gehen über die ethnisch-kulturelle Betrachtung von Differenzen hinaus und richten den Blick auf Forderungen der Vielfalt: »Studierende müssen Barrieren überwinden (Sprache, räumlicher Zugang, Schaffung von ausreichenden Zeitressourcen), um an Lehrveranstaltungen teilnehmen zu können.«38 Daraus schlussfolgert Knauf, dass von Lehrenden, aber auch von Hochschulen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, die den Studierenden ermöglichen, unterschiedliche, individuelle Wege im Studium zu gehen. Knauf sieht die Lösung in einer Verbindung der bereits umgesetzten Öffnung der Hochschulorganisation39 mit einer positiven und produktiven Einstellung zur

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Studia de Cultura VIII. S. 57-65, hier S. 57. http://studiadecultura.up.krakow.pl/issue/view/238 [07.07.2018]. Vgl. ebd. Vgl. Salden, Peter/Fischer, Kathrin/Barnat, Miriam (2016): Didaktische Studiengangsentwicklung: Rahmenkonzepte und Praxisbeispiel. In: Taiga Brahm, Tobias Jenert und Dieter Euler (Hg.): Pädagogische Hochschulentwicklung. Von der Programmatik zur Implementierung. Wiesbaden. S. 133-150, hier S. 134. Vgl. ebd., S. 139. Vgl. z.B. die 2019 erschienene Sammelpublikation von Florian Feuser, Carmen Ramos MéndezSahlender und Christiane Stroh, (Hg): Diversität an Hochschulen. Unterschiedlichkeit als Herausforderung und Chance. Bielefeld. Leontiy, S. 33. Z. B. U. Klein, B. Jansen-Schulz, A.-D. Stein. Knauf, S. 326. Ebd., S. 327. Unter die Öffnung der Hochschulorganisation fallen z.B. die Einrichtung von Diversity Management, des Teilzeitstudiums oder von Trainings, die von Beratungsstellen der Universitäten angeboten werden.

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Heterogenität in der Lehre. Eine solche Einstellung sei noch umzusetzen.40 An dieses Postulat knüpft die vorliegende Arbeit an. Andrä Wolter und Ulf Banscherus41 konstatieren bezüglich des Umgangs mit Heterogenität folgende Zusammenhänge zwischen den Erkenntnissen und ihrer Umsetzung: Die Forderung an die Hochschulen, den veränderten Umständen aufgrund zunehmender Heterogenität in der Zusammensetzung der Studierenden Rechnung zu tragen und sowohl die Studienangebote als auch die Studienorganisation entsprechend an die Bedürfnisse der Akteurinnen und die fluktuierenden Umstände anzupassen, sei deswegen relevant, weil sich die Hochschulen gegenüber großen Bevölkerungsgruppen, auf die sie zukünftig angewiesen sein würden, noch immer als zu unerreichbar zeigten. Zu diesen Gruppen seien sowohl Personen mit Migrationshintergrund, Personen mit Behinderungen, internationale Studierende als auch beruflich qualifizierte Studieninteressierte, die andere Perspektiven und anderes Vorwissen als »traditionelle« Studierende (mit regulär und linear erworbener Hochschulreife) mitbringen, zu zählen. Die Hochschulen seien, so Wolter und Banscherus, auf Heterogenität angewiesen, sie hätten diese nicht nur anzuerkennen, sondern Bedingungen und Instrumente für gerechte Teilhabe der vielfältigen Akteurinnen am akademischen Lehrbetrieb zu schaffen. Das bestätigt Leontiy aufgrund ihrer 2017 durchgeführten Studie zu Fach- und Wissenskulturen, in der Lehrende und Funktionsträgerinnen zur Fachkultur der Mathematikund Naturwissenschaften sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bezug auf Geschlecht und Heterogenität der Studierenden befragt wurden.42 Die Autorin schreibt: »Im Unterschied zu Diversity Management in Unternehmen wird z.B. Cultural Diversity an Hochschulen nicht als Ressource und Potential betrachtet.«43 Im Fazit stellt Leontiy u.a. fest, dass für eine Ausschöpfung der Potentiale vielfältige Maßnahmen und Strategien notwendig seien, von der Sensibilisierung von Hochschulmitarbeitenden bis hin zur »Reflexion von Herrschaftsdiskursen unter Lehrkräften«.44 Aus den angeführten Publikationen geht hervor, dass Strategien zum Umgang mit der Vielfalt an den Hochschulen selbst vielfältig sein müssen, um den jeweiligen Situationen, Zielgruppen, Disziplinen und auch Diskursen dienen zu können. 40 Vgl. Knauf, S. 333. 41 Vgl. Wolter, Andrä/Banscherus, Ulf (2015): Der Bund-Länder-Wettbewerb »Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen« im Kontext der (inter-)nationalen Diskussion um lebenslanges Lernen. In: Benjamin Klages, Marion Bonillo, Stefan Reinders und Axel Bohmeyer (Hg.): Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen. Opladen. S. 17-38, hier S. 20f. https://www.pedocs.de/volltexte/2015/11430/pdf/Wolter_Banscherus_Der_ Bund_Laender_Wettbewerb.pdf [27.02.2018]. 42 Vgl. Leontiy, S. 37f. 43 Ebd. S. 51. 44 Vgl. ebd., S. 52.

Forschungsstand

In diesem Sinne bindet das Konzept der transdifferenten Lehre sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene Differenzen produktiv in die akademische Lehre ein, weil es die Erkenntnisse bisheriger Forschung berücksichtigt und Methoden des didaktischen Umgangs mit Differenzen auf der Grundlage der individuellen Erfahrung vorschlägt.

Heterogenität in der akademischen Lehrpraxis Durch die zeitgenössische Lehre an der Universität sollen nach dem »Qualifikationsrahmen für Deutsche Hochschulabschlüsse«45 die folgenden zentralen Kompetenzen vermittelt werden: […] die Fähigkeit zu reflexivem und innovativem Handeln auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse, andererseits die Fähigkeit, wissenschaftliche Methoden anzuwenden und dadurch neues Wissen zu erzeugen. Zudem wird zwischen reflexiver Wissensanwendung (unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse) und kritischer Wissensgenerierung (mit wissenschaftlichen Methoden) unterschieden.46 Der Prozess der Wissensvermittlung solle zudem »selbstgesteuert verlaufen und dem Erwerb von Handlungswissen und Methodenkompetenzen dienen, aber auch ergebnisoffene und ungesteuerte Selbstbildung ermöglichen.«47 Diese Ziele werden vor dem skizzierten Hintergrund der Vielfalt des Lehrbetriebs umgesetzt. Selbst wenn die Betrachtung auf heterogene weil differente Lehr-, Lern- und Wissensvermittlungskulturen beschränkt wird, müssen nicht nur die im Qualifikationsrahmen erklärten Ziele, sondern vor allem das gesellschaftlich-kulturelle Umfeld der Beteiligten und ihre Individualität berücksichtigt werden, die ebenfalls einen Einfluss darauf haben, wie der Lehrbetrieb arbeitet. Während der kulturell bewussten Wissensvermittlung müssen daher Deutungs- und Bezugssysteme (etwa Distanz, Effizienz, Kollektivität) differenziert werden, aber 45 Vgl. »Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse« der Kultusministerkonferenz: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-03-Studium/02-03-02Qualifikationsrahmen/2017_Qualifikationsrahmen_HQR.pdf [28.02.2018]. Im Kontext der vorliegenden Arbeit zitiere ich den »Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse« als ein Beispiel der Implementierung der Beschlüsse zur Internationalisierung des Hochschulwesens. Im Qualifikationsrahmen wird die wissenschaftliche Qualität der Forschung und Lehre in der Annahme betont, dass die an diesen Prozessen Beteiligten vom gleichen Verständnis von ›Wissen‹ und ›Wissenschaftlichkeit‹ ausgehen. 46 Ebd. 47 Vgl. Reich, Hans R./Wierlacher, Alois (2003): Rahmenbegriffe interkultureller Germanistik. Bildung. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar. S. 203-210, hier S. 206.

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auch Distinktionen in den sozialen Kontexten, aus denen die Studierenden und Dozierenden kommen, sowie individuelle Werte und Erfahrungen. Gemeinsame internationale oder interdisziplinäre Studiengänge geben ein anschauliches Beispiel des Aufeinandertreffens von Bezugssystemen und kulturellen Distinktionen. Ihre Verbindung ist bei der Erstellung von Curricula für solche, per se Heterogenität voraussetzende, Studiengänge hinsichtlich der o.g. Bedingungen, der institutionellen Voraussetzungen, Verläufe und zu erwartenden Ergebnisse eine umfangreiche Aufgabe. Es bedarf Analysen, deren Ergebnisse dann auf der Metaebene der Disziplin(en) konzeptualisiert werden können, und zwar auf eine Art und Weise, wie sie Homi Bhabha vorführt: auf eine Weise, die »den anderen Text/den Text des Anderen (the Other text)« eben nicht »auf ewig zum exegetischen Horizont der Differenz«, sondern »zur aktiven Quelle der Artikulation macht«.48 So wird die Aktivierung der von den Akteurinnen mitgebrachten Potentiale gefördert. Das bedeutet Aktivitäten in verschiedene Richtungen, die von einer gemeinsamen Kernfrage ausgehen, die die Daseinsberechtigung der institutionalisierten Wissensvermittlung sichert: von der Frage nach den Effekten dieses Wissensvermittlungsprozesses. Die Formulierung von Zielen variiert je nach Disziplin und Kontext, dessen minimale gemeinsame Anforderung »[…] eine kontingente Synthese kulturdivergenter Orientierungssysteme ist, die ein effizientes, integres und adäquates Handeln unter verschiedenen kulturellen, politischen und sozialen Bedingungen ermöglicht.«49 Wie ich hier zu zeigen versuche, ist diese Synthese selbst an einer Universität, zu deren Profilierung die Heterogenität ihrer Akteurinnen gehört und die sich der damit verbundenen Potentiale bewusst ist, in der Praxis nicht selbstverständlich. Eine solche Synthese in der akademischen Lehre kann aber durch Forschung zur Heterogenität befördert werden. Bożena Chołuj schreibt, dass sich die Forschungsergebnisse zu kulturellen Differenzen vom gesellschaftlichen Umgang mit ihnen immer noch stark unterscheiden würden.50 Selbst Hochschulen handelten im formal-rechtlichen und administrativen Bereich nicht nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ihre Forschende produzieren. Das wird von den Ergebnissen der Studie »Lehr- und lernrelevante Diversität an der Fachschule Köln«51 , die zwischen 2010 und 2012 durchge48 Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. S. 48. 49 Thomas, Alexander (2003): Lernen und interkulturelles Lernen. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar. S. 276-287, hier S. 281. 50 Vgl. Chołuj, Bożena (2017): Interkulturalität im Universitätsbetrieb. In: Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg (Hg.): Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik, Nr. 1/2017. Bielefeld. S. 143-153, hier S. 144. 51 Szczyrba, Birgit/Treeck, Timo van/Gerber, Julia (2015): Lehr- und lernrelevante Diversität an der Fachhochschule Köln. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:832-epub4-6168 [12.06.2018].

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führt wurde, bestätigt.52 Die Studie gibt einen »Einblick in die Prozesse von Studium und Lehre als Ergänzung zu quantitativen Leistungsindikatoren und Hochschulevaluationen«53 . Das Resultat zeigt, dass Forschungsergebnisse zur Diversität nicht nur im formal-rechtlichen und administrativen Bereich, sondern auch in der Lehre kaum berücksichtigt werden. Die Autorinnen der Studie, Birgit Szczyrba, Timo van Treeck und Julia Gerber, betonen: »Die Diversität der Studierenden wurde durch den Lernansatz der Lehrenden weitgehend nivelliert. Das Studienverhalten – unabhängig von der zunächst wahrgenommenen Heterogenität der Studierenden – wurde nicht zur Kompetenzentwicklung der Beteiligten genutzt«54 . Die administrativen Aspekte, also Standardrahmen und Qualitätsvorgaben im formal-rechtlichen Sinne werden so stark gewichtet, dass sich die Lehrenden daran mehr orientieren, als an den von Studierenden mitgebrachten Potentialen. Die Schlussfolgerung der Autorinnen lautet: »Durch die Gestaltung der Standardrahmen durch die Lehrenden passen sich die Studierenden an die herrschende Lehrkultur an; die von den Lehrenden formulierten Ziele laufen ins Leere, weil die in der Diversität liegenden Potentiale für Kompetenzentwicklung nicht genutzt werden.«55 Zu diesen Potentialen gehört meines Erachtens nach, worauf die Studie nicht eingeht, auch die individuelle Erfahrung der am Wissensvermittlungsprozess Beteiligten. Zu den formal-rechtlichen Aspekten gehören, wie gesagt, verschiedene, für das jeweilige Studienfach individuelle Anforderungen an die Ergebnisse von Lernprozessen.56 Diese Ergebnisse werden in quantitativen und qualitativen Untersuchungen57 ermittelt, spiegeln jedoch nur einen Teil dieser Prozesse wider, weil sie auf definierten Standards basieren, die eine Wissenschaftskultur und ihre Situierung im gesellschaftlich-politischen Kontext der jeweiligen Universität vorgibt. Aus den hier skizzenhaft vorgestellten Bereichen der Hochschuldidaktikforschung wird eine Diskrepanz sichtbar, die meine Fragestellung zum Verhältnis zwischen Systemen und Werten bestätigt. Zum einen geht die Forschung in Richtung des Systems und widmet sich der Qualitätssicherung und Optimierung der 52 Vgl. Szczyrba, Birgit/Treeck, Timo van (2015a): Educational Diversity: Anlass und Potenzial für Lehrkompetenzentwicklung. In: Benjamin Klages, Marion Bonillo, Stefan Reinders und Axel Bohmeyer (Hg.): Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen. Opladen. S. 73-84. www.pedocs.de/volltexte/2015/11433/pdf/Szczyrba_van_Treek_Edu cationa_Diversity.pdf [14.06.2018]. 53 Ebd., S. 74. 54 Ebd. Dies bestätigt die 2017 durchgeführte Studie von Leontiy. Vgl. Leontiy, S. 50f. 55 Szczyrba et al. (2015), S. 75. 56 Die Anforderungen an die Ergebnisse von Lernprozessen werden z.B. in den Modulhandbüchern, die ein Bestandteil des Curriculums sind, beschrieben. 57 Zum Beispiel im Akkreditierungsverfahren von Studiengängen – in diesen Verfahren werden u.a. Modulhandbücher analysiert und verschiedene Daten, wie z.B. Quoten erreichter Abschlüsse, ermittelt.

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Lehre als Instrument für diese Sicherung.58 Gleichzeitig wird die Problematik der Vorbereitung der akademischen Lehre auf die Herausforderungen der Vielfalt als ein Gegenstand des Diskurses zwar als wichtig erachtet, jedoch noch vernachlässigt. Meine Überlegungen dienen sowohl konzeptionell dem Umgang mit den Herausforderungen der Vielfalt in der akademischen Lehre als auch der praktischen Kompatibilität innovativer, auf Individualität setzender Lehrmethoden mit den organisatorischen Anforderungen und Standards der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplin. Die aufgeführten Überlegungen zum didaktischen Umgang mit Heterogenität an der Universität zeigen, dass der Umgang sich vordergründig auf die sprachlichethnischen Aspekte konzentriert und in diesem sprachlich-ethnischen Zusammenhang von Interkulturalität gesprochen wird. In der akademischen Lehre wird Interkulturalität als Kategorie dann hauptsächlich auf den Erwerb interkultureller Kompetenz reduziert und punktuell in der Literaturdidaktik oder in der Fremdsprachenvermittlung als ein möglicher Zugang zum Kennenlernen des Anderen bzw. als Motivationsfaktor angewandt. In diesem Zusammenhang konzentriert sich die akademische Lehre auf die Vermittlung sogenannter fremdkultureller Kontexte des/der Anderen – über Literatur als Medium der (fremden) Kultur. Außen vor bleibt die Berücksichtigung der Prozessualität im individuellen, von Differenzen geprägten Zugang zum vermittelten Wissen. Nach dem zitierten Qualifikationsrahmen spielt die Wissenschaftlichkeit in der akademischen Lehre eine zentrale Rolle. Wissenschaftlichkeit bedeutet das Verortetsein der Forschung und Lehre in der jeweiligen Wissenschaftskultur mit ihren Diskursen. Als wissenschaftlich gilt, was evident, beschreibbar, analysierbar und messbar ist. Die zitierte Studie von Szczyrba, Gerber und van Treeck belegt, dass für die Erfüllung des Kriteriums der Wissenschaftlichkeit die individuellen Potentiale, wie z.B. persönliche Erfahrung oder Emotionen der Studierenden kaum berücksichtigt werden, weil eine solche Subjektivierung als Störung, als Verlangsamung der Wissensvermittlung gilt. Wissenschaftlichkeit steht in der akademischen Lehre in Opposition zur Erfahrung. Die individuelle Erfahrung sehe ich jedoch als einen wesentlichen Bestandteil der Potentiale. Erfahrung, darunter die emotionale Erfahrung, ist eine Kategorie der Psychologie und der Erziehungswissenschaften, wird aber in anderen Disziplinen als wichtiger Faktor der Erkenntnis nicht berücksichtigt. Auch die akademische Lehre sieht Erfahrung als ein Element des Vorwissens oder der Enkulturation, aber nicht als eine erkenntnistheoretische Kategorie. Eine Umkehrung der Diskrepanz zwischen Wissenschaftlichkeit und Erfahrung in 58 Vgl. auch: Quindel, Ralf (2015): Widersprüche im Bologna-Prozess. Positionierungen zum Thema »Gute Lehre«. In: Benjamin Klages, Marion Bonillo, Stefan Reinders und Axel Bohmeyer (Hg.): Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen. Opladen. S. 39-58. URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-113981 [14.06.2018].

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ein komplementäres Verhältnis ist aus meiner Sicht eine Voraussetzung für einen produktiven Umgang mit der Heterogenität in der akademischen Lehre.

Praxeologische Ansätze der Interkulturalität in der akademischen Lehre Im Kontext der Internationalisierung steht ›Interkulturalität‹ in Zusammenhang mit der Mobilität von Studierenden und Akademikerinnen. Für die vorliegende Arbeit knüpft das Verständnis von Interkulturalität an den offenen Kulturbegriff an, nach dem Kulturen ihre Distinktionen behalten, um welche herum sie sich prozessual und offen organisieren. Ich verstehe ›Interkulturalität‹ als einen Prozess, in dem Differenzen unterschiedlicher Art, nicht nur sprachlich-nationalkulturelle (sog. fremdkulturelle), zirkulieren und von den Handelnden wahrgenommen, aktiv angenommen und produktiv verarbeitet werden. Ortrud Gutjahr schreibt über die mögliche Füllung des Begriffs Interkulturalität mit Inhalten in Kontexten, dieser sei nicht nur als eine Begegnung von kulturell unterschiedlich geprägten Akteurinnen zu verstehen, sondern auch als Zugang zum Anderen: Der vielfältig einsetzbare und deutungsoffene Begriff ›Interkulturalität‹ steht in verschiedensten Bereichen und Disziplinen hoch im Kurs und stößt ganz offensichtlich ob seiner positiven Konnotation mit kultureller Begegnungssituation, Fremdenverstehen und Zugang zu neuen Kulturformen auf breites Interesse.59 Gutjahrs Feststellung entnehme ich die Bedeutung des Präfixes »inter-«. Es ist nicht nur eine vorangestellte Silbe, sondern – räumlich gedacht – eine Art Verbindungselement, das verschiedene Entitäten (zeitweise) verknüpft; beispielsweise verschiedene Herangehensweisen an ein Problem. Konzepte zur Interkulturalität werden jedoch dafür kritisiert, dass sie auf die Anerkennung von Unterschieden zwischen Kulturen aufbauen. Diese Kritik ist berechtigt, wenn die erwähnten Entitäten als stabile Oppositionen betrachtet werden.60 Bloße Kritik greife jedoch zu kurz, weil eine kritische Betrachtung immer wieder zu dem Fazit führe, dass das, was genannt wird, durch die Nennung reproduziert werde, schreibt Maria Castro Varela.61 Diesen Punkt versuche ich außer Kraft 59 Gutjahr, Ortrud (2015): Interkulturalität. Konstruktionen des Anderen. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Freiburger Literaturpsychologische Gespräche: Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, 34. Würzburg. Vorwort ohne Paginierung. 60 Vgl. Kreitz-Sandberg, Susanne (2007): Exkurs. Transkulturelle Genderforschung und interkulturelle Kompetenz. Strategien in der virtuellen Lehre aus der Perspektive von Studierenden. In: Michiko Mae und Britta Saal (Hg.): Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum Verhältnis von Kultur und Geschlecht. Wiesbaden. S. 53-74, hier S. 65. 61 Vgl. Castro Varela, S. 122. Castro Varela beruft sich an dieser Stelle auf Judith Butler und ihre These der Produktion durch Repräsentation.

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zu setzen, indem ich keine Kritik übe, sondern an die Problematik an Mitterers Konzept der non-dualen Redeweise den prozessualen Charakter der Distinktion in den Vordergrund angelehnt herangehe. Differenzen betrachte ich als bewegliches Verbindungselement im Sinne von Bhabha, der schreibt, Differenzen erlauben, das Andere wahrzunehmen und nicht vorwegzunehmen. Differenzen sind zugleich Distinktionen von Kulturen, die in Handlungen und Artefakten zum Vorschein kommen, entweder durch ein vom Mainstream legitimiertes Fremdes, oder im Fremden, das sich dem Mainstream widersetzt. In der vorliegenden Arbeit geht es weniger um Beschreibung von Differenzen und Kulturen. Ich beobachte, wie die Unterschiede sich verflechten und was daraus entsteht – im Sinne von Synergien, aber auch im Sinne von Konflikten. Die Verflechtung soll in meinem Verständnis jedoch nicht dazu führen, dass die Beteiligten ihre kulturelle Identität aufgeben und sich als transkulturell (hybrid) verstehen, wie Lothar Bredella es postuliert.62 Definitorisch wichtig ist für mich die Erkennung des Interagierens von Menschen, die aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten kommen und die Reflexion über Relationen, solange sie nicht durch Legitimation, etwa durch akademische Hierarchien oder Geltung bestimmten Wissens, stabilisiert werden. Konzepte der Interkulturalität gehen auch von der Opposition Eigenes–Anderes aus. Die Interkulturalität wird z.B. in der Fremdsprachen- oder Literaturvermittlung oder in den area studies als eine Möglichkeit des Zugangs zum Anderen betrachtet. Bei einer Auflösung der Oppositionalität kann Interkulturalität eine Ausgangsplattform für den kulturbewussten akademischen Lehrbetrieb werden und nicht das Ziel. Was Interkulturalität im Kontext der akademischen Wissensvermittlung jedoch einschränkt, ist ihre Wahrnehmung als linear und die Annahme, dass nur zwei Entitäten semantisch durch das Präfix »inter-« verknüpft werden, wodurch andere Unterschiede, wie z.B. Gender, Behinderungen usw., ausgeblendet werden. In der Fachliteratur63 wird betont, dass Interkulturalität ein wesentlicher Aspekt des akademischen Lehrbetriebes ist. Eine über die Interkulturalität hinausgehende Erweiterung der Konzeptualisierung und Operationalisierung von Heterogenität und Differenzen um nicht-binäre Ansätze und Methoden kann ebenso erkenntnisbringend sein. Erst im Gefüge von Relationen und Interferenzen können die Potentiale der Interkulturalität im Prozess der Lehre umfangreicher genutzt werden. Für meine Untersuchungen verwende ich die Forschungsergebnisse zur Interkulturalität bezüglich der interkulturellen Kompetenz sowie der Berücksichtigung 62 Vgl. Bredella, Lothar (2012): Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen. S. 118. 63 Vgl. z.B. Beiträge in: Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hg.) (2003): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar.

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der Interkulturalität in der Literaturvermittlung, wobei Interkulturalität als Methode des Zugangs zum Anderen betrachtet wird, als Basis für die Entwicklung des Modells der transdifferenten Lehre. Somit gehe ich über die erwähnten kritisierten Punkte im Verständnis der Interkulturalität hinaus und versuche Interkulturalität für die Anwendung in der akademischen Lehre zu erweitern.

Interkulturelle Kompetenz als Schlüsselkompetenz Interkulturalität als Phänomen wird im akademischen Lehrbetrieb und in der Forschung vorrangig als Ergebnis der Internationalisierung der Universität betrachtet. Den Internetseiten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sind z.B. folgende Erklärungen zu entnehmen: Die Bundesregierung unterstützt die deutschen Hochschulen, sich international zu behaupten. Das Hochschulmarketing soll Studierende, Nachwuchswissenschaftlerinnen und Forscher weltweit für das Studieren und Forschen an deutschen Hochschulen begeistern. Die Hochschulen sind auf dem Weg in einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt den Austausch von deutschen Studierenden, Graduierten und Wissenschaftlern mit dem Ziel, den akademischen Nachwuchs in Deutschland wissenschaftlich und kulturell international zu qualifizieren.64 Es gibt Austauschprogramme65 und Stipendien für Studien- und Forschungsreisen, Unterstützung bei Netzwerkarbeit etc. Diese Erklärungen und Programme wirken bereits, sie unterstützen die Mobilität und den Austausch. Zum akademischen Lehrbetrieb gehören jedoch nicht nur die Studierenden und Dozierenden, sondern auch die im Hintergrund arbeitende Verwaltung, zu der wiederum Präsidien, Rektorate, Dekanate, Dezernate, Internationale Büros, Qualitätsmanagement, Diversity Management und andere Einrichtungen zählen. Die kritische Stelle, an der die Erklärungen sich in Fragen verwandeln, ist der Moment, ab dem die Bedeutung und Konsequenz der Heterogenität – und diese ergibt sich nicht nur aus der Internationalität – erlebt wird. An diesem Punkt soll nach den Ministerien und anderen Schirminstitutionen der Austauschprogramme eine effektive und 64 Bundesministerium für Bildung und Forschung (ohne Jahresangabe): www.bmbf.de/de/internationalisierung-der-hochschulen-924.html [28.02.2018]. 65 Europaweit populär ist das ERASMUS-Programm der Europäischen Union: www.erasmusplus.de/erasmus/bildungsbereiche/hochschulbildung [19.08.2018]. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) unterstützt weltweite Netzwerke und vergibt Stipendien für Studien- bzw. Forschungsaufenthalte: https://portal.daad.de [19.08.2018]. Für die einzelnen Zielregionen, Disziplinen und Projekte gibt es internationale und nationale Programme, die die Mobilität der Studierenden und Forschenden unterstützen, die von den jeweiligen Regierungen finanziert werden.

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kulturell bewusste, tägliche und nachhaltige Arbeit mit heterogenen Gruppen geleistet werden. Hier entstehen aber auch Fragen nach Praxis oder Verfahren, nach Instrumenten des Umgangs mit Differenzen, die in immer wieder neuen Konstellationen erscheinen. Aus Publikationen, die diese Aufgaben thematisieren66 geht hervor, dass dafür eine gesonderte Vorbereitung der Dozierenden notwendig wäre. Dass die Erfahrung der Heterogenität in Seminar-Räumen durchaus eine Herausforderung darstellt und sogar einen Grund für Frustrationen, sowohl bei Studierenden als auch bei Lehrenden, werde bislang kaum erkannt,67 so Matthias Otten. Nach Otten gibt es Bedarf an Wissen und Instrumenten, die den täglichen Umgang mit Heterogenität in akademischer Lehre effektiv, produktiv und vor allem für alle Beteiligten zufriedenstellend gestalten lassen.68 Dies bestätigt Florian Feuser, indem er schreibt: »Solide fundierte Konzepte zur Gestaltung interkultureller Lehr- und Lernsituationen sind […] selten.«69 Es gebe zwar einschlägige Ansätze bezüglich der interkulturellen Kompetenz, sie seien jedoch in erster Linie auf Managementkontexte in Unternehmen konzipiert.70 Die Akteurinnen – Lehrende wie Studierende – wollen und müssen über die lange als Schlüssel zum Erkennen des Anderen gepriesenen Kulturstandards, die Dos und Don’ts hinausgehen.71 Wenn die Lehrenden ihre Herausforderung darin sehen, Wissen zu vermitteln, das nicht hegemonial geprägt ist, d.h. Wissen, das nicht von vornherein für »das richtige 66 Vgl. z.B. Ahlers-Niemann, Arndt (2007): Das Unbehagen der Universitätskultur. Sozioanalytische Reflexionen zum Unmöglichkeitsraum Universität. Wuppertal. http://elpub.bib. uni-wuppertal.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-782/ab0702.pdfoder Nickel, Sigrun (Hg.) (2011): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis. C HE-Arbeitspapier 148. Gütersloh. www.che.de/downloads/C HE_AP_148_Bologna_Pro zess_aus_Sicht_der_Hochschulforschung.pdf [20.03.2018]. 67 Das belegt Matthias Otten in einem Modell interkultureller Handlungsorientierungen an Universitäten: Vgl. Otten, Matthias (2006): Interkulturelle Handlungsorientierungen im Internationalisierungsprozess der Hochschulen. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Ed.)/Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Frankfurt a.M. S. 1554-1565. URN: www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/17504/ssoar2006-otten-interkulturelle_handlungsorientierungen_im_internationalisierungsprozess_der. pdf?sequence=1 [20.03.2018]. 68 Ebd., S. 1558. 69 Feuser, Florian (2019): Kulturelle Vielfalt in Unterrichtssituationen. Zur wechselseitigen Wahrnehmung chinesischer Studierender und Dozenten. Zwischenbericht zu den Ergebnissen explorativer Studien an einer deutschen Hochschule. In: Florian Feuser, Carmen Ramos MéndezSahlender und Christiane Stroh (Hg.): Diversität an Hochschulen. Unterschiedlichkeit als Herausforderung und Chance. Bielefeld. S. 59-72, hier S. 59. 70 Vgl. Feuser, ebd. 71 Vgl. Ewert, Michael (2011): Die Fremdheit der Literatur. Ein Beitrag zur interkulturellen Literaturwissenschaft mit einem Ausblick auf Fontane. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 12-28, hier S. 16.

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Wissen« erklärt wird, dann stehen sie vor einer komplexen Aufgabe, deren Lösung über das Fachwissen hinaus kulturelles Bewusstsein, Moderations- und Mediationskompetenzen sowie didaktische Fähigkeiten erfordert. Als eine mögliche Lösung der mit Mobilität und Internationalisierung von Universitäten verbundenen Probleme wird der Erwerb interkultureller Kompetenz gesehen, die zur Schlüsselkompetenz des akademischen, internationalen Lehrbetriebs geworden ist. Sie stellt eine Basis für ein bewusstes, differenziertes und effektives Arbeiten mit Distinktionen dar. Eine Beschreibung dessen, was interkulturelle Kompetenz im universitären Kontext sein kann, wird in dem Thesenpapier zur interkulturellen Kompetenz der Bertelsmann Stiftung vorgeschlagen, das auf Erkenntnissen von Darla K. Deardorff basiert: Interkulturelle Kompetenz beschreibt die Kompetenz, auf Grundlage bestimmter Haltungen und Einstellungen sowie besonderer Handlungs- und Reflexionsfähigkeiten in interkulturellen Situationen effektiv und angemessen zu interagieren.72 Deardorff versteht das Zusammenwirken von persönlichen Haltungen, Handlungsund Reflexionskompetenzen als eine Spirale. Haltung/Einstellung, Handlungsund Reflexionsfähigkeiten bedingen sich reziprok. Dabei ist die Reflexionsfähigkeit von besonderer Bedeutung für die Einstellungen und Handlungen, die sich ändern und so zur Erweiterung der interkulturellen Kompetenz führen können. Diese Erkenntnisse gewann die Autorin infolge einer Untersuchung, die sie 2004 unter mehreren Dutzend Forschenden, Lehrenden und Hochschulmanagerinnen in den USA durchgeführt hat. Die Zielgruppe ist aber zugleich der sensible Punkt ihrer Untersuchung, wie Deardorff selbst zugibt. Die Respondentinnen waren zwar ausgewiesene Expertinnen im Bereich der Interkulturalität, sie kamen jedoch aus westlich-industrialisierten Kulturkreisen, die das euro-amerikanische Hochschulmodell vertreten. Deswegen sind sowohl das Ergebnis der Untersuchung als auch die dort präsentierten allgemeinen Definitionen von interkultureller Kompetenz vor dem Hintergrund aufzufassen, dass es sich um eine durch die Perspektive bedingte Repräsentanz und nicht um eine allgemein gültige Beschreibung handelt, die das mehrdimensionale Interagieren von Vielfalt erfassen würde. Deardorffs Erkenntnis ist die ›Prozessualität der Kompetenz‹, die eine Kompilation aus Empathie, der Bereitschaft zur Hinterfragung der eigenen Positionen und Argumente sowie Offenheit für die Argumente und Haltungen des Anderen darstellt. Dieser Prozess sollte Studierende über ihr gesamtes Studium begleiten, 72 Bertelsmann Stiftung (2006): Interkulturelle Kompetenz – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der InterkulturellenKompetenz-Modelle von Dr. Darla K. Deardorff. www.jugendpolitikineuropa.de/down loads/4-20-2300/bertelsmann_intkomp.pdf [21.01.2018].

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so Deardorff.73 Die interkulturelle Kompetenz könne nicht als ein Nebeneffekt der Seminare erworben werden, z.B. in Fremdsprachenkursen, sondern sollte gezielt und professionell vermittelt werden: Die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz von Studenten [sic!] muss vielmehr intendiert und koordiniert werden sowie kohäsiv sein. Daher erfolgt z.B. die Entwicklung interkultureller Kompetenz nicht durch das gelegentliche Lesen, Diskutieren über Kulturen oder einzelne Präsentationen zu Kulturthemen […].74 Vielmehr sollen Studierende fächerübergreifend und während des gesamten Studiums umfassendes Wissen über Kulturen aufbauen und wichtige Fertigkeiten, wie zuhören, aufmerksam beobachten, deuten, analysieren, bewerten und zuordnen können, entwickeln.75 Ein wichtiger Teil des Prozesses ist die Reflexion der Studierenden über das eigene Wissen und die eigenen Fertigkeiten, die erworben werden. Die Reflexion betrifft auch Veränderungen von Ansichten, die die Akteurinnen vielleicht an sich erfahren. Interkulturelle Kompetenz scheint deswegen schwer zu fassen zu sein, weil sie den vielfältigen Produktionsprozessen des Wissens und Erkennens per se innewohnt und doch unbenannt, unreflektiert bleibt. Deswegen postuliert auch Deardorff: Deshalb muss die Entwicklung interkultureller Kompetenz mit dem GesamtCurriculum verflochten sein und nicht als »Extra« oder etwas, das man im Rahmen eines separaten Zusatzkurses erlernen kann, vermittelt werden. […] Dennoch steht fest, dass weder Sprache noch Wissen allein jemanden interkulturell kompetent machen, genauso wenig wie Reisen ins Ausland oder Leben im Ausland. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz ist komplex, mehrdimensional und muss auf verschiedene Arten sowie auf verschiedenen Ebenen erfolgen.76 Der universitäre Alltag sieht nach bald 15 Jahren seit der Publikation der Studienergebnisse immer noch nicht wie bei Deardorff postuliert aus. Das Bewusstsein über die Bedeutung der interkulturellen Kompetenz – und sie ist, wie oben gesagt, erst die Basis für eine bewusste Arbeit mit Vielfalt an den Universitäten – setzt sich sehr zäh durch. Bożena Chołuj schreibt diesbezüglich: »Zum derzeitigen Lehrpersonal gehört immer noch eine Generation von Lehrenden, die auf eine große kulturelle Vielfalt im Seminarraum nur begrenzt vorbereitet ist […].«77 Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt Alexander Thomas, der kritisiert, dass zwar über die Bedeutung interkultureller Kompetenz für Fach- und Führungskräfte ein 73 74 75 76 77

Vgl. ebd., S. 29. Ebd., S. 30f. Vgl. ebd. Ebd., S. 29-31. Chołuj (2017), S. 145.

Forschungsstand

Konsens herrsche und die Hochschulen wiederum eine Aufgabe haben würden, ihre Studierenden auf das globalisierte und internationalisierte Berufsleben vorzubereiten, doch habe das komplexe Thema Interkulturalität [nicht nur die interkulturelle Kompetenz – A. B.] keine Priorität im Lehrbetrieb. Es gebe zwar Trainings für Studierende, kaum aber für Wissenschaftlerinnen, die internationale Projekte realisieren,78 – und in der interkulturellen Lehre tätig sind. Zudem kritisiert Thomas die Dominanz des euro-amerikanischen Wissenschaftsbetriebs, der von Wissenschaftlerinnen aus anderen Kulturen verlange, sich den Regeln dieses Betriebs anzupassen.79 Thomas bestätigt, ähnlich wie Deardorff, dass die interkulturelle Kompetenz sich im Wissenschafts- und Lehrbetrieb nicht von allein einstellt: Bis heute wird in dieser Zielgruppe noch nicht verstanden, dass jede internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit im Kern interkulturelle Handlungskompetenz erfordert und dass diese Kompetenz nicht von alleine entsteht, sondern im Zuge gezielter Vorbereitungs- und Sensibilisierungsprogramme entwickelt werden muss.80 Sowohl Deardorff als auch Thomas plädieren also für eine komplexe Verflechtung des Bewusstseins über Differenzen und der Kompetenzen für den Umgang im universitären Alltag mit ihnen – was in den Curricula, den Begleitprogrammen etc. sichtbar sein sollte. So die Forderung, die teilweise umgesetzt wird. Ein bevorzugtes und angewandtes Format der Vermittlung von interkultureller Kompetenz im akademischen Lehrbetrieb stellen Trainings dar. Sie gelten […] als eine Lehrmethode zur Vermittlung des vielschichtigen Lernziels interkultureller Kompetenz mit Hilfe planvoller, aufeinander abgestimmter Anwendungsübungen, die auf die Bewältigung interkultureller Interaktionssituationen vorbereiten […].81 Die Trainings sind Teil der praktischen Umsetzung der oben genannten Forderungen. Der Bedarf liegt in meinen Augen in einer stärkeren Verknüpfung der theoretischen und praktischen Ebene durch umfassende hochschuldidaktische Konzepte. Der Erwerb interkultureller Kompetenz durch Trainings ist ein Instrument, das 78 Vgl. Thomas, Alexander (2010): Geleitwort. In: Gundula G. Hiller und Stefanie Vogler-Lipp (Hg.): Schlüsselqualifikationen interkulturelle Kompetenz an Hochschulen. Grundlagen, Konzepte, Methoden. Wiesbaden. Ohne Paginierung. 79 Vgl. ebd. 80 Ebd. 81 Rathje, Stefanie (2010): Interkulturelles Training als Vermittlungsmethode interkultureller Kompetenz im Hochschulbereich. In: Gundula G. Hiller und Stefanie Vogler-Lipp (Hg.): Schlüsselqualifikationen interkulturelle Kompetenz an Hochschulen. Grundlagen, Konzepte, Methoden. Wiesbaden. S. 19-31, hier S. 19.

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in den Konzepten einen festen Platz hat, wobei zu beachten ist, dass interkulturelle Trainings, werden sie nicht von den Teilnehmenden reflektiert und von den Moderierenden mit der Gruppe vertieft diskutiert, durchaus zur Verfestigung von Stereotypen beitragen können.82 Das kann passieren, wenn der Fokus auf stereotype, sogar klischeehafte Unterschiede und nicht auf Gemeinsamkeiten zwischen den Gruppen gelegt werde, schreibt Susanne Preuschoff.83 Deswegen sei es wichtig, dass die Trainerinnen einen kritischen Blick auf Kulturkonzepte und -modelle haben84 und nicht mit Oppositionen, wie z.B. »eigen« und »fremd«, arbeiten. María do Mar Castro Varela schreibt diesbezüglich: »Wenn zum Beispiel innerhalb von Trainings der Umgang mit dem ›Fremden‹, ohne dies zu hinterfragen – oder auch eine unkritische Idee von ›Kultur‹ – bei den Teilnehmenden bestätigt wird, so werden die bestehenden Machtverhältnisse gefestigt.«85 Auch werde dadurch, so Castro Varela, die Dualität »Wir und die Anderen« konstant re-stabilisiert. Die Differenz wird also vorweggenommen, bevor sie durch die Akteurinnen wahrgenommen wird. Bei der an dieser Stelle fehlenden, aber eigentlich essentiell benötigten Wahrnehmung geht es nicht um eine Reduktion dadurch, dass etwas Fremdes zu Bekanntem gemacht wird. So würde es möglicherweise wieder zu der von Castro Varela angesprochenen hegemonialen Situation kommen.86 Diese Situation würde einem »Zähmen« des Anderen ähneln, indem das Andere nicht mehr als autonome Einheit gesehen wird, sondern zum Set des Eigenen hinzugefügt wird. Bei den Workshops, Trainings und anderen Formaten sollte es nach meinem Dafürhalten ebenso wenig um eine künstliche Herstellung von Gemeinsamkeiten gehen, was auch Preuschoff postuliert. Verwischen von Differenzen, die sich meistens in Konfliktsituationen zeigen, und die Konzentration ausschließlich auf Gemeinsamkeiten oder Herstellung von Konsens kann in diesem Kontext kontraproduktiv sein. Vielmehr kommt es bei den Formaten darauf an, den Studierenden bewusst zu machen, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten Effekte von Konstruktionsprozessen sind. Die eigentliche Aufgabe wäre dann, diese Konstrukte – als Phänomene 82 Vgl. Chołuj (2017), S. 144. 83 Vgl. Preuschoff, Susanne (2003): Interkulturelle Kompetenztrainings – Was kommt nach 20 Jahren Hofstede? In: Marion Kamphans, Marion Kettler, Sigrid Metz-Göckel, Dirk Schneckenberg und Birgit Szczyrba (Hg.): Journal Hochschuldidaktik, 1/2003. S. 10-12. https://eldorado.tudortmund.de/bitstream/2003/26828/1/Kompetenztraining.pdf [14.01.2018]. 84 Vgl. Hiller, Gundula G. (2010): FAQ – 10 Fragen zu interkulturellen Trainings an Hochschulen. In: Gundula G. Hiller und Stefanie Vogler-Lipp (Hg.): Schlüsselqualifikationen interkulturelle Kompetenz an Hochschulen. Grundlagen, Konzepte, Methoden. Wiesbaden. S. 35-56, hier S. 43. 85 Castro Varela, S. 121. 86 Vgl. Wulf, Christoph (2006): Heterologisches Denken und Handeln als Aufgabe transkultureller Bildung. In: Michael Göhlich, Hans-Walter Leonhard, Eckart Liebau und Jörg Zirfas (Hg.): Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annährungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz. Weinheim/München. S. 155-168, hier S. 156.

Forschungsstand

– ausgewogen, wertneutral und ergebnisoffen aufzuzeigen, zu diskutieren und zu reflektieren.

Interkulturalität in der akademischen Literaturvermittlung Es wäre falsch zu behaupten, der zeitgenössische akademische Lehrbetrieb beschränke sich in der Behandlung der kulturellen Vielfalt auf die Vermittlung interkultureller Kompetenz und erschöpfe sich im Delegieren, zumindest vonseiten der Hochschulleitung und -verwaltung, der Aufgaben und der Verantwortung auf überforderte und dafür wenig sensibilisierte Lehrende. Seit den 1980er Jahren ist eine Verschränkung zwischen Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik, Fremdsprachen und Kommunikationswissenschaften zu beobachten.87 Die Notwendigkeit der interdisziplinären Arbeit mit Interkulturalität, in der Literatur als Medium betrachtet wird, mündet in der Disziplin Interkulturelle Literaturwissenschaft,88 die, wie Andrea Leskovec in Anlehnung an Norbert Mecklenburg schreibt, es überall dort gebe, wo Literaturwissenschaftlerinnen bei ihrer Arbeit kulturelle Differenzen bedenken und über ihre Kulturgrenzen hinausgehen.89 Kulturgrenzen sehe ich in der wissenschaftlichen Arbeit mit literarischen Texten vor allem als Disziplingrenzen, d.h., die sich der interkulturellen Literaturwissenschaft widmenden Forschenden beziehen Erkenntnisse anderer Disziplinen in ihre Forschung und Lehre ein. Die Interkulturalität in der Literaturvermittlung bezieht sich auf die poetologische Wirkung eines literarischen Textes durch sprachliche Formen,90 auf die ästhetische Wirkung durch Literarizität,91 auf die Erfahrung von Fremdheit in Texten. Auch die Parallelen zwischen der ästhetischen Wirkung und den Mechanismen der Kommunikation werden mit Erkenntnissen aus der Interkulturalitätsforschung erklärt. Simone Schiedermair untersucht diese Möglichkeiten der Verschränkung zwischen Literaturvermittlung und Wahrnehmung des Fremden in der Fremdsprachendidaktik.92 87 Vgl. Ewert, S. 12f. 88 Vgl. Leskovec, Andrea (2011a): Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft. Darmstadt. 89 Vgl. ebd., S. 7. 90 Vgl. Culler, Jonathan (2013): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart. Vgl. ebenfalls Esselborn, Karl (2010): Interkulturelle Literaturvermittlung zwischen didaktischer Theorie und Praxis. München. 91 Vgl. Dobstadt, Michael/Riedner, Renate (2011): Überlegungen zu einer Didaktik der Literarizität im Kontext von Deutsch als Fremdsprache. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 99-115. 92 Schiedermair, Simone (2017): »Ist das Literatur? … Was ist denn Literatur?« Ein Ausblick auf die Rolle der Literatur im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Simone Schiedermair (Hg.): Li-

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Parallelen zwischen literaturwissenschaftlichen und kommunikationswissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere in der interkulturellen Kommunikation werden von Autoren wie Jerome Bruner,93 Lothar Bredella94 oder Klaus Stierstorfer95 untersucht. Bereits in den 80er Jahren wurden auch Möglichkeiten der Anwendung von literarischen Originaltexten im Fremdsprachenunterricht diskutiert und praktiziert. Diese Möglichkeiten und ihre theoretischen Ansätze beschreiben u.a. Karl Esselborn und Lothar Bredella. Sie verfolgen zunächst den poetologischen Ansatz und konzentrieren sich darauf, messbare Wirkung zu erzielen – einen Zuwachs von fremdsprachlichen und landeskundlichen (sog. fremdkulturellen) Kompetenzen bei den Lernenden. Esselborn beschreibt die fremdsprachliche Literaturdidaktik als eine Möglichkeit des Fremdsprachenerwerbs auf der Grundlage von Literatur unterschiedlicher Genres, d.h. von fiktionalen Texten, Songtexten, Kommentaren, Rezensionen etc.: [Es – A. B.] ist zuerst an den Einsatz literarischer Texte im traditionellen Fremdsprachenunterricht Deutsch zu denken, der diese meist vollständig dem Fremdsprachenerwerb i.e. Sinne unterstellt, d.h. als sprachliche Vorgabe für Grammatik und Wortschatzvermittlung oder bestenfalls als landeskundliche Quelle oder zur Motivation benutzt.96 Die Reduzierung eines literarischen Textes auf die poetologische Ebene kritisiert Andrea Leskovec. Sie schreibt, literarische Texte werden zu Wortschatz- oder Grammatikübungen oder zu landeskundlichen Zwecken instrumentalisiert, seltener werde ihre Literarizität vermittelt, was die Sinnhaftigkeit der Einbeziehung von literarischen Texten in den Fremdsprachenunterricht in Frage stelle.97 Das Lesen von fiktionalen Texten kann mehr sein als nur Instrument zum Erwerb von Wortschatz- und Grammatikkenntnissen. Nach dem erwähnten Konzept zur Didaktik der Literarizität, das Michael Dobstadt und Renate Riedner entwickelten,98 werden bestimmte Sprachfunktionen in einem literarischen Text von den Lesenden unterschiedlich fokussiert. Dadurch

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teraturvermittlung. Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch. München. S. 15-40. Bruner, Jerome S. (1986): Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/Massachusetts/London. Bredella, Lothar (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen. Stierstorfer, Klaus (2002): Literatur und interkulturelle Kompetenz. In: Laurenz Volkmann, Klaus Stierstorfer und Wolfgang Gehring (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Stuttgart. S. 119-141. Esselborn, S. 29. Leskovec, Andrea (2010): Vermittlung literarischer Texte unter Einbeziehung interkultureller Aspekte. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als Fremdsprache, Jahrgang 15, Nummer 2. S. 238-255, hier S. 239. http:// tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/index [08.07.2018]. Dobstadt/Riedner.

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machen sich die Lesenden, so Dobstadt und Riedner, mit der ästhetischen Dimension der Sprache vertraut – mit dem Verweis darauf, dass Zeichen auf Zeichen rekurrieren. Die daraus resultierende sprachliche Mehrdeutigkeit könne nicht abschließend interpretiert werden.99 Im Rahmen einer Didaktik der Literarizität geht es auch darum, die Lernerinnen und Lerner mit Sprache als einem symbolischen Zusammenhang vertraut zu machen, der unseren Blick auf ›Wirklichkeit‹ perspektiviert und uns als Angehörige von Sprachgemeinschaften mit bestimmten (kulturellen) Deutungsmustern ausstattet.100 Besonders die Referenz von Zeichen auf Zeichen101 ist für das Konzept der transdifferenten Lehre von Bedeutung und wird von mir zur Entwicklung der medialen Funktion von fiktionalen Texten aufgegriffen. Karl Esselborn sieht die Verwendung literarischer Texte in der Wissensvermittlung auch unter dem Gesichtspunkt des kognitiven Aspekts, der im Wissenserwerb eine wichtige Rolle spielt. Wenn das Lesen als Sinnentnahme aus einem Text und als ein wirklichkeitskonstituierender Akt (Leseakt) verstanden wird, dann sind außer der Kenntnis der Sprache (ggf. der Fremdsprache) weitere Fähigkeiten und Kompetenzen erforderlich, wie z.B. die Bereitschaft zur Übernahme fremder Perspektiven.102 Michael Ewert schreibt dazu: »Besonderes Interesse verdient in diesem Kontext die Frage, wie aus Kulturwahrnehmungen, individuellen und kollektiven Fremdheitserfahrungen Textualisierungsprozesse hervorgehen.«103 Da sich im literarischen, sowohl im faktualen als auch im fiktionalen Text, die Fremdheit über die Fremdheit des Textes äußern kann, dient der Text als Medium der Fremdheit. Ausführlich mit der durch Literatur vermittelten Fremdheit beschäftigt sich Andrea Leskovec in ihrer 2009 erschienenen Monographie.104 Nach einer Analy99 Vgl. Dobstadt/Riedner, S. 110. 100 Dobstadt/Riedner, S. 111. 101 Hinsichtlich der Berücksichtigung der Referentialität von Zeichen bei der Lektüre literarischer Texte in der Fremdsprachenvermittlung heißt es auch bei Simone Schiedermair: »Indem das Zeichen nicht nur in seiner Funktion der Bezeichnung von etwas aufgeht, sondern zusätzlich auf seine Zeichenhaftigkeit verweist, lockert sich die Beziehung zwischen dem, was bezeichnet wird, und dem Zeichen, das dafür verwendet wird. So eröffnet dieses spezifische Verhältnis zwischen Zeichen und Objekt Möglichkeiten für das semiotische Spiel von Aufbau und Abbau von Bedeutungen.« Vgl. Schiedermair, Simone (2011): Text zwischen Sprache und Kultur. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 173-188, hier S. 174. 102 Esselborn, S. 93. 103 Ewert, S. 18. 104 Leskovec, Andrea (2009): Fremdheit und Literatur. Alternativer hermeneutischer Ansatz für eine interkulturell ausgerichtete Literatur-wissenschaft. Berlin.

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se der Ansätze der interkulturellen Literaturwissenschaft, interkulturellen Hermeneutik und interkulturellen Germanistik konkludiert die Autorin, das interkulturelle Potential literarischer Texte müsse so erweitert werden, dass sowohl die generellen Funktionen der Literatur105 in die Lehre106 einbezogen werden als auch dass die interkulturelle Kompetenz berücksichtigt werde, die nach Leskovec durch den Umgang mit Literatur ausgebildet und erweitert werden kann.107 Unter interkultureller Kompetenz versteht Leskovec, ähnlich wie Deardorff, die Entwicklung von Aufmerksamkeit für das Andere, Problemlösungskompetenz sowie das Ambiguitätsvermögen.108 Als Komponente der interkulturellen Kompetenz fügt die Autorin – und diese Erkenntnis ist für die vorliegende Arbeit von Bedeutung – »das Erkennen von Zentrismen als Ursache für Ausgrenzung und Ablehnung des Fremden«109 hinzu. Zentrismus, hier im Sinne des In-den-Mittelpunkt-Stellens der eigenen geltenden Perspektive, verhindert die Wahrnehmung der Perspektiven des Anderen und schränkt somit die Wahrnehmung des Textes ein. Leskovec kommt zu der Schlussfolgerung, dass Fremdes kein Negativum oder Defizit ist, das man bewältigen oder berichtigen müsste, sondern dass Fremdes dem Eigenen immanent ist, dass es an der Konstitution des Eigenen beteiligt ist und dass es als solches wenigstens teilweise uneinholbar sein kann. Hieraus ergibt sich für die interkulturelle Literaturwissenschaft und -didaktik die Verantwortung, diese Uneinholbarkeit bewusst zu reflektieren und sich nicht darauf zu beschränken, den geglückten Umgang mit dem Fremden zu organisieren.110 Die Öffnung für fremde Perspektiven ist auch der Ansatzpunkt für meine Arbeit. Für diesen Ansatz gilt, was ich zuvor in Anlehnung an Homi Bhabha über die Wahrnehmung statt der Vorwegnahme des Anderen geschrieben habe. Es geht um die ästhetische Wirkung von fiktionalen Texten, nicht nur der fremdsprachlichen, sondern generell in kulturell heterogen besetzten Seminaren an Hochschulen, sowie um die Entwicklung von Kompetenzen, deren Mitbestandteil die interkulturelle Kompetenz ist, die eine Wahrnehmung des Anderen im Kontext der Heterogenität ermöglicht. 105 Als generelle Funktionen der Literatur identifiziert Leskovec in Anlehnung an Neva Šlibar die orientierende, die kognitive, die emanzipatorische, die sensibilisierende, die ethische und die konstruktive Funktion. Sie sieht weiterhin die Funktion der Literatur in der Informationsvermittlung und in der Rolle als Ort des kollektiven Gedächtnisses, benennt aber nicht die Funktion der Literatur als Medium. Vgl. ebd., S. 185. 106 Leskovec bezieht die Anwendung literarischer Texte auf den Fremdsprachenunterricht und auf die Literaturvermittlung. 107 Vgl. Leskovec (2009), S. 185. 108 Vgl. ebd. 109 Ebd. 110 Leskovec (2009), S. 228.

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Die Wirkung von fiktionalen Texten, insbesondere von Gedichten, war schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts von Interesse. Der englische Literaturwissenschaftler Ivor Richards erforschte die Reaktionen von Studierenden auf Gedichte, die er den Probandinnen ohne Autorenangabe vorlegte. Er bat die Probandinnen aufzuschreiben, welche geistigen Operationen sie beim Lesen und Interpretieren bei sich beobachteten. Diese Aufgabe erwies sich als schwierig, denn die Aufmerksamkeit bei der Lektüre richtete sich vorgängig auf den Text und seine Aussage.111 Den Ansatz der Wirkung von Texten haben auch andere Forschende bereits verfolgt, z.B. Ray Bell.112 Bell identifiziert folgende Etappen des Leseprozesses: ›Identification of the Individual with the Poem‹, ›Projection of Self into the Poem‹, ›Clarifying an Emotional Response‹, ›Intellectual or Conscious Insight‹. Bei der Projektion des Selbst beginne die lesende Person das im Text Verstandene im Kontext eigener Erfahrung und Assoziation zu sehen: Following an initial engagement with the puzzle of the poem, the reader begins to view the text in terms of his own experiences and associations. By perceiving the poem in terms of his own personal interests and ideas, he attempts to involve himself more.113 Die Betonung liegt auf der Herstellung eines Bezugs der lesenden Person zur eigenen Erfahrung. Die Wahrnehmung des Textes aus einer persönlichen Perspektive und individuellen Vorstellungen führt dazu, dass die lesende Person ihre Vorstellungen mit denen anderer Lesender vergleichen will. Sie will sie kommunizieren, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie bereit ist, sich den Vorstellungen der anderen Lesenden zu öffnen: »At best, the reader gains ›satisfaction‹ from his interpretation and, to evaluate his own re-creation of the poem, may seek to test what he now holds at the forefront of his attention by comparison with the readings of others.«114 Bell schreibt über ›satifaction‹, über Zufriedenheit damit, was die lesende Person im Text gefunden hat. Die Zufriedenheit, vielleicht auch Freude, ist meiner Meinung nach mit der Erkenntnis zu begründen, dass das, was der Text kommuniziert, in Verhältnis zur eigenen Erfahrung des/der Lesenden gesetzt werden kann. Der Vergleich der eigenen Vorstellung – was nicht mit einem Interpretationsergebnis gleichzusetzen ist – mit dem, was andere Lesende aus dem Gedicht herausgelesen haben und welche Aspekte sie in den Vordergrund gestellt haben, ist auch im Kontext meiner Arbeit wesentlich. Zwar stellt Bell die Ergebnisse seiner Untersuchung nicht vor dem Hintergrund der kulturellen Heterogenität 111 Vgl. Richards, Ivor A. (1929): Practical Criticism. A Study of Literary Judgment. New York. S. 12-15. 112 Bell, Ray (1988): Four Readers’ Readings. In: Michael Benton, John Teasey, Ray Bell und Keith Hurst. Young Readers Responding to Poems. London/New York. S. 88-156, hier S. 155f. 113 Ebd. 114 Ebd.

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der Lesenden dar und konzentriert sich auf den Lesevorgang, doch die verschiedenen Neu-Schöpfungen (re-creations), die während der Lektüre entstehen, deuten auf verschiedene Zugänge zum Text hin. Das Vergleichen bedeutet, dass sich die Lesenden einander für ihre Bilder öffnen, also bereit sind, diese wahrzunehmen, zu betrachten. Das ist in meinen Augen eine der Möglichkeiten, die Arbeit mit einem fiktionalen Text in der akademischen Lehre nicht bei seiner Interpretation zu belassen, sondern die Wirkungen, die der Text erzeugt, zu bedenken und zu diskutieren. Dadurch wird die Seminar-Gruppe zum momentanen Denkkollektiv konsolidiert. Die Möglichkeiten der Erkenntnisproduktion, welche fiktionale Texte bieten, sind vielschichtig, unterschiedlich einsetzbar und entwickelbar. Deswegen werden sie aus verschiedenen Perspektiven untersucht und angewandt. So schreibt auch Lothar Bredella, dass das Verstehen von Bedeutungen fiktionaler Texte nicht »ein Ablesen von Bedeutungen« sei, »sondern eine Interaktion zwischen Text und Leser [sic!]«.115 Es handele sich, so Bredella, um einen rein subjektiven Vorgang und es gehe darum, den im Text verborgenen Sinn zu finden, aber auch darum, wie der Text das Andere hervorbringe.116 Dabei kann aus den Ausführungen von Bredella die Bedeutung des Anderen als Subjekt einer fremd-sprachlichen Kultur interpretiert werden. Er schreibt: »Um Handlungen in der fremden Kultur zu verstehen, müssen wir etwas über die Wertvorstellungen der fremden Kultur wissen und eine Innenperspektive einnehmen.«117 Diesem Zitat ist zu entnehmen, dass Bredella Kultur als eine Einheit versteht, nicht als einen offenen Raum von Dynamiken, Verhandlungs-, Machtstrukturen etc. Zentral für die Wahrnehmung von Differenzen, sei es in der Literaturvermittlung, sei es in der Fremdsprachenvermittlung, ist, wie gesagt, die Wahrnehmung und Erfahrung von Fremdheit. Fiktionale Texte bieten mehrere Anknüpfungsflächen für unterschiedliche Erfahrungen und Einstellungen, unter anderem können sie einen Einblick in diese, bei Bredella ethnisch-sprachlich definierte, fremde Kultur gewähren. In einer breiteren als der ethnisch-sprachlichen Perspektive der interkulturellen Literaturvermittlung müssten narratologisch-literaturwissenschaftliche Textanalysen mit kulturwissenschaftlich relevanten Fragestellungen verbunden werden, schreibt Andrea Leskovec in einem späteren Aufsatz, in dem sie das Thema der Wahrnehmung des Anderen in der Rezeption literarischer Texte fort115 Bredella (2002), S. 296. 116 Dabei bezieht sich Bredella ebenfalls auf die von Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß entwickelten Konzepte des Leseaktes. Vgl. ebd. 117 Ebd. S. 307.

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setzt.118 Die Autorin geht von der Erkenntnis aus, dass jegliche kulturelle Vermittlung eine narrative Leistung sei und kulturelles Wissen durch narrative Strukturen gebildet und erhalten werde.119 Leskovec weist auf einen Aspekt hin, der bei der interkulturellen Literaturvermittlung eine Rolle spiele: das Einüben einer Lesehaltung, die Heterogenität bewusst mache.120 Literarische Texte würden Heterogenität als Verschränkung des Fremden mit dem Eigenen und die Fremdheit als Teil des Eigenen inszenieren. Diese Verschränkung(en) untersucht die Autorin in Anlehnung an den phänomenologischen Ansatz von Bernhard Waldenfels.121 Sie kommt zu der Schlussfolgerung, dass das Bewusstsein für Heterogenität ein Bewusstsein der Kontingenz von Identität sensibilisiere. Das ist in meinen Augen eine Grundlage für eine transdifferente Wahrnehmung des Eigenen und des Fremden. Solch eine flexible Wahrnehmung motiviert dazu, das Erkannte immer wieder infrage zu stellen und neu zu positionieren. Die Wirkung eines fiktionalen Textes bedeutet nicht nur, dass er den Lesenden die Perspektive des Anderen und Wissen über das Andere vermittelt. Die Lektüre eines Textes geht aber über die Deutung seines Inhaltes hinaus und die bei der Lektüre entstehenden Gedanken verknüpfen die Lesenden auch mit der Lebenswelt, indem sie sie auf ihre persönliche Erfahrung übertragen. Fiktionale Texte bieten mehrere Stellen, an die die lesende Person mit ihrer Erfahrung »andocken« und sich neuen Erkenntnissen öffnen kann. Um auf die Parallelen zwischen der Wirkung fiktionaler Texte und der (interkulturellen) Kommunikation zurückzukommen: Weder die Wirkungsprozesse während einer Lektüre noch die Prozesse einer interkulturellen Begegnung (Kommunikation) verlaufen linear. Fiktionale Texte bringen mehrere Welten zusammen und in der Imagination der Lesenden entsteht eine neue Welt. In den literaturund kulturwissenschaftlichen Seminaren, die an heterogen besetzte Studierendengruppen adressiert sind, ist es aber möglich, Elemente der Literaturtheorie für die Wissensvermittlung zu operationalisieren. Klaus Stierstorfer schlussfolgert über das Verhältnis zwischen Literaturtheorie und Interkulturalität, dass Konzepte des Textverständnisses sich auf Prozesse der intersubjektiven Kommunikation übertragen ließen.122 Ein (literarisches) Subjekt offenbare sich im literarischen Text in kommunikativen Akten. Es handele sich um das Verständnis eines fremden Gegenübers, das sich im Text mitteilt, nicht direkt, sondern mittels eines Plots und 118 Leskovec, Andrea (2011): Dekonstruktion von Homogenitätskonzepten in literarischen Texten. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 79-98, hier S. 81. 119 Vgl. ebd. 120 Vgl. ebd. 121 Vgl. ebd., S. 82ff. 122 Vgl. Stierstorfer, S. 123.

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literarischer Stilmittel, die wiederum einer Deutung bedürfen. Literaturtheoretische Ansätze bieten nach Stierstorfer »potentiell die Möglichkeit des Transfers ihrer Grundmuster auf die Verständnis- und Kommunikationssituationen der Interkulturalität.«123 Das heißt, dass kulturelle Differenzen in kulturell übergreifender Perspektive betrachtet und erörtert werden können, was ich im Konzept der transdifferenten Lehre berücksichtige.

Interkulturalität in der Fremdsprachenvermittlung Durch die didaktische Verwendung von literarischen Texten in der Fremdsprachenvermittlung kommt es zu einer Verschränkung zwischen der Literaturvermittlung und der Fremdsprachenvermittlung. Die Fremdsprachenvermittlung, an sich nicht Gegenstand dieser Arbeit, bietet an dieser Stelle unter Interkulturalitätsaspekten einige Einsichten für interkulturelles Lernen in der transdifferenten Lehre. Ähnlich wie im Fall der interkulturellen Literaturvermittlung sind in der Fremdsprachenvermittlung unterschiedliche Möglichkeiten der Anwendung und Ansätze der Interkulturalität zu beobachten. Diese stelle ich am Beispiel des Fachs Deutsch als Fremdsprache (DaF) vor. Die hier aufgeführten Erkenntnisse gelten möglicherweise auch für andere Sprachen124 , die jedoch nicht Gegenstand meiner Untersuchung waren. Insgesamt sind drei Aspekte der Einbeziehung von Interkulturalität im Bereich der Fremdsprachenvermittlung zu identifizieren. Der erste Aspekt ergibt sich aus der Einbeziehung von Wissen aus anderen Disziplinen in die Vermittlung von Fremdsprachen. Dieses Wissen bezieht sich auf das kulturelle Umfeld der Zielsprache. Der zweite Aspekt der Interkulturalität, der im Zusammenhang mit Fremdsprachenvermittlung erforscht wird, ist das interkulturelle Lernen, das sich aber nicht auf den Erwerb der interkulturellen Kompetenz beschränkt, sondern als eine inter-aktive Art und Weise der Erfahrung des Fremden im Lernprozess gedacht ist.125 Darüber hinaus kann Interkulturalität im Sinne der Neugier am Anderen 123 Ebd. 124 Über die interkulturelle Literaturvermittlung im Fremdsprachenunterricht Englisch schreibt Laurenz Volkmann, der Erwerb von kommunikativen Kompetenzen stehe aufgrund der Vorgaben des Europäischen Referenzrahmens für Fremdsprachen im Vordergrund. Das bedeute, dass der ästhetische Aspekt der behandelten literarischen Texte zu selten berücksichtigt werde. Auch die Forschung zur englischen Fachdidaktik wende sich von hermeneutischen Traditionen ab und entwickele sich in Richtung datenbasierter Lehr- und Lernsituationen. Vgl. Volkmann, Laurenz (2017): Funktionen literarischer Texte. Perspektiven der Englischdidaktik. In: Simone Schiedermair (Hg.): Literaturvermittlung. Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch. München. S. 206-222, hier S. 209. 125 Vgl. Mühr, Stephan (2010): Vorbereitende Überlegungen für ein empirisches Forschungsprojekt über interkulturelle Lernprozesse. In: Britta Hufeisen, Nicole Marx, Jörg Roche, Joa-

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motivierend auf die Fremdsprachenlernenden wirken, was den dritten Aspekt darstellt. Die in den 80er Jahren aufkommende Erweiterung des Fremdsprachenunterrichts um sogenannte landeskundliche Aspekte und die Hinwendung zu Elementen und Methoden der area studies, wie Forschung zu politischen Systemen, Bildungswesen, Wirtschaft der Zielregionen, brachte neue Disziplinen und Fächer hervor. Die Interkulturelle Germanistik als Fach entwickelte sich z.B. aus dem um die Landeskunde erweiterten Fach Deutsch als Fremdsprache und aus den Kontexten der Auslandsgermanistik, d.h. aus fremder Perspektive auf deutsche Kultur,126 und entfernte sich von der bis dahin als philologische Disziplin verstandenen Germanistik. Die Vermittlung der (Fremd-)Sprache und die germanistische und regionale Forschung (area studies) wurden sodann als Elemente der kulturwissenschaftlichen Disziplin Interkulturelle Germanistik gesehen. Die Interkulturelle Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache stehen an dieser Stelle exemplarisch für interkulturelle Zugänge in der akademischen Fremdsprachen- und Literaturdidaktik.127 Dabei ist die interkulturelle Fremdsprachenvermittlung mehr als Erwerb der Fremdsprachenkompetenzen und landeskundlichen Wissens, was Stephan Mühr bestätigt.128 Mühr stellt fest: Wenn die traditionelle Landeskunde im Kontext der Deutsch als FremdsprachenDidaktik den cultural turn vollziehen soll, um den gesamten Zugang zum Fremdsprachenlernen und -lehren aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu berücksichtigen, so müssen ihre Lernziele bzw. angestrebten Schlüsselkompetenzen konkret bestimmt werden. Mit anderen Worten, wenn moderner DaF-Unterricht mehr sein soll als die Vermittlung eines sprachlichen Codes, so muss dieses ›kulturelle Mehr‹ als ein empirisch überprüfbares Lernziel ausgewiesen werden.129 Diese Perspektive zeigt, dass Interkulturalität nicht nur ein Phänomen sein kann, das im Studium – in der Fremdsprachen-, der Literaturvermittlung oder in linguistischen Seminaren – thematisiert und untersucht wird, sondern als Methode denkbar ist. Ausgehend von diesem Gedanken entwirft Mühr ein Konzept des

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chim Schlabach und Barbara Stolarczyk (Hg.): Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als Fremdsprache, Jahrgang 15, Nummer 2. S. 143-126. http://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/article/view/159/ 154 [19.09.2018]. Vgl. Ewert, S. 12. Für andere Kultur- und Sprachräume gilt analog: Es gibt Studiengänge der interkulturellen Romanistik (z.B. an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz: www.studium. uni-mainz.de/master-romanistik [31.05.2018]), oder der interkulturellen Anglistik (an der Universität Greifswald: www.uni-greifswald.de/studium/vor-dem-studium/studienangebot/studienfaecher/k/kultur-interkulturalitaet-literatur [31.05.2018]). Vgl. Mühr. Ebd., S. 144.

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interkulturellen Lernens, das er als eine Fähigkeit auffasst, »bestehende Wirklichkeitsvorstellungen und die daran gekoppelten Handlungsmuster in spezifischen Kontexten gezielt abzuwandeln«130 . Interkulturelles Lernen bedeutet nach Mühr, dass Erfahrungswerte umgebaut oder relativiert werden,131 was ein Umlernen bedeutet: »Interkulturelles Lernen als Umlernen ist ein schwieriger Prozess auf unterschiedlichen neuronalen Ebenen.«132 Dieser Prozess verläuft nach Mühr sowohl auf der kognitiven als auch auf der emotionalen Ebene. Dies bedeutet, dass die bislang bekannten und angewandten Deutungsmuster relativiert werden müssen. Die Relativierung erfolgt durch die Wahrnehmung des Anderen, was durchaus Konflikte erzeugen kann. An dieser Stelle tritt die beschriebene interkulturelle Kompetenz zutage, denn sie habe, so Mühr, einen motivationalen Aspekt: »Nur wer bereit ist, sich von der kulturellen Fremde etwas sagen zu lassen, kann etwas verstehen lernen.«133 So bekommt die interkulturelle Kompetenz, auch in der Fremdsprachenvermittlung, eine relativierende Funktion. Mühr berücksichtigt in seinem Konzept des interkulturellen Lernens die emotionale Ebene des Lernprozesses, die auch für die transdifferente Lehre von Bedeutung ist. Den Prozessen der Relativierung persönlicher Erfahrung ordne ich eine besondere Vielschichtigkeit zu. Deswegen räume ich diesen Prozessen viel Platz im Konzept der transdifferenten Lehre ein. Als problematisch sehe ich die von Mühr geforderte Evidenz des Vermittelns und Erlernens vom ›kulturellen Mehr‹. Dieses vage ›kulturelle Mehr‹ kann meines Erachtens nur als Erkenntnis gesehen werden und selbst dann bleibt es diffus und kontingent. Interkulturalität als Kategorie kann in der akademischen Lehre zudem, wie eingangs gesagt, als ein Motivationselement in der Fremdsprachenvermittlung gesehen werden und wird unter diesem Aspekt erforscht. Im Rahmen einer Studie, die Maciej Mackiewicz zu Beginn der 2010er Jahre in den USA und in Polen durchführte,134 wurden Deutsch als Fremdsprache lernende Studierende unter anderem nach ihrer Motivation befragt. Mackiewicz schreibt, sowohl in den USA als auch in Polen enthielten die schulischen und die universitären Curricula für die Fremdsprachenvermittlung Deutsch einen kommunikativen und interkulturellen Ansatz. Dieser ermögliche den Erwerb von soziokulturellen Kompetenzen, wozu auch interkulturelle Kompetenz zählt. Diese Kompetenzen, z.B. Empathie, Ambiguität, die Fähigkeit, einer Situation angemessen sprachlich zu kommunizieren, seien eine Voraussetzung für das interkulturelle Bewusstsein, das als separater Bestandteil 130 Ebd., S. 119. 131 Ebd. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 119f. 134 Mackiewicz, Maciej (2014): Interkulturelle Motivation im Fremdsprachenunterricht. Eine komparative Studie zu Deutsch als Fremdsprache in Polen und in den USA. Frankfurt a.M.

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des deklarativen Wissens gefördert werde.135 In der praktischen Umsetzung, wie Mackiewicz herausfand, variiert die interkulturelle Motivation im Sinne des kulturellen Interesses am Zielsprachenland nach verschiedenen, zum Teil individuellen Faktoren.136 Dazu gehören das persönliche Interesse am Zielsprachenland, z.B. hinsichtlich der späteren Berufschancen, an seiner Kultur, aber auch persönliche Kontakte. Bei Berücksichtigung dieser vielfältigen Faktoren wachse die allgemeine Motivation der Lernenden: […] erst der interkulturell ausgerichtete Fremdsprachenunterricht impliziert eine breite Palette von interkulturellen Lehr- und Lernzielen. Damit können interkulturelle Motive der Lerner [sic!] erst recht geweckt werden und die interkulturelle Orientierung kann sich vielschichtig und gleichmäßig entfalten und neben den Wissensmotiven auch in den Bereichen »Fähigkeiten« und »Einstellungen« stärker Rechnung tragen.137 Dieses Beispiel zeigt, dass das persönliche Potential der Studierenden, zu dem ihre verschiedenartige Motivation gehört, in der akademischen Lehre genutzt werden kann und zu ihrer Effektivität beiträgt. Die Ergebnisse dieser Studie sind insofern für die vorliegende Untersuchung relevant, als dass die Motivation sich auf die autonomen, individuellen Lernstrategien von Studierenden überträgt. Die Autonomie ist wiederum für die transdifferente Lehre von Bedeutung, weil diese nur möglich ist, wenn sich die Beteiligten als Subjekte und nicht nur als Objekte des Geschehens in einem heterogenen Seminar-Raum erfahren können.

135 Vgl. ebd., S. 417. 136 Vgl. ebd. 137 Ebd., S. 419f.

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Subjektive Theorien als methodische Grundlage

Prozesse der Wissensvermittlung und Wissensproduktion, die im heterogenen, akademischen Lehrbetrieb von Studierenden und Lehrenden in geisteswissenschaftlichen Fächern erfahren werden, werden von der vorgestellten Forschung wahrgenommen, jedoch aus der Perspektive der jeweiligen Disziplin betrachtet. Von den vorgestellten Erkenntnissen leite ich den Bedarf nach Konzeptualisierung von interdisziplinären Modellen, die einen didaktischen Umgang mit Heterogenität auf der Grundlage produktiver Nutzung von Differenzen erlauben, ab. Mit dem Modell der transdifferenten Lehre versuche ich diese Lücke zu füllen, indem ich praxeologische Ansätze der Interkulturalität mit theoretischen kulturwissenschaftlichen Ansätzen verbinde, insbesondere mit der Erkenntnistheorie. Für die Konzeptualisierung des Modells transdifferente Lehre greife ich auch auf meine Erfahrung als Lehrende und als Koordinatorin des internationalen Bachelorstudiengangs Interkulturelle Germanistik (IKG) an der Europa-Universität Viadrina zurück. Im Bereich Literaturwissenschaft arbeitete ich in den Jahren 2011 bis 2018 mit kulturell heterogenen Gruppen, die aus deutschen, polnischen, chinesischen, ukrainischen, französischen, kasachischen und koreanischen Studierenden bestanden. Die Studierenden kamen aus unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und hatten so einen unterschiedlichen Stand literaturtheoretischer und literaturwissenschaftlicher Vorkenntnisse. Unter ihnen waren Anfängerinnen und fortgeschrittene Studierende, Frauen, Männer und Intersexuelle, Menschen mit Einschränkungen wie Stottern, Asthma, Asperger-Syndrom. Diese exemplarischen Distinktionen zeugen davon, dass die Komplexität didaktischer Arbeit in heterogenen Gruppen sehr hoch ist. Als Koordinatorin des IKG-Studiengangs, der ein Double-Degree-Programm der Europa-Universität Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań ist, fungierte ich als Vermittlerin zwischen zwei Universitäten, die als Institutionen zweier Bildungssysteme unterschiedliche Verwaltungsapparate und Wissensvermittlungsformen repräsentieren. Die Suche nach Schnittmengen in der akademischen Lehrpraxis der beiden Systeme ergab, dass das zu erarbeitende Modell des didaktischen Umgangs mit Heterogenität flexibel sein muss, um mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen kompatibel zu sein. Meine

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Betrachtung dieser Umstände gleicht einer Feldforschung, wobei das »Feld« in diesem Fall Seminar-Raum und Universitätsbetrieb darstellen. Diese Erfahrungen und die für die Erarbeitung des Modells gewählten theoretischen Ansätze sind durch meine berufliche Situierung als (Auslands-)Germanistin sowie durch mein persönliches Vorwissen über die deutsche und polnische Kultur und Literatur geprägt. So könnte man meine Methode der transdifferenten Lehre als eine Art Subjektive Theorie im Sinne Norbert Groebens und Jörg Schlees betrachten. ›Subjektive Theorien‹ sind nach Jörg Schlee im allgemeinen Sinne Annahmen, die ein Individuum über ›das Andere‹ hat. ›Das Andere‹ könne dabei beispielsweise ein Problem, ein sachliches Objekt, ein Phänomen oder andere Menschen repräsentieren. Bei den subjektiven Theorien handele es sich um komplexe, aber immer individuelle Konstrukte, nach denen eine Person ihr Erleben interpretiert und ihr Handeln ausrichtet. Die Subjektivität beziehe sich, so Schlee, auf Reflexivität, Intentionalität und sprachliche Kommunikationsfähigkeit bis hin zur potentiellen Rationalität. Subjektive Theorien umfassten sowohl individuelle Wissensbestände, kognitive Leistungen als auch Erfahrungen, Emotionen und Anschauungen.1 Nach Kathrin Fussangel beschreiben »Subjektive Theorien […] kognitive Strukturen einer Person, die Einfluss auf ihr Verhalten nehmen«.2 Diese Strukturen geben, so die Autorin, einer Person im alltäglichen Leben Orientierung.3 Individualität im Zusammenhang mit Subjektiven Theorien werde insbesondere im angloamerikanischen Raum betont, wo man von ›beliefs‹ spricht.4 Die Verbindung zwischen Subjektiven Theorien und ›beliefs‹ könne dadurch begründet werden, dass die Subjektiven Theorien den kognitiven Aspekt betonen, dieser aber durch individuelle Erfahrungen veränderbar sei, wie Fussangel bemerkt.5 Dadurch, dass Annahmen, Erfahrungen oder Emotionen vom Individuum kognitiv aufgefasst werden, ergeben sie eine Argumentationsstruktur. Das Individuum kann mit Hilfe von Subjektiven Theorien Situationen definieren, erläutern und prognostizieren, es kann Handlungen entwerfen und Empfehlungen formulieren. Die Subjektiven Theorien sind einerseits eine Kategorie der Erkenntnisproduktion, weil sie Erkenntnisse 1 Schlee, Jörg (1988): Menschenbildannahmen. Vom Verhalten zum Handeln. In: Norbert Groeben, Diethelm Wahl, Jörg Schlee und Brigitte Scheele (Hg.): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen. S. 11-17, hier S. 17. www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2765 [07.10.2018]. 2 Fussangel, Kathrin (2008): Subjektive Theorien von Lehrkräften zur Kooperation. Eine Analyse der Zusammenarbeit von Lehrerinnen und Lehrern in Lerngemeinschaften. Wuppertal. S. 69. http://elpub.bib.uni-wuppertal.de/edocs/dokumente/fbg/paedagogik/diss2008/fussangel/ dg0802.pdf [06.06.2018]. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. ebd., S. 71f. 5 Vgl. ebd., S. 70f.

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beeinflussen. Als Konstruktion werden sie jedoch nicht nur in der beschriebenen individuellen Funktion erforscht, sondern auch auf theoretischer Metaebene im Rahmen einer Untersuchung eines Objektes. Das Zusammenwirken mehrerer, für die Erforschung herangezogener Konzeptionen erlaubt eine individuelle Untersuchung eines Objektes oder eines Problems. Auf dieser Metaebene stellen Subjektive Theorien komplexe Aggregate von Konzepten dar, wie es bei Norbert Groeben heißt, die in ihrer Struktur und Funktion Parallelen zu wissenschaftlichen Theorien aufweisen.6 Durch die Konstruktionen, die durch Anwendung Subjektiver Theorien entstehen, werden Erkenntnisse produziert, die sich durch Offenheit, Kontingenz und Kompatibilität mit anderen Theorien auszeichnen. Doch auch in dieser Konstellation sind Subjektive Theorien von Individualität geprägt. Denn hier werden Probleme von den Forschenden vor dem Hintergrund ihres Wissens, ihrer Annahmen, Erfahrungen und Emotionen – also auch vor dem Hintergrund ihrer eigenen Enkulturation – untersucht. Nach dieser Auffassung berücksichtige ich sowohl theoretische Ansätze als auch die aktuelle Situation im akademischen Lehrbetrieb hinsichtlich seiner Vielfalt, um den daraus resultierenden konzeptuellen und praktischen Bedarf zu erfassen und für meine Untersuchung nutzbar zu machen. Das Konzept der Subjektiven Theorien sieht zwei methodische Vorgehen vor: »Entweder erschließt der Forscher [sic!] die Subjektiven Theorien des Erkenntnis-Objekts aus Beobachtungsdaten oder das Erkenntnis-Objekt berichtet dem Forscher über seine Selbstinterpretation (in Form von subjektiv-theoretischen Vorstellungen und Überzeugungen).«7 In meiner Untersuchung verbinde ich beide Vorgehensmöglichkeiten der Subjektiven Theorien. Zunächst findet die Beobachtung statt, die ich mit den oben aufgeführten erkenntnistheoretischen Konzeptionen interpretiere. Meine Beobachtung speist sich zum Teil aus den Berichten der erkennenden Subjekte (nicht Objekte) – der Studierenden. Schlee schreibt, dass die forschende Person nicht auf die Selbstsicht des handelnden Subjekts zurückgreife, das diese Person ist. Sie leite die Bedeutung (Intentionalität etc.) der Handlung(en) aus der Außensicht als Beobachtende ab.8 Dieses Interpretationsverfahren wird von Schlee ›verstehendes Beschreiben‹ genannt.9 Meine Erkenntnisse leite ich aber nicht nur aus Handlungen (Berichten) 6 Vgl. Groeben, Norbert (1988). Explikation des Konstrukts ›Subjektive Theorie‹. In: Groeben, Norbert/Wahl, Diethelm/Schlee, Jörg/Scheele, Brigitte (Hg.): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. S. 17-24, hier S. 18. www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2765 [07.10.2018]. 7 Schlee, Jörg (1988a): Forschungsstruktur: Dialog-Konsens und Falsifikation. Vom Verhalten zum Handeln. In: Norbert Groeben, Diethelm Wahl, Jörg Schlee und Brigitte Scheele (Hg.): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen. S. 24-30, hier S. 24f. www.ssoar.info/ssoar/handle/document/2765 [07.10.2018]. 8 Ebd. S. 25. 9 Ebd.

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ab, sondern versuche, die Bedeutungen dieser Handlungen (Berichte) anhand ausgewählter Forschungsergebnisse aus einzelnen Disziplinen zu identifizieren. Als Erkenntnis-Subjekt verstehe ich im Kontext meiner Untersuchung eine Seminargruppe, also Studierende und Lehrende sowie ihre individuellen Erfahrungen und Wissen. Sie stellen im Sinne der von Groeben beschriebenen Forschungssituation ein reflexives Subjekt dar.10 Reflexiv deswegen, weil sie selbst für die Beobachtung der eigenen Annahmen, Erfahrungen und Emotionen sensibilisiert werden. Dadurch wenden auch sie selbst Subjektive Theorien als Selbst-Beobachtende an. Meine Herangehensweise weist daher auch Merkmale des zweiten von Groeben genannten Verfahrens, der Befragung des Erkenntnis-Subjekts nach seiner eigenen und Selbstinterpretation, auf. Die ›eigene und Selbstinterpretation‹ bezieht sich sowohl auf die individuelle Wahrnehmung der im Seminar-Raum vermittelten Inhalte11 als auch auf die Realisierung der Prozesse der individuellen Erkenntnisproduktion, die die vermittelten Inhalte ausgelöst haben. Sie setzt bei der Diskussion im Seminar-Raum ein, während des Austausches der Beobachtungen. Die Anwendung der Subjektiven Theorien auf den Seminar-Raum, der in der vorliegenden Arbeit als eine soziale und kulturelle Kategorie aufgefasst wird, sowie auf die zwischen den Mitgliedern des Seminars entstehenden Relationen dient der direkten Beobachtung der Lernprozesse. Die dort erworbene Selbsterkenntnis sowie die Erkenntnisse anderer Beteiligter erweisen sich in diesem Prozess als neues Wissen. Dieses Wissen kann akzeptierbar sein und auf Realitätsrelevanz überprüfbar.12 Die Realitätsrelevanz ist in diesem Fall die Kompatibilität des neuen Wissens mit den Qualitätsanforderungen der wissenschaftlichen Disziplinen im Rahmen der Universität als Institution. Die Herangehensweise Subjektiver Theorien eignet sich für wissenschaftliche Untersuchungen, weil sie nach der engeren Begriffsexplikation Elemente beinhaltet, die Objektivität gewährleisten: »Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, die in einem Dialog aktualisierbar und rekonstruierbar sind.«13 Subjektive Theorien werden hergeleitet, so Jörg Schlee, von einem komplexen theoretischen Aggregat mit Argumentationsstruktur. Das Aggregat erfülle die objektiven (wissenschaftlichen) Theorien, zu welchen parallel die Funktionen der Erklärung, Prognose, Technologie auftreten würden und deren Akzeptierbarkeit als objektive Erkenntnis nachprüfbar sei.14 In Anlehnung an Ludwik Fleck relativiere ich die Objektivität der Erkenntnisse, weil Erkenntnisse – so Fleck – durch Denkkollektive und Denkstile geschaffen werden. Objektivität als Kategorie gilt daher nur innerhalb eines Denkkollektivs. 10 11 12 13 14

Groeben, S. 22. In vorliegenden Fall ist die Arbeit am fiktionalen Text gemeint. Vgl. Schlee, S. 28. Groeben, ebd. Vgl. ebd.

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Die Subjektivität der Subjektiven Theorien äußert sich in der Wahl der Aspekte, die zu einem theoretischen Konstrukt zusammengeführt werden. So gesehen wird auch eine objektive Theorie subjektiv (individuell) für eine Untersuchung zusammengestellt. Nach Wilfred Bion blende die westliche Wissenschaftskultur aus, dass das, was objektiv wahrgenommen wird, immer das zunächst subjektiv Erfasste sei. Die grundsätzliche Ausklammerung des Faktors Subjektivität habe nach Bions Auffassung dazu geführt, dass eine emotionale Bindung an das Objekt im Wissenschaftsbetrieb ein Tabu ist.15 Gerade die Verbindung zwischen Subjektivität und Emotionalität ist mir in der transdifferenten Lehre bei Prozessen der Erkenntnisproduktion wichtig. Im Konzept der transdifferenten Lehre spielt Erfahrung eine mediale Rolle. Bei der individuellen Wahrnehmung eines Objektes relativiert das Wissen aus Erfahrungen anderer Beteiligter das entstehende Wissen und erlaubt, es zu gemeinsam getragenen Erkenntnissen zu verarbeiten. Nicht nur der objektive16 Wissensstand, der Untersuchungsgegenstand, die Annahmen und das Vorwissen der untersuchenden Person, ihre Motivation und Identifikationssysteme, innerhalb derer sie sich bewegt, sind für meine Herangehensweise von Bedeutung. Wie Groeben schreibt, stehen die nach der Methode Subjektiver Theorien erlangten Erkenntnisse vor der Anforderung, aktualisierbar, nachvollziehbar und für Kritik und Verbesserung zugänglich zu sein.17 Subjektive Theorien zeichnen sich durch Offenheit und Flexibilität aus.18 Dies erlaubt, einen komplexen und kontingenten Untersuchungsgegenstand in seiner Mehrdimensionalität und Prozessualität zu erfassen. Nach diesen Prämissen gehe ich bei der Entwicklung des Modells der transdifferenten Lehre vor. Subjektive Theorien werden zur Erklärung von komplexen Sachverhalten gebildet und verwendet. Dies geschieht durch Bildung von Konzepten, die durch implizite, argumentative Strukturen miteinander verbunden sind.19 Diese Art der Konzeptbildung wird auch im Modell der transdifferenten Lehre verwendet. Die Anwendung Subjektiver Theorien als methodische Grundlage meiner Untersuchung steht nicht im Widerspruch zum Gebot der Objektivität20 der Forschung, weil die Theorien, die das Forschungsfeld konstruieren, durch Forschung kontextualisiert werden. Dabei reflektiere ich meinen eigenen kulturellen Kontext 15 16 17 18 19

Bion, Wilfred R. (1990): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a.M. ›Objektiv‹ meint hier: innerhalb eines Denkkollektivs geltend. Vgl. Groeben, S. 23. Vgl. ebd. Vgl. Köppe, Tilmann/Winko, Simone (2013): Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart. S. 1. 20 Das ›Gebot der Objektivität‹ beschreibt u.a. Jakub Żołnierek in Anlehnung an Josef Mitterer in seinem Essay zu Grenzen der kulturellen Imputation in der historischen Forschung. Vgl. Żołnierek Jakub (2014): Granice imputacji kulturowej [Grenzen der kulturellen Imputation]. In: Anna Pałubicka (Hg.): Sensus Historiae, Bd. XV/2014. S. 49-66, hier S. 56f. http://sensushistoriae. epigram.eu/index.php/czasopismo/issue/view/15 [07.07.2018].

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sowie die Situierung in Denkkollektiven, die sich im Rahmen der kulturwissenschaftlich-literaturtheoretischen Diskurse der deutschen Universität bewegen.

Differenz als Kategorie in der akademischen Lehre Der Ausgangspunkt für die Konzeptualisierung und Anwendung von Modellen des Umgangs mit Heterogenität liegt in meiner Betrachtung der Differenz, die Forschungsgegenstand der postkolonialen Studien ist. Diese Perspektive sensibilisiert für die Wahrnehmung von Differenzen an der Universität u.a. im Kontext der akademischen Lehre. Differenz als Kategorie kann nach Homi Bhabha21 in die Lage versetzen, das Andere wahrzunehmen und nicht vorwegzunehmen. Damit werde die Differenz zum Medium des Diskurses, durch den das Andere in der eigenen Reflexion in die »westliche« Welt hineinwirkt. Angesichts der Heterogenität der Seminargruppen kann es zur Hierarchisierung des Wissens kommen, und zwar dadurch, dass das vermittelte Wissen als geltend erklärt wird und das vielfältige Wissen der am Seminar Beteiligten nicht beachtet wird. Deswegen betrachte ich den Ansatz von Bhabha als grundlegend in der transdifferenten Lehre. Diese mediale Funktion der Differenz kann auf die Untersuchung der Universität angewandt werden. Nach Bhabha sei entscheidend, dass Differenz und Andersheit nicht zu Phantasievorstellungen eines kulturellen Raums werden.22 Erst wenn die Wahrnehmung der Differenz projektions- und interpretationsfrei bleibe, könne aus der Differenz ein ›konzeptuelles Potential zur Veränderung und Innovation‹ entwickelt werden.23 Dieses Potential besteht nach Bhabha in Übersetzung und Transformation sowie im Erkennen und Verstehen der Spannungen zwischen der institutionellen Rolle der Theorie und ihrer re-visionären Kraft.24 Dabei soll kein Bezug auf die Horizonte anderer Kulturen genommen werden, die als Ort des Zitierens dienen, sondern mit der Methode einer Über-Setzung ein »neuer Zugang zur Politik der kulturellen Beherrschung und der mit ihr zusammenhängenden Phänomene«25 aufgezeigt und analysiert werden. Davon leite ich eine Analogie zur Universität als einer Institution ab, die Wissen verwaltet und distribuiert. Die Universität kann die Rolle einer über-setzenden Instanz erfüllen, zumal sie besonders infolge der Entwicklung der letzten Dekaden zu einem vom interkulturellen Publikum bevorzugt besuchten Ort geworden ist. In dieser Rolle kann sie ein Medium nicht eines bestimmten Wissens sein, sondern 21 22 23 24

Vgl. Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. Vgl. ebd., S. 47f. Vgl. ebd., S. 48. Ebd., S. 48. Bhabha behandelt die Frage der Differenzwirkung vor dem Hintergrund der kritischen Theorie und beruft sich auf Lacan, Foucault und Fanon. 25 Ebd., S. 49.

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von Wissen, das im Bewusstsein der Bedeutung von Differenzen in verschiedene Richtungen produziert wird, und nicht nur vermittelt. Zu den politisch erklärten Zielen der Institution Universität in Deutschland26 gehört das Leitbild der kulturellen Diversität.27 Allerdings liegt es im Wesen des Phänomens, dass Diversität schwer messbar ist. Auf der anderen Seite formuliert diese Institution messbare Ziele, zu erwerbende Kompetenzen,28 Wissensmengen und Standards, nach denen ein ebenfalls messbares und vergleichbares Ergebnis der universitären Ausbildung zu erreichen ist, unabhängig von der Ausgangssituation der Adressatinnen. Neben dem Gewicht auf das Sichtbare und Messbare wird sogleich die Ambivalenz zwischen Deklaration und Praxis deutlich. Einerseits will die Universität die Rolle als Medium und Über-Setzende von Differenzen, die durch Heterogenität entstehen, erfüllen, denn Vielfalt gehört zu ihren Leitbildern. 26 Vgl. Strategie der Wissenschaftsminister/innen von Bund und Ländern für die Internationalisierung der Hochschulen in Deutschland (Beschluss der 18. Sitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz am 12. April 2013 in Berlin): www.bmbf.de/files/aaaInternationalisierungsstrategie_GWK-Beschluss_12_04_13.pdf. Vgl. auch: Internationalisierungsstrategie des BMBF: www.bmbf.de/de/internationalisierungsstrategie-269.html [17.06.2018] 27 Im Kontext der Vielfalt an den Universitäten wird von Diversität, die im Vergleich zur Heterogenität einen produktiven Umgang mit Differenzen bedeutet, gesprochen: »Viele Hochschulen nutzen die Heterogenität ihrer Studierenden und damit verbundene Herausforderungen für institutionelle Entwicklungsprozesse und passen ihre Lehr- und Lernarrangements an. Als Problem erscheinende Heterogenität wird so zur Diversität – Unterschiede zur Vielfalt. Diversitätsfreundliche Lehr- und Lernsettings verlangen jedoch von den Lehrenden Kompetenzprofile, in die dafür förderliche Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten einfließen.« Vgl. Szczyrba, Birgit/Treeck, Timo van (2015a): Educational Diversity: Anlass und Potenzial für Lehrkompetenzentwicklung. In: Benjamin Klages, Marion Bonillo, Stefan Reinders und Axel Bohmeyer (Hg.): Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen. Opladen. S. 73-84, hier S. 73. www.pedocs.de/volltexte/2015/11433/pdf/Szczyrba_van_Treek_Educationa_Diversity.pdf [03.05.2018]. Ich benutze die Begriffe Heterogenität und Diversität im Kontext der akademischen Lehre als Synonyme. Im institutionellen Kontext kann Diversität die Berücksichtigung und Vertretung verschiedener sozialer, beruflicher oder kultureller Gruppen im Sinne von Quoten bedeuten. 28 Der Kompetenzbegriff wird vielfältig beschrieben. Das im deutschsprachigen Raum verbreitete Kompetenzmodell verbindet den Kompetenzbegriff mit Handlungsfähigkeit und Mündigkeit, es ist ein Zusammenspiel von personalen und situativen Aspekten eines Handlungsprozesses. Kompetenzen als individuelle Dispositionen für das Handeln und Urteilen lassen sich in die drei Teilkompetenzen Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz unterteilen. In weiteren Kompetenzmodellen werden sie um Methodenkompetenz und Handlungskompetenz erweitert. – In diesem Kontext ist auch die interkulturelle Kompetenz relevant. Vgl. Ceylan, Firat/Fiehn, Janina/Paetz, Nadja-Verena/Schworm, Silke/Harteis, Christian (2011): Die Auswirkungen des Bologna-Prozesses – Eine Expertise der Hochschuldidaktik. In: Sigrun Nickel (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis. S. 106-122. www.che.de/downloads/CHE_AP_148_Bologna_Prozess_aus_Sicht_der_Hochschulforschung.pdf [03.05.2018].

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Andererseits soll diese Heterogenität aber in Bahnen gelenkt sein, in denen sie als sogenanntes erworbenes Wissen der Studierenden messbar ist. So schränkt die Universität als Institution Potentiale einer akademischen Lehre ein, die aus den wechselnden Konstellationen von Differenzen neue Erkenntnisse produziert, welche aber nicht immer in ein bekanntes Schema passen. Die Rolle der Dozierenden kann in Anlehnung an Bhabha mit der Rolle der evangelikalen Missionare in Indien zur Zeit des Kolonialismus verglichen werden. Die Missionare bildeten sich ein zu wissen, was Wahrheit ist. Bei ihrer Arbeit wurden sie jedoch mit diversen, oft für sie schwer vorstellbaren Wahrheiten konfrontiert.29 Auch eine lehrende Person glaubt zunächst daran, dass sie wisse, was Wissen ist und dieses Wissen versucht sie an die Studierenden zu tragen. In einem Seminar-Raum befinden sich aber Personen, die diverse Wissens-Teile repräsentieren. Dadurch verliert dieses Lehrenden-Wissen seinen Anspruch auf alleinige Geltung. Das Konzept der kulturellen Differenz nach Bhabha rückt die Kontingenz der Autorität einer Wissensordnung und ihrer Vertreterinnen in den Mittelpunkt. In dem Moment, in dem die Gültigkeit einer Wissensordnung erklärt wird, wird die Differenzierung produziert:30 Der Äußerungsprozeß führt in die performative Gegenwart der kulturellen Identifikation eine Spaltung ein, die zwischen der traditionellen kulturalistischen Forderung nach einem Modell, einer Tradition, einer Gemeinschaft, einem stabilen Bezugssystem und der notwendigen Negation dieser Gewißheit durch die Artikulation neuer kultureller Forderungen, Bedeutungen und Strategien in der politischen Gegenwart als Praxis von Herrschaft und Widerstand verläuft.31 In meinem Kontext handelt es sich weniger um einen Kampf zwischen verschiedenen politischen (Macht-)Lagern oder Narrativen, vielmehr geht es um das Bewusstsein, dass auch Wissenskulturen Modelle sind. Sie müssen nicht negiert werden, aber wenn Differenzen als Potentiale betrachtet werden, dann ist zu überlegen, wie Modelle anderer, die im Seminarraum sitzen, einbezogen werden können. Es geht um die Öffnung der Lehrenden und Lernenden gegenüber Gedanken und Erkenntnissen, die im Kulturraum der Lehrenden nicht als wissenschaftlich oder nicht als relevant betrachtet werden, und letztendlich um die Erweiterung des Systems der Wissensvermittlung. Das, was Bhabha als Indikator für den Kolonialkampf darstellt, also Signifizierung der Gegenwart im Namen einer Tradition, lässt sich auch in Wissenschaftskulturen beobachten. Das, was in einer Wissenschaftskultur als allgemeingültig fungiert, wird in der akademischen Lehre als Kanon und Standard 29 Vgl. Bhabha (2000), S. 51. 30 Vgl. ebd., S. 53. 31 Ebd.

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reproduziert. In der transdifferenten Lehre geht es darum, dass die Universität einen Raum für die Hinterfragung von Kanons und Standards bereitstellt. Sowohl materialistische als auch idealistische Herangehensweisen setzten nach Bhabha voraus, dass der Wert jeder Aktivität in ihrer Fähigkeit zur Produktion einer ›kategorienüberschreitenden, generalisierbaren Einheit‹ besteht, die nicht nur eine Progression oder Evolution von Ideen-in-der-Zeit signifiziert, sondern auch eine kritische Selbstreflexion hinsichtlich der Prämissen oder Determinanten dieser Ideen beinhaltet.32 Wenn diese Prämisse – kritische Hinterfragung und Selbstreflexion – für die Prozesse der Produktion und Distribution von Wissen in Wissenschaftskulturen und -betrieben gilt, dann ist der Weg zur Einbeziehung jedweder Differenz, zur Berücksichtigung jedweden Wissens und zur räumlichen, d.h. relationalen Produktion von Wissen gegeben. In meiner Arbeit gehe ich von der Annahme aus, dass die Universität, die eine bestimmte Wissenschaftskultur repräsentiert, einen Raum für die mediale Wirkung von Differenzen bereitstellen kann. Zu dieser medialen Wirkung führen u.a. die Wahrnehmung von relationalen, nicht dualen Arbeitsweisen sowie ein flexibler Umgang mit Standards und Kanons. So wie sich einst lateinamerikanische oder asiatische Schriftsteller und Intellektuelle um die Vermittlung zwischen elitärer und indigener, traditioneller und zeitgenössischer Kultur bemüht haben,33 wäre eine Erweiterung der Kanons und die Einbeziehung differenter Denkweisen eine Möglichkeit, mit der Heterogenität an der Universität umzugehen. Dieser Ansatz könnte von Lehrenden und Studierenden unterstützt werden, die vielerorts den Wandel, der sich durch die institutionell praktizierte Internationalisierung vollzieht, aktiv nutzen wollen. Das heißt also, die Rahmenbedingungen, die in den letzten Jahrzehnten durch politische Vereinbarungen geschaffen wurden oder sich aus soziokulturellen Veränderungen ergeben, können – auch im Sinne einer Umwandlung der statischen Opposition zwischen dem, was als wissenschaftlich und dem, was als unwissenschaftlich deklariert wird – in einem dynamischen, reziproken Prozess der gemeinsamen Wissensproduktion genutzt werden. Durch die zumindest strukturelle Öffnung der Universität hin zur Diversität, durch den Bologna-Prozess und die Flexibilisierung von Zugangsvoraussetzungen34 wurde eine Vielfalt an der Universität erreicht, auf welcher aufbauend der 32 Vgl. ebd., S. 56. 33 Vgl. Goetsch, Paul (1997): Funktionen der Hybridität. In: Rudolf Böhm, Konrad Groß, Dietrich Jäger und Horst Kruse: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Würzburg. S. 135-145, hier S. 136f. 34 Diese besteht z.B. in der Anerkennung ausländischer Zeugnisse oder einer absolvierten Berufsausbildung anstelle eines Abiturs als Zugangsberechtigung für das Universitätsstudium. Vgl. www.studieren-ohne-abitur.de/web/studienCheck [19.08.2018]. Auch Faktoren wie die Konzeption des lebenslangen Lernens oder das Einbeziehen von externen Expertinnen führen zur Veränderung der Zusammensetzung von Studierenden und Lehrenden. Vgl. www.bildungsxperten.net/wissen [19.08.2018].

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Umgang mit Differenzen zum Problem und zum Diskussionsthema erklärt wurde. Ulrich Teichler konstatiert, es setze sich bereits seit den 1970er Jahren ein diversifiziertes Modell der Hochschule, zumindest in den westeuropäischen Ländern, durch. In diesem Modell gebe es eine Vielfalt von Bildungsmilieus, die den Unterschieden in den Befähigungen, Motiven und Berufsperspektiven der Studierenden entspreche; es sei nicht beabsichtigt, Voraussetzungs- und Perspektivenunterschiede zwischen den Studierenden zu verringern.35 Für die akademische Lehre und für die Lehrenden heißt dies, dass auf die vielfältigen Motive, Befähigungen etc. mit diversifizierten Angeboten36 eingegangen werden sollte. Die Einsicht, Differenzen nicht nur zu thematisieren, sondern produktiv einzubeziehen, ist also vorhanden. Die produktive Nutzung von Differenzen ist meiner Erfahrung nach, dank der günstigen Voraussetzungen, ein Bereich der Lehre, der vielfältige Möglichkeiten bietet und weiterentwickelt werden kann. Eine weitere Kategorie der postkolonialen Studien, die ich für die Analyse der akademischen Lehre im Kontext der Heterogenität nutze, ist die Kategorie des Raumes. Die Universität kann nämlich als ein Raum gesehen werden, der wiederum aus weiteren Räumen, wie z.B. Seminar-Räumen besteht. Während der Lehrveranstaltungen kommen Differenzen zum Vorschein. Abhängig von der durch die lehrende Person angewandten Methode können diese Differenzen in Interaktion treten und neues Wissen, neue Erkenntnis, Erfahrung oder Kompetenzen initiieren. Sobald Differenzen aktiviert werden, verwandelt sich der Seminar-Raum, der, wie Bhabha ihn sehen würde, einem Treppenhaus gleicht. Wie ein Treppenhaus würde er zum Symbol der Verbindung in Interaktion zwischen dem, was sonst in der Unterscheidung voneinander getrennt wäre – oben und unten, schwarz und weiß etc.37 Im Treppenhaus sei ein Übergang möglich: »Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen.«38 Im Treppenhaus finde also permanent ein Übergang statt, er eröffne einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie.39 Der Seminarraum, betrachtet als ein Treppenhaus, in dem Differenzen sichtbar sind, ohne hierarchische Funktion, in dem die Begegnung von Differenzen kontingent ist, bietet eine sowohl intellektuelle als auch emotionale 35 Teichler, Ulrich (2005): Hochschulstrukturen im Umbruch. Eine Bilanz der Reformdynamik seit vier Jahrzehnten. Frankfurt a.M. S. 101. 36 Diversifizierte Angebote sind z.B. Mentoringprogramme, vgl. www.hochschulverband.de/mentoring.html; sowie Programme von Zentren für Schlüsselkompetenzen, Sprachenzentren etc. vgl. u.a. www.europa-uni.de/de/struktur/zsfl/institutionen/index.html [03.05.2018]. 37 Vgl. Bhabha, Homi K. (2012): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien/Berlin. S. 5. 38 Ebd. 39 Ebd.

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Plattform für die Verbindung und Interaktion der Studierenden mit ihrer eigenen Verortung, also ihrer kulturellen Prägung, der Prägung durch das Bildungssystem, Vorwissen, Erfahrungen und Bereitschaft, sich aktiv (oder aber auch nicht) an den Prozessen der Wissensvermittlung und -produktion zu beteiligen. So verstanden ist ein Seminar-Raum ein ›dritter Raum‹, in dem aus dem Mitgebrachtem etwas Neues (Wissen, Erfahrung) entsteht. Bhabha schreibt, dass die Beschreibung des Raumes die Assoziation mit einer Schwelle hervorrufe, mit der Vorstellung, dass es ein Außen und Innen gebe.40 In diesen Kategorien kann auch der Seminar-Raum betrachtet werden. Er ist in der Universität verortet, die ein Innen absteckt. Der Seminar-Raum befindet sich innerhalb der Universität. Die Beteiligten kommen von außen, aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, zu einem bestimmten Zweck. Im Laufe der Zeit bilden sie eine Gemeinschaft, unabhängig von den Differenzen, die sie präsentieren und repräsentieren. Der Seminar-Raum hat also auch die konkretisierende Funktion, Interaktionen, die dort stattfinden, sich entwickeln zu lassen.

Universität als Denkkollektiv nach Ludwik Fleck In der 1935 erstmals erschienenen Abhandlung »Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« widmet Ludwik Fleck viel Raum den Überlegungen, wie Denkkollektive entstehen, wie sie intern und extern agieren.41 Er erklärt die Dynamik der Wissensproduktion, die auch in interkulturell besetzten Gruppen – im Seminar-Raum – entsteht. Fleck beschreibt ein wissenschaftlich produktives Kollektiv als eine Gemeinschaft, bei der es nicht auf das lineare Subsummieren von individuellen Arbeiten (Gedanken) ankomme, sondern bei dem aus dem Input der Einzelnen und dem Austausch ein Gemeinschaftswerk entsteht. Er vergleicht diese Leistung mit der eines Orchesters.42 Ein Denkkollektiv habe, wie Fleck betont, ähnlich wie ein Orchester, bestimmte Spielregeln. Bei den Denkkollektiven seien es Denkstile. Die schöpferische Leistung ereigne sich im Denken und in der Kommunikation. Der Denkstil sei eine »Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. […] Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren.«43 Innerhalb eines Denkkollektivs bestehe ein Interesse an gemeinsamen Merkmalen von Problemen, von Urteilen, die als evident erscheinen, 40 Vgl. ebd., S. 69. 41 Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M. 42 Vgl. ebd., S. 129. 43 Ebd., S. 130.

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aber auch von Methoden, die als Mittel zur Erkenntnis angewandt werden. »[Das Denkkollektiv – A. B.] begleitet eventuell ein technischer oder literarischer Stil des Wissenssystems.«44 ›Technischer Stil‹ meint die Art des Anwendens von Methoden und ›literarischer Stil‹ das Erzählen über Methoden und Ergebnisse. Nicht zu vernachlässigen ist die soziale Komponente eines Denkkollektivs. Die Gemeinschaft bestimme nämlich das, »was nicht anders gedacht werden kann«45 . Das heißt, es besteht nicht nur ein Denkstil innerhalb eines Denkkollektivs, sondern auch, dass sich aus dem Denkzwang Wertung ergibt und diese allen gemeinsam ist. Der Denkstil selbst wandle sich mit der Zeit, er sei als immerwährender Prozess zu betrachten. Wer jedoch der zum gegebenen Zeitpunkt geltenden ›Wahrheit‹46 widerspreche, habe mit Benachteiligungen und sogar Repressalien zu rechnen. Denkstile und Denkkollektive entwickeln sich, so Fleck, indem sie Ideen verfolgen, Untersuchungen anstellen usw. Dadurch, dass ein Individuum mehreren Kollektiven und Stilen zugleich angehöre, diene es als Medium, das Ideen, Urteile, Wissen zwischen verschiedenen Kollektiven transportiert. Ich würde hinzufügen, dass das Individuum Medium von Transdifferenzen ist. Gleichzeitig mehreren Denkkollektiven anzugehören kann zu Konflikten führen, z.B. in Bezug auf die Kategorie der Wahrheit: Man kann nie sagen, derselbe Gedanke sei für A wahr und für B falsch. Gehören A und B demselben Denkkollektive an, dann ist der Gedanke für beide entweder wahr oder falsch. Gehören sie aber verschiedenen Denkkollektiven an, so ist es eben nicht derselbe Gedanke, da er für einen von ihnen unklar sein muß oder von ihm anders verstanden wird.47 Nach Fleck ist Wahrheit eine ›einzige Auflösung‹ eines Problems. Sie sei nur singulär möglich und dann nicht ›relativ‹ oder ›subjektiv‹, sondern ›innerhalb eines Denkstils geltend‹. Die Denkweise eines Kollektivs, auch wenn sie sich langfristig wandelt, sei nicht willkürlich. Sie wird in Tatsachen geäußert, die für jedes Kollektiv unterschiedlich sein können, z.B. gilt für die Geisteswissenschaften anderes als Tatsache als für die Naturwissenschaften. Fleck stellt folgende These auf: »Jede Tatsache muss auf der Linie des geistigen Interesses ihres [Hervorhebung A. B.] Denkkollektivs liegen.«48 Jedes Kollektiv hat eigene Tatsachen. Sie entwickeln ein Eigenleben und sind wie eine unsichtbare Hand für die Kollektive, deren Denken sie determinieren. Das Denken der Kollektive determiniert die Wahrheit – der Kreis schließt sich. Doch jede Tatsache ist als ein Moment im Prozess des Erkennens zu verstehen. Die Tatsache wird aus vorher bestehenden Tatsachen oder Wi44 45 46 47 48

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 132.

Subjektive Theorien als methodische Grundlage

derständen entwickelt und dient selbst der Entwicklung weiterer Tatsachen. Nur sei das nach Fleck keine Öffnung eines Denkkollektivs und seines Denkzwanges für andere Denkstile. Im Gegenteil: Fleck argumentiert, dass die Tatsachen, die ein ›zusammenhängendes Geflecht‹ seien, quasi eine eigene Wirklichkeit bildeten, indem sie sich gegenseitig in Balance halten. Dieses zusammenhängende Geflecht verleiht der ›Tatsachenwelt‹ massive Beharrlichkeit und erweckt das Gefühl fixer Wirklichkeit, selbständiger Existenz der Welt. Je weniger zusammenhängender das System des Wissens, desto magischer ist es, desto weniger stabil und wunderfähiger die Wirklichkeit: immer gemäß dem kollektiven Denkstil.49 Eine Entwicklung ist auf folgendem Weg möglich: »Der Widerstand muß im Denkkollektiv als solcher wirken und jedem Teilnehmer als Denkzwang und weiter als unmittelbar zu erlebende Gestalt vermittelt werden.«50 Das heißt, Argumente, die vom Denkstil eines Denkkollektivs abweichen, führen zur Verdichtung der Argumentation dieses Kollektivs. Fleck schreibt: »Die Tatsache muß im Stil des Denkkollektivs ausgedrückt werden.«51 Deswegen wird eine auf diese Art und Weise produzierte Erkenntnis entsprechend dem Denkstil kommuniziert und begründet. Dies ist ein Punkt, der nicht nur interdisziplinär, sondern auch interkulturell interessant ist. Um ein Anliegen, eine Tatsache, die »eigene« Tatsache zu vermitteln, muss ein Individuum im Stil des Denkkollektivs kommunizieren. Das heißt, es muss diesen Stil ausreichend kennen, um sich in seinem Rahmen bewegen zu können. Dies ist in den heterogenen Seminargruppen nicht gegeben. Deswegen können Lehrende in solchen Gruppen nicht voraussetzen, dass die Studierenden mit dem Stil der Lehrenden vertraut sind. Sie können aber Unsicherheit, die aus der Unkenntnis des Systems herrührt, thematisieren. Sie können im Laufe des Semesters durch intensive gemeinsame Arbeit ein momentanes, weil zeitlich begrenztes, Kollektiv schaffen. Ein Denkkollektiv könne, so Fleck, ganz klein sein. Wenn zwei Menschen miteinander Gedanken austauschen, sei das schon ein momentanes, wenn auch zufälliges Denkkollektiv. Fleck beachtet auch Faktoren wie Stimmung. Er beschreibt ein momentanes Kollektiv folgendermaßen: »Doch auch in ihnen stellt sich eine besondere Stimmung ein, der keiner der Teilnehmer sonst habhaft wird, die aber oft wiederkehrt, wenn die bestimmten Personen zusammenkommen.«52 Nach Fleck sind es erst festere, stabilere Denkkollektive, die sich nicht mehr von Stimmung 49 50 51 52

Ebd., S. 135. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132f. Ebd., S. 135.

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leiten lassen. Sie bestehen über längere Zeit und bilden innerhalb ihres Kreises eine formale Organisation, die sich auf die Ausführung und weniger auf die schöpferische Stimmung konzentriert.53 Die Kreismetapher impliziert eine Markierung – des Kollektivs innerhalb des Kreises, das Fleck als esoterischen Kreis bezeichnet, und des exoterischen Kreises, dem alle angehören, die nicht zum Kollektiv gehören. Fleck entwickelt das Modell der Denkkollektive in Bezug auf Erkenntnisprozesse und Prozesse der Entstehung von Wissen. Wissen entsteht nicht nur infolge von Forschung, sondern auch in der akademischen Lehre, im Seminar-Raum, wenn das Ziel einer Lehrveranstaltung Produktion und nicht Reproduktion des Erkannten ist. Deswegen sehe ich die Kategorie der Denkkollektive als übertragbar auf Prozesse der akademischen, bewusst mit Differenzen arbeitenden Lehre und nutze sie für die Beschreibung der Mechanismen, nach denen Wissen in Seminar-Gruppen entstehen kann. Auch die Interaktionen und Abhängigkeiten zwischen einem stabilen und einem momentanen Denkkollektiv, die Fleck beschreibt, scheinen auf die Interaktionen zwischen dem relativ stabilen Denkkollektiv, das die Universität ist, und dem momentanen des Seminar-Raumes übertragbar zu sein.

Die (non-)duale Betrachtung der akademischen Lehre nach Josef Mitterer Das Konzept der transdifferenten Lehre, das auf Heterogenität eingeht und Differenzen produktiv nutzt, somit komplex ist und nicht mit Oppositionen, sondern mit Relationen arbeitet, könnte Kritik der Beliebigkeit hervorrufen. Die transdifferente Lehre lässt sich jedoch nicht linear beschreiben. Bereits ihre Beschreibung muss mehrschichtig entwickelt werden. Sie bezieht sich gleichzeitig auf mehrere Relationen einzelner Komponenten. Deswegen nutze ich für die Erläuterung die non-duale Argumentationsweise von Josef Mitterer.54 Räumliche, relationale Wahrnehmung von Prozessen, hier exemplarisch im akademischen Lehrbetrieb, führt zur Suche nach einer anderen erkenntnistheoretischen Ausgangsebene als die duale. Dualität ist, wie Josef Mitterer feststellt, ein Charakteristikum vieler Erkenntnistheorien, weil sie von dichotomischen Unterscheidungen zwischen Sprache und Wirklichkeit, Erkenntnis und Erkenntnisobjekt, einem Diesseits und Jenseits des Diskurses ausgehen.55 Nach den Subjektiven Theorien, die die methodische Basis meiner Untersuchung darstellen, bilden die emotionale Erfahrung und das Wissen derer, die am Prozess der akademischen Lehre beteiligt sind, das zu 53 Vgl. ebd. 54 Mitterer, Josef (2011a): Die Flucht aus der Beliebigkeit. Weilerswist. 55 Vgl. ebd., S. 21.

Subjektive Theorien als methodische Grundlage

erforschende Objekt. Erfahrung und Wissen werden im Literaturseminar durch einen literarischen Text mobilisiert. Das Objekt kann nur durch das zugleich reflexive und potentiell relationale Subjekt, das Individuum (Studierende), erforscht werden, da individuelle Erfahrung ohne Reflexion der sie Erfahrenden und ohne die Austauschprozesse nicht eindeutig situiert sind. Im Laufe der Lektüre mobilisieren die Studierenden, wie gesagt, ihr Wissen und ihre Erfahrung. Durch die Diskussion im Seminar-Raum werden Wissen und Erfahrung ausgetauscht. Die Studierenden nehmen sich als Subjekt und Objekt zugleich wahr sowie die Differenzen, die während des Austausches zum Vorschein kommen. In diesem Konstrukt ist eine Trennung zwischen dem Untersuchungs-Objekt und dem Untersuchungs-Subjekt nicht mehr vorhanden. Dadurch, dass die Individuen, Studierende und Dozierende, aus verschiedenen Diskursen kommen, verschiedenen akademischen Herkunftskulturen angehören, sie diese aber im Seminar-Raum durch ein Medium – also durch die Wirkung eines fiktionalen Textes – verlassen, um sich in der Beziehung zum Anderen zu reflektieren, gilt im Seminar-Raum ein Neben- und Miteinander verschiedener Erfahrungen und verschiedener Elemente unterschiedlicher Diskurse. Abhängig vom Kontext erscheinen sie relational zueinander – manchmal stehen sie in Opposition, manchmal erscheinen sie parallel. Dualität entsteht erst dann, wenn das im Seminar-Raum produzierte Wissen mit den Standards vor Ort, an der Universität gemessen wird. Dann bildet dieses produzierte Wissen eine Entität. Die andere Entität sind dann die Standards, die formalen Qualitätsvorgaben der akademischen Lehre. Anstelle einer ›Oppositionierung‹ bietet Josef Mitterer in seiner Theorie der non-dualen Redeweise die ›Relationierung‹ an, die sich sprachlich in der Verwendung von Konjunktionen manifestieren kann: In Frage steht, wie sich Sprache und Welt, Beschreibung und Objekt, Aussage und Gegenstand zueinander verhalten, außer Frage steht, dass ein solcher Unterschied vorausgesetzt werden muss. Die Frage nach dem Wie des Verhältnisses zwischen den Gliedern der Dichotomien kann nur gestellt werden, wenn die Frage nach dem Dass der dichotomischen Verhältnisse nicht gestellt wird.56 Mitterer schreibt, die unterschiedlichen Bestimmungen des Wie-Verhältnisses bildeten einen Basiskonsens der dualistischen Denkweise, was aber durch die nicht hinterfragte Annahme, dass die Dass-Voraussetzung gegeben ist, übersehen werde. Die dualistische Denkweise schließe also, so Mitterer, variative Verhältnisse zwischen den Oppositionen nicht aus. »Die auf die Dass-Voraussetzungen folgenden Bestimmungen des Wie-Verhältnisses sind kontingent. Infolge der 56 Ebd., S. 21f.

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Transdifferente Lehre

Dass-Voraussetzung kann das Wie-Verhältnis beliebig bestimmt werden.«57 Was Mitterer schlussfolgert, ist für die vorliegende Arbeit im Hinblick auf die Frage, wessen Wissen als geltend angenommen wird, von Bedeutung. Es heißt bei ihm: »Der Dualist [sic!] kann die Beliebigkeit der Bestimmung des Wie-Verhältnisses nur ausschalten, indem er aus seiner eigenen Antwort auf die Frage nach dem Wie des Verhältnisses der Glieder der Dichotomien die Antwort macht.«58 Diese Antwort gelte dann als gesetzt, denn in der dualen Denkweise werden aus den Voraus-Setzungen Setzungen gemacht, die dann als Wahrheit gelten sollen. Die Suche nach Wahrheit, die demnach keine Suche, sondern ein Produkt des Machtverhältnisses, der Setzungen, also ein Konstrukt ist, sei ein zentrales Anliegen der dualistischen Philosophie. Dieser Konstruktcharakter werde jedoch in der dualistischen Philosophie nicht kenntlich gemacht.59 Im Kontext der transdifferenten Lehre entsteht das Machtverhältnis, respektive das Geltungsverhältnis, zwischen dem produzierten Wissen und den institutionellen Qualitätsstandards der akademischen Lehre. Durch die non-duale Argumentation können in der transdifferenten Lehre Ausgrenzungen vermieden werden. Insofern eignet sich die non-duale Argumentation, ähnlich wie Subjektive Theorien, sowohl als Methode der Untersuchung als auch als Methode der transdifferenten Lehre. In Bezug auf Geltungsverhältnisse, zu denen auch Wahrheitsorientierung gehört, schlägt Mitterer weiter vor, die Kategorie ›Wahrheit‹ durch andere Begriffe wie ›Nützlichkeit‹ oder ›Viabilität‹ zu ersetzen.60 In der vorliegenden Arbeit werden in Anlehnung daran mit der non-dualen Betrachtungsweise Begrenzung bzw. Ausgrenzung durch Ergänzung abgelöst. Bei einer solchen Betrachtung können die Voraus-Setzungen der Beteiligten berücksichtigt werden. Die Setzung verliert das Attribut der Ausschließlichkeit und wird als eine mögliche Setzung unter vielen anderen möglichen betrachtet. Diese Idee lehnt sich an die von Mitterer kritisierte Annahme an, dass jedes Denken als Tätigkeit eine Richtung hat: Das Denken geht in allen Positionen der Philosophie auf das Objekt des Denkens – was immer als Objekt dienen mag: die Welt, die Wirklichkeit, eine Objektsprache, ein Gegenstand. Unsere Repräsentationen, unsere Beschreibungen der Welt sind auf diese gerichtet. […] Die Suche nach Erkenntnis richtet sich auf das Objekt der Erkenntnis.61 Die Voraus-Setzung einer Richtung des Denkens ordnet sogleich das Denken in lineare und binäre Verhältnisse. Wenn, wie ich in der vorliegenden Arbeit zeigen 57 Ebd., S. 22. 58 Ebd. 59 Vgl. ebd., S. 23. 60 Vgl. ebd. 61 Ebd., S. 24.

Subjektive Theorien als methodische Grundlage

will, die Beschreibung der Welt eine Beschreibung einer durch Denkkollektive geschaffenen Welt ist, kann sie nur auf eine ›Re-Präsentation‹, auf ein Medium, zum Beispiel auf fiktionalen Text, zurückgreifen. In der Betrachtung der Textwirkungen verliert diese Beschreibung dann ihre Linearität und ihre eindeutige Richtung. Zwar verläuft sie vom Ausgang, dem Zweck eines Seminars, zum (Zwischen-)Ziel, aber nur der Ausgang kann definiert werden. Das Ziel, auch wenn es definiert ist (Wissensproduktion, geleitet durch Disziplin oder Diskurs), ist unklar und verändert sich im Laufe der Betrachtung. Um Mitterers Strategie des Ersetzens fortzuführen, sei gesagt: In der transdifferenten Lehre wird statt von Dualität von Heterogenität gesprochen, die Differenzen gehen in Transdifferenzen über und das Eigene wird im Anderen reflektiert. Was vom Anderen zum Eigenen überführt wird, entscheidet ein Subjekt, das zugleich das Untersuchungsobjekt wie das Objekt der Erkenntnis darstellt, selbst. Die Relativität der Wissenschaftskulturen und die in ihrem Rahmen entwickelten Diskurse lassen sich somit anhand des wissenstheoretischen Ansatzes der Denkstile von Ludwik Fleck und des erkenntnistheoretischen Ansatzes der NonDualität von Josef Mitterer belegen.

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Transdifferenz im Kontext des akademischen Lehrbetriebs

Im Konzept der Transdifferenz wird Kultur in der Komplexität von Mehrfachzugehörigkeiten und den damit verbundenen Interaktionen von Differenzen betrachtet. Helmbrecht Breinig schreibt: »Im kulturtheoretischen Kontext (es ist nicht der Einzige, auf den der Begriff anzuwenden ist) bedeutet Transdifferenz die Ko-Präsenz mehrerer kultureller Affiliations- und Differenzpositionen auf der Individual- wie auf der Kollektivebene.«1 Für das transdifferente Verständnis von Kultur ist folglich von Relationen statt von Oppositionen auszugehen, wobei Relationen prozesshaft und nicht als Zustand zu denken sind. Die Begründerinnen des Transdifferenz-Konzepts2 gehen nicht von binären Differenzen aus, sondern von diffusen Differenzkonglomeraten, die untereinander in immer wieder neuen Konstellationen erscheinen: Das Transdifferenzkonzept […] unterscheidet sich […] von Konzepten der Entdifferenzierung im Sinne von kreolisierender Mischung einerseits und Differenzen dekonstruierender Hybridität andererseits durch das gleichzeitige Fortbestehen der (eingeschriebenen) Differenz und von Konzepten eines Dritten jenseits dicho1 Breinig, Helmbrecht (2006): Transkulturalität und Transdifferenz: Indianische Subjektkonstruktionen. In: Michael Göhlich, Hans-Walter Leonhard, Eckart Liebau und Jörg Zirfas (Hg.): Transkulturalität und Pädagogik. Interdisziplinäre Annäherungen an ein kulturwissenschaftliches Konzept und seine pädagogische Relevanz. Weinheim/München. S. 69-82, hier S. 70. 2 Zu den Autorinnen des Konzeptes gehören u.a. Klaus Lösch, Helmbrecht Breinig sowie Teilnehmende des Graduiertenkollegs »Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« (2001-2008) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Vgl. AllolioNäcke, Lars/Kalscheuer, Britta. Transdifferenz: ein »concept in progress«. www.gradnet.de/papers/pomo01.paper/Transdifferenz01.htm [21.09.2018]. Vgl. auch Gmainer-Pranzl, Franz (2013): Rezension zu Christoph Ernst, Walter Sparn, Hedwig Wagner (Hg.): Kulturhermeneutik. In: Bianca Boteva-Richter und Nausikaa Schirilla (Hg.): Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 30/2013. S. 136-137. www.polylog.net/fileadmin/docs/polylog/30_rez_GmainerPranzl_Ernst.pdf [21.09.2018].

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tomer Differenzmarkierungen durch heterotope Offenheit, Transistorik und die Unhintergehbarkeit kognitiver Dissonanz.3 Die Transdifferenzforschung fokussiert das Phänomen der Differenz im Kontext der Identität(en) und Grenzdurchlässigkeit(en), in Verbindung mit Aspekten des Zeitlichen und des Räumlichen. Das Konzept der Transdifferenz bietet interdisziplinäre Ansätze zur Analyse von Diskursen, Literatur oder lebensweltlichen Phänomenen, wie die seit 2002 veröffentlichten Publikationen belegen.4 Für den Ansatz der transdifferenten Lehre betrachte ich die drei genannten Kategorien des Transdifferenz-Konzeptes – ›Identität‹, ›Zeit‹ und ›Raum‹ – als grundlegend. ›Identität‹ wird im Konzept der Transdifferenz als dynamisches Modell (Positionierung durch Handeln) aufgefasst. Nicht die äußere Identitätszuschreibung, also das Positioniert-Werden, ist von Bedeutung, sondern vor allem das innere, fortdauernde Sich-Selbst-Positionieren in verschiedenen Kontexten, in Relationen zu anderen Identitäten.5 Differenzen existieren demnach nicht als konstante Gefüge, sondern »wirken« in verschiedenen Konstellationen auf- und miteinander: Die Anerkennung der Wirkungsmacht von Differenzen, die temporär außer Kraft gesetzt werden und ins Oszillieren gebracht werden können, lässt sich interpretieren als Anerkennung der Vorgängigkeit und Dauerhaftigkeit des PositioniertWerdens von Identitäten, die jedoch in Zweifel gezogen und modifiziert werden können.6 3 Lösch, Klaus (2005): Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 26-52, hier S. 43. 4 Vgl. z.B. Millner, Alexandra/Teller, Katalin (Hg.) (2018): Transdifferenz und Transkulturalität. Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns. Bielefeld. Vgl. auch: Srubar, Ilja (2009): Transdifferenz, Kulturhermeneutik und alltägliches Übersetzen: Die soziologische Perspektive. In: Ilja Srubar: Kultur und Semantik. Wiesbaden. S. 129-153. In Anlehnung auf das Transdifferenzkonzept schreibt Karolina May-Chu über »Poetik der Grenze‹, in der sie den Grenzraum als einen literarisch verarbeiteten Erfahrungsraum betrachtet: »Über die Poetik der Grenze [werden – A.B.] nicht nur verschiedene Möglichkeiten der Zugehörigkeit zu diversen und multiplen Räumen imaginiert, sondern es wird auch Widerstand gegen feste Zuschreibungen und Grenzziehungen geleistet.« – May-Chu, Karolina (2016): Von Grenzlandliteratur zur Poetik der Grenze. Deutsch-polnische Transiträume und die kosmopolitische Imagination. In: Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg (Hg.): Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, Heft 2/2016. Bielefeld. S. 87-101, hier S. 97. 5 Vgl. Breinig, S. 71. 6 Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta (2005): Wege der Transdifferenz. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 15-25, hier S. 19.

Transdifferenz im Kontext des akademischen Lehrbetriebs

Auch in Lernprozessen, in denen Differenzen nicht dauerhaft, sondern temporär und konstellationsabhängig sind, können Identitäten modifiziert werden. Differenzen wirken auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig, z.B. auf der kognitiven, der emotionalen, manchmal sogar auf der physischen Ebene. Wenn die Linearität und die damit verbundene räumliche Binarität von Differenzen nicht mehr als Rahmen gelten, dann wird die Wahrnehmung der Differenzen durch die Studierenden und Dozierenden mehrdimensional und simultan. Britta Kalscheuer beschreibt diese Bewegung wie folgt: Nicht-binär im räumlichen Sinne ist das Transdifferenzkonzept insofern, als Querverbindungen zwischen Entitäten entstehen, bei denen die Inklusions-/Exklusionslogik in ihre Schranken verwiesen wird. Nicht-Linearität im zeitlichen Sinne bezieht sich hingegen darauf, dass […] mit Transdifferenz nicht, wie für die diachrone Betrachtungsweise charakteristisch, eine Sequenz von klar unterscheidbaren kulturellen Ordnungen und Identitäten suggeriert wird, sondern statt dessen wird die Möglichkeit einer Koexistenz verschiedener kultureller Ordnungen und Identitäten eingeräumt, die konfligierende Zuordnungsansprüche mit sich bringen.7 Die von Kalscheuer beschriebenen Prozesse und Wahrnehmungsweisen von Differenzen erscheinen zunächst komplex. Die duale Betrachtung von Dingen ist im Fall von Differenzen besonders ausgeprägt, die Begriffe Differenz und Opposition werden häufig in der Gesellschaft sogar als Synonyme gesehen. In der Praxis bedarf es einiger Übung, Differenzen nicht als Oppositionen zu sehen. Eine solche Übung kann man theoretisch angehen, indem kulturelle Ordnungen identifiziert und beschrieben werden. Dadurch wird den Studierenden und Dozierenden sowohl ihre eigene kulturelle Situierung bewusst als auch die Tatsache, dass kulturelle Ordnungen als Konstruktionen aufgefasst werden können. Die komplexe Betrachtungsweise von Kalscheuer kann mithilfe der von Mitterer vorgeschlagenen Methode des Ersetzens erklärt werden. Statt des Konnektorenpaares »entweder–oder« wird die Konjunktion »sowohl als auch« benutzt. So gesehen kann die relationale Betrachtung von Differenzen, wie Kalscheuer sie vorschlägt, gleichzeitig eine Arbeitsmethode der transdifferenten Lehre sein. Klaus Lösch hingegen postuliert in seinem Transdifferenzkonzept in Bezug auf die Binarität des Raumes (innen vs. außen, markiert bzw. durch Grenze konstruiert) keine Dekonstruktion der Differenzen und Grenzen. Sie werden als beweglich, durchlässig, sich verwischend betrachtet. Er beschreibt die Grenze als raum-schaffend für den interkulturellen Dialog, in dem die Selbst- und Fremdbilder aufeinandertreffen: »Kulturelle Grenzen 7 Kalscheuer, Britta (2005): Die raum-zeitliche Ordnung des Transdifferenten. In: Lars AllolioNäcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 68-85, hier S. 72.

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Transdifferente Lehre

können als Demarkationslinien, als unüberbrückbare Gräben, als Kontaktzonen, als Zwischenräume, als Passagen oder als Schwelle zum Fremden konzeptualisiert werden.«8 Die Betrachtung von Grenzen als Kontaktzonen, Zwischenräume und Passagen ist für die Vermittlungsprozesse an Hochschulen besonders interessant, wird der Seminar-Raum als Aushandlungsraum gesehen. In ihm bildet sich, wenn auch für eine kurze Zeit eines Semesters, ein momentanes Denkkollektiv, in dem sich kulturell verschiedene Denk-, Betrachtungs- und Herangehensweisen bei der Analyse eines bestimmten, wissenschaftlichen Problems zueinander positionieren. In diesem Raum treffen unterschiedliche Bilder und Verständnisse von dem, was Wissen und Kanon sind, aufeinander. In diesem Raum kommt es auch zu der von Lösch beschriebenen Situation: In den genannten Zonen der Unbestimmtheit geraten die Begriffe des Eigenen und des Fremden beziehungsweise des Selbst und des Anderen in ein Wechselfeld von gegensätzlichen Zuordnungsansprüchen und verlieren damit ihre Trennschärfe, das heißt, es entfaltet sich Transdifferenz.9 Auf diese Weise öffnet sich ein Zeit-Raum für Interaktionen, Überlappungen, neue Konstellationen, aber auch für Konflikte. Die Denkgewohnheit, die für einzelne Seminar-Teilnehmende in ihren Lebenswelten selbstverständlich war, trifft auf andere Denkgewohnheiten und wird entweder infrage gestellt oder relativiert, oder aber auch abgelehnt. Zunächst werden die eigenen Vorstellungen identifiziert, hinterfragt, dann im Verlauf der Diskussion und der Arbeit an einem Gegenstand (an einem Text, einem Motiv, einer Gattung etc.) destabilisiert oder gefestigt. In diesem Raum kommt es zur Beobachtung, Verunsicherung und Gestaltung neuer Standpunkte. Eine wichtige Rolle spielt in dem Geschehen der produktive Charakter des Zweifelns, des Nicht-Verstehens und des Miss-Verstehens. Die Potentiale, die sich dabei entfalten, könnten als »unwissenschaftlich« oder »nicht ernsthaft« angesehen werden, sie wirken aber produktiv. Meine Lehrerfahrung aus den Lektürekursen, die ich vom Wintersemester 2016/17 bis zum Sommersemester 2018 leitete, zeigt, dass ein scheinbar vom geplanten Thema abschweifendes Gespräch, in dem vor allem eigene Beobachtungen und Erfahrungen der Studierenden untereinander ausgetauscht wurden, sich in der späteren Reflexion in Bezug auf den jeweiligen Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung positiv auswirkte. Ein ungezwungenes Gespräch schafft auch Vertrauen unter den Mitgliedern der Seminargruppe. Sie überwinden oft erst in einem solchen Gespräch ihre Sprach- und Sprechhemmungen, haben weniger Bedenken, möglicherweise »unwissenschaftlich« zu sprechen. In transdifferent 8 Lösch, S. 33. 9 Lösch, S. 34.

Transdifferenz im Kontext des akademischen Lehrbetriebs

konzipierten Seminaren sind also nicht nur bewegliche Konstruktionen von Differenzen wünschenswert, sondern auch die Verwischung der strikten Trennung zwischen dem sogenannten Wissenschaftlichen und Unwissenschaftlichen sowie den Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaft, die diese ausüben.

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Die öffentliche Universität in Deutschland ist eine Institution des staatlichen Bildungssystems und realisiert die damit verbundenen Aufgaben und Verpflichtungen. Sie bildet die Identifikationssysteme des Staates ab1 und trägt zu deren Fortdauer bei, indem sie Studierende und Forschende durch und für bestimmte Standards ausbildet. Die Pflichten einer Universität als Institution bestehen vor allem in der Schaffung von ideellen und materiellen Bedingungen, unter denen Forschung und Lehre geleistet werden können. Forschung und Lehre an Hochschulen sind Teil einer komplexen Organisation, zu der nicht nur die Lehrenden und die Studierenden gehören, sondern auch inhaltliche disziplinäre Rahmenbedingungen und Standards2 , zu denen die Hochschulen verpflichtet sind. Eine stabile Säule ist der Verwaltungsapparat, der organisatorische und rechtliche Bedingungen vorgibt, durch welche die Universität überhaupt funktionsfähig ist. Um Forschung und Lehre zu gewährleisten, arbeitet im Hintergrund des Hörsaals und des Seminarraums ein Stab von Spezialistinnen, deren Arbeit nicht primär sichtbar ist, doch einen erheblichen Einfluss auf Forschung und Lehre hat. Der Verwaltungsapparat überwacht die Einhaltung von Regelwerken, die die Arbeit des komplexen Gebildes Universität möglich machen, sie aber auch ideell situieren. Diese Situierung äußert sich, allgemein gesagt, in der Etablierung eines Raumes, in dem Forschung und Lehre sich zu bewegen haben, um von weiteren Institutionen3 anerkannt zu werden. 1 Vgl. Vatter, Christoph (2017): Interkulturelle Kompetenz in deutsch-französischen Studiengängen. In: Gundula G. Hiller und Stefanie Vogler-Lipp (Hg.): Schlüsselqualifikationen interkulturelle Kompetenz an Hochschulen. Grundlagen, Konzepte, Methoden. Wiesbaden. S. 51-66, hier S. 57. 2 Z. B. Akkreditierungsverfahren. 3 Z. B. von den Arbeitgeberinnen auf dem Arbeitsmarkt, für die Zeugnisse normierte Nachweise der Kompetenzen, des Wissens etc. darstellen.

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Universität als Institution im Sinne von Mary Douglas Mary Douglas analysiert in Anlehnung u.a. an Émile Durkheim und Ludwik Fleck das Wesen der ›Institution‹. Die kürzeste Definition der Institution ist nach Douglas die ›Konvention‹.4 Eine Konvention entstehe dann, wenn alle Beteiligten einen Vorteil darin sehen, eine Regel für eine Koordination von Interessen einzuführen, um Konflikte zu vermeiden.5 In der Konvention als selbstregulierendem Mechanismus sieht Douglas die Anfänge der Institution. Doch eine Konvention kann leicht übergangen werden, wenn das Interesse einer Partei an deren Überschreitung größer ist als das Interesse an der Einhaltung. Es bedarf also starker regulativer Mechanismen, damit eine soziale Gruppe, z.B. ein Denkkollektiv, die innerhalb der Gruppe existierenden Konflikte im kollektiven Interesse lösen, bzw. ihr Aufkommen verhindern kann. Douglas betont, dass die in den sozialen Gruppen organisierten Individuen ihre individuellen Interessen nicht freiwillig aufgeben würden, um das kollektive Wohl zu sichern, eher sei das umgekehrt: Wenn das kollektive Wohl dem individuellen Wohl dient, dann sei ein Individuum bereit, das kollektive Interesse zu achten.6 Soziale Gruppen, wie z.B. Denkkollektive, werden demnach durch die von ihren Vertreterinnen eingeführten und eingeforderten Regeln zusammengehalten. Damit werden Konventionen zu Institutionen mit Legitimitätsanspruch.7 Es gebe identifizierbare Regelwerke, von denen die Mitglieder einer Gruppe wissen, warum und von wem sie eingeführt wurden. Ebenso gebe es aber auch in jeder Gruppe Regelwerke, deren Genese schwer zurückzuverfolgen ist und die nicht hinterfragt werden. Die Mitglieder einer Gruppe können zwar bei solchen Regeln, wie etwas gemacht wird, diese Regeln erklären, so Douglas, jedoch auf die Frage, warum etwas so und nicht anders gemacht wird, gebe es keine eindeutige Antwort.8 Ludwik Flecks Konzept beschreibt diese Art von Regeln als Denkstil, der das kollektive Verhalten und das individuelle Denken reguliert. Er wird jedoch nur selten als regulierender Faktor des kollektiven Lebens, Forschens, Lehrens etc. wahrgenommen. Institution als Phänomen ist also ein kollektives Unternehmen und die Universität als Institution ist ein Unternehmen, das Wissenschaft organisiert und reguliert. Die Wissenschaft ist nach Douglas ebenfalls ein kollektives Unternehmen.9 Die Institution Universität ist bedacht auf die Wahrung dessen, was sie und die Wissenschaftskultur, in der sie existiert, als wissenschaftlich erklären. Mit anderen 4 5 6 7 8 9

Vgl. Douglas, Mary (1991): Wie Institutionen denken. Frankfurt a.M. S. 80. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 115.

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

Worten: Die von der Universität vertretenen wissenschaftlichen Kulturen gelten als Regulativ, besonders für die Lehre. Josef Mitterer schreibt: Wir brauchen ein Diskursregulativ […], damit unsere Erkenntnisanstrengungen nicht das vorgegebene Ziel verfehlen, damit die Diskurse nicht chaotisch, unbestimmt und richtungslos verlaufen, damit die Diskurse geordnet werden und damit nicht jeder alles gleichermaßen behaupten kann.10 Diese Feststellung bezieht sich bei Mitterer auf die Wahrheit als dualistisches Regulativ, wie sie in der Philosophie behandelt wird: Etwas sei entweder wahr oder nicht wahr. Das Gleiche gilt aber auch für den Denkstil, den eine Universität repräsentiert. Chaos und Richtungslosigkeit sollen durch die wissenschaftlichen Standards, die ein Ausdruck des Denkstils sind, verhindert werden. Ein Beispiel für einen Denkstil wäre in einer Wissenschaftskultur ein WissensKanon. Ein Kanon entsteht kollektiv, wird aber von Institutionen wie Universität oder einer Behörde als geltend erklärt, z.B. über Rahmenprogramme für Schulen. Arne Manzeschke11 schreibt, dass der Prozess der Kanonisierung eine Anerkennung einer Erkenntnis biete, die überliefert, etabliert und damit unwiderruflich ist. Dabei werde jedoch nicht mehr beachtet, dass die Kanonisierung sowohl eine Interpretation als auch ein Neu-Verfassen eines Textes ist. Eine kritische Betrachtung des Kanons könne, so Manzeschke, zur Initiierung von Akten der Deund Rekanonisierung führen. Als kulturell oder institutionell Gegebenes initiiere der Kanon also vielfältige Praktiken und Lesarten. Dabei lasse sich, so Manzeschke, ein komplexes Feld aus Bewegungen und Gegenbewegungen beobachten, die in den jeweiligen Konstellationen verschiedener Parameter den Kanon als Ereignis konstituieren.12 Ereignisse sind kontingent und diese Sicht auf den Kanon – als kontingente Erscheinung oder Ereignis – führt zu einer Perspektive, aus der Regularien als zeitlich begrenzt betrachtet werden. Das ist ein Argument für die Betrachtung einer Institution mit ihren Regelwerken in Relation zu dem, was sie regulieren oder zu regulieren versuchen. Es heißt bei Douglas, dass Institutionen nicht denken könnten. Das institutionelle Denken resultiere daraus, dass die individuellen Ideen in eine gemeinsame Form gebracht werden.13 Doch gibt es eine Art institutionellen Denkens, mit dem sich die Individuen innerhalb des Denkkollektivs identifizieren. Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Rolle der zeitgenössischen deutschen Universität als Institution der Wissensvermittlung. Das Regelwerk ei10 Mitterer, Josef (2011a): Die Flucht aus der Beliebigkeit. Weilerswist. S. 63. 11 Manzeschke, Arne (2005): Kanon, Macht, Transdifferenz. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 86-103, hier S. 95. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Douglas, S. 149.

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ner Universität organisiert die Kollektive innerhalb der Universität, die grob in Forschung, Lehre und Verwaltung eingeteilt werden können. Diese drei Kollektive können auch als Institutionen in der Universität angesehen werden, weil auch sie ihre Regularien haben, die die Individuen – Forschende, Studierende, Lehrende, Mitarbeitende der Verwaltung etc. – einzuhalten haben und nach denen sie ihre Arbeit ausrichten. Die Universität ist jedoch eine besondere Institution, weil sie innerhalb ihres Regelwerks einen Raum schafft, in dem sich neue, innovative, sogar dem Denkstil widersprechende Ideen entwickeln. Nach Jacques Derrida ist die Universität sogar dazu verpflichtet, Gedanken und Verhalten, die nicht regelkonform sind, zu entwickeln und zu unterstützen.14 Derrida postuliert die ›unbedingte Universität‹, ein Ideal, das den Charakter der (realen) Universität als besondere Art der Institution wiedergibt. Die unbedingte Universität biete nämlich einen Raum, in dem das Recht gelte, alles öffentlich zu sagen und zu veröffentlichen.15 Die implizierte Unterscheidung zwischen dem »Sagen« und dem »Veröffentlichen« beschreibt meiner Meinung nach die regulierende und sich aber den Diskursen gleichzeitig öffnende Rolle der Institution Universität. »Sagen« kann man an der Universität vielleicht nicht alles, aber vieles. Das garantiert die Freiheit der Lehre. So bietet die Universität einen Raum, in dem Regeln außer Kraft gesetzt werden können. Aber nicht alles, was »gesagt« wird, wird auch »veröffentlicht«, denn die Universität reguliert zugleich, also bewacht die Einhaltung von Regeln. Die bei Derrida postulierte vollkommene Freiheit ist nur innerhalb des geschützten Raumes der Universität möglich. Sobald die Ergebnisse einer im Sinne dieser Freiheit geleisteten Arbeit die Grenze dieses geschützten Raumes übertreten, die ich als eine Schranke der geltenden Regeln sehe, müssen sie entweder an diese Regeln angepasst werden oder werden nicht veröffentlicht. Diese Schranke kann z.B. durch die Kriterien der Wissenschaftlichkeit definiert sein. Die Position der ›realen Universität‹ zwischen der ›Universität als Institution‹ im Verständnis von Douglas und der ›unbedingten Universität‹ als Bühne der Freiheit nach Derrida kann nur als Raum betrachtet werden. Die reale Universität ist in dieser Betrachtung ein Raum, in dem sowohl die Regeln als auch die Freiheit, die Regeln auszusetzen, wirken. Diese Entitäten, Regeln und Freiheit, positionieren sich in den einzelnen Prozessen von Forschung und Lehre und diese Positionierung, die eine permanente Bewegung darstellt, macht die Universität zu einem ›transdifferenten Raum‹. Die Grenze der Regulierung kann nämlich verschoben werden und diese Verschiebung liegt in der Macht der Akteurinnen der Denkkollektive. Die Universität als Institution ist Garantin der Durchsetzung der Interessen von Denkkollektiven, die für eine Entwicklung der Universität, die ihnen den Freiheitsraum gewährleistet, sorgen. 14 Vgl. Derrida, Jacques (2001): Die unbedingte Universität. Frankfurt a.M. S. 14. 15 Vgl. ebd.

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

Zu den regulierenden Aufgaben der Universität als Institution gehört vor allem die Überwachung der Qualität der Forschung und Lehre.16 Die Qualitätskriterien stellen ein Resultat der Situierung der Universität im Netzwerk staatlicher17 und internationaler Regelwerke, wie z.B. Abkommen, dar.18 Ein Beispiel auf Ebene der Lehre sind Modulhandbücher. Darin werden Indikatoren zusammengestellt und Ziele beschrieben, die als Qualitätsattribute der Lehre gelten. Zu den Indikatoren gehören u.a. die Internationalität, die Interdisziplinarität, die Modularisierung von Studienprogrammen, ihre Beschreibung in Form von Curricula, der Forschungsbezug zur Lehre, die studienzentrierte Beratung oder die Lehrqualität durch Anwendung von modernen Technologien sowie durch die Umsetzung von Gleichstellungsstandards.19 Die Erfüllung dieser Kriterien wird durch empirische Verfahren gemessen, wie Evaluationen, Berichterstattung zu internationalen Partnerschaften, Weiterbildungsangeboten etc. Diese Form der Qualitätssicherung ist eine der zentralen institutionellen Aufgaben der Universität als Institution. Durch das Qualitätsmanagement schafft die Institution ein Instrumentarium, auf dem sie ihre Legitimität nach Douglas begründet. Die Qualität der Lehre und Forschung wird durch Diskurse geprägt, die regulieren, was an der Universität unter ›Wissen‹ in den jeweiligen Wissenschaftsdisziplinen verstanden wird und was als ›wissenschaftlich‹ zu gelten hat. Das, was als Wissen beschrieben wird, ist kulturell bedingt und wird infolge von identifizierbaren Mechanismen in die (wissenschaftlichen) Diskurse aufgenommen.20 Die Universität als Institution im Sinne von Douglas repräsentiert den Mainstream. Als eine ›unbedingte Universität‹ im Sinne von Derrida eröffnet sie einen Raum, in dem selbst das Kriterium der Wissenschaftlichkeit hinterfragt wird. Diese Konstellation von Funktionen und Aufgaben der Universität ist ambivalent, doch ohne jegliche Hinterfragung kann weder neues Wissen produziert werden, noch verändert sich der Mainstream. Nicht jedes neue Wissen kommt über die Grenze 16 Vgl. als Beispiel: Qualitätsmanagementhandbuch der Europa-Universität Viadrina: www. europa-uni.de/de/struktur/unileitung/stabsstellen/qm/dokumente/EUV_Qualitaetsmanage ment_Druckversion_V8_0.pdf [15.07.2018], insbesondere S. 8f. 17 Vgl. Qualifikationsrahmen der Hochschulrektorenkonferenz: www.hrk.de/themen/studium/ qualifikationsrahmen [15.07.2018] und www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/ 02-03-Studium/02-03-02-Qualifikationsrahmen/2017_Qualifikationsrahmen_HQR.pdf [15.07.2018]. 18 Vgl. European Standards and Guidelines for Quality Assurance (ESG) des European Network for Quality Assurance in Higher Education (ENQA): www.enqa.eu/fi %20les/ESG_3editi on %20(2).pdf [15.07.2018]. 19 Vgl. Qualitätsmanagement-Handbuch der Europa-Universität Viadrina. A.a.O. 20 Vergleiche dazu die Arbeit von Birgit Neumann über die Wege der Aufnahme von Wissen in das sog. kulturelle Wissen: Neumann, Birgit (2006): Kulturelles Wissen und Literatur. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier. S. 29-52.

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der Institution hinaus und erreicht außerinstitutionelle Diskurse. Daran kann man erkennen, dass die Ambivalenz zwischen den Entitäten Regelwerk und Freiraum auch eine relationale ist und sich abhängig vom Wirken der Akteurinnen im Raum der Universität verschieben kann. Für den Umgang mit Heterogenität in der Lehre gilt, die Ambivalenz zu erkennen und zu versuchen, sich zwischen den Entitäten produktiv zu bewegen. Nur so kann die Universität ein transdifferenter Raum sein, in dem sich Differenzen entfalten können.

Akademische Lehre im Kontext der Bologna-Reform An die Bologna-Reform, die 1998 mit der gemeinsamen Erklärung der Staaten Italien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland zur »Harmonisierung der Architektur des europäischen Hochschulsystems«21 eingeleitet wurde, wurde u.a. die Erwartung geknüpft, dass die europäischen Hochschulen an weltweiter Attraktivität gewinnen und näher aneinanderrücken, um die innereuropäische Mobilität in Studium und Beruf zu erleichtern.22 Dadurch sollte das Studium an Qualität, Relevanz und Effektivität erworbenen Wissens sowie der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Studierenden gewinnen.23 Die zeitgenössische Universität als Institution repräsentiert, wahrt und organisiert die dominierende Wissenschaftskultur eines Staates. Durch die Europäisierung des Hochschulwesens wird diese Funktion auf die internationalen Qualitätsstandards ausgeweitet. Der Bologna-Prozess löste indirekt einen Wandel der Wahrnehmung von eigenen, zum Teil – gerade in den Geisteswissenschaften – »nationalkulturell« bedingten Standards und Kanons in der Wissensproduktion und Wissensvermittlung aus. Diese Wahrnehmung illustrieren die Debatten um die Ausrichtung der sogenannten Nationalphilologien, die im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess, aber auch mit den Cultural Turns geführt wurden und werden. In Bezug auf die akademische Wissensvermittlung geht es dabei nicht nur um Inhalte, Methoden und Standards, sondern auch um die Motivation der Studierenden. Auch die Art und Weise der Motivation ist, wie Maciej Mackiewicz belegt, zum großen Teil auf die schulische Sozialisierung und Enkulturation zurückzuführen.24 Infolge der Internationalisierungsprozesse musste sich die Universität als Repräsentantin einer Wissenschaftskultur inhaltlich und didaktisch für andere Arbeitsmethoden öffnen oder sie zumindest wahrnehmen. Dazu hat die Reform der 21 Teichler, Ulrich (2005): Hochschulstrukturen im Umbruch. Eine Bilanz der Reformdynamik seit vier Jahrzehnten. Frankfurt a.M., S. 312. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. Mackiewicz, Maciej (2014): Interkulturelle Motivation im Fremdsprachenunterricht. Eine komparative Studie zu Deutsch als Fremdsprache in Polen und in den USA. Frankfurt a.M. S. 255.

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

Organisation der Lehre geführt, die gleichermaßen für alle am Bologna-Prozess teilnehmenden Universitäten verbindlich ist. Eine der Leitideen dieser Öffnung und der Schaffung eines Qualitätsrahmens, der für alle Universitäten des BolognaProzesses25 gelten soll, war ursprünglich die Vergleichbarkeit des Wissens und der Kompetenzen, die an einzelnen Universitäten erworben werden, um Studierenden und Lehrenden mehr Mobilität zu ermöglichen. Zugleich nahm mit der Mobilität die wachsende Heterogenität bezüglich Sprachen, Vorwissen und Erwartungen der Studierenden-Gruppen im Seminarraum zu. Ein übergeordnetes Ziel bei der Leitidee der Vergleichbarkeit von Wissen bleibt jedoch, dass die Ergebnisse den disziplinären Qualitätsstandards vor Ort angepasst werden, was zu Ambivalenzen in den Lehrveranstaltungen führt und sich meistens als problematisch erweist, weil nicht alle Studierenden demselben Kulturkreis angehören. Die Einführung eines gemeinsamen Qualitätsmanagements vermochte bisher nicht, den Anspruch der Vergleichbarkeit zu erfüllen. Studiengänge wurden in ihrem Verlauf zwar in Bachelor- und Master-Niveaus geteilt, die Curricula in kürzere zeitliche Rahmen komprimiert und das ECTS, das Transcript of Records und das Diploma Supplement eingeführt. Die Veränderungen in der didaktischen und inhaltlichen Gestaltung der Lehre vor dem Hintergrund der zunehmenden Heterogenität der Akteurinnen vollziehen sich langsamer als der organisatorische Wandel.26 Die Verhaftung in der am bestehenden, in der jeweiligen Wissenschaftskultur verorteten Konzept der Universität27 wird oftmals aufrechterhalten. So gibt es nach

25 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (ohne Jahresangabe): Der Bologna-Prozess – die Europäische Studienreform. www.bmbf.de/de/der-bologna-prozess-die-euro paeische-studienreform-1038.html www.bmbf.de/de/der-bologna-prozess-die-europae ische-studienreform-1038.html [01.10.2018]. 26 Die 2010 durchgeführte Delphi-Studie zu den Effekten der Bologna-Reform ergab unter anderen, dass anstelle einer Modifizierung der Veranstaltungen eine bloße Umbenennung von Lehrveranstaltungen erfolgt sei, was als größter Fehler der Modularisierung gesehen wird. Vgl. Ceylan, Firat/Fiehn, Janina/Paetz, Nadja-Verena/Schworm, Silke/Harteis, Christian (2011): Die Auswirkungen des Bologna-Prozesses – Eine Expertise der Hochschuldidaktik. In: Sigrun Nickel (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis. S. 106-122, hier S. 114. www.che.de/downloads/CHE_AP_148_Bologna_Prozess_aus_Sicht_der_Hochschulforschung.pdf [01.10.2018]. 27 Vgl. dazu den Erfahrungsbericht über den deutsch-französischen Masterstudiengang »Diskurse und Praktiken der Kulturvermittlung«: Gemeaux, Christiane de/Baric, Daniel (2016): Schlaglichter auf den binationalen Masterstudiengang – »Diskurse und Praktiken der Kulturvermittlung« an der Université François-Rabelais Tours und der Ruhr-Universität Bochum. In: Antonina Balfanz und Bożena Chołuj (Hg.): Interkulturalität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen. Frankfurt (Oder)/Słubice. S. 171-188, hier S. 178. https://opac.europa-uni.de/00/ bvnr/BV044351904 [20.02.2018].

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wie vor Universitäten, die die Lehre verschult gestalten und in immer wiederkehrendem Jahres- bzw. Semesterzyklus dieselben Kurse anbieten. Ebenso gibt es Universitäten, die ihr Angebot jedes Semester neu erarbeiten und für die Studierenden ein individuelles Portfolio aus Disziplinen und Schwerpunkten zusammenstellen.28 Also zeichnen sich die ersten Veränderungen im Bereich der akademischen Lehre schrittweise ab. Die zwischen 2009 und 2010 von Forschenden der Universität Regensburg und Paderborn durchgeführte Delphi-Studie verweist z.B. auf eine positive Wirkung der Bologna-Reform. Im Rahmen der Studie wurden 31 Hochschulexpertinnen in Deutschland und in der Schweiz befragt. Sie sollten die Auswirkungen der Reform auf die Lehre, die Prüfungen und die akademische Selbstverwaltung einschätzen.29 In Bezug auf die akademische Lehre ergab die Befragung Folgendes: Der Stellenwert der Lehre habe sich infolge des Bologna-Prozesses verbessert, was auf die Neukonzeptionierung gängiger Lehrpraxis zurückzuführen sei und eine erhöhte Beschäftigung mit Didaktik seitens der Hochschullehrenden zur Folge habe. Infolge der Neugestaltung der Lehre werde vermehrt nach den zu erreichenden Kompetenzen gefragt. Kritisiert wurde jedoch, dass im vorhandenen Lehrkörper der Hochschulen kaum Vorstellungen existieren würden, wie kompetenzorientierte Lehre und Prüfung zu realisieren seien. In der Umsetzung der Reformen im Bereich der Lehre wurden die genannten Mängel aufgezeigt. Weitere Mängel werden wie folgt benannt: Der grundsätzliche Reformansatz der Schaffung gestufter Abschlüsse, der Modularisierung von Studiengängen, der Durchführung studienbegleitender Prüfungen und Einführung von Leistungspunkten, verbunden mit einer kompetenzorientierten Ausrichtung von Studiengängen wird mehrheitlich von den befragten Expert(inn)en begrüßt. Die konkrete Umsetzung dieser Vorgaben an deutschen Hochschulen wird jedoch überaus kritisch gesehen. Vornehmlich als Struktur- und Organisationsreformen topdown durchgeführt, entsprächen die Reformen in ihrer Umsetzung nicht den eigentlichen Intentionen des Bologna-Prozesses. Bemängelt werden Intransparenz, Verschulung und Überreglementierung von Studiengängen, verbunden mit deutlicher Leistungsverdichtung und immens gestiegener Arbeitsbelastung für Lehrende und Studierende zu Lasten der Studienqualität.30 Eine hochschuldidaktische Qualifizierung der Hochschullehrenden ist daher notwendig.31 28 29 30 31

Vgl. ebd. Ceylan et al., S. 111ff. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 114.

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

Das Bewusstsein im akademischen Lehrbetrieb bezieht sich momentan auf die Vielfalt, die dort existent ist. Ähnlich wie die Studie von Szczyrba, Gerber und van Treeck32 belegt die Delphi-Studie von Ceylan et al. zugleich eine gewisse Ratlosigkeit der Lehrenden, wie der Umgang mit Vielfalt in Lehrveranstaltungen konkret aussehen solle. Meiner Meinung nach hängt die Ratlosigkeit mit der Diskrepanz zwischen der Universität als Institution und dem Freiraum innerhalb der Universität zusammen. Der Freiraum mit seinen Potentialen ist zwar da, wird aber meistens nicht genutzt, um den Rahmen der Universität als Institution zu wahren. Der institutionalisierte Wissenschaftsbetrieb der Universität verunsichert die Akteurinnen und hindert sie daran, die Potentiale des Freiraums zu nutzen. Alle Mobilitätsprogramme führen zu Begegnungen nicht nur von Menschen, sondern auch von Verwaltungssystemen. Die Vielfalt der Standards und die Vielfalt der Institutionen, aus denen die Studierenden und Dozierenden kommen, wird besonders im Kontext der internationalen und interkulturellen Kooperationen u.a. bei bi- und trinationalen Studiengängen sichtbar. Nicht selten kommt es dabei zur Konfrontation unterschiedlicher Lösungen, Kommunikationsweisen, Gewohnheiten, rechtlicher Regelungen und Gepflogenheiten. Während die Internationalisierung der Universitäten politisch gewollt wird, wird der Vorbereitung der Lehrenden und auch der Universitätsverwaltung auf die damit verbundenen Herausforderungen wenig Wert beigemessen. Das konstatieren einige Autorinnen der Arbeiten zu der neuen Situation im Hochschulbetrieb.33 Einsichten und Lösungen kommen auf mühsamem Wege durch learning by doing zutage. Sie werden jedoch nur selten ausgetauscht und systematisch ausgearbeitet. Es fehle also, wie Matthias Otten schreibt, an einer didaktischen Vorbereitung der Lehrenden. Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, die sich außer mit Lehre hauptsächlich mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit oder Qualifikation beschäftigen, seien mit der Aufgabe einer differenzorientierten Lehre überfordert.34 Daraus ergibt sich eine Forschungslücke. Die Ansprüche an die akademische Wissensvermittlung und der didaktische Umgang mit der infolge des Bologna32 Szczyrba, Birgit/Treeck, Timo van/Gerber, Julia (2015): Lehr- und lernrelevante Diversität an der Fachhochschule Köln. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:832-epub4-6168 [20.03.208]. 33 Z.B. Otten, Matthias (2006): Interkulturelle Handlungsorientierungen im Internationalisierungsprozess der Hochschulen. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (Ed.)/Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München. Frankfurt a.M. S. 1554-1565. URN: www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/17504/ssoar-2006-otteninterkulturelle_handlungsorientierungen_im_internationalisierungsprozess_der. pdf?sequence=1 [20.03.2018] oder Chołuj, Bożena (2017): Interkulturalität im Universitätsbetrieb. In: Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer und Heinz Sieburg (Hg.): Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik, Nr. 1/2017. Bielefeld. S. 143-153. 34 Vgl. Otten, S. 1557ff. Vgl. Choluj (2017), S. 144ff.

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Prozesses verstärkt existenten Vielfalt an Vorwissen und Erwartungen bezüglich des zu vermittelnden und zu erwerbenden Wissens und der zu vermittelnden und zu erwerbenden Kompetenzen stellen insgesamt ein interdisziplinäres – nicht nur hochschuldidaktisches, sondern auch kulturwissenschaftliches – Forschungsfeld dar.

Institutioneller Umgang mit Differenzen – ›Diversity‹ Das Prinzip ›Diversity‹ wende sich, wie Paul Mecheril und Birte Klingler schreiben, Differenzen zwischen Menschen zu und berücksichtige Unterschiede als Schlüssel zu Erfolg und Gerechtigkeit.35 Mit dem Diversitymanagement versucht die Universität als Institution den Umgang mit Differenzen, die durch Internationalisierung zunehmen, zu regeln. Im institutionellen Kontext bedeutet Diversity paritätische Besetzung von Arbeitsplätzen, Gremien und Ämtern durch Vertreterinnen verschiedener sozialer, kultureller und anderer Gruppen und somit die Repräsentanz dieser Gruppen im Gefüge der Institution. Die Europa-Universität Viadrina hat eine Stabsstelle Diversitymanagement für Studierende eingerichtet. Auf der Internetseite der Stelle heißt es: Im Rahmen des Diversitymanagements (DiM) für Studierende geht es um die aktive und bewusste Entwicklung einer Kultur, die Vielfalt fördert und schätzt. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen sensibel wahrgenommen, akzeptiert und als Potenzial genutzt werden. DiM hat zum Ziel, die Universität durch vollständige Integration als einen möglichst diskriminierungsfreien Raum zu gestalten.36 Bislang bewegt sich das Diversitymanagement auf der deklarativen Ebene, es fehlt an konkreten Maßnahmen und Instrumenten, die in der akademischen Lehre einsetzbar wären. Ähnlich wie bei den Erklärungen zur Internationalisierung der Universitäten, gibt es auch hier eine Diskrepanz zwischen dem politischen Willen einer Institution, die Differenzen für positiv erklärt, und der institutionellen Praxis der Universität im täglichen Geschäft. Außerdem, wie Mecheril und Klinger mit Recht bemerken, hat das Diversitymanagement auch seine Nachteile: 35 Vgl. Mecheril, Paul/Klingler, Birte (2010): Universität als transgressive Lebensform. Anmerkungen, die gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigen. In: Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold: Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld. S. 83-116, hier S. 107. 36 www.europa-uni.de/de/struktur/unileitung/stabsstellen/dm/index.html [08.07.2018].

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

Da das Zusammenspiel der unterschiedlichen Differenzverhältnisse weder theoretisch noch empirisch geklärt ist und Diversity-Ansätze letztlich kaum einen Beitrag zur analytischen Klärung des Verhältnisses, des Zusammenspiels und der Relationen der Unterschiede darstellen, tendieren sie zu einer Reproduktion alltagsweltlicher, essentialistischer Verständnisse von sozialer [und auch anderer –A. B.] Differenz.37 Diese Reproduktion trägt zur Verstätigung von herrschenden Verhältnissen bei. Sie wird an gängige Vorstellungen von Differenzen gebunden, obwohl nicht die Differenzen der Grund der Reproduktion von Verhaltensmustern sind, sondern der Umgang mit ihnen. Der Ansatz des Diversitymanagements bleibt jedoch in meinen Augen genau an diesem Punkt stecken. Das Bestreben des Managements ist nämlich die Festlegung der Zuschreibungen, deren Existenz für das Management essentialistisch wird. Parallel zur Festlegung von Zuschreibungen bemüht sich das Management um Harmonisierung. Es ist dann so, als ob zunächst die Distinktionen benannt würden, um sodann zu erklären, sie seien im Grunde alle gleich. Die aufkommenden Differenzen werden somit nicht anerkannt. Während Harmonisierung im Interesse der Institution liegt, bezieht sich die Anerkennung auf die Menschen. Es ist einfacher, Regularien für einen harmonischen Zustand zu schaffen als Regularien für die Berücksichtigung jeder Vorstellung von Differenzen, auch wenn das anerkennende Subjekt letztendlich immer noch die Universität ist. Würde Differenz als Kategorie aufgefasst, dann wären Relationen zwischen den einzelnen Vorstellungen sowohl für die akademische Lehre als auch die Universität als Institution wichtiger, weil sie die Diskrepanz zwischen Deklaration und Praxis aufheben helfen. Bisher wird Heterogenität in der Praxis in geringerem Maße reflektiert und eher als ein Problem gesehen, das man durch Harmonisierung zu lösen versucht.

Universitäten als relativ stabile Denkkollektive Die Kategorie der Denkkollektive entwickelte Ludwik Fleck38 im Kontext von Erkenntnisprozessen in der Wissenschaft. Fleck zeigt, dass diese Prozesse kulturell beeinflusst werden und dass dies in und durch die Denkkollektive passiert. Die Kategorie der Denkkollektive kann auch auf die Prozesse der Wissensproduktion in akademischer Lehre angewandt werden. Wie bereits beschrieben, unterscheidet Fleck zwischen einem stabilen und einem momentanen Denkkollektiv, wonach die 37 Mecheril/Klingler, S. 108. 38 Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a.M.

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Universität als ein System von stabilen Denkkollektiven, wie Fakultäten, Verwaltung, Internationales Büro oder Pressestelle, gesehen wird. Diese arbeiten nach einem eigenen Denkstil, der für alle gilt, die im Rahmen dieses Kollektivs tätig sind. Obwohl die Denkkollektive in ihrem Denkstil verharren, sind sie nicht starr. Ihre Mitglieder, die zugleich anderen Denkkollektiven angehören, z.B. Wissenschaftlerinnen, die an einer Fakultät forschen und lehren und gleichzeitig in internationalen Netzwerken arbeiten, die nach unterschiedlichen Denkstilen agieren, vertreten sowohl den Denkstil der Fakultät als auch den der Netzwerke. Sie haben dann die unterschiedlichen Denkstile in unterschiedlichen Relationen zueinander zu beachten.39 Die unterschiedlichen Denkkollektiven angehörenden Mitglieder sind ein Faktor, der der Starrheit der Kollektive entgegenwirkt. Wenn man Seminargruppen im akademischen Lehrbetrieb in diesen Kategorien erfasst, fällt auf, dass eine Seminargruppe für die Dauer eines Semesters zusammenkommt, deren Teilnehmende sich dieser aus individuellen Motiven anschließen. Deswegen kann man die Seminargruppe in Anlehnung an Fleck ein momentanes Denkkollektiv nennen. Die Mitglieder kommen zusammen, weil sie an einem bestimmten Fach, Problem, einer Idee, einem Thema oder Text interessiert sind, oder manchmal eben ECTS-Punkte für ein Modul benötigen. Ihr Denken ist durch verschiedene Faktoren vorbestimmt: durch ihr Studienprogramm,40 ihren Wissensstand, die Wissensvermittlungskultur, aus der sie kommen, individuelle Erfahrung etc. Dieses momentane Denkkollektiv bewegt sich in einem festen Rahmen der Universität. Dieser Rahmen strukturiert und prägt die Arbeit an Erkenntnissen. Wenn die Wissenschaft als kulturelle Praxis aufgefasst wird, die sich durch temporäre und dynamische Wissenschaftskonzepte auszeichnet, dann lässt sich beobachten, dass ein Denkstil – ähnlich wie ein Kunststil – Ideen in einer Gruppe (Kollektiv) zirkulieren lässt und auch von kulturellen Faktoren, wie Mainstream beeinflusst wird.41 Dadurch, dass ein Individuum mehreren Denkkollektiven angehört und mehrere Denkstile erfährt, schafft es einen Freiraum, in dem kreative, d.h. nicht immer mit dem Denkstil übereinstimmende, Wirkung möglich ist. Andererseits bestätigt 39 Wenn z.B. eine forschende Person zugleich in einer europäischen und einer asiatischen Wissenschaftskultur tätig ist, muss sie beide Kulturen kennen, um in ihnen erfolgreich agieren zu können. Sie bringt aber auch aktiv Ideen, Methoden etc. der einen in die andere Kultur ein. 40 Die an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina angebotenen Lehrveranstaltungen sind in der Regel für mehrere Studiengänge und verschiedene Module offen. 41 Diese Idee verdanke ich Franziska Schurr, die sie in ihrer unveröffentlichten Arbeit »Denkstil, Matrix, Paradigma, Framing, Rahmen. Widerspruchsfreie Theorien oder Inkommensurabilität der Kategorien?« beschreibt. Diese Arbeit ist im Master-Seminar »Denkstil, Paradigma, Framing – Wissenschaftstheoretische Begriffe und ihre Kontexte« unter der Leitung von Prof. Dr. Bożena Chołuj im Wintersemester 2016/17 an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der EuropaUniversität Viadrina entstanden.

Universität als Institution und als Raum der Wissensvermittlung

z.B. Mary Douglas, dass der Denkstil selten hinterfragt oder übergangen wird, weil er von den Mitgliedern eines Kollektivs als gegeben hingenommen wird.42 Ein Freiraum im Rahmen der Universität als Institution und als stabiles Denkkollektiv kann also entstehen, wenn der Denkstil hinterfragt wird. Der Freiraum kann gefüllt werden, wenn Mitglieder eines stabilen Denkkollektivs ihre in anderen, stabilen oder momentanen Kollektiven gewonnenen Erfahrungen mit anderen Denkstilen bewusst einsetzen. Das momentane Denkkollektiv kann einen eigenen Denkstil entwickeln, was zur Überwindung bzw. Relativierung des Denkstils des stabilen Denkkollektivs führen kann.

42 Vgl. Douglas, S. 31.

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Wissensvermittlung und Wissensproduktion

Die akademische Lehre besteht aus einem Zusammenspiel aus Reproduktion und Produktion von Wissen. Diese Ambivalenz geht im Kern auf das Verständnis der Funktion der Universität als Forschungs- und Bildungsstätte und auf die Debatte über die Verbindung bzw. Trennung von Forschung und Lehre zurück. Die deutsche Universität, die die akademische Lehre in der Tradition der Vermittlung der Forschungsergebnisse, die ihre Forschenden produzieren, sieht, wäre auf der Ebene der Verbindung von Forschung und Lehre anzusiedeln. Dafür spricht auch das Verständnis der Lehrendengemeinschaft und der Studierendengemeinschaft, die als Partner im Prozess der Lösungsfindung wissenschaftlicher Fragen gesehen werden, für den die Universität ihnen Raum für Entwicklung und damit verbundenen gemeinsamen, gegenseitigen, partnerschaftlichen intellektuellen Austausch bietet.1 Auf der anderen Seite soll ein Studium, auch Universitätsstudium, auf das Berufsleben vorbereiten, also ein bestimmtes Wissen und bestimmte Kompetenzen vermitteln, die standardisiert sind. In diesem Kontext wird die Heterogenität der Studierenden als Herausforderung gesehen. Bei unterschiedlichen Wissensständen und der Situierung in verschiedenen akademischen Traditionen der Studierenden sehen sich die Lehrenden, die wiederum ebenfalls in akademischen Traditionen situiert sind, gezwungen, erst einmal eine »Angleichung« zu schaffen. Mit anderen Worten: Sie bemühen sich, die in ihren Augen bei den Studierenden bestehenden Defizite an Informationen und Kompetenzen auszugleichen.2 Die Rea1 Vgl. Sauerland, Karol (2006): Idea uniwersytetu – aktualność tradycji Humboldta? [Die Idee der Universität – wie aktuell ist die Humboldtsche Tradition?] In: Marek Kwiek, Krystian Szadkowski und Marek Hołowiecki (Hg.): Nauka i Szkolnictwo Wyższe [Forschung und Lehre], Nr. 2/28/2006. S. 89-96. https://pressto.amu.edu.pl/index.php/nsw/article/view/4791/4898 [18.03.2018]. 2 Die Autorinnen Elke Wild und Wiebke Esdar schreiben: »Das Thema Heterogenität im Hochschulbereich [wird – A. B.] derzeit vorwiegend in leistungsbezogener und problematisierender Weise behandelt. Moniert wird von Seiten der Lehrenden insbesondere, dass immer mehr Studierende unzulänglich über die fachlichen Anforderungen des gewählten Studiengangs informiert seien, Defizite in basalen Fachkenntnissen mitbrächten und mangelnde Selbstregulationskompetenzen (z.B. im Bereich Zeitmanagement, Lernstrategien und wissenschaftlichen Arbeitens) aufweisen würden.« Wild, Elke/Esdar, Wiebke (2014): Heterogenitätsorien-

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Transdifferente Lehre

lisierung eines solchen Vorhabens kann durchaus ein ganzes Semester in Anspruch nehmen, mit dem die Lehrveranstaltung zu Ende ist und damit keine Zeit für die Arbeit mit dem angeglichenen Wissensstand bleibt. Bei diesem Vorgehen wird Wissen in Form von Informationen linear von oben nach unten transportiert. Die akademische Lehre ist im Gegensatz zur Schule in der Gestaltung der Vermittlung von Wissen frei. Eine lineare Vermittlung im Sinne von Informationstransport ist eine Möglichkeit. Eine andere Lösung ist die Schaffung oder Findung einer Plattform, auf der sich alle am Seminar Beteiligten unabhängig vom Stand ihrer Vorkenntnisse wiederfinden und miteinander arbeiten können. Es wird ebenfalls Wissen vermittelt, aber nicht linear, sondern räumlich. Der Vermittlungsprozess ist simultan und verläuft nicht nur von Lehrenden zu Studierenden, sondern auch zwischen den Studierenden und von Studierenden zu Lehrenden.

Wissensvermittlung im akademischen Lehrbetrieb Alois Wierlacher3 skizziert eine Übersicht semantischer Variationen des Begriffes ›Vermittlung‹ – bezogen auf Wissen in kulturell heterogenen Seminargruppen. In der akademischen Lehre, die, so Wierlacher, das Andere wahrnehmen wolle, sei Vermittlung einer der leitenden Begriffe, bei dem man sich den Fragen nach Bedeutung weder entziehen könne4 noch »sich auf eine abstrakte Konzeptualisierung des Ausdrucks ›Vermittlung‹ als Synthese von These und Antithese im hegelianischen Sinne zurückziehen«5 . Demnach ist Vermittlung in der akademischen Lehre nicht eindeutig zu bestimmen. Diese Unbestimmtheit, auf die ich detailliert in meinem 2017 verfassten Aufsatz zur Interkulturalität in der Wissensvermittlung eingehe,6 ist gerade die Stärke

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tierte Lehre als Gegenstand früherer und aktueller Diskurse und Maßnahmen. In: Elke Wild und Wiebke Esdar (Hg.): Eine heterogenitätsorientierte Lehr-/Lernkultur für eine Hochschule der Zukunft. Fachgutachten im Auftrag des Projekts nexus der Hochschulrektorenkonferenz. S. 13-25, hier S. 22. www.hrk-nexus.de/fileadmin/redaktion/hrk-nexus/07-Downloads/0702-Publikationen/Fachgutachten_Heterogenitaet.pdf [01.07.2018]. Wierlacher, Alois (2003a): Was soll Vermittlung heißen? Zur Differenzierung der Lehr- und Präsentationsformen in den sprach- und textbezogenen Fremdkulturwissenschaften. In: Alois Wierlacher, Konrad Ehlich, Ludwig M. Eichinger, Andreas F. Kelletat, Hans-Jürgen Krumm, Willy Michel (Hg.) und Kurt-Friedrich Bohrer (Dok.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Intercultural German Studies, Band 29. München. S. 15-30. Vgl. ebd. S. 16. Ebd. Balfanz, Antonina (im Erscheinen): Interkulturalität in der Wissensvermittlung oder Transdifferenz als Konzept. In: Renata Cornejo, Gesine Lenore Schiewer und Manfred Weinberg (Hg.): Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt: Interkulturalität(en) weltweit. Bielefeld.

Wissensvermittlung und Wissensproduktion

dieser Beschreibung, weil sie unterschiedliche, z.B. kulturell bedingte Interpretationen des Begriffes Vermittlung zulässt. Im allgemeinen Verständnis gehe man, so Wierlacher, von einer ›Transportfunktion‹ aus, Informationen würden über-mittelt/ver-mittelt, zwar auch reziprok, doch auf einer Linie7 – zwischen Studierenden und Lehrenden – und auf der Ebene des disziplinären Wissens. Wierlacher plädiert dafür, Verständnis für Wissensvermittlung als Synonym für Lehre zu überdenken, denn es stamme aus der Tradition der christlichen Lehre. Der Begriff Vermittlung solle eine offenere, transkulturelle Bedeutung bekommen, die andere Sicht(en) auf das Phänomen erlaubt. Deswegen möchte Wierlacher ›Vermittlung‹ auch nicht als einen Begriff sehen, sondern als eine »Grundform der Vermittlungshandlung«8 . Bezogen auf eine so verstandene Vermittlung von Wissen im Lehrbetrieb stellt sich die Frage, zwischen welchen Entitäten und auf welchen Ebenen vermittelt wird. Mit Entitäten sind in der Konzeption der transdifferenten Lehre das Wissen, das als disziplinärer Standard gilt (Wissen der Vermittelnden, der Lehrenden, die die Universität als Institution vertreten), und das individuelle Wissen der Studierenden, das in Bezug zu diesem konstituierten Wissen gebracht wird (Wissen der Lernenden), gemeint. Das Wissen der Lernenden basiert auf individuellem Vorwissen und Erfahrung. Wenn man die Entitäten systemtheoretisch betrachtet, stellen sie zwei aneinander gekoppelte Systeme dar: Das konstituierte Wissen kann ohne das individuelle Wissen nicht vermittelt werden, weil es ohne dies keine Grundlage geben würde; und ohne dieses Vorwissen gibt es auch keine Entwicklung bei der Wissensvermittlung. Das Vorwissen entwickelt sich aber ständig mit dem Wissen, das in der standarisierten Vermittlung im Lehrbetrieb erfahren wird. Dieser Prozess erinnert an die in der Systemtheorie beschriebene reziproke Abhängigkeit von Bewusstsein und Kommunikation.9 Beide Phänomene werden als zwei Systeme konzeptualisiert, die sich permanent, in engem Zusammenhang miteinander entwickeln. Nicht nur ihre jeweilige Entwicklung lebt von dieser gegenseitigen Bedingtheit, beide, Bewusstsein und Kommunikation, bedingen ihre Existenz – es kann kein Bewusstsein ohne Kommunikation (und umgekehrt) geben.10 Bezogen auf das konstituierte Wissen (das Wissen der Lehrenden, das aus geltenden Diskursen schöpft) und das individuelle Wissen (das Wissen der Studierenden) bedeutet dies, dass wenn das konstituierte Wissen einen Zustand erreichen würde, in dem es nicht mehr aus dem individuellen Vorwissen schöpft, würde sich das konstituierte Wissen nur selbst reproduzieren. Dies würde Stillstand 7 Wierlacher, S. 26. 8 Ebd. 9 Vgl. Luhmann, Niklas (1991): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. S. 38. 10 Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. S. 34.

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in der Wissensentwicklung bedeuten. Wenn das konstituierte Wissen das individuelle Vorwissen der Studierenden nicht berücksichtigt, bzw. gar gering schätzt,11 kann sich in logischer Folge auch das individuelle Wissen nicht entwickeln – wodurch die Bemühungen um die Wissensvermittlung scheitern. Solche Situationen entstehen in der akademischen Lehre mit dem Moment, in dem die Vermittlung der Reproduktion des zu vermittelnden Wissens dient. Eine umgekehrte, also produktive Situation findet innerhalb von Kommunikationsprozessen statt, die Wierlacher »grenzüberschreitend« nennt. Von Wierlachers Vorschlag ist für meine Untersuchung der Abschluss des Vermittlungsprozesses besonders relevant. Das Ergebnis sei kein Wissenszuwachs im Sinne einer Aneignung reproduzierten Wissens, sondern ein Erreichen einer Zwischenposition, eines ›in-between‹, mit dem Wierlacher das ›Vertrautwerden von Distanz‹12 bezeichnet. Vermittlung ist […] ein die Beziehungskategorien ›Interkulturalität‹ und ›Distanz‹ zusammenführender Begriff, der zugleich ermöglicht, dass im Blick auf das Andere und Fremde die Begrenztheit des eigenen Blickwinkels erkennbar wird und die kulturelle Reichweite der vermittelten Inhalte mit der Kognitionswissenschaft als mittlerer, i.e. kulturell noch überschaubarer Weg der Erkenntnis begriffen werden kann.13 Dieses Vertrautwerden ist nicht mit Konsens gleichzusetzen, es gehe vielmehr um die Erweiterung der eigenen Sicht um die Sicht des Anderen. Die Kritik an einem zu eng verstandenen Begriff ›Vermittlung von Wissen‹ teilen auch andere Autorinnen, darunter Pädagoginnen.14 Sie kritisieren, ähnlich wie Wierlacher, die Einschränkung der Vermittlung auf die Transferfunktion. In ihrer Argumentation ist Wissen kein objektiver Gegenstand, sondern Ergebnis von Konstruktionsprozessen sowohl von Individuen als auch von Kollektiven. Daher solle von Wissenskonstruktion statt Wissensvermittlung gesprochen werden. Eine ähnliche Sicht auf die Problematik zeigt das bereits erwähnte Konzept der affirmativen Didaktik.15 In diesem Konzept geht es um das Machtbewusstsein und 11 Wie Studierende im Rahmen der Evaluation des Studiengangs gelegentlich anmerken, kommt dies gerade in der Arbeit mit kulturell heterogenen Studierendengruppen vor. 12 Wierlacher, S. 26. 13 Ebd., S. 27. 14 Reinmann-Rothmeier, Gabi/Mandl, Heinz (1998): Wissensvermittlung: Ansätze zur Förderung des Wissenserwerbs. In: Friedhart Klix und Hans Spada (Hg.): Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie II, Band 6: Wissen. Göttingen. S. 457-491, hier S. 457f. 15 Rogowska-Stangret, Monika (2016): Ku dydaktyce afirmatywnej [Zur affirmativen Didaktik]. In: Agnieszka Ogonowska (Hg.): Annales Universitatis Paedagogicae Cracoviensis. Studia de Cultura VIII. S. 57-65. http://studiadecultura.up.krakow.pl/issue/view/238 [02.10.2018].

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Bewusstsein von Ungleichheiten, die in der akademischen Lehre eine Rolle spielen, aber in der Forschung nicht thematisiert werden. Rogowska-Stangret stützt ihr Konzept der affirmativen Didaktik auf die Erkenntnisse der feministischen Forschung u.a. Judith Butlers zur Normüberschreitung, und die Analysen Michel Foucaults zu Überwachen und Strafen.16 Daraus leitet sie die Postulate der affirmativen Didaktik zur Erkennung der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Lehrenden und Lernenden und zur Anerkennung der Relationalität der Positionen als Handlungsrahmen ab.17 Diese Sichtweise ermögliche, so Rogowska-Stangret, eine Abkehr von der Binarität ›aktive Lehrende – passive Lernende‹ und die Erkennung der Wissensvermittlung als einen Prozess der gemeinsamen, gegenseitigen Übermittlung von Wissen, Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen. So sei dieser Prozess ein Prozess der Wissensproduktion, der durchaus von Reibungen und Debatten begleitet werde. Dadurch entstehe eine Mitverantwortung aller Beteiligten für den Produktionsprozess.18 Die Autorin weist in dem Kontext auf die infrastrukturelle Anordnung eines Seminarraums hin. Der Raum, seine Ausstattung und Gestaltung, Anordnung der Tische und Stühle, die Nutzung von interaktiven Medien können sowohl fördernd als auch hemmend für das aktive Sich-Einbringen der Beteiligten sein.19 Die aktive Beteiligung aller am Seminar Teilnehmenden sei davon abhängig, inwieweit der gemeinsame (infrastrukturelle) Seminarraum in einen abstrakten Raum, in dem gegenseitiger Respekt, Inklusion, Sicherheit, Gemeinschaftsgefühl und Akzeptanz der Wissensproduktionsprozesse stattfinden, verwandelt werde.20 Diese von Rogowska-Stangret identifizierten und postulierten Voraussetzungen der affirmativen Didaktik finden sich im Konzept der transdifferenten Lehre wieder: Auch in der transdifferenten Lehre geht es um die Schaffung einer möglichst hierarchiefreien Situation, in der sich die Beteiligten respektiert und sicher fühlen. Das ermöglicht ihre aktive Beteiligung und Öffnung sowohl hinsichtlich der Mitteilung der eigenen Ideen, Beobachtungen und Erfahrungen als auch die Öffnung für die Mitteilung der Anderen und somit die Wahrnehmung des Anderen.

Wissensproduktion in der akademischen Lehre Gekoppelt an die Überlegungen zu Wegen der Wissensvermittlung und vor dem Hintergrund der kulturellen Diversifizierung der Hochschulen stellt sich die Frage, welches und wessen Wissen an den Universitäten als verbindlich gilt und ver16 Vgl. ebd., S. 58f. 17 Vgl. ebd., S. 62. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. ebd., S. 63. 20 Vgl. ebd.

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mittelt wird. In jeder Kultur gibt es kanonisiertes Wissen und verbotenes Wissen, also ein Wissen, das als unseriös, unwissenschaftlich, unannehmbar erklärt wird. Dazwischen gibt es einen Raum von nebeneinander existierenden Zirkulationsbahnen alternativen Wissens. Sichtbar wird das Spannungsverhältnis in Prozessen der Positionierung im kulturell heterogenen Lehrbetrieb und es zieht die immer wiederkehrende Frage nach sich, wessen Wissen gelehrt, gelernt und angewandt werden soll. Im stabilen Denkkollektiv der Universität wird dem kanonisierten Wissen eine grundlegende Bedeutung beigemessen und die akademischen Lehrveranstaltungen haben zum Ziel, dieses stabilisierte Wissen zu reproduzieren, um die sie verpflichtenden disziplinären Standards einzuhalten. Doch allein der Prozess der Wissensaneignung stellt eine Destabilisierung dieses zu vermittelnden Wissens dar und ist eine Etappe der Wissensproduktion. Paul Mecheril und Birte Klingler beschreiben diesen Prozess wie folgt: »Studierende eignen sich Wissen an, indem sie dieses vor dem Hintergrund ihrer Deutungsressourcen verstehen oder nicht verstehen, auslegen und umformen.«21 Eine lineare Akkumulation werde dadurch verhindert, so Mecheril und Klingler, dass die Deutungsgrundlagen im Umgang mit neuem Wissen revidiert würden. Wenn Deutungsgrundlagen sich verändern, könne man von Prozessen der Wissensproduktion sprechen.22 Das vorhandene Wissen und die kulturell geprägten Deutungsressourcen sind also eine Grundlage für Wissensproduktion.23 Prozesse der Entstehung, Distribution und Aneignung von Wissen werden in den Wissenstheorien als nicht weniger bedeutend als die wissenschaftliche Tatsache selbst gesehen – wie Helmut Spinner schreibt:24 Es handele es sich um reziproke Relationen und Proportionen von Ideen und Interessen, Wissen und Handeln usw.25 Die Wissenschaftskulturen definieren Wissen in den Bereichen des theoretischen, produzierten Wissens sowie des praxisbezogenen Könnens, also der Kompetenzen, die situationsangemessen angewandt werden können. So aufgefasstes Wissen bewege sich, so Spinner, in einem Dreieck aus Information, forschendem Individuum und zu lösender Problemsituation oder Frage. Dieses Dreieck sei verortet zwischen ›aktivierenden Anforderungen‹ und ›limitierenden Randbedingun21 Mecheril, Paul/Klingler, Birte (2010): Universität als transgressive Lebensform. Anmerkungen, die gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigen. In: Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold: Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld. S. 83-116, hier S. 87. 22 Ebd. 23 Mit Verweis auf die Erkenntnisse von Ludwik Fleck über die Herstellung einer wissenschaftlichen Tatsache. 24 Ebenfalls im Fleckschen Sinne. Fleck sieht die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache als ein Kollektivwerk. 25 Vgl. Spinner, Helmut F. (2003): Wissen. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar. S. 337-343, hier S. 337.

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gen‹.26 Spinner sieht das Individuum als ein aktives, forschendes Subjekt. Das Phänomen Wissen wird im Karlsruher Ansatz der integrierten Wissensforschung betrachtet, der nach Spinner ein differenzierendes, aber nichtdiskriminierendes »Wissenskonzept von hoher Integrationskraft und breiter Anschlussfähigkeit«27 für alternative und vielfältige wissenschaftliche Überlegungen und handlungspraktische Konzepte – für Wissenschaftsmanagement und -transfer, Tradierung etc. – vorsieht. Ähnlich dem Konzept der Transdifferenz, in dem kulturelle Phänomene in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit in Beziehung zueinander untersucht werden, wird im Karlsruher Ansatz das Phänomen Wissen als Querschnittsthema konzipiert. Die Pädagogin Gabi Reinmann-Rothmeier und der Pädagoge Heinz Mandl identifizieren folgende Arten von Wissen, die besonders im schulischen und universitären Kontext verwendet werden: das domänenspezifische Wissen, welches (meist deklaratives) Wissen über Sachverhalte ist; das prozedurale Wissen, das auf Fertigkeiten basiert; das strategische Wissen, das Problemlösungen und Heuristiken kreiert; das metakognitive Wissen, das die Basis für die Steuerung von Lern- und Denkprozessen bildet; hinzu kommen verbale Fähigkeiten und soziale Kompetenzen, begleitet von Einstellungen und Überzeugungen (belief systems).28 Birgit Neumann schreibt, dass das kulturelle Wissen, auf das sich das in der akademischen Lehre vermittelte Wissen stützt, solle es sich konsolidieren und gesellschaftlich wirksam werden können, in mehreren Wissenschaften (Diskursen) für ›wahr‹ und ›wertvoll‹ gehalten werden müsse. Es müsse also sowohl die Wissenschaften als auch kulturelle Alltagspraktiken durchdringen.29 Kulturelles Wissen entsteht nach Neumann sowohl durch und infolge wissenschaftlicher Diskurse, durch und in Kunst und Literatur, durch und in Alltagspraktiken, Medien etc.30 Somit kann sich das im Lehrbetrieb verarbeitete und erarbeitete Wissen nicht auf akademische Diskurse beschränken. Es muss also ausgewählt werden, was aus diesem breiten Spektrum behandelt werden sollte und was nicht. Die Frage, von wem diese Wahl getroffen werden soll, ist, in der Perspektive der transdifferenten Lehre, eine Verhandlungsangelegenheit. Diese Auffassungen sind Anhaltspunkte für eine Skizzierung des Wissens, das in der kulturell heterogenen akademischen Lehre vermittelt werden soll. Konzeptueller Ansatz der transdifferenten Lehre ist, neben der immer wieder neuen separaten Beschreibung einzelner Phänomene oder Probleme, vor allem die Interak26 27 28 29

Ebd. Spinner, S. 339. Vgl. Reinmann-Rothmeier/Mandl, S. 459. Vgl. Neumann, Birgit (2006): Kulturelles Wissen und Literatur. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier. S. 29-52, hier S. 31. 30 Vgl. ebd.

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tionen zwischen den verschiedenen Arten von Wissen und Deutungsressourcen in den Blick zu nehmen. Diese sind aktiv in einem bestimmten Rahmen, den die Zusammensetzung der am Seminar Beteiligten mitunter mit ihren individuellen Erfahrungen sowie das Ziel des Seminars laut Curriculum zeichnen. Dabei ist es allen Beteiligten, vor allem den Lehrenden bewusst, dass über diesen Rahmen hinaus eine Vielfalt weiterer Wissensarten und Interaktionen vorhanden ist und stattfindet. Von Bedeutung ist auch das Bewusstsein der Lehrenden für den Kontext, in dem der Rahmen skizziert wird, sowie, welche Instrumente und Methoden angewandt werden. Denn sowohl Instrumente als auch Methoden beeinflussen Ergebnisse und Erkenntnisse.31 Für eine transdifferent ausgerichtete Lehre ist der Prozess der Wissensproduktion grundlegend, doch durch die Situierung dieses Lehrverfahrens im institutionellen Rahmen des relativ stabilen Denkkollektivs müssen die Ergebnisse der transdifferenten Lehre bestimmten Kriterien entsprechen. Die im Lehrbetrieb geltenden Curricula sind eine Auswahl von anerkannten Inhalten und Kompetenzen, die sich eine studierende Person aneignen soll, um ein entsprechend definiertes Abschlusszeugnis als Qualitätsnachweis des Wissensvermittlungsprozesses zu erlangen. Wissen und Kompetenzen sind also ein Ausdruck eines Denkstils des stabilen Denkkollektivs der Universität. Welche Wege zum Erlangen dieser Ziele führen und welches Wissen außerhalb der Standards produziert und erfahren wird, bleibt im Ermessen des momentanen Denkkollektivs im Seminar-Raum. Das Wissen wird standardisiert, um als solches anerkannt und für lehrbar befunden zu werden. Wie diese Ambivalenz der Lehre zu lösen ist, muss offenbleiben und individuell verhandelt werden. Durch die Freiheit der Lehre hat das momentane Denkkollektiv einen Raum für Wissensproduktion zur Verfügung, in dem es auf verschiedene Verfahren, aber auch auf individuelle Erfahrung der Studierenden und Dozierenden, zurückgreifen kann. Wenn beide Denkkollektive, das stabile und das momentane, sich aufeinander zubewegen, werden die disziplinären Qualitätsvorgaben flexibel genug ausgelegt, um produziertes und nicht nur reproduziertes Wissen zuzulassen. Durch flexible Vorgaben des stabilen Denkkollektivs wird dann das momentane Denkkollektiv motiviert, nach individuellen Wegen zu suchen und vor allem auf alle Ressourcen im Seminar-Raum zurückzugreifen, d.h. mitunter die Vielfalt dieser Ressourcen und die Differenzen, die dabei zum Vorschein kommen, wahrzunehmen und anzunehmen. Die Universität als Institution, die in ihren staatsrechtlichen, aber auch internationalen Rahmenbedingungen verankert ist, hat einen Einfluss darauf, welches Wissen, welche Informationen und Ideen vermittelt werden. Obwohl die Universität der Neutralität und als unbedingte Universität im Sinne von Derrida der Abkopplung von Interessen, von materiellen Abhängigkeiten, und der Praxisrelevanz 31 Vgl. Waldenfels, Bernhard (2001): Einführung in die Phänomenologie. München. S. 30.

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ihrer Forschung und Lehre theoretisch verpflichtet ist, steht sie im Alltag doch im Spannungsverhältnis mit diesen Entitäten.

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Eine zentrale Rolle für das Konzept der transdifferenten Lehre spielt die individuelle Wahrnehmung von Differenzen unterschiedlicher, lebensweltlicher Art unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Akteurinnen1 . Um diese Verbindung zu beschreiben, greife ich auf literaturtheoretisch-phänomenologische und erkenntnistheoretische Annahmen zurück. Dadurch wird die Methode selbst transdifferent, weil sie das verknüpft, was jeweilige Disziplinen separat erforschen. Mir erscheint es wichtig, Dynamik und Konstellationen von Differenzen zu betrachten, vor allem für die in interkulturellen Seminar-Gruppen realisierte akademische Lehre. Es geht um die Betrachtung der Prozesse der Wissens- und Erkenntnisproduktion in und durch Seminargruppen, die ein momentanes, heterogenes Denkkollektiv darstellen. Dieses momentane Denkkollektiv (Seminargruppe, die in einem Semester zusammenkommt) ist mit einem relativ stabilen Denkkollektiv (Universität als Institution) verbunden. Mich interessieren die Verschränkungen zwischen den beiden Kollektiven und der Einfluss dieser Verschränkungen auf den didaktischen Umgang mit Heterogenität. Die transdifferente Lehre versucht, den oszillierenden, sich in verschiedenen Konstellationen zueinander bewegenden Differenzen bewusst zu begegnen und die in den Differenzen selbst und in ihren Interaktionen vorhandenen Potentiale zu nutzen. Die transdifferente Lehre ist ein theoretisches Konzept und zugleich ein Modell – in dem sowohl die Akteurinnen selbst als auch die zwischen ihnen verlaufenden Interaktionen zu Subjekten und Objekten im Seminar-Raum werden. Diese Konzeption der kulturbewussten Arbeit im heterogenen akademischen Lehrbetrieb leite ich aus den dargestellten theoretischen Ansätzen, die ich auf diese Frage hin untersucht habe, ab. Angelehnt an die Darstellung der Situation im zeitgenössischen akademischen Lehrbetrieb in Deutschland wären zunächst die in den Erziehungswissenschaften, bezogen auf den vielfältigen schulischen Kontext, diskutierten Fragen der Gleichheit und Emanzipation anzuführen, weil sie in Verbindung mit dem Umgang mit Differenzen stehen. So positiv Gleichheit und Emanzipation allgemein konnotiert werden, so ambivalent ist der Umgang mit der 1 Studierende und Lehrende.

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Gleichheit – gerade in der Bildung und in der akademischen Lehre. Beide Kategorien beinhalten eine Forderung nach gleicher Behandlung und Anerkennung von Individual- und Kollektivrechten, worin die positive Konnotation besteht. Beim näheren Hinsehen kann Gleichheit eine Assimilation mit einer hegemonialen Struktur, und Emanzipation einen Verzicht auf individuelle Distinktionen mit sich bringen, wenn sie nicht als Emanzipation von, sondern Emanzipation zu etwas verstanden wird. Gleichheit und Emanzipation können zur Entwertung des Anderen führen.2 Entscheidend, um dieser Gefahr im Kontext der Bildung und der akademischen Lehre zu entgehen, ist nach Annedore Prengel die Annahme, dass Emanzipation nicht automatisch Assimilation bedeutet und Differenz nicht sogleich mit Hierarchien in Verbindung zu bringen ist.3 Anknüpfend an diese Debatte schlägt Prengel im Rahmen ihres Konzeptes der Pädagogik der Vielfalt mehrere Thesen zu Differenzen vor, die auch für die transdifferente Lehre relevant sind. Da ist zunächst die Annahme, dass Differenzen nicht zur Legitimation von Hierarchien herangezogen werden sollen. Sie können vielmehr, worauf Bhabha hinweist, als offene Stellen für die Anknüpfung von Distinktionen Anderer betrachtet werden. Die diese Prozesse Moderierenden sollen bewusst auf Symmetrie, Polarität oder Komplementarität verzichten, denn diese Herangehensweisen verfestigen einen hierarchischen Charakter von Differenzen. Auflösung von Hierarchien sei, so Prengel, die sich dabei auf Wolfgang Welsch stützt, eine Bedingung der kulturbewussten didaktischen Arbeit, die alle Differenzen in ihrer Distinktion und Interaktion betrachte, aber nicht werte.4 Die Erziehungswissenschaft versucht seit Längerem, sowohl Oppositionen als auch Hierarchisierung zu vermeiden, deren Gefahren sie erkannt hat. Es könne nämlich, so Prengel, eine »Symmetrie des Spiegelbildes« entstehen, in der bestimmte, im Prinzip aber austauschbare Distinktionen in Opposition zueinander gebracht werden. Die Symmetrie des Spiegelbildes ist dabei insofern verzerrt, als die eine Seite gesetzt und die andere abgeleitet und als inferiore dieser unter-stellt wird. Komplementbildungen gehen in dieser Polarisierung häufig über in Komparativbildungen, die spiegelbildliche Reproduktion des Selben wechselt in ein Mehr oder Weniger des Selben.5 Differenzen werden im Prengels Konzept in ihrer Pluralität erfasst. ›Pluralität‹ erlaubt in Prengels Verständnis die Wahrnehmung der Heterogenität verschiedener 2 Vgl. Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden. S. 181. 3 Vgl. ebd. 4 Vgl. Prengel, S. 101. Vgl. auch Welsch, Wolfgang (1993): Unsere postmoderne Moderne. Berlin. S. 5. Welschs Perspektive ist allerdings eher auf Phänomene des ›pluralen‹ Mit- und Nebeneinanders bezogen, wobei er die Relevanz von Diskursen und Narrationen in Frage stellt. 5 Prengel, S. 101.

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Distinktionen innerhalb von Geschlechtern, Ethnien, Gemeinschaften, Kreisen von Personen mit Behinderungen etc. Die Autorin sieht Ansätze der Pluralität sowohl in den interpersonellen Interaktionen als auch in Interaktionen verschiedener Elemente, aus denen ein Individuum besteht: Die Differenzperspektive öffnet den Blick auf die Vielfalt zwischen Einzelpersonen sowie auf die innerpsychische und somatische Heterogenität verschiedener Persönlichkeitsanteile. Pluralitätstheoretisch stehen Wertschätzung von Individualität und kollektiver Zugehörigkeit nicht im Widerspruch, sie entstehen lediglich durch verschiedene ›Brennweiten‹ des Wahrnehmungsfokus.6 Damit sind die Perspektiven gemeint, die aus der Situierung eines Individuums in seinen kulturellen Konstellationen resultieren. Das ist insofern von Bedeutung, weil dann nicht mehr von Kultur und Kulturzugehörigkeit gesprochen wird, sondern von wechselnden Perspektiven und wechselnden Fokussierungen auf Konstellationen. Dieses Verständnis von Pluralität ist eine der Ausgangsvoraussetzungen für die transdifferente Lehre. Aus den oben aufgeführten Überlegungen leitet Prengel das Konzept der Pädagogik der Vielfalt ab. Das Konzept basiert auf Grundsätzen wie ›Selbstachtung und Anerkennung der Anderen‹, ›Entwicklungen zwischen Verschiedenen‹, ›Innerpsychische Heterogenität‹, ›Prozesshaftigkeit‹, ›Didaktik des offenen Unterrichts‹.7 Dies zeigt Parallelen zur Spirale der interkulturellen Kompetenz nach Deardorff8 und bestätigt, dass die Konzeptionen der prozessual verstandenen interkulturellen Kompetenz und der Pädagogik der Vielfalt komplementär betrachtet werden können. Auch das Konzept der transdifferenten Lehre nimmt die aufgeführten Grundsätze auf. Das Konzept von Prengel bestätigt zudem, dass meine auf Vielfalt eingehende, transdifferente Herangehensweise in der Arbeit mit heterogenen Gruppen pädagogisch sinnvoll ist. Es bestätigt auch, dass das, was bereits an den deutschen Schulen begonnen wird, an den Universitäten fortgesetzt werden kann. Auf der Ebene der Operationalisierung entsteht sodann die Frage nach den Spielregeln. Für das Konzept der Pädagogik der Vielfalt schlägt Prengel vor, Regeln, die von Wertehierarchien der einzelnen Akteurinnen im Klassenraum entkoppelt werden, temporär für diesen Raum als geltend zu erklären. Es würden Spielregeln gebraucht, die für alle die gleiche Gültigkeit haben.9 Diese Verfahrensweise 6 Ebd., S. 182. 7 Ebd., S. 185. 8 Vgl. Bertelsmann Stiftung (2006): Interkulturelle Kompetenz – Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts? Thesenpapier der Bertelsmann Stiftung auf Basis der Interkulturellen-KompetenzModelle von Dr. Darla K. Deardorff. www.jugendpolitikineuropa.de/downloads/4-20-2300/ bertelsmann_intkomp.pdf [02.10.2018]. 9 Vgl. Prengel, S. 180.

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ist nicht einfach umzusetzen. Die erwähnte Situierung im individuellen kulturellen Gefüge wird dadurch erneut sichtbar und ein temporäres Verlassen der Situierung ist durch individuelle Bewusstmachung dieser Situierung bedingt, sowie durch die Bereitschaft, sie zu verlassen. Im Gegensatz zur Pädagogik hat die Lehre an zeitgenössischen Hochschulen keinen expliziten erzieherischen Auftrag, obgleich sie universellen (westlich-kulturellen) Werten und ethischen Normen verpflichtet ist. Sie kann sich aber in ihrer didaktischen Arbeit nicht auf Werte beziehen, sondern muss andere Wege suchen, der Vielfalt bewusst, sensitiv und wertungsneutral zugleich zu begegnen. »Spielregel« ist dann die Entkoppelung vom normierenden System der Standards und Kanons eines stabilen Denkkollektivs. So wie die Pädagogik der Vielfalt die WertNorm-Systeme zugunsten eigens erstellter Regeln verlässt, so kann die transdifferente Lehre die Standard-Systeme infrage stellen und eigene, kontingente Regeln der Arbeit im kulturell heterogenen Seminar-Raum mit allen Beteiligten aushandeln.

Nichtverstehen und emotionale Erfahrung Nichtverstehen und emotionale Erfahrung bilden den Ausgangspunkt zur Beschreibung der Prozesse von Differenz-Interaktionen in der transdifferenten Lehre.10 Nichtverstehen und emotionale Erfahrung sind prozessual aufzufassen, verlaufen komplex und individuell. Ihre Analyse gibt Aufschlüsse über die Prozesse der Wissens- und Erkenntnisproduktion in transdifferenter Lehre. Das Nichtverstehen wird, im Gegensatz zum Verstehen, in der Regel negativ konnotiert. Nichtverstehen sollte nach Möglichkeit in didaktischer Arbeit geklärt und beseitigt werden, das Verstehen wird als positives Ergebnis und Ziel der Vermittlung (im Sinne des Transfers von Wissen) gesehen. Friedrich D. E. Schleiermacher erkannte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass das Verstehen gar nicht der Regelfall menschlicher Kommunikation sei, sondern das Nichtverstehen oder Missverstehen.11 Das Verstehen sei eine Kunst, die nach bestimmten Regeln und aufgrund der Kenntnis dieser Regeln zu erlernen gilt. Heute würde man sagen, nach den Regeln der Kommunikation. So ist eine Kommunikationssituation ein Beleg für Schleiermachers Auffassung. Erst nach Einsatz des Wissens, wie ein Individuum eine zunächst nicht verständliche Situation gestalten und wie es sich in dem Gefüge von Nichtverstandenem verhalten und positionieren sollte, kann im kulturell heterogenen Seminarraum Verstehen aufkom10 Beide Phänomene werden von der Psychologie untersucht, in meiner kulturwissenschaftlichen Betrachtung verwende ich sie im Sinne der Subjektiven Theorien. 11 Vgl. Schleiermacher, Friedrich D. E. (1977): Hermeneutik und Kritik [1838]. Frankfurt a.M. S. 80f.

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men. Wilhelm von Humboldt, Zeitgenosse Schleiermachers, begegnete dem Phänomen des Nichtverstehens, indem er Bildung als eine Dialektik von Entfernung und Rückkehr aus der Entfernung betrachtete.12 Hier sehe ich eine Parallele zum Prozess, der vom Nichtverstehen zum Verstehen führt. Verstehen ist kein Aufheben von Nichtverstehen, so wie eine Rückkehr aus der Entfremdung nicht durch das Aufheben dessen, was als »fremd« empfunden wurde, möglich ist. Verstehen und Rückkehr sind durch das kognitive Erfassen und emotionale Erfahrung möglich und die Rückkehr führt nicht zum vorherigen Stand des Verstehens zurück. Unabhängig davon, wie groß der Zuwachs an Wissen und Erfahrung infolge dieses Prozesses ist, bewirkt der Prozess eine Veränderung. Verstehen kann gerade in einer heterogenen Gruppe nicht durch Gemeinsamkeiten hergestellt werden. Selbst gemeinsame Praktiken, die eine Voraussetzung für Kommunikation sind, respektive die erwünschten Reaktionen hervorrufen können, können das Verstehen nicht gewährleisten.13 Nichtverstehen ist auf zwei Ebenen zu sehen – auf der Ebene des Verstehens eines im Seminar behandelten Problems, was als materielles Verstehen bezeichnet werden kann, und auf der Ebene des Verstehens der Beteiligten untereinander, was kommunikatives Verstehen genannt werden kann. Das Nichtverstehen ergibt sich daraus, dass mehrere Diskurse bzw. Wissensordnungen, oder Denkstile und Denkkollektive unabhängig voneinander existieren und daraus, dass, wie bereits beschrieben, das momentane Denkkollektiv, eine Seminargruppe, eben aus Mitgliedern, die verschiedenen Denkstilen und Wissensordnungen angehören, besteht. Ein Grundanliegen interkultureller Arbeit im herkömmlichen Sinne ist Lösungsfindung für Konflikte, dadurch, dass ihre Ursachen erforscht und Vorschläge erarbeitet werden. Mein Anliegen ist zu zeigen, dass Konflikt nicht nur etwas Negatives ist, was aufzulösen ist, sondern Potentiale offenlegen kann, die in der transdifferenten Lehre sichtbar und produktiv gemacht werden können. Die transdifferente Lehre richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Phase vor der Konsensfindung. Diese Phase macht die Herausforderung bewusst, reflexiv mit den eigenen Grenzen, Begrenzungen und Zwängen und mit denen der anderen an der Situation Beteiligten umzugehen. Anstelle von Streben nach Gemeinsamkeiten und nach Verstehen sucht die transdifferente Lehre also nach Räumen für den gesamten Prozess des Verstehens, welcher Phasen des Nichtverstehens und von Konflikten, der Unsicherheit oder des Missverstehens beinhaltet und behandelt. 12 Vgl. Benner, Dietrich (1995): Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine Problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. Weinheim/München. S. 107. 13 Vgl. Kogge, Werner (2002): Die Grenzen des Verstehens. Kultur, Differenz, Diskretion. Weilerswist. S. 16.

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Das verbildlicht eine Dialog-Situation, die nach Werner Kogge eine Ordnung darstellt, in die die Beteiligten hineintreten, nachdem sie aus ihrer eigenen Ordnung hinausgetreten sind.14 Sich von der eigenen Ordnung zu lösen sei eine Basis für die Begegnung im Dialog. Diese Lösung aus der eigenen Situierung und kulturellen Fokussierung betrachte ich in der transdifferenten Lehre als idealtypischen Ausgangspunkt, der den eigentlichen Seminar-Raum im Sinne der transdifferenten Lehre schafft. Zwar schreibt Kogge: »Wer für den Dialog offen ist, muß nicht für den Anderen offen sein, sondern lediglich für dieses Dritte, für das Medium der Verhandlung.«15 Selbst wenn alle Beteiligten des Seminar-Raumes dieses SichLösen anstreben, zeigt aber die Praxis, dass dieses auf der kognitiven Ebene kaum möglich ist. Die meisten Bezüge und Konstellationen, über die die Beteiligten verfügen, werden auf ihre Situierung, ihre Enkulturation zurückgeführt. Die Lösung aus dem kulturellen Kontext, auch wenn sie temporär geschieht, kann als ein Bruch in der Konstellation und persönlichen Kontinuität erlebt werden. Diese Erfahrung soll in diesem Zusammenhang im Seminar-Raum thematisiert werden. Sie erweckt das Gefühl der Unsicherheit. Das kann ein positives Gefühl sein. Unsicherheit kann als der Moment der Öffnung für das Andere gesehen werden, wenn nach Anhaltspunkten für die Klärung der Unsicherheit gesucht wird. Das ist zugleich ein gefährlicher Moment, es kann nämlich auch geschehen, dass sich die Beteiligten aus Unsicherheit allem Anderen gegenüber verschließen. Eine bewusste Arbeit mit an Differenzen orientierter Moderation steuert die Richtung, in die der Moment der Unsicherheit umschlägt. Hier liegt der Unterschied zwischen der interkulturellen Kommunikation und der transdifferenten Lehre. Die transdifferente Lehre verlangt von den Beteiligten nicht, kognitiv oder normativ nach Kompromissen zu suchen. Sie geht, so »unwissenschaftlich« es im ersten Moment klingen mag, den Weg der emotionalen Erfahrung. Den Dialog-Raum in der transdifferenten Lehre schafft ein Medium, ein fiktionaler Text, der hier argumentativ eingesetzt wird, und seine Korrespondenz mit der Erfahrung der Lesenden. Die Lektüre des Textes bildet für alle Beteiligten eine Gelegenheit, gleichzeitig ihre Positionen zu verlassen und sich in einen imaginären Raum zu begeben, in dem sich Differenzen und Gemeinsamkeiten neu positionieren, ohne einen Konsens finden zu müssen. Während der Lektüre und während ihrer Besprechung verlassen die Akteurinnen idealtypisch ihre wie auch immer definierte kulturelle Zugehörigkeit für einen Moment, bringen aber ihren kulturellen Kontext, und wenn nur fragmentarisch, in den Raum ein. Sie fühlen sich sicher und geborgen und können offen und produktiv miteinander arbeiten. Allein das Verlassen des eigenen kulturellen Mainstreams 14 Hier sei an den ›Dialog-Konsens‹ der Hermeneutik und der Subjektiven Theorien erinnert. 15 Kogge, S. 339f.

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ist für manche Beteiligte schon ein Raum, die eigenen, bis dahin manchmal unbewussten Sehnsüchte zu realisieren und zu reflektieren. Das ist auch der erwähnte Moment, in dem wahrgenommen wird, wie tief die Enkulturation wirkt und wie schwer es ist, sie zu verlassen, sich davon zu lösen. Dass so konzipierter imaginärer Raum möglich ist, bestätigt Wilfred Bion,16 der in der psychoanalytischen Gruppenarbeit Mechanismen beobachtete, die relevant für die Arbeit nach dem Konzept der transdifferenten Lehre sein können. Als eine Grundlage der Verwandlung, die von Nichtverstehen zum Verstehen führt, betrachtet Bion die individuelle, emotionale Erfahrung. Erfahrung schaffe Beziehungen zwischen etwas, das noch nicht realisiert wurde, und der Realisierung, dass es so etwas gibt. Die Voraussetzung für die Realisierung/Feststellung sei, sich der emotionalen Erfahrung bewusst zu werden und aus ihr eine Aussage über dieses Etwas tätigen zu können. Wenn diese Erfahrung dann auch andere Erfahrungen repräsentieren kann, die zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt gewesen sind, dann entsteht ein Moment, den Bion ›Zutrauen‹17 nennt. Das Beispiel, sich eigener Sehnsüchte bewusst zu werden, veranschaulicht diesen Prozess. Eine am Seminar-Raum beteiligte Person realisiert ihre bis dahin unbewusste Sehnsucht (das Etwas) und beginnt, sich damit zu beschäftigen. Dies muss nicht mehr im Seminar-Raum geschehen, sondern kann ein individuelles Anliegen sein. Im Seminar-Raum kann sich diese Bewusstmachung des Etwas im Verlauf der Interpretation artikulieren und als solche sogar »getarnt« werden. Zur Manifestierung der Sehnsucht kann es dadurch kommen, dass im Seminar-Raum etwas geäußert wurde, was in der kulturellen Situierung dieses Individuums keinen Platz oder keinen Bezug hatte. Das Verlassen der Situierung (so schwer dies ist), führt also zur Bewusstmachung. Diese Bewusstmachung kann durch das Individuum weiterverarbeitet werden, indem es Repräsentationen herstellt. Das Herstellen einer oder mehrerer Repräsentationen mithilfe emotionaler Erfahrung lässt dieses Etwas konkret werden,18 es ist, nach Dietrich Krusche, eine Aktualisierung von Abgespeichertem,19 und führt in der Konsequenz dazu, dass der Zustand des Nichtwissens in einen kontingenten Zustand des Wissens verwandelt wird. Ohne den Zustand des Nichtwissens und der Bemühungen, ihn zu überwinden, würde es nicht zum Zustand des Wissens kommen. So stehen auch Nichtwissen und Wissen im Dialog, in einem dynamischen Verhältnis. Einen Raum für den so verstandenen Dialog können universitäre momentane Denkkollektive schaffen, vorausgesetzt, sie zielen nicht nur auf einen quantitativen 16 17 18 19

Mit Verweis auf Bion, Wilfred R. (1990): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a.M. Ebd., S. 99. Vgl. ebd. Krusche, Dietrich (1995): Leseerfahrung und Lesergespräch. München. S. 32.

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Wissenserwerb und das Verstehen in einem vorgegebenen Sinne. Der SeminarRaum kann einen Schutz-Raum bieten für einen Dialog, der zwar kulturell bewusst, jedoch nicht konfliktfrei verläuft. Es treffen verschiedene Ordnungen und Diskurse aufeinander, was dem Seminar-Raum Dynamik verleiht und durchaus Konflikte erzeugt. Die transdifferente Lehre richtet die Aufmerksamkeit auf Dissens, zwischen dem Erscheinen und dem Lösen des Zweifelns, zwischen der Feststellung des Etwas (Sehnsucht) und der Herstellung einer Repräsentation. Das ist der produktive Moment, in dem sich Differenzen neu ordnen, neuartige Konfigurationen von Gedanken entstehen, was einen weiteren Schritt im Prozess Wissensproduktion darstellt. Im Sinne des Wohlbefindens der am Seminar-Raum Beteiligten ist es angemessen, zunächst das eigene Vorverständnis und die eigenen Handlungsmuster einzusetzen.20 Sie können zu Beginn des Prozesses der Wissensproduktion aus einem Zustand des Nichtverstehens heraus identifiziert werden. Es ist die Aufgabe der moderierenden Person, die Beteiligten dafür zu sensibilisieren. Die eigentliche Arbeit mit Differenzen kann erst beginnen, wenn sie identifiziert werden. Wenn die Beteiligten dann bereit sind, die eigenen Handlungsmuster zu verlassen, begeben sie sich in den Prozess des Verstehens. Das Verstehen auf beiden Ebenen, der materiellen und der kommunikativen, wirkt nämlich zusammen mit und in einer Ordnung, in der etwas verstanden wird. Dies heißt im Umkehrschluss, dass das Nichtverstehen einen Zustand bedeutet, in dem eine Ordnung oder, nach Schleiermacher, ein Regelwerk noch nicht greift. Für die Situation im Seminar-Raum ist noch eine andere Konstruktion denkbar, nämlich das (moderierte) Herauslösen aus einer Ordnung, vorrangig aus der eigenen Ordnung und ein bewusstes Eintreten in den Zustand des Nichtverstehens. Das Nichtverstehen wird zu einem Wert erklärt, der erst das bewusste Verstehen sogar des eigenen kulturell Selbstverständlichen ermöglicht. Das kann, wie gesagt, mithilfe einer abstrakten Ebene geschehen, auf der sich alle Beteiligten gleichermaßen geborgen und sicher und offen für emotionale Erfahrung fühlen. Eine solche Ebene, wie bereits angedeutet, stellt im Konzept der transdifferenten Lehre fiktionale Literatur dar. Sie erlaubt, den Denkstil des jeweils individuellen stabilen Denkkollektivs imaginativ durch Interpretation zu verlassen. Ein Denkstil ist eine Art unsichtbares Gerüst, das einem Kollektiv, aber auch einem Individuum einen sicheren Rahmen bietet. In einem fremden Denkkollektiv ist der Rahmen nicht nur sprachlich zu bewältigen, sondern bildet auch die Hauptschwierigkeit bei der Wissensvermittlung. Der Vermittlungsverlauf ist unter diesen Umständen nicht als Selektion bestimmter Möglichkeiten von vielen aus einem Pool (die aber nur für ein Mitglied des jeweiligen Denkkollektivs ungefähr nachvollziehbar sind) zu sehen, sondern als eine Suche in unbekannten Mustern 20 Vgl. Kogge, S. 337.

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und Verläufen, die als Regel – oder als Nichtregel – identifiziert oder interpretiert werden müssen. Wenn die Annahmen von Schleiermacher, Fleck und Kogge zusammengeführt werden, und das Verstehen, wie Kogge konstatiert, nur ein Intervall ist, das im Verlauf der Identifizierung von Mustern vorkommt,21 dann kommt nach einer Phase des Verstehens wieder eine Phase des Nichtverstehens. Für die kulturell bewusste Wissensvermittlung ist von Bedeutung, dass das Eintreten in einen Zustand des Nichtverstehens von den Mitgliedern des momentanen Denkkollektivs (des Seminar-Raumes) bewusst vollzogen wird. Dafür ist die erwähnte kulturbewusste und -sensible Moderation notwendig, die im Nachfolgenden näher erläutert wird. Die bewusste Begleitung der Intervalle in der transdifferenten Lehre schließt auch den Fall ein, dass Verstehen scheitern kann. Scheitern ist eine wichtige persönliche Erfahrung, besonders im kulturell heterogenen Kontext, und es wird in der transdifferenten Lehre, ähnlich wie das Nichtverstehen, als eine immer wiederkehrende, der Reflexion dienende Komponente des Wissensvermittlungsprozesses thematisiert. Ähnlich thematisiert werden das Nichtwissen und Nichtkennen. Beide Kategorien, wie das Scheitern, können der emotionalen Erfahrung als Ursache und Ergebnis oder Etappen in der Entwicklung des individuellen Wissens zugeschrieben werden. In den Gesprächen, die Studierende mit mir als Studienfachberaterin und Lehrende führen, thematisieren kulturell heterogene Studierende oft das Gefühl (emotionale Erfahrung), nichts zu wissen. Es geht dabei nicht um den sprachlichen Aspekt, sondern um das Gefühl, dass ein Thema oder ein Problem dem individuellen Vorwissen nicht zugeordnet werden kann, zu abstrakt ist, wodurch sich kein Anschluss an die Entwicklung von konstituiertem Wissen finden ließe. Das konstatiert auch Bion. In seinen Überlegungen zur Sinnerfassung sieht er eine Lösung darin, nach Repräsentationen zu suchen, die mit der eigenen Erfahrung übereinstimmen. Das schaffe, wie bereits erwähnt, Zutrauen: »Zutrauen ist eine Begleiterscheinung des Wissens, daß sich Korrelationen zwischen den Sinneserfahrungen feststellen lassen.«22 Um ähnliche Repräsentationen im Seminar-Raum zu finden, sind Gespräche und Diskussionen notwendig. In diesen Gesprächen wird das individuelle Vorwissen anderer Beteiligter abgerufen und gemeinsam diskutiert. Diskussionen bilden einen konstanten Teil der transdifferenten Lehre und ihre Moderation verlangt von den Dozierenden Kompetenzen, die im Folgenden vorgestellt werden.

21 Vgl. ebd., S. 286. 22 Bion, S. 99.

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Lehrende als Moderierende Die transdifferente Lehre verändert den herkömmlichen Seminar-Raum, er gilt nicht mehr als Macht-Raum. Die hierarchische Achse Lehrende–Studierende wird aufgehoben und die lehrende Person wird zur moderierenden Person. Die Moderation kann ebenso von studierenden Personen übernommen werden. Wie Samanta Gorzelniak schreibt, solle die Hierarchie, die sich aus dem institutionellen Rahmen und Traditionen ergebe, zu denen die Formen und Instrumente der Vermittlung gehören, mit jeder Gruppe diskutiert werden.23 Nur so können Machtstrukturen zumindest im Ansatz abgebaut werden. Das ist auch in meinen Augen eine der wichtigsten Voraussetzungen für transdifferente Lehre – im Seminar-Raum Machtstrukturen, Hierarchien, unmittelbar erlebte Differenzen zu thematisieren. »In den Seminaren halte ich für wichtig, dass die Studierenden [zu diesem Kollektiv sollten aber eben auch Lehrende gehören – A. B.] sich als Gruppe verstehen und solidarisch und basisdemokratisch, interessiert aneinander, den Verlauf des Semesters gestalten«24 , so Gorzelniak. Die Diskussion bedarf einer an Differenzen orientierten Moderation. Auch das ist eine Voraussetzung der transdifferenten Lehre. Das versetzt Lehrende in eine andere Rolle als Transferierende linearen Wissens an die Studierenden. Einen ähnlichen Vorschlag zur Positionierung von Lehrenden im akademischen Lehrbetrieb unterbreiten Paul Mecheril und Birte Klingler: »Eine Lehrende, die die Idee der Universität ernst nimmt, kann einem Studierenden Wissensaussagen nicht schlicht beibringen, sondern nur offerieren.«25 Zweifelsohne habe die dozierende Person per Definition als Hochschullehrende einen Fachwissensvorsprung gegenüber den Studierenden. Dabei bleibe dieses Wissen der Konkurrenz anderer Wissensquellen ausgesetzt. Mecheril und Klingler schreiben in Anlehnung an Rainer Kokemohr, dass Wissen thematisch werde, indem es in konkurrierenden Wissensdiskursen manifest und behandelbar wird, sich in praktischen oder theoretischen Handlungszusammenhängen bewährt oder nicht.26 Dies kann für eine dozierende 23 Vgl. Gorzelniak, Samanta (2016): Ein Stolpern in einer Welt der Gleichen: Über die Konfrontation mit Machtstrukturen in der akademischen Lehre. In: Antonina Balfanz und Bożena Chołuj (Hg.): Interkulturalität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen. Frankfurt (Oder)/Słubice. S. 26-35, hier S. 31. https://opac.europa-uni.de/00/bvnr/ BV044351904 [07.03.2018]. 24 Ebd. 25 Mecheril, Paul/Klingler, Birte (2010): Universität als transgressive Lebensform. Anmerkungen, die gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse berücksichtigen. In: Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg und Claudia Machold: Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität. Bielefeld. S. 83-116, hier S. 87. 26 Vgl. ebd.

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Person, die selbst eine lineare Vermittlung von Wissen und nicht das Anbieten erfahren hat, problematisch sein. Da aber ihre Position im Seminarraum nicht mehr binär zu sehen ist, kann sie die eigenen Unsicherheiten, Zweifel und Nichtwissen in der Diskussion thematisieren. Auf diese Art und Weise arbeitet sie auch mit den eigenen Konflikten und produziert weiteres Wissen und Erkenntnis für sich. Außer Fachwissen benötigen Lehrende vor allem Moderations- und Vermittlungs-kompetenzen. Das, sowie ein Wissen-Anbieten statt -Beibringen, verschiebt die Position der Dozierenden von einer Wissensinstanz zu einem Senior-Mitglied der Gruppe. In dieser Rolle, um die Metapher fließenden Wassers zu bemühen, setzt die moderierende Person einen Fluss von Wissen und Erfahrungen in Bewegung und ist bedacht darauf, ihn nicht ausufern zu lassen und kulturell bewusst zur Mündung neuen Wissens und neuer Erkenntnis zu geleiten. Dietrich Krusche beschreibt diese Verschiebung aus Erfahrung, die er als Lehrender in literaturwissenschaftlichen Seminaren gemacht hat. Solange eine Lehrveranstaltung ein lineares, von oben nach unten ausgerichtetes und frontales Vortragen faktualen, durch Sekundärliteratur belegbaren Wissens sei, solange fühle sich der oder die Lehrende nur einseitig eingespannt.27 Wenn es aber zur Interaktion mit den Studierenden komme, in der es nicht nur um die »Rekonstruktion von Wissensbeständen«, sondern um Einbeziehung der Lehrenden als Mit-Lesende gehe, entstehe eine symmetrische Relation, in der ein Text gedeutet werden könne.28 So werde die Lehrende Initiatorin »eines Deutungsprozesses, der nur dann sinnvoll verläuft, wenn die anderen Teilnehmer [sic!] als Mit-und-Gegen-Subjekte, das heißt als Subjekte mit je eigenständiger Erfahrungsgeschichte daran beteiligt sind.«29 Von da an sei die lehrende Person zweiseitig eingespannt, also als Vermittelnde und als Aufnehmende von Wissen.30 Die Rolle der lehrenden Person beinhaltet also Fachkompetenz, didaktische Kompetenz in der Arbeit mit heterogenen Gruppen, moderierende, vermittelnde Kompetenz sowie Kompetenzen aus der Konfliktmediation. Eine solche Person ist – um beim Gegenstand der Untersuchung zu bleiben – als Literaturwissenschaftlerin mit entsprechenden fachlichen Kompetenzen und Wissen ausgestattet und begleitet so mit den literaturwissenschaftlichen Arbeitsmethoden die Studierenden in ihrem Studium. Wie bereits erwähnt handelt es sich nicht um das Wissen der lehrenden Person, das diese an die Teilnehmenden des Seminars vermitteln würde (diese reproduzieren ließe), sondern um ein Wissen, das die Studierenden infolge kollektiver Austauschprozesse individuell erwerben. 27 28 29 30

Vgl. Krusche, S. 92. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 93.

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Zu dieser Verschiebung der Position lehrender Person gehört nach Krusche auch ein Zulassen von Emotionen.31 Literaturwissenschaftlerinnen behandeln literarische Texte als Objekte der Forschung, ohne sich in die Rolle des Lesers, der Leserin hineinzuversetzen, also zuzulassen, dass der Text auch auf sie als ein Kunstwerk wirkt. Eine solche Stellung der nüchternen Forschenden wird von der Wissenschaftskultur verlangt, nach der Wissenschaft valide und objektiv sein soll. Krusche schreibt, sich auf das ästhetische Erlebnis eines literarischen Textes als ein Kunstwerk einzulassen, Emotionen zuzulassen, erscheine als eine Gefährdung der Berufsrolle und eine Befürchtung, die innere Distanz zum Forschungsobjekt zu verlieren. Doch das Zulassen der Textwirkung sei »notwendig zur Gewinnung einer jeweils anderen Erkenntnis der Welt.«32 Indem die lehrende Person sich als Leserin eines Textes versteht, ist sie imstande, ihre dominierende Position in der Seminar-Gruppe zu verlassen. Dieses Rollenverständnis lehrender Personen an den Hochschulen setzt sich allmählich durch. Das ist unter anderem daran zu erkennen, dass klassische Vorlesungen in den Curricula zugunsten von Seminaren zurückgehen und Ansätze sowie Formate des forschenden oder kooperativen Lernens, wie Workshops, Übungen, Projekte, Planspiele, Peertutoring, zunehmend im Lehrbetrieb angewandt werden.

Der transdifferente Seminar-Raum Der Seminar-Raum ist relational betrachtet eine Anordnung, die aus Elementen besteht, die sich in Beziehungen (Platzierungen) zueinander befinden. Es ist auch ein Raum, in dem sich das Verstehen und das Nichtverstehen in Relationen zueinander befinden. Die Aufgabe der Teilnehmenden und vor allem der Moderierenden ist zu beobachten, in welchen Konstellationen sie vorkommen. Dies gibt dem Seminar-Raum einen momentanen Charakter. Zu beobachten sind darin die strukturelle Dimension sowie die Handlungsdimension, die den transdifferenten Prozess mitgestalten. Denn dieser Raum konstituiert sich zwischen verschiedenen, oft kontrovers zueinanderstehenden Positionierungen. Er ist eine Art Container zwischen den Interagierenden, ein Raum für Aufeinandertreffen und Infragestellen von Differenzen, die in immer neuen Zusammensetzungen vorkommen. Es werden dabei Kategorien, wie z.B. die binäre Opposition ›Sinn vs. Unsinn‹, bewusst ausgeschlossenen, aber nicht gelöscht. Sie existieren weiter, werden jedoch nicht aufgegriffen, solange sich die Studierenden nicht dort zusammengefunden haben, 31 Vgl. ebd., S. 30. 32 Ebd.

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von wo aus sie für die geplante Wissensvermittlung abzuholen wären. Das verdeutlicht die Kontingenz der Transdifferenz. Sie ist eine der Bedingungen für die permanente Produktion/Konstruktion von Wissen, bei der die Vermittlung im Sinne von Wierlacher eine wichtige Rolle spielt, solange sie kein Kanonwissen reproduziert. Der Rahmen hat in dieser Betrachtungsweise eine Funktion der Sinngebung, die das bereits erwähnte Verhandlungsergebnis bezüglich der angewandten Regeln sowie der Orientierung darstellt.33 Als ein solcher Rahmen im Seminar-Raum gelten, wie erwähnt, wissenschaftliche Standards, Kanons oder Curricula – der Denkzwang eines stabilen Denkkollektivs. In der transdifferenten Lehre sollen Differenzen effektiv interagieren, deswegen ist zu überlegen, ob dieser Denkzwang temporär aufgehoben werden kann. Dies würde zwar eine Destandardisierung von Lernergebnissen, aber die Möglichkeit bedeuten, individuelle Lernziele zu setzen, wie Gabi Reinmann schreibt.34 In der Folge würde man sich, so die Autorin, von der Vorstellung verabschieden müssen, alle Studierenden eines Studiengangs hätten weitgehend das Gleiche zu lernen und zu leisten. Dies sei ein Paradigmenwechsel und dürfte mit den üblichen Studien- und Prüfungsordnungen und den auf Standards ausgerichteten Modulhandbüchern der Bologna-Studiengänge schwer vereinbar sein.35 Abgesehen von den realen Umständen und Einwänden: Ein momentanes Denkkollektiv, das Nichtverstehen und Dissens, zugleich aber Erkennen und Dialog praktiziert, ist in der transdifferenten Lehre möglich. Es kann zwar auf den ersten Blick als Luxus erscheinen, Zeit für Phasen des Nichtverstehens und Dissenses aufzuwenden, zumal das stabile Denkkollektiv, die Institution Universität, ihre Studierenden so schnell wie möglich zum Abschluss bringen will und nach messbaren Ergebnissen verlangt. Der oben beschriebene Seminar-Raum lebt dagegen von langsamer Annährung, Kontingenz und Erkenntnissen, die erst in ihm entstehen. Die Lösung liegt darin, was vor allem von den Geisteswissenschaften praktiziert wird, im universitären Bereich beide Aspekte aneinanderzurücken, und sie füreinander zu öffnen. Ein Beispiel dafür kann der Umgang mit den Ambivalenzen der Kompetenzvermittlung im Bereich der Literaturdidaktik geben, wie Iris Winkler schreibt. Die Literaturdidaktik steht nach Winkler zwischen den Stühlen der Vermittlung von Lese- und Interpretationskompetenz, die messbar 33 Vgl. Kalscheuer, Britta (2005): Die raum-zeitliche Ordnung des Transdifferenten. In: Lars AllolioNäcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M. S. 68-85, hier S. 78. 34 Vgl. Reinmann, Gabi (2015): Heterogenität und forschendes Lernen: Hochschuldidaktische Möglichkeiten und Grenzen. In: Benjamin Klages, Marion Bonillo, Stefan Reinders und Axel Bohmeyer (Hg.): Gestaltungsraum Hochschullehre. Potenziale nicht-traditionell Studierender nutzen. Opladen. S. 121-137, hier S. 133. URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-113981 [27.05.2018]. 35 Vgl. ebd.

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und überprüfbar zu sein habe, und des Entwickelns der kreativen Kompetenz, sich in den imaginären Raum begeben zu können und sich in ihm zu bewegen.36

Seminar-Gemeinschaft In den vorhergehenden Überlegungen habe ich betont, dass dem Phänomen der kulturellen Vielfalt an zeitgenössischen Universitäten nicht allein mit interkultureller Kompetenz begegnet werden kann, weil die Kompetenz, selbst in ihrer Prozessualität betrachtet, durch Verortung in der Praxis eingeschränkt ist. Obgleich interkulturelle Kompetenz der Ausgangspunkt für didaktische Arbeit im heterogenen Lehrbetrieb ist. Im Laufe des Erwerbs interkultureller Kompetenz werden die Akteurinnen durch Dekonstruktion und Analyse von Differenzen für Vielfalt und Andersheit sensibilisiert. Bei der Entwicklung interkultureller Kompetenz bemüht man sich darum, Strategien für eine Begegnung mit Anderem, Unbekanntem zu erarbeiten. Doch die im zeitgenössischen Lehrbetrieb stattfindenden Begegnungen verlaufen oft nicht nach den eingeübten Mustern. Arbeiten und Lernen im interkulturellen Lehrbetrieb bedeutet intensive Zusammenarbeit über einen längeren Zeitraum hinweg. Sicher kann ein solcher Zeitraum mit einem interkulturellen Kompetenzset überbrückt werden, aber das Ziel der Internationalisierung von Universitäten ist keine »Überbrückung« der Begegnung mit Anderem, nach der die Akteurinnen zu ihrer gewohnten kulturellen Ordnung wieder zurückkehren, sondern nachhaltige Erfahrung und Erkenntnis, die sowohl eine individuelle Entwicklung als auch eine Entwicklung der Institution prägt und beeinflusst. Brigitta Godel und Rudolf Camerer bestätigen diese Erfahrung, indem sie die interkulturelle Kompetenz, die sie – wie es auch Deardorff37 in ihrer Spirale der interkulturellen Kompetenz benennt – als eine ›Kombination von Wissen, Wollen und Können‹ beschreiben. Nach Godel und Camerer ist ein weiterer Bestandteil der interkulturellen Kompetenz die Fähigkeit zu vertrauensvoller Gestaltung einer Begegnung kulturell verschiedener Akteurinnen.38 Die Autorinnen beschäftigen sich ebenfalls mit der Frage kultureller Vielfalt in der Lehre sowie der Frage, 36 Winkler, Iris (2012): Wozu Literaturdidaktik? Perspektiven auf eine Disziplin zwischen den Stühlen. Oldenburg. www. http://oops.uni-oldenburg.de/1502/1/ur200.pdf [27.11.2017]. 37 Vgl. Bertelsmann Stiftung. 38 Vgl. Camerer, Rudolf/Godel, Brigitta (2016): Multikulturelle Lerngruppen & Communities of Practice. In: Antonina Balfanz und Bożena Chołuj (Hg.): Interkulturalität und Wissensvermittlung. Didaktischer Umgang mit Differenzen. Frankfurt (Oder)/Słubice. S. 81-90, hier S. 88. https://opac.europa-uni.de/00/bvnr/ BV044351904 [08.03.2018].

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wie den differenten Fähigkeiten und dem heterogenen Vorwissen der Studierenden zu begegnen ist. Sie plädieren für die Anwendung des von Etienne und Beverly Wenger-Trayner entworfenen Konzeptes der ›communities of practice‹.39 Das Konzept resultiert, ähnlich wie die Pädagogik der Vielfalt, aus langjähriger Erfahrung der Arbeit mit kulturell heterogenen Gruppen und bezieht sich auf verschiedene Kollektive – im beruflichen Leben, in der Schule sowie an der Universität. Als community of practice wird eine Arbeitsgruppe verstanden, die zu einem bestimmten Zweck zusammenkommt und aus kulturell unterschiedlich geprägten Mitgliedern40 besteht. Was sie also besonders auszeichnet, sei der gemeinsame Schwerpunkt bei der Bildung einer solchen Gemeinschaft. Im Kontext der Lehre sei dies der Lehrund Lernprozess.41 Das kann ein Seminar sein, oder z.B. eine Gruppe, die ein bestimmtes Fremdsprachenniveau erreichen will. Nach Camerer und Godel kann eine so verstandene community mit einer Diskursgemeinschaft verglichen werden. Der Vergleich mit einem momentanen Denkkollektiv nach Fleck liegt ebenso nahe, wobei die Gemeinschaft meistens für die Dauer eines oder zweier Semester zusammenkommt. Camerer und Godel betonen: Außer der thematischen Arbeit im Rahmen akademischer Wissensvermittlung und -verarbeitung sollten auch die kulturellen Vorverständnisse und persönlichen Erfahrungen der Beteiligten (Studierenden) thematisiert werden. Ziel ist ein vertieftes gegenseitiges Kennenlernen, was zu einem erhöhten Interesse aneinander sowie zur eigenen Identitätsfindung in der Lerngruppe beitragen kann.42 Aus den Erfahrungen Camerers und Godels, die auch meine eigenen sind, geht hervor, dass ein vertrauensvoller Umgang miteinander zur erhöhten Aufgeschlossenheit gegenüber dem Anderen führt und die Bereitschaft, kulturell bedingte Sichtweisen zu ergründen, zu hinterfragen und zu erweitern begünstigt. In einer offen und vertrauensvoll miteinander umgehenden Gemeinschaft (was eine vertiefte Diskussion über Konflikte und ggf. kultursensible Moderation von aufkommenden Konflikten einschließt) entfalte sich, so Camerer und Godel, eine Art kollektiver Intelligenz, die sich in individuelles Wissen verwandeln könne.43 Sowohl ein vertrauensvoller Umgang miteinander als auch ein scheinbar so simpler Vorgang der Einigung auf eine oder mehrere Varianten der Verwendung von Sprachen, die von den Teilnehmenden einer community gesprochen werden, gehören nicht zu erklärten Zielen der Hochschuldidaktik. Die Hochschuldidaktik 39 Vgl. Wenger-Trayner, Etienne und Beverly (2015): Communities of practice. A brief introduction. http://wenger-trayner.com/wp-content/uploads/2015/04/07-Brief-introduction-to-commu nities-of-practice.pdf [08.03.2018]. 40 Wenger sowie Camerer/Godel sprechen von multikulturellen Mitgliedern. 41 Vgl. Camerer/Godel, S. 86. 42 Camerer/Godel, S. 86. 43 Ebd. S. 86f.

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konzentriert sich eher auf Digitalisierung, E-Learning und Effektivität im Studium, also mitunter auf kürzere Studienzeiten, vor allem an großen Universitäten.44 Das produziert negative Folgen, weil sich Studierende selbst in der Kommunikation mit Akademikerinnen nicht als Individuen erfahren können. Wenn dann noch die kulturelle, oft untereinander konfligierende Heterogenität nicht thematisiert und nicht moderiert wird, ist die Gefahr der Inakzeptanz des Anderen gegeben. Ein in seiner Einmaligkeit nicht beachtetes Individuum ist nicht bereit, Anderes zu akzeptieren. Darum halte ich es auch für die Hochschuldidaktik wichtig – was Camerers/Godels sowie meine eigene Erfahrung an einer kleinen Universität bestätigen – der Gruppenbildung, der Gruppendynamik und dem individuellen Umgang mit und unter den Teilnehmenden Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. Das bringt langfristig für die Wissens- und Erkenntnisproduktion mehr als in einer großen, aus anonymen Teilnehmenden bestehenden Gruppe ein Stoffpensum »durchzuziehen« und abzufragen. Die communities of practice sollen – und darin sehe ich Ähnlichkeit mit dem Konzept der transdifferenten Lehre – eine Plattform bilden, auf der sich ihre Mitglieder begegnen. Godel/Camerer schlagen als eine solche Plattform Sprachen vor. Hier seien verschiedene Kombinationen möglich. Denkbar sei z.B. – die Gemeinschaft einige sich auf eine Sprache, die alle Beteiligten in genügendem Maße beherrschen, um am inhaltlichen Geschehen teilnehmen zu können. Diese Variante der Einigung auf eine bestimmte Sprache kann in der literaturwissenschaftlichen Arbeit in transdifferenter Lehre angewandt werden, bei der fiktionale Texte im Original oder in Übersetzung gelesen werden. Das Verlassen der eigenen Muttersprache erlaubt auch neue imaginäre Konstruktionen. Auch eine Einigung darauf, mehrere Sprachen zugleich benutzen zu können – nach dem Konzept der Mehrsprachigkeit – könne nach Meinung der Autorinnen für die Arbeit effektiv und für die Teilnehmenden bereichernd sein. Dabei sei jedoch besonders auf die Gefahren von Missverständnissen zu achten.45 In der transdifferenten Lehre kann ein Text ebenso in verschiedenen Sprachen gelesen werden, was zusätzlich die Zugänge und Wirkungen des Textes diversifiziert. Auch das Vergleichen unterschiedlicher sprachlicher Versionen eines fiktionalen Textes kann die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung und die Wahrnehmung des Textes durch Andere befördern. Es gibt also mehrere Möglichkeiten der Anwendung von Sprachen in der transdifferenten Lehre. Wesentlich für die transdifferente Lehre ist der Aspekt der Gemeinschaft – eine Gemeinschaft, an der die Teilnehmenden reell und nicht nur virtuell anwesend 44 Vgl. Mecheril/Klingler, S. 85. Mecheril und Klingler vermerken diesbezüglich: »Universitäten sind erstens vermehrt gehalten, in Forschung und Lehre ökonomisch ›effizient‹ zu sein, was der Universität dann zum Problem wird, wenn das Verhältnis von ›Aufwand und Leistung‹ das ›Streben nach Erkenntnis‹ als erste Leitlinie des Handelns an den Universitäten ersetzt und verdrängt.« 45 Vgl. Camerer/Godel, S. 86f.

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sind, eine Gruppe, die sich in ihrer Ganzheit wahr- und ernstnimmt. In dieser Gemeinschaft äußert sich der Einfluss der lehrenden Person auf die studierende Person in Inspiration und Motivation zur Entwicklung. In einer solchen Gemeinschaft wird weniger an einem konkreten Problem als vielmehr an Erkenntnis gearbeitet.46 Das erinnert an die Vorstellungen von Humboldt und Schleiermacher und zeugt von der Aktualität ihrer Bildungsideen in Bezug auf das hier vorgeschlagene Konzept der transdifferenten Lehre. Den Konzepten der Pädagogik der Vielfalt, der communities of practice und der transdifferenten Lehre, ist der Ausgang vom Individuum her gemeinsam. Diese Konzepte gehen von Handlung als zentralem kulturbedingten Element aus. Durch Handlung werden Distinktionen in Interaktion gebracht, was die Grundlage für interkulturelle Kommunikation und Wissensproduktion bildet.

46 Vgl. Sauerland, Karol (2006): Idea uniwersytetu – aktualność tradycji Humboldta? [Die Idee der Universität – wie aktuell ist die Humboldtsche Tradition?] In: Marek Kwiek, Krystian Szadkowski und Marek Hołowiecki (Hg.): Nauka i Szkolnictwo Wyższe [Forschung und Lehre], Nr. 2/28/2006. S. 89-96, hier S. 91ff. https://pressto.amu.edu.pl/index.php/nsw/article/view/4791/ 4898 [18.03.2018].

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Literatur in der transdifferenten Lehre

Die transdifferente Lehre bietet eine neue, interdisziplinäre, methodische Perspektive auf die Prozesse der Wissensvermittlung. In meinem Beispiel wird die bereits betrachtete interkulturelle Literaturvermittlung mit den Verfahren und Erkenntnissen aus der Forschung über Wirkung eines Textes verknüpft und weiterentwickelt. Die in den an transdifferenter Lehre orientierten literaturwissenschaftlichen Seminaren gelesenen fiktionalen Texte umfassen unterschiedliche Textsorten und die Studierenden haben die Möglichkeit, aus vorgeschlagenen Titeln zu wählen sowie selbst Vorschläge zu machen. Da es im untersuchten Fall der deutschen Universität in der Mehrheit Studierende sind, deren gemeinsame (Begegnungs-)Sprache Deutsch ist, bildet die deutschsprachige Literatur1 eine gemeinsame Plattform und ein Medium, durch das sich die kulturelle Heterogenität der Studierenden artikuliert. Die anfängliche Abgrenzung zum Eigenen und Fremden wird in den Seminaren ausführlich thematisiert. Es wird dabei bedacht, dass Differenzen zugeschrieben und konstruiert werden, wodurch sie Abgrenzungen produzieren, sie können aber infolge der reflektierten Entwicklung emotionaler Erfahrung besser wahrgenommen werden. Reflektiert wahrgenommene Differenzen lassen das Andere erkennen und dadurch das Eigene definieren. An den Seminaren, aus deren Erfahrung ich das Modell ableite, nehmen in der Regel fremdsprachige, muttersprachliche und bilinguale Studierende teil. Analog der Oszillation von Differenzen im Modell der Transdifferenz kommen individuelle Erfahrungen sowohl fremdsprachiger als auch muttersprachlicher Studierender, die im Seminar-Raum infolge der Besprechung des fiktionalen Textes thematisiert werden, in Interaktion. Die individuellen Erfahrungen werden miteinander verglichen, diskutiert, manchmal abgelehnt. Hermeneutische Interpretation, Beobachtung und Reflexion über die Wirkung der Texte, Diskussion, Aufkommen von Differenzen, Diskussion über die Differenzen – machen im Kern die transdifferente Lehre aus. Nachdem Studierende sich auf eine Seminarsprache geeinigt haben, die sie soweit beherrschen, dass sie einen fiktionalen Text in dieser Sprache lesen, 1 Auch Literatur in Deutsch, d.h. Texte fremdsprachiger Autorinnen, die ins Deutsche übersetzt wurden.

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Transdifferente Lehre

können diese Texte zu einem gemeinsamen ›dritten Raum‹ der Begegnung und des Dialogs werden. Ein fiktionaler Text fällt aus den Alltagskriterien heraus, daher eignet er sich als Medium der Imagination auch bei denen, die die Sprache des Textes als Muttersprache benutzen. Auf die Debatte um Literarizität und Fiktionalität von Texten gehe ich in der vorliegenden Arbeit unter Verweis auf Fachliteratur2 nicht ein. In meiner Untersuchung analysiere ich die Funktion fiktionaler Texte als Medium der Wahrnehmung des Anderen und der Erkenntnisproduktion in transdifferenter Lehre. Der Ansatz der Betrachtung liegt in der Annahme, dass Literatur nicht nur Kunst, Schrift, materielles Kulturgut, sondern ein kulturelles Phänomen darstellt.3 Der Text, seine Literarizität, die in ihm enthaltenen Inhalte entwickeln vielfältige Wirkungen und erfüllen verschiedene Funktionen. Besonders interessiert mich die Funktion des fiktionalen Textes als Medium und als Produkt, das auf die Lesenden Wirkungen entfaltet, die in ihrer individuellen Enkulturation begründet liegen und eine Entwicklung über die Enkulturation hinaus erlauben.

Phänomenologische Zugänge Das Konzept transdifferente Lehre stützt sich vorwiegend auf die Arbeit mit literarischen Texten und Erfahrungen von Studierenden, die bei der Interpretation mobilisiert werden. Im Rahmen dieses Konzeptes bedeutet der literaturwissenschaftliche Umgang mit fiktionalem Text, während der Interpretation aus dem Text nicht nur ein Objekt der Analyse zu machen. Text und der Umgang mit ihm werden vielmehr insgesamt als Erkenntnisproduktion4 im Leseakt betrachtet, und der Text als Medium des Wissens. Die Fokussierung auf die Erkenntnisproduktion im Leseakt resultiert daraus, dass kulturwissenschaftliche Forschung mit der Literaturwissenschaft verbunden wird. Dadurch geht man im Umgang mit fiktionalen Texten über bloßes Interpretieren hinaus. Relevant ist nämlich die Reflexion über die Wirkung, die ein Text auf unterschiedlich enkulturierte Lesende und auf Denkkollektive ausübt. 2 Siehe z.B. Winko, Simone/Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard (2009): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York. 3 Vgl. Brenner, Peter J. (1995): Was ist Literatur? In: Renate Glaser und Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Opladen. S. 11-47, hier S. 25. 4 Zur Literatur als Aspekt und Bestandteil von Produktion von Diskurswissen siehe: Chołuj, Bożena (2012): Literatur als Medium des Wissens. In: Agnieszka Brockmann, Jekatherina Lebedewa, Maria Smyshliaeva und Rafał Żytyniec (Hg.): Kulturelle Grenzgänge. Festschrift für Christa Ebert zum 65. Geburtstag. Berlin. S. 65-73.

Literatur in der transdifferenten Lehre

Die Text-Objekte, Handlungen und Figuren sind fiktiv,5 sie bilden, wie Jan Gertken und Tilmann Köppe betonen, einen eigenständigen Referenzbereich und ihnen werde ein besonderer ontologischer Status zugesprochen.6 Fiktionaler Text ist Ausgangsbasis der transdifferenten Lehre, weil dessen Fiktionalität den Mitgliedern einer heterogenen Seminar-Gruppe hilft, sich von der Faktualität ihrer Lebenswelt zu distanzieren. Fiktionale Texte machen keine Aussagen über reale Objekte und geben keine realen Sachverhalte wieder. Mit fiktionalen Texten kann experimentiert werden, ohne Verpflichtung, eine Evidenz der Experimente herbeizuführen. Diese Texte weisen Merkmale auf, aufgrund derer die Lesenden nachprüfen, ob sie wahrscheinlich bzw. real sein könnten.7 Dadurch, dass die Texte Sachverhalte, Objekte etc. so wiedergeben »als ob« diese real wären, stehen sie in der Funktion eines (Kinder-)Spiels. Sie lassen glauben, dass sich etwas so zugetragen haben könnte. Diese Funktion, die sonst bei ›Make-believe-Spielen‹ vorkommt,8 erlaubt der lesenden Person, sich etwas, das es nicht gibt, als etwas, das es geben könnte, vorzustellen, auch wenn es nicht zu deren Kulturtradition oder -rahmen gehört. Die Funktion stellt ›etwas als etwas‹, was mit der Erfahrung der Person und ihrem Wissen übereinstimmt, dar. Der Vorgang des ›Sich-etwas-Vorstellens‹ ist in soziale Praxis eingebunden9 und durch die individuelle Enkulturation sowie durch Subjektive Theorien beeinflusst. Ein fiktionaler Text ist, wie gesagt, in der transdifferenten Lehre eine Plattform für die Begegnung von unterschiedlich kulturell geprägten Lesenden, die durch Analyse dieses Textes einen imaginären Raum der Gemeinsamkeit schaffen. Ihnen ist bewusst, dass sie sich in einen von ihrer Realität abgekoppelten Raum begeben, indem sie den literarischen Text nicht nur kennenlernen, sondern diesen auch als ein Medium nutzen können, durch das sie über ihre Prägung hinausgelangen. Er bietet ihnen einen ›Spiel-Raum‹ bzw. einen Raum, in dem Dialog möglich ist. Ein Spiel hat Regeln, die besagen, was gilt und was nicht gilt. Das Sichetwas-Vorstellen kann allerdings durch solche Regeln beeinflusst werden, die das, was man sich vorzustellen hat – wie im ›Make-believe-Spiel‹ – festlegen. In einem 5 Vgl. Gertken, Jan/Köppe, Tilmann (2009): Fiktionalität. In: Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Berlin. S. 228-266, hier S. 233. Dort auch zu den Kategorien Fiktionalität und Fiktivität. 6 Vgl. ebd., S. 234. 7 Auf die in der Literaturwissenschaft geführte Debatte über Fiktionalität in Bezug auf verschiedene Kategorien der Textproduktion und -rezeption einzugehen, würde den Rahmen dieser Untersuchung überschreiten. Vgl. z.B. Beiträge von Frank Zipfel, Hans-E. Friedrich und Simone Winko im zitierten Band Winko/Jannidis/Lauer (2009). 8 Vgl. Walton, Kendall L. (1990): Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/London. 9 Vgl. Gadamer, Hans-Georg (1981): Philosophie und Literatur. In: Hans-Georg Gadamer, Helmut Kuhn und Gerhard Funke (Hg.): Was ist Literatur? Freiburg. S. 18-45, hier S. 19.

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Make-believe-Spiel sprechen sich, meistens Kinder, ab, welches welche Rolle annimmt.10 Sich in eine Rolle hineinzuversetzen kann zwar die Perspektive des oder der Gespielten eröffnen, es ist aber zugleich eine individuelle Interpretation, die auch hinterfragt werden sollte. Gertken und Köppe stellen die Frage, ob Elemente der Vorstellung durch »den Gehalt fiktionaler Aussagen«11 bestimmt werden oder noch weitere Faktoren die Vorstellung beeinflussen. Meines Erachtens ist ein solcher Faktor das Phänomen der Erfahrung. Ein weiterer spielregulierender Faktor kann die gewählte Methode sein. Denn zu bedenken ist, dass Methoden, wie Bernhard Waldenfels schreibt, kein neutrales Werkzeug, das man auf bestimmte Sachen anwenden kann, darstellen. Ein Verfahren sei ein Weg, der den Zugang zur Sache eröffne.12 Phänomenologisch gesehen gehe es weniger um das, ›was‹ sich auf diesem Wege zeigt, sondern darum, ›wie‹ es sich zeigt.13 Deswegen haben beide Faktoren, Erfahrung und Methode, in der transdifferenten Lehre gleiche Gewichtung. Beide bedingen den Weg zu neuem Wissen und beeinflussen das Ergebnis. Das zeigt einmal mehr die Kontingenz des in der akademischen Lehre erworbenen Wissens. Dieses Verständnis von Verfahren kann für die kulturbewusste Wissensvermittlung nützlich sein. Es stellt eine Basis dafür her, nicht nach Eindeutigkeit und der »richtigen« Interpretation oder Antwort zu suchen, sondern erlaubt, Dinge und Prozesse sowie Erkenntnisse vielschichtig und »verschwommen«, als nicht abgeschlossen, zu sehen, was auch das Hauptmerkmal dieser Art von Wissensvermittlung ist. Das Verfahren ist nicht auf Reproduzierbarkeit ausgerichtet. Reproduzierbarkeit der Ergebnisse ist bei der Arbeit mit literarischen Texten schon allein wegen des künstlerischen Charakters eines Textes nicht notwendig. Ein literarischer Text ist das Ergebnis schöpferischer, intellektueller Arbeit der Autorin, die diesen wiederum unter bestimmten kulturellen, historischen und individuellen, auch psychologischen Umständen geschaffen hat. Das Wissen, wie ein Text entstanden ist, ist Bestandteil von Untersuchungsverfahren in der Literaturwissenschaft und kann als akademisches Wissen weitergegeben werden. Die Textanalyse selbst, darunter die Analyse der sprachlichen Strukturen, inner- und intertextueller Bezüge, der Intentionen, wird in der Literaturwissenschaft nach gewählten Methoden durchgeführt. Die Interpretation des Textes kann von allgemein normierten Annahmen ausgehen – je nach dem gewählten Ansatz – phänomenologisch, historisch, feministisch, konstruktivistisch etc., ist aber sowohl verfahrensals auch ergebnisoffen und kontingent. Das Vorgehen der Analyse und Interpretation ist einerseits durch die Wahl der hier exemplarisch genannten Komponenten 10 11 12 13

Vgl. Walton, S. 18-20. Gertken/Köppe, S. 263. Vgl. Waldenfels, Bernhard (2001): Einführung in die Phänomenologie. München. S. 30. Vgl. ebd., S. 30f.

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standardisiert, andererseits flexibel und mit anderen Vorgehensweisen kompatibel. Im Verfahren transdifferenter Lehre, wie auch in der Literaturwissenschaft allgemein, wird nicht beabsichtigt, das Wissen, das vermittelt wird, fiktionalen Texten und ihrer Interpretation zu entnehmen, sondern einen fiktionalen Text lediglich als Medium zu betrachten und für die gemeinsame Erarbeitung von Wissen zu nutzen. Dadurch, dass ein fiktionaler Text als außerhalb der Lebenswelt wahrgenommen wird und ein ästhetisches Erlebnis initiiert, kann er eine Begegnungsebene darstellen, auf der das unterschiedlich geprägte Vorwissen der Seminarteilnehmenden sich trifft und in Interaktion kommt. An die Tradition der phänomenologischen Auslegung literarischer Texte schließt die Offenheit und Flexibilität Subjektiver Theorien an. In der phänomenologischen Literaturtheorie geht es nicht nur um eine breit angelegte Interpretation der Entstehungsumstände eines Textes, dessen Kontexte und Bedeutung, sondern auch um die Wirkung, die der Text bei Lesenden hervorruft. Das phänomenologische Verfahren des Erschließens eines Textes, so Jonathan Culler, gehe von der Seite der lesenden Person aus. Es werde dabei gefragt, wie sich ihr der Text präsentiere, und dieser werde unter der Prämisse, dass »das Werk nichts Objektives, von der Erfahrung Unabhängiges, sondern die konkretisierende Erfahrung des Lesers«14 sei, analysiert. Der Prozess der Suche (Frage) nach Bedeutung und Sinn, also der Erschließung einer Lektüre, geht von Annahmen, von Verknüpfungen der Vorstellungen, Empfindungen, Erwartungen aus, in der Art, dass Leerstellen mit dem persönlich geprägten (Vor-)Wissen gefüllt werden, was zu einer individuellen Erkenntnis führt. Hinzu kommen die äußeren Umstände der Existenz eines Textes – seine Rezeptionsgeschichte, das Verhältnis zu den sich wandelnden ästhetischen und gesellschaftlichen (die politischen eingeschlossen) Normen, welche die Grundlage für die Rezeption eines Textes in verschiedenen kulturellen Kreisen bilden.15 Ernst Wolfgang Orth schreibt, dass die Vielfalt literarischer Phänomene ebenso eine Vielzahl von Verfahren und Forschungsansätzen auf den Plan rufe, wobei nicht nur die Literatur selbst durch unterschiedliche Zugriffe der Forschung sehr unterschiedlich akzentuiert werde, sondern die wissenschaftliche Erforschung der Literatur auch anderen als literarischen Themen diene.16 Bernhard Waldenfels schreibt, durch die Hinwendung zur lesenden Person und Beachtung der jeweiligen, wechselnden Rezeptionsumstände meide das phänomenologische Interpretationsver14 Culler, Jonathan (2013): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart. S. 198. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Orth, Ernst W. (1981): Gibt es einen phänomenologischen Zugang zur Literatur? In memoriam J.-P. Sartre. In: Hans-Georg Gadamer, Helmut Kuhn und Gerhard Funke, (Hg.): Was ist Literatur? S. 7-17, hier S. 7.

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fahren die Bindung an die jeweils geltenden Kanons, und biete keine kanonische Lesart.17 Ein weiterer Aspekt spricht für die Verknüpfung der phänomenologischen Literaturforschung mit kulturbewusster Wissensvermittlung und -produktion: In der phänomenologischen Betrachtung des Texterschließens als Bewegung ist keine Linearität erkennbar, was für lebendiges Denken charakteristisch sei, wie Waldenfels feststellt: »Es kommt zu Ausstrahlungen und Verzweigungen, zu Vor- und Rückgriffen, zu Varianten, die sich teilweise überschneiden, teilweise voneinander abkehren und sich nicht in ein invariantes Gefüge verwandeln lassen.«18 So verläuft auch die Wissensproduktion der transdifferenten Lehre während der Lektüre und Diskussion. Sie ist fließend, diffus, nicht linear. Sie verläuft gleichzeitig auf mehreren Wahrnehmungsebenen und lässt differenzierte Erkenntnisse zu. Literaturwissenschaftliche Verfahren, die einen Text nicht unter dem Gesichtspunkt der reproduktiven Interpretation, sondern seiner Wirkung untersuchen, sollen mögliche Wege für die didaktische Arbeit in momentanen, kulturell heterogenen Denkkollektiven aufzeigen. Mit dem Konzept transdifferenter Lehre zeige ich, dass die Erkenntnisse zu Interkulturalität, Differenzen und Diversität in der Hochschuldidaktik in die akademische Lehre eingebunden werden können. Mit dem Beispiel der literaturwissenschaftlichen Arbeitsweise, die mit einem offenen, vielfältigen, kreativen und konstruktiven Umgang mit fiktionalen Texten kombiniert wird, mache ich einen Vorschlag für den hochschuldidaktischen Umgang mit Differenzen. Es geht um die Wirkungen, die fiktionale Texte auf kulturell unterschiedlich geprägte Lesende ausüben und die Prozesse, die sie auslösen, sowie darum, inwieweit sich dieses zu einem gemeinsam erarbeiteten Wissen bündeln ließe.

Mediale Funktion der Literatur Oliver Jahraus schreibt über die Funktion von Literatur als Medium: »Das Medium vermittelt zwischen Kommunikation und Zeichen, Text und Interpretation, Interpretierbarkeit und Uninterpretierbarkeit, Sozialsystem und Symbolsystem.«19 Die Vermittlungsfunktion findet also zwischen unterschiedlichen Kategorien und Ebenen statt, sodass eine Antwort auf die Frage »Medium wovon?« vom Kontext abhängig ist. Christoph Reinfandt, der sich in seinen Ausführungen über Literatur als Medium auf die These von Jahraus stützt, schreibt, dass die Medialität von Literatur subjektiv sei, sie arbeite sich »an dem Problem der kulturellen Validität von Sub17 Vgl. Waldenfels (2001), S. 9. 18 Ebd. 19 Jahraus, Olivier (2004): Literaturtheorie. Tübingen/Basel. S. 194.

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jektivität«20 ab. Die Frage ist, ob Subjektivität – oder die Erfahrung eines Subjektes – (kulturell) messbar und überprüfbar sein kann. Überprüfbarkeit würde bedeuten, dass die Ergebnisse einer Messung mit den Ergebnissen anderer Messungen verglichen und daraus Schlussfolgerungen abgeleitet werden können. Subjektivität lässt sich schwer messen, aber Erfahrungen lassen sich vergleichen und solche Vergleiche werden in der Psychologie als Forschungsinstrument verwendet. Erfahrungen transportieren und stabilisieren wiederum Erkenntnisse und Wissen. Erfahrungen eines Subjektes können auf andere Subjekte übertragen werden und führen zu Antworten auf verschiedene Fragen. Erfahrungen werden von Autorinnen in fiktionalen Texten verarbeitet. Sie werden camoufliert, doch so, dass sie in ihrer Individualität erkennbar bleiben und auf das Allgemeine übertragen werden können. Von daher ist es durchaus berechtigt, von kultureller Validität der subjektiven Erfahrung zu sprechen und diese Validität im Kontext der Funktion von Literatur als Medium als Ziel dieser Untersuchung zu sehen. Allgemein gesagt stellt Literatur ein Medium der Kommunikation dar. Durch den Leseakt entwickelt Schrift Bedeutungen für die lesende Person. Dies geschehe, so Reinfandt, anders als im kommunikativen Akt zwischen zwei Personen, auf einer Ebene, auf der es keiner Kommunikationspartnerin oder keines Kommunikationspartners in Person bedarf. Die Anwesenheit einer Person sei also keine Bedingung für die mediale Funktion von Literatur, literarische Kommunikation unterliege einer Eigendynamik. Der fiktionale Text entwickele eine Re-Präsentationsfunktion und der lesenden Person sei bewusst, dass diese Re-Präsentation abstrakt ist (Reinfandt spricht von der ›Emanzipation der RePräsentation‹) und sie keine lebensweltliche Realität abbilde.21 Es gibt jedoch etwas, das im Text re-präsentiert wird, einen Gegenstand der Re-Präsentation. Das ist z.B. Imagination, die aus individuellem Wissen und Erfahrung, Kreativität und Vorstellungskraft sowohl der Schreibenden als auch der Lesenden hervorgeht. Auf dieser imaginativen Ebene entwickelt ein fiktionaler Text seine mediale Wirkung. Dies ist für die Betrachtung der Funktion von Literatur im Kontext der transdifferenten Lehre von Bedeutung. Die Fiktionalität einer kommunikativen und auch imaginativen Situation ermöglicht eine Weiterleitung der aus einer Lektüre gewonnenen Eindrücke und Erkenntnisse auf eine abstrakte Ebene. Jahraus schreibt: »Literatur zu interpretieren heißt […] zu interpretieren, wie Literatur Welt interpretiert.«22 Es können also Sichtweisen der Anderen betrachtet werden, ohne sie 20 Reinfandt, Christoph (2009): Literatur als Medium. In: Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin. S. 161-187, hier S. 165. 21 Vgl. ebd., S. 166. 22 Jahraus, Oliver (2003): Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Weilerswist. S. 194.

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als eine Andere zu betrachten. Dies geschieht ähnlich wie in der bereits erörterten Dialogsituation, in die sich die Gesprächspartnerinnen begeben, ohne dass die eigene Position verloren geht. Die individuelle Konstruktion des Subjekts (des Anderen) im fiktionalen Text werde, so Reinfandt, mit der Erfahrung, Kreativität, Imagination und Originalität des Lesenden begründet. Jahraus schreibt dazu: »Das Subjekt bleibt dabei mit der Literatur vermittelt. Vermittlung erfolgt – im eigentlichen Sinne – über die Lektüre. Diese Idee der Vermittlung läßt sich als Medium begreifen.«23 Es gebe aber eine Distanz zwischen der lesenden Person und dem literarischen Subjekt und das Subjekt bleibe universal und mimetisch zugleich. Zu dieser Ebene der Vermittlung schreibt Reinfandt: »Mimetische Strategien aller Art simulieren eine scheinbar unvermittelte Referenz auf Stimmlichkeit oder aber andererseits durch eine nur scheinbar unmittelbarere Referenz auf andere Texte und Medien.«24 Ich füge hinzu – durch die Referenz auf die Erfahrung Anderer. Ein fiktionaler Text ist also auch ein Medium der Subjektivität, die sich in eigener Erfahrung und in Erfahrung Anderer begründet und diese Subjektivität bezieht sich sowohl auf die schreibende als auch die lesende Person. Wenn Literatur aus der Handlungswelt (Realität) schöpft und diese zum Abstraktum verarbeitet, stellt sich die Frage nach der Funktion von Literatur als Medium des Wissens. Dass fiktionale Texte kulturelles Wissen vermitteln, welches die lesende Person zu ihrem individuellen Wissen verarbeitet, ist nachvollziehbar. Dieses individuelle Wissen geht dann in weiteren Austauschprozessen sowie Prozessen der Setzung in neuen Konstellationen in das kollektive kulturelle Wissen über. Birgit Neumann schreibt diesbezüglich: Auch Literatur ist zum einen durchzogen von kulturellem Wissen. Bei ihrer Weltbzw. Wissenserzeugung greift Literatur auf kulturell verfügbares Wissen zurück, bringt dieses im Medium der Fiktion mit ästhetischen Mitteln zur Darstellung und erzeugt in diesem Prozess neues, so in der Kultur bislang nicht existentes Wissen.25 Ob und auf welche Art und Weise das von fiktionalen Texten produzierte kulturelle Wissen von wissenschaftlichen Diskursen übernommen werden kann, für »fundiert« und »für richtig« erklärt, ist nicht unumstritten, aber interessant in Bezug auf die Wissensproduktion in transdifferenter Lehre. Dem ästhetischen Aspekt von Kunst und speziell Literatur in ihrer ursprünglichen Bedeutung der ›Aisthesis‹, der sinnlichen Erkenntnis, geht Wolfgang Iser 23 Ebd., S. 522. 24 Reinfandt, S. 176. 25 Neumann, Birgit (2006): Kulturelles Wissen und Literatur. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier. S. 29-52, hier S. 46.

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nach und betrachtet dabei Literatur als ein Element im Gefüge der Kunst. Die zur Entstehung von neuen Erkenntnissen führende Wirkung von Literatur konzeptualisiert er als Rezeptionsästhetik oder Wirkungsästhetik. Auch Bernhard Waldenfels schreibt zur Wirkung literarischer Texte: Die Unbestimmtheitsstellen, die dem Kunstwerk unvermeidlich innewohnen, erfordern eine Lesetätigkeit, die das Empfangene konkretisiert und an die eigene Erfahrungsgeschichte anschließt. Auf diese Weise bringt das Kunstwerk immer wieder Möglichkeiten ins Spiel, die den Erwartungshorizont der Leserschaft sprengen und neue Erfahrungen provozieren.26 Die Wechselbeziehungen von Literatur und Wissensproduktion sind vielfältig, was für die vorliegende Arbeit zentral ist, insbesondere in Bezug auf Entstehung von Wissen. In der dazu geführten Debatte27 über Verschränkungen zwischen Kunst und Wissenschaft geht es darum, auf welche Art und Weise diese Zirkulationssysteme reziprok aufeinander wirken und ob fiktionale Texte dabei die Funktion eines Mediums einnehmen.28 Birgit Neumann schreibt, dass […] Literatur aktiv an der Herstellung von kulturellem Wissen beteiligt ist. Literatur ist nicht nur Ausdruck oder Mimesis von konventionalisierten Wissensbeständen einer Kultur, sondern partizipiert an deren Entstehung, Modifikation und Dissemination. Kulturelles Wissen und Literatur stehen in einem Interdependenzverhältnis, insofern Literatur kulturelle Diskurse mitprägt und selbst von ihnen geprägt ist.29 Kulturelles Wissen, wie eingangs erwähnt, wird nicht nur von wissenschaftlichen Disziplinen erzeugt, sondern einer Gesamtheit von »in einer Kultur zirkulierenden Kenntnisse[n], die durch Kommunikation und Erfahrung konstruiert, erworben und tradiert werden.«30

Fiktionaler Text als Medium der Wissensproduktion Eine mögliche Interaktion zwischen Wissensproduktion und Literatur ergibt sich, wenn wissenschaftliche Disziplinen Anregungen und Ideen aus literarischen Wer26 Waldenfels (2001), S. 109. 27 Vgl. Borgards, Roland/Neumeyer, Harald/Pethes, Nicolas/Wübben, Yvonne (Hg.) (2013): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar. S. 14f. 28 Vgl. Wübben, Yvonne (2013): Forschungsskizze: Literatur und Wissen 1945. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer, Nicolas Pethes und Yvonne Wübben (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar. S. 5-17. 29 Neumann, S. 43. 30 Ebd.

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ken schöpfen. Im narrativen Strang von Science-Fiction erzeugt fiktionale Literatur alternatives, paralleles, oft zukunftsorientiertes Wissen. So hat die Berücksichtigung von Geschichte und Anthropologie, beide literaturgeprägte Disziplinen, zum Wandel des Selbstbildes der Naturwissenschaften beigetragen, was man z.B. den Arbeiten Ludwik Flecks entnehmen kann.31 In der gegenwärtigen Forschung zum Verhältnis von Literatur und Wissen finden sich Verschränkungen von Literatur mit vielen Disziplinen der Diskurs-Wissenschaft. Fiktionale Literatur schöpft ihr Wissen nicht nur aus den Erkenntnissen der Wissenschaften. Sie hat, wenn man ihre Bedeutung im Sinne von Platons Dichtung auffasst, die Freiheit, das Wissen und die Wissenschaften in neue, kreative und ungewohnte Konstellationen zu setzen und andere kognitive und affektive Wege als Wissenschaft zu beschreiten. So schreibt Bożena Chołuj, der Beitrag der Literarizität fiktionaler Texte bestehe weniger darin, Argumente für valide Erkenntnisse zu liefern, sondern darin, dass sie »Denkräume für neue Gesichtspunkte und Erkenntnisse frei macht.«32 Die Funktion von Literatur sei also nicht in der Schaffung oder Speicherung von nachprüfbarem und wissenschaftlich belegbarem Wissen zu suchen, sondern in ihrer Rolle als Medium des Wissens. Chołuj formuliert es folgendermaßen: »Ein Medium ist nämlich kein Wissensbehälter, sondern ein Vermittlungssystem, ein ganz anderes als jedes Lehrbuch, das vorwiegend zur Reproduktion des Wissens dient. Literatur als Medium aktiviert und animiert die Lesenden während der Lektüre zur Lust an Erkenntnis.«33 Wissensproduktion erfolgt in Prozessen, die zwar beschreibbare Ergebnisse liefern können, doch die Prozesse an sich sind kognitiv nicht immer nachvollziehbar, nicht messbar, und manchmal nur textuell beschreibbar. Ludwik Fleck schreibt über diese Ambivalenz der Wissenschaft, dass selbst naturwissenschaftliche Disziplinen – von denen im Allgemeinen angenommen werde, sie beruhten auf Tatsachen – aus den undefinierten, diffusen Denkräumen schöpften, die neue Konstellationen erlauben.34 In dem zitierten Essay greift Chołuj einen weiteren Gedanken bezüglich der Relationen zwischen Wissenschaftlichkeit und Literarizität auf: den Gedanken der in den westlichen Kulturen präsenten Überlegenheit des wissenschaftlichen Diskurses gegenüber der Literaturrezeption. Sie schreibt in Anlehnung an BachmannMedicks ›literary turn‹ über die ›diskursive Autorität wissenschaftlicher Texte‹,35 wissenschaftliche Diskurse und fiktionale Literatur hätten unterschiedliche Ziele und Aufgaben. Literatur, so Chołuj, könne aber im Zusammenhang mit Wissen 31 32 33 34 35

Mit Verweis auf Fleck. Chołuj (2012), S. 65. Ebd. Mit Verweis auf Fleck. Chołuj (2012), S. 66.

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und Wissenschaftlichkeit als Medium des Wissens und somit als ein wichtiges Instrument der Wissenschaft gesehen werden. Eine solche Konzeptualisierung der Literatur ist aufs Engste mit dem kulturwissenschaftlichen Blick auf sie verbunden, der die Literatur mit dem Wissen in einen Zusammenhang setzt, jedoch anders als es bisher der Fall war, als man literarische Werke auf die Erkenntnisse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen hin untersuchte.36 Die mediale Rolle der Literatur ist also nicht linear im Sinne von Vermittlung in eine Richtung, sondern ist räumlich und relational zu denken, ähnlich wie die mediale Rolle der transdifferenten Lehre im heterogenen Universitäts-Raum. Birgit Neumann führt zwei Kategorien kulturellen Wissens auf, in denen Literatur eine Rolle spielt. Zum einen sei es das ›explizite kulturelle Wissen‹, das verbalisierte oder ikonisch symbolisierte Kenntnisse über reale wie irreale Entitäten, über Orte, Personen, Ereignisse oder gesellschaftliche Begebenheiten und Sachverhalte umfasse; es beinhalte Alltagswissen ebenso wie hoch spezialisiertes Wissen der Wissenschaft.37 Die andere von Neumann genannte Kategorie des durch Literatur beeinflussten kulturellen Wissens ist das ›implizite kulturelle Wissen‹. Es beziehe sich auf die Kenntnis von Normensystemen und Wertehierarchien, die auf das gesellschaftliche Leben regulierend wirken.38 Beide Kategorien werden von Literatur vermittelt und können mit dem Konzept der Interkulturalität im herkömmlichen Sinne verschränkt werden. Denn das Wissen über die Anderen und das Andere, das Literatur vermittelt, ist sogleich ein inter-kulturelles Wissen. Dadurch beeinflusst Literatur die Sichtweisen vom Eigenen und Anderen, schärft den Blick auf Differenzen und eröffnet einen Raum für ihre Reflexion. Das Konzept vom kulturellen Wissen, das unter anderem durch Literatur vermittelt wird, sieht Wissen als dynamisches Phänomen. Es sei, wie Neumann schreibt, permanent im Wandel begriffen und reagiere auf sich verändernde gesellschaftliche Herausforderungen. Dies ist auch die mediale Rolle der Literatur. Sie vermittelt Wissen über gesellschaftliche Veränderungen, was wiederum zu neuen Betrachtungsweisen von Phänomenen der realen Welt etc. führt. Bei ihrer Welt- bzw. Wissenserzeugung greift Literatur auf kulturell verfügbares Wissen zurück, bringt dieses im Medium der Fiktion mit ästhetischen Mitteln zur Darstellung und erzeugt in diesem Prozess neues, so in der Kultur bislang nicht existentes Wissen.39 36 37 38 39

Ebd., S. 67. Vgl. Neumann, S. 44. Vgl. ebd. Ebd., S. 46.

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Eine andere, aber auch (disziplin-)übergreifende Sicht auf die Funktion von Literatur als Medium des Wissens findet sich bei Jérôme Seymour Bruner, der von zwei generellen Arten des Denkens (two modes of thought) ausgeht: One mode, the paradigmatic or logico-scientific one, attempts to fulfill the ideal of a formal, mathematical system of description and explanation. It employs categorization or conceptualization and the operations by which categories are established, instantiated, idealized and related one to the other to form a system.40 Bruner nennt diese Art des Denkens ›paradigmatic‹. Es gebe aber noch einen anderen Modus des Verstehens und des Erkennens von Welt, Umwelt und der Wissensproduktion: The imaginative application of the narrative mode leads instead to good stories, gripping drama, believable (though not necessarily ›true‹) historical accounts. It deals in human or human-like intention and action and the vicissitudes and consequences that mark their course.41 Bruner verwendet die Bezeichnung ›narrative‹ und meint damit das Wissen aus vielschichtigen, zusammenhängenden Erzählungen, bei dem auch Emotionen einen Raum haben. Dieses narrative – und hier: fiktionale Texte – braucht das Individuum nach Bruner, um komplexe und außergewöhnliche Zusammenhänge der Handlungswelt zu verstehen.42 Die Wechselwirkung von Bedeutungen, Umdeutungen, Schaffungen neuer Versionen führt bei den Lesenden zu einer Erweiterung ihres Verstehens, die in der transdifferenten Lehre ebenso ernst genommen werden kann, wie der Gewinn an validem Wissen. Bilder, Gefühle, Erinnerungen, Eindrücke können ganz ähnlich wie paradigmatics Wissen erzeugen und an der Erkenntnisproduktion teilhaben. »[U]nser alltägliches sogenanntes Weltbild« sei »das vereinte Produkt von Beschreibung und Abbildung«43 , so Nelson Goodman. Beide Arten der Erkenntnis, paradigmatics und narrative, stützen sich auf Beschreibung und Abbildung. Das ist ihr gemeinsamer Nenner, der zeigt, dass auch die Produktion nachprüfbaren, validen Wissens auf Erzählweise und Bild als Ausgangsbasis für Beschreibung und Abbildung zurückgreift. Die Unterschiede liegen in den Prozessen, die zur Entstehung von neuem Wissen führen, den Methoden ihrer Ausgestaltung und dem »Stoff«, aus dem sie das neue Wissen herstellen. 40 Bruner, Jerome S. (1986): Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/Massachusetts/London. S. 13. 41 Ebd. 42 Vgl. ebd., S. 13f. Vgl. auch Bredella, Lothar (2012): Narratives und interkulturelles Verstehen. Zur Entwicklung von Empathie-, Urteils- und Kooperationsfähigkeit. Tübingen. S. 14. 43 Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. S. 121f.

Literatur in der transdifferenten Lehre

Ich sehe den wesentlichen Unterschied in der Betrachtung und dem Stellenwert der Kategorie der Subjektivität: »Als Kriterium für die Aussage muß dienen, inwieweit sie [die Subjektivität – A. B.] die Prüfung durch mehr als einen Sinn und durch die Sinne von mehr als einer Person erleichtert.«44 In der transdifferenten Lehre wird die individuelle Wahrnehmung, die von der individuellen, emotionalen Erfahrung begleitet wird, als Ausgangsgrundlage für einen Prozess gesehen. In diesem Prozess wird aus einem Gebilde aktueller diskursiver Konzepte und Theorien deduktiv ein individueller Apparat aus Gedanken, Erkenntnissen und neuem Wissen produziert. Die Erfahrung hat somit einen entscheidenden Einfluss darauf, welches Wissen ein Individuum produziert. In fiktionalen Texten werden verschiedene stilistische Mittel, Denkfiguren, Metaphern verwendet, die auf die lesende Person eine subjektive Wirkung entfalten. Es entsteht weniger die Frage, was und wie in der fiktionalen Welt organisiert wird oder zu organisieren ist, sondern es wird impliziert, dass es einen individuellen Prozess der Erzeugung von Wissen gibt, dass er sich auf die Erkenntnisproduktion eines Individuums auswirkt und dass er ein Element der Wissensvermittlung darstellt. Als Verbindung zwischen der fiktionalen Textwelt und der Lebenswelt fungiert die individuelle Erfahrung der lesenden Person, die in den Leseprozess eingebunden wird.45 Das Ergebnis des Lesens ist nicht nur eine kognitive Erkenntnis, sondern eine neue, weitere emotionale Erfahrung.46 Kunst hat eine andere Bewegungsfreiheit als Wissenschaft, sie kann beliebige, realitätsferne Denkfiguren erschaffen, wohingegen Wissenschaft mit Evidenz arbeitet. Es kommt auf die Bereitschaft jedes Individuums an, alternative Welten zu erkennen, und auf die Bereitschaft eines Denkkollektivs, sie anzuerkennen. Alle Prozesse der Welterzeugung sind Teile des Erkennens. »Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen gehen Hand in Hand.«47 Der Literatur kommt also durchaus die Rolle als Medium der Welterzeugung zu, indem sie fiktive Strukturen erfindet, erschafft. Durch die Korrespondenz der fiktiven Strukturen mit der Erfahrung der Lesenden wird Begreifen in Gang gesetzt. Fiktionale Texte werden jedoch nicht nur aus der Perspektive der eigenen Erfahrung und des eigenen Wissens gelesen – so würden sie möglicherweise nur das bestätigen, was die lesende Person bereits weiß. Für die Produktion neuer Erkenntnis und neuen Wissens aufgrund der Lektüre benötigt eine lesende Person eine Orientierung innerhalb kultureller Systeme. Es geht um die Fähigkeit, die Zusammenhänge eines Plots in der Erzählung bzw. vom Schluss her zu rekonstruieren, 44 45 46 47

Bion, Wilfred R. (1990): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a.M. S. 100. Vgl. Bredella, Lothar (2002): Literarisches und interkulturelles Verstehen. Tübingen., S. 36. Vgl. auch Bredella (2012), S. 18. Bredella (2002), S. 37.

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ihnen die vielfältigen Bedeutungen zu entlocken und eine Erkenntnis für sich zu gewinnen. Ein Individuum ist imstande, lange, mehrschichtige und zusammenhängende Plots im Gedächtnis zu behalten, vor allem, wenn sie es emotional berühren. Das ist eine Eigenschaft von fiktionalen Texten und auch ihre Funktion als Medium des Wissens. Jahraus, Chołuj, Neumann und Bruner verwenden zwar unterschiedliche Argumentationen, doch ihre Ideen kommen zur gleichen Schlussfolgerung: Wissenschaftliche Diskurse und Literatur verhalten sich im Prozess der Erkenntnisproduktion, bei dem verschiedene Faktoren eine Rolle spielen, komplementär zueinander.

Der transdifferente Leseakt

Der fiktionale Text ist ein Kommunikationsmedium, ein Code, der Informationen transportiert. Der Leseakt, der selbst im kulturellen Mainstream situiert ist, spielt zugleich eine Rolle in der Dekodierung anderer kultureller Codes und dadurch wird er zum Medium von Kommunikation,1 insbesondere interkultureller Kommunikation. »Was Lesen ist und wie Lesen geschieht, scheint mir eines der noch dunkelsten und eines der phänomenologischen Analyse am meisten bedürftigen Dinge«2 schreibt Hans-Georg Gadamer. Inzwischen ist mehr Licht in diese Frage gebracht worden, doch sie bleibt weiterhin ein Desiderat. In dem von Wolfgang Iser entwickelten hermeneutischen Modell des Leseaktes stehen Prozesse des Verständnisses von Texten durch die lesende Person im Mittelpunkt.3 Iser identifiziert eine in jedem Text enthaltene Struktur, die den Text immanent steuert und eine Interaktion zwischen der lesenden Person und dem Text initiiert. Den Text betrachtet Iser als Medium einer Konstruktion, die von den Lesenden in einem mehrstufigen Prozess erstellt wird. Eine im fiktionalen Text enthaltene Welt ist weder ein Abbild der Realität, noch ihre vollständige Opposition (Imagination) ohne jeglichen Bezug zur Wirklichkeit. Die im Text enthaltene Welt bewegt sich zwischen den beiden Extremen. Die Pole ›lebensweltliche Realität‹ und ›Imagination‹ werden durch ein oszillierendes Zwischenglied, die Fiktion, verbunden. Es gebe dabei keine direkte Opposition, sondern, so Iser, eine ›Triade aus Realem, Fiktivem und Imaginärem‹. Als ›das Reale‹ versteht der Autor die außerliterarische Welt, die Handlungswirklichkeit.4 Es umfasst sowohl Sinnsysteme, soziale Systeme und Weltbilder als 1 Vgl. Stierstorfer, Klaus (2002): Literatur und interkulturelle Kompetenz. In: Laurenz Volkmann, Klaus Stierstorfer und Wolfgang Gehring (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Stuttgart. S. 119-141, hier S. 123. 2 Gadamer, Hans-Georg (1981): Philosophie und Literatur. In: Hans-Georg Gadamer, Helmut Kuhn und Gerhard Funke (Hg.): Was ist Literatur? Freiburg. S. 18-45, hier S. 27. 3 Diese Betrachtungsweise findet sich in mehreren Schriften Isers – »Appellstruktur des Textes«, »Der implizierte Leser« oder »Das Fiktive und das Imaginäre«. 4 Vgl. Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a.M. S. 20.

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auch andere Texte, die eine spezifische Organisation bzw. Interpretation von Wirklichkeit implizieren. »Folglich bestimmt sich das Reale als die Vielfalt der Diskurse, denen die Weltzuwendung des Autors durch den Text gilt.«5 Das Reale kann in Bezug auf die transdifferente Lehre in einer weiteren Bedeutung die Universität mit ihrem Lehrbetrieb darstellen. Dieser soll zum Erwerb von Wissen und Kompetenzen führen, die prüfbar, vergleichbar und zertifizierbar sind. Zum anderen ist aber gerade in den Geisteswissenschaften der Wissenserwerb ein Prozess des narrative im Sinne von Jérôme Seymour Bruner.6 In diesen Prozessen wird zeitweilig die Ebene des Realen verlassen, um sich in einen Raum zu begeben, in dem Diskurse, Geschichten, sodann Erfahrungen und Emotionen zusammentreffen. Im Verlauf und im Ergebnis einer Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Emotionen der Anderen werden Wissen und Erkenntnis produziert. Erfahrung und Emotionen der am Seminar-Raum Teilnehmenden werden als Potentiale gesehen, die Differenzen sichtbar und begreifbar machen, weil, wie bereits erwähnt, die Auseinandersetzung mit ihnen nicht hierarchisch und nicht konsensorientiert stattfindet. Was Literarizität, den ästhetischen Charakter eines Textes und dessen Erfahren durch die lesende Person miteinander verbindet, seien, nach Iser, das Fiktive und das Imaginäre; beides zugleich anthropologische und literarische Dispositionen.7 In der kulturell heterogenen Zusammensetzung der Seminar-Gruppe lässt sich Literarizität nach Ewert prozessual als Durchformung, Ausgestaltung, Fixierung, Umschreibung und Transformation der kulturellen Codes auffassen.8 Diese Verbindung zwischen Kunst und Erkenntnis ist für die akademische Wissensvermittlung interessant, weil sie von zwei Entitäten, also vom Eindruck, den ein Kunstwerk vermittelt, und Erkenntnis als dessen Wirkung ausgeht. Das Medium, durch das die Verbindung aktiv wird, ist im Fall der Untersuchung ein fiktionaler Text. Mit künstlerischen Mitteln (Fiktion) initiiert dieses Medium eine phänomenologische Wirkung (Imagination) und dadurch schafft es während der Lektüre einen Raum, in dem beide Entitäten relational zueinander stehen. Infolge dieser Verschränkung, die in moderierter Diskussion reflektiert wird, werden die Relationen wahrgenommen und so entsteht bei Lesenden neues Wissen. Ob es jedoch zu der von Ewert beschriebenen Transformation kommt, entscheidet die Interaktion beider Komponenten, die des Fiktiven und des Imaginären, die in der Erfahrung der lesenden Person erfolgt. Die individuelle Erfahrung der lesenden Person ist die 5 Ebd., S. 21. 6 Mit Verweis auf Bruner, Jerome S. (1986): Actual Minds, Possible Worlds. Cambridge/Massachusetts/London. 7 Vgl. Iser (1991), S. 21ff. 8 Vgl. Ewert, Michael (2011): Die Fremdheit der Literatur. Ein Beitrag zur interkulturellen Literaturwissenschaft mit einem Ausblick auf Fontane. In: Michael Ewert, Renate Riedner und Simone Schiedermair (Hg.): Deutsch als Fremdsprache und Literaturwissenschaft. Zugriffe, Themenfelder, Perspektiven. München. S. 12-28, hier S. 18.

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Grundlage dieser Interaktion. Das Fiktive und das Imaginäre können so füreinander zu Kontexten werden, und auf diese Weise – kontextuell – sind sie fassbar. Den Prozess der Lektüre und anschließender Reflexion, die die Kontextualisierung in der eigenen Erfahrung der Lesenden und in der Erfahrung anderer Lesender wahrnehmbar macht, bezeichne ich als transdifferenten Leseakt, der ein methodisches Beispiel der transdifferenten Lehre ist. In jedem Leseakt bekommen die realen Phänomene ein Eigenleben, sie werden in neuen, fiktiven Zusammenhängen wiederholt, transformiert, nehmen neue Gestalt(en) an und neue Bedeutung(en). Dies findet im ›Akt des Fingierens‹ statt, denn das Fingieren ist als eine Handlung zu verstehen, in derer Verlauf sich das Reale zur Fiktion verwandelt.9 Das geschieht jedoch nicht ohne Erfahrung der lesenden Person, jeder Akt des Fingierens ist individuell und die erschaffene Fiktion ist ein Bindeglied zwischen dem Realen und Imaginären. Es ist ein individueller Akt, der nur bei der lesenden Person vollzogen wird. Mit dem Akt des Fingierens beginnt die ästhetische Wirkung des Textes auf die lesende Person. Mit der Transformation der Lebenswelt der lesenden Person (Akt des Fingierens) begibt sie sich in einen neuen Raum, den Raum des Imaginären. Dies könne unmittelbar und ohne Vorbereitung geschehen, so Horst-Jürgen Gerigk.10 In Betrachtung der Konstruktion doppelter Fiktion in literarischen Texten, die er ›poetologische Differenz‹ nennt, identifiziert Gerigk eine Art Wendepunkt: Der Wechsel […] vom innerfiktionalen Standpunkt, von dem aus wir einfühlend, d.h. psychologisch verstehen, zum außerfiktionalen Standpunkt, von dem aus wir poetologisch, d.h. Realität als eigens gesetzte sehend, verstehen, geschieht nicht allmählich, indem wir etwa ein gelehrtes Wissen über die vorliegenden Realien anhäufen, sondern plötzlich. Die außerfiktionale Begründung eines innerfiktionalen Sachverhalts blitzt jeweils plötzlich auf, sie kommt wie eine Erleuchtung, bleibt aber dann, denn sie gehört ja zum Text und ist keine subjektive Assoziation des Lesers.11 Durch eine Handlung, die in der realen Welt vorstellbar sei, erhalte das Imaginäre eine »lebensnahe« Form. Wenn die im Fingieren wiederholte Realität zum Zeichen wird, dann werde ihre Bestimmtheit überschritten. Somit sei der Akt des Fingierens auch ein Akt der Grenzüberschreitung.12 Das Imaginäre grenzt Iser in der phänomenologischen Bedeutung ein: 9 Vgl. Iser (1991), S. 21ff. 10 Vgl. Gerigk, Horst-Jürgen (2006): Lesen und Interpretieren. Göttingen. 11 Ebd., S. 30. 12 Vgl. Iser (1991), S. 20f.

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Da es im Blick auf den literarischen Text nicht darum gehen kann, das Imaginäre als ein menschliches Vermögen zu bestimmen, sondern darum, Weisen seiner Manifestation und Operation einzukreisen, ist mit der Wahl dieser Bezeichnung eher auf ein Programm und weniger auf eine Bestimmung hingedeutet. Es gilt herauszufinden, wie Imaginäres funktioniert, um über beschreibbare Wirkungen Zugänge zum Imaginären zu eröffnen.13 Das von Iser aufgeführte Verfahren (Programm), Zugänge zum Imaginären für unterschiedlich enkulturierte und sozialisierte Lesende/Studierende im SeminarRaum zu finden und vor allem die Relationen, in denen diese erscheinen, wahrzunehmen, ist ebenfalls die Aufgabe der Moderation des transdifferenten Leseaktes durch Lehrende. Das Imaginäre an sich ist nicht an eine Intention gebunden. In der transdifferenten Lehre gibt es eine Intention: die Motivation zur Wissensproduktion. Im transdifferenten Leseakt wird das Imaginäre als ein Produkt des Aktes des Fingierens gesehen, das durch immer neue Relationen und Kontextualisierung eine weitere Etappe im Prozess der Wissensproduktion darstellt. In einem literarischen Text werde die in diesem dargestellte Realität, so Iser, nicht nur kognitiv, sondern sinnlich erfasst, sie werde »gefühlt«. Durch den Akt des Fingierens, eine ›Irrealisierung von Realem und Realwerden von Imaginärem‹, komme es zur Begegnung beider Entitäten, des Realen und des Imaginären. Diese Begegnung sei dann die zentrale Voraussetzung für die Wahrnehmung des Anderen. Eine Wahrnehmung des Anderen kann eine Überwindung der eigenen Sichtweisen bedeuten und das sei, so Iser, eine Bedingung für die ›Umformulierung formulierter Welt‹14 . Die wirkungsorientierte Arbeitsweise der transdifferenten Lehre untersucht diese mediale Funktion, die Texte in Kontexten ausüben. In dieser Hinsicht ist ein fiktionaler Text ein Medium der Kommunikation, er vermittelt, aber ermöglicht auch Erfahrungen, die obgleich allgemein vertraut sind, doch durch ihn vereinnahmt werden. So wird die Lektüre im transdifferenten Leseakt als Umformulierung der bereits formulierten Realität betrachtet. Durch die Umformulierung komme »etwas in die Welt […], was in ihr nicht war«15 . Bezogen auf den SeminarRaum wären das Erkenntnisse der Studierenden, die in (sprachlich) homogenen Gruppen nicht möglich wären, sowie die von Ewert beschriebene Transformation der kulturellen Codes. Die Umformulierung ist ein inhaltlicher Bestandteil der Arbeit im Seminar-Raum. Als eine Art Spiel gedacht kann sie zum Perspektiv- und Standpunktwechsel anregen, um Anderes relational und nicht als »fremd« zu verstehen. Der transdifferente Leseakt umfasst Umformulierung und Umdeutung als Prozesse, die infolge der Textwirkung und infolge moderierter Diskussion zur Wis13 Ebd. 14 Ebd., S. 22f. 15 Iser, Wolfgang (1990): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München. S. 8.

Der transdifferente Leseakt

sensproduktion beitragen können. In diesem Akt werden Differenzen in das Verstehen des Textes integriert. Durch die Umformulierung entsprechend der Ausgangssituation der an diesen Prozessen Beteiligten erhalten die Studierenden einen individuellen Zugang zu den behandelten Inhalten. Die Umformulierung an sich wäre damit ein Vorgang, in dem das zunächst Unverständliche (das Nichtverstandene) verstehbar oder zumindest vorstellbar wird. Es wird durch Ankopplung des Anderen an die schon gemachte Erfahrung und Vorwissen angereichert. Gerigk argumentiert folgendermaßen: »Wer […] ontologisch-hermeneutisch ›versteht‹, sieht die Dichtung als Produkt einer an ihr selbst ablesbaren Verwirklichung eines Sachverhalts, den sich der Autor als sein intentum zu eigen gemacht hat. Alles Verstandene wird jetzt doppelt verstanden: vom intrafiktionalen Standpunkt und vom außerfiktionalen Standpunkt aus.«16 Der Standpunkt des Einzelnen verschiebt sich, der Prozess der Anreicherung ist zugleich eine neue individuelle Erfahrung. Die Umformulierung schafft einen transdifferenten Raum, in dem differente Erfahrungen und Wissen in Relation zueinander gebracht werden. Infolge dessen wird die umformulierte Welt verstehbar, weil neues Wissen in das Vorwissen integriert wird. Wesentlich ist, dass die an diesem Prozess beteiligten Personen sich dieses Mechanismus bewusst sind – dass sie zugleich Akteure und Beobachtende sind, oder wie es in den Subjektiven Theorien heißt, Subjekte und Objekte zugleich. Diese Prozesse erinnern an die Herstellung von Weltversionen nach Nelson Goodman.17 Iser identifiziert in Anlehnung an Goodman verschiedene Akte des Fingierens u.a. Selektion, Kombination und Selbstanzeige. Diesen Operationen ist gemeinsam, dass sie das Fiktive als solches in einem literarischen Text herstellen und sogleich markieren. Das Fiktive, das bei der Lektüre zum Imaginären wird, erlaubt der lesenden Person, (eigene) Grenzen zu überschreiten, neue Konstellationen herzustellen und neu zu denken. Die Akte des Fingierens können deshalb als methodische Ansätze der transdifferenten Lehre, beispielsweise im transdifferenten Leseakt, angewandt werden, weil ihre Funktionen bestimmbar sind.18 Goodman schreibt: »Wir beginnen jedes Mal mit irgendeiner Version der Welt, über die wir schon lange verfügen und an die wir auch so lange gebunden sind, bis wir die Entschlossenheit und Fertigkeit haben, sie zu einer neuen umzubilden.«19 Birgit Neumann bestätigt, dass Wiederholung und Rekonfiguration des kulturellen Wissens im Medium der Fiktion produktive Implikationen haben. Die Fiktion werde zum Ausgangspunkt für die Ent16 17 18 19

Gerigk, S. 31. Mit Verweis auf Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. Vgl. Iser (1991), S. 24. Goodman, S. 121.

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stehung neuen Wissens, das nicht auf die früheren Referenzwelten zurückführbar sei.20 Dieser Vorgang ist aus zwei Gründen interessant: erstens aufgrund der Schaffung eines neuen Systems, wofür die Objekte aus ihrem bisherigen Rahmen herausgenommen werden; zweitens werden bei der Herausnahme wiederum Grenzen überschritten. Sowohl die Objekte als auch die Grenzen werden selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung.21 Dadurch, dass eine Grenze überschritten wird, wird ersichtlich, was ausgelassen wird. Das Ausgelassene wird zum Zeichen der Grenzüberschreitung und zur Konturierung der neuen Konstellation. Lassen die gewählten Elemente ein Bezugsfeld allererst aufscheinen, so zeigt die getroffene Auswahl das mit an, was davon ausgeschlossen ist. Präsentieren sich die in den Text eingekapselten Elemente der Bezugsfelder vor dem Hintergrund dessen, was durch sie ausgegrenzt ist, so sind die im Text anwesenden Elemente durch abwesende gedoppelt.22 In seinen Ausführungen geht Iser noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, ein Selektionsakt zeichne einerseits eine Grenze, doch nur, um diese wieder zu überschreiten, indem »Systeme als Bezugsfelder gerade dadurch voneinander abgrenzbar werden, dass ihre Begrenzung überschritten wird«23 . Der Akt des Fingierens schließt Grenzüberschreitungen ein, sonst würde das Fiktive nicht entstehen, sondern die Interpretation eines literarischen Werkes nur eine zulässige Möglichkeit im Rahmen einer Konvention bleiben. Dies würde die Kommunikation im Prozess der interkulturellen Wissensvermittlung im allgemeinen Verständnis zum Stillstand bringen. Bleibt die Kommunikation im Seminar-Raum im Rahmen der Konventionen, achten die Teilnehmenden darauf, dass sie Konventionen nicht überschreiten24 und es kommt nur teilweise zur Produktion neuen Wissens. Die Positionen werden nicht verlassen, die Teilnehmenden begeben sich nicht in den Dialog-Raum, der für sie unbequem sein kann.25 Bei dieser Betrachtungsweise wird aus der statischen Opposition ›Realität vs. Imagination‹ ein dynamischer, simultaner und räumlicher Prozess. Die Dynamik und Prozesshaftigkeit der Erkenntnis im Leseakt lässt sich auf die Prozesse der 20 Vgl. Neumann, Birgit (2006): Kulturelles Wissen und Literatur. In: Marion Gymnich, Birgit Neumann und Ansgar Nünning (Hg.): Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur. Trier. S. 29-52, hier S. 47. 21 Vgl. Iser (1991), S. 24f. 22 Ebd., S. 25. 23 Ebd. 24 Indem sie z.B. nur das sagen, was der oder die Andere vermeintlich hören will, oder was sie für wissenschaftlich, bzw. politisch korrekt halten. 25 Die Unbequemlichkeit des Dialograumes steht nicht im Widerspruch zur beschriebenen Sicherheit des Seminar-Raumes.

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transdifferenten Lehre übertragen26 : Die lesende Person nimmt die Textwelt zunächst als ein abstraktes, diffuses Gebilde wahr. Im Leseakt wird dieses Gebilde durch die eigenen Erfahrungen und das eigene Wissen gefiltert, umgekehrt aber tragen die Textwelt und der transdifferente Leseakt dazu bei, dass die Erfahrung und das Wissen der lesenden Person erweitert und neu positioniert werden. Der transdifferente Leseakt ist daher als ein räumlicher Akt zu denken. Martina Löw beschreibt Raum als eine Anordnung von Elementen, die in Beziehungen zueinander stehen, doch die Beziehungen allein schaffen noch keinen Raum: »Raum ist nie nur eine Substanz und nie nur die Beziehung, sondern aus der (An-)Ordnung, das heißt aus der Platzierung in Relation zu anderen Platzierungen, entsteht Raum.«27 Im transdifferenten Leseakt verläuft der Prozess ähnlich. Die Platzierungen wären in dem Fall das individuelle Vorwissen und die Erfahrung der Teilnehmenden. Durch Beziehungen, die zwischen den Platzierungen entstehen – die durch Moderation in Bewegung gebracht werden – entstehen neue Relationen, die durch die gemeinsame Arbeit mit fiktionalem Text dem Prozess eine fassbare Gestalt geben. Das Wesentliche jedoch, das oft erst später realisiert und reflektiert wird, wäre dabei das neue Wissen, das sich aus dem gemeinsamen close reading ergibt. Es können sich die alten und die neuen Elemente in neue Beziehungen fügen. Bei Iser heißt es in Bezug auf fiktionale Texte: Wenn solche Relationierungen einleuchten, ohne eine code-gesteuerte Regelhaftigkeit zu besitzen, dann vorwiegend deshalb, weil durch die Relationierung ein Überschreiten der bisherigen Geltung der nun miteinander verbundenen Elemente erfolgt. Umgeltung von Geltung ist eine plausible Konsequenz, die sich durch die Relationierung des vor allem aus der Textumwelt genommenen Materials unentwegt vollzieht.28 Der Kontextualisierung des Imaginären und der Relationierung im transdifferenten Leseakt liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Imaginäre Möglichkeiten zum Vorschein bringt. Wenn das Imaginäre eine Komponente eines momentanen Denkkollektivs werden würde, dann kann es zugleich eine Möglichkeit darstellen, den Denkstil eines stabilen Denkkollektivs aufzuweichen, indem dessen Komponenten auch relational betrachtet werden. Jede am Seminar-Raum beteiligte Person vertritt ihre Realität, die sich im Zusammentreffen mit anderen Realitäten als relativ darstellt. Das bemerkt auch Goodman: Daß es viele richtige Versionen und wirkliche Welten gibt, verwischt nicht die Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Welten, heißt nicht anzuerkennen, daß es bloß mögliche Welten gebe, die falschen Versionen entsprächen, und 26 Vgl. auch Stierstorfer in Bezug auf die interkulturelle Kommunikation, S. 130. 27 Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt a.M. S. 224. 28 Iser (1991), S. 30.

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impliziert nicht, dass alle richtigen Alternativen für jeden Zweck gleich gut oder überhaupt für irgendeinen Zweck geeignet wären.29 Die Anerkennung der Vielfalt der Welten oder des Wissens ist ein erster Schritt. Als Nächstes folgt, aus den vielfältigen Versionen eine neue Version zu erstellen. So wird aber keine endgültige Version angestrebt, sondern die am Prozess Beteiligten befinden sich in andauernd neuen Konstellationen zueinander und zu den von ihnen mitgebrachten Erfahrungen und Weltversionen.

Erfahrung bei der Erschließung fiktionaler Texte Erfahrung als erkenntnistheoretische Kategorie wird in den Erziehungswissenschaften sowie in der Psychologie angewandt. Wie Otto Friedrich Bollnow schreibt, ist Erfahrung etwas, was ein Individuum nur allein einordnen kann. Das Individuum müsse sich, so Bollnow, mit dem, was es er-fährt – nachdem es eine vertraute und bequeme Position verlassen hat – auseinandersetzen und es einordnen. 30 Erfahrung ist also als eine Fahrt, ein Prozess zu verstehen, der nur individuell wirksam ist. Eine Erfahrung könne gemacht, nicht erworben werden, schreibt Bollnow.31 Er meint, theoretische Kenntnis von etwas kann erworben, gelesen, gelernt werden. Eine Erfahrung zu machen bedeutet, etwas zu erleben, zu verinnerlichen, um zu wissen. Erfahrung ist also eine sehr individuelle Form des Wissenserwerbs, die sich sowohl aus dem kognitiven als auch aus dem emotionalen Vorwissen entwickelt. Nach Helga Peskoller hat Erfahrung aber auch einen passiven Charakter: Zur Bandbreite der Erfahrung gehört auch ihre passive Seite, die sich darin ausdrückt, dass einem etwas widerfahren oder zugestoßen ist oder etwas durchzustehen und durchzumachen war, was empfunden, bearbeitet, verstanden, erinnert, vergessen usw. wird. Dabei nimmt Erfahrung die Qualität einer Verwandlung an, welche einen allmählich oder auch plötzlich erfassen, durchdringen, durchwirken und ummodeln kann.32 Doch auch eine auf passive Weise gemachte Erfahrung, also eine Erfahrung, die nicht gezielt gesucht wurde, sondern der ein Individuum begegnet, produziert Wissen. Wie Peskoller schreibt, Erfahrung bedeutet Verwandlung, einen Prozess, 29 Goodman, S. 35. 30 Bollnow, Friedrich Otto (2013): Erfahrung: Begriff und Theorie. In: Johannes Billstein und Helga Peskoller (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden. S. 17-49, hier S. 22. 31 Ebd. S. 23. 32 Peskoller, Helga (2013): Erfahrung(en). In: Johannes Billstein und Helga Peskoller (Hg.): Erfahrung – Erfahrungen. Wiesbaden. S. 51-78, hier S. 53.

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der in den Erziehungswissenschaften als eine Kategorie der Erkenntnis und Methode der Wissensvermittlung angesehen wird.33 Diese Vermittlung geschieht nicht linear nach dem Topdown-Prinzip, sondern beansprucht Körper, Ort, Raum und Zeit.34 Sie mobilisiert individuelle Emotionen und Vorkenntnisse, die in dem Prozess des Erfahrung-Machens defragmentiert werden und sich dann zu einem neuen, subjektiven Gefüge zusammensetzen. Somit ist Erfahrung mit einem Wechsel der Perspektive verbunden. In der transdifferenten Lehre wird Subjektivität und Erfahrung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Beide Phänomene werden als Medien der Wissensproduktion gesehen, was anhand der von Bion entwickelten Unterscheidung zwischen Konzept und Modell erklärt werden kann. Ein ›Konzept‹ veranschaulicht das Konkrete im Abstrakten und das ist die Stelle, an der ein wissenschaftlicher Diskurs und ästhetische Wirkung von Literatur zusammengeführt werden – im abstrakten Diskurs wird die Interpretation mit vorweggenommen und die Wirkung eines literarischen Textes realisiert. ›Modell‹ bedeutet nach Bion, eine Gesamterfahrung kann zum Vorbild für spätere Erfahrungen werden.35 Dabei kann z.B. eine ästhetische Erfahrung gleichzeitig eine emotionale Erfahrung sein. Die Schwierigkeit der Anwendung liegt darin, dass sich einzelne Erfahrungen einander nicht genau gleichen. Um auf eine frühere Erfahrung zurückgreifen zu können, filtert das Individuum aus der früheren Erfahrung einen Aspekt heraus, den es als repräsentativ nutzen kann. Das wird am Beispiel eines Bildes erklärt, das keine Realität, aber eine Annährung an die Realisierung sein kann,36 wodurch die Parallele zu Funktion und Wirkung eines fiktionalen Textes sichtbar wird. Fiktionale Texte haben in der transdifferenten Lehre eine Modellfunktion. Aus dem Imaginären konstruiert die Lesende (das Individuum) ein Modell, das in seiner Vergangenheit – denn Modelle werden nach Bion nur aus Elementen der Vergangenheit konstruiert – verortet ist. Damit ist eine Basis geschaffen, mit der ein Nichtwissen identifiziert werden kann. Dieser Zustand, wie bereits beschrieben, erzeugt beim Individuum zunächst Irritationen und motiviert es dazu, in einem Raum (einer Gruppe) nach Anhaltspunkten, ähnlichen Erfahrungen bei Anderen etc. zu suchen. Dieser Umstand, den Bion Abstraktion nennt, trage nach ihm Prä-Konzeptionen in sich und das ist der Faktor, der erlaubt, aus dem Kreis der eigenen Erfahrung herauszugehen und die Erfahrung produktiv im Sinne der Wissensherstellung zu nutzen. Allein die Suche nach Gleichgesinnten ist ein Schritt aus dem auf sich bezogenen Denken in den relationalen Raum der Wissensproduktion hinein. Elemente der Abstraktion 33 34 35 36

Vgl. ebd. S. 60ff. Vgl. ebd. S. 69. Vgl. Bion, Wilfred R. (1990): Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a.M. S. 116. Vgl. ebd., S. 116f.

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seien nach Bion nicht durch eine Methode verbunden, nach der die Beziehungen zwischen den Objekten hergestellt werden. Bion schreibt: Um das Modell für die Abstraktion einer Theorie zu benutzen, muß das Individuum in der Lage sein, Elemente aus einer emotionalen Erfahrung zu abstrahieren, die sich als zuverlässig miteinander verbunden herausstellen, einschließlich des Elements, das gleichzeitig der Name der Theorie oder des wissenschaftlichen Systems ist; ferner ist es der Name jener Realisierung, die der Theorie nahekommen soll.37 Damit sei die Realisierung jeder emotionalen Situation eine Annäherung an ein theoretisches deduktives System, auch dann – und das ist ein Argument gegen die etwaige Beliebigkeit und Unwissenschaftlichkeit der transdifferenten Lehre – wenn ein solches wissenschaftliches deduktives System oder eine solche Repräsentation noch nicht entdeckt seien.38 Die Idee der Repräsentation im und durch das Modell ist für die transdifferente Lehre eine Zusammenfassung der phänomenologischen Betrachtungsweise von fiktionalen Texten und der Mechanismen, die im Seminar-Raum stattfinden. In diesem Sinne ist ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung, Wege zu erkunden, wie die vielfältigen medialen Funktionen der Literatur in der Wissensvermittlung und -produktion im akademischen Lehrbetrieb eingebunden und operationalisiert werden können.

Textwirkung in der transdifferenten Lehre Die Konstanzer Schule, zu deren Vertreter u.a. Wolfgang Iser zählt, erforschte die ästhetische Wirkung literarischer Texte. Die Erkenntnisse von Iser verwende ich als Verfahrensansatz bei Prozessen der transdifferenten Lehre. Iser fragt nach der Wirkung der Texte in Interaktion mit der außertextuellen Welt, deren Ergebnis maßgeblich von den Erfahrungen, dem Vorwissen und den Erwartungen der lesenden Person geprägt sei, also ein individuelles Verfahren darstellt, das sich empirisch kaum erfassen lässt.39 Es handelt sich weniger darum, welches Wissen ein Individuum einem literarischen Text entnehmen und in seine Welt integrieren kann, als vielmehr um Mechanismen, wie dieser Akt geschieht. Diese Mechanismen können durch Erkenntnisse der Psychologie und Psychoanalyse sowie die Subjektiven Theorien erklärt werden. Iser beschreibt das Verfahren auf folgende Weise: [D]er Rückgriff auf die psychische Beschaffenheit des Menschen als Basis für einen Lesertyp, an dem die Auswirkungen von Literatur beobachtet werden können, 37 Ebd., S. 120. 38 Vgl. ebd., S. 120f. 39 Vgl. Iser (1990).

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[war – A. B.] nicht zuletzt von dem Bestreben geleitet […], von den Begrenzungen der genannten Lesertypen wegzukommen. Deshalb kann eine psychoanalytisch orientierte Wirkungstheorie der Literatur für sich eine größere Plausibilität beanspruchen, da es den von ihr beschriebenen Leser [sic!] wirklich zu geben scheint; er ist von dem Verdacht gereinigt, eine bloße Konstruktion zu sein.40 Nicht die Frage nach Bedeutung eines Textes sei zentral für die Interpretation, sondern die Frage nach der Wirkung.41 Im Vorwort zur zweiten Auflage der Schrift »Der Akt des Lesens« nennt Iser als grundlegende Fragen: das Problem der Aufnahme eines Textes (Rezeption), die Frage nach den Strukturen, die eine Verarbeitung des Textes durch die lesende Person bedingen (u.a. individuelle Erfahrung), und als Problem der Metaebene: welche Funktion fiktionale Texte in ihren Kontexten ausüben (Wirkung, Wissensproduktion).42 Das zweitgenannte Problem, das der Erfahrung, kommt im Zusammenhang der Wissensvermittlung im kulturell heterogenen Kontext zum Vorschein, besonders, wenn man verinnerlichtes Wissen zur Kategorie der Erfahrung zählt, die durch die von den Studierenden mitgebrachten Wissens- und Erfahrungsbestände ausgelöst wird und sich auf die Produktion von neuem Wissen auswirkt. Dem Prozess des Lesens und der Erschließung wird in der transdifferenten Lehre noch eine weitere Komponente hinzugefügt – die gemeinsame Erörterung der Wirkung der Lektüre. Diese Phase betrachte ich als unverzichtbar für die Wissensproduktion mittels Lektüre eines fiktionalen Textes. Ich denke diese Produktion als einen Prozess, in dem die einzelnen, durch individuelle Erfahrung geprägten Interpretationen und Wirkungen zusammenkommen und sich vermischen. Michael Ewert schreibt, dass durch die Hinterfragung die Einübung des Üblichen außer Kraft gesetzt werden könne, was auch bedeute, dass die Realität verfremdet wird.43 Als Einübung des Üblichen verstehe ich die individuelle Lektüre, die ohne die Reflexion der Zugänge Anderer vollzogen wird. Die Reflexion stellt die Phase, in der Differenzen sichtbar werden, dar. Die Differenzen werden thematisiert und erkundet. Ohne die Zugänge der Anderen ist in meiner hochschuldidaktischen Erfahrung die Arbeit mit fiktionalem Text ein bloßes »Abarbeiten«, was Ewert bestätigt.44 Die Reflexion der eigenen Wahrnehmung und der Wahrnehmungen der Anderen nimmt Zeit in Anspruch. Mir wurde von Studierenden jedoch mehrfach bestätigt, dass der Text sie erst durch die moderierte, gegenseitige Erzählung der Seminar-Teilnehmenden angesprochen habe; sie haben ihn dadurch (individuell) verstanden – mit anderen Worten, der Text konnte seine Wirkung entfalten. 40 Iser (1990), S. 51-52. 41 Vgl. ebd., S. III. 42 Vgl. ebd., S. IV. 43 Vgl. Ewert, S. 21. 44 Vgl. ebd., S. 18f.

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Die Phase der gemeinsamen Erörterung des Zugangs zum Text und der Wirkung der Lektüre ist keine Erarbeitung einer »richtigen« Interpretation, sondern eine Veranschaulichung, dass sehr unterschiedliche Wirkungen entstehen können und entstehen. Die Vielfalt wird durch ein bestimmtes Merkmal fiktionaler Texte, das noch nicht zur Sprache kam, befördert: ihre Leerstellen. Die Theorie der Leerstellen als ein Konstruktionselement von fiktionalen Texten geht auf Iser zurück.45 Leerstellen bieten der lesenden Person einen Raum an, in dem sie ihre individuelle Erfahrung mit der Lektüre verbinden kann. Dadurch können während und nach der Lektüre Situationen hergestellt (imaginiert) werden, die im Text nicht enthalten sind. Sie können unterschiedlicher Art sein; eine, die besonders für die transdifferente Lehre interessant ist, wird von Iser benannt: Immerhin bleibt das Phänomen zu registrieren, daß offenbar eine ungebrochene Neigung besteht, als Leser die fiktionalen Risiken der Texte mitzumachen, die eigenen Sicherheiten zu verlassen, um in andere Denk- und Verhaltensweisen einzutreten, die keineswegs erbaulicher Natur sein müssen. Der Leser [sic!] kann aus seiner Welt heraustreten, unter sie fallen, katastrophale Veränderungen erleben, ohne in Konsequenzen verstrickt zu sein.46 Durch die ›Konsequenzenfreiheit‹, heißt es bei Iser weiter, könne die lesende Person eine gefahrlose Selbsterfahrung machen. Aus diesem Gedanken lässt sich schlussfolgern, die lesende Person kann auch gefahrlos den Anderen wahrnehmen. Dadurch, dass das Andere im und durch einen fiktionalen Text re-präsentiert wird, aber physisch nicht anwesend ist, bleibt die Begegnung ohne weitere Folgen. Sie kann spurlos in Vergessenheit geraten, sie kann aber auch zur Suche nach dem Anderen inspirieren und motivieren. Der Gegenstand der Wirkungsforschung ist nach Iser die Funktionsuntersuchung von Interaktion zwischen Text und außertextueller Welt. Iser versucht zu erkennen, wie die kulturelle Prägung der lesenden Person und der Text an sich die Wirkung beeinflussen und vorgeben. Er formuliert die Frage, inwiefern die vom Text ausgelösten Verarbeitungen durch den Text vorstrukturiert seien.47 In der vorliegenden Untersuchung kann diese Frage noch konkretisiert werden: Inwiefern sind die vom Text ausgelösten Verarbeitungen durch die (hoch-)schulische Prägung, also Strukturen und Mechanismen der Wissensvermittlung (des stabilen Denkkollektivs) vorstrukturiert und wie trägt dieser Aspekt zur Wissensproduktion bei. 45 Vgl. Iser, Wolfgang (1988): Die Appelstruktur der Texte. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München. S. 228-252, hier S. 249. 46 Ebd. 47 Vgl. Iser (1988), S. IV.

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Diese Fragen stellen sich im Kontext der Mehrdeutigkeit eines literarischen Textes, der im Prozess des Lesens auf wenige Bedeutungen zurückgeführt wird. Die Mehrdeutigkeit, die durch den Ereignischarakter des Textes bedingt sei, erfahre nach Iser in der Verarbeitung eine ›selektive Vereindeutigung‹.48 Basis dieser Vereindeutigung sei die ›Konsistenzbildung‹, die bei Lektüre erfolge. Erst durch die Konsistenz seiner Segmente erschließe sich der Text dem Verstehen.49 Iser erklärt nicht, was er unter Konsistenzbildung versteht. In meiner Interpretation kann es das Herausfiltern von Inhalten oder Textelementen sein, an die die lesende Person mit ihrer emotionalen Erfahrung anknüpfen kann, worunter sie sich etwas vorstellen kann, das das individuelle Verständnis des Textes voranbringt. Dies erinnert an die von Bion beschriebene Phase der Konstruktion eines Modells, die in der Vergangenheit, also in der individuellen Erfahrung begründet ist. Darauf folgt die bereits beschriebene Phase der Abstraktionsverarbeitung, die bei Bion Prä-Konstruktionen einer künftigen Erfahrung oder – im Fall der transdifferenten Lehre – neue Konstellationen, die individuellen Wissenszuwachs ergeben, bedeutet. Damit gibt es im Prozess der Wahrnehmung eines fiktionalen Textes sowohl eine komprimierende (reduzierende) Wirkung der Konzentration auf wenige Aspekte als auch eine die Leerstellen füllende (wachsende) Wirkung. Eine Diskussion über den Text im Seminar-Raum ermöglicht eine Zusammenführung beider Dynamiken, was ein breiteres und differenzierteres Verstehen nach sich zieht: »Im Kontext der fiktionalen Welt wird das Wissen der Kultur zwar wiederholt. Allerdings nimmt das wiederholte Wissen innerhalb der dargestellten fiktionalen Welt andere Bedeutung an.«50 Die Zusammenführung der Argumentation von Iser, Bion und Neumann ergibt für mich folgende Konstruktion: Die kulturelle und individuelle Prägung sowie die Vorstrukturierung des Textes beeinflussen sich im Lesevorgang gegenseitig. Die Realisierung dieses Vorgangs bei der Lektüre und ein Austausch über diese Interaktionen im Seminar-Raum ermöglichen eine andere Wirkung des Textes als wenn er individuell und ohne Diskussion gelesen werden würde. Die Diskussion macht sowohl die Situierung des eigenen kulturellen Wissens – worin Parallelen zur Situierung des kulturellen Wissens der Anderen liegen – als auch die Situierung der individuellen Erfahrung bewusst und erlaubt, individuelle Konstruktionen und Konzeptionen (Modelle) daraus zu entwickeln. Diese Leerstellen im Text werden von jeder lesenden Person auf individuelle Art und Weise gefüllt. Deswegen haben die Leerstellen unterschiedliche Qualitäten. 48 Vgl. Jahraus (2004), S. 198. Jahraus nennt die Vereindeutigung ›Reduktion‹ und nach seiner Theorie wird die Komplexität der Phänomene durch Sinn reduziert. Doch im Kontext der Lektüre im kulturell heterogenen Seminar-Raum kann ›Sinn‹ unterschiedlich sein, von daher ist die Gleichstellung von Vereindeutigung und Reduktion berechtigt, unter der Prämisse, dass ›Sinn‹ als regulierendes Medium individuell verstanden wird. 49 Vgl. Iser (1988), S. VI. 50 Neumann, S. 47.

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Sie können sich von den Erfahrungen der lesenden Personen derart unterscheiden, dass sie sogar abgelehnt oder als konkurrierendes Weltbild aufgefasst werden. Sie können aber auch »die jeweils individuellen Erfahrungen des Lesers [sic!] ›normalisieren‹. Er kann einen Text auf die eigenen Erfahrungen reduzieren.«51 Auf jeden Fall versucht die lesende Person im Lesevorgang die Unbestimmtheit, die von den Leerstellen erzeugt wird, abzubauen. So bietet die Arbeit mit fiktionalen Texten eine Plattform für den Übergang von Nichtwissen zur Produktion von Wissen. Das sei die Funktion dieser Stellen, sie sorgen nach Iser dafür, dass ein fiktionaler Text an die individuellen Dispositionen einer lesenden Person infolge der Lektüre angepasst werde.52 Die Kehrseite eines selektiven, vereindeutigenden Lesens sei, dass sie eine Aktualisierung von globalen Textwirkungen behindere; das Lesen bleibe so im jeweiligen soziokulturellen Code der lesenden Person verhaftet, so Iser. In der transdifferenten Lehre stellt gerade die Aktualisierung einen grundsätzlichen methodologischen Aspekt dar, unter der Bedingung, dass sie, wie erwähnt, zielbewusst operationalisiert wird und anschließend als Anschauungs- und Reflexionsstoff verwendet wird. Das Ziel transdifferenter Lehre ist nach meinem Dafürhalten ein Herauslösen aus der Verhaftung im Eigenen – sei es Interpretation, Ansicht, Betrachtungsweise, soziokultureller Code. Eine bewusst moderierte Diskussion und eine Besprechung der Lektüre vor dem Hintergrund unterschiedlicher kultureller Erfahrungen und Codes kann eine differenzierte Aktualisierung voranbringen – mit dem Hinweis, dass eine solche Aktualisierung für die Wissensproduktion bedeutend ist. Diese Betrachtungsweise steht im Gegensatz zur Interpretationsweise, die davon ausgeht, dass Texte Inhalte haben, die ihrerseits Träger von Bedeutungen sind. Doch Texte lassen sich nicht nur auf Bedeutungen reduzieren.53 Eine Ermittlung von Bedeutungen (Interpretation) ist nur ein Teil des Spektrums bei der Arbeit mit fiktionalen Texten. Besäßen die Texte wirklich nur jene von der Interpretation hergestellten Bedeutungen, dann bliebe für den Leser nicht mehr viel übrig. Er könnte sie nur annehmen oder verwerfen. Doch zwischen Text und Leser spielt sich ungleich mehr als nur die Aufforderung zu einer Ja/Nein-Entscheidung ab. Allerdings ist es schwierig, in diesen Vorgang hineinzublicken, und es fragt sich, ob man über die höchst verschiedenartigen Interaktionen, die zwischen Text und Leser ablaufen, überhaupt Aussagen machen kann, ohne in Spekulationen abzugleiten.54 51 52 53 54

Iser (1988), S. 233. Vgl. ebd., S. 234. Vgl. Iser (1988), S. 228. Ebd.

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Eine solche Interaktion ist, wie bereits erwähnt, von den Umständen der lesenden Person determiniert. Iser argumentiert in dem Zusammenhang historisch – je nachdem, zu welcher Zeit ein Text gelesen würde, entfalte er eine andere Wirkung.55 Diese Feststellung lässt sich auf die kulturelle Diversität im Seminar-Raum ausweiten. Je nachdem, wie die persönliche und kollektive kulturelle Erfahrung der lesenden Person im momentanen Denkkollektiv ist, entfaltet ein gelesener Text eine andere Wirkung. Iser stellt sodann die Frage, wie das Verhältnis von Text und Leser beschreibbar zu machen sei.56 Wohlbemerkt – nicht definierbar oder quantifizierbar, sondern beschreibbar, was eine offene und prozessuale Betrachtung im Sinne der Subjektiven Theorien impliziert. Wie ein fiktionaler Text auf die Seminar-Teilnehmenden wirken kann, hängt von der individuellen Erfahrung, von Vorwissen und Situierung im kulturellen Mainstream ab. Sie bedingen den Zugang zum Text. Hayden White beschreibt den Prozess des Textverständnisses am Beispiel von historischen Texten, die, wie der Autor argumentiert, immer eine fiktive Komponente beinhalten.57 White schreibt, jede Geschichte, die im Text erzählt wird, sei in ihrer Wirkung vielfältig, je nachdem aus welcher Perspektive und mit welcher Erfahrung sie gelesen werde.58 Ob eine Geschichte tragisch, komisch, romantisch usw. sei, sie werde als solche vom Lesenden empfunden, und zwar […] aus einer Perspektive oder vom Kontext einer strukturierten Folge von Ereignissen her, innerhalb derer es [das Ereignis – A. B.] als Element einen hervorragenden Platz einnimmt. Das, was sich aus einer Perspektive als tragisch ausnimmt, stellt sich aus einer anderen Perspektive als komisch dar, so wie in der Gesellschaft das, was vom Standpunkt der einen Klasse als tragisch, vom Standpunkt einer anderen Klasse nur als Farce erscheint.59 Die Wirkung eines Textes ergibt sich aus individuellen Konzepten, nach denen die lesende Person das Gelesene zuordnet. In einem kulturell heterogenen SeminarRaum sind unterschiedliche Konzepte präsent. Sie bilden einen Filter, durch den der Text gelesen und verstanden wird. White schreibt, die Konzepte verleihen dem Text Sinn entsprechend der zur Verfügung stehenden Kategorien, die zum Beispiel metaphysische Konzepte oder religiöse Auffassungen sein können.60 Im Seminar-Raum steht ein lesendes Individuum, Studierende wie Lehrende, vor zwei gleichzeitigen Herausforderungen bezüglich des im fiktionalen Text ge55 Vgl. ebd. 56 Vgl. ebd., S. 230. 57 Vgl. White, Hayden (1991): Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart. S. 103f. 58 Vgl. ebd., S. 104. 59 Ebd. 60 Vgl. ebd., S. 106.

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speicherten kulturellen Wissens. Einerseits hat sich die Person mit dem Wissen des eigenen Kollektivs auseinanderzusetzen, aus dessen Perspektive sie den Text liest und in dem sie kulturell verortet ist, andererseits mit dem »fremden« Wissen anderer Denkkollektive, das ebenso in fiktionalen Texten gespeichert ist und von anderen am Seminar-Raum Beteiligten »mitgebracht« wird. Es ist eine Situation der doppelten Unsicherheit, die zum einen aus dem Zugang zu Text und Kultur resultiert, deren Mainstream der Text repräsentiert und ebenso bricht, – und zum anderen durch den einer lesenden Person unbekannten Zugang Anderer verstärkt wird. Das Individuum versucht auf die Vorstellungen der Anderen, die es oft nur ahnt, aber nicht kennt, einzugehen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung ist ein Prozess und die daraus möglicherweise entstehenden Konflikte und Irritationen können in der Vermittlungsfunktion fiktionaler Texte – in der Funktion der Literatur, im Sinne eines kulturellen Phänomens und als Medium – kanalisiert und gelöst werden. Diese Herangehensweise bedeutet also nicht nur die Interpretation eines fiktionalen Textes, sondern die Konzeptualisierung seiner Wirkung und Operationalisierung für die Wissensproduktion im akademischen Lehrbetrieb.

Spiel als Regelwerk der transdifferenten Lehre Das Phänomen des ›Spiels‹ wird mit Kindern in Verbindung gebracht und als etwas in der Erwachsenenwelt Unseriöses abgetan.61 Doch im Spiel, im Akt des Spielens, verstecken sich aus der kulturwissenschaftlichen Sicht interessante Mechanismen. Spiel bedeutet eine Opposition zum Wirklichen, Ernsten, Realen. Ein Spiel bedeutet‹ etwas als etwas zu verstehen.62 Es bedeutet aber auch, nach bestimmten Regeln zu handeln. Wenn Kinder spielen, wissen sie, dass sie spielen. Josef Mitterer führt als Beispiel eine Situation an, in der ein Kind mit einer Kiste ein Haus spielt.63 Ein Erwachsener sehe in der Kiste eine Kiste, einen Gebrauchsgegenstand. Das spielende Kind sehe in der Kiste aber ein Haus. Beide Wahrnehmungen seien richtig, denn das Kind sei sich des Spiels bewusst und sehe zwar in der Kiste eine Kiste, doch 61 Vgl. Oelkers, Jürgen (2005): Die Kindheit, ein Spiel. 100 Jahre Nachdenken über Kreation und Imagination. In: Deutsches Hygienemuseum (Hg.) Spielen. Zwischen Rausch und Regel. Dresden. S. 60-72, hier S. 67. 62 Vgl. Gadamers Ausführungen zur Zeitlichkeit des Verstehens, zum ›sich-auf-etwas-Verstehen‹, ›sich-als-etwas-Verstehen‹: Gadamer, Hans-Georg (1988): Wirkungsgeschichte und Applikation. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München. S. 113-125, hier S. 123. 63 Vgl. Mitterer, Josef (2011): Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Weilerswist. S. 21.

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manchmal – wenn es spiele – sehe es in der Kiste ein Haus. Im Spiel sei sie ein Haus. Eine ähnliche Betrachtung findet sich bei Johan Huizinga, der Spiel auch als ›so tun als ob‹ auffasst, also als eine Handlung im Bewusstsein, dass man ›etwas‹ als ›etwas‹ sieht.64 Huizinga schreibt, jedes Spiel – unabhängig davon, ob es ein Kinderspiel, ein Theaterspiel oder ein Ritual sei – bedeute etwas und werde von der Binarität ›Spiel vs. Ernst‹ begleitet. Ein Spiel bewege sich in einem Raum zwischen beiden Entitäten; wie sehr das ein abstraktes, von der Realität abgelöstes Spiel sei oder ob doch dem Spiel etwas Ernstes beigemessen werde, hänge von den Spielenden und den Betrachtenden ab. Huizinga schreibt: »Wenn wir eine Posse und ein Lustspiel komisch finden, geschieht es nicht wegen der Spielhandlung selbst, sondern wegen des Gedankeninhalts.«65 Das Spiel geschieht also infolge der kognitiven Verarbeitung des Inhalts und der Umstände sowie aufgrund individueller Erfahrung der betrachtenden Person. Ein Spiel zeichne sich, so Huizinga, durch ein freies Handeln aus. Sobald es zum Zwang würde oder mit Zwang gespielt würde, sei es kein Spiel mehr. Auch bedeute ein Spiel, dass man aus der Handlungswelt, aus dem ›ernsten‹, aus dem ›gewöhnlichen‹ Leben, heraustrete. Es bedeute zugleich eine Umwandlung des Bewusstseins und der Wahrnehmung der Spielenden. Das geschehe nach bestimmten Regeln, auf die sich die Spielenden vor dem Spiel einigen. »Es hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst.«66 Ein Spiel zeichne sich auch durch eine permanente Hin- und Her-bewegung, eine Oszillation aus, die jedoch nach bestimmten, von den Spielenden vereinbarten Regeln verlaufe, und zwar im Bewusstsein dessen, dass sie spielen und dass sie sich in eine imaginäre Welt begeben. Die Spielregeln seien mit Konventionen nicht identisch. Sie haben keine Allgemeingültigkeit und können von den Spielenden vor dem Spiel nur für ein Spiel oder eine Etappe des Spiels vereinbart werden. Sie sorgen dafür, dass das Spiel für die Spielenden einen Sinn hat und nicht zerfällt. Teilnahme am Spiel nach Huizinga bedeutet also, dass die Spielenden aus ihrer Wirklichkeit hinaustreten und in eine andere, momentane, gespielte Wirklichkeit eintauchen. Zusammenfassend beschreibt Huizinga das Spiel folgendermaßen: Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird vom Gefühl der Spannung, der Freude und einem Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹.67 64 Vgl. Huizinga, Johan (1997): Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbeck bei Hamburg. S. 13. 65 Ebd., S. 14. 66 Ebd., S. 18. 67 Ebd., S. 37.

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In diesem Sinne verweist auch Iser, der sich in Bezug auf das Phänomen des Spiels und des Spielens an Gregory Bateson68 anlehnt, auf das Spiel als ein Oszillieren, ein Gleiten und Kippen, Interferieren oder Konfigurieren von Bedeutungen, die asymmetrisch verlaufen und in der ästhetischen Wirkung eines Textes enthalten seien. Das Spielen selbst habe eine transistorische Funktion – es vermittele, stelle die Figuren (die Spielenden) in neue Konstellationen und Beziehungen zueinander.69 Das Spiel bewahrt den Akt des Fingierens, der sich auch im transdifferenten Leseakt vollzieht, vor Beliebigkeit. Das Fingieren zeigt nach Iser eine Lücke auf, die das Bewusstsein nicht mehr zu schließen vermag, weil es kein Wissen davon gebe, wie es fingiert wird. Diese Lückenhaftigkeit kann also nur hingenommen werden und sie ist gerade auch eine Regulation. Das Spiel, das Hin und Her, lässt mit anderen Worten nicht zu, dass die Spielenden über das hinausgehen, wovon sie sich distanziert haben. In dieser Auffassung des Spiels werden Ähnlichkeiten zwischen dem Spiel und transdifferenter Lehre sichtbar. Das Spiel und auch der Seminar-Raum werden als eigener Raum, in den sich die Spielenden begeben und in dem sie nach eigenen Regeln handeln, betrachtet. Der Unterschied besteht darin, dass die transdifferente Lehre auf das Überschreiten der Basis, der eigenen Perspektive, von der sie sich distanziert, angewiesen ist, sonst wäre die Wahrnehmung des Anderen nicht möglich. Es ist ein Widerspruch in sich, denn das Spiel enthülle sich, so Iser, »als Beseitigung eines Mangels, der im Fiktiven durch das Visieren seiner Intentionalität und im Imaginären durch seine Formlosigkeit angezeigt ist.«70 Möglicherweise ist ein solcher Mangel im Prozess der Wissensproduktion das Nichtwissen. Das würde die negative, im Sinne einer nicht ernsten Angelegenheit, Belegung des Begriffs Spiel zumindest in Ansätzen erklären. Der Vorteil liegt darin, dass es zu den Zielen der Wissensproduktion gehört, sich von der Basis zu entfernen, über sie hinauszugehen. Auf der anderen Seite ist die Wissensproduktion auf diese Basis angewiesen. Darum ist dieses Spiel unbedingt als Wechselspiel zu sehen. Iser schreibt dazu: Wenn das Hin und Her ein Fiktives als freies Spielen auf einen Grund bezieht und wenn ein Imaginäres das Überschrittene zerspielen läßt, um Motivationen vorstellbar zu machen, dann vollzieht sich ein solches Spiel als Gewinnen und Überspielen der Gewinne zugleich. Es wird dadurch nicht variabel, sondern im Prinzip auch seriell.71 68 Vgl. Bateson, Gregory (2011): Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M. 69 Vgl. Iser (1991), S. 379. 70 Iser (1991), S. 409. 71 Ebd.

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Zum Spiel gehört jedoch ein unerlässlicher Faktor – die individuelle Erfahrung der Akteurinnen (der Studierenden/Lehrenden). So schwer sich diese Erfahrung auch erfassen lässt, sie ist ein innerer Konnektor des Spiels. Die Erfahrungen der Teilnehmenden funktionieren als ein Korrektiv im Seminar-Raum und schützen so das Kollektiv vor dem Auseinanderfallen im Spiel. Die Erfahrung in der Summe der Erfahrungen der Beteiligten ist ein Faktor, der das momentane Denkkollektiv des Seminars an eine Grenze bringt. Diese Grenze ist dann als Basis zu betrachten, von der sich in der nächsten Bewegung, im nächsten Intervall distanziert wird. Diese Distanzierung bedeutet das Beenden einer Phase und das Übergehen zur nächsten. In der literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Spiels ist es die lesende, auf Gewinn (Erkenntnis, ästhetisches Erlebnis u.a.) bedachte Person, die das Spiel dann beendet, wenn sie sich »am Ende im Besitz einer Bedeutung wähnen darf, die als Resultat jedoch nicht mehr Spiel ist.«72 Dies ist der Moment, in dem sich zwar die Diskussion erschöpft, aber die individuelle Reflexion über das Erörterte einsetzt. Das aus der Diskussion gewonnene Wissen wird reflektiert, wodurch die Basis für den weiteren Prozess der Wissensproduktion geschaffen wird. Die von den Beteiligten in den Seminar-Raum eingebrachten Elemente – kulturelle Codes, individuelles Wissen und Erfahrung – werden ohne Bewertung präsentiert und diskutiert. Das im Vordergrund stehende Objekt ist ein Auslöser dafür und zugleich ein Medium der Wissensproduktion. Ein Spielprozess ist, wie gesagt, ein Prozess der Umwandlung des Bewusstseins und der Wahrnehmung. Im transdifferenten Seminar-Raum werden Wissen und Erfahrung spielerisch umgewandelt.73 Das Bewusstsein, »bloß zu spielen«, und die Verwendung eines fiktionalen Textes als Diskussionsstoff helfen den Teilnehmenden, sich in den Raum des Imaginären zu begeben und ihre Handlungswelt zu verlassen. Eine akademische Diskussion im Seminar-Raum kann als Ausführung eines Spiels aufgefasst werden. Die Positionen werden zuerst abgesteckt und die Argumentation bringt sie in Bewegung. Die Bewegung wird initiiert durch Argumentationen in der Diskussion, die sich im Prozess der Wissensproduktion im SeminarRaum in einem Hin und Her unter den sich an der Diskussion Beteiligenden weiterträgt.74 Wie sich ein Spiel vollzieht, hängt nach Iser von der aktivierenden Instanz ab. Aktivierende Instanz in einem momentanen Denkkollektivs, das zum Zwecke einer kulturell heterogenen, differenzorientierten akademischen Wissensproduktion zusammen kommt, sind die individuellen Interessen der Teilnehmenden, die Intention der dozierenden Person, aber auch die Gruppendynamik, die den Prozess erheblich beeinflussen kann. In der transdifferenten Lehre ist aber auch die 72 Iser (1991), S. 411. 73 Vgl. Huizinga, S. 25. 74 Vgl. Bateson, S. 250f. und Huizinga, S. 25.

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institutionelle Instanz zu beachten, welche dann die Universität als stabiles Denkkollektiv ist. Die Universität als Institution gibt den Rahmen vor, der eine regulierende Funktion hat. Die Universität als Ort der Forschung und Lehre hat aber gleichzeitig die Aufgabe, über den Rahmen hinauszugehen, denn ein Verbleib in diesem Rahmen würde Reproduktion statt Produktion bedeuten. Wenn es von der aktivierenden Instanz abhängt, wie sich das Spielen vollzieht, dann werden sich die Möglichkeiten des transistorischen Charakters dort stärker entfalten lassen, wo die pragmatischen Zwecke von minderer Bedeutung sind.75 In der akademischen Lehre ist die Universität eine aktivierende Instanz, sie schafft die materiellen und ideellen Bedingungen für Wissensvermittlung und -produktion. Sie schafft Freiräume, in denen diese Produktion stattfinden kann, z.B. durch das Prinzip der Freiheit der Lehre. Andererseits ist sie eine regulierende Institution, die versucht, diese Freiheit in die von ihr als Institution geschaffenen oder zu überwachenden Bahnen zu lenken. Diese Bahnen werden z.B. vom Kriterium der Wissenschaftlichkeit markiert. Es hängt von dem Verhältnis zwischen der regulierenden und der freiraumschaffenden Funktion der Universität ab, ob sich ein Spiel, also die akademische, transdifferente Lehre stärker oder schwächer entfalten kann. Die zu Beginn der vorliegenden Untersuchung präsentierte Frage, nach welchen Prinzipien der kulturell heterogene Lehrbetrieb arbeiten soll – nach dem Grundsatz der Werte oder nach dem Grundsatz der Prozeduren – wird vor dem Hintergrund der Transdifferenz erörtert. Dem Argument von Iser folgend, welchem nach ein aktiviertes Imaginäres als Spiel dort ungleich variantenreicher werde, wo die mobilisierende Instanz nicht von vornherein die transistorische Spielbewegung für das Verwirklichen vorgegebener Ziele nutze,76 lautet die Antwort: sowohl als auch – nach dem Grundsatz der Werte und nach dem Grundsatz der Prozeduren. Besteht der Zweck des zeitgenössischen akademischen Lehrbetriebs darin, nicht nur ein bestimmtes, standardisiertes Zertifikat zu vergeben, sondern individuelles und kollektives Wissen zu produzieren, kann der institutionelle, der »wissenschaftliche« Rahmen immer wieder zugunsten der transdifferenten Lehre verlassen werden. Für die transdifferente Lehre spricht auch, dass das Fiktive das Spiel des Imaginären hervorruft, aber nicht bestimmt. Nach Iser soll das Fiktive über seinen pragmatischen Gebrauch hinaus erfahrbar sein, ohne von der Pragmatik überdeckt zu werden.77 Dadurch wird die Diskussion nicht beliebig, auch wenn sie in den oben 75 Iser (1991), S. 380. 76 Vgl. ebd., S. 381. 77 Vgl. ebd.

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beschriebenen Ansätzen mäandrierend und konzentrisch verläuft. Werden die regulierenden Faktoren in den Hintergrund gestellt, wird das momentane Denkkollektiv produktiv. Das Spiel beginnt mit dem Lesevorgang, der nur dann fruchtbar im Sinne der Wissensproduktion ist, wenn er zur ›Konkretisation‹ führt.78 Dabei spielen die Leerstellen des Textes eine besondere Rolle. Das Gesagte scheine nämlich, so Iser, erst dann zu sprechen, wenn es auf das verweist, was es verschweigt.79 Es entstehe, so Iser weiter, ein Spielraum für Suggestionen, für eine Interaktion zwischen dem Text und der lesenden Person. Dies lässt sich auch für ein momentanes Denkkollektiv, analog für die Seminargruppe feststellen. So heißt es bei Iser: Der Kommunikationsprozeß wird durch diese Dialektik von Zeigen und Verschweigen in Gang gesetzt und reguliert. Das Verschwiegene bildet den Antrieb für Kommunikationsakte, zugleich aber ist dieser Produktivitätsreiz durch das Gesagte kontrolliert, das sich seinerseits wandeln muß, wenn das zur Erscheinung kommt, worauf es verwiesen hat.80 Die Dynamik eines literarischen Textes kann auf die Arbeitsdynamik der Seminargruppe übertragen werden. Die Phänomenologie bietet dafür ein Verfahren an, das sich im Seminar-Raum, insbesondere in der Arbeit mit kulturell vielfältigen Gruppen, bei denen es auch auf die Erweiterung von Fremdsprachenkompetenzen ankommt, anwenden lässt. Das Schema der phänomenologischen Reduktion kann einen Einstieg in eine Textarbeit und für die Schaffung eines momentanen Denkkollektivs im Seminar-Raum bieten. Dafür wird der Blick zunächst nur auf die sprachliche Ebene eines fiktionalen Textes gelenkt. Es geht darum, was der Text »sagt«, wie er zu den lesenden Personen »spricht«. In dieser Phase der Arbeit mit einem Text kommt es zur Diskussion zwischen den Teilnehmenden im Seminar-Raum, weil die Wahrnehmungen des Textes und seiner Botschaften unterschiedlich sind. Durch die Diskussion wird eine Basis für den zweiten Schritt gelegt, der darin besteht, die durch den Text produzierten Sinnvorstellungen zu untersuchen. Diese Sinnvorstellungen zunächst nebeneinander zu stellen, zu beschreiben und zu begründen bildet, wie gesagt, das zentrale Anliegen der Arbeit im Seminar-Raum. Es kommt zur Erweiterung der individuellen Textwahrnehmung 78 Mit ›Konkretisation‹ benennt Roman Ingarden die Wirkung, die vom Text als zentralem Ort ausgeht. Auf der einen Seite stünden die künstlerischen Absichten des Autors oder der Autorin, die in den Text eingeschrieben werden. Auf der anderen Seite stehe das, was die lesende Person dem Text entnehme und was in ihr durch den Text aktiviert werde. Wenn ein Text ein solches virtuelles Spiel entwickele, so werde er zum literarischen Werk, zum Ort der Entwicklung einer Konvergenz zwischen Autor oder Autorin, dem Text und der lesenden Person. Vgl. Ingarden, Roman (1968): Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen. S. 49f. 79 Vgl. Iser (1988), S. 255. 80 Ebd.

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sowohl auf seiner semantischen als auch symbolischen Ebene. Diese Erweiterung bedeutet zugleich eine Veränderung des bereits gelesenen Satzes und eine Erwartung des Gesagten und des Nichtgesagten im nächsten. Denn: »Jedes Satzkorrelat besteht aus gesättigter Anschauung und Leervorstellung zugleich.«81 Damit entstehen mehrere Optionen zur Entfaltung des Erwarteten, je nachdem, ob der nächste Satz die individuelle Erwartung der lesenden Person bestätigt oder enttäuscht. Die Erwartungen in einer kulturell heterogenen Gruppe sind differenter als in einer relativ homogenen, in der sie aber auch vorhanden sind. Durch ein Besprechen der Erwartungen und die Feststellung der Vielfalt der Teilnehmenden erzeugt der Text eine Spannung, die in der Diskussion im Seminar-Raum angesprochen und reflektiert wird. Auf die erste, nach poetologischen Gesichtspunkten erfolgte Lektüre, die auch fremd-sprachlich sinnvoll und gewinnbringend sein kann, und auf die sich die interkulturelle Lesedidaktik vorwiegend konzentriert, erfolgt die Reflexion der Wirkung des Textes. Eine Analyse des Textes fördert das kritische Denken. Es entfalten sich Differenzen, Übereinstimmungen und Konflikte bei individueller Betrachtung und Hinterfragung der möglichen Zugänge und Wahrnehmungen. Diese Phase ist umso vielschichtiger, je polyphoner und vielschichtiger der Text selbst ist. Fiktionale Texte sind nicht linear und so kann auch das Füllen der Leerstellen nicht zeitlich linear voranschreiten. […] die Leerstellen in der Organisation der Textmuster bedeuten, daß die ausgesparten Anschlüsse in nuancierter, vielleicht sogar in verschiedener Weise hergestellt werden können. Dadurch fächert sich der Text zu potentiell mehreren Realisationsmöglichkeiten aus, weshalb die jeweilige Lektüre niemals alle Möglichkeiten auszuschöpfen vermag, die der Text gerade durch die umformulierten Verbindungen seiner Satzfolgen, bzw. -korrelate gewinnt. Jede Lektüre wird daher zu einer individuellen Aktualisierung des Textes, indem der Spielraum schwach determinierter Beziehungsmöglichkeiten differenzierte Sinngestalten herzustellen erlaubt.82 Leerstellen im Text und deren Füllung durch die lesende Person sehe ich ähnlich wie Differenzen in transdifferenten Bewegungen. Sie werden gleichzeitig mit mehreren, oft widersprüchlichen Vorstellungen gefüllt. Es kommt zu Zweifeln und Konflikten, wenn sich herausstellt, dass eine Stelle im Text mehrere, sich gegenseitig ausschließende und zugleich ergänzende Möglichkeiten der Interpretation birgt. In meinen literaturwissenschaftlichen Seminaren kommt es aus diesen Gründen zu heftigen inter-kulturellen Diskussionen, die einen wertvollen Beitrag zur 81 Iser (1988), S. 256. 82 Ebd., S. 259.

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Wissensproduktion durch den Text, aber auch zur Kompetenzerweiterung der Teilnehmenden leisten. Je differenzierter die Reflexion der lesenden Person über individuelle Erfahrungen ist und je mehr andere Versionen die lesende Person von MitLesenden im Seminar-Raum empfängt, umso ergiebiger wird der gesamte Prozess. An dieser Stelle kommt noch einmal die »Akte der Welterzeugung« nach Goodman ins Spiel – es wird zwangsweise selektiert und neu gesetzt, so lange, bis ein kohärentes, aber kontingentes und individuelles Wissen entsteht, das kommunizierbar und am literarischen Text nachprüfbar ist. Iser schreibt, die Welterzeugung finde nicht im Text, sondern im Leser statt, der das in der Satzfolge vorstrukturierte Zusammenspiel der Korrelate bestätigten müsse.83 Es ist das individuelle Füllen der Leerstellen, die wiederum auf das Nichtgesagte und Nichtgewusste hinweisen. Der Text allein ist lediglich ein Auslöser, ein Medium, das, wie Bożena Chołuj schreibt, zum Nachdenken motivieren soll. Infolge dieses Nachdenkens entsteht ein individuelles, neues Wissen. Offen bleibt die Frage, ob dieses Wissen mit den institutionellen Standards des Lehrbetriebs kompatibel ist. Bei standardisierter Wissensvermittlung kann eingegrenzt werden, welches Wissen wie vermittelt wird, geregelt durch Curricula und institutionelle Vorgaben. Bei Wissensproduktion in transdifferenter Lehre ist es schwierig zu definieren, welches Wissen oder welche Erkenntnis entstehen wird. Der Prozess der Wissensproduktion ist dem Prozess des Lesens ähnlich – es sei, so Iser, bald das Entziffern eines Palimpsestes, bald das Projizieren einer Bedeutung, bald das Hervorkehren eines Verdeckten, bald das Bestreiten eines Gegebenen, bald das Phantasieren eines Möglichen.84 Im Seminar-Raum kommt es, wie beschrieben, auf die Aufdeckung und Bewusstmachung der Mechanismen an, die ein Text und der Lesevorgang in Bewegung setzen. Das ist eine Arbeitsebene, die die transdifferente Lehre mit der interkulturellen Literaturdidaktik gemeinsam hat. Die Zugänge sind, wie dargestellt, unterschiedlich, der Mechanismus ist ähnlich.

Fallbeschreibung Das Modell des transdifferenten Leseaktes ist ein Ergebnis meiner praktischen Erfahrungen, die ich in Lehrveranstaltungen mit kulturell heterogenen Gruppen im Zeitraum vom Sommersemester 2012 bis zum Sommersemester 2018 sammelte. Für diese Erfahrungen suchte ich zunächst theoretische Erklärungen und Begründungen, die ich in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben habe. Die Erfahrun83 Vgl. ebd., S. 256. 84 Vgl. Iser (1991), S. 388.

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gen sowie die Rechercheergebnisse haben mich sodann ermutigt,85 eine Lehrveranstaltung gänzlich nach diesen auszurichten und zu beobachten, ob dieses Konzept der transdifferenten Lehre sich mittels eines transdifferenten Leseaktes in der Praxis umsetzen lässt. Das Experiment führte ich im Rahmen eines Seminars der Modul-Einführungsphase im Modul »Kontinuitäten, Gemeinsamkeiten und Transfer« im Bachelorstudiengang Interkulturelle Germanistik durch. In diesem Seminar mit dem Titel Literarische Analysen. Literatur als Medium der Interkulturalität86 wurde der Roman »Taghaus, Nachthaus« der polnischen Autorin Olga Tokarczuk in deutscher Übersetzung als Basislektüre gelesen.87 Zudem wurden mehrere Textfragmente der Sekundärliteratur88 gelesen, wobei anzumerken ist, dass die Rezeption von Fachtexten eine große Schwierigkeit für Studierende in der Einführungsphase darstellt, sogar für diejenigen, für die Deutsch ihre Muttersprache ist. Fragmente der Fachtexte wurden zu Beginn des Semesters auf Gruppen verteilt, um Studierende in die Bearbeitung der Texte einzubeziehen. Inhaltliches Ziel des Seminars war, Wissen über postmoderne Zugänge zum literarischen Text zu erarbeiten und die Differenz als Kategorie im Kontext der 85 Ebenfalls sehr inspirierend waren Gespräche mit Fachkolleginnen während der Tagung der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik in Prag 2016, wo ich das Konzept der transdifferenten Lehre vorstellte. 86 BA-Studiengang an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Sommersemester 2018. 87 Tokarczuk, Olga (1998): Dom dzienny, dom nocny [Taghaus, Nachthaus]. Wałbrzych. Tokarczuk, Olga (2004): Taghaus, Nachthaus. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. München. Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutschsprachige Ausgabe. 88 Zu den herangezogenen Texten der Sekundärliteratur gehörten unter anderem – in Reihenfolge der Besprechung: Culler, Jonathan (2013): Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Stuttgart. S. 90-102. Vogt, Jürgen (2011): Wie analysiere ich eine Erzählung? Ein Leitfaden mit Beispielen. Paderborn. S. 17-46. Goodman, Nelson (1984): Weisen der Welterzeugung. Frankfurt a.M. S. 116-121. Appadurai, Arjun (2015): Die Herstellung von Lokalität. In: Andreas Langenohl, Ralph J. Poole und Manfred Weinberg (Hg.): Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld. S. 155-173. Bhabha, Homi K. (2012): Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien und Berlin. S. 17-57. Kraft, Claudia (2003): Europäische Peripherie – Europäische Identität. Über den Umgang mit Vergangenheit im zusammenwachsenden Europa am Beispiel Polens und Spaniens. In: Heinz Duchhardt (Hg.): Jahrbuch für Europäische Geschichte. Band 4. München. S. 17-37. Lösch, Klaus (2005). Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer und Arne Manzeschke (Hg.). Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt a.M., S. 26-52. Torro, Alfonso de (2002). Jenseits der Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenskonzept. In: Christoph Hamann und Cornelia Sieber (Hg.): Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hildesheim, Zürich und New York. S. 15-52.

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Konzepte von Interkulturalität und von Transdifferenz zu untersuchen.89 Didaktisches Ziel war, anhand von »Stolperstellen« im Text die Wahrnehmung dessen, was während des transdifferenten Leseaktes von Studierenden als fremd erfahren wird, zu identifizieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wählte ich eine Methode, nach der individuelle Erfahrungen der Seminarteilnehmenden bei der Lektüre mit einbezogen wurden. Zunächst wurden offensichtliche Differenzen identifiziert, wie z.B. binäres Geschlechtersystem, Zuschreibung von Alt und Jung, Klug und Dumm von Figuren. Mir war es wichtig, zu beobachten, ob die Teilnehmenden im Laufe der Lektüre und des Seminars erkennen, dass die Wahrnehmung der Differenzen von der Betrachtungsperspektive abhängt. Am Anfang jeder Sitzung bekamen die Studierenden von mir als Dozentin einen kurzen theoretischen, auf den Fachtexten basierenden Input. Bei diesem Input wurde ein Rahmen für die Analyse skizziert sowie das kulturwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Vokabular, mit dem dann die Teilnehmenden im Seminar operieren konnten, vermittelt. Mit dem fortschreitenden Seminar übernahmen die Studierenden immer mehr die Initiative für den Input, meistens in Form von Postern, Präsentationen, interaktivem Spiel u.v.m. Meine Rolle beschränkte sich mit der Zeit auf eine ergänzende Funktion, bzw. auf die Moderation einer gemeinsamen Klärung der Begriffe oder Argumentationsweisen, die in den Fachtexten enthalten ist. Die Aufgabe bei der Lektüre der Sekundärliteratur war, nach Stellen zu suchen, die auf die Analyse und Interpretation der Basislektüre bezogen werden konnten und argumentative Hilfe bei eigener Interpretation boten. Diese Funktionalisierung der Fachtexte sollte die Furcht vor etwaiger Unverständlichkeit dieser Texte minimalisieren und zugleich den Studierenden Begriffe fürs Sprechen über ihre Leseerfahrungen zuspielen. Für jede der Sitzungen, die im 14-täglichen Rhythmus als eine Doppelsitzung (2 x 90 min.) stattfanden, hatten die Teilnehmenden einen gemeinsam vereinbarten Abschnitt des Basistextes zu lesen. Die Lektüre sollte in Briefen an eine reale oder fiktive Person festgehalten werden. Die Form der Briefe war den Teilnehmenden freigestellt, es konnten E-Mails, per Textverarbeitungsprogramm oder handschriftlich verfasste Textstücke sein. Diese Briefe wurden anonym verfasst, zu jeder Sitzung in Papierform mitgebracht und auf den Tisch gelegt. Sodann zogen die Teilnehmenden jeweils einen Brief, den sie laut vorlasen. Mit diesem Vorgehen sorgte ich dafür, dass die Besprechung der Lektüre abwechslungsreich war und einen leichteren Einstieg in die Diskussion bot. Darüber hinaus wurden die Teilnehmenden gebeten, ihre Erwartungen an den Text und den Verlauf der Lektüre in einem Leseportfolio90 zu dokumentieren. 89 Vgl. Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 2018: www.kuwi. europa-uni.de/de/studium/bachelor/germanistik/Kurse_neu/KVV_BA_IKG_SoSe_18.pdf [28.08.2018]. 90 Zum Leseportfolio gehörte das Leseprotokoll, Notizen, Briefe, Ideen, sowie individuell gesammelte Materialien, die mit dem Text persönlich in Verbindung gebracht wurden, wie etwa Ge-

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Im angeführten Beispiel ging es nicht um eine Interpretation im klassischen Sinne, sondern darum, dass die Studierenden den persönlichen Verlauf der Lektüre reflektieren und ihre Gedanken an »Stolperstellen« rekonstruieren. So wurde ihnen klar, warum sie diese Stellen als problematisch empfanden. Während der fortschreitenden Lektüre erzählten sie einander, was ihnen unverständlich, komisch oder fremd erschien. Dieses Erzählen wurde von mir lediglich moderiert, die Studierenden sollten selbständig ihre eigenen Perspektiven entwickeln. Diese sollten ihren Erfahrungen und Empfindungen entsprechen. Ausgegangen wurde von den im Text beschriebenen Ereignissen und angenommenen Erklärungen dafür. Parallel lief eine klassische literaturwissenschaftliche Analyse des Textes – der Entstehung, des historischen Kontextes, von Gattung, Erzählweise, Figurenkonstellation, Handlung, Symbolik und Motiven, des biographischen Hintergrundes der Autorin. Es geschah nicht vordergründig, sondern diese Aspekte wurden von mir während der Moderation Schritt für Schritt in die Erkenntnisse der Studierenden eingeflochten. Die Verwendung exakter literaturtheoretischer Begriffe und literaturwissenschaftlicher Zugänge war zwar wichtig, um den Studierenden Methoden und Instrumente für das weitere Studium und das Verfassen von akademischen Texten an die Hand zu geben. Doch das Hauptaugenmerk wurde in diesem Seminar auf das figurative Erzählen gelenkt.91 Figuratives Erzählen beschreibt Hayden White als das Einfügen eines Ereignisses in einen Kontext, als das Beziehen eines »Teil[s] auf ein vorstellbares Ganzes«92 . Es heißt, die Lesenden könnten das Tatsächliche nur erkennen, wenn sie es mit dem Vorstellbaren kontrastieren oder vergleichen.93 Das Tatsächliche waren im Fall des Basistextes die Bezüge zu der im Text gezeichneten fremden fiktiven Welt. Da diese Welt nicht nur für die fremdsprachigen Studierenden aufgrund der kulturellen Situierung fremd war, sondern für alle Studierenden aufgrund des Fiktionsgehaltes, der Sprache und vor allem der Tabubrüche, konnte das Verständnis des Anderen durch Imagination und durch den Rückgriff auf individuelle Erfahrung geübt werden. Dazu wurde auf Assoziationen eingegangen, die sich durch Konfrontation mit dem Text und mit den von ihm angesprochenen Phänomenen entwickelten. In der gegenseitigen Kommunikation entstand ein Bild, das in der eigenen Erfahrung verortet werden konnte und kommunizierbar für andere war, auch wenn nicht für alle annehmbar. dichte oder Bilder zu einzelnen Motiven, theoretische Texte, Links zu Hörtexten, Videoclips und Internetseiten und Anderes. Das Leseportfolio sollte die vielseitige Auseinandersetzung mit dem Text, die im figurativen Erzählen geäußert wurde, dokumentieren und als Material für das Verfassen der Hausarbeit dienen. 91 Vgl. White, S. 117. 92 Ebd., S. 116. 93 Vgl. ebd., S. 120.

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Zu beachten war, dass das Einbeziehen eigener Erfahrung und Emotionen, insbesondere in heterogenen Gruppen, auf Ablehnung stoßen kann. Die Teilnehmenden können diese Methode als zu persönlich empfinden. Meine Aufgabe als lehrende/moderierende Person war es also, darauf zu achten, dass die Beteiligung am Gespräch freiwillig blieb, d.h. konkrete Erfahrungen oder Emotionen nur freiwillig mitgeteilt werden sowie im Fall eines Konflikts zu vermitteln. Eine weitere Gefahr war, dass der Romantext als zu abstrakt abgelehnt wird, weil er sich nicht an die Erfahrungen der Studierenden anschließen lässt. Es war also auch darauf zu achten, dass im Seminar-Raum eine Atmosphäre der Geborgenheit und Sicherheit herrscht, dass sich alle Teilnehmenden ernst genommen fühlen und die Seminarteilnahme freiwillig blieb. Die Studierenden wussten nicht, dass sie an einem Experiment teilnehmen. Damit wollte ich absichern, dass das Verhalten und Erkenntnisse der Studierenden nicht beeinflusst sind. Erst in der letzten Sitzung kam zur Sprache, dass in dem Seminar das Konzept des transdifferenten Leseaktes erprobt wurde. Die Seminar-Gruppe bestand aus fremdsprachigen, bilingualen94 Studierenden sowie Studierenden mit der Muttersprache Deutsch. Die primären Differenzen ergaben sich aus den unterschiedlichen Kenntnissen der deutschen Sprache, aus denen die Unterscheidung zwischen muttersprachlichen und nichtmuttersprachlichen Studierenden resultiert.95 Der gelesene deutsche Basistext war eine Übersetzung des polnischen Originals. Dadurch war er auch für die muttersprachlich deutschsprachigen Studierenden teilweise, zum Beispiel durch Orts- und Personennamen, entfremdet. Die fiktive Welt, die der Roman entstehen lässt, bezieht sich auf die Lebenswelten in Vorkriegsdeutschland und in Nachkriegspolen, welche den deutschsprachigen Studierenden nicht bekannt waren. Auch die Vorkenntnisse der polnischsprachigen Studierenden deckten sich nur partiell mit den Kontexten des Romans in Bezug auf die geschichtlichen, bis in die Gegenwart wirkenden Zusammenhänge. Sie standen jedoch eher vor der Herausforderung, die Ästhetik des Romans, die sich z.B. aus der Art und Weise der Beschreibung von Bestandteilen des realen Lebens, die diesen Studierenden bis dahin als selbstverständlich erschienen und ihnen deswegen als nicht zu hinterfragen galten, in der fremden Sprache, also aus einer für sie »entstellten« Perspektive zu rezipieren.96 Vor der schwierigs94 Es gab bilinguale Studierende mit Deutsch als einer der beiden gesprochenen Sprachen, aber auch Studierende mit anderer Sprachkombination. 95 Ich greife auf diese stark vereinfachende Klassifizierung zurück, um das Fallbeispiel anschaulich zu machen. 96 Der Text balanciert zwischen Beschreibungen realer Welten und Fantasiewelten, ähnlich den Übergängen zwischen Wachzustand und Traum. In die Geschichten, die sich in der Lebenswelt ereignen könnten, werden Motive eingeflochten, die im realen Leben nicht möglich wären. Dadurch bekommen Szenen aus dem realen Leben surreale Züge, die Fragen nach der Selbstverständlichkeit der beschriebenen Handlungen aufwerfen. So z.B. die Beschreibung der Fron-

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ten Aufgabe standen andere, z.B. osteuropäische oder asiatische Studierende, die den sprachlichen Zugang zum Text, den Zugang zu seinen lebensweltlichen Bezügen und zu seiner Form zu bewältigen hatten. Sie konnten auch nicht intertextuelle Bezüge in dem Maße herstellen, wie die anderen Studierenden. Sprache als Teil des kulturellen Mainstreams wurde somit von allen Studierenden des Seminars nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen. Für die Analyse des Romans »Taghaus, Nachthaus« von Tokarczuk in der deutschen Übersetzung von Esther Kinsky entschied ich mich aus mehreren Gründen. Vorrangig wollte ich eine Situation schaffen, in der Fremdheit und Andersheit direkt zu erfahren waren. Außerdem ist der Roman aufgrund seiner narrativen Konstruktion keinem Mainstream zuzuordnen, der durch die Mitglieder der SeminarGruppe vertreten wurde. Durch Übersetzung kommt es zur kulturellen Adaption und diese führt zur Verfremdung im Zieltext. In der kulturhermeneutischen Betrachtung der Übersetzung wird der Übersetzungsprozess, wie Nadine Böhm und andere Übersetzende in einem Werkstattbericht schreiben, als ein Interpretationsprozess betrachtet.97 Die Autorinnen schreiben: ›Übersetzen‹ ist keine bloße Wiederholung eines Textes in einer anderen Sprache, keine homogenisierende oder konservierende Gleichschaltung, sondern eine Transformation, die im Kontext von Problemen des Selbst- und Fremdverstehens in der jeweiligen sprachlich-kulturellen Kommunikation anzusiedeln ist.98 Die Übersetzung von »Taghaus, Nachthaus« von Esther Kinsky ist dem Original auf der lexikalischen Ebene treu,99 aber bei deutschsprachigen Lesenden, die kein leichnamsprozession (S. 152): Die Begehung des katholischen Feiertages, der ein gesetzlicher freier Tag in Polen ist, war bis dahin für polnischsprachige Studierende selbstverständlich. Die Beschreibung der Prozession als eines aus dem Kontext eines hohen religiösen Festes entnommenen Spaziergangs durch die Felder, der von einem Hund begleitet wird, führte zur Hinterfragung der Selbstverständlichkeit der Begehung dieses religiösen Rituals, aber auch zu dem Gedanken der Rückführung auf den ursprünglichen Anlass, die Verwandlung. 97 Vgl. Böhm, Nadine/Gabel-Cunningham, Barbara/Feldmann, Doris (2008): Postkoloniale Übersetzung als kulturhermeneutisches Projekt: Zur Übertragung von Spivaks A Critique of Postcolonial Reason ins Deutsche. In: Christoph Ernst, Walter Sparn und Hedwig Wagner (Hg.): Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz. München. S. 519-538. 98 Ebd., S. 523. 99 Die Art und Weise der Übersetzung von Kinsky, deren Analyse nicht zu meinem Untersuchungsgegenstand gehört, würde den Ansatz von Burkard Kroeber bestätigen. Kroeber widerlegt die These, es gebe nur zwei Wege des literarischen Übersetzens – entweder das Fremde einzugemeinden oder das Eigene zu verfremden. Er schreibt: »[Es wird – A. B.] die Forderung erhoben, bei literarischen Werken nicht nur den Inhalt, sondern auch die formalen Aspekte zu beachten, also nach Möglichkeit ihren Stil mitzuübersetzen, wozu auch eine größere Treue zur Syntax des Originals gehören kann.« Siehe Kroeber, Burkhart (2010): Über den angeblichen Gegensatz Einbürgern vs. Verfremden: Schleiermachers zwei Wege des

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Polnisch sprechen, weckt sie ein Gefühl der Fremdheit, worauf die Studierenden hinwiesen, zum Beispiel bei den Ortsnamen oder Personennamen. Im Polnischen haben die Namen zum Teil eine Bedeutung. Ein Dorf heißt »Pietno«,100 dessen Namen polnischsprachige Studierende mit dem Wort »piętno«, deutsch »Stigma«, in Verbindung brachten. Die Einwohner des Dorfes Pietno sind durch die Vorgeschichte des Ortes, durch die Härte des Schicksals früherer Generationen, die Messerschmiede und eine Sekte gewesen sind101 , stigmatisiert. In der deutschen Übersetzung kommt der Name im Original vor, was die Lesenden zum Teil irritierte, womit ich mein erstes Ziel des Seminars erreichen konnte, die Verunsicherung aller Studierenden, unabhängig von ihren Kontexten oder Sprachkenntnissen. So konnte eine gewisse Gemeinschaft entstehen, die gemeinsam den fremden/verfremdeten Text zu erschließen begann. Der zweite Grund der Wahl des Romans »Taghaus, Nachthaus« war seine literarische Sprache. Sie ist dicht und sinnlich, die Figuren, Dinge, Gefühle werden detailliert und metaphorisch beschrieben. Eine Szene des Champignonsammelns und -zubereitens wird folgendermaßen dargestellt: Sie warfen die weißen, rundlichen Pilze in den Weidenkorb und das Kind war schon gescheit genug, sie von den ebenfalls weißen Bovisten zu unterscheiden, denn Boviste sind rauh wie eine Kuhzunge. Das wußte das Kind der Frosts schon. Was es aber nicht wußte, war, daß auf den schattigen Stellen der Wiesen manchmal ein Doppelgänger der Champignons wächst. Der Knollenblätterpilz, ein Albinobruder des Fliegenpilzes, ein Einzelgänger, der mit einem dicken Bein fest in der Erde steckt, der Todesstab der Wiese. Er riecht süßlich und betrachtet die Herde der Champignons aus der Ferne. Ein Wolf im Schafspelz. Sein schöner Körper lag, in feine Scheiben geschnitten, mit den Champignons in der Bratpfanne.102 Die literarischen Stilmittel, dichte Beschreibung, zu entschlüsselnde Symbolik und Metaphorik bewirken nicht nur, dass sich die Szene in der Imagination der lesenden Person wie ein Bild ausbreitet oder dass auch andere Sinne, wie der Geruchsund Geschmackssinn angesprochen werden, sondern auch eine Verlangsamung des Lesens durch ein permanentes sprachliches »Stolpern«. Um den Text in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen, muss man ihn langsam und genau lesen. Diese Langsamkeit war von mir ebenfalls erwünscht, denn wie Dietrich Krusche schreibt,

Übersetzens. www.kunstakademie-karlsruhe.de/vortraege/uber-den-angeblichen-gegensatzeinbuergern-vs-verfremden-schleiermachers-zwei-wege-des-ubersetzens [03.10.2018]. 100 Tokarczuk (2004), S. 54. 101 Vgl. ebd., S. 224-226. 102 Ebd., S. 144.

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je langsamer ein Text gelesen werde, desto intensiver die Masse der aufgefangenen Konnotationen, der beigebrachten Assoziationen in der Leseerfahrung.103 Die Seminar-Teilnehmenden empfanden zwar die Form des Textes nicht als fremd, doch die Verdichtung der Sprache und die Erfordernis, den Text langsam zu lesen, wirkten auf sie befremdend. Auch unterscheidet sich die literarische Sprache des Romans von der Gegenwarts- und Alltagssprache, mit der die fremdsprachigen Studierenden sich in den Seminaren Deutsch als Fremdsprache beschäftigen. Das ästhetische Erlebnis der Lektüre gründet sowohl auf der poetischen Sprache als auch darauf, wie ein fiktionaler Text die Bedeutung einzelner sprachlicher Elemente entgrenzt und neu zusammenfügt.104 Der Text wird dann als eine, wie Andrea Leskovec schreibt, autonome Ordnung verstanden,105 die auf andere – verschiedene – Ordnungen des Textes (inner- und intertextuell) und der Lesenden bezogen wird. Die Fremdheit des Textes wird durch seine Situierung in einer fremden Kultur hervorgerufen. Sie kann aber auch, wie im Fall des Romans von Tokarczuk, durch den imaginären Raum evoziert werden, der während der Lektüre entsteht. Der Handlungsraum des Romans wirkte auf alle Teilnehmerinnen der SeminarGruppe im vorgestellten Beispiel durch seine Fiktionalität fremd. Ebenso evozierte der Text das Gefühl der Fremdheit bei der Beobachtung seiner Wirkung auf andere Lesende, als die muttersprachlichen Studierenden erfuhren, wie fremd der Text auf die fremdsprachigen Studierenden106 wirkte. Der Text des Romans erschien den Lesenden also durch die Übersetzung und durch die Sprache fremd, weil beides kulturell gebunden ist und von muttersprachlichen und von fremdsprachigen Studierenden unterschiedlich wahrgenommen wurde. Leskovec identifiziert eine alltägliche Fremdheit, die Informationen über das Andere liefere und festgefügte Bilder des Anderen korrigiere.107 Dies gelte, so Leskovec, nicht nur für die Konfrontation mit anderen Kulturen, sondern auch für das Andere in der eigenen Kultur, das mit Hilfe feststehender Bilder beurteilt und klassifiziert werde.108 Deswegen wirkt ein fiktionaler Text auch für muttersprachliche Studierende, die den Mainstream kennen, in dem der Text sich bewegt, teilwei103 Vgl. Krusche, Dietrich (1995): Leseerfahrung und Lesergespräch. München. S. 147. Krusche verweist ebenfalls auf die Rolle der Leerstellen im Text als Schnittstellen, die bei der Lektüre fremdsprachiger Texte noch »reichlicher ausgefüllt« werden als derartige Stellen im muttersprachlichen Text, und zwar »aus Unsicherheit darüber, was an Füllung verlangt wird.« Ebd. 104 Mit Verweis auf Goodman. 105 Vgl. Leskovec, Andrea (2010): Vermittlung literarischer Texte unter Einbeziehung interkultureller Aspekte. In: Britta Hufeisen, Nicole Marx, Jörg Roche, Joachim Schlabach und Barbara Stolarczyk (Hg.): Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht Didaktik und Methodik im Bereich Deutsch als Fremdsprache, Jahrgang 15, Nummer 2. S. 238-255, hier S. 242. http://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/index [02.10.2018]. 106 Dieses Beispiel ist der Anschaulichkeit halber vereinfacht. 107 Vgl. Leskovec (2010): S. 242. 108 Vgl. ebd., S. 240.

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se fremd. Differenzen, wie bereits angemerkt, ergeben sich nicht nur aus den gängigen inter-kulturellen Zuschreibungen, wie Sprache, Zugehörigkeit zu einem kulturellen Kreis, sondern auch zwischen Individuen als Persönlichkeiten. Jede Person rezipiert ein und denselben Text anders, wodurch sich Literatur Automatismen entzieht. Möglicherweise ergibt sich diese Fremdheit auch aus der unhinterfragten Annahme, etwas zu verstehen. Krusche schreibt: »Wer wollte sich etwas erst noch er-lesen, das ihm bereits durch und durch vertraut scheint? Wer wollte auch nur versuchen, da etwas für sich herauszulesen, wo gänzliche Andersheit nur glatte Mauern vor uns aufbaut?«109 Die Reflexion der Lektüre in der Seminar-Gruppe, in der unterschiedliche Wahrnehmungen des Textes zur Sprache kamen, motivierte auch diejenigen Studierenden, die der Überzeugung waren, alles verstanden zu haben, zum Perspektivwechsel. Die Fremdheit der Perspektive anderer bewegt also auch zur Hinterfragung des vermeintlich Eigenen und Vertrauten. Die Handlung des Romans besteht aus mehreren, sich teilweise verflechtenden Geschichten, die in unterschiedlichen Zeiträumen spielen – von der Zeit der Kreuzzüge bis zur Gegenwart. Durch die Figuren, aber auch durch die Handlung werden die Zeiträume, die parallel zueinander existieren oder sich teilweise überlappen, miteinander in Verbindung gebracht und ergeben einen imaginären Raum. Topografisch ist das Sujet des Romans im Gebirge mit einer schattigen und einer sonnigen Seite verortet. Es handelt sich um eine Grenzregion, die über Jahrhunderte hinweg abwechselnd verschiedenen Obrigkeiten110 gehörte. Dadurch entwickelte sich diese Region zu einem Trans-Raum mit individuellem, lokalem Charakter, der zugleich keiner der Mächte zuzuordnen ist, aber Einflüsse aller dieser Mächte aufweist.111 Einige Figuren leben in diesem Raum, manche treten hinein und bleiben, manche kommen und gehen, manche haben in dem Raum gelebt und ihn dann verlassen. Manche der Figuren hinterlassen eine Spur, die sich mit dem Schicksal anderer Figuren, die Jahrhunderte später leben, verknüpft. Dem Raum haftet etwas Geheimnisvolles an, er ist für die Protagonistinnen zugleich faszinierend und gefährlich, verheißend und verhängnisvoll. Dieser Grenzraum ist ein Übergangsraum, in dem permanent Verwandlung und Verhandlung zwischen Leben und Tod, Geistigem und Profanem, Hitze und Regen, Klang und Stille, Liebe und Hass, Verstoßen und Aufnehmen stattfinden. Der imaginäre Handlungsraum des Romans diente zum Ausgangspunkt der Diskussion über Interkulturalität und Transdifferenz, die mit der Fortschreitung der Sitzungen immer mehr mit Argumenten aus der Sekundärliteratur begründet werden konnte. 109 Krusche, S. 33. 110 Der Kirche, den deutschen oder tschechischen Feudalherren, den deutschen Staaten, dem polnischen Staat nach 1945 usw. 111 Vgl. Appadurai, S. 157f.

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Im Roman werden mehrere Probleme thematisiert, die in unterschiedlichen Kulturen strittig sind oder als Tabu gelten. Als solche identifizierten die Studierenden Intersexualität, Inzest, Gewalt, Kannibalismus, Ehebruch, Alkoholismus oder unterlassene Hilfe in Lebensgefahr. In mehreren, im Roman erzählten Geschichten kommt das Motiv der Verwandlung vor. Die Verwandlungen von Figuren gaben einen Anlass zur Diskussion über Intersexualität. Eine Figur, die Kümmernis von Schonau, eine schöne und fromme Frau, die sich ihrem Glauben an Gott völlig hingibt, wird körperlich von ihrem Vater begehrt. Um dem Vater, der den Tod seiner Tochter in Kauf nimmt, um sie hörig zu machen, zu entgehen, verwandelt sich Kümmernis in einen Mann, in Jesus. Diese Geschichte spielt zur Zeit der Kreuzzüge.112 Das Bildnis der Kümmernis, auf dem sie sowohl als Frau als auch als Mann dargestellt ist, gibt Jahrzehnte später einem jungen Mann, dem Mönch Paschalis, Anlass, das Leben der Kümmernis zu beschreiben. Mit fortschreitender Beschreibung wird ihm bewusst, dass auch er sowohl ein Mann als auch eine Frau ist. Diese Figur löst sich auf dem Weg nach Rom auf, wohin sie die Lebensgeschichte der heiligen Kümmernis, für die sich die Kirche nicht interessiert, dem Papst überbringen will.113 Paschalis erscheint als Agni wieder, sowohl ein junger Mann als auch eine junge Frau, in den vermutlich 60er Jahren des 20. Jhs. bei einem alternden, voneinander enttäuschten Ehepaar. Der Frau erscheint Agni als Mann,114 dem Mann als Frau115 , als Projektion ihrer Sehnsucht nach Liebe. Sowohl die Frau als auch der Mann beginnen ein Verhältnis mit Agni, das sie vor dem jeweils anderen verschweigen. Diese Figur sorgte bei den Studierenden für unterschiedliche Reaktionen. Zu beobachten während der Besprechung war eine stärkere nonverbale Kommunikation unter den Teilnehmenden, z.B. Blicke, die sie einander zuwarfen, Mimik, Kichern. Das gab mir Anlass, die Reaktionen zu hinterfragen. Für manche Studierende stellte das offene Ausleben der Intersexualität einen Tabubruch dar, es wurde u.a. gesagt, dass es so etwas nicht gäbe, es nicht möglich sei. Andere erklärten das Phänomen für normal. Für manche war es akzeptabel. Dieses Phänomen wurde durch unterschiedliche Wahrnehmung lebhaft diskutiert, weil Intersexualität kulturell sehr stark besetzt ist. Im Laufe der Diskussion zeigte sich aber, dass die kulturelle Besetzung schwächer ist als die persönliche Erfahrung und Einstellung. So sprachen sich unter anderem Studierende, in deren Mainstreamkultur Intersexualität aus religiösen Gründen abgelehnt wird, positiv über sie aus. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie durch das Vorstellen verschiedener Sichtweisen auf ein Phänomen die Wahrnehmung anderer Positionen, Anschauungen oder Werte aktiviert 112 113 114 115

Vgl. Tokarczuk (2004), S. 61-78. Vgl. ebd., S. 84-97, 112-118, 128-133, 181-188, 241-246. Vgl. ebd., S. 276-280. Vgl. ebd., S. 282-297.

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wird. Wäre ich auf das Kichern nicht eingegangen, sondern hätte ich das Phänomen lediglich aus neutraler, wissenschaftlicher Sicht besprochen, hätten sich die Teilnehmenden möglicherweise mit den Fragen zur Normativität gar nicht, oder nur wenig auseinandergesetzt. In der moderierten Diskussion ging es nicht darum, eine der Positionen als geltend anzuerkennen, sondern durch das Gespräch die Differenzen und die Vielfalt der Möglichkeiten und Meinungen offenzulegen. Die Diskussion zeigte einerseits, dass theoretisches Wissen über Kulturen und während des Studiums antrainierte interkulturelle Kompetenz aufgehoben werden, sobald individuelle Emotionen und Erfahrungen ins Spiel kommen. Sie zeigte andererseits, wie die Vielfalt der Meinungen nicht sanktioniert bzw. bewertet oder abgelehnt wird, sondern im Seminar-Raum abgesichert und anerkannt wird. Sie bekommt hier eine Legitimation, ohne Gefahr zu laufen, dass eine bestimmte Meinung vorherrscht oder Widersprüche eskalieren. Um mit den Widersprüchen vertraut zu werden, ist eine Reflexionsphase notwendig, die durchaus länger dauert als eine Seminarsitzung. Im besprochenen Beispiel wurde fürs Reflektieren in jeder Sitzung Zeit eingeplant. Als Lehrende kenne ich den kulturellen und historischen Kontext des Raumes, in dem der Text situiert ist: Ich konnte aber im Vorfeld nur teilweise identifizieren, was bei den Studierenden als Tabubruch gelten würde. Mein Wissen hatte zwar einen Einfluss auf die Dekodierung des Textes, weil ich ihn sowohl aus der Innenperspektive des deutschen als auch aus der Perspektive des polnischen Mainstreams, insbesondere der politisch, konfessionell und ethisch geprägten Diskurse in Bezug auf die Rolle der Frau, den Status der Ehe etc., betrachten konnte, hingegen aber gar nicht aus der Perspektive anders enkulturierter, z.B. asiatischer Studierender. Die kulturell unvoreingenommene Perspektive gerade dieser Studierenden brachte aber Ideen hervor, mit denen der Text gelesen werden konnte. So suchte eine Studierende die Figuren und ihre Motive nach dem Yin-Yang-Prinzip zusammen und erstellte einen Kreis der Zusammenhänge. Sie untersuchte die Stimmung, die durch Wetter aufkommt und stellte fest, dass Licht die Charaktere und ihr Schicksal beeinflusst haben konnte. Sie legte diese Erkenntnis wie eine Folie auf das Schicksal der Figur Kümmernis/Paschalis/Agni, was die Symbolik der oszillierenden Verwandlung verstärkte. Eine andere Studierende untersuchte das als Titel eines Kapitels aufgeführte Psalmenzitat »Ego dormio et cor meum vigilat«116 und stellte die Rechercheergebnisse in einem Referat vor. In der deutschen Fassung des Psalmentextes, auf die die Studierende zurückgriff, gibt es fließende Übergänge zwischen dem lyrischen Ich und ihrem117 bzw. seiner Geliebten, mal sind es zwei 116 Ebd., S. 59. 117 »Ihrem« ist hier als Possessivpronomen für das lyrische Ich, dessen Geschlecht nicht eindeutig identifizierbar ist, gebraucht.

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Personen, mal nur eine. Es kann nicht identifiziert werden, ob ein Mann oder eine Frau spricht, bzw. es könnte sogar sowohl das lyrische Ich als auch die geliebte Figur zugleich sein. Auch trägt diese Figur menschliche sowie göttliche Züge. Im Nachhinein, so die Referierende, können die Geschichten von Kümmernis, sogar einer ihrer vielen Namen (Wilga, Paschalis, Agni) aber auch einer weiteren Protagonistin, Marta, aus dem Psalm abgeleitet werden. Dies herauszufinden bedurfte jedoch eines wiederholten, aufmerksamen Lesens des Romantextes sowie des Psalmentextes. Dieses Beispiel bestätigt, dass eine langsame Lektüre nur eines Textes pro Semester vielfältige Erkenntnisse bringen kann. Für alle Studierenden konnte gemeinsam festgestellt werden, dass sie sich vor dem Kurs kaum damit auseinandergesetzt hatten, was in ihrem Denken und in ihrer Erfahrung durch Kultur und Mainstream bedingt ist. In der rückblickenden Betrachtung äußerten sie, sie hatten vor dem Seminar kaum Distanz zu ihrer eigenen Perspektive und bewerteten das Fremde als bloße Fiktion. Sie nahmen vor dem Seminar nicht an, dass anhand des Textes, aber vor allem im Gespräch über die Lektüre, mehrere, teilweise sich widersprechende Lesarten zum Tragen kommen können.118 Dies erlaubte wiederum Differenzen, mit deren Hilfe zunächst das Eigene beschrieben wurde, als etwas Dynamisches und von Kontext Abhängiges zu erkennen. Die Wirkung des Textes wurde durch das figurative Erzählen evoziert und bewusst gemacht. Diese Methode führte zur Wahrnehmung des Anderen, das zunächst nur fremd und unverständlich war, wobei es jeder teilnehmenden Person freistand, das Andere zu akzeptieren. Diese Erkenntnisse in das individuelle Wissen einzufügen, halfen Passagen aus theoretischen Texten zur Postmoderne.119 So wurde in der Gruppe über das Verständnis von Realität oder Wahrheit als Konstruktionen, über parallele, völlig unterschiedliche Wahrnehmungen einer (Tat)Sache, über die in der Postmoderne gebrauchten Symbolik der Rhizome als Verbildlichungen von Erkenntnisprozessen diskutiert. Der transdifferente Leseakt wurde im Seminar »Literarische Analysen. Literatur als Medium der Interkulturalität« mit einem Gespräch darüber abgeschlossen, welche Erkenntnisse sich aus der Lektüre und während des Diskussionsverlaufs für die Teilnehmenden ergaben. Dadurch strukturierten die Teilnehmenden ihre Erkenntnisse und erfuhren wiederum, dass ihre eigenen Erkenntnisse zum Schluss in Relation zu den Erkenntnissen der Anderen standen.120 Als lehrende Person mode118 Lebhaft wurde z.B. eine Beschreibung des Suizids des Protagonisten Marek Marek (S. 30-31) diskutiert. Es ging um unterlassene Hilfeleistung in Lebensgefahr und um die ethische Frage, ob man jemanden, der nicht mehr leben will, um jeden Preis retten sollte. Die Meinungen gingen hier auseinander. 119 Z. B. de Toro. 120 Z. B. beim Umgang mit dem Thema Sterben, Tod, Vergänglichkeit, welcher selbst innerhalb einer kulturellen Ordnung unterschiedlich ist.

Der transdifferente Leseakt

rierte und strukturierte ich den Diskussionsverlauf. Die Leseportfolios dokumentierten, dass den Seminar-Teilnehmenden durch die gewählte Herangehensweise – figuratives Erzählen, Diskussion und Reflexion – die Differenz zwischen dem Eigenen (u.a. Wahrnehmung der sich wandelnden Identität, wie im Beispiel der Diskussion über Intersexualität beschrieben) und dem Anderen bewusst wurde. Die Wahrnehmung der Fremdheit, die ich als Ziel des Seminars formuliert habe, fand statt. Das Fremde wurde erfahren, reflektiert und wurde erträglich, wenn auch nicht angeeignet, sondern fremd bleibend. Somit wurde das Fremde, das sich in der Wahrnehmung und Benennung von Differenzen äußert und zeigt, im Sinne von Bhabha evident wahrgenommen. Die Differenzen wurden reflektiert, das Andere ins Verhältnis zum Eigenen gebracht und dadurch als eine mögliche, weitere Perspektive der Betrachtung geöffnet.

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Modell der transdifferenten Lehre

Akademische Lehre, die in kulturell heterogenen Gruppen realisiert wird, bedarf einer besonderen Methodik. Die ›transdifferente Lehre‹ ist ein Vorschlag für den didaktischen Umgang mit Heterogenität. In diesem Vorschlag verwende ich bezüglich des Prozesses der Wissensvermittlung, die ich als Wissensproduktion auffasse, die Forschungsergebnisse zur Textwirkung und zur interkulturellen Kommunikation sowie die aus der Fallanalyse eines transdifferenten Leseaktes gewonnenen Erkenntnisse und leite daraus das Modell der transdifferenten Lehre ab. Im Zentrum des Modells steht der fiktionale Text, der für alle Beteiligten zu unterschiedlichem Grade fremd ist. Für die fremdsprachigen Studierenden ist er durch seine Sprache, die Kontexte und seine Form fremd. Die Fremdheit des Textes für die muttersprachlichen Studierenden besteht in der ästhetischen Form und darin, dass er eine Übersetzung ist. Die Fremdheit des Textes für die lehrende Person machen die individuellen studentischen Reaktionen auf den Text aus, die für sie nicht voraussehbar sind. Im Leseakt wird der Text mit Hilfe individueller Erfahrung, zu der auch Vorwissen gehört, und Imagination verarbeitet, was den anderen Seminarmitgliedern im figurativen Erzählen kommuniziert wird. Die Kommunikation findet im geschützten Seminar-Raum statt, den eine Universität als Ort der Wissensproduktion bietet. Diese Kommunikation führt zur Erweiterung der Textwahrnehmung um die Zugänge zum Text anderer Seminarteilnehmender. Infolge Reflexion und moderierter Diskussion kommt es zur Wahrnehmung anderer Perspektiven und zur Wissensproduktion, wie im vorgestellten Beispiel des Seminars zum Roman von Tokarczuk. Folgende Skizze veranschaulicht die Situation im Seminar-Raum:

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Transdifferente Lehre

Abbildung 1: Der transdifferente Leseakt im kulturell heterogenen Seminar-Raum als Beispiel transdifferenter Lehre

Das Modell lässt sich, angelehnt an das Konzept der Triade Reales–Imaginäres–Fiktives von Iser, mit dem ›Akt des Fingierens‹ erklären. In der literaturwissenschaftlichen, inhaltlichen Arbeit im heterogenen, momentanen Denkkollektiv, also in der Seminar-Gruppe, gibt es nicht nur den Aspekt des Realen und des Imaginären als die beiden Pole der Betrachtung eines fiktionalen Textes, sondern auch das Eigene und das Fremde als die Pole der individuellen Erfahrung. Das Reale kann mit dem Eigenen und das Imaginäre mit dem Fremden in Verbindung gebracht werden. Die lesende Person geht von ihrem Eigenen aus (bekannten Kommunikationsgepflogenheiten, Ansichten, Wissenstraditionen etc.), also davon, was für sie real ist, wie im vorgestellten Beispiel bezüglich des Themas Intersexualität. Sie trifft auf eine fremde Position, die analog zur Relation zwischen der Lebenswelt und der imaginären Textwelt gesehen werden kann. Es gilt sodann, die imaginäre Welt, das Andere zu identifizieren und zu dekodieren. Die Strategien zur ›transdifferenten Lektüre‹ von Texten und Kontexten des Anderen können von den Konzepten Isers abgeleitet werden, denn die Bedeutungskonstitution im Erkenntnisvorgang des Anderen ist mit der kognitiven und emo-

Modell der transdifferenten Lehre

tionalen Leistung vergleichbar, die von der lesenden Person erbracht wird.1 Die Leerstellen im Text bieten der lesenden Person einen Raum für produktive, individuelle Gestaltung und Erkenntnis. In der transdifferenten Lehre kommen unterschiedliche Leerstellen zum Vorschein, was mit unterschiedlichen Kenntnissen und Erfahrungen der Lesenden verbunden ist, und den anderen Lesenden als Unkenntnis der Sachverhalte der Kultur erscheint, aus welcher der Text stammt. Dabei sind Differenzen beobachtbar. Die Unkenntnis wird mit Vorannahmen, die in der eigenen kulturellen Situierung ihren Ursprung haben, gefüllt. Der Kontakt mit Anderem ist zunächst von der Suche nach etwas, das Anknüpfung an Bekanntes bieten könnte, gekennzeichnet. In dieser Dynamik zwischen dem Eigenen und dem Anderen entsteht ein Verbindungsglied, das ähnlich dem Fiktiven fungiert, durch das das Andere benannt werden kann. In die Benennung werden das eigene Vorwissen und individuelle Erfahrungen eingebracht, die mit dem zunächst Nichtverstandenen konfrontiert werden. Das Nichtverstandene wird dann, ähnlich wie im Modell nach Bion, durch Finden von Anknüpfungsstellen zu dem, was vertraut erscheint, verständlicher. Verschränkt mit dem Vorwissen und individueller Erfahrung entsteht eine individuelle Wissens-Konstruktion. Dieser Prozess ist einer kommunikativen Situation ähnlich, wie sie Stierstorfer beschreibt: Analog zu den Prozessen in der Fiktion wird in der interkulturellen Kommunikation, bzw. im interkulturellen Lernprozess die Eigenkultur im Verhandlungsgeschehen mit der fremden Kultur vermengt. Ein Verlust von konkreter Bestimmtheit ist insofern zu beobachten, als sie nun Merkmale des Zeichens in der eigenkulturellen Selbstreflexion annimmt: sie wird potentiell mehrdeutig und bedarf jedenfalls der Neuinterpretation. Gleichzeitig bekommen Aspekte der Fremdkultur [sic!] in Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem eigenkulturellen Vorwissen Bestimmtheit und Gestalt.2 Das Zitat soll der Veranschaulichung komplexer Prozesse in Strukturen gelten. Das Modell der transdifferenten Lehre geht nicht von einem oppositionellen Eigenen und Fremden, sondern von mehrfachen, relationalen Interaktionen zwischen Eigenem und Anderen aus. Die Etappe des Nichtwissens und Nichtverstehens wird als eine bedeutende Komponente der ›Begegnung‹ mit dem Fremden sowohl in einer realen kommunikativen Situation als auch im Seminar-Raum auf der Basis eines fiktionalen Textes verstanden. Deswegen wird der Auseinandersetzung ein Wert beigemessen und viel Raum zur Austragung und Analyse überlassen. 1 Vgl. Stierstorfer, Klaus (2002): Literatur und interkulturelle Kompetenz. In: Laurenz Volkmann, Klaus Stierstorfer und Wolfgang Gehring (Hg.): Interkulturelle Kompetenz. Stuttgart. S. 119-141, hier S. 128. 2 Stierstorfer, S. 130f.

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Transdifferente Lehre

Wissensproduktion in der transdifferenten Lehre ist nicht als »Zähmen« des Fremden gedacht, es ist keine Einbahnstraße und keine Transformation vom Fremden zum Eigenen, es ist nicht eine bloße Aneignung des Fremden. Es ist ein moderiertes Miteinander- und Voneinanderlernen, in dem diese Wissensproduktion stattfindet, auch eine Produktion des Wissens über das Andere. So gestaltetes Vermitteln von Wissen in verschiedene Richtungen verläuft nicht hierarchisch. Es wird zum Teil eines Prozesses der räumlichen Wissensproduktion, der in alle Richtungen offen ist und ohne Zentrum. Das Wissen der am Prozess Beteiligten ist genauso wichtig wie das nach dem Curriculum zu vermittelnde (standardisierte) Wissen. Es handelt sich also nicht um »erfolgreiches« Erwerben reproduzierbaren Wissens, sondern um Erkenntniskonstellationen, die infolge der individuellen Rückkoppelungen durch die Seminarmitglieder produziert werden. Zu den Parallelen zwischen dem Akt des Fingierens und der Wissensproduktion in der transdifferenten Lehre gehört auch die Frage nach neuen, von den Teilnehmenden gemeinsam getragenen Regeln. Im akademischen Lehrbetrieb gibt es Regeln im Sinne der von Douglas beschriebenen Konventionen. Im kulturell heterogenen Seminar-Raum sind diese Regeln für die Beteiligten nur zum Teil identifizierbar und beschreibbar. Die Wissensproduktion allein als Akt des Fingierens zu sehen, hieße, eine Konvention aufrechtzuerhalten und in einer Etappe des Prozesses stehenzubleiben. Aus diesem Grund greift das Modell der transdifferenten Lehre als konzeptionelle und operationelle Fortentwicklung der interkulturellen Kommunikation und interkulturellen Kompetenz auf die Mechanismen, die bei Spielen zu beobachten sind, zurück. Dadurch wird sie variabel, aber nicht beliebig. Die Spielregeln werden zum einen von der Universität als Institution, ein durch den Denkstil verkörpertes relativ stabiles Denkkollektiv, vorgegeben. In der transdifferenten Lehre kommt, im Unterschied zu konventionellen Lehrmethoden, die Verhandlung und Aufstellung von eigenen Regeln des momentanen Denkkollektives, der Seminar-Gruppe hinzu, die somit ihren eigenen Denkstil erarbeitet. Das in den im Sinne der transdifferenten Lehre realisierten Seminaren produzierte Wissen ist wertvoll, weil es als Erkenntnis in einem moderierten und bewusst reflektierten Prozess entsteht. Eine Gruppe von zufälligen Mitgliedern wird zum Denkkollektiv, das sich immer besser kennt und im Team intensiv zusammenarbeiten kann, ohne vorgegebenes, vorgefertigtes Wissen bloß aufzunehmen. Die Mitglieder eignen sich das kollektiv erarbeitete Wissen individuell an und betrachten es als ihr eigenes, mit dem sie sich identifizieren können.

Zusammenfassung und Ausblick

Ausgangsgedanke meiner Untersuchung war die Annahme, dass ›Erkenntnis‹ in der Philosophie aus zwei Perspektiven heraus diskutiert wird, aus der Perspektive der Werte und aus der Perspektive der Prozeduren. Übertragen auf den zeitgenössischen Lehrbetrieb stand zu Beginn der Untersuchung die Frage, inwieweit die öffentliche Universität, die eine Institution ist und somit Konventionen und (internationalen) Regelungen verpflichtet, imstande ist, Freiräume für Produktion von Wissen, das nicht immer den Regeln der Wissenschaftskultur entspricht, zu schaffen. Als ich dieser Frage vor dem Hintergrund der Heterogenität des Lehrbetriebs und von Interaktionen von Differenzen, die ein genuines Attribut der zeitgenössischen Universität sind, nachgegangen bin, stellte ich fest, dass es in dieser Beziehung weniger darum geht, ob Werte oder Prozeduren von der zeitgenössischen Universität verfolgt werden, sondern um das Verhältnis zwischen Wissenschaftlichkeit als ein Attribut der institutionell situierten Diskurse und um Erfahrung als Attribut der individuellen Teilhabe und Teilnahme an Erkenntnisproduktion. Aus dieser Feststellung heraus ergab sich sodann mein Forschungsziel: die Verschränkungen beider Aspekte zu untersuchen. Dabei war ich bestrebt, Heterogenität, die sich aus Differenzen ergibt, möglichst breit zu definieren und den didaktischen Umgang mit ihr möglichst mehrschichtig zu betrachten. Aus dieser Herangehensweise entwickelten sich zwei Betrachtungsfelder: der Umgang mit Differenzen in der zeitgenössischen akademischen Lehre und die dynamische Einordnung einer auf Heterogenität ausgerichteten Lehre im Gefüge der Universität, die ein relativ stabiles Denkkollektiv darstellt. Aus der Analyse interdisziplinärer, vorrangig kultur- und literaturtheoretischer Ansätze der Differenzforschung sowie aus eigener Lehrerfahrung mit kulturell heterogenen Gruppen entwickelte und erprobte ich das Modell, das ich ›transdifferente Lehre‹ nenne. Das Modell der transdifferenten Lehre, das im institutionellen Rahmen und unter den Bedingungen der Universität realisiert wird, ist ein Vorschlag für eine Begegnung zwischen den beiden Entitäten Wissenschaftlichkeit und Erfahrung auf Ebene eines ästhetischen Erlebnisses, das emotionale Erfahrungen und individuelles Vorwissen der Beteiligten einbezieht.

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Transdifferente Lehre

Die Grundlage der Konzeption bilden literaturwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Verfahren aus der interkulturellen Literaturwissenschaft, der Phänomenologie, den Grenz- und Differenzstudien, der Wissens- und Erkenntnistheorie, die auf die Prozesse der Wissensvermittlung in heterogenen SeminarGruppen übertragen werden. Lediglich schwer vorstellbar ist ein akademischer Lehrbetrieb, der in der vielfältigen Lebens- und Wissenswelt, besonders an der Universität als Ort der Begegnung, Wissensvermittlung und -produktion, ohne Rücksicht auf Differenzen arbeitet. So kommt es, dass neben modernen Laboren und vollständig automatisierten und programmierten Untersuchungsstrecken auch die fiktionale Literatur, eine Ansammlung aus Worten, die imstande ist, Welten zu erzeugen, einen beachtlichen Beitrag zur Wissensvermittlung und -produktion leisten kann: Indem sie erzählt – Geschichten, die das Andere suchen und beschreiben. Allein die Beschreibung, die schon eine Interpretation des Anderen ist, öffnet einen Raum für Wissensproduktion. Die durch den Text erzeugte imaginäre Welt und deren individuelle Aktualisierung in der Erfahrung der lesenden Person verursachen eine temporäre Entfernung aus der realen Welt. In dieser Funktion als Medium der Subjektivität befördert Literatur, durch das durch sie evozierte Erlebnis der Imagination, einen Wissensgewinn aus individuellem Wissen und Erfahrung sowie, auf dem Wege der Wahrnehmung des Anderen, aus Wissen und Erfahrung der am Seminar-Raum Teilnehmenden. In der Psychologie wird Imagination als ein Vermögen beschrieben, disparate Daten auf individuelle Weise miteinander zu verknüpfen.1 Dadurch werden sie, nach Cornelius Castoriadis, zu einer zusammenführenden Kategorie. Imagination kann nur prozessual verstanden werden, worin Parallelen zur Wissensvermittlung liegen. Imagination sei, so Castoriadis, die Voraussetzung für ›Realität‹ und ›Rationalität‹. Sie komme durch Setzung, Bruch und Anderswerden zur Entfaltung, weshalb sich alle Bestimmtheit stets als abgeleitetes, keineswegs als originäres Phänomen erweise.2 Identifikation, Bruch, Anderspositionieren und Entfaltung sind Aktivitäten, die Arbeitsetappen der transdifferenten Lehre darstellen. Diese Aktivitäten sowie das als positiv betrachtete Nichtverstehen bergen Potentiale, die, bewusst aktiviert, zur Imagination, die über die bekannte Wissenschaftskonvention hinausgeht, beitragen können. Wenn ein Denkstil aufgehoben wird, kann sich die Produktion von Erkenntnis entfalten. Die Aufgabe der oder des Lehrenden besteht in kulturbewusster Aktivierung und Moderation dieses Prozesses. Analog zu der Feststellung, dass Imagination eine Voraussetzung für Realität ist, betrachte 1 Vgl. Castoriadis, Cornelius (1985): Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a.M. S. 12. 2 Vgl. ebd., S. 272.

Zusammenfassung und Ausblick

ich Erfahrung als eine Grundlage für Wissensproduktion, wie ich in der Fallanalyse am Beispiel des an der Europa-Universität Viadrina durchgeführten Seminars »Literarische Analysen. Literatur als Medium der Interkulturalität« gezeigt habe. Das Modell transdifferente Lehre entfernt sich von einer bloßen Feststellung von Gemeinsamkeiten und Differenzen und geht über den Erwerb interkultureller Kompetenz hinaus – es macht das Andere wahrnehmbar und erfahrbar. Das Anliegen der transdifferenten Lehre ist es, unter den Bedingungen, die Vielfalt und Differenzen mit sich bringen, ein neues, individuelles Wissen zu produzieren und nicht bloß ein bestimmtes, von Institutionen festgelegtes zu vermitteln und zu reproduzieren. Die Herausforderung besteht darin, dass das neu entstandene Wissen mit den disziplinären Qualitätsstandards kompatibel bleibt, dadurch dass die Vorgaben des Modulhandbuchs3 , wie Inhalte und Qualifikationsziele,4 beachtet werden, die Wissensproduktion aber wie im analysierten Fall darüber hinausgeht. Die Umsetzung der Anforderungen ist eine Bedingung für die institutionell geförderte Mobilität, somit zum Teil eine Voraussetzung für die Vielfalt. Die transdifferente Lehre geht auf diese Herausforderung ein, indem sie sich zugleich als ein Medium zwischen den beiden Entitäten System und Werte versteht. Dies geschieht auf dem Wege, dass zunächst eine Entfernung vom Kanon und sodann eine Spiegelung des neu Entstandenen im kanonischen Wissen vorgenommen wird. Dieses Verfahren steht nur scheinbar im Widerspruch zur standardisierten Wissensvermittlung an der Universität als Institution. In der transdifferenten Lehre wird vorgeschlagen, auf Kanons einzugehen, aber nach eigenen Zugängen zu suchen, sie zu hinterfragen und neu zu interpretieren, zu beobachten, wie sie in verschiedenen Wissens- und Erfahrungskonstellationen wirken. Eine methodische Voraussetzung für dieses Verfahren ist der Verzicht auf jegliche Hierarchisierung des Wissens im Sinne einer Unterscheidung zwischen Diskurswissen und »unwissenschaftlichem« Wissen. Vielmehr werden die individuellen Zugänge der Teilnehmenden, ihre emotionalen Erfahrungen und ästhetischen Erlebnisse berücksichtigt und – nicht wertend – diskutiert. Erst aus dieser Diskussion werden, von Lehrenden moderiert, Folgerungen, Verallgemeinerungen und Erkenntnisse abgeleitet. In diesem Sinne kann die transdifferente Lehre als eine differenz- und handlungsorientierte, multiperspektivische Lehre bezeichnet werden. Ein Vorteil, den die transdifferente Lehre für das komplementäre Verhältnis von Werten und Systemen bringt, ist eine neue Auslegung von Standards5 . Stan3 Modulhandbuch des Bachelorstudiengangs Interkulturelle Germanistik: www.kuwi.europauni.de/de/studium/bachelor/germanistik/Studien-undPruefungsangelegenheiten/StPO/ Modulhandbuch_BA_IKG_SPO_2017.pdf [05.09.2018]. 4 Vgl. ebd., S. 13. 5 Es sind Modulhandbücher und andere Vorgaben zur inhaltlichen und formalen Gestaltung der Lehre gemeint.

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dards werden als Beschreibung von Zielen und weniger als Festlegung des zu erwerbenden Wissens interpretiert. Sie werden mit der Seminar-Gruppe zu Beginn des Semesters besprochen, dabei wird auf Erwartungen der Teilnehmenden und auf eine gemeinsame und offene Formulierung der Ziele geachtet. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Herausforderungen kann es in der akademischen Lehre nicht prioritär um Erwerb kumulativen Wissens gehen – aufgrund der enormen Datenmenge.6 Zudem ist der Zugang zu Wissen egalitär geworden – archivierte Wissensbestände und etliche Datenbanken können eigenständig genutzt werden. Akademische Lehre trägt zur Zirkulation des Wissens bei und sorgt für die Herstellung des Bezugs zu vergangenen oder zeitgenössischen Diskursen. Sie befähigt und animiert die Akteurinnen, Studierende wie Lehrende und Forschende gleichermaßen, zur Wissensproduktion. Darüber hinaus sensibilisiert die akademische Lehre die Akteurinnen für die Vielfalt der Relationen zwischen den Erkenntnissen in interdisziplinären Bereichen. Eine Wissensvermittlung, die auf Reproduktion von Grundlagen ausgerichtet ist, mag, unter Verweis auf die Bedingtheit des Wissens überhaupt, ihre Berechtigung haben; doch das Grundlagenwissen ist als ein Instrument für einen weiteren, selbständigen Erwerb von spezifischem Wissen zu sehen und kann zu einem Instrument der Relativierung und Überprüfung zirkulierenden Wissens entwickelt werden. Im Anschluss daran sehe ich in der transdifferenten Lehre die Chance auf Produktion von individuellem, kontingentem und zu relativierendem Wissen, welches über die Grundlagen hinausgeht. Diese Einstellung erfordert Arbeit daran, dass Studierende ihr Vermögen entwickeln, das stellenweise als kontrovers empfundene Wissen des oder der Anderen, Nichtverstehen und Unsicherheit auszuhalten, zu ertragen. Das Attribut »transdifferent« bezieht sich vor allem auf die Herauslösung von Differenzen aus ihrer dualen, oppositionellen Konstruktion, um sie in Relation zu setzen und in Beziehung zueinander zu betrachten. Die Prioritäten verschieben sich vom Wissen-Vermitteln zum Prozess des gemeinsamen Wissen-Konstruierens. Auf die wesentlichen Punkte reduziert: Die transdifferente Lehre berücksichtigt nicht nur die kulturell heterogene Situation des akademischen Lehrbetriebs mit seinen Denkkollektiven und deren Denkstilen, sondern sie nutzt sie auch aktiv in Seminaren. Das Augenmerk liegt dabei auf der Interaktion zwischen den Rahmenbedingungen des Lehrbetriebs und den von der Heterogenität ausgehenden Differenzen. Differenzen werden als ein Umstand und Forschungsgegenstand zugleich, aber auch als bereichernde Komponente des zeitgenössischen, kulturell heterogenen Lehrbetriebs gesehen. Die transdifferente Lehre bemüht sich um einen kulturell bewussten Umgang in interpersonalen Beziehungen zwischen allen am 6 Vgl. Spinner, Helmut F. (2003): Wissen. In: Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/Weimar. S. 337-343, hier S. 339.

Zusammenfassung und Ausblick

Prozess der Wissensproduktion Beteiligten. Dann ist die Lehre nicht ein Transfer von kanonisiertem Wissen nach dem Topdown-Prinzip, sondern eine Methode der Wissensproduktion im relationalen Raum, zu der alle Beteiligten beitragen. Die Rolle der Lehrenden wird in professioneller Moderation und fachlicher Begleitung der Prozesse gesehen – im Bewusstsein dessen, dass die Fachlichkeit der Lehrenden in bestimmten Wissenschaftskulturen situiert ist. Das Modell der transdifferenten Lehre ist ein Beweis dafür, dass die Hochschuldidaktik auch als ein Instrumenten-Set, mit dem die Heterogenität bewusst und effektiv für die Prozesse der (institutionalisierten) Wissensvermittlung und Wissensproduktion eingesetzt wird, verstanden werden kann. Der Bologna-Prozess hat sich in dem Sinne auf die Lehre ausgewirkt, dass die Umgestaltung von Studienprogrammen auf Bachelor- und Masterabschlüsse erfolgt ist, womit Vergleichbarkeit von erworbenen Kompetenzen angestrebt wird und die mit der Vergleichbarkeit und gegenseitigen Anerkennung der Studienleistungen einhergehende Mobilität von Studierenden und Lehrenden zugenommen hat. Ich entschied mich deswegen für die Analyse des Bologna-Prozesses, weil sich an diesem der Wandel der zeitgenössischen Universität ablesen lässt. Die hier behandelten Fragen des Umgangs mit Heterogenität an der Universität sind keineswegs erst mit Bologna entstanden. Austausch und Begegnung sind historisch gewachsene Phänomene des akademischen Lebens, Bologna hat sie zum egalitären Ziel erklärt und somit der Differenzforschung eine neue Aktualität gegeben. Der Bologna-Prozess hat zu messbaren und beobachtbaren Veränderungen beigetragen, die Bedingungen und der Rahmen dafür entstanden aber schon früher infolge globaler Prozesse. Auf die vielfältige und kontroverse Debatte um die Vorund Nachteile des Bologna-Prozesses bin ich in der Arbeit unter Verweis auf die Fachliteratur nicht tiefer eingegangen, sondern habe mich auf die für meine Untersuchung relevanten Aspekte des didaktischen Umgangs mit der Vielfalt, die unter anderem durch die von Bologna geförderte Mobilität zugenommen hat, konzentriert. Im Zentrum meines Interesses stand der Umgang mit den Auswirkungen der Reform. Die von Bologna geförderte Mobilisierung hat zur Internationalisierung und Diversifizierung der Universitäten beigetragen. Infolge von Bologna wurden organisatorische Formen des Studiums und Standards eingeführt, die eine Vergleichbarkeit der Effekte der akademischen Lehre erlauben. Dies geschah zumindest auf der deklarativen Ebene. Die Umsetzung ist vielfältig und wiederum von verschiedenen Faktoren, wie akademischen Traditionen oder institutionellen Systeme der einzelnen Staaten, abhängig. Abgesehen von der realen Umsetzung spiegelt der Bologna-Prozess auch die Diskrepanz zwischen den Werten und den Systemen wider: Einerseits sollen die nationalen Kanons für Andere geöffnet werden, andererseits wurden Standards eingeführt, um das, was infolge der Öffnung entsteht, vergleichbar zu machen.

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Einen entscheidenden Vorteil brachte die Reform für die akademische Lehre, wie die angeführte Regensburger Delphi-Studie7 zeigt. Angesichts der Verpflichtung zu Standards war es notwendig, sich Gedanken zu machen, wie diese Standards erreicht werden sollen. Dies führte zu einer Aufwertung der Stellung der Hochschuldidaktik, zumindest in Ansätzen. Hochschuldidaktische Vorbereitung der akademischen Lehrenden gehört zwar immer noch nicht zur obligatorischen Ausbildung dieses Berufs, doch die Lehrenden selbst sehen eine solche Notwendigkeit und unternehmen individuell Anstrengungen, um sich fortzubilden. Denkbar ist, das Konzept der transdifferenten Lehre auch für die Aus- und Fortbildung im Bereich der Hochschuldidaktik einzusetzen und es damit für andere, nicht nur kultur- und literaturwissenschaftliche Seminare weiterzuentwickeln. In den Seminar-Räumen und Seminar-Gruppen der Fortbildungsveranstaltungen könnten Ideen entwickelt werden, wie die transdifferente Lehre z.B. in Natur- oder Ingenieurwissenschaften sowie interdisziplinär zu realisieren wäre. Die allgemeinen Rahmenbedingungen, wie Verzicht auf Hierarchien, zeitweise Aufhebung des Denkstils des stabilen Denkkollektivs und Erarbeitung eines eigenen Denkstils des momentanen Denkkollektivs, Herstellung von Offenheit und Vertrauen im gegenseitigen Umgang usw., könnten auch in diesen Formaten Anwendung finden. Im Zusammenhang mit der Geltung von Denkstilen wurde die Performativität als ein Phänomen, das ebenso zum Komplex Erforschung der transdifferenten Lehre gehört, nicht erwähnt. Eine Forschung über die Verschränkung zwischen Performativität in der Literatur und in der Lehre könnte eine Fortführung der vorliegenden Studie sein. Die vorliegende Arbeit ist ein Beispiel für interdisziplinäre Verschränkung der Forschung im Bereich der Hochschuldidaktik mit der kulturwissenschaftlichen Forschung. Wie diese Untersuchung zeigt, gibt es gemeinsame Felder, gerade in der Differenzforschung, die die Erziehungswissenschaften im Allgemeinen und die Hochschuldidaktik im Besonderen in ihre Arbeit einbeziehen, und die so zu weiteren Erkenntnissen bezüglich des didaktischen Umgangs mit Heterogenität in der akademischen Lehre beitragen können.

7 Mit Verweis auf Ceylan, Firat/Fiehn, Janina/Paetz, Nadja-Verena/Schworm, Silke/Harteis, Christian (2011): Die Auswirkungen des Bologna-Prozesses – Eine Expertise der Hochschuldidaktik. In: Sigrun Nickel (Hg.): Der Bologna-Prozess aus Sicht der Hochschulforschung. Analysen und Impulse für die Praxis. S. 106-122. www.che.de/downloads/CHE_AP_148_Bologna_Prozess_aus_Sicht_der_Hochschulforschung.pdf [02.10.2018].

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Transdifferente Lehre

Hochschulverband: www.hochschulverband.de/mentoring.html Interkulturelle Anglistik an der Universität Greifswald: www.uni-greifswald.de/ studium/vor-dem-studium/studienangebot/studienfaecher/k/kultur-inter kulturalitaet-literatur Interkulturelle Germanistik an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): https://www.kuwi.europa-uni.de/de/studium/bachelor/germanistik/index. html Interkulturelle Romanistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz: www. studium.uni-mainz.de/master-romanistik Internationalisierungsstrategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (ohne Jahresangabe): www.bmbf.de/de/internationalisierungs strategie-269.html, www.bmbf.de/de/internationalisierung-der-hochschulen924.html Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 2018: www.kuwi. europa-uni.de/de/studium/bachelor/germanistik/Kurse_neu/KVV_BA_IKG_ SoSe_18.pdf Kompetenzorientierung in der akademischen Lehre: www.hrk-nexus.de/file admin/redaktion/hrk-nexus/07-Downloads/07-02-Publikationen/fachgut achten_kompetenzorientierung.pdf Lebenslanges Lernen: www.bildungsxperten.net Modulhandbuch des Bachelorstudiengangs Interkulturelle Germanistik: www. kuwi.europa-uni.de/de/studium/bachelor/germanistik/Studien-undPruefungsangelegenheiten/StPO/Modulhandbuch_BA_IKG_SPO_2017.pdf Qualitätsmanagementhandbuch der Europa-Universität Viadrina: www.euro pa-uni.de/de/struktur/unileitung/stabsstellen/qm/dokumente/EUV_Qualitaets management_Druckversion_V8_0.pdf Qualifikationsrahmen für Deutsche Hochschulabschlüsse der Kultusministerkonferenz (2017): www.hrk.de/themen/studium/qualifikationsrahmen und www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-03-Studium/02-0302-Qualifikationsrahmen/2017_Qualifikationsrahmen_HQR.pdf Studieren ohne Abitur: www.studieren-ohne-abitur.de/web/studienCheck/ Zentrum für Schlüsselkompetenzen an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder): www.europa-uni.de/de/struktur/zsfl/institutionen/index.html

Pädagogik Anselm Böhmer

Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten 2016, 120 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3450-1 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1

Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

Monika Jäckle, Bettina Wuttig, Christian Fuchs (Hg.)

Handbuch Trauma – Pädagogik – Schule 2017, 726 S., kart., 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-2594-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2594-7

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Pädagogik Elisabeth Kampmann, Gregor Schwering

Teaching Media Medientheorie für die Schulpraxis – Grundlagen, Beispiele, Perspektiven 2017, 304 S., kart., 5 SW-Abbildungen 24,99 € (DE), 978-3-8376-3053-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-3053-8

Markus Deimann

Open Education Auf dem Weg zu einer offenen Hochschulbildung Januar 2019, 260 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4496-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4496-2

Stefan Thomas, Madeleine Sauer, Ingmar Zalewski

Unbegleitete minderjährige Geflüchtete Ihre Lebenssituationen und Perspektiven in Deutschland 2018, 254 S., kart., 26 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4384-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4384-2

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