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German Pages 300 Year 2019
Moritz Baßler, Heinz Drügh (Hg.) Konsumästhetik
Konsumästhetik | Band 6
Die Reihe wird herausgegeben von Moritz Baßler, Heinz Drügh, Birgit Richard und Wolfgang Ullrich.
Moritz Baßler, geb. 1962, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und lehrt dort Kulturpoetik. Er forscht und publiziert zur deutschen Literatur, insbesondere zur Literatur der Klassischen Moderne, zur Literaturtheorie und zur Gegenwartsliteratur. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik. Heinz Drügh, geb. 1965, lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt Neuere Deutsche Literatur und Ästhetik. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 18.-21. Jahrhunderts, Pop- und Konsumkultur und die ästhetische Theorie. Im Jahr 2015 veröffentlichte er den monographischen Essay »Ästhetik des Supermarkts«.
Moritz Bassler, Heinz Drügh (Hg.)
Konsumästhetik Umgang mit käuflichen Gegenständen
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung
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Inhalt Einleitung: Konsumästhetik Moritz Baßler und Heinz Drügh | 7
Die Stellung der Ästhetiken zum Konsum Thomas Hecken | 27
Singe den Zorn Ästhetische Kultur und Demokratie der Gefühle Josef Früchtl | 49
Geld, Geltung, Gegenwert Skizze zu einer Theorie der Konsumkultur Dirk Hohnsträter | 63
Das Konsumobjekt und die Gesellschaft der Gabe Christina von Braun | 87
Werte als Konsumartikel Wie das Marketing unseren Umgang mit Idealen prägt Wolfgang Ullrich | 97
»Feiern bis das Bild kommt« Methodische Ansätze zur Er forschung jugendkultureller Konsumästhetiken am Beispiel der Technoevents Mayday 2014 und 2015 Katja Gunkel und Birgit Richard | 115
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus Heather Phillipsons Videoinstallation SPECIAL OFFERS (2015) Antonia Wagner | 135
Kalter Krieg im Kühlregal Sowjetische Eiskrem und amerikanische Hühnerkeulchen als Erinnerungsor te Monika Rüthers | 163
Konsum als Aneignung von Gütern Versprechungen der Warenwelt und alltägliche Er fahrungen mit käuflichen Dingen Hans P. Hahn | 195
Cover-Erzählungen Begegnungen von Pop und Marke im Originalitätsdiskurs des Werbefilms Melanie Horn | 215
»An Illusion to live by« Liebe, Geld und Konsum in The Great Gatsby Annemarie Opp | 243
Krimkrams Rembert Hüser | 267
Autorinnen und Autoren | 295
Einleitung: Konsumästhetik Moritz Baßler und Heinz Drügh
I. F ür eine neue Ä sthe tik Wir brauchen eine neue Ästhetik, neue Kategorien für unsere Urteile in Sachen Schönheit, Stil und Geschmack.1 Warum? Weil die Entwicklung der Ästhetik als theoria irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Kontakt zu der Art und Weise verloren hat, wie wir unsere Lebenswelt tatsächlich ästhetisch bewerten. Insbesondere wird die Ästhetik bis heute der Komplexität, die unseren Umgang mit käuflichen Gegenständen charakterisiert, nicht gerecht. Auch nur zu behaupten, dass Waren, Konsumgütern, Massenprodukten der Industrie (und nicht bloß der Kulturindustrie!) ein ästhetisches Urteil zukomme, galt lange und gilt im Grunde bis heute als Skandalon. Denn diese ganze Sphäre des Konsums scheint doch der Sphäre der Kunst, für die das Ästhetische reserviert bleibt, entgegenzustehen, ja geradezu ihr Gegenteil zu verkörpern. Kunstwerke, so gilt nach wie vor oft als ausgemacht, seien autonom, schwierig, widerständig, interventionistisch und von existentieller Bedeutung; Konsumgüter dagegen die oberflächliche, einschläfernde Umkleidung der immergleichen Warenform, die Höheres allenfalls vorgaukelt. Ästhetisches wird, so etwa Adorno, von der Warenform bloß usurpiert. Kunst, oder wie Jacques Rancière wieder unumwunden schreibt: »das Schöne«, wird geradezu definiert als »dasjenige, das zugleich der begrifflichen Bestimmung wie der Verlockung der konsumierten Güter widersteht«;2 und das gilt erst recht für die andere weithin anerkannte ästhetische Großkategorie: für das Erhabene. Konsumgüter, insbesondere solche mit Markenqualität und -namen, wurden in Kunst und Literatur folglich lange Zeit – außerhalb der Pop-Sphäre bis ins gegenwärtige Jahrtausend – möglichst wenig repräsentiert, als fürchte man eine Ansteckung mit ihrer Niedrigkeit und Banalität. Wo aber doch ein1 | Vgl. Sontag, Susan: »One culture and the new sensibility«, in: Dies.: Against Interpretation, New York: Farrar, Straus & Giroux 1964, S. 293-304, hier S. 303f. 2 | Rancière, Jacques: Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve 2008, S. 15.
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mal Konsumgüter gezeigt wurden, da zumeist mit einem Unterton von Ironie oder Sarkasmus, als sei ihre Verwerflichkeit ausgemachte Sache. Dieser dominante Diskurs um Kunst und Ästhetik hatte mit den tatsächlichen Verhältnissen von Kunstproduktion, -verbreitung und rezeption von Beginn an wenig zu tun. Bereits im 19. Jahrhundert war, wie Lawrence Grossberg feststellt, die Eingliederung der Kunstsphäre in kapitalistische Bezüge von Produktion und Handel weitgehend vollzogen. Umgekehrt prägten die neuartigen Weisen der Produktion, Distribution und des Konsums von Waren die Darstellungs- und Wahrnehmungsformen schon Ende des 19. Jahrhunderts auf spürbare Weise. Es sind die Außenseiter auf dem Gebiet der ästhetischen Theorie, die hierfür ein Gespür entwickeln. Auf der Berliner Gewerbeausstellung des Jahrs 1896 (einer verkappten Weltausstellung) reagiert der junge Soziologe Georg Simmel zwar zunächst gemäß des üblichen Reaktionsschemas: »Jeder feine empfindliche Sinn« notiert er, »wird durch die Massenwirkung des hier Gebotenen vergewaltigt und derangiert.«3 Gleichwohl konstatiert Simmel, dass die »Steigerung dessen, was man die Schaufenster-Qualität der Dinge nennen könnte«, doch auch eine erstaunliche »ästhetische[] Produktivität« freisetzt.4 So kommt es zu einem bemerkenswerten Umschlag. »Gerade aus der äußersten Steigerung des materiellen Interesses und der bittersten Concurrenznoth« erwachse »eine Wendung in das ästhetische Ideal«. Zugespitzt und unter Verwendung einer durch Friedrich Schiller berühmt gemachten ästhetischen Kategorie: »das Anmuthigste« entspringt »aus dem Anmutslosesten«.5 Noch im Jahr 1965 möchte Adorno Simmels ästhetischer Experimentierfreude, die er als dessen »prompte Bereitschaft, über alles und jedes zu philosophieren«,6 desavouiert, nur zu gerne den Riegel vorschieben. Mit Simmels Argumentation wird freilich klar: Sobald Konsumgüter in kapitalistischen Gesellschaften nicht mehr reine Notwendigkeit sind, sondern im Überfluss zur Verfügung stehen, beginnen gleichwertige Produkte – zunächst vor allem Genuss-, Wasch- und Reinigungsmittel – miteinander in Konkurrenz zu treten. Da sich diese Waren im Gebrauchswert kaum unterscheiden, bauen die Herstellerfirmen Markenimages in Differenz zu den Konkurrenzprodukten auf. Diese Images können räumlich von den eigentlichen Waren 3 | Simmel, Georg: »Berliner Gewerbe-Ausstellung«, in: Klaus Christian Köhncke (Hg.), Gesamtausgabe, Bd. XVII: Miszellen, Glossen, Stellungnahmen, Umfrageantworten, Leserbriefe, Diskussionsbeiträge 1889-1918. Anonyme und pseudonyme Veröffentlichungen 1888-1920, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 33-38. 4 | Ebd. 5 | Ebd., S. 37. 6 | Adorno, Theodor W.: »Henkel, Krug und frühe Erfahrung«, in: Rolf Tiedemann (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. XI: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 556-566, hier S. 561.
Einleitung: Konsumästhetik
getrennt propagiert werden – in Form von Werbung. Konsum beschränkt sich fortan nicht mehr auf die Waren (oder Kulturgüter) selbst, sondern bezieht diese Images mit ein. Der Erfolg der Marke ist unmittelbar abhängig von einer möglichst großflächigen Verbreitung und ist folglich nicht mehr ohne massenmediale Technologien zu denken. »Technologien der Massenreproduktion und -distribution veränderten das Terrain der Kultur, indem sie der breiten Masse der Bevölkerung einen Zugang zu vorher privilegierten kulturellen Texten eröffneten; die Revolution der Massenkommunikationsmittel bedeutet vor allem einen Wandel der Verhältnisse kulturellen Konsums.« 7 Von Marx’ Theorie des Warenfetischs über die Frankfurter Schule bis hin zu Wolfgang Fritz Haugs Warenästhetik hat man diese konkurrierenden Images indessen im Wesentlichen als strukturelle Lüge, als falsches Gebrauchswertversprechen verstanden und verdammt – der Unterschied zwischen Ford und Opel, den Autotester bis in Mikrobereiche zu rationalisieren suchen, sei, so hieß es, reine Ideologie. Erst in allerjüngster Zeit hat eine neue Konsumforschung einen neuen Blick auf diese Dinge gewagt. Wolfgang Ullrich etwa kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Werbe-Images ebenso wenig (bzw. genau in dem Sinne) um Lüge handelt wie im klassischen Fall von Platons Vorwurf, die Dichter lögen. Statt eines Gebrauchswertes werde in der Werbung nämlich ein Fiktionswert vermittelt (und verkauft), dessen Status allen halbwegs aufgeklärten Konsumenten völlig klar sei.8 »Werbung arbeitet unaufrichtig«, schrieb bereits Niklas Luhmann, aber es ist eine Drehung komplizierter: »Sie setzt voraus, dass das vorausgesetzt wird«.9 Man kann also den Spieß umdrehen und behaupten, dass nicht die Warenwelt die Ästhetik auf den Hund kommen lässt, sondern dass die immergleiche Rede von Ideologie und Verführung die Sphäre des Konsums »auf trostlose und übrigens wenig effektive Weise reduziert, verödet, verarmt und entzaubert«.10 Die resultierende Aufgabe für eine neue Ästhetik haben wir mit einem begrifflichen Shift von der Waren- zur Konsumästhetik markiert. Konsum wird dabei nicht in gängiger kulturkritischer Manier als das uniforme und unachtsame ›Sich-Reinziehen‹ von unterschiedslos Allem bewertet, sondern als hochkomplexe Handlungsform, die all das umfasst, was wir fühlen und 7 | Grossberg, Lawrence: »Rock and Roll in Search of an Audience«, in: James Lull (Hg.), Popular Music and Communication, Newbury Park u.a.: 1987, S. 175-197, hier S. 176. 8 | Vgl. Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006, bes. S. 45-52. 9 | Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdt. Verl. 1995, S. 36. 10 | Stanitzek, Georg: »Etwas das Frieda Graefe gesagt hat«, in: Heinz Drügh u.a. (Hg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin: Suhrkamp 2011, 175-195, hier S. 175.
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imaginieren, wenn wir uns Dinge aneignen, wenn wir um sie herum streifen, bis wir sie kaufen, sie hegen und pflegen, mit Schutzhüllen ummanteln und Fuchsschwänzen behängen, wenn wir sie sammeln oder horten oder aber im Regal verstauben lassen, und schließlich auch, wenn wir uns von ihnen trennen, sie Secondhand verkaufen, entsorgen oder wegwerfen. Für unseren konsumästhetischen Ansatz sind dabei zwei Aspekte zentral: Zum einen verkennt die kritische Theorie, indem sie den Fiktionswert für einen vorgegaukelten Gebrauchswert hält, offenbar grundsätzlich den Modus, in dem sich der Konsumgegenstand qua Markenimage präsentiert. Zum anderen ist das Urteil, mit dem der Konsument sich zwischen zwei gleichwertigen Produkten aufgrund ihrer divergierenden Präsentationsform entscheidet, im Kern ein ästhetisches Urteil (und eben kein epistemologisches Sachurteil). Die Ästhetik dringt hier in eine Sphäre vor, die sich mit ihren alten Bezugsgrößen: Kunst und Natur, nicht mehr deckt.11 Emphatisch gesprochen, stellt sich die Situation also wie folgt dar: Seit über einem Jahrhundert bestimmt ein Modus ästhetischen Urteilens Leben, Identitätsbildung und Entscheidungsfindung in westlich geprägten Überflussgesellschaften, den bislang noch keine ästhetische Theorie erfasst hat. Es wird höchste Zeit!
II. N eue K ategorien Wie die ästhetische Theorie, so haben auch Kunst und Literatur selbst, als traditionelle Horte des Ästhetischen, um diese neuen Formen ästhetischen Wissens lange Zeit einen Bogen gemacht. Besonders vollendet und auf paradigmatische Weise geschieht dies, so sagt man, in Texten wie Marcel Prousts Récherche, die mit ihrer Beschwörung eines großbürgerlich ländlichen Frankreichs wie ein Gegenzauber zur befürchteten Verflachung durch Massenkultur und -konsum wirken. Schaut man genauer hin, dann finden sich aber auch hier die Versatzstücke des zur Debatte stehenden ästhetischen Diskurses. Ästhetischer Wert, ist Marcels Großmutter überzeugt, kommt nur exquisiten Gegenständen zu, die jedem »Nutzdenken« und jeder »Vulgarität« (61)12 abhold sind: Denn 11 | Interessanterweise geschieht dies ungefähr zur gleichen Zeit, da auch in der Philosophie ästhetische Argumente an die Stelle von logischen Sachurteilen zu treten beginnen, etwa wenn Nietzsche erklärt: »Jetzt entscheidet unser Geschmack gegen das Christentum, nicht mehr unsere Gründe.« (Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Giorgio Colli, Mazzino Montinari [Hg.], Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, München: Dt. Taschenbuch-Verl. 1980, S. 343-651, hier S. 485). 12 | Proust, Marcel: Combray [1913]. Aus dem Französischen von Michael Kleeberg, München: Liebeskind 2002, Seitenbelege im laufenden Text.
Einleitung: Konsumästhetik
»schöne Dinge lehren« uns, »unser Glück anderswo zu suchen als in der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse und der Eitelkeit« (61). Entsprechend wirft der Hausfreund Swann den Zeitungen vor, dass sie »uns jeden Tag dazu bringen, uns mit unwichtigen Dingen zu beschäftigen« (40). Umso erstaunlicher ist es aber, dass das berühmte Stimulans der Erinnerungsarbeit nichts anderes ist als ein gewöhnliches Nahrungsmittel: die Madeleine. Eigentlich, sagt der Erzähler, sind Madeleines sogar das Allergewöhnlichste, an ihnen hat er sich in den Displays der Käuflichkeit, »den Auslagen der Konditoreien« (72), längst sattgesehen. Bei genauerer Betrachtung wirkt es aber dann doch auffällig, jenes »kleine[] Muschelgebäck« (72), »so schwellend sinnlich unter seinem strengen und frommen Faltengewand« (72). Man muss halt nur mit der richtigen Aufmerksamkeit rangehen, d.h. reinbeißen: »Ich finde den keltischen Glauben sehr vernünftig«, informiert der Erzähler, der Tiere, Pflanzen, aber auch »leblose Gegenstände« für beseelt von allem hält, was »wir verloren haben« (67). Aus ihrem objekthaften Gefängnis befreien lässt sich diese Bedeutsamkeit nicht zuletzt dadurch, dass wir »das Objekt in unsren Besitz nehmen« (68) – durch Konsum, den etwa Hannah Arendt in Vita activa als das Widerästhetische schlechthin betrachtet und angewidert als gedankenloses ›Verzehren‹ oder sogar ›Vernichten‹ beim lateinischen Wort nimmt.13 Zweifellos: Bei Proust scheint es eher um die ewig bürgerliche »Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen)« zu gehen, wie Rolf Dieter Brinkmann spottet, als um »zeitgenössische[s] Material.«14 Und einer in Lindenblütentee getunkten Madeleine in allen Nuancen nachzuschmecken, ist kaum dasselbe wie die Erkundung der emotionalen Affäre, die Durchschnittsbürger mit Hotdogs unterhalten – so Claes Oldenburg einmal über das zentrale Stimulans seiner künstlerischen Arbeit. Dennoch zeichnet sich auch bei Proust im eigentlich Denkunmöglichen das Mögliche ab, wird auch in ästhetischen Grundsatzfragen jener »stetige[] Wechsel von Faszination und Kritik«15 produktiv, wie ihn Eco als Kennzeichen von Prousts Verfahren ausgewiesen hat. So ist ästhetisches Feingefühl für Swann, bei aller Entschiedenheit des Urteils, immer auch eine Frage sozialen Takts. Was Kant als subjektive Allgemeinheit des ästhetischen Urteils bezeichnet hat, dass nämlich mit ihm anders als bei bloß sinnlichen Vorlieben ein »Ansinnen auf Allgemeinheit« verbunden ist, 13 | Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben [1958, dt. 1967], München: Piper 2002, S. 155, 157. 14 | Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten, in: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 223-247, hier S. 224, 230. 15 | Eco, Umberto: »Die Struktur des schlechten Geschmacks«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Italienischen von Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1984, S. 59-115, hier S. 95.
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impliziert für Swann immer auch gedankliche Freiheit. Wie wäre es also, fragt Swann, wenn die Zeitungen es einfach ganz anders machten: »[›]Wenn wir also nicht anders können, als jeden Morgen fieberhaft das Streif band von der Zeitung reißen, sollte man die Dinge umkehren und, ich weiß nicht was, in die Zeitung setzen, die … Gedanken von Pascal!‹ (Er isolierte dieses Wort in einem Ton ironischer Emphase, um nicht schulmeisterlich zu klingen)« (40). »Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein«, heißt das zum einen, mit einem Spruch Lessings gesagt. Zum anderen, und wichtiger, deutet sich hier aber auch eine Umkehrung der Verhältnisse im Ästhetischen an. Zunächst einmal lässt sich ästhetische Emphase offenbar nurmehr in einem Ton leichter Vorbehaltlichkeit äußern, möchte man nicht als verknöcherter Schulmeister, das schlichte Gegenteil ästhetischer Sensibilität, dastehen. Wenn nun Swann die Umkehrung der Verhältnisse fortführt, dann ist das nur zum Teil ein Scherz über die Banalität der Massenkultur. Ebenso aufs Korn genommen wird die Saturiertheit und Leblosigkeit des Kanons: »›Und in dem Goldschnitt, den wir nur einmal alle zehn Jahre aufschlagen‹, setzte er hinzu und zeigte damit die Verachtung für mondänes Treiben, die gewissen Männern von Welt eigen ist, ›würden wir dann lesen, daß die Königin von Griechenland nach Cannes gereist ist oder die Prinzessin von Léon einen Kostümball gegeben hat‹« (40). Auch wenn das – für Proust typisch – nicht zu einer längeren akademischen Debatte à la Settembrini-Naphta ausgeweitet wird, Swann vielmehr »sofort bedauert[]«, dass er »sich hatte hinreißen lassen, wenn auch leichthin« von solch »hehren Dingen« zu sprechen« (40), so schimmert doch auch hier jene Frage durch, die das weitere 20. Jahrhundert beschäftigen wird: »wieso eigentlich nicht«? Wieso nicht Pascal in den Massenmedien und Klatsch und Tratsch in Goldschnitt? Es gilt freilich, mit Richard Hamilton gesagt, erst einmal jenseits aller Distinktionsspielchen, jenseits von Goldschnitt und Schweinsleder, eine Sensibilität oder überhaupt nur Wahrnehmungsbereitschaft für die visuelle Bereicherung zu entwickeln, die sich durch die Ästhetisierung der Lebenswelt in einer Überflusskultur ergibt.16 Präsent ist die Massenkultur – zeitgleich mit Proust – auch im Dadaismus, etwa in Form von Werbung, und auch hier vor allem, um sich darüber lustig zu machen (wie freilich über alles andere auch). Erzählerisch weiter ausbuchstabiert werden jene Ansätze in der Neuen Sachlichkeit. Die Marketenderin aus Schillers Wallenstein wird etwa in der Wahrnehmung von Irmgard Keuns Kunstseidenem Mädchen auf die »Marke« zurückgeführt, weil sie »doch«, unverhohlen sexuell gemeint, »so ein Odeur« hat.17 Der Name eines Verehrers erfährt indessen eine Deemphatisierung, »weil er in der Illustrierten mal 16 | Vgl. Hamilton, Richard: »Man, Machine and Motion« [1956], in: Collected Words. 1953-1982, London: Thames & Hudson 1982, S. 19-35, bes. S. 31. 17 | Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen [1932], München: 2003, S. 15.
Einleitung: Konsumästhetik
als Reklame für ein Abführmittel gebraucht wurde«. »Armin, hast Du heute morgen auch Laxin genommen«, müsse sie fortan immer denken, wenn dieser Mann vom Tisch aufstehe.18 Vor allem der neusachliche Film führt die Betrachter nahe an solche Nuancen alltäglicher Existenz heran, an die durchaus immer wieder auch konsumästhetischen »Zellen des Lebensgewebes«, so Béla Balászs realistisches Credo.19 Menschen am Sonntag, so zeigt es der Film von Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder aus dem Jahr 1930, bewegen sich insbesondere in ihrer kostbaren Freizeit durch eine Welt voller Konsumimaginationen und -rituale: von Ata- oder Persilwerbung in mythischer Riesengröße, an jedem Büdchen feilgebotenen Bols-Likören und Engelhardt-Bieren für das Feintuning des Wochenendrauschs bis zum neuesten Hit des Musikkonzerns Electrola: »I lift up my finger and say tweet, tweet (shush shush, now now, come come)«. Erst im Zuge von Pop, in der englischen Independent Group und dann in der amerikanischen Pop Art, wird dieser Sphäre nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die volle Aufmerksamkeit zuteil. Deren Modus ist nun, wie in der Neuen Sachlichkeit, nicht mehr bloß unumwunden kritisch, sondern ein komplexes gemischtes Gefühl: Selbstverständlich registrieren seminale Werke wie Eduardo Paolozzis I Was A Rich Man’s Plaything (1947) oder Richard Hamiltons Just What Is It That Makes Today’s Homes So Different, So Appealing? (1956) die groteske Hyperbolik und den Verführungswillen der amerikanischen Marken- und Massenprodukte, die sie verarbeiten. »Ordinary cleaners only reach this far« spottet ein Hinweis auf Hamiltons Collage über das phallische Schlauchlängengeprotze eines Hoover-Staubsaugers. Zugleich sind sie jedoch auch genuin fasziniert von der reichen, glitzernden Sphäre des Konsums und der Images, die sich hier auftut, und versuchen, sich deren Energie positiv anzueignen bzw. ihre Ästhetik erst einmal mit der nötigen Genauigkeit zu erfassen. »What is needed is not a definition of meaningful imagery but the development of our perceptive potentialities to accept and utilize the continual enrichment of visual material«,20 schreibt Hamilton im Begleittext zur Ausstellung der Independent Group This is Tomorrow, auf der seine Collage zum ersten Mal zu sehen war. Gerade aus deutscher Sicht verheißt eine solche Dynamik »englischsprachige Internationalität« sowie die Verstärkung von »Zweifel[n] an der protestantischen Arbeitsethik und den mit ihr verbundenen Disziplinarregimes«21 18 | Ebd., S. 35. 19 | Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films [1924], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 49. 20 | Hamilton, Richard: »Man, Machine and Motion« [1956], in: Collected Words. 19531982, London: 1982, S. 19-35, hier S. 31. 21 | Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 273.
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die Umdefinition des ewig Schnarrenden und militärisch Zackigen in jene »Blessings« der Lässigkeit, wie sie eine Kultur der Demokratie bereithält. So zu sehen in Billy Wilders filmischer Rückkehr nach Berlin One, Two, Three: »Mach mal Pause, trink Coca-Cola«, prangt mitten im geteilten Berlin der entscheidende Systemvorteil des Kapitalismus, wobei Wilder natürlich klug genug ist, jenen von James Cagney verkörperten Coke-Salesmanager temperamentsmäßig durchaus komplementär zum Hackengeknall seiner deutschen Ex-Nazi-Untergebenen anzulegen. »Yes, mein Führer«, ist die Standardreplik seiner Ehefrau auf das Trommelfeuer seiner Befehle und Anweisungen. Versucht man, all diese Tendenzen kategorial zu einer regelrechten Konsumästhetik zu systematisieren, steht freilich die Frage im Raum, ob man sich damit nicht eines naturalistischen Fehlschlusses schuldig macht, der vom kapitalistischen Sein aufs ästhetische Sollen schließt. Eine kaum beachtete, dennoch wegweisende Antwort darauf stammt vom Sprachphilosophen John L. Austin, dem Vater der Sprechakttheorie. Die reale gesprochene Sprache, so seine Überzeugung, »embodies all the distinctions men have found worth drawing, and the connexions they have found worth marking«.22 Entsprechend fordert Austin in Bezug auf die Ästhetik, einmal deren eingefahrene Wege zu verlassen, und sich um den Bereich kontaminierter Ästhetiken zu kümmern: »If only we could forget for a while about the beautiful and get down instead to the dainty and the dumpy«23 – also hinunter zum Zierlich-/Niedlich-/Anmutigen und zum Plumpen. Die Rede ist hier von ästhetischen Differenzierungen und Kategorien, die sowohl die herkömmliche akademische Systematik als auch jede intellektuelle Lehnstuhl-Bequemlichkeit vor Herausforderungen stellen. Die hyperkommodifizierte Welt der Überflussgesellschaften gibt für einen solchen Zugriff ubiquitären Anlass. So skizziert Daniel Harris als Agenda ästhetischer Theorie »to recover the repressed aesthetic data of our lives; to make this vast archive of subliminal images accessible to conscious analysis«.24 Der Blick für ästhetische Formentscheidungen, so seine These, sei nicht nur anhand der üblichen Kunstgegenstände oder an gewohnten Orten wie dem Museum zu kultivieren, sondern auch angesichts von »ketchup bottles, subway passes, digital alarm clocks, placemats, heating pads, and thermoses«.25 Die Kapitel von Harris’ Buch lauten denn auch: Cuteness, Quaintness, Coolness, The Romantic, Zaniness, The Futuristic, Deliciousness, The Natural, Glamorousness und Cleanness – womit er auf jenes ästhetische Kategoriensystem rekurriert, das Richard Hamilton in 22 | Austin, John L.: »A Plea for Excuses: The Presidential Address«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series, Vol. 57 (1956 – 1957), S. 1-30, hier S. 8. 23 | Ebd., S. 9. 24 | Harris, Daniel: Cute, Quaint, Hungry and Romantic. The Aesthetics of Consumerism, Boston: Da Capo Press 2001, S. 11. 25 | Ebd.
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einer Briefnotiz aus dem Jahr 1957 für die Ausrufung der Pop Art entwirft. Pop sei »Popular (designed for a mass audience)/Transient (short-term solution)/Expendable (easily forgotten)/Low cost/Mass produced/Young (aimed at youth)/ Witty, Sexy, Gimmicky, Glamorous, Big business«.26 An diesen Komplex knüpft auch die vielbeachtete Monographie der amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sianne Ngai an, die ebenso wie wir offensiv vom Aufstieg einer »consumer aesthetics« spricht.27 Die Urteilskategorien, die sie hervorhebt – zany, interesting und cute (überdreht, interessant und niedlich) – entsprechen den konsumkulturellen Phasen von Produktion (zany), Vertrieb (interesting) und Konsum (cute) und erscheinen ihr besser geeignet, die Gegenwart zu erfassen, als die etablierten Kategorien des Schönen oder des Erhabenen, die nicht auf alltäglichen, sondern – wie sie schreibt – auf raren oder außergewöhnlichen Erfahrungen von Kunst oder Natur beruhen. Ngai stößt hier eine ganz neue Forschungsrichtung an, wobei man schnell sieht, dass die intelligente Konstruktion ihrer Arbeit die tatsächliche Vielfalt ästhetischer Begriffe, die im Umlauf sind, eher verdeckt als aufschließt. Im Deutschen etwa ist ›zany‹ nicht wirklich eine Kategorie, der Ausdruck hat bei uns auch keine direkte Entsprechung,28 ›interessant‹ dagegen ist seit der Romantik ein viel zu weiter Begriff29 – die Systemtheorie hat ihn sogar als Schlüsselkategorie für Kunst selbst vorgeschlagen –, als dass er gleichwertig neben ›niedlich‹ rangieren könnte. Der locus classicus für den ästhetischen double bind, der diese Kategorien insgesamt prägt – »It’s good because it’s awful« – ist bis heute Susan Sontags Essay Notes On ›Camp‹ (1964). Camp wird darin als Modus einer positiv-ästhetischen Aneignung massenkultureller Erzeugnisse gefasst, als Antwort auf die Frage, »how to be a dandy in the age of mass culture«.30 Und ebenso wie Sontag beobachtet auch Andy Warhol, dass dieser Modus, hat man ihn einmal erfasst, auf die gesamte ästhetische Sphäre ausgreift, also auch auf das, was vorher »the serious« (Sontag), die ernsthafte Hochkunst war: »Once you got Pop, you could never see a sign the same way again«.31 Dabei ist von Bedeutung, dass 26 | R. Hamilton: Collected Words 1953-1982, S. 28. 27 | Vgl. Ngai, Sianne: Our Aesthetic Categories: Zany, Cute, Interesting, Cambridge Mass.: Harvard Univ. Press 2012, S. 58. 28 | Selbst im Englischen erscheint er als allgemeine ästhetische Kategorie etwas eng, so ist ›zany‹ etwa kein geläufiges Urteil für Musik. 29 | Als ästhetische Kategorie geht es zurück auf Friedrich Schlegels Traktat »Über das Studium der griechischen Poesie«. 30 | Sontag, Susan: »Notes on ›Camp‹«, in: Dies.: Against interpretation, New York: Farrar, Straus & Giroux 1966, S. 275-292, hier S. 288. 31 | Warhol, Andy/Hackett, Pat: POPism. The Warhol ’60s. New York: Harper & Row 1980, S. 39.
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»sign« hier zunächst die große Werbetafel am Rand amerikanischer Highways meint, also den Träger des von der Ware gelösten Markenimages, und erst im zweiten Schritt allgemein ›Zeichen‹. Die Universalität des Modus, den er Pop nennt, fällt Warhol dann vor allem – wie schon Georg Simmel – auf der Weltausstellung in Montreal auf, einer global-kapitalistischen Warenmesse: »Every body was part of the same culture now. Pop references let people know that they were what was happening«.32 Wenn eine neue konsumästhetische Forschung also die konkreten ästhetischen Urteile, die Konsumenten von Kultur- und anderen Produkten tatsächlich treffen, zu ihrem Ausgangspunkt macht, dann stets innerhalb und unter Berücksichtigung dieses veränderten Modus, so schwer dieser auch zu greifen ist. Einige Begriffe aus Hamiltons Liste etwa scheinen sich ganz allgemein auf diesen neuen Modus zu beziehen, andere dagegen, wie witty, sexy, gimmicky und glamorous, können nur in konkreten Einzelurteilen bestimmt werden. Pop, wie er hier bestimmt wird, ist sicher immer ›populär‹, aber er ist, müsste man wohl spezifizieren, nicht im gleichen Sinne immer auch ›witzig‹ (im Sinne von geistreich, einfallsreich, schlagfertig) oder ›sexy‹, sondern er kann im Einzelfall mehr oder weniger witzig und sexy sein (so wie ein klassisches Kunstwerk mehr oder weniger schön ist). Witz und Sex, Gimmickhaftigkeit und Glamour, heißt das, sind adäquate Kategorien, unter denen sich über einen bestimmten Pop-Gegenstand urteilen lässt. Und umgekehrt ist ein Pop-Gegenstand definierbar als etwas, dem sich diese Kategorien als angemessen erweisen. Beethovens Streichquartette oder Adornos Kompositionen fallen erkennbar nicht darunter, ein Auftritt von Elvis oder ein Siebdruck von Lichtenstein schon. Und, so würden wir hinzufügen, die 1964er Werbung für Kellogg’s Rice Crispies mit der Musik der Rolling Stones (»Snap, Crackle, and Pop«) oder die Afri-Cola-Werbung von Charles Wilp 1968 (»Super-sexy-miniflower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola«) eben auch. Der Pop-Bereich ist beileibe nicht der einzige Bereich, der neue ästhetische Kategorien ausbildet bzw. fordert, aber im Pop geschieht das eben von Anfang an ausdrücklich und damit gut beobachtbar. Nehmen wir zum Beispiel den wundervollen Shangri-Las-Song Give Him A Great Big Kiss von 1965. Hier stellt ein Mädchen seinen Freundinnen ihren Freund vor Augen mit Versen wie »Big wavy hair, a little too long« oder Big bulky sweaters to match his eyes Dirty fingernails, oh boy what a prize Tight tapered pants, high button shoes He’s always looking like he’s got the blues
32 | Warhol: POPism, S. 221.
Einleitung: Konsumästhetik
Dieses Idealbild des männlichen Sex- oder doch Schwärmobjekts ist offenkundig nicht über dessen Wesen oder Verhalten, sondern primär über seinen Stil definiert, der sich ästhetischen Urteilen erschließt. Dabei kommt zum einen eine mustergültige Abweichungsästhetik zum Tragen (die Haare sind etwas zu lang, die Fingernägel schmutzig, »it’s good because it’s awful«), zum anderen ist aber auch ein Modus des Als-ob erkennbar, in dem die ganze Erscheinung steht und damit als Pose erkennbar bleibt (was der Sache aber nicht schadet). Der Junge hat nicht den Blues, sondern er sieht immer so aus ›als ob‹ – ein stilistisches Image. Auf den Punkt gebracht wird das dann in dem gesprochenen Dialog zwischen dem Mädchen-Chorus und der Solosängerin: »Yeah? I hear he’s bad.« – »Hmm, he’s good bad, but he’s not evil.« »Bad«, als Gebrauchswert betrachtet, wäre etwas, das den Wert eines Jungen erheblich schmälern würde. Das Entscheidende aber liegt in der hier vollzogenen Modifikation: Er ist nicht »bad« im ethischen Sinne von »evil«, sondern »good bad« im rein ästhetischen Sinne eines rebellischen Gestus (ebenso wie er nicht wirklich immer traurig im Sinne von ›depressiv‹ ist, sondern sozusagen ›gut traurig‹ im Sinne einer ästhetischen Aura). Eine entsprechende Studie könnte diese positiv besetzte ästhetische Kategorie »bad« von hier aus bis zu Michael Jackson und darüber hinaus in zeitgenössischen Filiationen wie ›fett‹, ›krass‹, oder ›krank‹ weiterverfolgen; letztere als Bestandteile einer jüngst ausführlicher debattierten Ästhetik des Drastischen.33
III. Ä sthe tik ? Ä sthe tik ! Aber handelt es sich dabei auch tatsächlich um ästhetische Kategorien? Auf jeden Fall! Sie sind es im allerstrengsten Sinne, und das ist immer noch der von Kant in der Kritik der Urteilskraft definierte. Gehen wir die Möglichkeiten durch: Wenn ein Mädchen einen Jungen deshalb bevorzugt, weil er »good bad« ist, was für ein Urteil begründet dann diese Wahl? Es handelt sich nicht um ein Erkenntnisurteil (im Sinne von wahr/falsch) und, wie bereits gezeigt, auch nicht um ein ethisches Urteil (gut/schlecht), auch wenn die Begriffe das zunächst suggerieren könnten, sondern ganz offensichtlich um ein Geschmacksurteil. Nun kommt einem allerdings, denkt man an ästhetische Urteile bei Kant, immer sogleich der Aspekt des ›interesselosen Wohlgefallens‹ in den Sinn, der in Pop- und Konsumangelegenheiten ganz fern zu liegen scheint. Selbstredend gibt es ein erhebliches Interesse des Mädchens an diesem Jungen. Auch dass die Werbeleute mit den von ihnen kreierten Markenimages unser Interesse wecken wollen, den Wunsch, die Ware zu besitzen, ist zweifel33 | Vgl. Giuriato, Davide/Schumacher, Eckhard (Hg.): Drastik. Ästhetik – Genealogie – Gegenwartskultur, Paderborn: Wilhelm Fink 2016.
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los richtig. Und doch handelt es sich hier um ästhetische Geschmacksurteile im engeren Sinne und nicht um Urteile über das Angenehme. Das bloß Angenehme, etwa im Urteil darüber, ob uns Coca-Cola schmeckt oder nicht, hat nach Kant im Gegensatz zum Ästhetischen keinen begrifflichen Anteil. Nicht nur lässt sich niemand mit Argumenten davon überzeugen, dass ihm etwas schmeckt (oder sonst angenehm ist), was ihm nicht schmeckt (nicht angenehm ist); es hat auch umgekehrt, wer Cola lecker findet, nicht wirklich das Bedürfnis, andere davon zu überzeugen (nun ja, Weinkenner wären möglicherweise ein Fall für sich). Man lässt, schreibt Kant, in solchen Geschmacksfragen »jegliche[n] seinen Kopf für sich haben«.34 Wenn die Freundin keine Cola mag, bleibt schon mehr für mich. Genau und ausschließlich diese Form des hedonistischen Interesses aber ist es, die Kant ästhetischen Urteilen abspricht, wenn er von einem interesselosen Wohlgefallen ausgeht. Woran wir aber – im Unterschied zum bloß Angenehmen – sehr wohl ein ausgesprochenes Interesse haben, ist daran, dass andere, besonders Menschen, die uns wichtig sind, unsere ästhetischen Urteile teilen. Dies hat bei Kant zunächst einmal transzendentale Gründe: »Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe«. Damit meint Kant, dass der Mensch angesichts des Ästhetischen die Erfahrung macht, dass »seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme«.35 In den Worten der Kritik der Urteilskraft: »Die Erkenntniskräfte« werden durch die »Vorstellung« des Schönen, durch Imagination, in ein »freie[s] Spiel]« gesetzt, »weil kein Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt« (§ 9). Es geht im Ästhetischen ebenso wenig um eine spezifische Erkenntnis wie um die Frage, was sittlich geboten ist. Im »freien Spiel der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung« genießt der Mensch vielmehr das Zusammenspiel seiner Erkenntniskräfte: Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand. Resultat ist eine die Grenzen der subjektiven Empfindung überschreitende »Erkenntnis überhaupt« (§ 9), wie Kant das nennt, und diese drängt dazu, anderen nicht nur mitgeteilt, sondern »jedermann« mit der Erwartung auf Beipflichtung ›angesonnen‹ (§ 8) zu werden. Ein solcher Vorgang geht zwar nicht im Begrifflichen auf, aber er hat doch stets einen nicht unerheblichen begrifflichen Anteil. Das heißt, wir beginnen zu argumentieren, wenn jemand unserem ästhetischen Urteil nicht zustimmt. Anders als beim Wahren und Guten ist es zwar nicht möglich, den Anderen durch unsere Argumente zu zwingen, unser Urteil zu teilen, weil es hier nicht um Fragen der Vernunft geht. 34 | Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 2009, § 8, S. 535. Folgend belegt im laufenden Text unter Angabe des Paragraphen. 35 | Kant, Immanuel: »Reflexion 1820a«, in: Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hg.), Kant’s Gesammelte Schriften, Bd. 16, Berlin: De Gruyter 1902-1956, S. 127.
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Doch Kants wunderbare Formulierung des ›Ansinnens‹ entspricht genau der komplexen Mechanik des ästhetischen Urteils: Das Geschmacksurteil selber postuliert nicht jedermanns Einstimmung (denn das kann nur ein logisch allgemeines, weil es Gründe anführen kann, tun); es sinnet nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen es Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet (§ 8).
Das ästhetische Urteil zielt also auf »anderer Beitritt«, auf eine freie (weil nicht erzwingbare) Stilgemeinschaft. Wenn das Mädchen im Shangri-Las-Song ihren Freundinnen die stilistische Pose ihres Jungen erläutert, dann genau in diesem Sinne. Ihren Freund will sie vermutlich nicht teilen, aber es kommt enorm darauf an, dass ihre Freundinnen das Urteil über ihn teilen, auch wenn sie ihn nicht im engeren Sinne haben oder besitzen können und/oder wollen. Dieses Urteil aber bezieht sich nicht auf seine intrinsischen Eigenschaften, sondern auf seinen Stil (»What color are his eyes?«/»I don’t know, he’s always wearing shades.«). Und dieser Stil ist Ausdruck, ein »Fall der Regel« einer jugend- und popkulturellen Gemeinschaft, die ihn über Filme, Pop-Musik, Band-Images, TV und Zeitschriftenwerbung entwickelt und pflegt. Man muss also präzisieren: Dass etwas schön (oder cute) ist, entscheidet das ästhetische Urteil in einem Akt, der sich heute wie damals durch eine definierte Form von Interesselosigkeit auszeichnet. An der Existenz dieses Schönen (oder Niedlichen) selbst nehmen wir dann aber sehr wohl erhebliches Interesse. Kant unterscheidet in den Paragraphen 41 und 42 der Kritik der Urteilskraft zwei Formen dieses Interesses. »Empirisch«, sagt er, »interessiert das Schöne nur in der Gesellschaft«, nämlich genau in seiner oben beschriebenen Form der freien Bildung von Stilgemeinschaften; wobei hier die Spannbreite nicht unbeträchtlich ist zwischen einem freien Umgang miteinander, der »auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt« (§ 41), und dem Ausgeliefertsein an selbsternannte »Virtuosen des Geschmacks«, die mit ihrer Eitelkeit bewirken, dass man das »Zimmer«, in dem sie ihre Reden schwingen, nur zu »gern verläßt« (§ 42). »Intellektuell« aber hat die schöne Seele ein intrinsisches Interesse an der Existenz des Schönen als an etwas, das ihr ohne Gründe gefällt und doch das Individuelle (Interesse, Angenehmes) übersteigt. Kant hat hier vor allem das Naturschöne im Sinn. »Ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur [zu] nehmen (nicht bloß Geschmack haben, um sie zu beurteilen)« ist für Kant »jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele«. Intellektuell nennt Kant dieses unmittelbare Interesse, weil das Produkt der Natur »nicht allein der Form nach«, sondern in seinem puren »Dasein« gefällt (§ 42). Heute würde man analog dazu vielleicht von ästhetischen Phänomenen sprechen, die systemisch – entscheidend ist: eben nicht als Ausdruck einer ein-
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zelnen Individualität – hervorgebracht werden. Es käme auf den Versuch an, das kultur- und konsumindustrielle Dispositiv des Marktes und der Medien, von Angebot und Nachfrage (und anderen Formen der Rückkopplung wie Einschaltquoten und ›Likes‹), als einen solchen systemischen Zusammenhang zu begreifen. Ein solcher stünde dann heute an jener Stelle, an der im späten 18. Jahrhundert die Natur stand, und die Frage ist, ob er wie einst diese in der Lage ist, Dinge hervorzubringen, an deren Existenz wir ein ästhetisch-intellektuelles Interesse haben. Unsere neue Konsumästhetik sagt: ja! Sobald wir nämlich ein Urteil in der oben beschriebenen Weise a) begrifflich zu stützen beginnen und b) anderen gemeinschaftsbildend ansinnen, befinden wir uns mit Kant im Bereich des Ästhetischen, und die Tatsache, dass das immer häufiger auch auf Gebieten der Fall ist, die zu Kants Zeiten noch eindeutig dem Angenehmen zugeschlagen wurden, bestätigt ja nur unser konsumästhetisches Hauptargument. Denn in den meisten Fällen geht es eben nicht mehr primär darum, ob uns Coca-Cola sozusagen kontext- und paradigmenfrei einfach schmeckt oder nicht (wie, sagen wir, Spargel oder Koriander), sondern wie wir zu der Marke Coca-Cola stehen, die über dieselben Kanäle wie das Pop-Image auf uns kommt, aufgeladen mit einer ganzen Image-Welt. Dadurch geschieht eine ähnliche Verschiebung, wie sie Hannah Arendt in ihren Vorlesungen zu Kants Kritik der Urteilskraft in Bezug auf die Kategorie des Geschmacks bemerkt. Der konkrete Geschmackssinn, also das, was ich auf meiner Zunge schmecke, ist ebenso wie der Geruchssinn eher flüchtiger und privater Natur und mithin deutlich schwerer mitteilbar als das, was Gesichtsund Tastsinn sowie das Gehör liefern, da diese stärker auf die Konstitution eines Wahrnehmungsobjekts zielen. »Geistig […] aufgewertet« werden die sinnlichen Empfindungen indes durch die »Einbildungskraft«, die Imagination. Durch deren Wirken reflektiert das ästhetische Urteil »nicht über einen Gegenstand, sondern über seine Repräsentation«, seine »Empfindung«, in die sich stets auch ein intellektuelles Moment mischt.36 – Heutzutage würde man dies wohl auch kultursemiotisch beschreiben: Meine Geschmacksurteile werden stets schon durchdrungen von den paradigmatischen Zuschreibungen einer Kultur. Ein rein sinnlich verstandener Geschmack (im Kant’schen Sinne des Angenehmen) ist also längst nicht mehr der Hauptgrund, um Coca-Cola vorzuziehen und nicht Pepsi oder Afri-Cola. Vielmehr entscheiden wir uns, wenn wir eine Marke wählen, immer zugleich für eine Stilgemeinschaft und also ästhetisch: »wenn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwegig, daß wir auch ansonsten einiges gemeinsam haben«, bemerkt etwa Benjamin von Stuckrad-Barre, »und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab. Denn für den Lebensstil des Golffahrers möchte ich 36 | Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz, München/Zürich: Piper 1985, S. 87.
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mich mit der Musik nicht entscheiden müssen, also für Kenwood-Aufkleber und Mobiltelefone am Gürtel. Das lehnt man ja ab. Kategorisch. Schwierig.«37 Der begriffliche Anteil des ästhetischen Urteils ist dann seine Relativierung im Feld der paradigmatischen Möglichkeiten, die unsere Kultur bereitstellt. Gerade die sogenannten Cola-Kriege geben dafür ein eindrückliches Beispiel. In den 1970er Jahren fordert Pepsi die am Markt dominierende Konkurrenzmarke Coca-Cola in der ›Pepsi Challenge‹ heraus: »Machen Sie den Pepsi-Test!«. Und tatsächlich schneidet Pepsi im Blindtest besser ab, was sich in der Folge werbetechnisch hervorragend ausbeuten ließ. Coca-Cola reagierte auf den fortschreitenden Image- (und Marktanteil-)Verlust mit einem Riesen-Fauxpas: Am seither ›Black Tuesday‹ genannten 23. April 1985 verkündete die Firma, ihr Getränk künftig nach einer neuen Formel herzustellen, einer Formel, die wohlgemerkt vorher jahrelang getestet worden war, um sicherzustellen, dass sie den Kunden tatsächlich besser schmeckte als die alte. Sofort brach ein Sturm der Entrüstung los, die Amerikaner wollten ihre OriginalCola wiederhaben, fühlten sich ihrer Kindheit, ja ihrer Kultur und Identität beraubt. Reumütig kehrte Coca-Cola zur alten Formel zurück – und der grandiose Fehler verkehrte sich in den größten Erfolg: Binnen eines Jahres eroberte Coke Classic den alten Marktvorsprung vor Pepsi zurück. »Das war der ultimative Triumph des Images über die Realität«, resümiert Michael Blanding. »Die Konsumenten lehnten die beiden Soft Drinks ab, die ihnen im Blindtest tatsächlich besser schmeckten, zugunsten des einen, dessen Markenimage ihnen ein besseres Gefühl machte.«38 Dieses Gefühl, könnte man ergänzen, war ein Gemeinschaftsgefühl, und der »Triumph des Images über die Realität« kann somit auch als ein Triumph des Fiktions- über den Gebrauchswert oder eben des Ästhetischen über das bloß Angenehme verstanden werden. Wenn Marketing heute weniger auf die Vermittlung von Produktinformationen als auf die Bildung von Stilgemeinschaften zielt, die die Marke als gemeinsame Ikone hochhalten und ihr die Treue wahren, dann will die Marke sozusagen Pop sein, will ihre eigenen »Stilgemeinschaften normalisierten Spektakels«39 ausbilden und stabilisieren. Nichts könnte also falscher sein als die Behauptung der Ökonomen Stigler und Becker, »kein signifikantes Verhalten« habe »bisher durch Annahmen über Geschmacksunterschiede erklärt werden 37 | Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre, Berlin: List 1999, S. 27. 38 | Blanding, Michael: The Coke Machine. The Dirty Truth Behind the World’s Favorite Soft Drink, New York: Avery 2010, S. 62. 39 | Venus, Jochen: Die Erfahrung des Populären. Perspektiven einer kritischen Phänomenologie. In: M.S. Kleiner, T. Wilke (Hg.): Performativität und Medialität populärer Kulturen. Wiesbaden 2013, S. 49-73, hier S. 67.
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können.«40 Ästhetische Urteile mögen sich dem ökonomischen Wissen entziehen, doch konstituieren sie seit vielen Jahrzehnten maßgeblich jene Stilgemeinschaften westlich geprägter Überflussgesellschaften, die letztlich für die Nachfrage unserer Konsum- und Kulturgüter entscheidend sind. Vor diesem Hintergrund fragt der Siegener Literaturwissenschaftler Thomas Hecken, weshalb die Vorstellung der ästhetischen Autonomie so erfolgreich ist und was möglicherweise gegen sie spricht. Einwände findet er bei so unterschiedlichen Autoren wie Georg Simmel, Walter Benjamin, Jan Mukařovský oder George Dickie. Hecken legt dar, dass die Verflechtung eines Gegenstands mit der Konsumsphäre kein K.O.-Kriterium fürs Ästhetische ist. Denn interesseloses Wohlgefallen sei durchaus anhand von konsumierbaren Gegenständen möglich, Kontemplation sei nicht der einzige Garant ästhetischen Erlebens. Schließlich und sehr naheliegend: Die Museen sind voller Artefakte, die das Reinheitsgebot der Autonomie verletzen und auf die unterschiedlichste Weise einen Passierschein in die Welt des Konsumierbaren lösen. Die ästhetische Theorie braucht, so Heckens Schluss, Kategorien für die Auseinandersetzung mit solchen Gegenständen, denn per Dekret lassen sie sich kaum aus der Kunstdomäne aussperren. Der Philosoph Josef Früchtl zeigt am Beispiel von Studenten- und Dozentenprotesten an der Universität Amsterdam, wie die konsumfreundliche Popkultur dazu in der Lage ist, Emotionen wie Pathos, Ärger oder Zorn, die bei politischem Handeln oft mit im Spiel sind, auszubalancieren und in Nützliches und Originelles zu transformieren. Die ästhetische Kultur der Moderne, argumentiert Früchtl mit Bezug auf Charles Taylor, erscheint auch aus einem weiteren Grund als demokratisch: Sie integriert eine kompetitive und antifundamentalistische, zudem hedonistisch aufgeladene Pluralität von Institutionen und Rationalitätsformen, zu denen entscheidend auch die konsumierbare, was wohlgemerkt nicht notwendig heißt: konsumistische Popkultur gehört. Der Kulturwissenschaftler Dirk Hohnsträter nimmt die Idee einer vom Konsumismus zu unterscheidenden Konsumkultur auf. Hat die habituell gewordene Konsumkritik (etwa Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik) im Grunde gar kein Interesse an Ästhetik, so plädiert Hohnsträter für die differenzierende Betrachtung des Konsums als eines ästhetisch relevanten Feldes. Allerdings hält Hohnsträter den Begriff der ›Konsumkultur‹ für theoretisch unterentwickelt. Abhilfe schafft ein ebenso systemtheoretisch wie an Jean Baudrillard orientiertes Konzept des Konsums, bei dem Begriffe wie ›Unterscheidung‹ und ›Form‹ hervorragen. In Bezug auf die Geltung des Konsums unterscheidet der Beitrag ferner einen Gebrauchs-, einen Zeichen- und einen Ereigniswert. Entscheidend ist, dass wir Konsum vorwiegend dann ästhetisch 40 | Becker, Gary: Accounting for Tastes, Cambridge/Mass.: Harvard Univ. Press 1996, S. 49.
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affirmieren können, wenn er in der Lage ist, grundsätzliche Einwände gegen ihn und seine Pathologien aufzugreifen bzw. in seine Objekte zu integrieren. Konsumobjekte, argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun, stellen eine Art kulturelles Go-Between dar. In einer Welt, deren Objektzirkulation vom immateriellen Medium Geld gesteuert wird, fungieren Waren als eine Art materielle Ein- oder Verkleidung (investment). Aber ist es auch möglich, dieses Verhältnis umzudrehen und Konsumobjekte wieder substantiell in die Welt des sinnlichen Lebens zurückzuholen – so wie es einst in Kulturen der Gabe funktioniert hat? Dazu müsste der ökonomische Tausch nicht mehr nur monetären Gewinn zum Ziel haben, sondern auch die Vernetzung der Gesellschaft befördern. Darin sieht von Braun die Möglichkeit einer Politik des Konsumobjekts. Dies greift der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich auf, wenn er über die Aufladung von Konsumobjekten mit Werten nachdenkt, die massiv zugenommen hat. Wertfragen werden heute, spitzt er zu, mehr noch als in Parlamenten vor Supermarktregalen verhandelt. Ein Familieneinkauf erhält mitunter den Charakter einer gesellschaftspolitischen Debatte (und umgekehrt). Wenn Werte schön und griffig in Konsumobjekte verpackt werden, vergisst man manchmal, dass der Einsatz für sie mehr erfordert als das reine Bekenntnis, ja mitunter auch bedeuten kann, auf etwas zu verzichten. In der Konsumkultur führt die Aufladung von Waren mit Werten aber nicht selten dazu, dass die Ware noch begehrter wird und sich ein höherer Preis für sie verlangen lässt. Ullrich vergleicht diese Aufladung des Konsumobjekts mit einem abstrakten Wert mit der Allegorie; wie über diese besonders im 18. Jahrhundert ästhetisch gestritten wurde, so sollte, fordert er, heute über Werte und Produkte nachgedacht werden. Um Gemeinschaftsbildung via Konsumästhetik geht es auch in dem Beitrag der Kunst- und Medienwissenschaftlerinnen Katja Gunkel und Birgit Richard. Am Beispiel des Mayday-Raves präsentieren die Autorinnen nicht nur eine Bestandsaufnahme von dessen ästhetischen Spezifika, sondern schlagen methodisch die Ausweitung der Szene-Feldforschung auf zugehörige Internetbilder vor. Die methodische Verknüpfung von Offline und Online ist angesichts der exponentiell gewachsenen Bedeutung nicht zuletzt von Social Media für den Konsum von großer Dringlichkeit. Die Konsumästhetik kann so analytisch als spezifischer Produktions- und Distributionsapparat scharf gestellt werden. Die Schnittstelle von Realem und Virtuellem in der Konsumsphäre ist auch das Thema des Textes der Kunstwissenschaftlerin Antonia Wagner. Hatte der Kulturanthropologe Grant McCracken das Aufgehen der materiellen Konsumwelt im Digital-Virtuellen prophezeit, hält Wagner in der Analyse der Videoinstallation Final Days der Künstlerin Heather Phillipson, einem CyberDepartment-Store, das von Stacey Alaimo angeregte Konzept einer Trans-Korporealität entgegen: die physische Verbindung von menschlichen Körpern mit ihrer materiellen und virtuellen Umwelt.
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Welchen memorialen Wert Fiktionalisierungen der Ware für die Historikerin darstellen, zeigt der Beitrag von Monika Rüthers. Sie zeigt, dass die Sowjetunion nicht etwa über keinerlei, sondern über eine dezidierte Warenästhetik verfügte, mittels welcher der Staat mit den Individuen kommunizierte. Eiskrem etwa wird zu einem, wie Rüthers schreibt, »Botenstoff sowjetischen Glücks«. Der Einmarsch westlicher Waren wird dementgegen als Kolonisierung begriffen und nach dem Schokoriegel »Snickerisierung« (Snikerizacija) benannt. Gegen das von solchen westlichen Süßigkeiten ausgehende Trostversprechen wird im postsowjetischen Russland noch einmal die Eiskrem in Stellung gebracht: ein kalter Krieg im Kühlregal. Der Ethnologe Hans P. Hahn bringt in seinem Aufsatz zwei grundlegende Theoriestränge der material culture zusammen: einerseits die auf Bourdieu und Mary Douglas zurückgeführte Position, Dinge, ihren Besitz und ihren Gebrauch, als Träger von Bedeutungen zu begreifen. Andererseits knüpft Hahn an Friedrich Theodor Vischers bekanntes Verdikt von der »Tücke des Objekts« an. In Bezug auf die Dingkultur, argumentiert er, betreten wir stets unsicheren epistemischen Grund. Zu klären ist daher nicht nur, wie die Dinge der Konsumkultur Bedeutung generieren, sondern auch inwiefern und unter welchen Umständen sie ihre Funktion als Zeichenträger nicht erfüllen. Ganz konkret wird das im Aufsatz der Literaturwissenschaftlerin Melanie Horn weitergedacht. In kulturpoetischen Lektüren zeigt sie, mit welchen ästhetischen Mitteln Werbespots Popmusiker als Aufsehen erregende Originale inszenieren und gleichzeitig mit Markenprodukten engführen, auf die gewissermaßen der Originalitätsstatus (in zugespitztem Sinn romantischer Ästhetik) abfärben soll. Ästhetisierung, so ihre These, erfolgt in Konsumgesellschaften anhand von Prozessen der Wahl. Wenn das kuratorische Geschick der Zeichenverwender in der Konsumkultur darin besteht, Mengen von bedeutungstragenden Objekten anhand ihrer paradigmatischen Ähnlichkeitsbeziehungen zu arrangieren und daraus (syntagmatische) Narrative zu bilden, dann lässt sich diese Technik in kulturwissenschaftlicher Fortführung von Roman Jakobson als poetisches Verfahren lesen. Eine regelrechte »Liebes-Konsum-Ästhetik« arbeitet die Literaturwissenschaftlerin Annemarie Opp in ihrer Analyse von F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby heraus. Theoretisch geht sie von Wolfgang Ullrichs Konzept des Fiktionswerts aus. Dieser sei dadurch geprägt, dass die von ihm in Aussicht gestellten Gebrauchswertversprechen nie vollständig einlösbar sein müssen, um trotzdem zu funktionieren. Voraussetzung dafür ist die Kulturtechnik eines Day-Dreaming, das Opp mit dem Soziologen Colin Campbell ideengeschichtlich auf die Romantik zurückführt. Auf dieser Basis zeigt sie, wie auch die Erzählform des Romans davon geprägt wird. Im letzten Beitrag zeigt der Medienwissenschaftler Rembert Hüser, wie im Zeitalter globaler Mediennetzwerke auch im Bereich internationaler Politik
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und Öffentlichkeit ein produktiver Bilder-Konsum Raum greift. Als Beispiel dienen ihm dazu die russische Medienstrategie bei der Besetzung der Krim im Jahre 2014 und insbesondere die Figur der Natalja Poklonskaja, deren ebenso unkontrollierbare wie produktive Wucherung als Manga-Figur in den sozialen Medien zu einem konsum- und medienästhetischen Lehrstück wird. Die Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die wir im Sommer 2015 im Rahmen eines von der VolkswagenStiftung geförderten Projekts »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen« ausgerichtet haben. Der VolkswagenStiftung danken wir für die großzügige finanzielle Unterstützung, Frau Dr. Vera Szöllösi-Brenig für ihren stets hilfreichen Rat. Bei der Einrichtung der Texte haben uns Ines Gries, Maren Feller und Philipp Ohnesorge zur Seite gestanden. Auch Ihnen sei herzlich gedankt.
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Die Stellung der Ästhetiken zum Konsum Thomas Hecken
Fraglos fällt das Thema dieses Aufsatzes sehr weit aus. Es gibt aber verschiedene Einschränkungen, die mit den Begriffen ›Ästhetik‹ und ›Konsum‹ verbunden sind. Sie machen es vielleicht möglich, das große Thema übersichtlich und sinnvoll anzugehen. Die erste Eingrenzung ergibt sich aus dem fachwissenschaftlichen Begriffsgebrauch von ›Konsum‹. Hält man sich an die wirtschaftswissenschaftliche Terminologie, fällt der Befund einfach aus: In Handbüchern wie Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft1 ist in den zahlreichen Kapitelüberschriften von ›Konsum‹ und ›Konsumenten‹ nichts zu lesen. Untergebracht werden sie vor allem im Großkapitel »Nachfrage der Haushalte«, womit »private Haushalte« gemeint sind; es folgt der obligatorische, aber für den Begriffsgebrauch von ›Konsum‹ innerhalb solcher Bücher weitgehend folgenlose Hinweis, »dass auch der Unternehmer Güter und Dienstleistungen nachfragt, die er im Produktionsprozess einsetzen will, und der Staat Güter zur Befriedigung von Kollektivbedürfnissen erwirbt.«2 Anschließend ist nur noch von Preisen und Einkommen die Rede. Recht besehen, bezeichnen diese Bücher ›Konsum‹ demnach als ›Einkäufe der Haushalte‹. Die Metapher ›Nachfrage‹ meint bei ihnen nicht jedes Wollen oder Begehren, jeden Kaufwunsch und jede Anfrage, ob es ein bestimmtes Gut gibt. Dass eine Nachfrage auf kein Angebot stößt, ist in diesem Sprachgebrauch nicht mehr vorgesehen bzw. wird von diesem nicht mehr beinhaltet. Deshalb können die Autoren des renommierten Handbuchs, das schon die 19. Auflage erreicht hat, etwa zur »Preiselastizität« unbefangen schreiben: »Sagt man z.B., die Nachfrage nach Zigaretten der Marke Z habe eine direkte Preiselastizität von -5, so bedeutet dies, dass bei einer Preiserhöhung von 1 Prozent die nachge-
1 | Baßeler, Ulrich/Heinrich, Jürgen/Utecht, Burkhard: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2010. 2 | Ebd., S. 89.
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fragte Menge sich um 5 Prozent verringern wird.«3 Man sieht eindeutig: ›Nachfragen‹ bedeutet bei ihnen schlicht und präzise ›kaufen‹. In einem Standardwerk zum »Marketing«, das sich in der 12. Auflage befindet, stellt sich die Lage kaum anders dar. Unter der Kapitelüberschrift »Erklärungsansätze des Käuferverhaltens« wird »Konsument« synonym mit »Käufer« gesetzt. Bei den weiteren Bestimmungen, die zwischen »Grundtypen von Kaufentscheidungen« differenzieren, wird zwischen »Haushalt« und »Unternehmen bzw. Institution« unterschieden. Im letzteren Bereich wiederum zwischen »Kaufentscheidungen des Repräsentanten« und denen des »Einkaufsgremiums (Buying Center)« sowie im ersteren Bereich »Haushalt« zwischen »Kaufentscheidungen von Familien« und denen des »Konsumenten«. Man sieht auch hier: ›Konsumieren‹ meint ›Kaufen‹, und ›Konsument‹ zielt auf den »individuellen« Käufer.4 Hält man sich nur an diese Bestimmung, reduziert sich das Thema augenblicklich auf die Frage, ob Warenkauf und Ästhetik in irgendeiner Beziehung stehen. Das kann man verneinen, wenn man der Ansicht ist, dass es keinen Unterschied macht, ob die Objekte ästhetischer Wahrnehmung gekauft oder nicht gekauft wurden: Die Blume oder das Buch verändern sich der Form und dem Stoff nach nicht im Moment des Kaufakts. Wenn es nur diese Auffassung gäbe, könnte man die Analyse bereits beenden, kaum dass sie begonnen hat. Es bliebe bei der Feststellung der Beziehungslosigkeit von Ästhetik und Konsum bzw. Kaufakt.
Tauschwert und ästhe tischer W ert Tatsächlich vertreten jedoch einige die Ansicht, es bestehe ein für die Ästhetik bedeutsamer Unterschied, ob Gegenstände in den Prozess des Konsums einbezogen werden oder nicht. Das trifft besonders für Gegenstände zu, die von vornherein für den Konsum in einer mit dem Medium Geld operierenden Tauschgesellschaft produziert werden – und das gilt dann auch für jenen Bereich der Kunst, deren Produzenten von dem leben, was sie auf dem Markt verkaufen können. Die Autonomie-Ästhetik, die Literatur des l’art pour l’art, verabschiedet etwa Lenin mit den klaren Worten: »Man kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein. Die Freiheit des bürgerlichen Schriftstellers, des Künstlers und der Schauspielerin, ist nur die […] maskierte Abhängigkeit 3 | Ebd., S. 97. 4 | Meffert, Heribert/Burmann, Christoph/Kirchgeorg, Manfred: Marketing. Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung, 12. Aufl., Wiesbaden: Gabler 2014, S. 96ff.
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vom Geldsack«. Lenin wendet sich direkt an die »bürgerlichen Individualisten«, ihnen schreibt er ins Stammbuch, dass die »Reden über absolute Freiheit eine einzige Heuchelei« seien: »In einer Gesellschaft, die sich auf die Macht des Geldes gründet, in einer Gesellschaft, in der die Massen der Werktätigen ein Bettlerdasein und das Häuflein Reicher ein Schmarotzerleben führen, kann es keine reale und wirkliche ›Freiheit‹ geben.« Nimmt man den Zusammenhang ernst, wäre also denkbar, dass in einer Gesellschaft erfüllter Konsumwünsche (in der Arbeiter kein dürftiges Dasein mehr fristeten) auch künstlerische Freiheit gegeben wäre. Lenin macht diese zukünftige Rechnung aber nicht auf, ihm reicht es, in der Gegenwart bestimmte Unfreiheiten anzuprangern; die Unfreiheit besteht in seinem Beispiel darin, dass der Künstler gezwungen wird, ganz bestimmte Kunstwerke, die häufig gekauft werden (oder von denen Unternehmer zumindest denken, dass sie profitabel verkauft werden können), anzufertigen, wenn er etwas veröffentlichen und auf dem Markt bestehen möchte: »Herr Schriftsteller«, fragt Lenin rhetorisch, »sind Sie frei von Ihrem bürgerlichen Verleger? von Ihrem bürgerlichen Publikum, das von Ihnen Pornographie […] und Prostitution als ›Ergänzung‹ zur ›heiligen‹ Bühnenkunst fordert?«5 Thorstein Veblen vertritt ebenfalls eine (vulgär-)materialistische Auffassung, sein Anliegen ist allerdings eine bürgerlich-zweckmäßige Sicht ästhetischer Wertung. Bei ihm geht es nicht zuerst um die Produktion von Kunst, sondern um die Konsumtion und Zurschaustellung von Luxusgegenständen. Veblens Theory of the Leisure Class aus dem Jahr 1899 scheint zuerst mit einer bestimmten Sorte Konsum ganz in den Bezirk jener idealistischen Ästhetik von Schiller bis zu Marcuse einzutreten, welche die Kunst abseits der Notwendigkeit, im Reich der Freiheit, beginnen lässt. Unter den Titel »conspicuous consumption« fasst Veblen tendenziell jeden Konsumakt, der über das Lebensnotwendige und das handfest Nützliche hinausgeht, insbesondere aber jene Akte, die verschwenderisch sind. Unter dem Aspekt von »workmanship«6 und »economic interest« 7 bestehe Schönheit noch in der Zweckmäßigkeit: »among objects of use the simple and unadorned article is aesthetically the best.« 8 Der »conspicuous consumption« aber liegt nach Veblens Überzeugung genau die entgegengesetzte Schönheitsauffassung zugrunde: Ästhetisch bemerkenswert ist für sie der luxuriöse und nutzlose Gegenstand. Wegen der Verknüpfung
5 | Lenin, Wladimir I.: Parteiorganisation und Parteiliteratur [1905], in: Ders.: Werke, Bd. 10, Berlin: Dietz 1970, S. 29-34, hier S. 33. 6 | Veblen, Thorstein: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions [1899], New York: The Modern Library 1934, S. 93. 7 | Ebd., S. 151. 8 | Ebd., S. 152.
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von Luxus und Nutzlosigkeit kann man auch sagen: der teure Gegenstand. Sein Konsum beweist u.a. eine exzessiv ästhetische Haltung. Zwar ist diese Einstellung für Veblen unter dem entscheidenden Gesichtspunkt von »human life or human well-being on the whole« nutzlos und beklagenswert, für den »individual consumer« sei sie es jedoch ganz und gar nicht. Der »conspicuous consumption« mitsamt ihrer verschwenderischen Ästhetik unterstellt Veblen durchweg individuell nützliche Motive und Zwecke.9 Veblen geht es in seiner berühmten Abhandlung um historisch unterschiedliche Formen, die eigene Vorrangstellung sichtbar zu machen, er meint, es sei eine historische Tatsache, dass es nicht ausreiche, über viel Geld zu verfügen, um Anerkennung zu erlangen. Man müsse unter Beweis stellen, dass man zu den Reichen zähle: Die anderen, ärmeren Menschen müssen erkennen und sehen können, wie reich man ist, damit sie einem Wertschätzung zollen. Besonders in Zeiten, in denen Leute einen außerhalb kleiner Gemeinschaften zu Gesicht bekämen, sei der demonstrative Konsum wichtig. Anders als bei edler Haltung, feiner Sitte, geistreicher Sprache braucht es Veblens Beobachtung nach bei luxuriösen Gütern für die Feststellung, dass jemand vermögend ist und nicht eigene Hände zur Arbeit bemühen muss, keine Zeit und intime Kenntnis. In der Epoche großer, anonymer Städte, ausgebauter Fernverkehrsnetze und allgegenwärtiger Massenmedien besitzen verschwenderische Ausgaben, die sich in sichtbaren und leicht schätzbaren Gütern niederschlagen, den Vorteil unmittelbarer Sichtbarkeit und Deutlichkeit. Am Luxuskonsum zeige sich der Grad des Reichtums und damit der Grad der Reputation. Daran, dass ästhetisch positiv eingeschätzte Gegenstände oftmals luxuriöse Gegenstände seien, erweist sich für Veblen folgerichtig, welch hohes Maß die Anerkennung der Wohlhabenden erreicht hat. »We find things beautiful […] somewhat in proportion as they are costly«, stellt Veblen ebenso knapp wie vorwurfvoll fest10, »so that we frequently interpret as aesthetic […] a difference which in substance is pecuniary only.«11 Von der Ästhetik des luxuriös Verschwenderischen abweichende Konzeptionen gehen für Veblen darum lediglich auf das geringere (Geld-)Vermögen ihrer Verfechter zurück. Nach Veblen ist unter dem Zeichen des Konsums eine Ästhetik der Interesselosigkeit schlicht unmöglich. Vom Reich der ästhetischen Freiheit findet sich bei ihm also überhaupt keine Spur, materielle Zwänge diktieren die ästhetische Entscheidung. Geht man aber von Veblens Primat der Aufmerksamkeits- und Reputationsökonomie ab, kann man im verschwenderischen Konsum genau umgekehrt eine interesselose Einstellung entdecken: uninteressiert am geizigen Er9 | Vgl. ebd., S. 97f. 10 | Ebd., S. 169. 11 | Ebd., S. 97.
Die Stellung der Ästhetiken zum Konsum
halt des eigenen Vermögens. Versuchsweise könnte man auch den Moment des Konsums (den Moment des Einkaufs) als Wasserscheide, die Interesse von Interesselosigkeit trennt, bestimmen. Kaufen steht dann dafür ein, dass die Begierde, etwas zu besitzen, erloschen ist. Nachdem man etwas gekauft hat, gehört es einem, von nun an kann Interesselosigkeit walten, sofern keine Gefahr besteht, dass einem genau dieser Besitz genommen wird. Kaufen heißt ja nicht, etwas zu gebrauchen; die oft gehörte Unterscheidung zwischen ästhetischer und praktischer Funktion wird durch den Kaufakt noch nicht zur Seite der Praxis hin entschieden. Die Inbesitznahme kann sogar (sie muss es natürlich nicht) dazu führen, dass das gekaufte Ding vor dem Gebrauch bewahrt wird. Eine interessante Ableitung Veblens, die sich teilweise gegen ihren indirekten Urheber richtet, könnte auch darin bestehen, massenhaft hergestellte Waren als Beweis einer Ästhetik zu nehmen, die nicht im demonstrativen Geltungskonsum aufgeht. Reproduzierte Werke, auch in Form billiger Taschenbücher, Notenhefte oder Digitalisate, tragen heutzutage keineswegs automatisch zum kompletten Verlust des ästhetischen Renommees ihrer Käufer oder der Autoren der Vorlage bei. Vollkommen unbeeindruckt von solchen Überlegungen sind Theoretiker, die in der aus kommerziellen Gründen ausgeweiteten Produktion den Grund für die ästhetische Minderwertigkeit der dabei hergestellten und als Waren auf den Markt gebrachten Güter erkennen. Der »Geschäftsmann hat gar oft ein enges Herz«, wie schon Schiller wusste, eine beschränkte »Einbildungskraft«, die »sich zu fremder Vorstellungsart nicht erweitern kann«.12 In geisteswissenschaftlich und feuilletonistisch weithin bekannter Fassung liegt die These bei Adorno/Horkheimer vor. Was sie meinen, wird durch ihre Angabe eines für sie bedeutenden historischen Unterschieds gut deutlich. Ein wenig »Unabhängigkeit« gegenüber »den auf dem Markt deklarierten Herrschaftsverhältnissen« hätten »das deutsche Erziehungswesen samt den Universitäten, die künstlerisch maßgebenden Theater, die großen Orchester, die Museen« längere Zeit bewahren können, schreiben sie in der »Dialektik der Aufklärung« 1944: »Das stärkte der Kunst den Rücken gegen das Verdikt von Angebot und Nachfrage.« Diese Schonzeit sei aber vorüber, bilanzieren Adorno/Horkheimer in ihrem »Kulturindustrie«-Kapitel: Der nun durchgesetzte »Zwang, unablässig unter der drastischsten Drohung als ästhetischer Experte dem Geschäftsleben sich
12 | Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795], in: Ders.: Schillers Werke, 20. Bd. [= Nationalausgabe], Weimar: Volksverlag 1962, S. 309-412, hier S. 326.
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einzugliedern, hat den Künstler ganz an die Kandare genommen« und ihn der Möglichkeit, »unverwertbare« Werke zu veröffentlichen, beraubt.13 Für John Dewey stellt sich das ganz anders dar. Da »works of art are now produced, like other articles, for sale in the market«, verstehe der Künstler sich nicht als Teil einer Gemeinschaft, lautet eine wichtige These Deweys. Wie sich in der modernen Gesellschaft eine Kluft zwischen »producer and consumer« bilde, so komme es in ihr ebenfalls zu einer »a chasm between ordinary and esthetic experience«. Auf der Seite des Künstlers sei ein »peculiar esthetic ›individualism‹« anzutreffen: »In order not to cater to the trend of economic forces, they [artists] often feel obliged to exaggerate their separateness to the point of eccentricity. Consequentely artistic products take on to a still greater degree the air of something independent and esoteric.«14 In Künsten, die Originale schaffen, sieht das Dewey offenkundig nicht als ökonomisch abträglich an, im Gegenteil. Er verweist auf die Neureichen als ein »important byproduct of the capitalistic system«; diese umgäben sich besonders gerne mit »works of fine art which, being rare, are also costly«.15 Auch Adorno sieht bekanntlich den Primat des Tauschwerts gegeben, allerdings ausschließlich mit Konsequenzen, die gerade nicht das Esoterische beinhalten. Bereits in dem Aufsatz »Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens« aus dem Jahr 1938 weist Adorno mit Nachdruck auf den seiner Ansicht nach mittlerweile alles durchdringenden Charakter der Warenwelt hin: »Daß ›Werte‹ konsumiert werden und Affekte auf sich ziehen, ohne daß ihre spezifischen Qualitäten vom Bewußtsein des Konsumenten noch erreicht würden, ist ein später Ausdruck ihres Warencharakters«, hält Adorno mit gewohnt kritischem Gestus als seine Grundthese fest. Der Tauschwert habe den Gebrauchswert bereits soweit verdrängt, dass die Konsumenten weitgehend ihren Geschmack an dem fänden, was erfolgreich ist; was sich auf dem Markt bewährt, bekommt ihre (natürlich nur noch scheinbar) ästhetische Zustimmung; der (erste) Erfolg erzeugt dadurch die nachhaltige Popularität und bestimmt den Zuschnitt des Marktes und seiner Produkte.16 Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg, lautet das entsprechende Bonmot der Unterhaltungsindustrie.
13 | Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [1944], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 140f. 14 | Dewey, John: Art as Experience [1934] [= The Later Works, Vol. 10], Carbondale/ Edwardsville: Southern Illinois University Press 1987, S. 15. 15 | Ebd., S. 14. 16 | Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens [1938], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 14-50, hier S. 25f.
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Der von Marx postulierte Fetischcharakter der Ware, den Adorno auch an der Ware Kunstwerk durchgängig entdeckt, zeigt sich nach Adornos Einschätzung aber nicht allein an der »affektiven Besetzung des Tauschwerts«, die sich schlechthin an allen, beliebigen Marktführern erweisen müsste. Adorno nimmt vielmehr an, dass der Fetischismus zu einer ganz bestimmten Auswahl dessen, was in einer kapitalistischen Tauschgesellschaft überhaupt erfolgreich sein kann, führt. Der musikalische Fetischismus liegt für ihn im Bereich der klassischen Musik etwa in der Bevorzugung ›großer Stimmen‹, im »Kultus der Meistergeigen« und der hervorgehobenen Stellung des Dirigenten. Adorno erkennt den Warencharakter der Kunst also nicht bloß an Produkten der Populärkultur, allerdings kommen Letztere der Fetischisierung nach Meinung Adornos insofern stets entgegen, als sie bereits von vornherein lediglich aus standardisierten Effekten bestünden, die nicht erst aus einem sinnvollen (keineswegs zwanghaften) Formganzen isoliert werden müssten. Dies geschehe z.B., wenn aus einer Beethoven-Sinfonie einige Themen, Partien und Einfälle als »sinnliche Reize« in zersetzender Manier herausgenommen oder betont würden. In der »populären Musik«, im »Schlager« und beim »kommerziellen Jazz« bestehe jedoch im Unterschied zur »oberen Musik« gar keine Notwendigkeit zur »Dekomposition«; hier gebe es überhaupt nichts mehr zum Zerlegen.17 Ein marxistischer Avantgardist wie der frühe Brecht, dem die bürgerlichen Konzeptionen von ganzem Werk und Autorpersönlichkeit verhasst sind, erkennt darin gerade etwas Positives. Der Warencharakter der heutigen Kunst, die mit ihm verbundene »Demontierung von Kunstwerken« mache traditionelle Forderungen nach »organischer Geschlossenheit« unmöglich und trage zum begrüßenswerten »Verfall des individualistischen Kunstwerks« bei.18 Adorno hingegen schätzt zwar den partikularen Reiz als Einspruch gegen das falsche Allgemeine und die zwanghafte Identität, aber er schätzt ihn nur solange, wie er das Ganze nicht zerstört. Adornos Ideal ist es, das Besondere und das Allgemeine zu versöhnen, bloße »Dekonzentration« lehnt er ab.19 Die standardisierten Formen der populären Musik, fasst Adorno abschließend zusammen, »sind bis auf die Taktzahl und die exakte Zeitdauer so strikt genormt, daß beim einzelnen Stück eine spezifische Form überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Die Emanzipation der Teile von ihrem Zusammengang und allen Momenten, die über ihre unmittelbare Gegenwart hinausgehen, inau17 | Ebd., S. 22ff. 18 | Brecht, Bertolt: Der Dreigroschenprozess [1931], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 18.: Schriften zur Literatur und Kunst I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 139209, hier S. 180. 19 | T. W. Adorno: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens, S. 37.
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guriert die Verschiebung des musikalischen Interesses auf den partikularen, sensuellen Reiz.«20 An dieser Auffassung wird Adorno sein ganzes Leben lang festhalten. In der Ästhetischen Theorie wird dreißig Jahre später der Zusammenhang von Sinnenreiz und Tauschwert folgendermaßen pointiert: »Während scheinbar das Kunstwerk durch sinnliche Attraktion dem Konsumenten in Leibnähe rückt, wird es ihm entfremdet: zur Ware, die ihm gehört und die er ohne Unterlaß zu verlieren fürchtet.«21 An anderer Stelle hält Adorno in der Ästhetischen Theorie ebenso grundsätzlich wie lapidar fest: »Daß Kunstwerke, wie einmal Krüge und Statuetten, auf dem Markt feilgeboten werden, ist nicht ihr Mißbrauch sondern die einfache Konsequenz aus ihrer Teilhabe an den Produktionsverhältnissen.«22 Da Kunstwerke nach Adornos ästhetischer Anforderung »die Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge« sein sollten23, der Markt nach seiner Diagnose aber kein ›Außerhalb‹ mehr gestattet und kennt, bleibt wohl nur noch das Urteil, Ästhetik sei eine Angelegenheit der Vergangenheit. Auch damit wären die Diskussion und dieser Aufsatz zu Ende. Adorno selber zieht diese Konsequenz jedoch nicht, darum kann die Analyse erneut weitergehen. Begriffe wie »latente Warenform«24 zeigen an, dass es Adorno nicht nur um die Feststellung, ob ein Werk als Ware käuflich ist oder nicht, und eine damit verbundene binäre ästhetische Wertangabe geht. Adorno geht es auch ums Graduelle und deshalb u.a. um das, was seiner Ansicht nach dem besonders profitträchtigen Werk negativ eignet. »Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch«, heißt es in »Résumé über Kulturindustrie«, sie würden ganz vom »Profitmotiv« dominiert, zugeschnitten »auf den Konsum durch Massen«.25 Adorno kennt aber auch ›geistige Gebilde‹, die weniger kulturindustriell stilisiert sind, nicht auf Massenkonsum abzielen und dennoch vom Tauschwert gezeichnet sind. Die »latente Warenform« entdeckt Adorno in der Ästhetischen Theorie etwa an Rilke und Rimbaud, an der Nähe des »l’art pour l’art« zum »Kitsch«. Entsprechende Werke seien »rasch konsumfähig« geworden – »das qualifiziert sie als Ware«.26 20 | Ebd., S. 22ff. 21 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 27. 22 | Ebd., S. 351. 23 | Ebd., S. 337. 24 | Ebd., S. 352. 25 | Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie [1963], in: Ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 [= Gesammelte Schriften, Bd. 10.1], S. 337-345; S. 338, hier S. 337. 26 | T. W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 352.
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Umgekehrt muss also ebenfalls gelten, dass davon verschiedene Werke sich in weniger hohem Maße als Ware auszeichnen, etwa im Falle Kafkas durch dessen »epische[n] Stil«, durch »Mimesis an die Verdinglichung«.27 Zwar stehen auch solche Werke nach Adornos Einschätzung nicht außerhalb des »Schuldzusammenhangs« der Tauschgesellschaft 28, sie machen aber dennoch den »Verblendungszusammenhang der Gesellschaft« kenntlich.29 Es überrascht sicher niemanden, dass Adorno an dieser Stelle, angesichts der Erzählwerke Kafkas, nicht mehr – wie noch bei Rilke, beim Jazz, den Meistergeigern etc. – von ›Konsum‹ und ›Konsumenten‹ spricht, obwohl natürlich auch Kafkas Romane in den 1960er Jahren als Taschenbuchausgaben vorlagen und sogar in diesem Jahrzehnt viel häufiger gekauft und auch gelesen wurden als bei ihrer Erstveröffentlichung. Ganz gemäß der Position Adornos reklamiert etwa Christoph Menke gegen den »konsumistischen Geschmack« die Einsicht, dass »die Unbedingtheit der Wahrheit sich der ästhetischen Kraft verdankt«.30 Gäbe es nur diese Position, könnte die Analyse erneut beendet werden, Konsum und Ästhetik schlössen sich eben aus. Neben Theorien der Ästhetik, die auf dem Wahrheitsgehalt oder der Wahrheitskraft ihres Gegenstandes bestehen, gibt es aber Schulen, die zumindest in ästhetischen Aussagen keine Kandidaten für eine Attribution nach dem Muster ›wahr/falsch‹ erkennen, sondern, wie etwa Alfred J. Ayer, lediglich Gefühlsäußerungen.31 Darum kann die Debatte weitergehen. Jemand, der durch Ayers Schule gegangen ist, würde einen Satz wie ›X ist ästhetisch zweitrangig oder unästhetisch, weil es sich rasch konsumieren lässt‹ (aber auch die genau gegenteilige Aussage) jeweils registrieren als ästhetische Einschätzung des Aussagenden, aber zu keiner Entscheidung kommen, ob der ein oder andere Satz richtig oder fehlerhaft ist.
K onsumieren – mehr als E ink aufen An dem Punkt angelangt, öffnet sich das Feld der Fragestellung. Wie das Beispiel Adornos zeigt, erschöpft sich der Begriffsgebrauch von ›Konsum‹ keineswegs im ›Einkaufen‹, wie das die gängigen wirtschaftswissenschaftlichen 27 | Ebd., S. 342. 28 | Ebd., S. 337. 29 | Ebd., S. 342. 30 | Menke, Christoph: Ein anderer Geschmack. Weder Autonomie noch Massenkonsum, in: Ders./Juliane Rebentisch (Hg.): Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2010, S. 226-239; S. 231; S. 237. 31 | Ayer, Alfred J.: Sprache, Wahrheit und Logik [Language, Truth and Logic (1936)], Stuttgart: Reclam 1970.
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Abhandlungen nahelegen. Die Verwendung des Wortes ›Konsum‹ läuft häufig auf andere Bedeutungen hinaus. Manchmal wird das in der wissenschaftlichen Literatur auch reflektiert und mit neutralem Gestus statuiert 32, oftmals – gerade in den Literatur- und Kunstwissenschaften – geschieht es aber unwillkürlich oder in wertender Absicht. Besonders drei Gebrauchsweisen sind hier zu nennen: Erstens fasst man häufig mit ›Konsum‹ jeden Verzehr von Phänomenen, unabhängig davon, ob sie der Konsumierende gekauft hat oder nicht. Dieser Begriffsgebrauch im Sinne des ›Einverleibens‹ und ›Gebrauchens‹ oder ›Vernutzens‹ führt wohl auch u.a. zu der, wie etwa von Adorno, postulierten Nähe von ›Sinnlichkeit‹ zu ›Konsum‹. Zweitens bezieht man ›Konsum‹ heutzutage oft auf weitere Aneignungsund Rezeptionsweisen, über das ›Verzehren‹ weit hinaus. Das geht bis zum reinen ›Anschauen‹ (etwa wenn gesagt wird, der Tourist konsumiere die Sehenswürdigkeiten Roms oder der TV-Zuschauer konsumiere Soap-Operas). In diesem Fall soll gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Subjekt sich etwas anverwandelt, einverleibt und zu eigen macht, sondern wie oberflächlich, rasch, kumulativ die Rezeption ausfällt. Zum ›Konsum‹ zählt hier bindend die passive, manipulierte, zerstreute, unkultivierte Haltung der Käufer und/oder Rezipienten. Drittens führt eine gegenwärtig ebenso häufig anzutreffende Begriffsverwendung den ›Konsum‹ mit ausgewählten, spezifischen Gegenständen und Ereignissen zusammen, nicht mit allen gekauften oder verzehrten oder zerstreut wahrgenommenen Artefakten. ›Konsumobjekte‹ sind mit schöner bzw. hässlicher Regelmäßigkeit ganz bestimmte als kommerziell und vulgär identifizierte, dem Wechsel oder modischen Verschleiß unterworfene und nicht selten mit einem populären, massenhaft wirksamen Image und Logo versehene Produkte. Wie schon bei den unkontemplativen Aneignungsweisen zeigt der Begriff ›Konsum‹ bei diesen Gegenständen zumeist deren Minderwertigkeit kritisch an. Man kann diese Verengung von ›Konsum‹ auf bestimmte Produkte, die konsumiert werden, und auf bestimmte Rezeptions- und Aneignungsweisen sicherlich kritisieren und stattdessen einen anderen Begriffsgebrauch, der z.B. jedes gekaufte Ding oder jeden verzehrenden Aneignungsakt unter ›Konsum‹ fallen lässt, für plausibler oder konsequenter halten. Aus wissenschaftlich-historiografischer Sicht ist diese spezifische gegenwärtige Begriffsverwendung jedoch einfach zur Kenntnis zu nehmen.
32 | Etwa Prinz, Michael: Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn: Schöningh 2003.
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B lick in verschiedene Ä sthe tiken Mit diesen Varianten des gegenwärtigen Begriffsgebrauchs an der Hand lässt sich das Verhältnis von Ästhetik und Konsum selbstverständlich differenzierter untersuchen, als es die Gleichsetzung von ›Konsumieren‹ mit ›Kaufen‹ und von ›Konsumgegenstand‹ mit ›Ware‹ erlaubt. Das höhere Maß an Differenziertheit bringt freilich notwendigerweise eine vergrößerte Zahl an Bezügen und Varianten mit sich. Es drohen Überfülle und Unübersichtlichkeit, darum muss die zweite Eingrenzung nun im Feld der Ästhetik vorgenommen werden. Diese Einschränkung besteht darin, dass wie schon im vorherigen Kapitel auch auf den folgenden Seiten lediglich die akademisch wichtigsten, d.h. kanonisierten, universitär wirkungsmächtigsten Ansätze aus vorliegenden Ästhe tiken herangezogen werden (Geschmacksurteile oder kursorische ästhetische Theoreme von Laien oder Feuilletonisten, Museumsmitarbeitern oder Kulturpolitikern werden also nicht berücksichtigt). Gegen den Konsum im Sinne des zweckmäßigen Gebrauchens und sinnlichen Einverleibens steht vor allem die Tradition des deutschen Idealismus. Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft aus dem Jahr 1790 ist das bekannte Beispiel dafür. Zwar trennt Kant das »Geschmacksurteil« vom »Erkenntnisurteil«: Das Geschmacksurteil sei »nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.« Die Unterscheidung, »ob etwas schön sei oder nicht«, rühre vom »Gefühl der Lust oder Unlust« des einzelnen Subjekts her.33 Kant scheint bei seiner Argumentation sogar das alte Bild des »Geschmacks«-Urteils wörtlich zu nehmen, wenn es darum geht, das Recht der alten Regelästhetik zu bestreiten: ich »versuche das Gericht an meiner Zunge und meinem Gaumen: und danach (nicht nach allgemeinen Prinzipien) fälle ich mein Urteil«.34 Doch dabei bleibt es nicht. Geschmack ist bei Kant nur eine Metapher. Sie zielt auf die Regellosigkeit, nicht auf den tatsächlichen Sinnengenuss, schon gar nicht auf Lust im erotischen Sinne. »Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt, schön, was ihm bloß gefällt«, differenziert Kant, und er ist der Ansicht, dass nur das bloße Gefallen, das »uninteressierte[] und freie[] Wohlgefallen«, wie er es nennt, eine ästhetische Haltung ausmacht.35 Sinnlicher Genuss, Vergnügen hingegen verhindern ein ästhetisches Urteil, das von allen Interessen gereinigt ist; Interessen machen das »freie Spiel« der Einbildungskräfte unmöglich. Kant muss von einem solchen »freien Spiel« ausgehen, um den »Gemeinsinn« des Geschmacksurteils sowohl vor der unbedingten Not33 | Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790], hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Meiner 1974a [= Werkausgabe, Bd. X], S. 115. 34 | Ebd., S. 214f. 35 | Ebd., S. 123.
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wendigkeit eines »objektiven Prinzips« als auch vor dem »Privaturteil[]« des »Sinnen-Geschmack[s]« zu retten.36 Hegel hält mit engerem Blick auf die Künste fest, dass »Kunstwerke« nicht angemessen wahrgenommen würden, wenn sie nur als »bloßes Mittel« etwa für die Befriedigung unserer »Bedürfnisse« und unseres »Vergnügen[s]« dienten. Falle einem beim Kunstwerk etwa nur dessen »sogenannte Natürlichkeit und täuschende[] Nachahmung der Natur« auf, verkenne man den eigent lichen Punkt, »das Künstlerische«.37 Schopenhauer ordnet solche unkünstlerischen Rezeptionen, deren Fixierung u.a. auf das »Reizende« die »reine[] Kontemplation« verhindert, dem »gewöhnliche[n] Mensch[en], diese[r] Fabrikware der Natur« zu.38 Kant hingegen traut dem Urteilenden schlechthin (keineswegs nur den ›Fabrikkreaturen‹) nicht zu, sich in jedem Fall von seinen sinnlichen Neigungen distanzieren zu können. Interesselos kann folglich nur das Wohlgefallen urteilen, welches nicht zu sehr »Reiz« und »Rührungen« ausgesetzt ist.39 Äußerst Reizvolles kann nach Kant nicht als schön beurteilt werden. Darum gehören bestimmte Sujets und Präsentationsweisen aus dem Reich des ästhetisch Schönen zurückgedrängt. Bei der ästhetischen Beurteilung von Malerei und Musik kann »der Reiz der Farben, oder angenehmer Töne des Instruments« für Kant vielleicht eine Rolle spielen, aber den »eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils« machen »Zeichnung« und »Komposition« aus.40 Bei bestimmten Gegenständen der Malerei wie Wiesen und Gärten, die »von Natur gar zu viel Reiz haben«, hat Kant wiederum Bedenken (mit der heute einleuchtenderen Klimax »Wiesen, Gärten, Wollust selbst«). Wenn man aber über solche Gegenstände »noch mehr Reiz verbreiten will«, bleibt für Kant41 endgültig ein unästhetischer Eindruck zurück. Sie werden dann wie Schlüsselreize angesehen, die einen ausweglos fesseln und binden. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, selbst prekäre Sujets zu verwenden. Kant spricht davon, Reizendes »noch reizender zu machen«, im Umkehrschluss darf man wahrscheinlich eine gegenteilige Methode, eigentlich Reizendes reizloser zu gestalten, annehmen. Aus der Annahme wird Gewissheit, wenn man sich dem Kantianer Friedrich Schiller zuwendet. In Schillers Wor36 | Ebd., S. 123; S. 157; S. 127f. 37 | Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Ästhetik [1835], Bd. III [= Werke, Bd. 15], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 63. 38 | Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung [1819/1844], Band I [= Sämtliche Werke I], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 294f.; S. 268. 39 | I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 139. 40 | Ebd., S. 141. 41 | Aus einer Logikvorlesung [1772], in: Jens Kulenkampff (Hg.): Materialien zu Kants »Kritik der Urteilskraft«, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974b, S. 101-112, hier S. 112.
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ten besteht diese Operation darin, den »Stoff« durch die »Form« zu vertilgen. Die Kunst der Bearbeitung drängt die Wirkung, die der eindrucksvolle Stoff bei einem geneigten Betrachter zweifelsohne ausgelöst hätte, zurück.42 Bei ihr handelt es sich um das Gegenteil »kriechende[r] Lohnkunst«.43 Schleiermacher spricht demgemäß von der Aufgabe der Poesie, weder absichtlich noch aus Ungeschick im Leser ein anderes Verlangen als das »ruhiger Betrachtung und freier Anschauung« zu erregen.44 Der ›Künstler‹, der dagegen verstößt, ist eben keiner. Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Argumentation Phänomene, die gewöhnlich der Populär- und Massenkultur zugerechnet werden, negativ erfasst. Genres wie Rührstück, Melodram, Horror, Thriller, Slapstick, Pornographie, Tanzmusik, Stimmungsmusik besitzen ja ihren Zweck oder ihre Gattungszuschreibung darin, einen auf bestimmte sinnlich-körperliche Wirkungen zu führen und nicht zu ruhiger Anschauung. Bezieht man die ästhetische Wahrnehmung nicht nur auf Kunstwerke, sondern auf alle möglichen anderen Objekte und Ereignisse, kann die Unterscheidung zwischen unästhetischem Sinnengeschmack und ästhetischem Reflexionsgeschmack selbstverständlich ebenfalls zum Tragen kommen, im Sinne der aufgeführten Begriffsverwendungen von ›Konsum‹ Nr. 1 bis 3 zumeist mit genau jenem negativem Ausgang, der auch Sexvideos, Muzak, Ekelszenen etc. trifft. Eine Besonderheit ist dabei jedoch zu verzeichnen. Sie betrifft Gebrauchsgegenstände, die man alltäglich benutzt, sowie Ereignisse, die gebräuchlich sind und routiniert vollzogen werden. Auch ihnen wird mitunter nachgesagt, dass sie eine ästhetische Wahrnehmung verhindern (obwohl sie ja keineswegs reizvoll sind, wie man an ihrer lustlos-unaufmerksamen Rezeption und Behandlung erkennt). Konsumgegenstände fallen also nach dieser These insofern in den Bereich des Unästhetischen, als sie im Alltag regelmäßig zum Zwecke der Säuberung, Körperbedeckung, Fortbewegung, Sättigung, Informationsübermittlung usf. benutzt werden. Sie werden fortwährend bemüht und geraten darum gewissermaßen unter die Wahrnehmungsschwelle. Um gegen solche »Automatisierung« anzugehen, setzt Viktor Schklowski auf
42 | F. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 382. 43 | Ebd., S. 412. 44 | Schleiermacher, Friedrich: Vertraute Briefe über Schlegels Lucinde [1800], in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin und New York: de Gruyter 1988, S. 139-216, hier S. 178.
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»Kunst« im Sinne einer »›Verfremdung‹ der Dinge« und auf ein »Verfahren, das die Wahrnehmung erschwert«45. Erst ihre künstlerische Transformation und Verfremdung – oder auch nur ihre Transposition, ihre Ausstellung in der Galerie oder an anderen Orten der Kunst – könnte alltäglichen Konsumgegenständen wieder (oder erstmalig) ästhetische Aufmerksamkeit zuführen. Als berühmte Beispiele dafür werden u.a. von den Nachfahren Schklowskis gerne Warhols Suppendosen und Brillo Boxes genannt. Hier kann man aber einwenden, es brauche gar keinen künstlerischen Rahmen, um funktionale Alltagsgegenstände ästhetisch wahrzunehmen. Gerade bei den Suppendosen und den Reinigungsmittelkartons ist das offensichtlich, schließlich dienen sie nicht nur der Auf bewahrung der Suppenflüssigkeit und der Schwämmchen, sondern sind reich verziert. Es ist nicht einmal vollkommen ausgeschlossen (wenn auch, empirisch gesehen, wahrscheinlich selten), dass die Stahlwolle-Putzkissen aus der Brillo Box beurteilt werden, ohne das Urteil darüber von der Säuberungs-Funktion abhängig zu machen. Nicht einmal ihr wiederholter Gebrauch müsste sie unbedingt aus dem Reich der Ästhetik ausschließen. Tatsächlich bezieht ein bekannter Ästhetiker, Jan Mukařovský, gewöhnliche Konsumprodukte in seine Konzeption mit ein. Als Beispiel spricht Mukařovský in seinem »Kapitel aus der Ästhetik« Bäckereiprodukten – also gewiss alltäglichen Konsumgegenständen – nicht nur praktische, sondern auch »ästhetische Funktion« zu: In der Farbe und dem Duft seien bei ihnen »ästhetische Elemente« enthalten. Einer ästhetischen Wahrnehmung ist das für Mukařovský folglich zugänglich, auch bei der wiederholten Begegnung mit solchen »Elementen«46. Doch kehren wir zu Kants These vom ästhetisch erforderlichen Reflexionsgeschmack zurück, der ja gerade von Duft und Farbe zugunsten der Form absehen sollte. Wenn man Konsum mit ›Einverleiben‹, ›Verzehren‹, sinnlichem Verlangen, mit der Rezeption entsprechender handwerklicher oder industrieller Güter gleichsetzt, fällt gemäß der Schule der Interesselosigkeit Konsum aus dem Bereich der Ästhetik einfach hinaus und können entsprechend hergestellte Güter keinen Platz im Reich der Kunst oder zumindest der hohen Kunst zugestanden bekommen. Voraussetzung dafür ist, dass ein Urteil über Kunst und Unkunst oder, moderater gefasst, über gute und schlechte Kunst an besagter interesseloser, distanzierter Wahrnehmung hängt: Indem man erstens alle nicht interesselosen 45 | Schklowski, Viktor: Kunst als Verfahren [Isskusstvo kak priem [1917/25]], in: Mierau, Fritz (Hg.): Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig: Reclam 1987, S. 11-32, hier S. 17f. 46 | Mukařovský, Jan: Kapitel aus der Ästhetik [Studie z Estetiky (1966); Zusammenstellung von Vorträgen, Büchern und Aufsätzen aus den Jahren 1934-1942], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 119.
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Wahrnehmungen für untauglich erklärt, etwas zur Ermittlung des Kunststatus beizutragen, und indem man zweitens jene Werke, von denen man meint, dass sie Interesselosigkeit (latent) verhindern, niedrig bewertet oder zur Unkunst erklärt. Ein Blick in die Geschichte der Kunstbewertungen zeigt aber, dass es zu diesen beiden Positionen respektable Gegenpositionen gibt. Sei es Dada, sei es Surrealismus, seien es Trash-, seien es Transgressions-Konzepte, sei es Bourdieu, sei es Benjamin – Zerstreuung, Schock, Sinnengeschmack, starker Reiz, pragmatische Aneignung besitzen jeweils Fürsprecher, deren teilweise sehr unterschiedlich ansetzende Argumente auch im heutigen Kunstbereich etwas gelten. Da also von einer vollkommen durchgesetzten Anschauung ästhetischer Distanz und künstlerischer Hochsublimation keine Rede sein kann, eröffnen sich auch Artefakten, die man (im Sinne des Begriffsgebrauchs Nr. 1 bis 3. als konsumistisch einstuft, gute Chancen, in Teilen der Kunstwelt als (gute) Kunstwerke eingeschätzt zu werden. Bilanzierend gesagt, besitzen solche ästhetischen Rettungen spezifischer Konsumweisen und -gegenstände, deren Spezifik sich aus dem Zuschnitt des angesprochenen Begriffsgebrauchs 1 bis 3 ergibt, drei Möglichkeiten bzw. drei bedeutsame historische Ausformungen: 1. Man bestreitet, dass interesseloses Wohlgefallen bindend durch aufreizende Gegenstände verhindert wird. Georg Simmel etwa behauptet, dass »sehr empfindliche Seelen« das »Empfinden« der »Befreiung« vom »dumpfen Druck der Dinge« umso »intensiver verspüren«, an je »näherem, niedrigerem, irdischeren Materiale es sich vollzieht«47. Das ist bildungsbürgerlich genug formuliert, setzt aber nun einmal voraus, dass die interesselose ästhetische Erfahrung sich auch gegenüber kruden, nicht idealisierten und reinigend überformten Stoffen einstellt. In der nüchterneren Formulierung Arthur C. Dantos: Die »Einstellung der kontemplativen Entrückung« lasse sich »gegenüber jedem beliebigen und noch so unwahrscheinlichen Ding einnehmen«. Es sei »jederzeit möglich, die praktische Verwendbarkeit aufzuheben, einen Schritt zurück zu gehen und eine distanzierte Sicht des Objekts zu gewinnen, seine Gestalt und seine Farben zu sehen, sich an ihm zu freuen und es als das zu bewundern, was es ist, ohne alle Nützlichkeitserwägungen.«48 In Teilen der analytischen Ästhetik gibt es sogar überhaupt kein Verständnis für die Position, die ästhetische Wahrnehmung, die ästhetische Erfahrung hänge am Desengagement, an einer distanzierten Einstellung. Für George 47 | Simmel, Georg: Soziologische Aesthetik [1896], in: Ders., Gesamtausgabe in 24 Bänden, Bd. 5, hg. v. Heinz-J. Dahme und David P. Frisby, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 197-214, hier S. 210. 48 | Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen [The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art (1981)], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 47.
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Dickie ist das Konzept einer ›spezifisch ästhetischen Einstellung‹ lediglich eine irreführende, unnötig komplizierte Abwandlung der Tatsache, dass man seine Aufmerksamkeit nicht zur gleichen Zeit auf viele unterschiedliche Dinge richten kann. Die Annahme einer interesselosen Aufmerksamkeit verwirft Dickie, stattdessen spricht er lakonisch davon, dass man mal jenen, mal diesen Aspekt eines Werks beachtet. Mal inspiziert man pragmatisch die politischen Wirkungsmöglichkeiten des Gedichts, mal schaut man auf die Klangfarben der Assonanzen und Reime. Auch wenn man nicht glaubt, dass diese beiden Operationen zur gleichen Zeit stattfinden können, gibt es nach Dickies Auffassung keinen Grund für die Annahme, das erstere verhindere das zweite – außer ebenjenen banalen Grund, dass man nicht zwei Dinge zur genau gleichen Zeit tun könne.49 2. Man definiert das Ästhetische um oder erweitert seine Bestimmung: Nicht mehr (nur) distanzierte Wahrnehmung, sondern (auch) gesteigerte, gereizte, intensive sinnlich-körperliche und/oder zerstreut-diskontinuierliche Empfindung. George Dickie etwa vertritt die Auffassung, »dass die Kategorie »›contemplation‹« nicht ausreichend sei, um »aesthetic experiences« zu charakterisieren; diese könnten auch »gay, spirited (not spiritual), titillating, humorous, uproariously funny, and so on« sein50 – eine Denunzierung der Kant’schen Interesselosigkeitsdoktrin als versuchte ästhetische Entmündigung und Entschärfung der Kunst. Behält man den Zusammenhang von ästhetischer Wahrnehmung und Kunstbewertung bei, ergibt sich daraus der Vorrang jener Werke, die zwangsläufig, regelmäßig oder überwiegend solch eine Empfindung bewirken. Mittlerweile gibt es sogar eine Variante im Sinne des ökologisch bewussten Konsums, eines ›alternativen Hedonismus‹: »The revisioning in question here is not a case of ›pure‹ aesthetic judgement in the disinterested Kantian sense, since it is closely aligned with a general rethinking of pleasure and the good life that would be achieved through a ›green‹ renaissance.«51
49 | Dickie, George: »The Myth of the Aesthetic Attitude«, in: American Philosophical Quarterly I/1 (1964), S. 56-65. 50 | Dickie, George: Introduction to Aesthetics. An Analytic Approach, Oxford: Oxford University Press 1997, S. 8; ähnlich etwa Shusterman, Richard: »Auf der Suche nach der ästhetischen Erfahrung. Von der Analyse zum Eros«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54/1 (2006), S. 3-20; s. auch Danto, Arthur C.: Die philosophische Entmündigung der Kunst. Eine Philosophie der Kunst [The Philosophical Disenfranchisement of Art (1986)], München: Fink 1993, S. 30ff. 51 | Soper, Kate: Alternative Hedonism, Cultural Theory and the Role of Aesthetic Revisioning, in: Binkley, Sam/Littler, Jo (Hg.): Cultural Studies and Anti-Consumerism. A Critical Encounter, London/New York: 2011, S. 49-69, hier S. 63.
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3. Man definiert Kunst um oder erweitert bestehende Nominaldefinitionen, indem man Gegenstände, die auch einen anderen Zweck als den ruhiger Betrachtung erfüllen können und de facto oftmals erfüllen (Tanzmusik, Hosen, Vasen etc.) ebenfalls zu Anwärtern auf den Kunst-Titel erklärt. Wenn das auch leicht möglich erscheint – nur einen Aussagesatz oder ein Geschmacksurteil entfernt –, dürfte es doch de facto höchst schwierig sein, eine entsprechende Kunst-Anschauung durchzusetzen. Was Danto am Beispiel der Putzmittelbehälter hervorgehoben hat 52 – nur die von Warhol bzw. seinen Mitarbeitern gefertigten Exemplare zählten als Kunstwerke, nicht die Produkte der Firma Brillo –, gilt doch wohl auch ganz oder weit überwiegend auch heute noch. Zumindest stehen nach wie vor nur Warhols Exponate im Kunstmuseum, die von Brillo bestenfalls im Kunstgewerbemuseum.
M assenkonsum Hinzufügen kann man noch: Nur Warhols Kartons erzielen am Kunstmarkt hohe Preise, nicht die historischen Gebrauchsgüter von Brillo; dies einmal ein gutes Beispiel dafür, dass der Unterschied von Konsumgut und Kunstgegenstand sich beim Kauf am Preis erweist. Wie weit der Unterschied tatsächlich trägt, hätte sich allerdings erst richtig erweisen können, wenn Warhols Factory in ähnlicher Quantität Kartons hergestellt hätte wie der Konsumgüterhersteller. Abschließend soll darum ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel gebracht werden. Im letzten Schritt soll geprüft werden, ob der ›Massenkonsum‹ eine neue Dimension etabliert. Hält man sich wiederum an den Begriffsgebrauch, werden mit ›Massenkonsum‹ oftmals nur die bereits benannten Bedeutungen 1-3 aufgerufen: Hans Magnus Enzensberger führt z.B. aus, dass der »litera rische Wert« eines Textes vom Unterschied zwischen einer kleinen Edition und einer Taschenbuch-Ausgabe mit hoher Auflage »nicht berührt« werde53, dennoch sieht er durch die verschiedenen Arten des Marketings und der Buchgestaltung eine wichtige Differenz am Werk: »Seit der Erfindung des Buchdrucks war das literarische Erzeugnis immer schon Ware, aber erst hier, im Markenartikel [des Taschenbuchs], kommt dieser Warencharakter zu sich selbst. Der Einband wird zur normierten Verpackung. […] Ihr Medium ist nicht die Vernunft, sondern der Reiz. […] Es [das Taschenbuch] wird zum Plakat seiner selbst, die Reklame wird ihm auf den Leib gebunden. Die Kaschierung, 52 | A. C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 12. 53 | Enzensberger, Hans Magnus: Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuch-Produktion [1958/1962], in: Ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie [1962], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 134-166, hier S. 140.
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der Lack, die flüchtige Aura seiner Unberührtheit verklärt er zum reinen Konsumgut.«54 In dieser Hinsicht – »Reiz«, ›Flüchtigkeit‹ – muss das Verhältnis von Massenkonsum und Ästhetik also nicht weiter analysiert werden, das ist bereits im letzten Kapitel erledigt worden. Untersuchenswert ist aber noch die quantitative Dimension von ›Massenkonsum‹, sofern damit nicht (nur) gemeint ist, dass viele Menschen heutzutage viel kaufen, sondern dass viele Menschen heutzutage das gleiche Produkt konsumieren. In Millionen Haushalten befindet sich eine Flasche Sprudel, Zehntausende Läden bieten eine Hautcreme an, Hunderttausende Menschen sitzen auf einer Sofa-Form etc. Was bedeutet das für die Ästhetik über die bereits genannten Punkte (Fetischismus, Standardisierung, Zerstreuung, Auraverlust) hinaus? Blickt man auf den Ursprung der philosophischen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgartens Entwurf aus dem Jahr 1750, ist der Ästhetik aufgegeben, im Gegensatz zur wissenschaftlich-logischen Vernunft von den individuellen Erscheinungen nicht einen Allgemeinbegriff abzuziehen, sondern sich an der Stofffülle der Welt zu erfreuen. Mit millionenfach identischen Objekten hat Baumgarten noch nicht gerechnet, deshalb fehlt eine Aussage von ihm, ob der Massenkonsum dem ›schönen‹ Denken unverträglich ist. Denkbar ist eine solche Einschätzung aber, auch wenn die Wahrnehmung einer großen Zahl an Reproduktionen und Schöpfungen nach einem Modell natürlich nicht mit logischem Denken gleichzusetzen ist. Für eine gewisse Vielfalt sorgen Massenproduktion und -konsum auf der anderen Seite insofern, als die Hersteller versuchen, außerhalb der Zusammensetzung der Basisstoffe für Abwechslung zu sorgen. Gemeint ist der oft hervorgehobene Umstand, dass die Warenproduzenten ihre Produkte durch das Design der Produkte und ihrer Verpackungen voneinander unterscheidbar und je attraktiv machen wollen. Wolfgang Fritz Haug redet darum unter ausdrücklichem Verweis auf Baumgarten von der »Warenästhetik«. ›Ästhetisch‹ im Sinne der »sinnliche[n] Erscheinung« des Objekts, »die auf die Sinne ansprechend wirkt«, mit Blick auf das aus Profitmotiven den Waren aufgeprägte, zum Kauf animierende Design,55 nützlich dann nicht mehr hinsichtlich des Gebrauchs-, sondern des Tauschwerts.56 Die Dominanz des Tausch- über den Gebrauchswert in der kapitalistischen Ökonomie führe zur Trennung von »Sinnlichkeit und Sinn« vom »Gebrauchsding«. Auf die speziell gestaltete »schön präparierte Oberfläche der Ware« folge noch eine weitere »ästhetische Abstraktion«: die Verpackung diene nicht dem Schutz des Umhüllten, sondern als das sinnlich anziehende »eigentliche 54 | Ebd., S. 138. 55 | Haug, Wolfgang F.: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 10. 56 | Ebd., S. 126f.
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Gesicht« der Ware, das der »potentielle Käufer« anstelle des »Warenleibs« zuerst gezeigt bekommt – als ein »ästhetisches Gebrauchswertversprechen«,57 das als »Erscheinung«, ersonnen »vom Standpunkt des Tauschwertbesitzes« aus, weit mehr verspreche, als es halten könne.58 Kritisiert worden ist daran etwa von Wolfgang Ullrich, dass der »Schein« der Konsumgüter nur als »Vortäuschung«, nicht aber als »ästhetische[] Fiktion mit eigenem Wert« betrachtet werde.59 Georg Stanitzek wendet gegen Haug ein, solch eine Konzeption mache die Annahme eines »Gebrauchswert[s] der Reklame« unmöglich, verwerfe »Design« überhaupt; kurz: bei der Kritik des »›Scheins‹«, bei der Kritik der Warenästhetik handele es sich um eine »protestantische Anästhesie«, die auf eine »ärmliche Subsistenzwirtschaft« hinauslaufe.60 Auch ohne planwirtschaftliche Absichten kann freilich die vielfach aus »ökonomischen Zwecken« betriebene »Oberflächenästhetisierung«, wie Wolfgang Welsch das nennt, der Kritik verfallen. Für Welsch dominiert die nunmehr allgegenwärtige »Überformung« der »vordergründigste ästhetische Wert: die Lust, das Amusement, der Genuß ohne Folgen«. Sei das »Styling von Objekten und erlebnisträchtigen Ambienten« bei einzelnen Alltagsgegenständen noch hinnehmbar gewesen und möge man über »einzelne Strategien von Wirklichkeitskosmetik« noch lächeln, könne einem bei der vollzogenen Ausdehnung solcher Ästhetisierung auf die »Kultur im Ganzen das Lachen vergehen«. Damit wären wir wieder bei der schon benannten Position, die Kultur oder zumindest die Kunst vor dem Konsum zu schützen. Nun aber mit der Pointe, dass Welsch davon spricht, die »Ästhetik« sei bei der überbordenden »Fun-Kultur« nicht nur »Vehikel, sondern Essenz«.61 Wie man sieht, kann sogar die Ästhetik begrifflich preisgegeben werden, wenn nur Kunst und Kultur gegen Kommerz und Konsum weiterhin Stellung beziehen dürfen.
L iter aturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens [1938], in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 14-50. 57 | Ebd., S. 60f. 58 | Ebd., S. 62f. 59 | Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013, S. 19. 60 | Stanitzek, Georg: Essay – BRD, Berlin: Vorwerk 8 2011, S. 191. 61 | Welsch, Wolfgang: Das Ästhetische. Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit?, in: Ders.: Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink 1983, S. 13-47, hier S. 16f.
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Singe den Zorn Ästhetische Kultur und Demokratie der Gefühle Josef Früchtl
Die Idee der Demokratie, so wie sie sich in Europa und Nordamerika herausgebildet hat, meint im Kern politische Selbstbestimmung. Freie und gleiche Bürgerinnen und Bürger haben demnach die institutionelle Garantie, einen Prozess der Beratung (deliberation) und Gesetzgebung in allen Angelegenheiten zu gestalten, die sie selber betreffen. Diese Idee ist – zwar nicht intrinsisch, aber doch dominant – verbunden mit einem Konzept von Vernunft und rationalem Diskurs, das dazu tendiert, Gefühle und Affekte auszuschließen. Denn der Beratungs- und Gesetzgebungsprozess soll verständlicherweise von guten Argumenten bestimmt werden und nicht von rhetorischen Tricks, psychologischer Manipulation oder gar kruder Gewalt. Aber die Idee einer freien, fairen und rationalen Debatte in Sachen der Politik sieht sich zumindest drei grundsätzlichen Einwänden gegenüber: Erstens, dem naheliegenden Verweis auf die faktischen Umstände, die unübersehbar zeigen, dass Gefühle nie, jedenfalls nie vollständig, aus politischen Debatten ausgeschlossen werden können. Zweitens, einer kulturhistorischen Analyse, in Nietzsches Terminologie einer Genealogie des abendländischen Denkens, die den Verdacht ausformuliert, dass das andauernde Betonen der Vernunft seinerseits als eine Leidenschaft und damit auch als etwas Irrationales verstanden werden kann; dass sich, mit anderen Worten, in unserer Vernunftkultur eine »irrationale Leidenschaft für leidenschaftslose Rationalität« verbirgt.1 Und drittens lässt sich mit verschiedenen philosophischen und psychologischen, heutzutage auch neurowissenschaftlichen Einwänden seriös bezweifeln, dass Vernunft und Gefühle einander grundsätzlich ausschließen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass beide Seiten aufeinander angewiesen und sogar ineinander verwoben sind. 1 | Phillip Rieff aus seinem Buch: Freud: The Mind of a Moralist, London 1979: »irrational passion for dispassionate rationality«, zitiert in: Hoggett, Paul/Thompson, Simon: »Toward a Democracy of Emotions«, in: Constellations, Vol. 9, No 1 (2002), S. 106-126, hier S. 113.
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Heutzutage kann die entscheidende Frage somit nicht sein, ob, sondern in welchem Ausmaß und in welchem Sinn Gefühle eine Rolle im demokratischen Streit spielen und vor allem spielen sollen. Und auf diese Frage gibt es zumindest zwei Antworten. Sie lassen sich unter die Stichworte »Kompensation« und »Transformation« bringen. Im politischen Zusammenhang verlangen Gefühle demnach entweder nach einem mäßigenden, anders gesagt: einem balancierenden Ausgleich oder nach einer sinnvollen Veränderung. Vor allem die zweite Option ist meines Erachtens notwendig auf die Ästhetik angewiesen. Diesen positiven Zusammenhang zwischen Gefühlen, demokratischer Politik und Ästhetik, speziell einer Ästhetik des Populären – die immer mit Konsum verbunden, aber nicht mit ihm identisch ist – möchte ich im Folgenden aufzeigen. Der Begriff, den ich dabei als Klammer für den der Kunst, der Populär- und der Konsumkultur vorschlage, ist der der ästhetischen Kultur. Mein Beitrag unterteilt sich dabei in einen längeren phänomenologisch-politischen und einen kurzen kulturtheoretischen Teil.
P hänomenologie politischer G efühle : P rotest in A msterdam Ausgangspunkt meiner Darlegung ist eine kleine Phänomenologie politischer Gefühle, die ich anhand der jüngsten – und durchaus erfolgreichen – Protestbewegung an meiner Universität in Amsterdam beschreiben möchte.2 Wenn es um Politik geht, ist das vorherrschende Grundgefühl entweder Apathie (Langeweile, Interesselosigkeit) oder pathos, ein gewisser Grad von Leiden und Leidenschaft, dessen Anfangsstufen Enttäuschung und Ärger heißen. Ärger – um damit einzusteigen – ist ein Gefühl, das aufkommt, weil etwas – im Alltagsleben die »Tücke des Objekts« – oder jemand einen stört, belästigt, plagt, nervt. Es gibt dann ein Hindernis für das, was man gewöhnlich tut. Ärger an sich deutet nicht auf ein wirkliches Problem, eines, das sofort gelöst werden müsste oder nur unter erheblichem Aufwand gelöst werden könnte. Ärger ist wie eine Fliege, die einem um den Kopf surrt, über das Kinn krabbelt und die Nase kitzelt. Man versucht, sie zu verjagen, ein, zwei, mehrere Male. Und schließlich lässt man es, entweder weil man zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt ist, oder zu müde, oder vollkommen entspannt, »gelassen« im deutsch-Heideggerschen Sinn. Oder man reagiert verärgert, ungehalten, selbst etwas wütend und versucht, »dieses Miststück« zu fangen, zu erschlagen oder gar zu erschießen. Es gibt einige berühmte Beispiele dafür aus unserer Wer2 | Vgl. dazu auch Früchtl, Josef/Scholz, Natalie: »Emotional Democracy in Praxis«, in: Krisis. Tijdschrift voor actuele filosofie 1 (2015): »Perspectives for the new university«, S. 34-42.
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be-, Comic- und Filmkultur: Da ist zuerst – von Mitte der 1950er bis Mitte der 1980er Jahre in Deutschland nahezu jedem Fernsehzuschauer bekannt – das HB-Männchen (»Halt, wer wird denn gleich in die Luft geh’n! Greife lieber zu HB. Dann geht alles wie von selbst.«) Die Zigarette gilt hier (noch) als Beruhigungs- und Problemlösungsmittel. Dann ist da Lucky Luke, der Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten. Eine Fliege, auch im Flug, zu treffen, ist – oder wäre – für ihn kein Problem. Ein Beispiel für eine spaßige Zwischenoption findet sich in der berühmten Eröffnungssequenz von Sergio Leones Spiel mir das Lied vom Tod (1968). Einer der Revolvermänner – dargestellt von Jack Elam in seinem unrasiertesten und verknittertsten Gesicht – fängt eine Fliege im Pistolenlauf und horcht dann geradezu zärtlich nach ihrem verzweifelten Brummen. Die Schwelle, an der Ärger sich in Ungehaltenheit, Wut und schließlich Zorn transformiert, ist die des Handelns. Denn diese Gefühle können sozusagen nicht stillsitzen. Sie müssen aktiv gegen ihre Ursache angehen. Geschieht dies nicht, schlucken – wie man zutreffend sagt – die Menschen ihre Wut hinunter, transformieren sie eine psychische in eine physische Tatsache und werden nach den Regeln der Psychosomatik früher oder später krank. In der Bildungspolitik lässt sich so eine Entwicklung – vom Ärger zum Zorn – seit Mitte der 1990er Jahre beobachten (Das war im Übrigen auch die Zeit, als im intellektuellen Diskurs der Begriff der Postmoderne langsam verschwand.). Zu dieser Zeit hatte sich der Begriff des Neoliberalismus, ursprünglich der Name einer ökonomischen Theorie, die in den 1960er Jahren an der University of Chicago ausgearbeitet wurde, bereits so erfolgreich im politischen Diskurs etabliert, dass er zu einem Kampf begriff geworden ist (wiewohl niemand sich öffentlich und positiv dazu bekennt). 1999 startet er unter dem Namen der »Bologna-Erklärung« seine Attacke gegen die europä ischen Universitäten in der wohlklingenden Absicht, einen vereinheitlichten europäischen Bildungssektor zu schaffen, in dem die Studierenden zwischen Helsinki und Palermo, Bratislava und Porto mühelos ihre Universität wechseln können und ihnen mit einem allseits anerkannten Zertifikat (das ECTS-System) der ganze europäische Arbeitsmarkt offensteht. In den Niederlanden entschied die Regierung bereits ein paar Jahre vorher, öffentlichen Institutionen wie Universitäten, Schulen und Krankenhäusern die Verantwortung für ihre Immobilien zu übergeben. Als die Universität von Amsterdam (UvA) das Projekt vorstellt, sich städteplanerisch um vier »Zentren« herum zu reorganisieren, war damit der erste Schritt in ein langsam anwachsendes Desaster getan. Um dieses Desaster mit ein paar Zahlen zu resümieren: 2008 – im Jahr des Bankrotts von Lehman Brothers – nahm die UvA ein Darlehen von 55 Millionen Euro auf. Zum ersten Mal in ihrer langen Geschichte seit 1632, dem viel beredeten Goldenen Zeitalter, wurde diese Universität zum Nettoschuldner.
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2011 war die Nettoschuld bereits auf 136 Millionen Euro angewachsen, für 2018 erwartet man eine Schuldenlast von 400 Millionen Euro.3 Die damit einhergehende Veränderung der Managementstrukturen dokumentiert sich bei den Angestellten im zentralen Verwaltungsgebäude – dem Maagdenhuis (Haus der Jungfrauen), so genannt, weil es einst ein Waisenhaus für katholische Mädchen war – folgendermaßen: Von den insgesamt knapp 50 Angestellten sind etwas mehr als 20, beinahe die Hälfte, zuständig für Immobilienmanagement, 13 für den Bereich Finanzen, 8 für den Bereich Kommunikation (sprich Werbung) und schließlich 7 für Lehre und Forschung, also für jenen Bereich, der einmal den Kern der Universität ausmachte. An meiner Universität ist er zusammengeschrumpft auf ein Siebtel des gesamten Umfangs. Diese ökonomische Entwicklung brachte, wie wir mittlerweile alle wissen, eine drastische Veränderung der akademischen Arbeit mit sich; eine Veränderung, die – wie meistens – in kleinen Schritten einsetzte und daher schwer als das zu identifizieren war, was sie tatsächlich war: die Neuformulierung akademischen Lebens in Begriffen quantifizierbarer ökonomischer Effizienz, Profitabilität und Transparenz (deren Kehrseite Kontrolle heißt). Jeder einzelne dieser kleinen Schritte war nur ärgerlich und erschien nicht als gefährlich, aber die Summe führte zu einem »moralischen Schock«.4 Dieser Schock stellte sich an meiner Universität ein, als im Herbst 2014 – nur zwei Jahre nach der letzten enorm arbeitsintensiven Restrukturierung der Fakultät der Geisteswissenschaften – ein neuer Plan aufkam. Als Ursache wurde dieses Mal die Finanzlage angegeben. Eine enorme Summe spukte durch die Flure der Departments. Aber niemand konnte erklären, wieso es binnen eines Jahres – im letzten Jahresbericht war noch von einer finanziell gesunden Fakultät die Rede gewesen – zu einem solchen Schuldenberg hatte kommen können. Der Dekan der Fakultät kündigte eine efficiency-battle an, deren Kern schlicht darin bestand, dass knapp hundert (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) Mitarbeiter – auch solche mit festen Verträgen – entlassen werden sollten. Dies war der Moment, als die politischen Emotionen explodierten. Die ersten Briefe und Petitionen zirkulierten, und als eine große Gruppe aktiver Studenten eine »Night of Protest« organisierte, konnte man erleben, wie all die Frustration und Ärger, der sich – auch bei vielen Dozenten – angestaut hatte, losbrachen. Wenig später besetzte ein Kern der aktiven Studenten das Verwaltungsgebäude der Fakultät und – nachdem dieses durch Polizei geräumt worden war – prompt das Verwaltungsgebäude der Universität, das Maagdenhuis. Für etwa sechs Wo3 | Vgl. Engelen, Ewald/Fernandez, Rodrigo/Hendrikse, Reijer: »How finance penetrates its other: a cautionary tale of the financialization of a Dutch university«, in: Antipode, Vol. 46, No. 4 (2014), S. 1072-1091, hier S. 1083. 4 | Vgl. Jasper, James M.: »Emotions and Social Movements: Twenty Years of Theory and Research«, in: Annual Reviw of Sociology 37 (2011), S. 285-304.
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chen wurde dieses Gebäude daraufhin umfunktioniert zum zentralen Ort des Protests. Vorlesungen, Workshops, künstlerische Aktivitäten, Saturday NightSessions und immer wieder Vollversammlungen reihten sich aneinander. Das vormals dezent Ehrfurcht gebietende Gebäude war zum Anschauungsbeispiel einer open university im demokratischen Sinn geworden. Die Rektorin, die in der Manier einer Regentin in der Nacht der Besetzung ausgerufen hatte, dies sei »ihr« Haus, musste schließlich zurücktreten. Zwei unabhängige Kommissionen wurden eingerichtet, die das Finanzgebaren und Optionen der Demokratisierung der UvA untersuchen sollen. Das Thema der Hochschulpolitik stand in den gesamten Niederlanden endlich wieder hoch auf der Agenda.
Z orn und A chtung : eine B al ance Treten wir für einen Moment zurück und fragen uns allgemein, welche Rolle der Zorn im politischen Streit spielt. Er scheint zunächst nicht gesellschaftsfähig in seiner exaltierten Stimmlage, aggressiven Körperlichkeit und im Gebrauch unflätiger Worte. Ich verweise noch auf ein anderes Beispiel, dieses Mal aus der HBO Fernsehserie Treme (2010-2013), die das Leben einer Gruppe von Menschen, vor allem Musikern und Mardi Gras Indians, in New Orleans nach dem verheerenden Hurrikan im Jahr 2005 verfolgt. Einer von ihnen ist ein College-Professor, gespielt von John Goodman, der sich eines Nachts dazu entschließt, dem Vorbild seiner Tochter zu folgen und das Internet als Kommunikationsmöglichkeit zu nutzen. Seine politische Wutbotschaft, gerichtet an George W. Bush und all jene, die meinen, man solle New Orleans, diesen Sündenpfuhl, am besten gar nicht mehr auf bauen, endet mit dem – mittlerweile legendären – Ausruf: »Fuck you, you fucking fucks!«5 (Man beachte, dass ein Kollege des Professors anerkennend bemerkt, welch literarisch-rhetorische Qualität in diesem Wutausbruch steckt. »Fuck is a command, fuck is an adjective, fuck is a noun.« Zu dieser ästhetischen Wirkung komme ich etwas später.) Anders aber, als man erwartet, ist Zorn ein geachtetes Gefühl im abendländischen Wertekanon. Das beginnt schon mit dem ersten Dokument der abendländischen Literatur und einem der berühmtesten Helden unserer Kultur: »Den Zorn singe« des Achill, lauten die ersten Worte von Homers Ilias (in der klassischen deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß). Auch in der Philosophie ist Zorn ein anerkannter Begriff, denn im Unterschied zu anderen aggressiven Affekten – Affekten, die Aktivität und Gewalt befördern, etwa Hass, Neid und Eifersucht – drückt Zorn sich auch in einer moralischen Sprache aus. Er reagiert auf Ungerechtigkeit. Daher gibt es »gerechten« und 5 | Ursprünglich ein Slogan des politischen Bloggers Ashley Morris, Professor für Computer Science in Chicago (en.wikipedia.org/wiki/Ashley_Morris_(blogger)).
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»heiligen« Zorn. Er entsteht für gewöhnlich, wenn jemand gegen eine Norm verstößt, die für einen selber sehr wichtig ist. Es ist nicht klar, ob so ein Gefühl konstitutiv ist für Moral, aber es wirkt sicher als ein Indikator: keine Gefühle, keine Relevanz (der Normverletzung). Zorn und Empörung bestimmen aber für gewöhnlich nicht einen Protest; jedenfalls dürfen sie ihn nicht (ausschließlich) bestimmen, wenn er erfolgreich sein soll. Sie sind anstoßende und treibende Gefühle in der Dynamik eines politischen Protests. Aber an einem gewissen Punkt müssen sie durch andere Gefühle oder moralische Werte ausbalanciert und kompensiert werden. Obenan steht hier das Gefühl oder der moralische Wert der Achtung. Ich sage »Gefühl« und »moralischer Wert«, weil Achtung beides sein kann, und zudem in intern noch einmal differenzierter Weise.6 Da dieses Ausbalancieren – von Zorn und Achtung oder anderen Gefühlen – eine Regel ist, die nur praktisch erlernt und immer wieder testend angewendet werden kann, gibt es auch keine Regel, die diese Anwendung sichern könnte. Immanuel Kant spricht von »Urteilskraft«, Ludwig Wittgenstein hat diese
6 | Es ist in der Philosophie strittig, ob es sich bei der Achtung überhaupt um ein Gefühl handelt. Denn ein Gefühl überfällt uns und kann daher nicht von unserem Willen kontrolliert werden. Fasst man Achtung demgegenüber als prinzipienkonstituierte Haltung, so kann man es zwar als moralisch begreifen, aber nur abgelöst von der Gefühlsebene (vgl. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge [Hg.]: Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 35ff.). Es gibt darüber hinaus noch andere Bedeutungsebenen der Achtung. In der Politik etwa gilt die Achtung einem Menschen, aber nicht einer Person (Während man moralisch, wieder mit Kant gesprochen, den Menschen bzw. die Menschheit in der Person achtet.). Als Person repräsentiert der Politiker eine bestimmte Politik und muss sich dafür gegebenenfalls rüde verbale und manchmal auch symbolisch-körperliche Attacken gefallen lassen; dann trifft ihn ein roter Farbbeutel, den ein Kriegsgegner auf ihn geworfen hat, da er den Politiker als (mit) verantwortlich für einen bestimmten Krieg erachtet. »It’s politics, not personal«, heißt die Formel dazu. Eine Formel, die im Übrigen auch für die Wirtschaft gilt: »It’s business, not personal«, sagt der Unternehmer und kündigt einen Geschäftsvertrag mit einem befreundeten anderen Unternehmer. Und schließlich gibt es noch die Bedeutungsebene der Zivilität, bürgerlich gesprochen: der Höflichkeit. Sie ist eine habitualisierte Haltung der Achtung, die weder beschränkt ist auf einzelne Menschen und entsprechende Gefühle, noch kantianisch ausgedehnt ist auf alle Menschen und entsprechend deemotionalisiert. Zivil sein heißt, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir alle Fehler machen, zugleich sich aber einer Dimension bewusst zu sein, die größer ist als wir in unserer Unzulänglichkeit. Diese Größe spielt hinüber ins Erhabene, und das ist auch der Grund, weshalb Kant die Achtung eng mit diesem Gefühl verknüpft (vgl. wiederum C. Demmerling/H. Landweer [Hg.]: Philosophie der Gefühle, S. 42ff.).
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Problematik ebenfalls zu einem Thema seines insistierenden Nachdenkens gemacht. Praktisches Wissen ist habitualisiertes Wissen, »knowing how« statt »knowing that«. Und es ist primär diese Art von Wissen, die auch im Bereich der Ästhetik am Werk ist. Denn auch der Künstler folgt, wie wiederum Kant erläutert, einer Regel, die nicht explizierbar, sondern nur als Akt imitierbar ist. Und der Interpret eines Werks bedarf der Performativität oder Empraxis, des leiblich eingebundenen Handelns: Ein Werk interpretieren, am offensichtlichsten ist das an einem Musik- oder Theaterstück, heißt es praktisch nachzuvollziehen, es – als Musik – zu spielen und – als Theaterstück – zu inszenieren.7
Ä sthe tische Tr ansformation So viel in aller Kürze zur ersten Option des Umgangs mit Gefühlen im politischen Raum. Im Falle der zweiten Option, der Transformation von Gefühlen, tritt das Ästhetische erheblich stärker in den Vordergrund. Das zeigt sich auf allen drei Ebenen, auf denen eine erfolgreiche politische Aktion Gebrauch macht von ästhetischen Ausdrucksformen. Es sind dies die Ebenen der Sprache (Rhetorik), der Bilder und der körperlichen Vergegenwärtigung.
7 | Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 212f. (B 139, § 32), S. 245 (B 185, § 47), S. 255 (B 201, § 49); Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 189-190, sowie »Fragment über Musik und Sprache«, in: ders., Gesammelte Schriften 16: Musikalische Schriften I-III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 253; »Empraxis« ist ein Begriff, den Karl Bühler 1934 in die Sprachtheorie eingeführt hat, der aber auch und vor allem im Bereich des Tanzes und des Sports Anwendung findet (vgl. Caysa, Volker: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/New York: Campus 2003).
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Als bei der »Night of Protest« in Amsterdam, organisiert von Studierenden der Humanities, eine Studentin ihre kurze Rede mit den Worten beendete: »I am Julia. I am human. I am Humanities«, hatte der Protest seinen ersten Slogan. Posters folgten sogleich, und viele spielten mit dem Slogan. Auf einem von ihnen schaut Vincent van Gogh uns als Betrachter in einem Selbstportraits an. Der Maler als verarmter Künstler in all seiner Farbenpracht. Die Untertitelung wirkt hier wie ein aus der Vergangenheit wieder geholtes Menetekel: »I am human. Humanities Amsterdam«. (Foto Van Gogh) Als direkte Warnung dagegen wirkt das Poster über weitere finanzielle Kürzungen in der Fakultät der Humanities: (Foto »Brain«). Die Protestbewegung selber gab sich zügig einen Namen: »ReThink UvA«, und als ihr Logo wählte sie einen Stempel mit ihrem Namen quer und wuchtig auf das Logo der Universität gesetzt (drei vertikal gereihte Andreaskreuze, wovon das mittlere vom Buchstaben »U« – für »Universität« – umklammert wird). (Foto »Rethink«) Die bürokratische Handlung, einen Stempel auf ein Papier zu setzen und ihm damit Autorität zu geben, wird annektiert und gegen die alte Autorität ausgespielt.
Enorm wichtig ist auch das Kommunikationsmedium Twitter. Tweets müssen kurz sein. Meistens dienen sie dazu, Neuigkeiten zu verbreiten, manchmal auch Klatsch (der bekanntlich eine effektive politische Waffe sein kann), und mittlerweile endemisch hate speech. (Neben den Stammtischen und den Fan-Kurven in Fußballstadien bietet Twitter ja ein – mehr oder weniger – legitimes Ausdrucksmedium – mehr oder weniger – unfiltrierter Meinungsäußerung in unserer Kultur.) Aber immer wieder gab es Tweets, die, rhetorisch-politisch gesehen, sehr gut formuliert waren. Das heißt, sie hatten eine Botschaft, die sie mit Hilfe einer bereits zum populären Kulturgut gewordenen anderen Botschaft kommunizierten. Dieses Spiel von De- und Rekontextualisierung ist fast immer mit Witz verknüpft. Nachdem das Rektorat (College van Bestuur, CvB) nach Wochen des Protests endlich einen entgegenkommenden Schritt getan und einen Zehn-Punkte-Brief zur weiteren, dieses Mal – laut Ankündigung – konstruktiven Diskussion vorgelegt hatte, tauchte der Tweet auf: »The
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#CvB proposal seems like a huge step for them, but it’s a small step for humanity #houstonwestillhaveaproblem«, in Anspielung an das berühmte Zitat des ersten (wirklichen) Mannes auf dem Mond 1969 (»That’s one small step for (a) man, one giant leap for mankind«). Und da die Protestbewegung skeptisch war über die wirklichen Absichten des Rektorats, schickte man ihm per Tweet eine Warnung zu, die auf einen Song von Police Bezug nahm, der seinerseits auf einen Slogan der Überwachungsgesellschaft anspielt (»Big Brother is watching you!«) und ihn für ein zartes, aber zwielichtiges Liebeslied nutzt: »#CvB Every word you say, every game you play, we’ll be watching you.« Wie meistens bei Protest- und Demokratiebewegungen ließ sich also auch in Amsterdam ein bunter Ausbruch von Kreativität auf dem weiten Feld der populären Kultur beobachten. Und was noch wichtiger ist: Diese Kreativität war Ausdruck und zugleich rückwirkend Auf baumedium von positiver Motivation. Wenn diejenigen, die eine – meistens sehr kleine – Protestbewegung formen, sich selbst stilisieren als Kämpfer gegen den Rest der Welt, philosophisch formuliert: als Kämpfer gegen eine Gesellschaft im Bann negativer Totalität, ist ja eine große Portion Humor, Gelassenheit oder intellektueller Narzissmus nötig, um nicht dauerfrustriert zu werden. Vor diesem Hintergrund optiert politisches Handeln entweder für Gewalt oder bescheidet sich damit, eine Flaschenpost zu senden. Theodor W. Adorno steht bekanntlich für die gewaltfreie, verzweifelnd hoffende Option. Die Kunst sieht er dementsprechend als versprengte Botschaft, als eine im Kunstbetrieb umherirrende Untote. Aber Hanns Eisler hat ihn, einer Anekdote zufolge, bereits flapsig darauf aufmerksam gemacht, was denn in dieser Flaschenpost schon anderes zu lesen sein solle als: »Mir ist so mies«.8 Die politischen Aktionen rund um das Maagdenhuis in Amsterdam erzählen ebenfalls eine andere Geschichte, eine, die einem anderen Kollegen Adornos näher steht, nämlich Herbert Marcuse. Es sind demnach auch und vor allem ästhetische Erfahrungen, die, in Anspielung an einen Song der Rolling Stones, dazu motivieren, dass die »poor boys« – und inzwischen auch girls und alles, was queer hinzukommt – weitermachen, keep on rollin’, mit ihrem »fighting in the street«.
8 | Lüdke, W. Martin: »Das utopische Motiv ist eingeklammert: Gespräch mit dem Literatursoziologen Leo Löwenthal«, in: Frankfurter Rundschau vom 17.05.1980; englisch publiziert als: »The Utopian Motif in Suspension: A Conversation with Leo Löwenthal«, in: New German Critique Nr. 38 (1986), Spring-Summer, S. 105-111.
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K ritische Theorie und K ulturkritik Indem ich die Stammväter der Kritischen Theorie aufrufe, bin ich bei der zähen, ebenso klebrigen wie unnachgiebigen Frage nach dem Status von Kulturkritik angelangt. Die alte Kritische Theorie hat diesbezüglich ja vor allem zwei Thesen Nachdruck verliehen. Zum einen der These, dass es einen Vorrang der sogenannten höheren vor der niederen Kultur gebe. Zum anderen der These, dass man über einen Begriff wahrer Kultur verfügen müsse. Für Horkheimer und seine Mitstreiter ist also ein hierarchisch-elitärer und normativer Kulturbegriff leitend. Dementsprechend sind zwei Fragen zu stellen: Ist die Behauptung, man wisse, was Kultur in Wahrheit sei, aufrechtzuerhalten und wenn ja, in welcher Form? Und ist die hierarchische Trennung der Kulturbereiche aufrechtzuerhalten? Die zweite Frage ist gegenwärtig einfacher zu beantworten. Theorieintern betrachtet, basiert die Überordnung der sogenannten ernsten über die unterhaltende Kultur wesentlich auf der These von der Gesellschaft als einer negativen Totalität, einer marxistisch-soziologisch gewendeten hegelianischphilosophischen These. Die Gesellschaft erscheint demnach als (beinahe) geschlossenes System, demgegenüber im Prinzip allein die Kunst und die Philosophie einen Ausweg weisen. Diese Generalthese ist mit jenem Strang der Kritischen Theorie, der von Walter Benjamin über Erich Fromm und Marcuse zu Jürgen Habermas reicht, sehr zweifelhaft geworden. In der Nachfolge dieses Theoriestrangs richtet sich das Interesse auf jene sozialwissenschaftlichen Einsichten, die seit den späten 1960er Jahren feststellen, wie sich in der westlichen, europäisch und US-amerikanisch geprägten Welt eine hedonistisch und auch narzisstisch gekennzeichnete Lebensform durchsetzt, als scheine der Kapitalismus selber seine von Max Weber untersuchten protestantischen Grundlagen aufgezehrt zu haben und einer solchen Umwertung der Werte zu bedürfen. »Ästhetisierung der Lebenswelt« ist eine bekannte pointierende Formulierung für diesen Sachverhalt.9 In den gesamtgesellschaftlich bestimmenden kulturellen Milieus hat sich demnach das cross
9 | Vgl. Bell, Daniel: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York: Basic Books 1976; Lasch, Christopher: The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York: Norton 1979; vgl. speziell für die deutschen Verhältnisse Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus 1992; zur »Ästhetisierung der Lebenswelt« vgl. Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 143-156; vgl. aus kulturhistorischer Sicht Poiger, Uta: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley: University of California Press 2000; Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M.: Fischer 1997.
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over von Trivialem und Anspruchsvollem durchgesetzt. Man hört Mozart und Verdi ebenso wie Miles Davis und natürlich die Beatles, liest Charles Baudelaire ebenso wie Karl May und Donald Duck, staunt über Cézanne ebenso wie über Billy Wilder und Quentin Tarantino. Diese Haltung impliziert dabei keineswegs, dass Unterschiede verwischt werden; sie nimmt die verschiedenen Kulturen vielmehr in ihrem je eigenen Sinn. Schwieriger steht es mit der Beantwortung der Frage, ob Kulturkritik einen normativen Begriff von Kultur voraussetzen müsse. Kann man Kultur kritisieren ohne die Prämisse, man wisse, was Kultur in Wahrheit sei? Darauf eine Antwort zu geben, setzt zunächst einmal voraus, dass wir eine hinreichend deutliche Vorstellung davon haben, was Kultur überhaupt sei. Ohne mich in die in dieser Sache bekannten Verwicklungen einer definitorischen Erklärung einzulassen, ist es im vorliegenden Zusammenhang klar, dass der Begriff der Kultur jene beiden Bereiche umfasst, die ich eben schon genannt habe: den Bereich der anspruchsvollen und der im doppelten Sinn einfach unterhaltenden Kultur, also Kunst und Populärkultur. Der Bereich der Konsumkultur steht in engem Verhältnis vor allem zur Populärkultur, ist aber mit ihr nicht identisch; nicht alles, was populär ist, ist schon deshalb bloßes Konsumobjekt. Der Begriff der Konsumkultur zehrt allerdings von einem anderen Hintergrundkonzept. »Kultur« hat hier eine holistische Bedeutung und meint eine Lebensform. Der Akzent verschiebt sich damit deutlich von der Ästhetik zur Ethik, von den Formen ästhetischer Lust zu denen eines guten, gelingenden oder glücklichen Lebens. Das hat eine markante Konsequenz für die Kulturkritik. Denn wer Kultur im holistischen Sinn kritisiert, kritisiert eine Lebensform und nimmt somit eine ethische Haltung ein. Sie aber ist immer normativ, sie macht klar, wie etwas sein sollte. In diesem allgemeinen Sinne ist sie wertend. Der holistische Begriff von Kultur impliziert also letztlich eine anthropologische, vermutlich zuerst von Aristoteles formulierte These: dass das Lebewesen Mensch nämlich nicht umhin kann, sich auf das Gute auszurichten. Ein Leben, das sich nicht von dem leiten ließe, was es selbst als gut begreift, wäre im anthropologischen – und psychologischen – Sinne sinnlos. Charles Taylor hat dies mit Nachdruck herausgearbeitet. Mit Hilfe von Phänomenologie und Hermeneutik betont er meines Erachtens zu Recht, in welchem Maß spezifische moralische Normen abhängig sind von einem relevanzeröffnenden Hintergrund, den er »Hypergut« (hypergood) oder »Quelle« (source) nennt. Die Bedeutung, das heißt der Sinn und die Relevanz einer moralischen Norm hängen ab von einem umfassenden Kontext, der historisch variiert – Taylor verhandelt vor allem die drei Quellen von jüdisch-christlicher Religion, wissenschaftlichem Rationalismus und romantischem Expressivismus – und nie wertneutral zu eruieren ist. Kennzeichnend für die Moderne ist dabei, dass zwischen den Quellen ein Konfliktverhält-
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nis besteht, das sich nicht versöhnlich ausgleichen lässt. Die Quellen moderner Identität sind auch die Quellen fundamentaler Identitätskonflikte.10 Für Kritik hat dies eine zusätzliche Konsequenz. Nietzsche hat sie vermutlich als erster gezogen in seinem Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben«. Die Art der Geschichtsbetrachtung hängt dort ab von dem Zweck, der Idee des guten Lebens, der ein Individuum oder ein Kollektiv folgt. Wer »Großes« schaffen will, muss sich die Geschichte »monumentalistisch« aneignen; wer wissen will, wie man geworden ist, was man ist, muss zur Geschichte ein »antiquarisches« Verhältnis einnehmen; wer das Fortwirken von Geschichte als Last empfindet, muss ihr mit einer »kritischen« Haltung gegenüber treten. Jede Einstellung hat Vor- und Nachteile, keine ist objektiv einer anderen vorzuziehen. Das lässt sich problemlos auf die Konzeption von Kritik, speziell von Kulturkritik, übertragen. Kritische Theorie meint dann nichts anderes als den zeitspezifischen und situationsangemessenen Wechsel der Kritikperspektive. Die theoretische Einsicht darein, was jeweils einer Epoche und einer Situation angemessen sei, ist dabei nicht nur in dem Sinne abhängig von der Ethik, dass wir zu dieser Einsicht eine Idee des guten Lebens voraussetzen müssen, sondern dass wir auch an die Grenzen der argumentativen Überzeugungskraft stoßen. Für die eigenen Überzeugungen – das gilt gewiss im Bereich der Ethik – lässt sich letztlich nämlich nicht argumentieren, sondern nur zeugen oder bürgen, das heißt performativ einstehen durch die eigene Lebenspraxis.11 Für dieses Konzept einer ethisch rückversicherten Kulturkritik lässt sich schließlich auch das Attribut des Ästhetischen gebrauchen. Denn die konflikthafte, legitimatorisch destabilisierte Moderne, die Taylor analysiert, ist, positiv ausgedrückt, eine legitimatorisch bewegliche und offene Gesellschaft und Kultur, im Sinne von Lebensform, die auf viele Formen von Begründung baut. Ästhetisch darf man sie insofern zu Recht nennen, als die Kunst, das Schöne und das ästhetische Urteil in der europäisch-westlichen Denktradition von jeher strenge Begründungsansprüche abgewiesen haben (allerdings nicht Begründungsansprüche per se); sofern der Bereich des Ästhetischen also epistemologisch fundamental antifundamentalistisch angelegt ist. Eine in diesem strukturellen Sinn ästhetisch verstandene Moderne bildet offensichtlich auch den geeigneten Rahmen für die Regierungs- und Lebensform der Demokratie. Einer demokratischen, auf 10 | Vgl. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 204, S. 855-860. 11 | Vgl. dazu Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 156ff.; zur performativ verbürgten Lebenspraxis vgl. Habermas, Jürgen: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 187-241, hier S. 206ff.; Individualität kann demnach nicht deskriptiv, sondern allenfalls performativ-ethisch gefasst werden.
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politische Selbstbestimmung gegründeten Gesellschaft ist, wie Richard Rorty es ausgedrückt hat, eine »Kultur ohne Zentrum« angemessen, eine Lebensform, »deren Schwerpunkt ständig wechselte, je nachdem, welche Person oder Personengruppe« – und wir können hinzufügen: welche kulturelle oder soziale Institution (Religion, Politik, Wissenschaft, Kunst und schließlich Populärkultur) – »zuletzt etwas Anregendes, Originelles und Nützliches geleistet hat.«12 So schließt sich in meiner Darstellung der Kreis. Ich habe zu zeigen versucht, auf welche Weise die konsumfreundliche Populärkultur im Zusammenhang eines demokratisch-politischen Protests etwas Nützliches und Originelles beizutragen vermag, nämlich das Transformieren – und indirekt Ausbalancieren – von Gefühlen, die politisch unverzichtbar, aber verabsolutiert unannehmbar sind. Am Ende zeigt sich, dass diese Leistung sich bestens fügt in eine ästhetische Kultur in jenem weiten, strukturellen Sinn, der eine kompetitive, antifundamentalistische und zudem hedonistisch aufgewertete Pluralität von Institutionen und Rationalitätsformen meint. Kritische Theorie heißt, sich in dieser pluralen Kultur, orientiert an der Idee des guten, oder besser des nicht beschädigten Lebens13, gekonnt zu bewegen.
L iter aturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Ders.: »Fragment über Musik und Sprache«, in: ders., Gesammelte Schriften 16: Musikalische Schriften I-III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 251-256. Bell, Daniel: The Cultural Contradictions of Capitalism, New York: Basic Books 1976. Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. Caysa, Volker: Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/New York: Campus 2003. Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge (Hg.): Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007. Engelen, Ewald/Fernandez, Rodrigo/Hendrikse, Reijer: »How finance penetrates its other: a cautionary tale of the financialization of a Dutch university«, in: Antipode, Vol. 46, No. 4 (2014), S. 1072-1091. Früchtl, Josef/Scholz, Natalie: »Emotional Democracy in Praxis«, in: Krisis. Tijdschrift voor actuele filosofie 1 (2015): »Perspectives for the new university«, S. 34-42.
12 | Rorty, Richard: »Vorwort«, in: ders., Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 1993, S. 5-12, hier S. 5. 13 | Adornos Minima Moralia tragen den Untertitel: Reflexionen aus dem beschädigten Leben.
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Ders.: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Habermas, Jürgen: »Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu George Herbert Meads Theorie der Subjektivität«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 187-241. Hoggett, Paul/Thompson, Simon: »Toward a Democracy of Emotions«, in: Constellations, Vol. 9, No 1 (2002), S. 106-126. http://en.wikipedia.org/wiki/Ashley_Morris_(blogger) Jasper, James M.: »Emotions and Social Movements: Twenty Years of Theory and Research«, in: Annual Reviw of Sociology 37 (2011), S. 285-304. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Lasch, Christopher: The Culture of Narcissism. American Life in an Age of Diminishing Expectations, New York: Norton 1979. Lüdke, W. Martin: »The Utopian Motif in Suspension: A Conversation with Leo Löwenthal«, in: New German Critique 38 (1986), Spring-Summer, S. 105-111. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt a.M.: Fischer 1997. Poiger, Uta: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley: University of California Press 2000. Rorty, Richard: »Vorwort«, in: ders., Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart: Reclam 1993, S. 5-12. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York: Campus 1992. Taylor, Charles: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
F ilmverzeichnis Spiel mir das Lied vom Tod (Italien, USA 1968, R: Sergio Leone). Treme (USA 2010-2013, P: Paul Simon et al.).
Geld, Geltung, Gegenwert Skizze zu einer Theorie der Konsumkultur Dirk Hohnsträter
W as ist K onsumkultur ? Von Konsumkultur ist seit gut dreißig Jahren mit zunehmender Selbstverständlichkeit die Rede. Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch im wissenschaftlichen Diskurs wird der Begriff dem älteren der Konsumgesellschaft und dem kritisch konnotierten des Konsumismus vor allem dann vorgezogen, wenn man »ein gewisses Wohlwollen« signalisieren will.1 Konsum, so deutet das Kompositum an, ist auch Kultur oder jedenfalls idealerweise ein Teil der Kultur – und Kultur etwas Positives. Vereinzelt verquickt sich mit dem Begriff der Konsumkultur ein normativer Unterton, etwa wenn Walter Grasskamp »eine gewisse Warenkultur« anmahnt.2 In der Regel jedoch geht es darum, an die Stelle habituell gewordener Konsumkritik differenziertere Betrachtungen zu stellen, die im Konsum »ein relevantes Feld der Ästhetik« erblicken und ihn als etwas begreifen, »das Bedeutungen schafft, Rituale hervorbringt und zum Selbstverständnis des Menschen beiträgt«.3 Mit einem solchen Verständnis von Konsum ist eine Einstellung gewonnen, die aus den Debatten die kultur-
1 | Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013, S. 7. Zu einer unbefangeneren, den Konsum ernst nehmenden Haltung siehe bereits Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Vgl. auch den programmatischen Perspektivwechsel in Drügh, Heinz/Metz, Christian/Weyand, Björn (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin: Suhrkamp 2011. Zu einer früheren, auch konsumkritischen Verwendung des Ausdrucks Konsumkultur s. jedoch König, Gudrun: Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2009, S. 28. 2 | Grasskamp, Walter: Konsumglück. Die Ware Erlösung, München: C.H. Beck 2000, S. 149. 3 | W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 7.
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kritische Luft entweichen lässt, ohne zugleich – sei es aus Resignation, sei es aus Opportunität – ins Affirmative zu kippen. So überzeugend der im Begriff der Konsumkultur mitschwingende Blickwechsel sein mag, so uneinheitlich ist die konsumkulturelle Forschung und so unscharf bleibt, was genau unter Konsumkultur zu verstehen ist. Beispielsweise beziehen Arnould und Thompson die von ihnen geprägte Bezeichnung der Consumer Culture Theory (= CCT) denkbar weit auf »the cultural dimensions of the consumption cycle« und subsumieren darunter »sociocultural, experiential, symbolic, and ideological aspects of consumption«.4 Der Heterogenität dieser Felder entsprechend, verzichten sie trotz des griffigen Etiketts auf Theoriebildung und liefern lediglich eine Bestandsaufnahme von Konsumforschung, die sich im weitesten Sinne mit Werten, Lebensstilen, Identitäten, Praktiken und Bedeutungen beschäftigt. Dieser Befund gilt auch für den aktuelleren, Eric J. Arnould & Craig J. Thompson weiterentwickelnden Aufsatz von Annamma Joy und Eric P.H. Li, die die Konsumkulturforschung als »at the nexus of disciplines as varied as anthropology, sociology, media studies, critical studies, and feminist studies« beschreiben.5 Löst der Kulturbegriff die Konsumanalyse also einerseits aus Kritikroutinen und gibt den Blick auf eine Vielzahl fruchtbarer Forschungsfelder frei, so bleibt andererseits seine theoretische Fundierung ein Desiderat. Dies dürfte weniger am Konsum- und vielleicht nicht einmal am notorisch unscharfen Kulturbegriff als vielmehr an der Kombination beider liegen. Mag Konsum als der Erwerb, Ge- und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen grob definierbar und Kultur im Sinne der oben zitierten Dimensionen annäherungsweise bestimmbar sein, so liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, dass beide seit Grant McCrackens einschlägigem Buch Culture and Consumption 6 mit einem ›und‹ verbunden werden, um »die Prägung des Konsums durch die Kultur und die Prägung der Kultur durch den Konsum zu akzentuieren«.7 Kulturtheorie hat sich jedoch mit guten Gründen von der Vorstellung verabschiedet, Kultur als einen Sonderbereich der Gesellschaft aufzufassen, der dann – gleichsam nachträglich – mit anderen Bereichen – wie dem Konsum – in Wechselwirkung tritt. So lässt sich der »Ubiquität des kulturellen Phänomens« 4 | Arnould, Eric J./Thompson, Craig J.: »Consumer Culture Theory (CCT). Twenty Years of Research«, in: Journal of Consumer Research 31 (2005), S. 868-882; S. 868. 5 | Joy, Annamma/Li, Eric P.H.: »Studying Consumption Behaviour through Multiple Lenses. An Overview of Consumption Culture Theorie«, in: Journal of Business Anthropology 1 (2012), S. 1, S. 141-173; S. 141. 6 | McCracken, Grant: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1988. Hier ebd., S. ix. 7 | G. König: Konsumkultur, S. 27.
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analytisch nicht beikommen.8 Ich gehe deshalb mit Dirk Baecker davon aus, dass es »keine Sondersphäre der Kultur« gibt, »ebensowenig wie es ein eigenes System der Kultur gibt«.9 Kultur ist vielmehr eine »Art von Beobachtung« (die gleich genauer zu bestimmen sein wird), und die Aufgabe einer theoretisch informierten Konsumkulturforschung läge dementsprechend darin, Konsum als Kultur zu beobachten.10 Aber was heißt das? In Weiterentwicklung von George Spencer-Brown und Niklas Luhmann hat Dirk Baecker vorgeschlagen, »Kultur als Kommunikation zu beschreiben, die einen ganz besonderen Typ von Beobachtung realisiert (und als diese Beobachtung ihrerseits beobachtbar ist), nämlich die Beobachtung von Sachverhalten als Unterscheidungen und die Beobachtung dieser Unterscheidungen auf ihre Form hin«.11 Die Sachverhalte des Konsums wären also daraufhin zu beobachten, welche Unterscheidungen sie treffen, wie sie dies tun und mit welchen Wirkungen. Oder genauer: Es wäre zu beobachten, welche Differenzen den Konsum hervorbringen.12 Damit ist die Pointe einer kulturellen Beobachtung des Konsums allerdings noch nicht erfasst. Sie liegt im Formbegriff. Form bezeichnet in der hier zugrunde gelegten Kulturtheorie »(a) die Innenseite einer Unterscheidung zusammen mit (b) ihrer Außenseite, (c) der Teilung zwischen den beiden Seiten und (d) den Raum, der von der Unterscheidung hervorgerufen und in Anspruch genommen wird«.13 Durch den Formbegriff ist es möglich, nicht nur Unterschei8 | Baecker, Dirk: Beobachter unter sich. Eine Kulturtheorie, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 227. 9 | D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 227, mit der Ergänzung, dass gleichwohl »ausdifferenzierte Einrichtungen« der Kultur existieren. So wenig es sich bei Kultur um ein eigenes gesellschaftliches Funktionssystem handelt, so wenig beim Konsum. Vgl. dazu Hellmann, Kai-Uwe: Der Konsum der Gesellschaft. Studien zur Soziologie des Konsums, Wiesbaden: Springer 2013, S. 171ff. Andererseits geht der Konsum nicht in der Wirtschaft der Gesellschaft auf, wie auch Hellmann einräumt, wenn er festhält, »dass die Forschung unter Konsum auch Vorstellungen und Tätigkeiten subsumiert, die mit dem Kaufen oder Nicht-Kaufen von Sach- und Dienstleistungen nicht mehr viel zu tun haben« (ebd., S. 172). Genau deshalb bedarf es einer Konsumkulturforschung, für die Zahlungen nur ein Teilelement der Form des Konsums sind. 10 | Dieser Beobachtungstypus kann ›alles‹ als Kultur beobachten: »die Kleidung, die wir tragen, die Gläser, aus denen wir trinken, die Berufe, die wir ausüben, die Reisen, die wir unternehmen, und die Hospize, die wir zu guter Letzt aufsuchen« (D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 227). 11 | Baecker, Dirk: Wozu Kultur?, Berlin: Kadmos Kulturverlag 2000, S. 105f; Hervorhebung im Original. 12 | Zur Wirklichkeit von Unterscheidungen s. Baecker, Dirk: Form und Formen der Kommunikation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 55-69; bes. S. 57 und S. 65. 13 | D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 17.
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dungen festzustellen, sondern zu beschreiben, was sie einschließen, was sie ausschließen und auf welchen Auswahlbereich sie sich dabei jeweils beziehen. Der Formbegriff ermöglicht es, nicht nur die Differenz, sondern auch die Einheit der Differenz zu beobachten; durch ihn ist es möglich, »eine Unterscheidung als einen Zusammenhang zu denken«.14 Aber was unterscheidet Kultur dann beispielsweise von der Wissenschaft, die ebenfalls in der Lage ist, die Einheit von Unterscheidungen zu beschreiben? Als Alleinstellungsmerkmal des Kulturellen tritt – so Baecker – hinzu, dass Kultur in der Lage sei, »alle möglichen dritten Werte zu liefern, die den binären Schematismus, von denen dieses Zeitalter gekennzeichnet scheint […] zur Seite gestellt werden können. Kultur ist sozusagen der universell gewordene dritte Wert, das tertium datur als Einspruch gegen alles, was diese Gesellschaft in die Form des Entweder-Oder zu bringen können glaubt.«15 Kultur, die natürlich selbst ebenfalls Unterscheidungen trifft, könne wiederum von Theorie beobachtet werden, und diese Theorie setze der gleichsam wilden Kontingenz der Kultur »einen Blick nicht nur für die Selbstverständlichkeit einer nicht reflektierten Normalität, sondern auch für die soziale Intelligenz der Ablehnung von Reflexion« entgegen.16 Ob diese Arbeitsteilung überzeugt oder Kultur, in jedem Fall aber Kulturtheorie nicht ebenfalls zu leisten vermag, was Baecker hier der Systemtheorie zuschreibt, bleibe an dieser Stelle dahingestellt. Entscheidend für den Zusammenhang dieser Theorieskizze ist es, Kultur als Unterscheidung, Form der Unterscheidung und – im Fall ihrer Reflexion – als »Wiedervorkommen der Unterscheidung in der Unterscheidung« auffassen zu können.17 Kultur »arbeitet laufend an der Entdeckung ihrer jeweiligen blinden Flecken – mit der Konsequenz der laufenden Verschiebung dieses blinden Fleckes«.18 Damit verfügt man über eine Denkfigur, die es erlaubt, Konsumkultur in der Tiefe ihrer Staffelungen ebenso zu analysieren wie in der Einheit ihrer Form.19 14 | D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 29. 15 | D. Baecker: Wozu Kultur, S. 106. Zur Abgrenzung der Kultur von der Systemtheorie dort auch S. 147ff. sowie D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 224f. 16 | D. Baecker: Wozu Kultur, S. 153. 17 | D. Baecker: Wozu Kultur, S. 109. 18 | D. Baecker: Wozu Kultur, S. 109f. 19 | Baecker zeigt – wie Luhmann – in seinen wirtschaftssoziologischen Texten wenig Interesse am Konsum und weicht von den hier entwickelten Überlegungen teilweise ab. Vgl. Baecker, Dirk: Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988; ders.: Wirtschaftssoziologie. Bielefeld: transcript 2006, bes. S. 74 und 93 sowie neuerdings ders.: »Konsum 4.0: Eine Skizze«, in: Wirtschaftsdienst 95 (2015), H. 12, S. 8-11. Einen vom hier vorgeschlagenen Modell abweichenden Versuch, die Systemtheorie für die Konsumforschung fruchtbar zu machen, hat Kai-Uwe Hellmann vorgelegt. Ihm zufolge bildet die Konsumtionssphäre eine von der Produktionssphäre
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K onsum als U nterscheidung Welche Unterscheidungen konstituieren den Konsum? Wie sieht seine Form aus? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass zu konsumieren stets heißt, Unterschiede zu machen. Wer konsumiert, hat die Wahl zwischen einer Vielzahl an Dingen und Diensten, zumindest in der modernen Konsumkultur, von der hier allein die Rede sein soll. Sich für eine Ware zu entscheiden bedeutet, ein anderes Angebot liegen zu lassen. Dabei sind die Unterscheidungen der Konsumenten abhängig vom Auswahlbereich, von ihrer Liquidität, ihren sozialen und persönlichen Dispositionen. Aber stets gilt es, zu vergleichen, zu wählen, sich zu entscheiden, Unterschiede zu machen. Insofern ist Jean Baudrillard zuzustimmen, wenn er fordert, dass die Konsumforschung von der »Logik der Bedürfnisbefriedigung« auf die »Logik der Differenzierung« umzustellen sei.20 Baudrillard war es auch, der in Le système des objects (seinem ersten, 1968 erschienenen Buch) zwei entscheidende Merkmale der Konsumentenwahl herausgearbeitet hat: zum einen die Tatsache, dass sie strukturell unabhängig vom faktischen Kaufenkönnen Einzelner besteht (weshalb die durch Marketing erzeugte Differenz von Wunsch und Erfüllung frustriert, wenn man sich das Begehrte nicht leisten kann); zum anderen dass die Konsumenten nicht nur wählen können, sondern auch wählen müssen: »Ob man will oder nicht, die gewährte Freiheit zu wählen zwingt zum Eintritt in ein kulturelles System. Diese Wahl hat einen eigenartigen Charakter: Man empfindet sie als Freiheit, um sie nicht als Bedingung zu erleben; durch sie wird einem die ganze Gesellschaft aufgezwungen. Sich lieber diesen als jenen Wagen kaufen zu können, abkoppelte ›Kultur‹, wobei er Kultur dann in Anlehnung an Niklas Luhmann als soziales Gedächtnis bestimmt. Zurecht bezweifelt Hellmann – sich von Baecker abgrenzend – dass »das soziale Gedächtnis des modernen Konsums sich mit Zahlungsvorgängen allein begnügt« und schlägt stattdessen vor, die Werbung als »das soziale Gedächtnis des modernen Konsums« aufzufassen. Allerdings spricht die von ihm selbst zuvor beobachtete Diskrepanz zwischen Werbeabsicht und Markterfolg gegen diese Schlussfolgerung. Werbung »als Abbild wie als Vorbild« des »Konsumverhaltens« (sic!) zu verstehen, vermag zudem nicht die eigensinnige Anverwandlung von Konsumobjekten durch Verbraucher zu erfassen, die seit Michel de Certeau und den angelsächsischen Cultural Studies Gegenstand konsumkultureller Studien ist. Hellmann, Kai-Uwe: Alles Konsum, oder was? Der Kulturbegriff von Luhmann und seine Nützlichkeit für die Konsumsoziologie, in: Burkart, Günter; Runkel, Gunter (Hg.): Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 136-167; S. 161f. 20 | Baudrillard, Jean: Die Konsumgesellschaft. Ihre Mythen, ihre Strukturen, o.O.: Springer 2015, S. 91. [Frz. Original 1970] Baudrillard reduziert den Differenzbegriff jedoch letztlich auf soziale Distinktion durch Zeichengebrauch, während der hier entwickelte Ansatz einen weiten Differenzbegriff zugrunde legt.
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mag das Selbstbewusstsein stärken, aber mit der Tatsache der Wahl ist zugleich eine Zuordnung zu einer Wirtschaftsordnung gegeben.«21 Baudrillard vermengt hier Wirtschaftsordnung, kulturelles ›System‹ und Gesamtgesellschaft in einer Weise, die ein entwickelter Konsumkulturbegriff differenzieren muss, doch ist der Kern seiner Behauptung zwingend: In der Konsumkultur kann man sich nicht nur unterscheiden, man muss es auch. An dieser Stelle sollen die vielfältigen Aspekte des Konsums als Möglichkeitsraum nicht vertieft werden.22 Jedoch muss im Sinne einer formtheoretischen Analyse hinzugefügt werden, dass Konsum-als-Unterscheidung erst dann richtig faszinierend wird, wenn die Beobachter beginnen, sich im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung selbst zu beobachten. Denn in dem Wissen, dass die vergleichende Entscheidung bedeutet, das Ungewählte als Ausgeschlossenes einzuschließen, liegt der eigentliche Grund für den Infinitismus des modernen Konsums. David Wagner hat dieses Phänomen in seinem Supermarkt-Roman Vier Äpfel äußerst klar herausgearbeitet: »Damals als Kind, wenn ich mich endlich für ein bestimmtes Spielzeug entschieden hatte, regte sich in mir schon bald die Frage, ob ich mit dem anderen Spielzeug, auf das ich zugunsten des favorisierten verzichtet hatte, nicht viel besser spielen würde. Nach dem Kauf kam der Zweifel, auf die kurze Freude folgte anhaltende Reue, denn mit meiner Entscheidung hatte ich mich um alle möglichen Alternativen gebracht. Kaufen heißt also eigentlich verzichten«.23 Wo das einmal klar geworden ist, kann – wie in der Mode, jener Urform des Konsums – Ausgeschlossenes zum Ausgangspunkt einer künftigen Beobachtung werden (in der ich beispielsweise wieder zu Geld gekommen bin oder einen im Nachhinein unverständlichen Geschmacksirrtum korrigiere) sowie »durch einen anderen Beobachter jederzeit (entsprechende Motive vorausgesetzt) wieder eingeschlossen werden«.24 Dieser »Wiedereintritt der Unterscheidung in den Raum der Unterscheidung« rückt den mitlaufenden Auswahlbereich, die Außenseite neu in den Blick 25, bis eine alternative Unterscheidung getroffen wird, die die alte ersetzt (»Jeden Tag 21 | Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Dingen, Frankfurt a.M.: Campus 2007, S. 175. [Frz. Original 1968] 22 | Wie fruchtbar eine solche Perspektive etwa bei der historischen Untersuchung des Warenhauses ist, zeigt Lindemann, Uwe: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, S. 27-33, S. 86-94 und S. 73f. Zu nennen ist auch die – oftmals konsumkritisch motivierte – psychologische Glücksforschung, exemplarisch bei Barry Schwartz: The Paradox of Choice. Why More Is Less, New York: Harper Perennial 2004. 23 | Wagner, David: Vier Äpfel. Roman, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, S. 117f. 24 | Baecker, Dirk: Kulturkalkül, Berlin: Merve 2014, S. 49. 25 | D. Baecker: Kulturkalkül, S. 39. Vgl. auch Baecker, Dirk: Produktkalkül, Berlin: Merve 2017, S. 80.
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eine neue Welt«), wider Erwarten wiederholt (»Da weiß man, was man hat«) oder im Grenzfall durch Abbruch »einen Moment der Ruhe schenkt«.26 Baudrillard trifft den Punkt, wenn er das Bekämpfen blinder Flecken als konsumtreibend identifiziert: »Von hier aus erklärt sich, warum […] eine allumfassende Neugier auflebt in Sachen Kochen, Kultur, Wissenschaft, Religion, Sexualität usw. […] Alles muss ausprobiert werden: Den Menschen des Konsums treibt die Befürchtung um, er könne irgendetwas verpassen, einen wie auch immer gearteten Genuss. Man weiß ja nie […].«27
D ie F orm des K onsums Bei meiner Skizze einer differenz- und formtheoretischen Theorie der Konsumkultur bin ich vom Begriff der Unterscheidung ausgegangen. Freilich ist die Form des Konsums unterbestimmt, wenn man den Konsum lediglich als Unterscheidung beschreibt. Denn Unterscheidungen werden nicht nur von Konsumenten getroffen. Welche spezifischen Unterscheidungen machen den Konsum zum Konsum? Was genau sind die Elemente, aus denen sich die Form des Konsums zusammensetzt? Es sind – zunächst einmal (ein drittes kommt weiter unten hinzu) – Geld und Geltung. Zu konsumieren heißt, etwas Käufliches als bedeutend und nicht vielmehr nicht bedeutend zu markieren. Es heißt, in einem geldwirtschaftlichen Zusammenhang mit Dingen Umgang zu haben oder sich auf Ereignisse einzulassen, denen man Relevanz zuschreibt. Ob etwas dabei als billig oder teuer, als wertvoll oder wertlos wahrgenommen wird, hängt von der Beobachterposition und entsprechend vom mitlaufenden Auswahlbereich ab: »Ob ich mir Sportschuhe im Kontext einer Unterscheidung von Lederschuhen anschaue oder im Kontext der Unterscheidung von Markenzeichen, macht für die Sportindustrie einen gewaltigen Unterschied«, schreibt Baecker, und fügt gegen die etwa durch Baudrillard forcierte Übersemiotisierung des Konsumdiskurses hinzu, dass es auch »einen Gebrauchswert unabhängig von seiner Form, das heißt unabhängig von der Unterscheidung, die ihn zurichtet im wahrsten Sinne des Wortes, nicht geben kann«.28 Betrachten wir die beiden Elemente der Form des Konsums im Einzelnen, zunächst das Geld. Konsum ist, wie bereits oben angesprochen, Teil des ökonomischen Systems, ohne darin aufzugehen. Die Rede ist hier vom Konsum im modernen, emphatischen Sinne, nicht von einem physiologischen Konsumbegriff, der jede Art des Verzehrs umfasst, wie ihn Wolfgang Schivelbusch
26 | D. Baecker: Kulturkalkül, S. 47. 27 | J. Baudrillard: Konsumgesellschaft, S. 117; Hervorhebungen im Original. 28 | D. Baecker: Wirtschaftssoziologie, S. 93.
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vorgeschlagen hat.29 In der Moderne erfolgt der Konsum »stets marktvermittelt, monetär«.30 Dass Waren »die Geldform« besitzen, ist – mit Karl Marx – etwas, das jeder weiß, »wenn er auch sonst nichts weiß«.31 Um am Konsum teilzuhaben, muss man zahlen (oder jedenfalls in den Besitz von Waren, also käuflichen Dingen und Diensten kommen) können. Konsument zu sein, heißt – zunächst und zumeist – Käufer zu sein. Das bedeutet freilich weder, dass nur während einer Zahlungsoperation von Konsum gesprochen werden kann (um Gegenstand der Konsumforschung zu werden, genügt es, dass etwas im Verlauf einer Handlungsfolge käuflich ist bzw. sich – wie ein Werbespot, ein Ladenlokal oder eine Müllhalde – auf diese Käuflichkeit bezieht), noch dass der bloße Kaufakt bereits eine hinreichende Definition des Konsums darstellt. Den letzten Punkt hat Hartmut Rosa zu Recht betont.32 Er unterscheidet den Kaufvom Konsumtionsakt, jedoch so scharf, dass er den Ge- und Verbrauch des Gekauften als »Konsum im eigentlichen Sinne« bestimmt.33 Damit schießt er freilich übers Ziel hinaus und gibt die durch Geld und Geltung bestimmte Form des Konsums wieder auf. Wie soll Konsum dann von nichtmonetären Arten der Dinganeignung unterschieden werden? Wie können Phänomene wie Preisvergleiche oder ostentatives Understatement ohne das Zusammenspiel von Geld und Geltung beschrieben werden? Was kann auf dieser Basis über das Auffinden, Vergleichen und Auswählen der Waren gesagt werden, das einen erheblichen Teil des Konsums ausmacht und keineswegs – wie Rosa nahelegt – »fast keine Zeitressourcen bindet«?34 Hinter dieser Auffassung steckt eine für weite Teile der Konsumkritik typische Bevorzugung eines robusten 29 | Schivelbusch, Wolfgang: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion, München: Carl Hanser 2015, der dieses elementare Weltverhältnis als »Assimilationswert« bezeichnet (bes. S. 25-27). 30 | Plumpe, Werner: »Ökonomiekolumne: Konsum«, in: Merkur 67 (2013), H. 770, S. 619-627; S. 621. 31 | Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals. 31. Auflage, Berlin: Dietz 1987, S. 62. [EA 1867] 32 | Rosa, Hartmut: Über die Verwechslung von Kauf und Konsum: Paradoxien der spätmodernen Konsumkultur, in: Heidbrink, Ludger/Schmidt, Imke/Ahaus, Björn (Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten. Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a.M./New York: Campus 2011, S. 115-132. 33 | H. Rosa: Über die Verwechslung von Kauf und Konsum, S. 128. Rosa folgt mit dieser Ansicht Marx (K. Marx: Das Kapital, S. 50). 34 | H. Rosa: Über die Verwechslung von Kauf und Konsum, S. 127. Dagegen Hartmut Böhme, der zu Recht betont, dass der Konsumakt lange beginnt »bevor das Geld klingelt und die Ware seinen Besitzer wechselt: Gelüste erwachen oder werden angeregt. Schlendern in der Mall, narzisstisches Wogen in der appellierenden Flut der lockenden Dinge, visuell-taktiles Prüfen der Angebote, begleitende Phantasien ihres Gebrauchs.«
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After-Sales-Gebrauchswertes gegenüber Zeigewerten und nichtnutzwertorientierten Aneignungspraktiken. Rosas Diagnose, die Waren versprächen Optionsvermehrungen, die dann aber zum Schaden von Gesellschaft und Einzelnen nicht ergriffen würden, mag in vielen (aber in wie vielen?) Fällen handlungspraktisch zutreffen, systemisch hingegen verhält es sich genau umgekehrt: Es ist das Geld, dem die Funktion der Optionalisierung zukommt.35 Erneut David Wagner: »Die große Illusion des Einkaufens ist es, mit jedem Neuerworbenen ein Stück Zukunft oder Freiraum hinzuzubekommen. Genau das ist ein Missverständnis, denn eigentlich gibt allein Geld ein gültiges Zukunftsversprechen: Geld kann ich gegen dies oder das oder auch etwas ganz anderes tauschen. Das gilt jedoch nur, solange ich für mein Geld tatsächlich etwas kaufen kann.«36 Zum Geld sei an dieser Stelle nicht mehr als eben diese Optionalisierungsfunktion angesprochen (natürlich gibt es weitere), denn sie ist der konsumkulturelle Kern der geldförmigen Abstraktion. Halten wir daher mit Georg Simmel fest, »daß der Wert des einzelnen Geldquantums über den Wert jedes einzelnen bestimmten Gegenstandes hinausragt, der dafür einzutauschen ist: denn es gewährt die Chance, statt dieses Gegenstandes irgend einen andern aus einem unbegrenzt großen Kreise zu wählen. Freilich kann es schließlich nur für einen verwandt werden; aber die Möglichkeit der Wahl ist ein Vorteil, der im Werte des Geldes eskomptiert werden muß.«37 Die Form des Konsum umfasst Geld und Geltung (ein Drittes soll erst später ergänzt werden). Was aber ist hier mit Geltung gemeint? Die Relevanz, die ein Ding oder Dienst für einen Konsumenten hat. Um zu einem Konsumgegenstand zu werden, muss etwas nicht nur einen Preis haben, sondern jemandem (wem und auf welche Weise auch immer) etwas bedeuten.38 »In der Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 348f. 35 | Rosa hat seine These im Gespräch um die Differenz zwischen handlungspraktischer und systemischer Optionalisierung nuanciert: nach dem Kauf kann man in bestimmter Hinsicht mehr machen, hat aber insgesamt weniger Möglichkeiten. Mündliche Mitteilung am 10. Oktober 2015. 36 | D. Wagner: Vier Äpfel, S. 118. 37 | Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 267 (= Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt Bd. 6). 38 | Bedeutung ist hier also nicht im semiotischen Sinne gemeint, sondern im Sinne von ›Wichtigkeit‹, wobei letztere natürlich aus ersterer resultieren kann oder sich in zeichenhafter Form ausdrücken kann. Vgl. zu dieser Unterscheidung Hahn, Hans P.: Materielle Kultur. Eine Einführung. Zweite, überarbeitete Auflage, Berlin: Dietrich Reimer 2014, S. 13f.
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Ware«, bemerkt Hartmut Böhme, »zirkulieren nicht nur Geldwerte, sondern immer auch Bedeutungen, Symbole, Attitüden, Identifikationsmuster und vor allem Lüste, Gefühle und Phantasien. Sie müssen zwar gekauft werden […] aber in ihrer Aneignung öffnet sich ein weiter Fächer des Gebrauchs, der vom Konsumenten spezifisch realisiert und aktiv, ja kreativ genutzt wird.«39 Bedeutung (oder Geltung, Relevanz) im hier verstandenen Sinne umfasst also sowohl Bedürfnisse als auch Begehren, Versprechen ebenso wie Aneignungspraktiken und Erlebnisse.40 Ein Konsumprodukt ist etwas Käufliches, mit dem ich etwas anfangen kann, ganz gleich, ob es sich dabei um einen praktischen Nutzen, eine kommunikative Leistung oder ein affektives Erleben handelt.
G eltung : G ebr auchswert, Z eichenwert, E reigniswert Geltung, die Relevanzseite der Konsumtion, lässt sich in drei Werte untergliedern: Gebrauchswert, Zeichenwert und Ereigniswert. Dass Waren nicht nur einen Tauschwert (der in der modernen Ökonomie in Geld ausgedrückt wird), sondern auch einen auf den Nutzen bezogenen Gebrauchswert haben, ist seit Karl Marx bekannt.41 Dass Waren jedoch über ihren Tausch- und Gebrauchswert hinaus ästhetische Seiten zukommen, dass ihnen Zeigequalitäten eignen, deutet sich zwar in Marxens Fetischbegriff bereits an, wird aber erst durch Thorstein Veblen umfassender ausgearbeitet. Tatsächlich markiert Veblens Theory of the Leisure Class von 1899 sehr genau den theoriegeschichtlichen Übergang vom Geld- zum Geltungs-, genauer: zum Zeichenwert. Ginge es beim Konsum lediglich um die »Sorge um die Existenz« oder den »Wunsch nach materiellem Komfort«, erkennt er, ließe sich der Infinitismus der industriellen Entwicklung nicht erklären.42 Vielmehr verfolge man »mit der Anhäu39 | H. Böhme: Fetischismus, S. 345. 40 | Zwar gebe ich Baudrillard folgend »die landläufige Begriffsbestimmung« auf, »daß es sich beim Verbrauch bloß um einen Vorgang der Bedürfnisbefriedigung handelt«, teile jedoch nicht seine umgekehrte Einseitigkeit, den Konsum tendenziell als den »Vollzug einer systematischen Manipulation von Zeichen« zu definieren. J. Baudrillard: Das System der Dinge, S. 243 und S. 244. Vgl. auch J. Baudrillard: Die Konsumgesellschaft, S. 90, 132 und 163, dann jedoch S. 164, wo er einräumt, dass ein vollkommen funktionsloses Gadget nicht denkbar sei, da ein solches stets sekundäre Verwendung finden als auch gerade durch seine Zwecklosigkeit der Distinktion dienen könne. 41 | K. Marx: Das Kapital, S. 49-55. Bemerkenswert, dass Marx hervorhebt, es ändere nichts an der Sache, ob die durch eine Ware befriedigten Bedürfnisse »dem Magen oder der Phantasie entspringen« (S. 49). 42 | Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 48. [EA 1899]
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fung von Gütern nichts anderes, als sich eine hohe Stellung in der Gesellschaft zu erobern«, denn sozialer Status werde demjenigen zugeschrieben, der sich etwas leisten, der konsumieren kann.43 Anders ausgedrückt: »Um Ansehen zu erwerben und zu erhalten, genügt es nicht, Reichtum oder Macht zu besitzen. Beide müssen sie auch in Erscheinung treten« – und dieses In-ErscheinungTreten bewerkstellige – neben dem Zurschaustellen von Zeitsouveränität – der Konsum.44 Entsprechend bezeichnet Veblen ihn als demonstrativen Konsum (conspicuous consumption), als Geltungskonsum: »In jeder hochindustrialisierten Gesellschaft beruht das Prestige letzten Endes auf der finanziellen Stärke, und die Mittel, um diese in Erscheinung treten zu lassen, sind Muße und demonstrativer Konsum«.45 Veblen erkennt also sehr deutlich, dass käuflichen Dingen nicht nur ein Gebrauchswert, sondern auch ein semiotischer Wert zukommt – und zwar schichtenübergreifend und selbst dann, wenn existentielle leibliche Bedürfnisse dahinter zurückstehen müssen.46 Um in der modernen Gesellschaft die »flüchtigen Beschauer gebührend zu beeindrucken und um unsere Selbstsicherheit unter ihren kritischen Blicken nicht zu verlieren, muß uns unsere finanzielle Stärke auf der Stirn geschrieben stehen, und zwar in Lettern, die auch der flüchtigste Passant entziffern kann.«47 Deutlicher lässt sich der Zeichencharakter der Waren nicht ausdrücken, und in dieser Klarheit liegt Veblens Leistung. Seine Grenze besteht freilich darin, dass er den Zeichenwert ausschließlich auf mengenmäßigen Geldbesitz bezieht. Denn die symbolische Funktion des Konsums beschränkt sich keineswegs darauf, »Zeuge des Reichtums« zu sein.48 Das Bedeutungsspektrum käuflicher Dinge und Dienste umfasst – wenigstens in der entwickelten Konsumkultur – ein weitaus größeres Spektrum als die bloße Demonstration pekuniärer Potenz.49 An der Fülle konsumkultureller Zeichen und ihrer polysemischen Lektüre arbeitet sich die Forschung denn auch spätestens seit Roland Barthes’ 1957 zuerst er43 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 48. 44 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 52. 45 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 93. Veblen irrte, als er dem demonstrativen Konsum eine größere Zukunft prophezeite als der demonstrativen Muße (ebd., S. 95), ist doch Zeitwohlstand zu einem höchst begehrten Gut nicht nur von gestressten Gutverdienern geworden. 46 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 93 und S. 108. 47 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 95. 48 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 80. 49 | Zu diesem Einwand vgl. etwa die historischen Nuancierungen in W. Ullrich, Habenwollen, S. 19-21. Eine umfassendere Auseinandersetzung mit Veblen – für die an dieser Stelle kein Platz ist – müsste unter anderem darauf hinweisen, dass er mit der Einführung der Kategorien der Kennerschaft und Kultiviertheit (T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 84) seine krude auf Quantität abhebende Semiotik bereits selbst aufbricht.
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schienen Mythologies ab.50 »Ein Kleidungsstück, ein Auto, ein Fertiggericht […] Was könnten sie miteinander gemein haben?«, fragte der Semiologe 1964 und gab zur Antwort: »Sie alle sind Zeichen.«51 Barthes erläutert seinen Ansatz am Beispiel des Telefons: »ein weißes Telefon vermittelt eine gewisse Vorstellung von Luxus oder Weiblichkeit; es gibt bürokratische Telefone, und es gibt altmodische Telefone, die die Vorstellung einer bestimmten Epoche vermitteln«.52 Es ist klar, dass der Zeigewert des Telefons nicht in Veblens monetärem »Konkurrenzneid«, im »diskriminierenden Vergleich« finanzieller Vermögen aufgeht – selbst das weiße Telefon vermittelt eine Fülle von Konnotationen, die nicht alle auf den Wohlstand des Besitzers referieren.53 Zugleich ist klar, dass eine konsumkulturelle Analyse des Objekts sich nicht auf den Gebrauchswert beschränken kann, weil »es immer einen Sinn gibt, der die Verwendung des Objekts übersteigt«.54 Am Überschießen des Zeichenwerts setzt der wohl wirksamste Typ von Konsumkritik an, nämlich derjenige, der in der Differenz von Gebrauchswert und semantischer Aufladung einen Betrug sieht. »Bekanntlich läßt sich der Käufer im Laden mehr von der Aufmachung der Güter als von Merkmalen des praktischen Nutzens leiten«, beklagte – um ihn ein letztes Mal zu zitieren – bereits Veblen.55 Und Georg Simmel bemerkte bei seinem Besuch der Berliner Gewerbeausstellung im Jahr 1896 eine »Schaufenster-Qualität der Dinge«: »Wo die Konkurrenz in bezug auf Zweckmäßigkeit und innere Eigenschaften zu Ende ist – und oft genug schon vorher – muß man versuchen, durch den äußeren Reiz der Objekte, ja sogar durch die Art ihres Arrangements das Interesse der Käufer zu erregen.«56 Wolfgang Fritz Haug hat aus solchen Beobachtungen ein systematisches Argument gemacht und es in seiner zuerst 1971 herausgekommenen Kritik der 50 | Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, Berlin: Suhrkamp 2012, dessen Ziel darin bestand, die Machart moderner Mythen mit den Mitteln der Semiologie freizulegen und ihnen dadurch den Anschein des Natürlichen zu nehmen. 51 | Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 165. 52 | R. Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 189f. 53 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 49 und S. 48. 54 | R. Barthes: Das semiologische Abenteuer, S. 189. 55 | T. Veblen: Theorie der feinen Leute, S. 156. 56 | Simmel, Georg: Berliner Gewerbe-Ausstellung, in: Ders.: Soziologische Ästhetik, hg. von Klaus Lichtblau, Wiesbaden: Springer 2009, S. 61-65; S. 63f. [zuerst 1896] Der Topos ist älter. So bemerkt der Einkäufer Bouthemont in Émile Zolas 1883 erschienenen Warenhausroman Au Bonheur des Dames über die »Paris-Paradies«-Seide »ihre Wirkung« übertreffe »noch ihre Qualität« (Zola, Emile: Das Paradies der Damen. Roman. Aus dem Französischen von Hilda Westphal, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 51).
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Warenästhetik ausgearbeitet.57 Darin erweitert er die Tausch- und Gebrauchswertunterscheidung um das Gebrauchswertversprechen und findet auf diese Weise eine argumentative Stelle für das, was Simmel das ›ästhetische Superadditum‹ der Waren nannte. Es sei zu unterscheiden »erstens der Gebrauchswert, zweitens und extra die Erscheinung des Gebrauchswertes. Denn bis zum Abschluss des Verkaufsaktes, womit der Tauschwertstandpunkt seinen Zweck erreicht hat, spielt der Gebrauchswert nur insofern eine Rolle, als der Käufer ihn sich von der Ware verspricht.«58 Die Folge: »Schein wird für den Vollzug des Kaufakts so wichtig – und faktisch wichtiger – als Sein.«59 Haug zufolge überdecken die Aufmachung eines Produkts, Verpackung, Werbung und Markenname »Verschlechterungen von Material und Verarbeitung«, eine Entwicklung, die einen »radikalen Schwund an praktischer Warenkunde in der Bevölkerung« begünstige.60 Warenästhetik laufe folglich darauf hinaus, »das gerade noch durchgehende Minimum an Gebrauchswert zu liefern, verbunden, umhüllt und inszeniert mit einem Maximum an reizendem Schein«.61 Die Spreizung von »Gebrauchswertkonkurrenz« und »Eindruckskonkurrenz« führe zwangsläufig zu Enttäuschungen, da die Waren immer mehr versprächen, doch kaum etwas, bisweilen auch gar nichts davon hielten, in jedem Fall aber weit mehr Glück in Aussicht stellten als sie jemals bieten können.62 Wiewohl Haug den Begriff der Warenästhetik geprägt hat, besteht die Pointe seiner Kritik – zugespitzt gesagt – darin, dass sie im Grunde genommen gar kein Interesse an Ästhetik hat.63 Ihr entlarvendes Motiv gilt dem im Tauschwert manifesten, Haug zufolge übermächtigen Profitinteresse des Kapitals; ihr regulativer Fluchtpunkt ist ein tendenziell funktional gedachter Gebrauchs57 | Haug, Wolfgang F.: Kritik der Warenästhetik. Überarbeitete Ausgabe. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. 58 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 29. 59 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 29. 60 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 37 und S. 42. In der Gegenwart lösten sich Marken zudem von den ursprünglich mit ihnen verbundenen Artikeln ab und bildeten ein verallgemeinertes Gebrauchswertversprechen, das als »abstrakte Qualitätsgarantie« (ebd., S. 237) fungiere. 61 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 85. 62 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 53, S. 56, S. 85 und S. 80 sowie S. 330. Problematisch sei diese Entwicklung nicht zuletzt deshalb, weil die Warenästhetik auf die »Bedürfnis- und Triebstruktur« (ebd., S. 72) der Konsumenten zurückwirke und eine »Modellierung der Sinnlichkeit« (ebd., S. 120), ein »bittersüßes Training« (ebd., S. 182) zur Folge habe, dass Subjekte und Gesellschaft in ständig wachsendem Umfang warenförmig durchformatiert. 63 | Zum ersten Mal verwandte Haug den Begriff der Warenästhetik in einem 1963 erschienenen Aufsatz.
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wert. Ästhetisches bleibt dabei Vehikel fadenscheinigen Verweisens oder allenfalls ephemeres Erleben. Es ist dieses Defizit, das Gernot Böhme vor dem Hintergrund der ästhetischen Ökonomie der Gegenwart zu einer Metakritik von Haugs Kritik veranlasst hat. Böhme betont, »daß es ein legitimes Bedürfnis von Menschen ist, durch Gestaltung ihrer Umgebung bestimmte Atmosphären zu produzieren und sich selbst in Szene zu setzen. Das Atmosphärische gehört zum Leben, und die Inszenierung dient der Steigerung des Lebens.«64 Diese ästhetische Lebensausstattung erfolgt aber zu einem großen Teil und zunehmend durch Waren. Böhme bietet zwei Lesarten dessen an, was er den »szenischen Wert der Waren« nennt: zum einen sieht er ihn als einen spezifischen Unterteil des Gebrauchswertes, der eben nicht »in der Nützlichkeit zu irgendwelchen lebensweltlichen Verrichtungen besteht«, sondern »als Bestandteil eines Stils, als Element zur Erzeugung von Atmosphären« gebraucht wird; zum anderen stuft er ihn als eigenständigen Werttypus ein, nämlich den andere Werte bisweilen dominierenden oder sogar ersetzenden »ästhetischen Wert«.65 Im Zuge solcher Einwände sah sich Haug veranlasst, Warenästhetik von »Produktästhetik (oder Gebrauchswertgestaltung)« zu unterscheiden.66 Trennen lassen sich beide allerdings nur im Sinne einer zeitlichen Abfolge, eben insofern, als etwa das Design eines Produktes zunächst zum Kauf animieren und dann auch ästhetische Anregung bereiten kann: »Was bis gestern Warenästhetik war, kann heute schon ästhetische Komponente von Gebrauchswert sein«, räumt Haug im 2009 erschienenen, das erste ergänzenden Buch
64 | Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Siebte, erweiterte und überarbeitete Auflage, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 46. Gegen Haugs Diskreditierung seiner Kritiker als affirmativ ist festzuhalten, dass Böhmes Atmosphärenästhetik sich insofern als kritisch versteht, als sie zum einen szenische Gebrauchswerte ins Verhältnis zur weltweiten Befriedigung elementarer Bedürfnisse setzt und zum anderen die suggestive Kraft von Atmosphären durch »ein Wissen von ihrer Machbarkeit« brechen und »einen freieren und spielerischen Umgang« mit ihnen ermöglichen will (ebd., S. 46f). Auch Wolfgang Ullrichs Einwände gegen Haug sind alles andere als blind bejahend, s. nur W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 8, S. 11, S. 25. 65 | G. Böhme: Atmosphäre, S. 46 und S. 64. Auch Ullrich wendet sich gegen Haugs Verengung der Funktion des Ästhetischen auf Vortäuschung: »Inwieweit der ästhetische Schein auch spielerische, distanzierende, reflektierende, emanzipatorische, stimulierende, kompensatorische oder heilsame Wirkungen besitzen könnte, wird nicht diskutiert.« (W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 19f). 66 | So bereits 1981 im Vorwort zur serbokroatischen Ausgabe seines Buches (www. wolfgangfritzhaug.inkrit.de vom 29. März 2016).
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ein.67 Er bejaht also Ullrichs kritische Nachfrage, »ob Eigenschaften, die dem Produkt zuerst nur mit Blick auf eine bessere Verkäuflichkeit verliehen wurden, nicht auch dauerhaft dessen Gesamtwert erhöhen können«.68 Zugleich verwahrt er sich jedoch dagegen, »den Unterschied zwischen ästhetischem Gebrauchswertversprechen und dem im Gebrauch Erfahrbaren für nichtig zu erklären«, da zwischen beiden eben der Kauf stehe.69 Nur was bleibt dann von seiner Kritik, außer der im Grunde trivialen Feststellung, dass viele schöne Dinge ihren Preis haben? Anders gesagt, dass die Form des Konsums Geld und Geltung umfasst? Die Schwierigkeiten von Haugs Ästhetik des übermäßig versprechenden Scheins zeigen sich bereits an den begrifflichen Verrenkungen, zu denen er sich im Kapitel über Werbegeschenke gezwungen sieht. Bei deren Genuss erfolge das Gebrauchswertversprechen »im Modus […] des stellvertretenden […] Seins«; »der Schein erscheint hier gerade im Nicht-Schein«.70 Wer dieser Dialektik nicht zu folgen vermag, wird darauf verwiesen, dass die Anprobe eines prestigeträchtigen Kleidungsstücks eben dieses Prestige noch nicht verleihe. Allerdings ändert sich Haugs Reserve gegen ästhetische Wirkung, die nicht verweist, sondern ist, auch in den wenigen der Gebrauchswertrealisation gewidmeten Passagen nicht. Erneut am Beispiel der Kleidung, beschreibt er einen Hosenkäufer: »Vielleicht wird sein um die Kräfte der neuen Kleider verstärktes Selbstbewusstsein ihn für einige Zeit tatsächlich anziehender wirken lassen […]. Doch die Imagination nutzt sich ab, spätestens mit der Appretur der gekauften Kleider. Die Gewöhnlichkeit kommt durch. Der Alltag hat ihn wieder.« 71 Wo nicht von sehr soliden, dauerhaften Gebrauchswerten die Rede ist, lässt Haug kein gutes Haar am Konsumprodukt. Die Hose sei »eben nur ein schlichtes Gebrauchsding. Der Rest ist Wunsch und Vorstellung.« 72 Und selbst wo sich die Ware vom Ding zum »Erleben eines Verzehrs« verschiebe und sich »in genussvolle Vorgänge« auflöse, vermag er nicht mehr zu sehen, als dass dies den »Markt unverstopft« lasse.73 Haug mag noch so sehr versichern, Konsumenten könnten »am gelungenen Produkt sich freuen«, seine Kritik richte sich »nicht gegen die Verschönerung bestimmter Dinge, ergeht 67 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 301; vgl. auch S. 331f. und S. 227, wo er zugibt, dass »ästhetische Erscheinung« oder »Statuszeichen integraler Bestandteil des Gebrauchswerts« sein können. 68 | W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 16. 69 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 325. 70 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 58f. sowie S. 226, wo das Probehäppchen klarer als vorweggenommene, punktuelle Gebrauchswertrealisation bezeichnet wird. 71 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 161. 72 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 161. 73 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 112 und S. 220.
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sich schon gar nicht in Genussfeindschaft« und der Schein müsse »keineswegs täuschend« sein – er hat ganz einfach keinen argumentativen Ort für diese Behauptungen.74 Ästhetischer Wert ist bei Haug entweder funktionalisiert und damit suspekt oder er wird kleinlaut als legitime, aber als im Grunde unerhebliche Oberfläche abgetan: »Wir engagieren uns für eine […] Welt, in der […] das Kaufen wie das Gekaufte zurückgeführt sind auf ihren angemessenen Rang, bloße Mittel zu sein.« 75 »Der Rest ist Wunsch und Vorstellung«, hatte Haug zum Hosenkäufer gesagt. Umso besser, repliziert Ullrich, der für dieses Phänomen den Begriff des Fiktionswertes vorgeschlagen hat. »Die Warenästhetik blättert Wer-bist-DuKollektionen auf«, schreibt Haug, und gerade in diesem Angebot alternativer Selbstentwürfe und Situationen sieht Ullrich einen Wert.76 In der Konsumkultur sei es darum zu tun, »Waren über den Gebrauchswert hinaus symbolisch aufzuladen und zu Dingen zu entwickeln, die ihren Besitzern schmeicheln, sie in ihrer Einstellung unterstützen oder sogar transformieren.« 77 Entscheidend ist, dass Ullrich über die Sinnzuweisung (den Zeichenwert) hinaus von unterstützender und sogar transformierender Kraft spricht. Warenästhetisches Erleben ist mehr als ein Versprechen, es macht einen Unterschied.78 Doch so entscheidend Ullrichs Einsicht ist, so sehr scheint mir sein Terminus des Fiktionswertes diesen Gewinn wieder zu riskieren. Zum einen, weil der Begriff Intrapsychisches privilegiert, zum anderen, weil der Ausdruck Fiktion die semantische Last des Nur-Eingebildeten trägt. Unterschiede aber – und was wären konsumkulturelle Entscheidungen sonst – machen einen Unterschied, und dies nicht nur im Bewusstsein, sondern auch in der Außenwelt. Ich schlage deshalb den Begriff des Ereigniswertes vor, um die neben dem funktionalen Gebrauchswert und dem verweisenden Zeichenwert dritte Unterscheidung der Geltung des Konsums zu bezeichnen. Sie geht – das dürfte die Auseinandersetzung mit Haug gezeigt haben – nicht im Gebrauchswert auf. Daher ziehe ich auch Böhmes zweite Variante vor, die von ihm sze74 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 165, S. 180 und S. 329. Vgl. auch die kryptische Bemerkung, es sei »nicht alles Betrug, was falscher Schein ist – wenngleich sehr vieles« (ebd., S. 197). 75 | Haug, Wolfgang F.: Variationen über den Spruch ›Ich kaufe, also bin ich‹, in: Decker, Oliver/Grave, Tobias (Hg.): Kritische Theorie der Zeit. Für Christoph Türcke zum sechzigsten Geburtstag, Springe: Zu Klampen 2008, S. 21-28, hier 28; Hervorhebung D.H. 76 | W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 159 und W. Ullrich: Habenwollen, S. 47; zu den Grenzen konsumbezogener Fiktionswerte W.F. Haug: Kritik der Warenästhetik, S. 196-199. 77 | W. Ullrich: Habenwollen, S. 13. 78 | So auch sehr deutlich W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 27f., S. 44 und S. 48f.
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nisch genannten Werte nicht als Teil des Gebrauchswerts (dessen historische Semantik zu sehr mit praktischem Nutzen assoziiert ist, um ohne weiteres umdefiniert werden zu können), sondern als Werte eigenen Rangs aufzufassen. Terminologisch wähle ich anstelle des zu eng gefassten Begriffs des Inszenierungswertes und des zu weit gefassten Begriffs des ästhetischen Wertes eben den Begriff Ereigniswert. Er trägt dem nicht-semiotischen Charakter der Atmosphärenästhetik Rechnung und unterscheidet sich vom Zeichenwert, bei dem das Ästhetische auf die Verweisung abzielt. Als Ereigniswert bezeichne ich alle nicht-funktionalen performativen Ebenen des Konsums. Sie reduzieren sich weder auf Imaginationen noch auf atmosphärische Qualitäten, sondern schließen Aneignungspraktiken, bei denen Waren ihre Relevanz etwa durch Rekontextuierung oder Umgestaltung im Laufe des Lebenszyklus ändern79 ebenso ein wie den agentiellen Charakter käuflicher Dinge – denn auch Dinge ›machen‹ Unterschiede.80
G egenwert und W iedereintrit t Zurück zum Ausgangspunkt, der Differenz- und Formtheorie. Ich habe die Form der Konsumkultur durch Geld und Geltung näher bestimmt und letztere unterteilt in Gebrauchs-, Zeichen- und Ereigniswert. Jede einzelne Unterscheidung hat eine Innen- und eine Außenseite: das Geld unterscheidet zwischen Kaufen oder Nichtkaufen, die Geltung zwischen Relevanz oder Irrelevanz, der Gebrauchswert zwischen nützlich oder dysfunktional, der Zeichenwert zwischen Verweis (auf Reichtum, Coolness oder worauf auch immer) oder Nullpunkt des Bezeichnens, der Ereigniswert zwischen transformativ oder folgenlos. Je nach Beobachter, Situation und Erkenntnisinteresse dominiert die eine oder andere Hinsicht und wird so oder anders ausgefüllt. Doch die nun schon recht ineinandergeschachtelte Form wäre nicht vollständig, wenn sie nur Auswahlbereiche innerhalb des Konsums berücksichtigte. Denn zu konsumieren bedeutet nicht nur, etwas zu konsumieren und etwas anderes nicht zu konsumieren, sondern es heißt immer auch, zu konsumieren und nicht vielmehr nicht zu konsumieren und stattdessen etwas anderes zu tun (was in der entwickelten 79 | Vgl. exemplarisch Hahn, Hans P.: Aneignung und Domestikation. Handlungsräume der Konsumenten und die Macht des Alltäglichen, in: Hohnsträter, Dirk (Hg.): Konsum und Kreativität, Bielefeld: transcript 2016, S. 43-60 (= Konsumästhetik Bd. 1). Hier wäre überdies der Ort für den oben erwähnten »Assimilationswert«, den Schivelbusch vorgeschlagen hat. 80 | Zum hinter dieser Auffassung stehenden Designverständnis siehe Hohnsträter, Dirk: »Oberfläche, Verfahren, Reflexion. Über Design und Demokratie«, in: kritische berichte 43 (2015), H. 4, S. 72-77.
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Konsumgesellschaft schwer fallen mag). Wer konsumiert, kann nicht gleichzeitig sparen und die Welt auf sich beruhen lassen – jedenfalls nicht auf der Ebene von Beobachtung erster Ordnung. Ich komme damit zum entscheidenden Punkt dieses Theorieentwurfs, der darin besteht, auch den Gegenwert in die Gleichung einzubeziehen und zu beobachten, worin dieser besteht, wie er sich artikuliert sowie ob und in welcher Form die Außenseite des Konsums in Gestalt eines re-entry auf die Innenseite gezogen werden kann.81 Diese theoretische Volte ist von der historischen Beobachtung angeregt, dass der Konsum von Anfang an durch seine Kritik begleitet wurde und sich unter dem Einfluss dieser Kritik permanent wandelt.82 Der »mitlaufende Einwand« gegen den Konsum begleitet ihn als Außenseite seiner Innenseite: unablösbar, aber in Form der Reflexion und neuer Unterscheidungen in den Raum der Unterscheidung wiedereintretend.83 Beobachtung zweiter Ordnung kann die Außenseite des Konsums beschreiben und trifft dabei etwa auf Konsumkritik, Müdigkeit oder Askese.84 Als Kultur bringt sie diese »mitlaufende Beobachtung, die zu jedem Wert den möglichen Gegenwert bereithält« in Anschlag.85 Damit nicht genug. Die vielleicht faszinierendste Eigenschaft der modernen Konsumkultur besteht nämlich darin, dass diese die Einwände gegen sie aufgreift, integriert, absorbiert – und auch dies nicht erst in jüngerer Zeit.86 Um lediglich ein Beispiel aus dem Bereich moralischer Kritik zu nennen: Glickman berichtet, dass bereits 1826 der erste »free produce store« in Baltimore eröffnete, in dem u.a. Kleidung aus »non-slave-made cotton« erworben werden konnte. Er bringt die Pointe des Wiedereintritts auf den Punkt, wenn er schreibt, es sei dieser in herrlichster Oszillation als »buycott« bezeichneten 81 | D. Baecker: Beobachter unter sich, S. 42ff. 82 | Vgl. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2006, S. 79 sowie S. 86, S. 476 und S. 484ff. [Frz. Original 1999] Siehe auch Schrage, Dominik: Kritischer Konsum zwischen Reflexivität und Popularisierung – zur Einführung, in: Löw, Martina (Hg.): Vielfalt und Zusammenhalt. Verhandlungen des 36. Kongresses der DGS in Bochum und Dortmund, Frankfurt a.M./New York: Campus 2014 (CD-ROM), S. 1-9. 83 | D. Baecker: Wirtschaftssoziologie, S. 57. 84 | J. Baudrillard: Die Konsumgesellschaft, S. 269: »[D]ie Fatique ist ein unterschwelliger Protest«. 85 | D. Baecker: Wozu Kultur?, S. 9. 86 | So klingt es allerdings bei Stehr, Nico: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Vgl. auch Andreas Reckwitz zum Umschlagen ehemaliger Gegenkulturen in die Hegemonie seit den 1970er Jahren, in deren Folge insbesondere das Kreativitätsideal »eingesickert und dabei nicht dasselbe geblieben« sei (Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 14).
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Initiative darum gegangen »to make it possible for consumers to act morally while continuing to shop«.87 Da die Form der Konsumkultur eine selbstähnliche Figur ist, ist der Wiedereintritt des Außen des Konsums bei einer jeden einzelnen Unterscheidung gesondert beobachtbar. Auf der Ebene des Geldes äußert er sich im Preis, denn Preise können externe Kosten externalisieren oder internalisieren. Auf der Ebene der Geltung zeigt er sich in der Qualität – ein unscharfer, komplexer Begriff, der mit Bezug auf Gebrauchs-, Zeichen- und Ereigniswert genauer zu bestimmen wäre. Schließlich kann der Wiedereintritt selbst im Konsum reflexiv werden, etwa wenn Unternehmen die Kommodifikation von Außenseiten ironisieren (»Bio ist auch sehr, sehr geil«)88 oder die Verausgabung89 sich als Außen des neuen Innen wieder zur Geltung bringt: »Was dagegen?« Bei der Beschreibung des Konsums mithilfe seiner Form kann man beweglich von einer Unterscheidung zur anderen wechseln und dabei im Blick behalten, welche Traversen sich zwischen den Ebenen abzeichnen.90 Man kann dann genauer hinschauen und beispielsweise sehen, wie Geld als Distinktionsgewinn interpretiert wird oder Gegenwerte sich (nur) auf der Zeichen- oder Ereignisebene wiederfinden (Greenwashing). Man kann beobachten wie Alternativkonsum mit Preisen korreliert (»sich Fairtrade leisten können«) oder nach Formen der Inszenierung von Transparenz sucht (etwa auf der Website der Modemarke honest by). An einem weißen T-Shirt (und nicht schwarzen oder orangefarbenen) kann man dann hervorheben, dass jemand es sich leis87 | Glickman, Lawrence B.: ›Through the Medium of Their Pockets‹. Sabbatarianism, Free Produce, Non Intercourse and the Significance of ›Early Modern‹ Consumer Activism, in: Chatriot, Alain/Chessel, Marie-Emmanuelle/Hilton, Matthew (Hg.): The Expert Consumer. Associations and Professionals in Consumer Society, Aldershot: Ashgate 2006, S. 21-35; S. 29; Hervorhebung D.H. Vgl. etwa auch das sehr schöne Beispiel aus dem Jahr 1921 in W. Ullrich: Alles nur Konsum, S. 118. 88 | Ausführlich zum Beispiel des hier zitierten Edeka-Spots Drügh, Heinz: Ästhetik des Supermarkts, Konstanz: Konstanz University Press 2015, der ein Verständnis von Konsumkultur ins Spiel bringt, das den Überfluss als solchen affirmiert – »unter Beimengung einer gewissen Portion Ironie und Vorbehaltlichkeit sowie unter Markierung des Bewusstseins für seine Pathologien« (ebd., S. 40). 89 | Bataille: Georges: Der Begriff der Verausgabung, in: Ders.: Die Aufhebung der Ökonomie. 2., erw. Aufl, München: Matthes & Seitz 1985, S. 7-31. [Frz. Original 1933]. 90 | Exemplarisch siehe meine Aufsätze »Einschluss des Ausgeschlossenen. Überlegungen zum Luxus am Beispiel des Modehauses Prada«, in: kritische berichte 41 (2013), H. 4, S. 45-51 und Die Attraktivität des Handwerklichen für die Konsumkritik und die Paradoxien seiner Absorption, in: Breuer, Gerda/Oestereich, Christopher (Hg.): seriell – individuell. Handwerkliches im Design, Weimar: arts + science 2014, S. 239247.
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ten kann (Geld) oder durch den Stoff vor Kälte und Blicken geschützt wird (Gebrauchswert) oder mit dem draufgedruckten Markennamen imponieren will (Zeichenwert) oder es sich nur deshalb zugelegt hat, weil der Kauf im Laden von einem Glas Champagner begleitet wurde (Ereigniswert). Er kann es kaufen, weil es lange zu halten verspricht (Wiedereinschluss des Gegenwertes), und versuchen, diese Eigenschaft als Gebrauchswert zu kommunizieren oder als Prestigewert91 oder als Ausweis eines schmalen oder dicken Geldbeutels. Er kann es bemalen und damit den Gegenwert der Kreativität in die Welt des Produzierten wiedereinführen oder am kratzenden Etikett verzweifeln (agentielle Dimension des Objekts). Entscheidend ist, dass die Form es erlaubt, keinen Aspekt zugunsten des anderen auszuspielen und die Komplexität der Beobachtung nach Belieben zu erhöhen. Das hier vorgeschlagene Modell vermeidet Einseitigkeiten, Überbetonungen und Verabsolutierungen sowie einen Entlarvungsdiskurs bereits auf der Ebene der Definition. Darauf zu bestehen, dass es doch letztlich nur ums Geld gehe oder um den Status oder käuflichen Dingen ästhetische Vielschichtigkeit und Intensität von vornherein abgehe, verrät ein Beharren auf einer dominanten Hinsicht, aber keinen Zugriff auf das, was ›eigentlich‹ dahinter steckt. Kritisch bleibt dieser Vorschlag einer Theorie der Konsumkultur in doppelter Hinsicht. Zum einen, indem er Kritik im etymologischen Wortsinn als Unterscheidungskunst begreift, zum andern, insofern er die mitlaufenden Einwände, das Außen des Konsumierens ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rückt und danach fragt, wie ihr Wiedereintritt in Geschichte und Gegenwart erfolgt. Dies ist der Kern eines Forschungsprojekts, das der Verfasser seit einiger Zeit verfolgt und das die kulturhistorische und zeitdiagnostische Bewährung des hier vorgeschlagenen Ansatzes zum Ziel hat.
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Geld, Geltung, Gegenwer t
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Das Konsumobjekt und die Gesellschaft der Gabe Christina von Braun
Angeblich besteht der große Unterschied zwischen der Kunst und dem Konsumobjekt darin, dass das Konsumobjekt zirkulieren soll, wohingegen die Kunst vor allem dann zirkuliert, wenn sie als Geldanlage in den Wirtschaftskreislauf gerät. Das entspricht natürlich nicht ihrem eigentlichen Sinn. Denn der besondere Zweck oder die höchste Würdigung für ein Kunstwerk besteht darin, dem Kreislauf der Ökonomie entzogen zu werden – im Gotteshaus zum Beispiel, wo es die Gläubigkeit unterstützt, oder in der Privatsammlung oder im Museum, wo die Kunst in der Moderne die Funktion erfüllt, Zeugnis vom kulturellen Erbe der Nationalgemeinschaft oder der Welt abzulegen. Zwar beläuft sich der Erwerb eines Kunstwerks oft auf einen hohen Geldbetrag, ist dieses aber erstmal an einem der Gedächtnisorte angekommen, endet zumeist der Kreislauf – auch dann, wenn das Kunstwerk im Depot landet. Nur in Ausnahmefällen geht es wieder auf Wanderschaft – und auch das geschieht, wie das Beispiel der Warhols in NRW zeigte, gegen große Widerstände. Ganz anders beim Konsumobjekt: Zwar kann auch dieses im Museum aufgenommen werden – aber das ist nicht seine ursprüngliche Bestimmung. Denn das Konsumobjekt folgt in erster Linie dem Wirtschaftskreislauf. Es soll diesen sogar antreiben, mit immer neuen Ideen oder Anreizen versehen – und diese Aufgabe kann es nur erfüllen, wenn es sich dem ökonomischen Kreislauf anschließt. Von diesen Kreisläufen gibt es mindestens zwei – und diese verschränken sich über das Konsumobjekt. Der eine Kreislauf ist abstrakt: Er besteht aus Geld – was mit Kunst etwa so viel zu tun hat wie der Druckstock mit Goethes ›Wahlverwandtschaften‹ oder die Technik von Kodak mit dem filmischen Oeuvre von Ingmar Bergman. Der andere Kreislauf ist überhaupt nicht abstrakt, vielmehr beruht er auf der Zirkulation sinnlicher Objekte. Ich spreche von der Gabe – eine Erfindung archaischer Gesellschaften, die über das Zusammenleben von Menschen bestimmte und in einigen Regionen der Welt bis heute existiert. In unserer Gesellschaft wurde die Zirkulation der Gabe weitgehend von der des Geldes verdrängt – ein universelles Tauschmittel, das aber eben
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deshalb universell wurde, weil es mit den Sinnen nicht zu erfassen ist. Man kann es weder schmecken noch riechen noch hören, und auch die Augen können Geld kaum mehr erfassen. In der Moderne hat das Zeichensystem Geld die Rolle der Gabe weitgehend usurpiert und dieses Regelwerk verdrängt, das für die soziale Kohäsion ganzer Gesellschaften sorgte. Da aber auch das Geld nicht ganz auf das Sinnliche verzichten kann, kam das Konsumobjekt gerade recht: Es verlieh dem Geld Sinnlichkeit. Gewiss wollte die Industrie mit dem Konsumobjekt nicht die Gesellschaft der Gabe wiederherstellen. Wohl aber hatten die Industriellen begriffen, dass das Geld einen Leib braucht, damit es unter die Leute und vor allem zu ihnen zurückkommt. Sie hatten verstanden, dass die Fabriken dann am meisten Erträge einfahren, wenn die Arbeiter nicht nur Produzenten, sondern auch Konsumenten sind – und dieses Ziel konnten sie nur erreichen, wenn sie das Geld vom Ruf der Zeichenhaftigkeit befreiten und ihm genau jenen Anschein von Materialität verliehen, den dieses längst abgelegt hatte. Das Wort ›investment‹, die Investition, erzählt von genau solchen Prozessen. Vor dem 16. Jahrhundert hatte der Begriff to invest keine ökonomische Bedeutung. Wie schon die Etymologie nahelegt, bezogen sich alle Bedeutungen auf Kleidung – im realen wie im symbolischen Sinne. Eine Person kleidet sich ein, oder sie bekleidet ein Amt, ein Vorgang, der oft mit einer tatsächlichen Verkleidung einhergeht.1 Die Übertragung des Begriffs auf Ökonomie und Handel ist zum ersten Mal nachweisbar in einer Korrespondenz der East India Company, eine der frühesten Aktienfirmen, die Überseehandel betrieb.2 Geld zu ›investieren‹ wurde hier in in einem völlig neuen Sinn verwendet. In den Worten des OED: »to give ›the capital another form‹«. Die Investition, so die Literaturwissenschaftlerin Valerie Forman, heißt: »das Geld einkleiden, es mit einem neuen Satz von Gewändern versehen, es verkleiden oder rematerialisieren«.3 Investition beinhaltete also nicht nur die Einkleidung, sondern auch die Verkleidung des Geldes. »Die Etymologie lässt darauf schließen«, so Forman weiter, »dass dem Kapitalismus nicht nur der Gedanke der Vermehrung und Akkumulation zugrunde liegt, sondern auch jener der Transformation. Die Fälschung ist also nicht nur symptomatisch für den Kapitalismus, sondern ihm sogar inhärent. Der Kapitalismus hängt von der Investition als
1 | Vgl. Forman, Valerie: »Material Dispossessions and Counterfeit Investments: The Economies of the Twelfth Night«, in: Woodbridge, Linda (Hg.): Money and the Age of Shakespeare: Essays in New Economic Criticism, New York: Palgrave Macmillan 2003, S. 113-125; S. 116. 2 | Vgl. ebd., S. 117. 3 | Ebd.
Das Konsumobjekt und die Gesellschaf t der Gabe
Abstraktions- und Rematerialisierungsprozess ab, hinter dem sich wiederum die Akkumulation von Kapital verbirgt.«4 Diese Bedeutung von ›investieren‹ wird noch dadurch verstärkt, dass sich inzwischen auch die Psychologie des Begriffs bemächtigt hat. Freud sprach noch von der libidinösen ›Besetzung‹ eines Objekts – eine ziemlich militaristische Metapher. Im englischen und französischen Sprachgebrauch hat sich deshalb die Formulierung durchgesetzt: ›to invest one’s libido in an object‹. Denkt man an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, so bedeutet dies, dass man dem Objekt der eigenen Begierde seine Libido um den Hals hängt. Klingt auch nicht viel besser. Aber wie auch immer: So in etwa lässt sich das Verhältnis von Geld und Konsumobjekt umschreiben: In einer Welt, die sich für das Zeichensystem Geld und gegen die Materialität entschieden hat, wird das Konsumobjekt zum Go-between: Es tut so, als gehöre es der materiellen Welt an – aber in Wirklichkeit ist es nur die materialisierte Verkleidung der Zeichen. Nun stellt sich die Frage: Wäre es möglich, dieses Verhältnis umzudrehen? Der Verkleidung eine neue Funktion zu verleihen und das Konsumobjekt in die Welt des sinnlichen Lebens zurückzuholen? Kann man den Zweck seiner Erfindung umkehren? An sich sind Retro-Bewegungen ziemlich unsinnig, weil aussichtslos, vor allem im Zusammenhang mit der Ökonomie. Es kann also nicht darum gehen, das Geld abzuschaffen und zum alten Gabentausch zurückzukehren. Deshalb müsste die Frage eigentlich lauten: Was können wir aus der Gesellschaft der Gabe lernen, um das Konsumobjekt aus seiner funktionalen Rolle als Versinnlichung des Zeichens herauszuholen? Oder noch einmal anders gefragt: Bietet das Konsumobjekt die Möglichkeit, der Zirkulation des Geldes eine andere Art von Zirkulation entgegen zu setzen? Bevor man auf diese Frage eine Antwort geben kann, müsste ich erst einmal kurz erklären, was die Gesellschaft der Gabe überhaupt war. Die Gesellschaft der Gabe wurde zuerst 1925 vom französischen Anthropologen Marcel Mauss beschrieben. Er stellte die zivilisatorische Rolle dar, welche die Zirkulation von Gaben in vormonetären und schriftlosen Gesellschaften spielte. Bis dahin hatten Ethnologen und Anthropologen diese Gesellschaften gerne als ›primitiv‹ und ›wild‹ bezeichnet – noch Claude Lévi-Strauss sprach von ›La pensée sauvage‹. Doch Publikationen wie jene von Marcel Mauss, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg breit rezipiert wurden, trugen erheblich zur Änderung der Einstellung bei. Man begann zu begreifen, dass hier ein hoch differenziertes Regelwerk über die Gesellschaft bestimmte und dass dieses sich – in unterschiedlichen Ausprägungen – weltweit wiederfand. Heute spricht man von ›vorschriftlichen Gesellschaften‹; und tatsächlich weist die Gesellschaft der Gabe viele Gemeinsamkeiten mit den Effekten oraler Kommunikation auf. So wie wir heute statt der Gabe das Geld haben, haben wir statt der Mündlichkeit 4 | Ebd., S. 117-118.
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die Schrift, und diese bestimmt auch über unsere Art zu sprechen. Insofern ist es völlig unsinnig, von einer Rückkehr zur Oralität zu sprechen, wie das heute im Zusammenhang mit Fernsehen, Radio oder dem Internet oft der Fall ist. Womit wir es bei diesen Neuerungen zu tun haben, ist eine sekundäre, nachschriftliche Oralität. Das ist ganz etwas anderes als die mündliche Kommunikation, durch die Gesellschaften ohne Schrift zusammengehalten werden. Unser Gemeinschaftsnetz beruht auf Geld und Schrift – und auch wenn YouTube, Internet-Foren oder die sozialen Netze den Anschein von mündlicher Kommunikation erwecken und die Direktheit der oralen Kommunikation für sich in Anspruch nehmen, so geschieht das doch immer noch durch technikund damit schriftbasierte Kommunikationsformen. Das Konsumobjekt ähnelt strukturell der sekundären Oralität: Während ersteres den Zeichen eine Leiblichkeit vermittelt, verschafft letztere der körperfernen Schrift den Anschein eines körpernahen Sprechens. In der Gesellschaft der Gabe wird durch den Tausch von Gütern ein soziales Band geschaffen, das für den Zusammenhalt innerhalb und zwischen den Gemeinschaften sorgt. Das Prinzip ist einfach: Eine Gabe muss angenommen und erwidert werden. Die Verletzung dieser Regel kommt, so Mauss, einer Kriegserklärung gleich. Das hat Rückwirkungen auf die soziale Kohäsion. Durch Gabe und Gegengabe werden Abhängigkeiten – eigentlich Schuldverhältnisse – hergestellt, und diese beruhen immer auf Gegenseitigkeit. Obgleich es keine formellen Sanktionen gibt, funktioniert das Regelwerk höchst effektiv: Ein Verstoß mündet im Verlust von Ansehen, von Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, oder, so würde man heute sagen: von Seelenheil. Solche Gaben sind verwandt mit den Geschenken, die wir uns zu Weihnachten oder anlässlich eines Geburtstags machen, aber gehen viel tiefer als diese. Denn der Wert der Gabe beruht auf dem Gedanken, dass jede Gabe das Selbst des Gebenden enthalten muss. Im Gabentausch, so Marcel Mauss, gibt »man sich selbst, und zwar darum, weil man sich selbst – sich und seine Besitztümer – den anderen ›schuldet‹.«5 Die Tatsache, dass die Gabe den Gebenden vertritt, verleiht ihr eine seelische und spirituelle Dimension. »Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk verpflichtet, kommt daher, daß die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm. Durch sie hat er Macht über den Empfänger.«6 Deshalb hat der Empfänger auch jedes Interesse daran, die erhaltene Gabe weiterzugeben oder durch eine andere Gabe zu erwidern: Nur so kann er die ›Schuldverhältnisse‹ umdrehen und zum ›Gläubiger‹ eines anderen werden. 5 | Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 118. 6 | Ebd., S. 33.
Das Konsumobjekt und die Gesellschaf t der Gabe
Dieses System gegenseitiger Abhängigkeit ist zunächst sozialer und erst dann ökonomischer Art, aber es funktioniert kaum anders als unsere moderne Kredit- und Schulden-Ökonomie. Das hat Franz Boas, ein anderer großer Anthropologe, schon früh wunderbar beschrieben: »Dieses Wirtschaftssystem [das auf Schulden und Gegenleistungen beruht] hat sich in einem solchen Ausmaß entwickelt, daß das Kapital aller Individuen des Stammes zusammen bei weitem die wirklich verfügbaren Werte übersteigt; anders gesagt, die Verhältnisse sind denen, die in unseren Gesellschaften vorherrschen, vollkommen analog: wenn wir unsere Außenstände einziehen wollten, würden wir feststellen, daß in keinerlei Hinsicht genügend Geld vorhanden wäre. […] Ein Versuch sämtlicher Gläubiger, sich ihre Darlehen zurückzahlen zu lassen, würde eine verheerende Panik auslösen, von der die Gemeinschaft sich nur langsam erholte.« 7 Ähnlich in der Gesellschaft der Gabe, wo es gar nicht genügend Güter gibt, um alle Schulden auf einmal zu begleichen. Aber die Schulden sollen auch gar nicht beglichen werden. Nur so bleibt ein permanentes gegenseitiges Schuldsystem erhalten, das wiederum Verbindungen und Gemeinschaften herstellt, die (in den Worten von Mauss) »fast unzerstörbar« sind.8 Strukturell erfüllt das Geld heute eine ähnliche Funktion: Indem es zirkuliert, schafft es Verbindungen, stellt es Gemeinschaften her. Doch im monetären Tausch fehlt oft jene entscheidende Erkenntnis, die für die archaischen Gesellschaften selbstverständlich war: die Erkenntnis, dass Individuen und Gemeinschaften voneinander abhängen und »sich den anderen schulden«. Darauf machte ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung aufmerksam, als Anfang 2015 bekannt wurde, dass Apple im vorangegangenen Quartal die höchsten Gewinne gemacht hatte, die je ein Unternehmen eingefahren hat. Die Zeitung fragte sich, ob diesem und anderen Konzernen eigentlich bewusst sei, dass solche Gewinne aus dem Kollektiv generiert werden und mithin auch eine Verpflichtung besteht, sie zurückfließen zu lassen. Und sei’s durch die Abführung von Steuern.9 Die SZ bezog sich nicht auf die Gesellschaft der Gabe, aber was sie hier einforderte, entspricht genau diesem Funktionsprinzip, das der modernen Ökonomie grundsätzlich nicht minder eingeschrieben ist als den archaischen Gesellschaften. Offenbar nährt die Geld-Ökonomie aber die Illusion, dass man sich dem Prinzip der Gegenseitigkeit entziehen kann. Die Alten dagegen wussten: Wenn die Gabe nicht zirkuliert, gibt es Unheil. 7 | Boas, Franz: 12th Report on the Committee on the Northwestern Tribes of the Dominion of Canada, London: British Association for the Advancement of Science 1890/1899, S. 54f. 8 | M. Mauss: Die Gabe, S. 77. 9 | Caspar Busse, Großverdiener, aber Steuerzwerg, Süddeutsche Zeitung 28.1. 2015; s.a. www.sueddeutsche.de/wirtschaft/apple-grossverdiener-aber-steuerzwerg- 1.2325519
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Das Prinzip der Gabe ist also in erster Linie sozialer Art: Ökonomie bildet damit nicht die Basis, sondern die Folge der Tauschverhältnisse. Viele der Begriffe und Grundsätze aus diesem Denken gelten global: im chinesischen, indischen, germanischen, jüdischen, muslimischen wie auch im römischen Recht, auf dem unser modernes Recht weitgehend basiert. Im römischen Recht wird das deutlich in den Transaktionsbedingungen des ›nexum‹, der ältesten Form des Vertrags, bei dem es um die Übergabe von Werten – Sklaven, Vieh, Grund und Boden ging. »Stets war die Transaktion eine feierliche und zweiseitige Angelegenheit, die in Anwesenheit von fünf Zeugen oder zumindest Freunden und dem ›Waaghalter‹ vollzogen wurde.«10 Solche Werte gehörten zur ›Familie‹. Die römische familia umfaßt sowohl Sachen als auch die Personen, »und es ist bemerkenswert, daß, je weiter wir in das Altertum zurückgehen, desto mehr bezeichnet das Wort familia die res, aus denen sie besteht, sogar bis hin zur Nahrung und dem Lebensunterhalt der Familie.«11 Erst mit der Geldwirtschaft wird zunehmend zwischen den beiden unterschieden. Es gab nun zwei Formen des Verkaufs: Man unterschied »zwischen den dauernden und wesentlichen Gütern des Hauses und den Dingen, die fortgehen – Lebensmittel, Tiere auf entfernten Weiden, Metalle –, mit denen also nicht der emanzipierte Sohn Handel treiben konnte.«12 Die Sache »muß ursprünglich das gewesen sein, was einem anderen Freude bereitete«. Solche Dinge wurden auch dann, wenn sie das Haus verließen, mit einem Familiensiegel oder Eigentumszeichen markiert. »So wird es verständlich, daß die feierliche Übergabe (manicipatio) dieser ›hingegebenen‹ Sache ein Rechtsband schuf. Denn selbst in den Händen des accipiens blieb sie für eine gewisse Zeit noch ein Faktor der ›Familie‹ des ersten Besitzers; sie blieb ihr verbunden, bis dieser die Erfüllung des Vertrags, d.h. durch die Übergabe des entschädigenden Gegenstandes, Preises oder Dienstes befreit hatte, die wiederum den ersten Kontrahenten band.«13 Deshalb sind im Römischen Recht auch fast alle Ausdrücke des Vertrags »mit einem System der geistigen Bindungen verknüpft«.14 Das heißt, beim Verkauf einer res »wird eigentlich der Käufer ›gekauft‹ – er gerät in ein Schuldverhältnis, bis dieses beglichen. Er ist bis zur Bezahlung selbst gekauft.«15 Bis in die Zeit der Geldwirtschaft hinein gelten Kauf und Gabe also in ihrem Kern als sozial und spirituell. Für die spirituelle Dimension dieses Warenverkehrs bietet der Ethnologe E.W. Hawkes ein schönes Beispiel: Unter den Eskimos gibt es im Winter viele Feste, zu denen sich die Stämme gegenseitig 10 | M. Mauss: Die Gabe, S. 124. 11 | Ebd., S. 125. 12 | Ebd., S. 126. 13 | Ebd., S. 127. 14 | Ebd., S. 129. 15 | Ebd., S. 131.
Das Konsumobjekt und die Gesellschaf t der Gabe
einladen. Bei diesen Begegnungen spielen materielle Geschenke und Leistungen eine wichtige Rolle; doch die höchste Gabe ist immaterieller Art: »Der Stamm, dem es gelingt, den anderen Stamm zum Lachen zu bringen, darf von diesem alles verlangen, was er will.«16 Aber auch da wo materielle Güter weitergegeben werden, implizieren diese einen spirituellen Austausch. Marcel Mauss spricht vom »magischen Eigentum«;17 jedes weitergereichte Objekt verfüge über »eine geistige Macht«, und diese sei auch der Grund, weshalb die Gabe zirkulieren muss.18 »Etwas von jemandem annehmen, heißt etwas von seinem geistigen Wesen annehmen, von seiner Seele; es aufzubewahren wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt […] – magische und religiöse Macht über den Empfänger« hat.19 Auch darin erkennt man die Nähe zur oralen Kommunikation. In vorschriftlichen Gesellschaften verfügt die gesprochene Sprache über eine ähnliche Magie und ›geistige Macht‹ wie die Gabe. Die mündliche Kommunikation ist flüchtig, vergänglich, aber anders als beim geschriebenen Wort lässt sich die Sprache nicht vom einzelnen Körper trennen. »Gesprochene Wörter sind stets Modifikationen einer totalen, existentiellen Situation, die immer auch den Körper mit einschließt«, so der Schrifttheoretiker Walter Ong.20 Indem die Rede von einem lebendigen Körper zum anderen weitergegeben wird, transportiert sie einen Teil der Seele ihres Senders an den Empfänger; dadurch verwandeln sich »menschliche Wesen in zusammengehörende Gruppen«.21 Eine ganz ähnliche Funktion erfüllt die Gabe. So wie Worte »Macht über Dinge« haben,22 werden auch Gaben als ›Botschaften‹ verstanden. Dass der Gabentausch als Teil der oralen Kommunikation zu verstehen ist, macht auch verständlich, warum es ausformulierter Sanktionen nicht bedarf: Unser Denken und unser Fühlen sind vorgegeben von der Sprache; bei oraler Kommunikation gilt dies in erhöhtem Maße. Aus diesem existentiellen Band herauszufallen, geht nur zum Preis des Lebens. Wir scheinen die Gesellschaft der Gabe weit hinter uns gelassen zu haben. Aber das stimmt nicht ganz. Mit dem Aufkommen monetärer Systeme sind viele ihrer Prinzipien in die Zirkulation des Geldes eingegangen. Die mo16 | Ebd., S. 41 [Fußnote 4]. 17 | Ebd., S. 31. 18 | Ebd., S. 33. 19 | Ebd., S. 35f. 20 | Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 71. 21 | Ebd., S. 77. 22 | Ebd., S. 38.
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dernen monetären Systeme können zwar soziale Kohäsion zerstören. Aber sie können diese auch herstellen, vor allem dann, wenn wir das Zeichensystem Geld als ein kulturelles Netzwerk begreifen, das auf Gegenseitigkeit beruht. Ein Beispiel: Für seine Funktionsfähigkeit ist das Zeichensystem Geld darauf angewiesen, dass wir daran glauben, dass wir das Symbol anerkennen, das für den Euro, den Dollar oder andere Währungen steht. Mit dieser Anerkennung sagen wir, dass wir, in der Sprache der Gabe gesprochen, ›uns selbst den anderen schulden‹. Das Symbol nicht anzuerkennen, kommt auch heute einem Zerfall der Gesellschaft, ja einer Kriegserklärung gleich. Gerade die bisherigen Eurokrisen haben gezeigt, wie sehr auch die moderne Wirtschaft unter dem Gesetz der Gegenseitigkeit steht. (Beim Kampf um die Bewahrung Griechenlands im Euroraum – oder seinen Ausschluss – ging es letztlich um diese Frage des ›Glaubens‹). An eine Währung zu glauben, ist die moderne Art, den Anderen und meine Abhängigkeit vom Anderen anzuerkennen. Etwas anderes als den Glauben an die Währung haben die modernen Ökonomien nicht zu bieten – schon deshalb nicht, weil die Geldmenge in keiner Relation mehr zu Realwerten steht. Dieses Potential des monetären Systems, Basis eines sozialen Netzwerks zu sein, ließe sich für die Umwandlung des Konsumobjekts in eine moderne Form der ›Gabe‹ nutzen. Das impliziert mehr als die Überführung des Zeichensystems Geld aus einer traurig-entleibten (wenn auch unbestreitbar mächtigen) in eine inkarnationsfröhliche Existenz. Denkbar wäre auch ein direkter Anschluss an die Gabe: Eben weil die Gesellschaft der Gabe in ihrem Kern spiritueller, geistiger und sprachlicher Natur ist, bietet sie sich als Modell für einen modernen ökonomischen Tausch an, der nicht nur den monetären Gewinn, sondern auch die Vernetzung der Gesellschaft zum Ziel hat. Aus dem Export- und Importbusiness weiß man, dass wirtschaftliche Güter erst dann in den Kreislauf aufgenommen werden, wenn die Zirkulation von geistigen Gütern gesichert ist. Nach dem zweiten Weltkrieg hatten US-Waren einen hohen Wert, weil die Vereinigten Staaten das Prinzip Demokratie repräsentierten: Das Image der USA ging den Waren voraus und war in diesen enthalten. Heute verkaufen sich deutsche Güter auch deshalb so gut im Ausland, weil sie ein bestimmtes Image haben. Seit dem Zweiten Weltkrieg – vor allem nach dem Fall der Mauer – ist es Deutschland gelungen, den Anschein einer friedfertigen und demokratischen Nation zu verbreiten. Es ist ganz klar: Auch Industriegüter transportieren – unterschwellig, unbewusst – ›geistige Werte‹. Ihre Akzeptanz beruht zum Gutteil auf einem kulturellen Markensiegel. Das weiß die Industrie und deshalb fördert sie auch den Kulturaustausch – national wie international. Die Zirkulation kultureller Artefakte dient der Zirkulation ihrer Waren. Der internationale Austausch gehört heute zu den wenigen Bereichen, wo die Ökonomie von der Politik – und damit auch von der Kultur – abhängt. Nicht andersherum.
Das Konsumobjekt und die Gesellschaf t der Gabe
Könnte dies nicht die Leitlinie für eine Politik des Konsumobjekts sein? Einer Politik, die sich sowohl in der Funktion als auch der Ästhetik des Objekts widerspiegelt? Eine moderne Gestalt der Gabe könnte sich genau dies zum Ziel setzen: soziale Kohäsion herzustellen. In den Konsumgütern könnte – potentiell – wie in der traditionellen Gabe ›unser Selbst enthalten‹ sein. Es wird dann zu unserem ›magischen Eigentum‹ und verfügt über jene ›geistige Macht‹, die viele unserer materiellen oder monetären Güter oft nur unzulänglich transportieren, wenn sie ihnen nicht gar lästig sind. Wenn sich das Konsumobjekt in den Kreislauf der Gabe begibt, würde es immaterielle Werte transportieren und unterstützen; andererseits wäre aber auch seine Akzeptanz in einer Weise gesichert, die die reine Ökonomie nicht zu bieten vermag. Jede Gabe, so Marcel Mauss, ist, auch dann wenn sie materiell daherkommt, »stets geistigen Ursprungs und geistiger Natur«.23 Ihr wohnt eine »bestimmte Kraft« inne, »die sie zwingt, zu zirkulieren, gegeben und erwidert zu werden«.24 Was Mauss über die Gabe sagt, könnte auch für das Konsumobjekt gelten. Gaben zirkulieren »in der Gewißheit, daß sie zurückgegeben werden; wobei die ›Garantie‹ dieser Rückgabe in der gegebenen Sache selbst liegt: sie ist diese ›Garantie‹«.25 So wie die Gaben sind auch Konsumobjekte darauf angewiesen zu zirkulieren und erwidert zu werden. Sie bewahren jenen Impetus der Wanderung, nach der die Gabe verlangt. So wie die nicht weiter gereichte Gabe Unheil bringt, nehmen auch sie destruktive Formen an, sobald sie nicht zirkulieren. Als Teil eines Kreislaufs erneuern sie sich jedoch, und sie können so auch zur sozialen Kohäsion beitragen. Das setzt freilich voraus, dass sie, anders als die Kunst, nicht auf die Ewigkeit setzen und sich auf jene Kurzlebigkeit einlassen, die jeder Transformationsfähigkeit zugrunde liegt. Die Zirkulation von Gaben und Konsumobjekten geschieht nicht von selbst. Man muss das Regelwerk kennen. Und genau hier kommt die Frage der Ästhetik ins Spiel: Man muss wissen, welches Signal empfangen wird, welche Gabe beim Anderen auf Verständnis stößt; welche Gabe angenommen und, ganz wichtig: erwidert werden kann. Denn natürlich gehört auch die Bereitschaft dazu, die Gaben der anderen entgegenzunehmen: sich ihrer Magie auszusetzen, von ihnen berührt, verändert, beeinflusst zu werden. Das wichtigste Gesetz der Gesellschaft der Gabe besteht in der Gegenseitigkeit. Ich kann dem Anderen nicht nur meine Gaben aufdrängen, sondern muss auch bereit sein, die Gaben der anderen anzunehmen, in ihrer ›Schuld‹ zu stehen. Diese Funktion könnte das Konsumobjekt erfüllen, wenn es seine Funktion nicht nur in der Versinnlichung des ›Zeichens‹ sieht, sondern zum Mittler zwischen Menschen und Gemeinschaften wird. Geistige und ökonomische Werte müssen 23 | M. Mauss: Die Gabe, S. 107. 24 | Ebd., S. 103. 25 | Ebd., S. 83.
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keinen Gegensatz bilden; vielmehr kann sich das Spirituelle auch in ökonomischen Werten niederschlagen – eine Vorstellung, die uns inzwischen kaum mehr geläufig ist. Dabei leben die sogenannten ›wilden‹ oder ›primitiven‹ Gesellschaften schon seit Jahrtausenden nach diesem Prinzip – und es ist ihnen gut bekommen.
L iter aturverzeichnis Boas, Franz: 12th Report on the Committee on the Northwestern Tribes of the Dominion of Canada, London: British Association for the Advancement of Science 1890/1899. Forman, Valerie: »Material Dispossessions and Counterfeit Investments: The Economies of the Twelfth Night«, in: Woodbridge, Linda (Hg.): Money and the Age of Shakespeare: Essays in New Economic Criticism, New York: Palgrave Macmillan 2003, S. 113-125. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. Ong, Walter: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen: Westdeutscher Verlag 1987.
Werte als Konsumartikel Wie das Marketing unseren Umgang mit Idealen prägt Wolfgang Ullrich
Als im Herbst 2015 die Debatten über Flüchtlinge immer hitziger wurden und man begann, über Obergrenzen, Integrationsprogramme und gesellschaft liche Folgen zu streiten, tauchte häufig die Forderung auf, es müsse sich zu den westlichen Werten bekennen, wer um Asyl bitte oder gar dauerhaft hier leben wolle. Der CDU-Landesverband von Rheinland-Pfalz brachte etwa einen »Grundwertekatalog« ins Spiel, auf den jeder Migrant im Zuge einer mit dem Staat zu schließenden »Integrationsvereinbarung« »verpflichtet« werden solle.1 Viele andere bekräftigten diese Forderung und ergänzten je nach Belieben die Liste der Werte, die als verbindlich für alle gelten sollen. Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, Diskriminierungsverbote oder Gleichberechtigung der Geschlechter gehören dazu, aber manche sähen in den Katalog gerne noch explizit die Gleichstellung Homosexueller oder einen libertären Lebensstil – mit dem Recht auf freizügige Kleidung und Alkohol – aufgenommen. Ein fröhliches Wertesammeln setzte also vielerorts ein, verbunden mit dem guten Gefühl, die größten Integrationshürden eigentlich schon überwunden zu haben, wenn die Flüchtlinge erst einmal die Werte-Liste unterschrieben hätten. Noch weiter geht man in Österreich, wo ernsthaft über Wertekurse für Migranten nachgedacht wird, so als ließen sich Werte wie eine Sprache oder ein Handwerk – Stück um Stück – lernen. Bemerkenswerterweise regt sich kaum Widerstand gegen die Forderung von Wertekatalogen und Lernlisten. Zwischen den Parteien mögen einzelne Punkte umstritten sein; es geht um die Frage, ob die Formulierungen lieber allgemein gehalten oder sehr klar definiert sein sollen, aber nicht darum, ob es überzogen oder auch unnütz sein könnte, Werte überhaupt zu fixieren und Bekenntnisse dazu zu verlangen. Ganz anders war es noch fünfzehn Jahre zu1 | O.A.: Antrag Nr. C 46 – LV Rheinland-Pfalz für den 28. Parteitag der CDU Deutschlands am 14./15.12.2015 in Karlsruhe, https://www.cdu.de/system/tdf/media/doku mente/antragsbroschuere-cdupt15_0.pdf?file=1 [S. 150ff.]
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vor: Als der CDU-Politiker Friedrich Merz im Jahr 2000, damals ebenfalls im Blick auf hohe Migrantenzahlen, die »deutsche Leitkultur« zum verpflichtenden Maßstab für alle Integrationsbemühungen erklären wollte, gab es viele laute Gegenstimmen. Man empfand das als Absage an eine plurale Gesellschaft oder befürchtete einen neuen Nationalismus. Sollte sich aber innerhalb dieses relativ kurzen Zeitraums die gesellschaftliche Mentalität so stark geändert haben, dass jetzt mit Freuden betrieben wird, was zuerst die Alarmglocken schellen ließ? Wahrscheinlicher ist etwas Anderes. So dürften die Vorstellungen, die die Idee eines Wertekatalogs weckt, verheißungsvoller sein als das, was mit ›Leitkultur‹ assoziiert wird. Bei letzterer denkt man an Leitplanken und damit an Begrenzungen, an eine klar vorgegebene Richtung ohne Möglichkeit des Abweichens. Dagegen ist ein Katalog eine offene Form, man kann ihn jederzeit ergänzen und aus breiteren Angeboten spezifisch auswählen. Dabei mag man sogar glauben, jede Ergänzung brächte zusätzliche Optionen ins Spiel. Ein Katalog mit einzelnen Posten suggeriert schließlich, man könne einen Wert ganz konzentriert befolgen, zugleich einen anderen, einen dritten und vierten, jeweils aber akkurat getrennt voneinander, während der Begriff ›Leitkultur‹ eine kaum definierbare Menge – eher ein Gemenge – an Aspekten zu umfassen scheint. Dass man meint, sich mit Werten einzeln identifizieren und befassen zu können, zeugt von der Vorstellung, sie seien klar unterscheidbare Entitäten, nicht anders als irgendwelche Dinge, die sich sammeln, tauschen, bearbeiten oder besitzen lassen. Gerade die Verdinglichung aber macht Werte – und das Sprechen über sie – so beliebt. Auf diese Weise sind sie handsam und gut portioniert, auch komplizierte Themen werden damit übersichtlich und lassen sich ohne moralphilosophische Spezialausbildung diskutieren. Dabei sind Werte, wie es der Philosoph Andreas Urs Sommer formuliert, eigentlich nur »regulative Fiktionen«. Sobald man sie als etwas Reales bestimmen will, werden sie ungreif bar; charakteristisch sei, so Sommer weiter, »ihre fundamentale Leere, in die alles Mögliche projiziert werden kann«.2 Doch sind sie Fiktionen nicht nur im Sinn einer Chimäre oder Illusion, sondern auch so, wie Romane oder Filme Fiktionen sind. Sie beflügeln die Phantasie und wirken sinnstiftend, tragen dazu bei, Sachverhalte im eigenen Leben anders und klarer zu sehen. Nur deshalb können Werte auch regulativ sein: etwas, das dabei hilft, das Handeln zu organisieren und zu rechtfertigen. Dies aber gelingt umso besser, je stärker und klarer sich Werte manifestieren; sie müssen sinnfällig werden, um emotionalisieren und motivieren zu können. Wie eine literarische Fiktion nur in den Bann zieht, wenn sie sich in unverwechselbarer Sprache ausdrückt, und wie ein Film nur etwas auslöst, wenn 2 | Sommer, Andreas Urs: »Werte sind verhandelbar«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.03.2016, www.nzz.ch/feuilleton/wertedebatte-werte-sind-verhandelbar-ld.7385
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er starke Bilder in Szene setzt, so brauchen auch Werte eine Verkörperung. Sie müssen fest mit Bildern und Situationen verknüpft sein, und noch besser ist es, wenn sie so real und gegenwärtig erscheinen wie Dinge. Dann assoziieren mehrere, vielleicht sogar sehr viele Menschen dasselbe mit ihnen, wodurch die Werte größere Verbindlichkeit – Geltung – erlangen. Dass Werte heutzutage so gerne in Katalogen gesammelt und ausgewählt werden, zeugt davon, wie gut das mit ihrer Verdinglichung klappt. Allerdings ist das eine relativ neue Entwicklung. Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre man nicht auf die Idee gekommen, über Werte so selbstverständlich wie über reale Dinge zu sprechen. Ihre Verkörperung blieb lange Zeit vielmehr ziemlich vage. Unternehmen hoben gerne hervor, dass die Mitarbeiter ihre Werte verkörpern, an einem Bundespräsidenten wurde gelobt, er verkörpere Werte wie Toleranz und Verantwortung, in Sportlern sah man andere Werte verkörpert als in Künstlern oder Managern. Aber so gut eine einzelne Person als Testimonial fungieren oder eine ganze Spezies von Menschen mit bestimmten Eigenschaften assoziiert werden kann, so wenig geht es dabei jemals trennscharf um den einen oder einen anderen Wert. Vielmehr hat man es immer mit einem Mix an Werten zu tun, der sich je nach Anlass und Interesse anders deuten lässt. Dieser Spielraum mag von Vorteil sein, er verhindert andererseits aber, dass sich Werte einzeln manifestieren und damit unzweifelhaft vergegenwärtigt werden – sich wirklicher zeigen als sonst. Dies geschieht erst, wenn ein Wert fest mit einem Ding verknüpft wird, dessen Eigenschaften ihm entsprechen, so dass es ihn anschaulich macht und materialisiert. Genau das aber findet in der heutigen Konsumkultur statt. Seit einigen Jahren wird es zunehmend beliebt, ein Produkt nicht einfach nur mit einem Leistungsversprechen attraktiv zu machen, auch nicht nur schöne Situationen und romantische Momente zu beschwören oder verborgene Sehnsüchte der Konsumenten zu wecken, sondern jeweils einen bestimmten Wert damit in Szene zu setzen. Im zeitgenössischen Marketing hat man besser als irgendwo sonst erkannt, dass Werte regulative Fiktionen sind: etwas, das umso mehr Orientierung und Geborgenheit bietet, je prägnanter und suggestiver es in einzelnen Produkten gestaltet ist, das aber auch großartig inszeniert werden kann, eben weil es den Charakter einer Fiktion besitzt. Damit liefert die Konsumkultur den wichtigsten Beitrag dazu, dass komplexe ethische Fragen mittlerweile am liebsten auf Wertefragen reduziert werden, ja dass über Werte noch nie so verdinglicht diskutiert werden konnte wie heute. In manchen Branchen und Milieus ist es geradezu schon selbstverständlich, ein Produkt eng mit einem einzelnen Wert zu verknüpfen. Insbesondere Produkte des täglichen Bedarfs, lange eine profane Angelegenheit, erhalten so gesteigerte Bedeutung und werden zu beflügelnden Sinnstiftern. Ein Duschgel kündet heute etwa von »Victory«, wobei die Gelsubstanz sicher nicht zufällig goldgelb ist. Dass dies gleichermaßen an die Härte von Metall wie an
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Glamour denken lässt, beflügelt nämlich Träume vom Siegen erst recht und macht diesen Wert – sowie mit ihm eine ganze Kultur des Wettbewerbs – regelrecht erlebbar. Ein Körperspray eines anderen Herstellers heißt hingegen »Peace«. Zwar erinnert die schwarz mattierte Flasche zuerst an Sprühdosen mit Tränengas, doch wird die Erwartung, es müsse sich um eine Substanz mit durchschlagender Wirkung handeln, durch das ebenfalls prominent auf dem Flaschenkörper platzierte Friedenszeichen der Friedensbewegung so modifiziert, dass man dem Produkt eine überwältigend harmonisierende Qualität zutraut. Das Spray »nutzt die Kraft der Anziehung und vereint weltweit Frauen und Männer im Namen der Liebe«, heißt es in der begleitenden Werbung.3 Um den übertreibenden Charakter solcher Formulierungen wissen alle Beteiligten, die sich damit aber cool und überlegen fühlen können. Zugleich wird das Produkt so zu einer Coverversion von Flowerpower und Woodstock-Feeling, es beschwört eine Aufhebung des ›principium individuationis‹, weckt gar Bilder einer sanft-dionysischen globalen Orgie. Bei aller Maßlosigkeit, die einer solchen Vision zueigen ist, mag sie bei manchem immerhin dazu führen, in anderen Menschen stärker das Verbindende als das Trennende zu sehen. Sich des Körpersprays Peace zu bedienen, wird dann zu einer Übung mit dem Ziel, mehr Neugier und Wohlwollen zu entwickeln. Man imprägniert sich mit dem guten Willen, allem und allen so freundlich wie möglich zu begegnen, und so wird das Produkt tatsächlich zur Inszenierung einer regulativen Fiktion: des Werts ›Frieden‹. Andere Varianten desselben Produkttyps stellen Abenteuer oder Stärke oder Eleganz in Aussicht. Dieselben Werte verheißen aber auch die Hersteller von Hautcreme, von Sportschuhen und selbst von Mineralwasser. Geht es um Tee, kann man zwischen Sorten wählen, die so Großes wie »innere Freiheit« oder »lange Freundschaft« versprechen. Ein anderer Hersteller unterscheidet Varianten, die jeweils exakt einem Wertbegriff entsprechen. So kann man sich für Ruhe, Reinheit oder Kraft entscheiden. Dass diese Tees auch noch als ›limited edition‹ gekennzeichnet sind, macht den in ihnen verkörperten Wert umso erfahrbarer: als etwas, das knapp und kostbar ist und daher erst recht geschätzt werden muss, absurderweise aber auch als etwas, um das man sich schnell bemühen sollte, bevor andere einem zuvorkommen und man so keinen Zugriff mehr auf den entsprechenden Wert hat. Eine weitere Teemarke trat hingegen jahrelang mit dem Slogan »Hier zählt das Wir« auf und appellierte so an den Wert ›Solidarität‹. Ganz ähnlich lautete aber auch die SPD-Parole im Bundestagswahlkampf 2013, als es nämlich hieß: »Das Wir entscheidet.« So lassen sich politische Parteien und Konsummarken geradezu miteinander verwechseln, und offensichtlich werden Wertefragen mittlerweile nicht 3 | www.axe.de/product/detail/785047/-peace-bodyspray
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mehr nur in Parlamenten, sondern genauso – oder sogar expliziter – vor den Supermarktregalen verhandelt. Dort erscheinen sie auch garantiert nicht abgehoben; sie erreichen die Menschen vielmehr in ihrem Alltag und sind, einzeln konfektioniert, im wörtlichen Sinne griffiger als irgendwo sonst. Verführerisch aufgemacht, lässt sich der jeweilige Wert auswählen, mitnehmen, erwerben. Auf dem Förderband an der Kasse zeigt sich, was dem Kunden wichtig ist, welche Einstellungen er vertritt und zu welcher Art von Handeln er sich motivieren lässt. Da es eine beinahe tägliche Übung geworden ist, beim Shopping über Werte nachzudenken und sie als attraktive ideelle Substanz der Dinge wahrzunehmen, braucht nicht zu verwundern, wenn auch gesellschaftspolitische Debatten mittlerweile den Charakter eines Familieneinkaufs besitzen. Der eine hätte lieber die eine Sorte, der andere lieber eine andere, vielleicht einigt man sich, aber vielleicht landen schließlich auch beide im Einkaufswagen. Oder man probiert mal eine neue Variante aus, gibt einer momentanen Laune nach, wählt etwas aus, weil es gerade besonders günstig zu sein scheint. Und alle zusammen lieben Listen und Kataloge. Während viele das Einkaufen heute interessanter und herausfordernder empfinden als früher, weil mit den Werten immerhin die großen Themen des Lebens aufgerufen werden, haben sie zugleich mehr Spaß an politischen Diskussionen, geht es da doch kaum noch um komplizierte und verkopfte Ideologien, sondern um so schöne Dinge wie Freiheit, Gesundheit, Solidarität, Sicherheit, proper einzeln verpackt und offeriert. Daran gewöhnt, Werte in Form von Produkten perfekt in Szene gesetzt zu sehen, verliert man schnell aus dem Blick, dass der Einsatz dafür auch bedeuten kann, auf etwas verzichten oder negative Folgen akzeptieren zu müssen. So heißt Solidarität eben nicht nur, harmonische Stunden beim gemeinsamen Teetrinken zu verbringen, sondern impliziert genauso, zugunsten anderer Eigenes aufzugeben oder darauf bedacht zu sein, niemanden dadurch abzuhängen, dass man selbst zu erfolgreich und stark wird. Eigentlich dürfte man dann also nicht gleichzeitig Produkte konsumieren, die von ›Victory‹, ›Power‹ oder ›Success‹ künden und eher den Wettbewerbsgeist als ein Wir-Gefühl trainieren. Doch wer hält sich daran schon? Vielmehr lässt man sich ein Regal weiter von einem Produkt verführen, das einen ganz anderen – konkurrierenden oder entgegengesetzten – Wert repräsentiert. Für sich allein genommen, findet man ihn aber ebenfalls gut und wichtig und will sich somit dazu bekennen. Je isolierter voneinander Werte vergegenwärtigt werden, desto schwerer wird es jedoch, ihre unterschiedlichen Ansprüche überhaupt zu bemerken. Zwischen ihnen angelegte Zielkonflikte werden nicht bewusst. Und je häufiger und professioneller Werte konsumistisch auf bereitet werden, desto mehr beeinflusst das auch politische und philosophische Debatten. In ihnen besteht dann ebenfalls die Neigung, so zu tun, als seien Werte etwas, das sich beliebig trennen,
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verschieben und verbinden lasse. Und das gilt bei weitem nicht nur für die Diskussion über Wertekataloge für Flüchtlinge. Dass es zwangsläufig zu Relativismus führt, wenn man ethische Fragen als Wertediskussionen verhandelt, wurde auch schon zu Zeiten kritisiert, in denen Tees und Shampoos noch sehr naheliegende Namen trugen. Auch ohne explizite Verdinglichung haben Werte es nämlich an sich, zwar jeweils einzeln in einem Begriff gefasst zu werden, immer aber auch im Plural aufzutreten. Ihr Verhältnis zueinander sei »vielgestaltig und ungeklärt«, sagt Andreas Urs Sommer und folgert daraus, dass in jedem Fall neu ausgehandelt werden müsse, welchem Wert jeweils Vorrang zu gewähren sei. »Politische und soziale Kommunikation ist immer ein Markt«, stellt er fest.4 Während Sommer das auch begrüßt, da auf diese Weise garantiert sei, dass nicht ein Wert alles dominiere und absolute Geltung – diktatorische Macht – erlange, bezweifeln andere, dass sich mit Werten überhaupt fruchtbar diskutieren lasse. Sie werden gerade aufgrund ihrer Relativität als zu schwach angesehen, um verbindliche Moralurteile zu ermöglichen. Der Theologe Christof Breitsameter etwa bemängelt, Werte würden nicht dabei helfen, »wie wir entscheiden und was wir tun sollen«. Denn: »Entscheidungen und Handlungen sind aus Werten nicht abzuleiten, weil für andere Entscheidungen und andere Handlungen andere Werte zitiert werden können.« So können Werte bei Entscheidungen zwar einen »Rückhalt« bieten, mehr aber nicht, und wer ein festes Fundament, gar eine Letztbegründung für sein Handeln sucht, wird mit ihnen nicht weit kommen.5 Doch auch wenn man es für völlig ausreichend hält, dass Werte Rückhalt bieten oder dem Handeln als regulative Fiktionen mehr Überzeugungskraft verleihen, sollte man sich bewusst sein, welche Vereinfachungen und Verharmlosungen es mit sich bringt, Werte wie Waren zu verdinglichen und zu einer Sache des Marktes – oder Supermarktes – zu erklären. So kann man unterschiedliche Tees zwar problemlos zugleich kaufen, doch einen GuteNacht-Tee und einen Tee mit aufputschender Wirkung gleichzeitig zu trinken, macht keinen Sinn. Erst recht ist es aber schwierig, unterschiedliche Werte simultan zu vertreten. Handelt man im Sinne des einen Wertes, tangiert das nämlich zwangsläufig andere Werte, die dann nicht oder nur eingeschränkt zur Geltung kommen können. Das Bekenntnis zu Werten, wie es in einem Kaufakt stattfindet, darf also nicht mit dem Handeln nach Werten verwechselt werden. Letzteres hat oft sogar irreversible Folgen und kann daher nicht einmal mit einem anderen Handeln ausgeglichen werden, das dem zuerst zu kurz gekommenen, aber dennoch geschätzten Wert entspricht: Wer aus Über4 | A.U. Sommer, Werte sind verhandelbar. 5 | Breitsameter, Christof: Individualisierte Perfektion. Vom Wert der Werte, Paderborn: Schöningh 2009, S. 10, S. 16.
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zeugung für den Wert ›Familie‹ Kinder in die Welt setzt, kann den Wert ›Unabhängigkeit‹ fortan nicht mehr so gut ausleben wie jemand ohne Kinder. Beim Erstellen von Wertekatalogen geraten solche Unvereinbarkeiten schnell aus dem Blick, genauso werden Bekenntnisse schon als Handlungen angesehen. Dass Werte sich heute in Produkten einzeln materialisieren, macht sie also nicht nur gegenwärtiger und virulenter als je zuvor, sondern damit werden auch Freiheiten suggeriert, die jenseits des Supermarkts gar nicht existieren. Anstatt sich darin zu üben, Entscheidungen in ihren Konsequenzen zu reflektieren und das eigene Handeln insgesamt möglichst kohärent anzulegen, also an einer klaren, in sich stimmigen Welthaltung zu arbeiten, tut man so, als lasse sich in jedem Moment alles neu und unabhängig von anderem entscheiden. Dass viele der Produkte, die Werte inszenieren, mit allen denkbaren Effekten von Erotik und Verführung agieren und ihrerseits das Neu-Sein zelebrieren, verstärkt die Atmosphäre von Anfang und Unschuld. In der konfektionierten Wertewarenwelt geht es viel mehr um Ambitionen als um Konsequenzen, weniger um Konflikte als um Erwartungen. Eine solche Reduktion von Ethik auf viele kleinste Einheiten – einzelne Werte – genügt aber weder den Ansprüchen des kategorischen Imperativs noch anderen moralphilosophischen Konzepten. Diese zielen im Gegenteil darauf, entweder alles – wie etwa in den Religionen – möglichst wenigen allgemeingültigen Prinzipien zu unterwerfen oder aber einzelne Handlungen – wie etwa im Utilitarismus – in möglichst große Zusammenhänge zu stellen. Der Philosoph Rudolf Burger deutet die heutige Vorliebe für Werte als »verzweifeltes Kompensationsunternehmen in Reaktion auf eine metaphysische Verlusterfahrung«. Nachdem im 19. Jahrhundert der Glaube an überzeitliche Systeme – einen Ideenhimmel oder eine göttliche Weltordnung – durch den Kantianismus und die Naturwissenschaften brüchig geworden sei und nihilistische Strömungen an Relevanz gewonnen hätten, seien ›Werte‹ zu Ersatzentitäten geworden. Der Wertbegriff habe sich von der Ökonomie ausgehend ausgebreitet, dann sei immer mehr in Werte übersetzt worden. In ihnen hätten alle ethischen Fragen eine unanzweifelbare Basis gefunden. Denn so sehr man über den genauen Wert einer Sache streiten kann, so wenig strittig ist, dass sie irgendeine Art von Wert besitzt. In den Worten Burgers: »Mit der Wertphilosophie wird die moralische Welt eindimensional, es gibt höhere und niedere Werte, es gibt auch ›negative‹ Werte, ›Unwerte‹, auf welche die Werte je bezogen sind, aber nichts außerhalb der Skala der Werte – so macht der Wert die Dinge und die Ideen kommensurabel; und was einen Wert hat, hat letzten Endes auch einen Preis, das heißt: Man kann es kaufen.«6 6 | Burger, Rudolf: »Die Inflation der Werte«, in: Die Presse vom 27. Juni 2014, http:// diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/3829008/Die-Inflation-der-Werte
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Ist das Denken in Werten also auch Ausdruck einer zunehmend kommerzialisierten Welt, so geht Burger jedoch nicht darauf ein, wie die Konsumkultur den Wertedebatten gerade in den letzten Jahren einen nochmals anderen Charakter verliehen hat. Man könnte sogar zu der Auffassung gelangen, dass die Entwicklungen des Marketing das Wertedenken zu seinen Ursprüngen zurückgeführt und somit vollendet haben. Es ist nicht mehr nur so, dass alles, was einen Wert hat, als Ware taugt und Nachfrage findet, sondern umgekehrt gilt auch, dass etwas, eben weil es Ware ist, eigens mit einem bestimmten Wert verbunden, mit etwas Ideellem aufgeladen wird, um noch begehrter zu sein und einen höheren Preis zu rechtfertigen. Hat man sich früher für eine Ware entschieden, weil man ihr einen spezifischen Wert – meist einen schlichten Gebrauchswert – unterstellte, so heute, weil man sich zu einem Wert – meist einem hehren moralischen Wert – bekennen will. Soweit dieser sich in der Ware verkörpert, lässt sich ihr Erwerb wie eine Aneignung und Bekräftigung, ihr Gebrauch wie ein von diesem Wert geleitetes Handeln erfahren. Geld auszugeben etwa suggeriert, man habe im Gegenzug den in der jeweiligen Ware materialisierten Wert erhalten und könne fortan objektiv belegen, im Besitz dieses Werts zu sein. Burger folgend könnte man in diesem Verhalten ebenfalls noch einen Kompensationsversuch sehen: Die Unverbindlichkeit der Werte, ja ihre Schwäche, die darin besteht, kein bestimmtes Verhalten als notwendig deklarieren zu können, führt überhaupt erst dazu, ihnen durch Verdinglichung mehr Realität und Objektivität verleihen zu wollen. Die aktuelle Konsumwelt liefert dabei nur den bisher stärksten Beleg für den Wunsch, ihren ontologischen Status zu erhöhen und sie mit einer Macht auszustatten, die über die von regulativen Fiktionen hinausgeht. Rudolf Burger bezieht sich in seiner Analyse auch auf Martin Heidegger, der wohl der stärkste Kritiker jeglicher Art von Wertephilosophie war und an dieser bereits früh gerade Bestrebungen der Vergegenständlichung kritisierte. Der Versuch, »die Werte selbst zu Gegenständen an sich zu machen«, so Heidegger in einem Aufsatz aus dem Jahr 1938, sei Ausdruck eines Bedürfnisses nach Objektivierung, das wiederum aus einer generellen Unsicherheit im Verhältnis zur Welt entspringe. So sei »das Seiende in gewisser Weise des Seins verlustig« gegangen, werde nur noch dürftig und eindimensional erfahren. Umso mehr erhoffe man sich von der Vergegenständlichung der Werte, ja davon, Werte gar noch in eine Systematik zu bringen und zu hierarchisieren, um höhere von niederen unterscheiden und bestenfalls einen höchsten Wert identifizieren zu können. »Der Wert scheint auszudrücken, dass man in der Bezugstellung zu ihm eben das Wertvollste selbst betreibt, und dennoch ist gerade der Wert die kraftlose und fadenscheinige Verhüllung der platt und hin-
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tergrundlos gewordenen Gegenständlichkeit des Seienden. Keiner stirbt für bloße Werte.« 7 An anderer Stelle bezeichnet Heidegger »das Denken in Werten« sogar als »die größte Blasphemie, die sich dem Sein gegenüber denken« lasse, werde dann doch alles auf einen »Gegenstand für die Schätzung des Menschen« reduziert, also auf eine sehr nüchterne, kalkulierende Weise heruntergerechnet. Etwas einen Wert zuzuschreiben, bedeutet für ihn, dass »das so Gewertete seiner Würde beraubt wird«.8 Heidegger zufolge ist das Werte-Denken also in zwiefacher Weise unzulänglich, einerseits weil das Isolieren einzelner Werte eine Herabsetzung dessen bedeutet, was damit beschrieben werden soll, ja weil es die Sachverhalte geradezu vergewaltigt, andererseits aber weil die so brachial verkürzenden Werte zu schwach sind, um ihrerseits etwas bewirken, verändern, durchsetzen zu können. Hätte er die Spielarten heutigen Marketings noch erlebt, fühlte Heidegger sich vermutlich in seinen Einschätzungen bestätigt – und erhöbe den Vorwurf, ein Produkt, das einen bestimmten Wert zu verdinglichen behaupte, sei doppelt verlogen: Es verzerre vielschichtige Seinsverhältnisse zu bloßen Klischees und bleibe dennoch zu abstrakt und pseudo-real, um jemals zu mehr als einem oberflächlichen Bekenntnis führen zu können. Was Heidegger den Werten unterstellt, ist der Denkfigur nach aber sehr viel älter und wurde von früheren Philosophen gegen anderes in Anschlag gebracht. So läuft Platons Argumentation gegen Bilder nach genau demselben Muster – dies auch die erste überlieferte Version einer Kritik, die dem Kritisierten brutalen Reduktionismus und Kraftlosigkeit zugleich vorhält. So wirft Platon den Malern vor, was sie lieferten, sei nur ein Abklatsch der Wirklichkeit, ja ihre Bilder seien »dreifach von der Wahrheit entfernt«, also etwas äußerst Schwaches, eben in ihrer plakativen Eindimensionalität stellten sie aber auch eine Pervertierung dar und hätten schädliche Einflüsse auf diejenigen, die sich von ihnen beeinflussen ließen, brächten somit »auch nur Schlechtes hervor«.9 Ähnlich wiederholt sich die Kritik im Protestantismus, wenn man Bilder einerseits dafür kritisiert, den Seinsgehalt dessen, was sie abbilden, gar nie selbst bieten zu können, also bloß schwache Illusion zu sein, ihnen andererseits aber zum Vorwurf macht, die Menschen zu verführen, so dass das auf ihnen Dargestellte für real gehalten werde. Man sieht, dass in den Verurteilungen, die Bilder und Werte erfahren haben, eine negative Qualifizierung dessen zum Vorschein kommt, was Andreas 7 | Heidegger, Martin: »Die Zeit des Weltbildes« [1938], in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 1980, S. 73-110; S. 99f. 8 | Heidegger, Martin: »Über den ›Humanismus‹« [1947], in: Ders.: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern: Francke 1975, S. 53-119; S. 99f. 9 | Platon: Politeia, 599a, 603b.
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Urs Sommer in Bezug auf die Werte positiv als »regulative Fiktion« gefasst hat. Platon und Heidegger denken das Fiktionale nur als Lüge oder Seinsmangel, das Regulative hingegen als vergewaltigend-willkürlichen Zugriff. Im Übrigen findet sich Heideggers Werte-Kritik bezeichnenderweise in einem Zusammenhang, in dem er vor allem mit der Vorstellung von der Welt als Bild abrechnet, wobei nach seinen Maßgaben beides, Werte und Bilder, daran krankt, infolge einer Vergegenständlichung und Verobjektivierung eben die Seinsmacht zu verfehlen, die damit angestrebt wird. Interessanterweise trifft man auf denselben Typ von Kritik auch gegenüber einem Phänomen, das sich in mancher Hinsicht als eine historische Parallele zu den Wertverdinglichungen in der heutigen Konsumwelt beschreiben lässt, nämlich gegenüber Allegorien, wie sie in verschiedenen Epochen der Kulturgeschichte, besonders prominent etwa im Barock, in Dichtung und Malerei geschaffen wurden. Allegorien sind bildhafte Veranschaulichungen von abstrakten Begriffen wie Klugheit, Wahrheit oder Gerechtigkeit; sie übersetzen diese gleichsam in eine konkrete Gestalt, um ihnen so mehr Realität und Verbindlichkeit zu verleihen. Oft waren die Allegorien Tugenden oder Idealen gewidmet, sie galten somit genau dem, was in der Moderne als Werte interpretiert wird. Deshalb kann man sagen, dass auch in Allegorien regulative Fiktionen eine Auslegung erfahren: In ihnen wird kunstvoll ausgeführt, was in einem Begriff an bildlichem Potenzial steckt; sie transformieren einen Leitbegriff in ein Leitbild und steigern somit eine bereits angelegte Verdinglichung noch weiter. Liegt damit wiederum ein offenkundiger Zusammenhang von Werten und Bildern vor, so braucht auch die Kritik an Allegorien nicht zu verwundern. Sie hat ihre Blütezeit im späten 18. und 19. Jahrhundert und ist mit Namen wie Karl Philipp Moritz, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Theodor Vischer verknüpft. Allegorien seien künstlich, suche man doch zu etwas Allgemeinem erst ein Besonderes, statt im Besonderen etwas Allgemeines zu entdecken, wie Goethe bemängelt.10 Wo der Ausgangspunkt abstrakt ist, kann die Sache nicht mehr lebendig werden; Vischer spricht von einer »todte[n] Geburt des Verstandes« und bestreitet gerade, dass die Verbildlichung genügt, um ein Sujet der »Reflexion« in eines der »Begeisterung« zu verwandeln.11 Haben Goethe und Vischer grundsätzliche Vorbehalte gegenüber der Allegorie, so unterscheidet Karl Philipp Moritz, ob in ihr die Idee dem Kunstwerk untergeordnet ist und ihm dient oder ob umgekehrt die Idee die Oberhand über das Kunstwerk hat. Dann, so seine Überzeugung, nimmt dieses Schaden, denn etwas, das von außen an es herangetragen wird, wird zur Haupt10 | Vgl. Goethe, Johann Wolfgang v.: Maximen und Reflexionen (1825), Nr. 279. 11 | Vischer, Friedrich Theodor: »Der Triumph der Religion in den Künsten«, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 4.1 (1841), S. 108-125; S. 113f.
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sache und »zerstreuet« die Aufmerksamkeit, die sonst auf das Kunstwerk als »ein in sich vollendetes Ganzes« konzentriert sein kann. Bei einer schlechten Allegorie hat das Werk somit »nicht mehr seinen Zweck bloß in sich selbst, sondern schon mehr nach außen hin«. Bei einer gelungenen Allegorie hingegen erscheint die Idee wie eine logische Konsequenz aus einer Betrachtung, sie folgt ihr spielend, nachdem man sich an den Schönheiten des Kunstwerks, an seiner Einheitlichkeit und Stimmigkeit »ergötzt« hat. Als Beispiel für eine missglückte Allegorie nennt Moritz die seit dem Mittelalter übliche Darstellung der Iustitia – der Gerechtigkeit – mit den drei Attributen ›Schwert‹, ›Waage‹ und ›Augenbinde‹. Hier, so sein Vorwurf, »widerspricht ein Symbol dem andern, sobald die Figur an und für sich selbst kunstmäßig betrachtet wird. Der Gebrauch des Schwerts erfordert ja eine ganz andere Stellung als der Gebrauch der Waage, die Waage eine ganz andere Stellung als das Schwert, und der Gebrauch von beiden erfordert offne Augen. Nichts ist widriger als diese Figur; bei ihr erscheint nichts in Bewegung, nichts in Tätigkeit; sie hält bloß maschinenmäßig das Schwert und die Waage, und die verbundenen Augen machen sie noch untätiger. – Die ganze Figur ist überladen und steht, von sich selbst erdrückt, wie eine tote Masse da.«12 Müsste nach Moritz jedes allegorische Gemälde der Gerechtigkeit, das sich an die konventionellen Attribute hält, misslingen, erscheint es ihm hingegen möglich, dass Allegorien des Glücks, bei denen die Figur der Fortuna auf einer Kugel balanciert, stimmig ausgeführt sind, der abstrakte Begriff sich der Schönheit der Darstellung also unterordnen kann und gerade dadurch eine Verlebendigung erfährt. Wie aber verhält es sich bei Konsumprodukten? Gibt es auch unter ihnen Beispiele, bei denen sich davon sprechen ließe, dass der Wert, den sie in Szene setzen, dem Design untergeordnet ist und die regulative Fiktion daher auf überzeugende, gleichsam selbstverständliche Weise wirksam werden kann? Oder wird hier ein abstrakter Begriff doch immer nur mehr oder weniger beliebig appliziert, so dass lediglich ein äußerlicher Bezug zwischen diesem und dem Erscheinungsbild des Produkts entsteht? Und ist es überhaupt möglich, ein Körperspray so mit Frieden und einen Tee so mit Reinheit zu verbinden, dass daraus etwas Einheitliches, Stimmiges wird? Was bedeutet es schließlich, dass der Zweck eines Konsumprodukts, folgt man den Kategorien von Moritz, notwendigerweise von außen – von den Interessen der Käufer und Verkäufer – bestimmt ist, es also nie in sich selbst vollendet sein kann? Gerade letzteres ist entscheidend und verweist auf einen grundlegenden Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einem Konsumprodukt. Wie jenes sich in der Betrachtung erfüllt, so dieses im Gebrauch. Während eine 12 | Moritz, Karl Philipp: Über die Allegorie [1789], in: Ders.: Werke in zwei Bänden, Band 1, Berlin/Weimar: Aufbau 1973, S. 301-304.
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Allegorie des Friedens, etwa ein Gemälde von Jacob Jordaens aus den 1620er Jahren, dazu veranlassen kann, sich eine von Harmonie, Wohlstand und Sorglosigkeit geprägte Atmosphäre vorzustellen und die Sehnsucht danach ausgehend von einzelnen Bilddetails zu intensivieren, weckt ein Körperspray, das »Peace« heißt, die Erwartung, dass mit seiner Anwendung etwas passiert, sich die Atmosphäre also auch real verändert. Muss es dem Maler daher gelingen, mit Mitteln wie Komposition und Farbauftrag die Phantasie anzuregen und sein Thema so anschaulich wie möglich zu machen, hat der Designer die Aufgabe, das Funktions- und Wirkversprechen möglichst glaubwürdig werden zu lassen. Also sieht man auf dem Gemälde üppige Speisen und dralle Körper, alles drängt über den Bildrahmen hinaus, so als könnten die Wonnen nie enden und drohe höchstens Überdruss. Das Körperspray hingegen bezieht seine Überzeugungskraft daraus, dass der Eindruck durchschlagender Wirkung, den die Assoziation mit einer Tränengasflasche erzeugt, durch das prägnante Friedenszeichen ins Gegenteil verkehrt wird, also eine radikale Umcodierung stattfindet und dem Produkt zugetraut wird, etwas zu verströmen, das die Stimmung der Menschen schlagartig so wendet, dass sie harmonieselig werden. Beide, Gemälde und Konsumprodukt, nehmen idealerweise Einfluss auf die Haltung dessen, der damit zu tun hat, denn einmal werden durch die Betrachtung Kräfte mobilisiert, um zur Verwirklichung des ersehnten Friedens beizutragen, im anderen Fall löst die Benutzung des Sprays eine Art von Placeboeffekt aus, so dass der Nutzer seiner Umwelt entspannter begegnet und sie zugleich friedlicher wahrnimmt.13 Daran zeigt sich nochmals vor allem der regulative Charakter der jeweiligen Fiktion. Und wie der Käufer oder Auftraggeber einer Allegorie im 17. Jahrhundert damit zuerst ein Bekenntnis zu einer Tugend, einer Lebensform, einer philosophischen Haltung abgelegt hat, sich dann aber in der wiederholten Betrachtung davon prägen ließ, so hat heute der Akt des Kaufs eines Konsumprodukts ebenfalls eine vor allem repräsentativ-bekenntnishafte Bedeutung, während sein Gebrauch die Mentalität des Nutzers beeinflusst. Viele Allegorien bestanden aus schönen, oft nackten Frauen, was Reinheit ausdrücken, vor allem aber Begehren erzeugen sollte. Die sonst vielleicht nur mit dem Verstand als wichtig anerkannten Tugenden und Ideale sollten lustvoll vergegenwärtigt werden, so dass man ihrer selbst unbedingt teilhaftig werden wollte. Bei heutigen Produkten wecken dafür Materialitäten und Oberflächen eine haptische Lust, die Formen und davon ausgelösten Assoziationen sorgen für innere Bilder und Emotionen, welche das Begehren weiter anfachen. Allerdings ist die Konsumwelt einseitiger als der Kosmos der Allegorien. So gab 13 | Vgl. Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013, S. 89ff.
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es diese auch für Laster und Sünden, und dass dann dieselben erotisierenden Effekte zum Einsatz kamen, sollte die Verführungskraft des Bösen sinnfällig werden lassen. Dann galt es, sich in der Betrachtung als resistent zu erweisen und Willensstärke zu trainieren, um gegen schlechte Neigungen anzugehen. Dagegen sind einige wenige Produkte, die auf Abgründiges anspielen, etwa Duschgels mit Namen wie »Vice« – Laster – oder »Deep Temptation« – Dunkle Versuchung –, ironisch gemeint; sie kokettieren eher mit konsumkritischen Vorbehalten gegen jegliche Warenästhetik, als den Konsumenten dazu zu bringen, Anti-Sünden-Techniken einzuüben. An dieser Differenz zwischen Allegorien und Produkten lässt sich nochmals gut erkennen, dass letztere stärker auf eine unmittelbare positive Veränderung setzen, erstere hingegen stärker auf Formen der Reflexion ausgerichtet sind und daher den Anspruch verfolgen, die Welt in all ihren Seiten und Dimensionen auszuloten. In den letzten Jahren und somit parallel zur Assoziierung von Produkten mit Werten haben viele Hersteller Konzepte entwickelt, die gerade die Kraft zur Veränderung noch stärker betonen, ja den Eindruck verstärken sollen, sogar bereits mit dem Kauf werde Gutes bewirkt. So wird etwa kommuniziert, dass ein Teil des Preises für ein Produkt dafür verwendet wird, ein Projekt zu unterstützen, das im Sinne des beanspruchten Wertes ist. Der Kunde darf sich so nicht nur im Besitz einer guten, werteorientierten Gesinnung fühlen, sondern zugleich als jemand, der seine Werte auch lebt, danach handelt, etwas zum Besseren verändert. Es gibt mittlerweile sogar etliche Unternehmen, die einen Wert nicht nachträglich auf ein Produkt pflanzen, um dieses ideell aufzuladen, sondern die überhaupt nur aus der Überzeugung für einen Wert ein Produkt entwickeln, das diesem möglichst gut entspricht und sowohl Werbung für ihn machen als auch Veränderungen ermöglichen soll, in denen er sich verwirklicht. Der Hersteller von Eistees mit dem Namen »ChariTea« verfolgt etwa den Zweck, Kleinbauern in unterentwickelten Ländern zu helfen, von denen die Rohstoffe bezogen werden; zugleich spendet das Unternehmen fünf Cent pro Flasche für soziale Projekte.14 Einer der Unternehmensgründer war davor in der Entwicklungshilfe tätig, und nur weil er deren Methoden für fragwürdig hielt, kam er auf die Idee, selbst effektiver zu helfen und daher zum Getränkeproduzenten zu werden. »ChariTea« ist von »charity« abgeleitet, was wiederum von »caritas«, der Nächstenliebe, kommt, die neben Glaube und Hoffnung zu den drei theologischen Tugenden gehört – und daher oft Thema von Allegorien war. Auf ihnen sieht man üblicherweise eine Frau, umgeben von mehreren kleinen Kindern, 14 | Vgl. Täubner, Mischa: »Die Krux mit der Moral. Was ist von Unternehmen zu halten, die die Welt verbessern wollen? Der Fall Lemonaid«, in: brandeins 5/2015, www.brand eins.de/archiv/2015/ziele/lemonaid-die-krux-mit-der-moral
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oft noch im Stillalter. Sie kümmert sich also nicht nur um den eigenen Nachwuchs, sondern genauso um alle anderen, die ihre Hilfe benötigen. Auch ihnen gibt sie die Brust, sorgt für sie wie eine Mutter und bekundet damit ›caritas‹ – eine Liebe, die, anders als die Liebe zu einem Partner, keine exklusiven Züge trägt. Dass das Unternehmen, das »ChariTea« herstellt, den Slogan »Trinken hilft!« gewählt hat, mag eine Anspielung auf das Sillmotiv alter Caritas-Allegorien sein; zugleich findet aber eine Umkehrung statt, wird nun die Hilfe doch damit geleistet, dass das Trinken Geld kostet, welches den Zulieferern zugutekommt. Und so betont der Slogan vor allem, wie sehr Konsumieren auch Handeln bedeuten kann. Selbst mit dem Kauf eines lifestyleorientierten Getränks wie Eistee kann man heute also die Welt verbessern; entsprechend darf man die Rolle eines hedonistisch-verschwenderischen Verbrauchers ablegen, in der man sich als Konsument häufig fühlt, und dafür der Position eines politischen Aktivisten nahekommen, der Werte über egoistische Ziele stellt. Tatsächlich haben zunehmend mehr Menschen den Eindruck, sich heute als Kunden besser denn als Wähler, Parteimitglieder oder Demonstranten für Ideale engagieren zu können. In ähnlicher Weise wie für ›caritas‹ finden sich mittlerweile für fast alle alten Tugenden und Sujets von Allegorien Analogien in der Produktwelt. So stellen etwa Produkte, die den Wert ›fair trade‹ für sich reklamieren, eine Verkörperung der Gerechtigkeit dar, die lange zu den vier Kardinaltugenden zählte. Dabei haben heutige Produzenten ein anderes, vielleicht sogar besseres Leitbild dafür gefunden als jene Attribute, die Karl Philipp Moritz so unpassend und krampfhaft erschienen. So unterstellen zahlreiche Unternehmen, die sich zu fairem Handel bekennen, ihr Handeln einer Idee von Transparenz, leuchten also gerade die Teile des Produktionsprozesses aus, die sonst oft im Dunkeln blieben. Auf Produktverpackungen, erst recht auf ihren Websites zeigen sie Bilder von Arbeitern oder Zulieferern, nennen Zahlen zum Ressourcenverbrauch oder der Klimabelastung oder bringen Schaubilder, auf denen sichtbar wird, wer wie viel vom Verkaufspreis erhält. Auf diese Weise werden Zusammenhänge und Kausalitäten präsent, die sich sonst höchstens vage vermuten lassen oder die gar nicht im Bewusstsein sind, und mit jedem zusätzlich erwähnten Faktum steigt die Wahrscheinlichkeit, dass niemand, der direkt oder indirekt am Wertschöpfungsprozess eines Produkts beteiligt ist, schlecht behandelt wird. So sehr Transparenz immer neu erarbeitet werden muss und sich jederzeit noch weiter ausdehnen lässt, so sehr stellt sie das Leitbild eines Begriffs von Gerechtigkeit dar, demzufolge diese darin besteht, jedem die individuell gebührende Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenzubringen. Dagegen repräsentiert die mit einer Augenbinde versehene Figur der Iustitia die Vorstellung von der Gerechtigkeit als etwas, das verlangt, alles ohne Ansehen der
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Person zu beurteilen, sich also gerade nicht von Äußerlichkeiten und individuellen Unterschieden leiten zu lassen. Dem mit ›Transparenz‹ ausgedrückten Prinzip »Jedem das Seine« steht so das durch die Augenbinde symbolisierte Prinzip »Jedem das Gleiche« gegenüber – beides in der Geschichte der Rechtsphilosophie gleichermaßen virulente Konzepte von Gerechtigkeit. An diesem Beispiel zeigt sich, wie Allegorien und Konsumprodukte einen Wert nicht nur veranschaulichen, sondern dabei auch spezifisch interpretieren. Damit erfährt zugleich die regulative Kraft des Wertes eine jeweils andere Ausrichtung, was wiederum Folgen für die Gesellschaft hat. So wird durch die Idee der Transparenz nicht nur lange Übersehenes endlich auch berücksichtigt; vielmehr wächst ebenso ein Bewusstsein dafür, wie oft selbst scheinbar weit voneinander Entferntes kausal miteinander verbunden ist. Das wiederum stärkt Zusammengehörigkeitsgefühle, und im letzten entsteht eine Ahnung davon, was es heißt, dass alle Menschen in derselben endlichen Welt leben, wird also die sonst sehr abstrakte Vorstellung globaler Verbundenheit ein wenig besser nachvollziehbar. Können Produkte damit zu einer Spielart von Wir-Gefühl beitragen, so gelingt dies gleichzeitig noch in anderer Weise. Immerhin darf sich jeder Kunde, der ›fair trade‹-Konsum betreibt, als Teil einer größeren Gruppe verantwortungsbewusster Bürger, gar als Mitglied einer unter Gütesiegeln verschworenen Gemeinschaft sehen. Gegenüber Freunden und Bekannten, die ihn auf seine ›fair trade‹-Produkte ansprechen, kann er die eigenen Überzeugungen artikulieren und sie gar missionieren, also in der Rolle des aktiven Anwalts für mehr Gerechtigkeit tätig werden. Damit wird die Wir-Gruppe nach und nach größer, und wer schon beim Kauf entsprechender Produkte stolz ist, darf es dann erst recht sein. Da es mittlerweile quer durch die Branchen ziemlich viele Hersteller gibt, die ihren Kunden das Gefühl vermitteln, mit dem Einsatz für Werte die Welt zu verbessern, haben zahlreiche Menschen sich daran zu gewöhnen begonnen, ihr Selbstbewusstsein gerade auch als Konsumenten aufzubauen. Sie fühlen sich aktiv und auf der richtigen Seite, von Idealismus und Verantwortung angetrieben, auf einem Weg des Fortschritts zu mehr bewusstem Handeln. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wird eines Tages fast jeder Konsumakt ein Bekenntnis und zugleich einen Beitrag zu einer konkreten Maßnahme darstellen. Unternehmen starten dann immer noch weitere Projekte, die Konsumenten zahlen mit ihren Einkäufen dafür, und langfristig könnte gar die Steuerquote sinken, weil einiges von dem, worum sich bisher der Staat kümmert, privatwirtschaftlich organisiert wird, nur um den Wunsch vieler Menschen zu erfüllen, so umfassend wie möglich – und gerade beim Einkaufen – nach Werten zu leben. Umgekehrt erscheint es kaum noch möglich, dass das Marketing wieder auf all die Inszenierungen von Werten verzichtet. Würden die Produkte auf die
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Erfüllung eines Gebrauchswerts reduziert, so dass auf dem Tee nur ›Tee‹ stünde und nichts von Freundschaft oder Reinheit oder Weltverbesserung, wäre die Ernüchterung gewaltig. Es käme zu größeren Sinn- und Identitätskrisen, Menschen fühlten sich in ihren Handlungsmöglichkeiten beschnitten und auf einen schnöden Materialismus zurückgeworfen. Die Hersteller hätten also mit ähnlich vorwurfsvollen Reaktionen zu rechnen, wie sie Friedrich Theodor Vischer im Zuge seiner Kritik an Allegorien widerfuhren. Gerade Künstler, die er von dieser »Perücke der Kunst« befreien wollte, gaben ihm nämlich die »ernste Antwort«: »Sehen Sie, wohin Sie gerathen, wenn Sie die Idee aus der Kunst wegnehmen.«15 Ja, wohin geriete man, nähme man die Werte aus den Konsumprodukten weg? Zu selbstverständlich und tiefgehend ist in der heutigen Kultur selbst und gerade das Alltäglichste davon geprägt, um sich das auch nur vorstellen zu können. Doch so oft Werte im Zentrum von Produktinszenierungen stehen und damit verdinglicht werden, so wenig erörtert man bisher die Konsequenzen dieser Praxis. Dabei ist es etwa für politische Parteien folgenschwer, dass sich viele Menschen nicht mehr mit ihnen identifizieren können, weil sie es mühsam oder unangemessen finden, sich jeweils zu einem ganzen Programm zu bekennen. So sehr daran gewöhnt, sich jeweils für einen einzelnen Wert zu entscheiden, bei nächster Gelegenheit aber wieder ganz neu wählen zu können, fühlten sie sich unfrei, wenn sie sich als Sozialisten oder Katholiken oder Liberale bezeichnen und damit jeweils ein ganzes Set eng miteinander verknüpfter Ansichten teilen müssten. Das schlechte Ansehen, das Ideologien heute haben, ist also nicht zuletzt Folge eines Wertedenkens. Es nimmt für sich in Anspruch, viel flexibler zu sein als umfassende Weltanschauungen und verschiedenen Situationen gerecht werden zu können, statt nach einmal vorentschiedenen Grundsätzen agieren zu müssen. Umso wichtiger wäre es, umgekehrt zu erörtern, was die Verkürzung politischer und ethischer Fragen auf Werte abgesehen davon, dass Vereinbarkeiten und Konsequenzen einzelner Entscheidungen zu wenig berücksichtigt werden, noch bedeutet. Wie verändert sich dadurch etwa das moralische Empfinden des Einzelnen, aber auch das Zusammenleben in der Gesellschaft? Und was – vor allem! – folgt eigentlich daraus, dass sich die regulativen Fiktionen, die Werte darstellen, insbesondere in Konsumprodukten manifestieren? So werden etwa einzelne Werte – beispielsweise Gerechtigkeit oder Gesundheit – ziemlich konsequent mit höherpreisigen Produkten verknüpft, die sich daher ökonomisch schlechter gestellte Menschen oft gar nicht leisten können. Auf diese Weise prägt sich aber in einzelnen Milieus eine Sensibilität für unterschiedliche und unterschiedlich viele Werte aus: Wer mehr Geld für Konsum übrig hat, kann häufiger oder intensiver das Gefühl genießen, sich für Werte 15 | F.T. Vischer, Der Triumph der Religion in den Künsten, S. 114.
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einzusetzen und daher als ein guter Mensch zu erscheinen. Menschen mit eingeschränktem Konsumverhalten werden hingegen schnell für weniger wertebewusst gehalten oder gar mit Dünkel betrachtet. Schlimmstenfalls droht eine neue Art von Klassengesellschaft, deren Schichten sich darin voneinander unterscheiden, wie viel Moral sie für sich jeweils beanspruchen dürfen. Je mehr die Konsumwelt zu einem Feld wird, auf dem sich Wertefragen und gesellschaftlich relevante Themen entscheiden, desto sorgfältiger sollte auch analysiert werden, wer darauf alles Einfluss nimmt. Immerhin werden diverse Interessengruppen vermehrt versuchen, ihre Werte mit Hilfe von Produkten zu lancieren, ja absehbar ist, dass nicht nur Entwicklungshelfer und Ökologen zu Unternehmern werden, sondern sich genauso Vertreter diverser religiöser, politischer und weltanschaulicher Gruppierungen an der Materialisierung von Werten in Konsumartikeln beteiligen. Auf Supermärkte als Orte wachsender Missionierung sollten die Konsumenten aber auch vorbereitet sein. Am besten hätte eine entsprechende Aufklärung bereits in den Schulen stattzufinden. Dabei ginge es darum, nachzuvollziehen, wie Werte, aber auch andere regulative Fiktionen in Design und Inszenierung von Produkten jeweils zur Darstellung gelangen, wann das besonders überzeugend geschieht und welche Konsequenzen dies für das weitere Handeln derer bedeutet, die mit diesen Produkten zu tun haben. Fragen der Ethik und Fragen der Ästhetik kämen hierbei in enge Verbindung miteinander, und so wie früher einmal höchst gelehrt, differenziert und ganz selbstverständlich über Tugenden und Allegorien nachgedacht wurde, sollte man künftig über Werte und Produkte debattieren.
L iter aturverzeichnis Breitsameter, Christof: Individualisierte Perfektion. Vom Wert der Werte, Paderborn: Schöningh 2009. Burger, Rudolf: »Die Inflation der Werte«, in: Die Presse vom 27. Juni 2014, http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/3829008/Die-Infla tion-der-Werte Heidegger, Martin: »Über den ›Humanismus‹« [1947], in: Ders.: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern: Francke 1975, S. 53-119. Ders.: »Die Zeit des Weltbildes« [1938], in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann 1980, S. 73-110. Moritz, Karl Philipp: Über die Allegorie [1789], in: Ders.: Werke in zwei Bänden, Band 1, Berlin/Weimar: Auf bau 1973, S. 301-304. O.A.: Antrag Nr. C 46 – LV Rheinland-Pfalz für den 28. Parteitag der CDU Deutschlands am 14./15.12.2015 in Karlsruhe, https://www.cdu.de/system/ tdf/media/dokumente/antragsbroschuere-cdupt15_0.pdf?file=1
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Sommer, Andreas Urs: »Werte sind verhandelbar«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14.03.2016, www.nzz.ch/feuilleton/wertedebatte-werte-sind-verhandel bar-ld.7385 Täubner, Mischa: »Die Krux mit der Moral. Was ist von Unternehmen zu halten, die die Welt verbessern wollen? Der Fall Lemonaid«, in: brandeins 5/2015, www.brandeins.de/archiv/2015/ziele/lemonaid-die-krux-mit-der-moral Ullrich, Wolfgang: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013. Vischer, Friedrich Theodor: »Der Triumph der Religion in den Künsten«, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 4.1 (1841), S. 108-125. www.axe.de/product/detail/785047/-peace-bodyspray
»Feiern bis das Bild kommt« Methodische Ansätze zur Erforschung jugendkultureller Konsumästhetiken am Beispiel der Technoevents Mayday 2014 und 2015 Katja Gunkel und Birgit Richard Die Großraumveranstaltung Mayday findet seit 1993 jedes Jahr vom 30. April auf den 01. Mai in den Dortmunder Westfalenhallen statt. Ungeachtet der leicht rückläufigen Besucherzahlen1 in den letzten Jahren, gilt sie auch noch 2015 – in ihrem nunmehr 25. Jubiläumsjahr – als größter Indoorrave Deutschlands und Kultveranstaltung der Massentanzbewegung EDM2 . Bereits in den 1990er Jahren repräsentierte die Mayday die kommerzielle Parallelgesellschaft der »Raving Society« zum subkulturellen Underground des Techno und Rave. Jener primär profitorientierte, auf den Mainstream abzielende Charakter des Events wurde vom Veranstalter i-motion über die Jahre gezielt ausgebaut. Ein Grund für die schwindende Popularität mag daher in der zunehmenden musikalischen Homogenisierung des Line-Ups zu suchen 1 | Im Vierteljahrhundert ihres Bestehens ist die Mayday zusehends kommerzialisiert und an den Geschmack des musikalischen Mainstreams angepasst worden. Auf Kollektivität bedacht, zeichnete sich die – durch ein »Anonymitätsideal« gekennzeichnete – Technokultur vormals insbesondere durch das Fehlen eines Starkults aus. Vgl. hierzu Richard, Birgit: Why does it hurt when the beat misses my heart? Tanz, Raum und Mode der Techno- und House Szene, in: Zinnecker, Jürgen/Merkens, Hans (Hg.): Jahrbuch der Jugendforschung, Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 75-98. Demgegenüber setzt die Mayday heutzutage auf deutlich eingängigere Sounds von Solomusikern wie Robin Schulz und David Guetta, deren Startum bereits durch die Charts kultiviert bzw. kanonisiert wurde. 2 | EDM ist das Akronym für Electronic Dance Music; diese unspezifische Bezeichnung hat sich gegenüber Techno und Rave durchgesetzt. Beide Musikrichtungen lassen sich darunter rubrizieren sowie eine Vielzahl an elektronischen Subgenres wie House, Hardstyle, Hardcore, Trance, Ambient, Gabber usw.
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sein. So verschob sich der Schwerpunkt in der jüngsten Vergangenheit zunehmend in Richtung eingängiger Großraum-Tanzmusik (sog. Big Room EDM) und bot den Besuchern somit wenig Abwechslung – eine problematische Strategie, war doch die Technokultur von Anfang an keine Szene, die sich durch einen einheitlichen Musikstil auszeichnete, sondern – ganz im Gegenteil – stark ausdifferenzierte Musikrichtungen subsumierte.3 Ziel der vorliegenden Forschung ist eine analytische Bestandsaufnahme sowie die Erarbeitung methodischer Ansätze zur Ausweitung bestehender Szene-Feldforschung vom Realraum auf zugehörige Internetbilder – ein methodologischer Schritt, der angesichts visueller Kommunikation via Social Media nicht nur zeitgemäß, sondern unerlässlich erscheint und Voraussetzung für eine Kartierung von szenespezifischen Konsumästhetiken ist, wie sie sich exemplarisch auf der Mayday in Dortmund4 und in den angeschlossenen Internetbildern darstellen. Um Aussagen über die Konsumästhetik jener Veranstaltung und ihre bildhaften Signifikanten treffen zu können, bedarf es der Betrachtung zentraler Konsumobjekte, in denen sich szenerelevante Codes und Bedeutungen verdichten: ihrer ästhetischen Dimension. Besonderes Interesse gilt der Bildwerdung der vestimentären Inszenierung, handelt es sich hierbei doch um ein signifikantes, wenn nicht gar das substantiellste Merkmal jugend- bzw. subkulturellen Stils.5 Eine Orientierung am modischen Erscheinungsbild der BesucherInnen vermag somit Aufschluss über die symbolischen Schwerpunkte innerhalb der Techno-Rave-Kultur zu geben und fokussiert den beobachtenden Blick. Wie in allen primär musikalisch geprägten Subkulturen formiert sich auch um den sonischen Nukleus der elektronischen Tanzmusik
3 | Vgl. Richard, Birgit: »Love is war for miles« (Theo Parrish). Ästhetik und Strukturwandel in der technoiden Jugendkultur, in: Hitzler, Ronald/Pfadenhauer, Michaela (Hg.): Techno-Soziologie. Erkundungen einer Jugendkultur, Wiesbaden: Springer VS 2001, S. 291-308. 4 | Die Mayday ist nicht an den Standort der Dortmunder Westfalenhallen gebunden. Unter gleichem Namen findet sie beispielsweise ebenso in Polen und Japan statt – ein Umstand, der die Hashtag-basierte Suche nach einschlägigem Bildmaterial auf Insta gram erschwert. 5 | Vgl. hierzu bspw. Hebdige, Dick: Subculture. The meaning of style, London: Routledge 1979, sowie Willis, Paul E.: Jugendstile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur, Hamburg/Berlin: Argument 1991. Weitere Strukturmerkmale und Referenzräume eines szenespezifischen Stils finden sich im Bereich Musik, Tanz, Räume, Gender- bzw. allgemein Körperperformances (vgl. hierzu bspw. archaische Männlichkeiten im Black Metal; Grünwald, Jan G.: Male Spaces. Bildinszenierungen archaischer Männlichkeiten im Black Metal, Frankfurt a.M./New York: Campus 2012) sowie interner sozialer Formationen wieder.
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eine ortsungebundene Mikrogesellschaft, ein Neo-Tribe 6 im Sinne Maffesolis, dessen soziale Organisationsform sowie signifikante, szenespezifische Kleidungsstücke und populär verwendete Symboliken Merkmale und Strukturen der ihn umgebenden »Erwachsenengesellschaft« spiegeln und kommentieren.7 Aufgrund des inhärenten »Übungscharakters von Differenzauslegungen und -durchsetzungen haben medien- und popkulturelle Phänomene […] eine indikatorische Bedeutung für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen« 8, wobei insbesondere eine Analyse subkultureller Erscheinungen Aufschluss »über den Erfolg und das Misslingen von Kontrovers-Kulturen«9 zu geben vermag. Für die Analyse des technoiden Dinguniversums und der hieraus zu destillierenden Konsumästhetik ist die kontinuierliche Erforschung der Technound Rave-Kultur seit Mitte der 1990er Jahre und das hierdurch erarbeitete profunde Szeneverständnis grundlegend. Voraussetzung für den Erwerb dieses »Insiderwissens«, das die nötige Einsicht in die szenerelevanten Zeichen, Embleme und Kommunikationsformen eröffnet, ist die emphatische Teilnahme an repräsentativen Szeneereignissen wie der Mayday im vorliegenden Fall.10 Ausgehend von qualitativ-empirischen Beobachtungen vor Ort, wird anschließend untersucht, wie sich die Veranstaltung als Bild im Internet widerspiegelt. Die nachfolgend präsentierten methodischen Betrachtungen der erhobenen, veranstaltungsbezogenen Internetbilder stehen somit nicht isoliert für sich, sondern sind vielmehr Bestandteil einer kontinuierlichen Feldforschung und deren Erweiterung um die Komponente mobiler virtueller Bilder. 6 | Vgl. Maffesoli, Michel: The time of the tribes. The decline of individualism in mass society, London u.a.: Sage 1996. 7 | Vgl. Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann: Vom »Zitterkäfer« (Rock ’n’ Roll) zum »Hamster im Laufrädchen« (Techno), in: Ferchoff, Wilfried/Sander, Uwe/Vollbrecht, Ralf (Hg.): Jugendkulturen – Faszination und Ambivalenz. Einblicke in jugendliche Lebenswelten. Festschrift für Dieter Baacke zum 60. Geburtstag, Weinheim/München: Juventa 1995, S. 93-110. Vgl. hierzu auch Richard, Birgit: DJ-Jane Kicks und Acid Chicks! Musikalische Ekstasen und Formationen der Körper, in: Club Transmediale/Jansen, Meike (Hg.): Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 134-151. 8 | Jacke, Christoph: Mainstreams und Minderheiten im Spannungsfeld von Kontingenz und Kontroverse. Erneute Erläuterungen zum Subkultur-Begriff, in: Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.): Inter-cool 3.0. Jugend-Bild-Medien. Ein Kompendium zur aktuellen Jugendkulturforschung, München: Fink 2010, S. 43-56; S. 48. 9 | Ebd., S. 49. 10 | Vgl. das Konzept der »existentiellen Innensicht« nach Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Qualitative Verfahren zur Lebensweltanalyse, in: Flick, Uwe et al. (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung, München: Beltz 1991, S. 382-385; S. 383, sowie Girtler, Roland: 10 Gebote der Feldforschung, Münster/Wien/Zürich: LIT 2009.
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Die im Forschungszeitraum von mehreren Jahrzehnten gewonnenen qualitativ-empirischen Erkenntnisse dienen hierbei als Hintergrundwissen und unverzichtbares Korrektiv, das für die richtige Einordnung und Beurteilung der erhobenen Daten unerlässlich ist. Die Relationierung mit dem bereits vorhandenen Datenmaterial ermöglicht zudem eine vergleichende Bewertung der aktuellen Ergebnisse mit der historischen Entwicklung der technoiden Subkultur.
O ffline meets O nline – M e thodische H er angehensweise zur A nalyse (sub -) kultureller K onsumästhe tik Die nachfolgend angestellten methodischen Überlegungen basieren auf Datenmaterial, das im Kontext der Mayday 2014, Full Senses, sowie der Mayday 2015, Making Friends, erhoben wurde. Im ersten Schritt erfolgt die Datenerhebung direkt auf der Veranstaltung mithilfe einer qualitativ-empirischen Methode sozialwissenschaftlicher Feldforschung, der teilnehmenden Beobachtung11 – die hierbei gewonnenen Eindrücke werden mithilfe eines Feldtagebuchs dokumentiert. In Anlehnung an die von Spradley beschriebenen neun Dimensionen sozialer Situationen12 konzentriert sich der mikroskopische Blick der Forscherin hierbei insbesondere auf ästhetische Situationen, d.h. auf ästhetische Handlungen (z.B. Tanz), Objekte (z.B. Kleidung und Accessoires) und Räume. Zu Evaluierungszwecken findet im Anschluss eine Triangulation der schriftlich fixierten Beobachtungen vor Ort mit online verfügbarem, auf der Veranstaltung entstandenem bzw. darauf bezugnehmendem Bildmaterial statt. Das methodische Verfahren der Triangulation von online erhobenen Daten mit einer analogen Vergleichsprobe ermöglicht es, die im wissenschaftlichen Diskurs schlecht beleumundeten, da kaum oder schwerlich die Standards für »gute Daten«13 erfüllenden, digitalen 11 | Bzgl. des methodischen Vorgehens vgl. Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Reinbek: Rowohlt 2012 [= fünfte vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe], S. 279-368; sowie Richard: Why does it hurt when the beat misses my heart? 12 | Vgl. Spradley, James Phillip: Participant Observations, New York u.a.: Holt, Rinehart and Winston 1980, hier S. 78. 13 | Rogers, Richard: Digitale Methoden für die Forschung im Netz, in: Hagener, Malte/ Hediger, Vinzenz (Hg.): Medienkultur und Bildung. Ästhetische Erziehung im Zeitalter digitaler Netzwerke, Frankfurt a.M.: Campus 2015, S. 111-132; S. 112. Rogers bezieht sich auf eine von Christine Borgman dargestellte Problematik digitaler Datensammlungen, die oftmals grundlegende Funktionen der gezielten Datenabfrage wie –analyse vermissen ließen und für wissenschaftliche Zwecke daher nur bedingt tauglich erschienen.
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Daten durch die Korrelation von online/offline abzugleichen und derart gewinnbringend einzusetzen. Hierbei konzentriert sich die Online-Datenerhebung auf den Bildpool des Party- und Szeneportals Virtual Nights (www.virtualnights.com) sowie auf die soziale Software und Photo-Sharing-Community Instagram. Damit der visuelle Gesamteindruck, die Medienbeteiligung und Bildproduktion der Besucher abschließend beurteilt werden können, wurden ebenfalls die Bild- bzw. VideoSharing-Plattformen Flickr und YouTube ausgewertet.14 Die Erhebung des online verfügbaren Bildmaterials fand zu zwei verschiedenen Zeitpunkten statt. Dieses Vorgehen diente einem besseren Nachvollzug des Distributionsverlaufs. In beiden Jahren (2014 wie 2015) erfolgte die erste Online-Bildrecherche unmittelbar am Tag nach der Veranstaltung, dem 1. Mai, die abschließende Nacherhebung fand im Zeitraum vom 8. bis zum 15. Mai statt. Den Vorannahmen entsprechend zeigte die zeitversetzte Datenerhebung, dass zwei Wochen nach dem Ereignis nicht mehr mit einem wesentlichen quantitativen wie qualitativen Zuwachs an Bildmaterial zu rechnen ist; die Veranstaltung liegt zu weit zurück, um für den schnelltaktigen Informationsfluss der Social Media noch von Belang zu sein. Insbesondere im Kontext von Instagram beziehen Posts ihre Relevanz vorrangig aus ihrer Aktualität bzw. instantanen Teilhabe. Dementsprechend sind Mediadateien, die nicht unmittelbar nach ihrer Aufnahme in den Feed eingespeist werden, auch sprachlich als solche zu kennzeichnen. Signifikanten zeitlicher Asynchronizität sind hierbei Hashtags wie #latergram oder #throwbackthursday15; feststehende Formulierungen, deren etablierte Verwendung innerhalb der Online-Community ex neVgl. Borgman, Christine L.: The Digital Future Is Now. A Call to Action for the Humanities, in: Alliance of Digital Humanities Organizations (Hg.): Digital Humanities Quaterly, Volume 3, Nr. 4, 2009, URL: http://digitalhumanities.org/dhq/vol/3/4/000077/000077. html/000077, S. 4. 14 | Jener Festlegung auf die genannten Bildplattformen ging eine Datenerhebung mithilfe der Google-Web- und Bildersuche voraus. Recherchiert wurde darüber hinaus auch auf dem Nachrichtendienst Twitter, der jedoch als Quelle nicht in Betracht kam, da sich zur Mayday lediglich Tweets und offizielle Pressefotografien des Veranstalters, jedoch kein von Besuchern aufgenommenes Bildmaterial finden ließ. Tumblr und Fotocommunity wurden ebenfalls überprüft. Im Untersuchungszeitraum ließen sich auf beiden Plattformen keinerlei Ergebnisse finden. 15 | Im Kontext von Social Media wird dieses Hashtag oder sein Akronym #tbt verwendet, um die hochgeladene Bilddatei als Dokument aus der Vergangenheit zu kennzeichnen (beispielsweise Bilder aus der eigenen Kindheit). Der Donnerstag wurde hierbei als Thementag für jene retrospektiven Posts gewählt. Vgl. hierzu auch http://knowyourme me.com/memes/throwback-thursday
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gativo indiziert, dass jedwede Nachträglichkeit, jedes post festum veröffentlichte Dokument, eine Abweichung von der Norm, d.h. von der kollektiv gängigen Bildpraxis, darstellt und folglich als solche, d.h. als Ausnahme von der Regel, zu deklarieren ist. Analog zu diesen Erwartungen weist der betreffende Bildpool auf Instagram zwei Wochen nach dem Event zunehmende Konstanz auf, das heißt es werden kaum noch Bilder hochgeladen, die mit der Veranstaltung in Verbindung stehen. Nach einem Monat kommt der Upload gänzlich zum Erliegen. Der stagnierende Bildfluss festigt den Untersuchungskorpus und erleichtert die Bestimmung von Bildkategorien.16 Die zweite zentrale Quelle zur Analyse der visuellen Online-Berichterstattung ist die Homepage von Virtual Nights, da das Party-Portal im Kontext der Mayday gleich auf zwei verschiedene Arten aktiv an der Bildproduktion bzw. ikonischen Repräsentation der Veranstaltung beteiligt ist: Zum einen stellt es eine Fotowand zur Verfügung, vor der sich die Besucher in Positur werfen und von einem Mitarbeiter ablichten lassen können. Des Weiteren ziehen zu diesem Zwecke engagierte Fotografen, sogenannte Fotoscouts, auf der Suche nach geeigneten Motiven für die Onlinepräsenz von Virtual Nights auf der Party umher. Hierbei verfolgen sie ein ähnliches Interesse wie Feldforscher, mit dem Unterschied, dass sie sich aus rechtlichen Gründen vor der Aufnahme mit den zu portraitierenden Personen abstimmen müssen und diesen so die Gelegenheit geben, für die Kamera zu posieren. Um die Veranstaltung und ihre Besucher möglichst repräsentativ einzufangen, achten sie einerseits auf deviante Phänomene, d.h. sie porträtierten solche Besucher, die durch extravagantes Styling aus der Masse herausstechen. Darüber hinaus müssen die Porträtierten mit den Kategorien korrespondieren, welche die Onlineplattform von Virtual Nights vorgibt: Gezeigt werden hierauf vorrangig attraktive junge Menschen, die gängigen Schönheitsidealen entsprechen und somit die ästhetische Norm innerhalb einer heterosexuellen Matrix bedienen. Dementsprechend wird der online abruf bare Bildpool unter anderem explizit nach »hübschen Männern« und »hübschen Frauen« klassifiziert. Die auf dem Event entstandenen Fotografien werden in entsprechenden Galerien präsentiert – es finden sich neun Fotogalerien zur Mayday 201417 und elf zu jener im Folgejahr18. Anzunehmen ist, dass es sich hierbei um eine ku16 | Vgl. hierzu auch Getomer, James/Okimoto, Michael/Johnsmeyer, Brad: Gamers on YouTube. Evolving Video Consumption, in: google.com/think, https://www.thinkwith google.com/articles/youtube-marketing-to-gamers.html vom Juli 2013. 17 | Die Gesamtanzahl an Fotografien beträgt 2014 insgesamt ca. 90 Fotografien, die auch am 7.3.2016 noch abrufbar waren. 18 | 2015 liegt die Gesamtzahl der Fotografien bei 243, die ebenfalls noch am 7.3.2016 online abgerufen werden konnten. 2015 existieren auf der Homepage von Virtual Nights bereits zwei Tage nach der Veranstaltung, d.h. am 3.5.2015, sieben Galerien, die so-
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ratierte Auswahl handelt, deren Darstellung des Events mit den Interessen der Portalbetreiber am besten korrespondiert. Zusammenfassend besteht die Datenerhebung- und auswertung damit aus folgenden Teilschritten: I. Feldforschung vor Ort auf der Mayday in den Dortmunder Westfalenhallen. Die teilnehmende Beobachtung fokussiert die modische Inszenierung sowie die signifikanten Konsumobjekte, d.h. den Modestil nebst zugehörigen Ego-Objekten19, die für das Feiern unerlässlich sind. II. Nachträgliche Erhebung von Bild- und Videomaterial auf einschlägigen Onlineportalen und Social-Media-Plattformen – von besonderer Relevanz sind hierbei Virtual Nights und Instagram: 1. Mithilfe des signifikantesten Hashtags #mayday2014 bzw. #mayday2015 wurden Bild- und Videodateien im visuellen Onlinearchiv von Instagram erhoben. Für eine spätere Fallanalyse wurde pro Motivgruppe jeweils ein exemplarisches Foto bzw. Video archiviert. 2. Auf der Webseite von Virtual Nights (www.virtualnights.com) werden die Fotografien zur jeweiligen Veranstaltung ausgewertet und signifikante modische Stilfiguren gespeichert. Hieran schließen eine Inventarisierung und erste Analyseansätze zu den a) populärsten und b) den innovativsten bzw. extravagantesten Konsumgegenständen an. 3. Ergänzende Datenerhebung mithilfe der einschlägigen Suchbegriffe auf Flickr und YouTube. 4. Auswahl von Schlüsselbildern bzw. signifikanten Fallbeispielen für eine anschließende extensive qualitative Analyse jener Ego-Objekte, die für die Konsumästhetik des Technoiden und deren visuelle Repräsentation im mobilen Bilderstrom besonders signifikant sind.
wohl Aufnahmen der nomadisch auf der Veranstaltung umherziehenden Fotoscouts als auch Gruppenportraits vor der Fotowand enthalten. Bis zum Abend desselben Tages hat sich die Anzahl auf elf Galerien erweitert. Dass hiermit bereits der Uploadprozess abgeschlossen ist, bestätigt die Nacherhebung am 17.5.2015. 19 | In Erweiterung des von Richard et al. eingeführten Begriffs Ego-Clip auf das Feld der materiellen Kultur, handelt es sich bei Ego-Objekten um (Konsum-)Gegenstände, die im Dienste der eigenen Selbstdarstellung bzw. -inszenierung stehen. Vgl. Richard, Birgit et al.: Flickernde Jugend – rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt a.M.: Campus 2010, hier S. 100ff.
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D atenmüll digitaler A narchive 20 – M e thodische H er ausforderungen und Par adoxien des digitalen B ildes Virtuelle Inhalte auf Social-Media-Plattformen wie Instagram, Tumblr, Twitter, YouTube und anderen sind permanent im Fluss. Das statische Ordnungskonzept klassischer Archive lässt sich folglich nicht auf das Internet anwenden. John Ruskins Vorstellung archivarischer Ordnung als »order by fluctuation«21 folgend, plädiert Wolfgang Ernst daher für »eine prozessuale Theorie des Archivs in Bewegung, eine Art Fließgleichgewicht«22, das eine alternative Form von Ordnung hervorbringe. Im Kontext des World Wide Web halte die Archivmetapher nicht länger, was sie verspreche, nämlich die räumliche Konservierung von kulturellen Artefakten. Auf die topologische Konfiguration des Internets angewandt, täusche sie vielmehr darüber hinweg, »daß hier nicht Produkte archiviert werden, sondern eine veränderte Verfügbarkeit von Kulturwissen vorliegt.«23 Nach Ernst ist daher die Entwicklung einer neuen Kulturtechnik erforderlich: Die Kompetenz, sich im »Datenwald dieser Un/ Ordnung«24 verlieren zu lernen. Diese Fluidität und Wandelbarkeit digitalen Quellenmaterials im World Wide Web sowie dessen non-lineare, netzwerkartige Relationierung via Hyperlinks sind kennzeichnend für die »digitale Vernunft«25 und somit auch für die Forschungsdaten, die zu ihrer medienadäquaten Erhebung und Beurteilung folgelogisch eines mimetischen Forschungsdesigns bedürfen, das die Eigenschaften ihrer Quelle berücksichtigt und deren inhärente Logik adaptiert. Um den visuellen Kern eines OnlinePhänomens im ephemeren Moment seiner »Stabilisierung« erfassen zu können, muss eine zeitgenössische mediale Bildforschung daher den instantanen Veränderungen eines Online-Bildpools nachgehen. Die medienstrukturelle Verfasstheit der jeweiligen Softwareanwendung sowie der angeschlossenen Bilddatenbank beeinflusst und determiniert sowohl die Möglichkeiten der Bildproduktion wie -distribution als auch die Auswahl wie Auffindbarkeit einschlägiger Bilddateien wesentlich.26 Die konstitutiven 20 | Zur »Abfalltheorie des Archivs« vgl. das gleichnamige Kapitel in Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung als Unordnung, Berlin: Merve 2002, S. 124-128. 21 | Richards, Thomas: The imperial archive. Knowledge and the fantasy of empire, London: Verso 1993, S. 87. 22 | Wolfgang Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 128 [Hervorhebungen im Original]. 23 | Ebd., S. 131 [Hervorhebungen im Original]. 24 | Ebd. 25 | Schmale, Wolfgang: Digitale Vernunft, in: Elvert, Jürgen et al. (Hg.): Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Bd. 26, Stuttgart: Steiner 2013/2014, S. 94-100. 26 | Vgl. Manovich, Lev: Software takes Command, New York/London: Bloomsbury 2013.
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Algorithmen und die hierin implementierten Parameter des digitalen Archivs sind dabei für die Nutzer in der Regel nicht transparent – »[d]er Archivträger ist dem Blick des Betrachters entzogen […]. [D]ie Steuerzeichen gehören nicht zum Inhalt des Archivs, sondern zu seiner radikal gegenwärtigen Administration und sind mithin Archive im Sinne von Foucault – nämlich ein Dispositiv, von Groys treffend als submedialer Trägerraum bezeichnet.«27 Im radikalkonstruktivistischen Sinne Foucaults28 verstanden, sind Social Media Anwendungen, bildgenerierende Apps, Onlinedienste und Datenbanken, normierende Systeme und keinesfalls neutrale Orte oder passive Mittler der Datenspeicherung und Vernetzung – vielmehr produzieren sie Wissensformen und konstruieren derart die kommunizierten Medieninhalte.29 Neben kommerziellen Rahmenbedingungen sind es vor allem formalästhetische und ebenso inhaltliche Faktoren, die über die Popularität eines Bildes entscheiden und somit dessen Sichtbarkeit maßgeblich beeinflussen.30 Auch die Darstellung von Medieninhalten variiert in Abhängigkeit von »Gerät, Bildschirm oder Betriebssystem.«31 Zudem erfährt jedes Endgerät eine Personalisierung durch seinen Besitzer. Ob bzw. inwiefern diese individuelle 27 | W. Ernst: Das Rumoren der Archive, S. 21 [Hervorhebungen im Original]. Wolfgang Ernst nimmt in der zitierten Textstelle Bezug auf eine Monografie von Boris Groys; vgl. Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München: Carl Hanser 2000. 28 | Zum Begriff des Archivs als Dispositiv nach Foucault, vgl. bspw. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 113-190. 29 | Aus diesem Grund problematisiert Tarleton Gillespie die unkritische Verwendung der Plattform-Metapher, suggeriere diese doch eine Neutralität der Online-Provider, die faktisch nicht gegeben sei. Bei der Gestaltung des öffentlichen Diskurses übten globale Konzerne wie Facebook, Google, Yahoo usw. vielmehr eine kuratorische Funktion aus. Indem der Begriff Plattform jener regulativen Einflussnahme auf die sicht- wie sagbaren Inhalte keinerlei Rechnung trage, helfe er dabei, selbige zu kaschieren. Demgegenüber schlägt Gillespie behelfsmäßig die Bezeichnung »intermediary« vor. Vgl. Gillespie, Tarleton: The politics of ›platforms‹, in: SAGE, New Media & Society, Mai 2010, Vol. 12, Nr. 3, Thousand Oaks/Ca.: Sage 2010, S. 347-364, online abrufbar unter//journals.sagepub. com/doi/pdf/10.1177/1461444809342738. 30 | Vgl. hierzu bspw. Khosla, Aditya/Das Sarma, Atish/Hamid, Raffay: What makes an Image popular? International World Wide Web Conference 2014, 7.-11.4.2014, Seoul/ Korea, https://people.csail.mit.edu/khosla/papers/www2014_khosla.pdf 31 | Dille, Annika: Kulturwissenschaftliche Betrachtungen von Smartphone-Anwendungen – methodologische Herausforderungen, Analysemöglichkeiten und Perspektiven, in: Schmale, Wolfgang (Hg.): Digital Humanities. Praktiken der Digitalisierung, der Dissemination und der Selbstreflexivität, Stuttgart: Steiner 2015, S. 75-94; S. 81.
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Anpassung der Programme und -einstellungen sowie die darauf gespeicherten persönlichen Inhalte und Informationen von einer installierten Software hintergründig mitverarbeitet werden und in der Folge eine Verzerrung der Suchergebnisse mit sich bringen, ist eine weitere Unbekannte im Forschungsprozess. Folglich kann das untersuchte Phänomen, insofern es wie im vorliegenden Fall auch im Realraum existiert, niemals ausschließlich anhand seiner Internetbilder beurteilt werden. Schema des materiell-immateriellen Produktions- und Distributionsapparates
Bei Instagram handelt es sich um eine Softwareanwendung, die auf Betriebssystemen (iOS, Android, Windows) mobiler Endgeräte installiert und ausgeführt wird. Obgleich Instagram auch in einer Webversion verfügbar ist, lässt sich das Online-Bildarchiv der Community nur unter Verwendung jener App durchsuchen. Eine Herausforderung stellt der methodisch adäquate Umgang mit Hashtag-Verbünden dar. Da ein Hashtag sprichwörtlich ›selten allein kommt‹, sondern zur optimalen Einbindung in die Archivstruktur der entsprechenden Onlineplattform mit anderen Schlagworten assoziativ verknüpft wird, erweitern sich die Kombinationsmöglichkeiten in beachtlichem Umfang. Jene Praxis der multiplen Verschlagwortung einer Datei dockt diese an verschiedene Subkategorien bzw. Diskurse an, erhöht somit ihre Präsenz und in der Folge ihre potentielle Sichtbarkeit innerhalb des Archivs. Die verwendeten Kategorien resultieren aus einer freien Verschlagwortung, so dass die User selbst Hashtags generieren. Die aus derartigem kollektiven Tagging entstehenden Folksonomien lassen sich individuell beliebig erweitern und erschweren in ihrer Fülle die Festlegung einer signifikanten Hashtag-Kombination.
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Die Bildmotive der Suchtreffer zum Hashtag #mayday2014 (5479 Treffer) auf Instagram verdeutlichen exemplarisch, dass der gewählte Deskriptor keinesfalls eindeutig genug ist. Die »beliebtesten Beiträge« zu diesem Hashtag zeigen Porträts von Menschen diverser Altersgruppen und Ethnien (vgl. Abb. 1), lassen jedoch einschlägige szenespezifische Embleme vermissen und offenbaren daher die multiplen Sinndimensionen des gewählten – für einschlägig erachteten – Suchbegriffes: Die Bild-Text- bzw. Hashtagkombination dieser Bilddateien verdeutlicht, dass mit #mayday2014 zumeist ganz unspezifisch ein Tag im Monat Mai des entsprechenden Jahres gemeint ist. Unter den angezeigten Suchergebnissen finden sich zudem gehäuft Bilddateien, die im Kontext der weltweiten 1. Mai Demonstrationen entstanden sind. Diese semiotische Unschärfe verwundert kaum, lässt sie sich doch auf medienspezifische Parameter zurückführen: Einerseits ist Englisch die gängige Sprache innerhalb globaler sozialer Netzwerke, andererseits dürfen Hashtags strukturell weder Leer-, noch Satzzeichen enthalten, wodurch der Signifikant #mayday sowohl den Eigennamen Mayday, das internationale Notrufsignal Mayday, aber eben auch das englischsprachige may day bezeichnet. Um den für die Forschung relevanten Bildkorpus zu bergen, gilt es daher weitere Hashtags aufzuspüren, die auf Instagram typisch erkennbar mit #mayday2014 Verwendung finden und deren Inhalt sich als der Mayday 2014 in den Dortmunder Westfalenhallen zugehörig identifizieren lässt. Die Kombination verschiedener Hashtags wird durch programmimmanente Suchfunktion nicht unterstützt – es lässt sich lediglich ein Suchbegriff eingeben. Mixagram (www. mixagram.com) ist aktuell die einzige Metaseite, die es erlaubt, die visuelle Datenbank von Instagram nach Hashtag-Verbünden zu durchsuchen. Die Gesamtsumme der Treffer wird hierbei jedoch nicht angezeigt, geladen werden zunächst lediglich 20 passende Posts, die sich mithilfe des »Show more«-Buttons sukzessive erweitern lassen. Um einen Überblick über die Gesamtanzahl der Treffer zu bekommen ist diese Metaseite jedoch nicht geeignet. Auch bleibt intransparent, auf welchen Kriterien die Reihenfolge der gezeigten Fotografien basiert. Eine Annäherung an signifikante Hashtagverbünde, deren Eingabe Bilddateien zur gesuchten Veranstaltung verspricht, liefert eine Analyse jener Hashtags, die einschlägiges Bildmaterial untertiteln und verlinken. So beispielsweise eine von @manuelmandujanos hochgeladene Bilddatei, auf der ein DJ beim Auflegen unter einer gigantischen Projektion des ikonischen Maydaylogos zu sehen ist (vgl. Abb. 2). Die gewählte Bildunterschrift wird mithilfe von Hashtags um für die User relevante Informationen und Botschaften ergänzt: #mayday2014 #fullsenses #dortmund #neverstopraving (Abb. 2.1). Erst jener Hashtagverbund ermöglicht eine Kontextualisierung des Bildinhaltes. Mithilfe einer stichprobenartigen Erhebung unter Hinzunahme der beiden Hashtags
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#dortmund und #fullsenses auf der Metaseite Mixtagram wurde überprüft, ob die auffindbaren Bilddateien hierdurch eine qualitative motivische Veränderung erfahren. Eine grundlegende Modifikation des Bildprogramms lässt sich auf diese Weise jedoch nicht erkennen. Nach Analyse des Bildkorpus zum Hashtag #mayday2014 bzw. #mayday2015 ist festzuhalten, dass diese Hashtags singulär verwendet zu unspezifisch sind, jedoch einen zentralen Stellenwert in der (Hash)Tagcloud einschlägiger Bilddateien einnehmen und folglich als deren archivalischer Nukleus gelten können. Die Kontinuität ihrer Verwendung bezeugt ihre Relevanz und bürgt für die Repräsentativität der derart erhobenen Bilddateien.
»M irror , mirror on the wall …« – D ie M ayday im S piegel des I nterne t (- bildes) Bei der Ersterhebung auf Instagram am 1.5.2014, dem Tag unmittelbar nach der Veranstaltung, finden sich kaum Portraits. 99 % der auffindbaren Fotografien32 zeigen das Logo der Mayday im Zentrum einer eindrucksvollen Lichtinszenierung und fokussieren auf das visuelle Spektakel (vgl. Abb. 3). Die Nacherhebung am 8. und 9.5.2014 relativiert dieses Ergebnis etwas, jedoch nicht eklatant: Bei 85 % der hochgeladenen Bilder ist die Lightshow weiterhin das zentrale Motiv. Die restlichen 15 % setzen sich zu 10 % aus Personenporträts – allein, in Form des Selfies oder in der Gruppe als Gelfies, Panoramaselfies bzw. Superselfies – zusammen, die mitunter vor imposant illuminierter Kulisse inszeniert werden (vgl. Abb. 4). Die verbleiben 5 % zeigen zu gleichen Teilen DJs bei ihrer effektvoll beleuchteten Live-Performance oder Tanzende. Die meisten Bilder sind farbig und weisen stilistische Ähnlichkeiten auf, die sich auf die Verwendung der gleichen Softwareanwendung bzw. deren implementierter Grafikfilter zurückführen lassen. Hochgeladen werden zumeist einzelne Bilder, selten trifft man auf Fotoserien, die am selben Abend zu verschiedenen Zeiten aufgenommen wurden. Motivisch handelt es sich hierbei um serielle Selfies bzw. Gelfies, d.h. das Fotografieren des Selbst bzw. der Freunde ist zentrales Movens wie Bildinhalt jener seriellen Aufnahmen. Diese Beobachtung bestätigt die Vermutung, dass die Modalitäten des Rave seit den Anfängen in den 1990er Jahren keine wesentliche Veränderung erfahren haben: Tanzen und die Zusammenkunft mit Freunden steht für die Besucher der Mayday im Vordergrund. Die Bilder auf Instagram haben durchschnittlich zehn bis zwanzig, ganz selten bis zu 200 Likes, was einerseits auf den unmittelbaren Freundeskreis schließen lässt, der via Like wohlwollend Notiz vom hochgeladenen Fotosouvenir nimmt. Da die Bilddateien des Untersuchungskorpus 32 | Die Gesamtzahl kann nur geschätzt werden, ist aber Reales< nicht auch immer noch ein Verweis?« Oestreich, Miriam/Rüthemann, Julia: Eine Einleitung, in: Dies./ Logemann, Cornelia (Hg.): Körper-Ästhetiken: allegorische Verkörperungen als ästhetisches Prinzip (Kultur- und Medientheorie), Bielefeld: transcript 2013, S. 13-58, hier S. 15.
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zeichnen kann, betont die Konsumption den Blick auf den Verzehr und damit auf den Ge- und Verbrauch von Konsumgegenständen. Konsumption meint hier also die ebenso visuelle wie materielle Aufnahme von Dingen über die körperlichen Sinne, die eine käufliche Aneignung voraussetzten oder evozieren kann, aber nicht zwangsläufig muss.
2. FINAL DAYS (2015): D ie I nstall ation Braune Pappkartons stapeln sich, als zeugten sie noch vom Auszug der Waren anlässlich der Schließung eines ehemaligen Kaufhauses. In der Ausstellungshalle häufen sie sich an sechs Stellen und dienen als Displays für Flachbildmonitore, die auf die Kisten montiert sind. Übrige Schriftzüge an den Wänden erinnern noch an die ehemaligen Abteilungen im Kaufhaus. Die sozialen, persönlichen und sinnlichen Erfahrungen des Einkaufens sind nun, im leerstehenden Kaufhaus, ausgeschlossen, und ihre digitalen Pendants werden in den Videos als eine neue Realität des Online-Shoppings erkundet. Die Pappkartons sind jeweils mit einem Symbol bedruckt, das auch im jeweils räumlich zugeordneten Video eine zentrale Rolle einnimmt. {ABBILDUNG 1, Installationsansicht} Hierbei handelt es sich im Bereich der HOSIERY (Strumpfwaren) um ein weibliches, strumpfhosenbezogenes Bein und im Bereich UNDERWEAR (Unterwäsche) um eine weiße, von einem männlichen Model getragene Männerunterhose, im Bereich BEDROOM (Schlafzimmer) um ein menschliches Herz sowie um eine Fingerkuppe als Hinweis für die Abteilung SPECIAL OFFERS (Sonderangebote). Im Bereich TOWELS (Handtücher) sind auf den Kisten Köpfe mit umwickelten Handtüchern wie Turbane zu erkennen, deren Gesichter jedoch gelöscht sind. Das sechste und letzte Video der Installation mit dem Titel CLOSING ROUTINE, auf das ich im Folgenden nicht weiter eingehen werde, handelt weniger von den Produkten und den sie nutzenden Körpern, sondern von einer fiktiven Feier anlässlich der Schließung des Kaufhauses. Die genannten Symbole haben gemeinsam, dass sie sich assoziativ aus dem von Phillipson hergestellten Körperbezug der jeweiligen Produkte in den Kaufhausabteilungen ergeben. Sie stehen für ihre künstlerische Erkundung, wie Konsum als Akt der geschlechtlichen Subjektivierung und der Relationalität zu anderen Menschen heute und zukünftig funktioniert. Und hier rückt der Körper – als Kristallisationspunkt der Spannung zwischen individueller Freiheit und Sozialität von Menschen – mit seinen korporealen Affekten in ihr Blickfeld. Wie genau zukünftig jener Ort definiert sein wird, an dem wir einkaufen, bleibt ungewiss. In Phillipsons Arbeit zeichnen sich Konturen eines Hybrids aus einem öffentlich-zugänglichen, dreidimensionalen Raum und digitalem Cyberspace ab. Letzterer kann dabei als der vernetzte Raum, in dem alle zu
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jeder Zeit alles kaufen können und doch nie physisch anwesend sind, charakterisiert werden.
3. FINAL DAYS (2015): K onsumästhe tik In Bezug auf Heather Phillipsons Videoarbeiten stellt sich eine Frage mit besonderem Nachdruck: Wer blickt hier in die Konsumräume, beziehungsweise wessen Perspektive nehmen wir ein, wenn wir als Betrachter*innen durch das Cyber-Kaufhaus flanieren? Die Höhe der Kamera entspricht nicht der menschlichen Perspektive; sie befindet sich niedriger, etwa auf der Höhe des Bauchnabels, eine Perspektive, die wenig Überblick zulässt. Das Bild ist gefüllt mit Produktansammlungen. Im Video UNDERWEAR (2015) sind es Unterhosenpackungen mit dem Schriftzug Jockey, im Video TOWELS (2015) unzählige Handtuchregale. Im Gegensatz zum Blick in die Weite suggeriert diese niedrige Blickhöhe eine Montage der Kamera auf einen Roboter, der elektronisch durch die Flure navigiert werden kann. {ABBILDUNG 2, TOWELS} Durch diese spezifische Kamerahöhe wird die Art und Weise, wie Phillipson die Konsumräume zeigt, stetig gebrochen. Sie verwendet zudem eine wackelige Handkamera, der die Bilder, die sie einfängt, auch immer wieder zu entgleiten scheinen. Phillipsons Bildsprache ließe sich mit dem ersten Satz aus dem Manifest Xenofeminismus – Eine Politik für die Entfremdung des Kol-
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lektivs Laboria Cuboniks9 beschreiben: »Unsere Wirklichkeit ist eine zunehmend schwindelerregende.«10 Phillipson erzeugt diesen Schwindel durch ihre schnell geschnittenen Videos, die ständige Bewegung und Überlagerung ihrer eigenen Stimme, des Sounds, der Musik, des Videobilds, der Animationen und eingeblendeten Schriftzüge produzieren. Für Laboria Cuboniks leben wir in einer Gesellschaft, in der wir alle entfremdet sind. Sie sehen die Entfremdung nicht als zu beseitigenden Mangel einer »idealisierten ›natürlichen Authentizität‹«11 an, sondern schreiben: »Entfremdung ist eine Wirkung und Funktion der Möglichkeit, Freiheit aufzubauen.«12 Diese Freiheit zeigt sich bei Heather Phillipson im lustvollen Umgang mit allem Künstlichen und Technischen, das uns den Blick in das Kaufhaus nicht als einen vermeintlich »natürlichen«, menschlichen Standpunkt präsentiert, sondern als virtuellen und konstruierten. Die Ästhetik des schwindelerregenden Laufs durch das Cyber-Kaufhaus könnte folglich als eine Form von »feministische[r] Intervention […] innerhalb der verbundenen, vernetzten Elemente der gegenwärtigen Welt« interpretiert werden – durchgeführt von einer »affirmative[n] Kreatur in der Offensive«, die ein Feingefühl für die flüchtige und künstliche Realität des Cyber-Kaufhauses mitbringt. Phillipsons künstlerische Annäherung zeigt die virtuelle und materielle Konsumption als ästhetische Praxis, was im Video SPECIAL OFFERS (2015) besonders anschaulich wird. Während eine aufwärtsfahrende Rolltreppe gezeigt wird, fragt Phillipson nach unserer Rückgabekultur und stellt fest, dass das Zurückgeben kein gängiger Akt unserer Konsumkultur sei. Die angesagte Politik sei eher »doing the right thing«13 – die Verantwortung wird bei den Konsument*innen implantiert, die eine einzig richtige Wahl zu treffen haben. Wer schon einmal versucht hat, ein defektes Gerät bei einem Online-Riesen wie Amazon zurückzugeben oder gar reparieren zu lassen, weiß, dass die Wege hierfür nicht so leicht nachvollziehbar sind, wie der Kauf eines Produkts, für den oftmals schon ein Klick ausreicht. Auch die Wege für das Löschen des jeweiligen Accounts bei Amazon, Facebook und anderen sozialen Plattformen sind oftmals schwieriger als die erstmalige Anmeldung. Hinter dieser Art der Rückgabe- und Datenlöschungsverweige9 | Laboria Cuboniks ist ein feministisches Kollektiv, dessen Name ein Anagramm des Namens von Nicolas Bourbakis ist, der wiederum ein Pseudonym zahlreicher Mathematiker war, die Anfang des 20. Jahrhunderts darunter Bücher zur Mathematik veröffentlichten. Vgl. http://monoskop.org/Laboria_Cuboniks 10 | Cuboniks, Laboria: Xenofeminismus – Eine Politik für die Entfremdung, in: Avanessian, Armen/Hester, Helen (Hg.): Dea ex machina, Berlin: Merve 2015, S. 15-34, hier S. 15. 11 | Ebd., S. 15. 12 | Ebd., S. 16. 13 | Heather Phillipson im Video SPECIAL OFFERS.
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rung vermutet Phillipson mit humorvollem Zwinkern in ihrem gesprochenen Text »einen präventiven Streik« der Bilder, Objekte und Redewendungen: it may be a pre-emptive strike manifest in images/objects and phrases required to ›live‹ food, shelter, safety – shoes, pulsating heart love – glasses, smashing stimulation/creativity – carpet design organisation – ringbinders upmarket cufflinks, flash details from pocket squares to tie clips, plus expanded leatherwear
Auf der Bildfläche bilden sich Kumulationen von all diesen käuflichen Objekten, die ein visuell-phonetisches Klang- und Bildmuster ergeben. Dieses wird am Ende des Videos SPECIAL OFFERS (2015) wiederholt, als Phillipson auf die rhetorische Frage »What else do I need to buy?« erneut eine virtuelle Ansammlung von Produkten einblendet. Hier sind es allesamt solche, die für die Berechnung der Inflation und der Verbraucherpreise in Großbritannien im repräsentativen Warenkorb der Statistik berücksichtigt werden: chilled pizza, mobile phone accessories, non-white emulsion paint, over-ready joint of gammon-slash-pork, electronic refills-slash-liquid, online subscription services, bottled speciality beer-slash-ale, liver, melon, sweet potato, music streaming subscription services, protein powder headphones games consoles
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Der eigentliche Wert dieser Dinge besteht für Phillipson nicht in ihrem Gebrauchs- oder Assimilationswert oder in ihren verheißungsvollen Versprechungen. Vielmehr sieht Phillipson einen Mehrwert in den Wörtern, die die Produkte bezeichnen, in den Bildern, die sie ergeben, den Geräuschen, die sie machen, kurz: in ihrer ästhetischen Vielfalt. Heather Phillipsons Seiltanz zwischen Genuss und Frustration, Affirmation und Entrüstung14 sowie zwischen Name und Aussehen des Produkts offenbart sich hier als ästhetische Aneignung käuflicher Dinge.
4. FINAL DAYS (2015): Tr ans - korpore ale P r ak tiken der K onsump tion in den V ideoarbeiten15 Trans-Korporealität nutze ich als ein Konzept, um die konsumptorischen Austauschprozesse in der Arbeit von Heather Phillipson zu umschreiben. Dabei unterscheide ich zwei Ebenen in Phillipsons Videoinstallationen: erstens die Trans-Korporealität als Austauschprozess zwischen Körpern und ihrer materiellen Umgebung und zweitens als Verbindung von materieller und virtueller Realität.
14 | Vgl. Suoyrjö, Elina/Phillipson, Heather: »The Mess of Getting into It«, in: n.paradoxa: international feminist art journal 36 (Juli 2015), S. 89-95, hier S. 93. 15 | Die Videos sind online verfügbar auf Heather Phillipsons Website: www.heather phillipson.co.uk/
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
4.1
Trans-korporeale Verletzlichkeit: Austauschprozesse zwischen Körpern und ihren materiellen Umgebungen
In Heather Phillipsons Cyber-Department-Store sind Körper zwar nicht mehr tatsächlich anwesend, jedoch in den einzelnen Abteilungen und ihren Erzählungen präsent, wenn sie fragt, was zum Körper gehört, wo er endet und wie die Konsumptionsweise von Dingen diese Grenzen aufzulösen vermag. In Bezug auf die Interaktion von Konsumgut und Körper spricht Wolfgang Schivelbusch vom »Assimilationswert eines Gutes«16, den er dem Gebrauchswert und dem Tauschwert an die Seite stellt. Der Assimilationswert »sucht den physischen Vorgang der Konsumption zu beschreiben. Er fragt, wie diese die beiden daran beteiligten Seiten – den Konsumenten und das Gut – erfasst und verändert. Er bezeichnet das Maß, in dem sich diese beiden Parteien aneinander abarbeiten und dabei in ihrer materiellen Substanz abnutzen und erschöpfen«.17 Lesen wir den Akt der Konsumption also als eine Bewegung die einen verändernden Moment beschreibt, in dem etwas Neues entsteht. Wird ein Ding konsumiert, wird es nach Schivelbusch zerstört und es findet eine partielle Befreiung vom Objekt statt. Zugleich passiert durch die Verbindung mit dem Ding auch eine Veränderung der Konsumentin oder des Konsumenten und des Dings an sich, sodass durch diese konsumptorische Aneignung eine physisch beschreibbare Veränderung des menschlichen Körpers und des Konsumobjektes eintritt. In dem Video BEDROOMS (2015) geht Philipson diesen gegenseitigen Übergriffen nach, indem sie dazu auffordert, sich in das Material des Bettes einzufühlen, das atmet und jeden Aspekt der Beziehung mitträgt, die auf ihm gelebt wird.
16 | Schivelbusch, Wolfgang: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumption, München: Carl Hanser 2015, S. 26. 17 | W. Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge, S. 27.
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Imagine yourself part of the material body of the bed, about to be exhausted. Long inhalations. [pulse] Next thing you know, the bed will, alongside you, recognise its potential/its lack thereof. This bed has some problems, will have some problems, over the course of its lifetime. Here’s a bed. Add to cart! Add to cart! Don’t mind if I do. Other recommended items/ items include the curtains. The curtains are very… open.
Am Ende eines Menschenlebens, so Heather Phillipsons Stimme, spielen diese alltäglichen Wohngegenstände eine zentrale Rolle. Als Beispiel dient ihr ihre Großmutter. Wie viele andere Menschen auch, habe sie am Ende ihres Lebens weniger einen Zugang zu ihren Gefühlen gehabt, als eine Verbundenheit mit ihren Möbeln. Grandma reached the end of the road, she reached the end of herself. She lost attachment to feelings. She was more likely to be attached to the furniture itself, starting to stick to it, like we all do, all those lie-ins and impromptu days off, traced all over the soft covers, listening (listening) (listening) to Grieg (listening). I keep asking myself: why not? And the answer always comes back: yes, but…/yes, but…
Ohne diese Materialgebundenheit des Alltags zu verurteilen, sieht Phillipson das Leben aus einer Perspektive der körperlichen Bindung an die Dinge – sowohl als physische als auch emotionale. Tagelang im Sessel sitzend oder im Bett liegend zu verbringen und sich immer intensiver mit den Möbeln zu verbinden, ist genau jener Prozess der Assimilation der Dinge, wie ihn Schivelbusch beschreibt. Phillipson erkundet diese Hingabe an die Dinge als einen Austauschprozess, der den ganzen Körper und seine Umwelt durchwandert. In ihrem »Ja, aber…« mit
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
dem sie das Video beendet, lässt sie bereits anklingen, dass sie die verlorengegangene Verbindung zu den Gefühlen der Großmutter vermisst. Denn vermutlich ist damit auch die zwischenmenschliche Bindung zwischen beiden verloren gegangen. Und Phillipson stellt fest, dass am Ende des Lebens ein Zustand eintritt, der vergleichbar scheint mit der Erfahrung tagelang zu Hause im Bett zu verbringen, ohne von diesem loszukommen: Nichts weiter bleibt übrig als der Körper und seine materiellen Verbindungen zu seiner Umgebung. Körper können jedoch nicht nur als durchlässig in Bezug zu ihrer materiellen, nicht-lebendigen Umwelt gedacht werden, sondern sind ebenfalls stets in Austauschprozessen mit anderen menschlichen Körpern. In Bezug auf Genderidentitäten beschreibt Marie-Luise Angerer das Körperverständnis der Philosophin Elisabeth Grosz mit der Metapher des »einverleibten Raum[s]«18, der dort entsteht, wo »zwei Körper [sich] begegnen, und diese Begegnung eine gegenseitige Affizierung – ein becoming other – anleitet«.19 Grosz sehe den Körper und die Sexualität als zutiefst instabile Territorien. Nach ihrem Verständnis sei der Möglichkeitsraum von Genderidentitäten letztlich nicht so groß wie derjenige von Körpern, »[d]enn der Körper müsse als etwas begriffen werden, der mehr tun könne als ihm die jeweilige Kultur erlaube zu tun.«20 Die Grenzen dieses einverleibten Körpers unterliegen kontinuierlichen trans-korporealen Austauschprozessen. Dem Körper wird bei Grosz demnach eine gewisse Kraft zugesprochen, die ihn befähigt, »[I]nnen und Außen in einem andauernden Prozeß zu inkorporieren und auszustoßen: ›to open itself up to prosthetic synthesis, to transform or rewrite its environment, to continually augment its power and capacities through the incorporation and into the body’s own spaces and modalities.«21 Diese Vorstellung eines Körpers im reaktiven Modus in ständigen Austauschprozessen scheint auch Phillipson zu verfolgen, wenn sie an einer Stelle im Video HOSIERY sagt: our clothes are not the impermeable barriers we like to think I read it in the New Scientist The microbes we shed from our skin – staphylococcus and cornebacterium – live in every room. Every nook is an invisible ecosystem of bacteria.
18 | Angerer, Marie-Luise: Body Options. Körper.Spuren.Medien.Bilder, Wien: Turia & Kant 2000, S. 139. 19 | Ebd., S. 140. 20 | Ebd., S. 139. 21 | Ebd., S. 139, nach Grosz, Elisabeth: Volatile Bodies: Towards a Corporeal Feminism, Bloomington, Indiana University Press 1994, S. 187-188.
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Für ihr Interesse an den inneren Kräften und Mikrobestandteilen des Körpers spricht auch, dass Phillipson keine Bilder von geschlechtlich einheitlich dargestellten Körpern produziert, sondern wir in ihren Videoinstallationen fragmentierten Innenansichten des Körpers begegnen, das heißt körperlichen Organen wie dem Herz auf den Pappkartons in der Installation. Sie verhandelt damit die physikalischen Druck-, Erregungs- und Kontraktionsstellen im humanen Körper. Dennoch erscheint auch der geschlechtlich definierte Körper bei Phillipson: Zwei Videos, UNDERWEAR und HOSIERY (2015), beziehen sich explizit auf die repräsentativen Körperresiduen im Cyberspace-Warenhaus, in dem die Präsenz des männlich oder weiblich codierten Körpers als Abbildung auf Produktverpackungen konserviert bleibt. Im Video UNDERWEAR schauen wir auf ein Regal, an dem zahlreiche viereckige Kartonverpackungen mit Herrenunterwäsche hängen. Die Etiketten sind bedruckt mit Männerkörpern ohne Kopf und ohne Gliedmaßen, deren Genitalien von einer weißen Unterhose bedeckt sind. Während die Darstellungen auf den ersten Blick muskulöse, junge Männerkörper zeigen, erinnert Phillipson an deren Künstlichkeit und an die symbolische Bedeutung des Torsos für das Unvollendete als künstlerische Form. Sie schneidet einen Torso aus und zieht und dreht ihn mittels grafischer Programme. Ihre Hände knicken und drücken die Pappkartonverpackung. Phillipson inszeniert sich so als digitale Bildhauerin des männlichen Torsos. Dabei scheint es ihr jedoch nicht um eine Geste der Macht zu gehen, vielmehr um die Darstellung der lebendigen Grenzen des Korporealen: Ihre Hände kleben einen rosafarbenden Kaugummi auf eine Unterhosenverpackung, während sie das männliche Geschlecht in der Unterhose als lebendiges Wesen, als »Gesicht«, beschreibt. Sie personifiziert das Glied des Mannes, fokussiert, zoomt, schneidet aus, fragt, ob es schreien würde und gibt ihm eine Stimme. {ABBILDUNG 5, UNDERWEAR} Hier zeigt sich eine Parallele zwischen Alaimos Konzept der Trans-Korporealität und Phillipsons Zugang zur Verletzlichkeit des Körpers und seinen Emotionen. Denn was Phillipson hier ebenso zu betonen scheint wie Stacey Alaimo in Bezug auf die Umweltaktivist*innen, ist, dass Trans-Korporealität auf eine Sensibilität für die Verletzlichkeit des Menschen rückzuführen ist. Phillipson macht auf die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers aufmerksam, indem sie die Empfindsamkeit einzelner Körperteile wie derjenigen des männlichen Genitals beschreibt. Diese Betonung menschlicher Verletzlichkeit beschreibt Alaimo wie folgt: »Humans are vulnerable because they are not in fact ›human‹ in some transcendent, contained sense, but are flesh, substance, matter; we are permeable and in fact, require the continual input of other forms of matter – air, water, food. The many protests against genetically modified food
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
underscore the sense that the human body is vulnerable in its permeability; it is embedded within and inseparable from the ›environment‹ that it ingests.«22 Phillipsons Geste, einen rosafarbenen, bereits gekauten Kaugummi auf das in der Unterhose verborgene Glied zu pressen, erinnert an eine Arbeit der Künstlerin Alexis Hunter, eine Fotocollage mit dem Titel Approach to Fear XVII: Masculinisation of Society – exorcise (1977). In diesen zwei Paneelen zeigen jeweils fünf Fotografien die Annäherung von Hunters Hand an ein pornografisches Foto, auf dem ein ähnlich muskulöser, trainierter Männerkörper in ähnlichem Ausschnitt zu sehen ist – nur ohne Unterhose. Mit dunkler Farbe an den Fingern berührt sie das Abbild des männlichen Glieds und ermächtigt sich dessen im Akt der Bemalung, indem es auf dem letzten Bild durch die Farbe unsichtbar gemacht wird. Durch diese schelmische Geste, die mit der psychoanalytisch begründeten Kastrationsangst des Mannes spielt, wird der Protagonist auf dem Foto symbolisch »entmannt«. Zusätzlich lässt diese Geste des Überpinselns mit den Fingern jedoch auch die Möglichkeit einer erotischen Berührung offen, die vielleicht eher kitzelt als schmerzt.
Phillipsons Geste mit dem rosafarbenen, von Speichel durchsetzen Kaugummi ist deutlich provokativer als die Fotoserie von Alexis Hunter, denn die weiche Masse des Kaugummis erinnert eher an eine Zunge oder das Fleisch einer Vagina. Etwas vorsichtig streicheln Phillipsons Finger über die Beine des männlichen Körpers. Statt darin die Sehnsucht nach einer körperlichen Berührung und Erregung zu entdecken, liegt es nahe, dass Phillipson dieser eindeutigen, linearen Darstellung des Mannes eine queere Note gibt: sie setzt dem Mann eine Vagina-Atrappe auf. Durch diese Intervention macht sie deutlich, wieviel Potential die »Interfaces« im 22 | S. Alaimo: The naked word, S. 24.
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Cyber-Kaufhaus besitzen. Denn die virtuelle Interaktion ermöglicht trans-korporeale Beziehungen zwischen verletzlichen Körpern auf eine anti-normative Weise: O yes, we are faces, we are just interfacing, down here in the pants department. Look no further, it’s as dangerous as anywhere.
Auch das Video HOSIERY widmet sich der trans-korporealen Verletzlichkeit von Körpern, betont jedoch die korporeale Möglichkeit, sich trotz poröser Körpergrenzen gegen äußere Zugriffe zu wehren. Zu Beginn von HOSIERY sehen wir Strumpfverpackungen mit weiblichen Beinen darauf und dreimal wiederholt Phillipson wie ein Mantra: That’s enough dead bodies for one day.
Warum kommt Phillipson auf einen toten, weiblichen Körper zu sprechen? Mit Elisabeth Bronfen kann der weibliche, tote Körper als Allegorie für den Zustand von Passivität und Verfügbarkeit gelesen werden. In der Kunst und Kultur würde, dafür führt Bronfen zahlreiche Beispiele an, männliche Kunst »nur über ihre Leiche« produziert; um anhand ihres ästhetisierten Körpers männliche Kulturgeschichte zu erzählen, werde das lebendige Weibliche getötet: »The feminine corpse inspires the surviving man to write, to deny or to acknowledge death, while at the same time the corpse is the site at which he can articulate this knowledge.«23 Doch Phillipsons ist gerade an der Wider 23 | Bronfen, Elisabeth: Over her dead body: death, femininity and the aesthetic. Manchester: Manchester University Press 1992, S. 13. In der deutschen Übersetzung lautet der Titel »Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik«.
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
ständigkeit und Unsterblichkeit des weiblichen, als passiv geltenden Körpers interessiert. Wir hören Phillipsons Stimme, während ein schneller, fröhlicher Beat den Bildern unterliegt. Phillipson spielt mit den Nylonstrümpfen, dem Ausschnitt, der die Vulva einer Frau bedeckt und streichelt mit dem Zeigfinger darauf wie auf einem Touchpad des Computers. Dann beschreibt sie den weiblichen Orgasmus als ein System, das allen Vorstellungen von Zielstrebigkeit, Effizienz und Marktfähigkeit widerspricht: For the female orgasm, imagine a starting point that rises, falls, rises, has no product, no objective and amasses energy. it’s here, it’s there, it’s a lone drone, a low moan it’s nowhere NO MONTHLY ROLLING CONTRACTS NO WIN NO FEE
So wenig der weibliche Orgasmus vermarktet und als Paket geschnürt werden kann, so wenig können dies menschliche Körper überhaupt. Sie zitiert ein wissenschaftliches Paper, demzufolge die Spuren von Fäkalien und Vagina-Flüssigkeiten überall auf Stühlen zu finden seien und schließt daraus: We are leaky animals.
Kleider sind demnach viel weniger eine Barriere oder ein Schutz unseres Körpers, als wir gemeinhin annehmen. {ABBILDUNG 7, HOSIERY} Den Körper imaginiert sie als einen lebendigen und Grenzen überschreitenden Organismus, dessen widerständige, nicht marktfähige Energien – wie sie sich im weiblichen Orgasmus zeigen – auf einen neuen Umgang mit weiblichen, männlichen und queeren Körpern weisen: Körper sind nicht mehr als passive Leichen zu begreifen, als formbare Materie, sondern als eigenwillige Agenten. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Verständnis vom Körper als abgeschlossenes System grundsätzlich als überholt bezeichnen. Während Alaimo in ihrem Beispiel der Umweltaktivist*innen den Blick auf die angeblich »ursprüngliche« Natur als pflanzliche und geologische Umwelt richtet, interessieren sich Künstler*innen wie Heather Phillipson für die bereits vom Menschen verarbeitete Natur im Anthropozän. Exklusive Konsumgüter liefern den kontinuierlichen Input westlicher Menschen. TiefkühlpizzaNahrung, privatisiertes Wasser von Nestlé mit dem Namen Pure Life und die frische Luft des fernen Kurorts – der Zugang zu diesen vermeintlich »natürlichen« Elementen wird heute zunehmend virtuell und über Konsum vermittelt.
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Geschlechtliche Kodierung von virtueller und materieller Realität
Noch einmal zum Anfang des Videos SPECIAL OFFERS: es beginnt mit einer Kamerafahrt die Rolltreppe hinauf. Auf dem Videobild bewegen sich einzelne Fingerspitzen, die durch die Curser-Pfeile der Maus, das Klicken und den wischenden menschlichen Finger den Übergang von Tastaturen mit Maus zu Touch-Screens suggerieren. Zudem flirren wie aus Fotos ausgeschnittene Brustwarzen über die Bildfläche. {ABBILDUNG 8, SPECIAL OFFERS} Auf diese Weise visualisiert Phillipson die Fingerspitzen als Schnittstelle von Cyberspace und Konsument*in, da Touchscreens heute vor allem von den Fingern der Konsument*innen bedient werden. Die Brustwarze hingegen verweist auf den Körper als erogene Zone, da sie als Punkt äußerster Empfindsamkeit des menschlichen Körpers immer schon erotisch konnotiert ist. Unklar bleibt, ob es sich um eine weibliche oder männliche Brust handelt, mit der Phillipson den Cyberspace als eine Art vorsexuellen Raum thematisiert: Denn der/ dem Benutzer*in wird kein eindeutiges Geschlecht zugewiesen, sie/er kann mit dem Computer interagieren wie vor ihrer/seiner sexuellen Bestimmung. Durch die Brustwarze als erotisch konnotierte Zone eröffnet Phillipson das Cyberspace-Kaufhaus als ein erogenes Feld, in dem das (queer-feministische) Begehren nach der Auflösung zweigeschlechtlicher Sexualität verhandelt wird. Insbesondere in den 1990er Jahren existierte eine Auf bruchsstimmung, deren Utopie lautete, dass im Cyberspace jegliche Körperlichkeit und damit auch Geschlechterrollen überwunden werden könnten. Das Virtuelle wurde als körperlose Sphäre gedacht. Dieser feministische Enthusiasmus ist heute weitgehend abgeklungen und die Loslösung der virtuellen von einer sozial-materiellen
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Realität wird beispielsweise von Rosi Braidotti in Bezug auf die digital gestaltete Massenunterhaltung revidiert.
Es erweist sich, dass es mehr als Maschinerie braucht, um Denkmuster und geistige Gewohnheiten wirklich zu verändern. […] Wenn unsere Kultur nicht die Herausforderung annehmen und entsprechend neue Ausdrucksformen erfinden kann, sind die Technologien sinnlos. Einer der größten Widersprüche in den Bildern der virtuellen Realität ist, dass sie unsere Vorstellungskraft anregen, indem sie die Wunder und das Staunen einer geschlechterfreien Welt versprechen, während sie zugleich einige der banalsten, flachsten Bilder von Geschlechtsidentität 24
wiederholen. Marie Luise Angerer argumentiert für eine Kunstpraxis in dieselbe Richtung. Gerade in der Kunst schließe die Schaffung von Cyber-Welten oftmals die Visualisierung von Cyber-Körpern mit eindeutigen »geschlechtlichen Anordung[en]« ein.25 Angerer versucht diese ambivalente Gleichzeitigkeit mit der Verbindung zweier Theorien zu Geschlechtlichkeit und Körper zu erläutern, indem sie Judith Butlers Genderkonzept und Elisabeth Grosz’ Theorie der sexuellen Differenz zusammen liest. Mit Judith Butler wird sex als irgendwie natürlicher Bezug zum Körper und ursprünglicher Ort von Geschlechtsidentität in Frage gestellt. Angerer argumentiert, dass man nicht einfach als dieses oder jenes Geschlecht auftreten kann, sondern dass Gender als 24 | Braidotti, Rosi: Cyberfeminismus mit einem Unterschied, in: Avanessian, Armen/ Hester, Helen (Hg.): Dea ex machina, Berlin: Merve 2015, S. 107-144, hier S. 137. 25 | Angerer, Marie-Luise: Feministische Positionen in Kunst- und Medienthorien, in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen: zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999, S. 455-466, hier S. 457.
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Folge eines »doing gender« einen Raum impliziert, »der mit ›als ob‹ umschrieben werden könnte«26, das heißt, die Geschlechtlichkeit wird immer schon als potentielle verhandelt. Damit entstehe ein Riss oder eine Lücke, die immer darauf verweise, dass das Geschlecht, das gerade im Modus des »Doing« verfolgt werde, nicht identisch mit seinem sex sein könne. Damit beschreibt Butler eine Art Verlust ursprünglicher Geschlechtsidentität. Mit Elisabeth Grosz macht Angerer verständlich, warum dieses Verschwinden auch gleichsam immer die visuelle Hervorbringung von vermeintlich ursprünglicher Sexualität provoziere. Grosz‹ sexuelle Differenz, die eine Kritik von Butlers Genderkonzept beinhaltet, beschreibt ein »präepistemologisches Terrain«, das nicht per se männlich oder weiblich konnotiert sei, sondern das immer »ein ›Werden‹ ein- und anleitet«27. Dieses Werden führe letztlich in eine symbolische Dichotomie von männlich und weiblich, sei aber dennoch nicht schicksalhaft. In Anlehnung an Deleuze und Guattari bezeichnet Grosz dieses Werden als Begehren, das im »becoming other«, in der Suche nach einer geschlechtlichen Identitätsposition gründet, die jedoch nie an sich erscheinen kann, sondern immer nur als relational zu Anderen, zum Gegenüber. Der Verlust von Geschlecht als einer ursprünglichen Identitätsstruktur geht also einher mit Strukturen, die letztlich immer wieder auf einen Bereich verweisen, wo das Geschlecht als vermeintlich eindeutiges formuliert ist. Gleichzeitig sind die Strukturen durchwoben mit suchenden Bewegungen nach vielfältig anderen, geschlechtslosen Identitäten. Mit Angerers Worten: »Die Frage ist also nicht so sehr, ob das Netz ein Raum für Wesen jenseits des Geschlechts sein sollte, als vielmehr, weshalb das Geschlecht nicht unterlaufen werden kann, obwohl es permanent über-läuft.«28 Die Utopie der Geschlechtslosigkeit wird von Angerer folglich aus der visuellen Oberfläche des Cyber-Bildschirms ausgeschlossen, rahmt jedoch gleichsam dessen Inhalte. Wie wir bereits wissen, wird die Utopie nicht im Cyberspace realisiert, das Netz ist kein geschlechtsloser Raum. Dennoch ist der Cyberspace ein Ort für das Begehren nach Auflösungen und Entgrenzungen – sie zeigen sich nicht, aber leiten die Vorstellungen von diesem Raum: »Mediale Arrangements – Computermedien, audiovisuelle Medien – sind keine Orte der Befriedigung, sondern Settings eines Begehrens, das das Terrain durchkreuzt, […] sich aber nicht im Bild befindet.«29 Im Video HOSIERY arrangiert Phillipson die einzelnen strumpf bezogenen Beine als endlose Schleifen und Kreise auf der Videofläche und spricht:
26 | Ebd., S. 463. 27 | Ebd., S. 465. 28 | Ebd. 29 | Ebd.
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus there are a lot of legs around (there are a lot of legs around) legs are very becoming.
Das Werden verweist also darauf, dass das Geschlecht im Cyberspace ebenso wie in der materiellen Welt in der Begegnung mit einem Gegenüber entsteht, es existiert daher keine vollständig virtuelle Geschlechtsidentität. Der Cyberspace muss, so Angerers Anliegen, immer auch als Raum verstanden werden, der auf sein materielles Außerhalb verweist. In der Cyber-Shopping-Mall, so führt Heather Phillipson uns komplex vor, ist also der Verlust einer ursprünglichen Geschlechtsidentität nicht gleichzusetzen mit der Erfahrung eines körperlosen Shoppings. Denn der Körper bleibt das Scharnier der trans-korporealen Bewegungen zwischen virtueller und materieller Realität und markiert diese als geschlechtlich kodierte Körperräume. Die Shopping-Mall als virtueller Raum führt die Kraft des Begehrens noch auf eine andere Weise vor: Neben dem Begehren nach Auflösung und Entgrenzung von dichotomen Geschlechterrollen ist das Cyberspace-Kaufhaus von einem Begehren nach befriedigenden Konsumereignissen geprägt. Es ist das Verlangen nach einer Befriedigung, die nicht erreicht werden kann und die Phillipsons kreisrunde Räder aus Beinen in Bewegung hält. In Phillippsons Worten ist es die endlose Hoffnung, dass etwas passieren wird, während wir suchend durch die Straßen der Cyber-Shopping-Mall haschen: these constructions are often hidden from view, but they are what keep us moving the feeling that something might happen – the feeling that something might happen – turning points in the course of human events events that bring to mind catapults, radio antennae and school science experiments a mixed bag – some supremely tender, some tough
Phillipson beschreibt hier das Einkaufen im virtuellen Raum als Ausdruck einer Sehnsucht nach besonderen Momenten. Dieses Begehren ebenso nach Dingen wie nach Ereignissen könnte bei Phillipson also als ein Begehren nach einem Raum für die sozialen und emotionalen Bedürfnisse des Menschen und seiner Körper gelesen werden. Phillipson beschreibt den Gang durch das Cyberspace-Kaufhaus als eine soziale Handlung mit dem Ziel menschlicher Begegnung, hinterfragt jedoch, wieviel Platz für Differenz diese schmalen Korridore bieten. Anhand eines Beispiels aus Phillipsons Video BEDROOMS wird dies deutlich. Es beginnt mit einem laut und schnell schlagenden Herz, einem wackeligen Kamerabild und einer zum Zungenkuss ausgestreckten Zunge: Icons, die zu einem Bild des Schlafzimmers als privatestem Ort verschmelzen:
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Antonia Wagner This room is dedicated to those who FEEEEEEEL. (Feeeeeeeeeeel!) Of all the places and all the ways to feel: THIS. IS. IT.
Phillipson interessiert sich für das Gefühl von Liebe als Moment der emotionalen Erregung an einem als intim konnotierten Ort, der im Kaufhaus jedoch sichtbar und für die Besucher*innen zugänglich ist. Die Vereinnahmung von romantischen Gefühlen durch Konsumstrukturen hat bereits Eva Illouz ausführlich analysiert und ist zu dem Schluss gekommen, dass die Entwicklung der Konsumgesellschaft auf dem gesellschaftlichen Wert romantischer Liebe beruht, da durch sie bestimmte Konsumgesten, -gewohnheiten und -neuheiten kultiviert werden können.30 Auch in dem Buch A Theory of Shopping (1998) des Anthropologen Daniel Miller und besonders in seinem Kapitel Making love in Supermarkets wird die Kaufentscheidung in Verbindung mit Gesten der Liebe gebracht, hier mit der Zuwendung der »Hausfrau« für ihre Familienmitglieder. Er stellt heraus, dass die tagtäglichen Besorgungen zwischen Vergnügungswert und Sparzielen abgewogen werden müssen und die Liebe zu Anderen die Produktentscheidungen anleitet. Dieses Verhalten stehe, so Miller, dem allgemeinen Diskurs über ›Shopping‹ als verschwenderische Anhäufung unnützer Dinge entgegen.31 Während Miller die liebevolle Dimension des alltäglichen Besorgens von Waren erläutert, sucht Phillipson nach dem Ort, an dem Menschen sich begegnen. In Millers Supermarkt wird das Einkaufen als ein Symbol der Zuwendung analysiert, doch ob es sich auch in erhöhter körperlicher Nähe der Beteiligten niederschlägt, erörtert er nicht. Für das Cyber-Kaufhaus hingegen dekonstruiert Phillipson die Vorstellung von jeglichen Liebesakten, indem sie bemerkt, dass in der Online-Version des Einkaufens die Präsenz des eigenen Körpers und damit die Gefühle fehlen: Here, everything is where it should be, except us.
Phillipson appelliert somit an die virtuelle Realität. Ihre Arbeit könnte so interpretiert werden, dass es eine »Glaubwürdigkeitslücke zwischen den Versprechen der virtuellen Realität und des Cyberspace auf der einen Seite und der Qualität dessen, was sie bieten, auf der anderen«32 gibt. Denn im Virtuellen werden, wie ich bereits angesprochen habe, banale, stereotype Bilder von Geschlechtsidentität und von kapitalistischen und rassistischen Verhältnissen wiederholt. Somit werden Körperutopien und -realitäten, die eine nicht-hierarchische Ordnung der Geschlechter versuchen zu realisieren, hier nicht gezeigt 30 | Vgl. Illouz, Eva: Der Konsum der Romantik: Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Campus 2003. 31 | Vgl. Miller, Daniel: A theory of shopping, Cambridge: Polity Press 1998, S. 67f. 32 | R. Braidotti: Cyberfeminismus mit einem Unterschied, S. 138.
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
– das »Wir« von dem Phillipson in obigem Zitat spricht, könnte für eine diverse Gesellschaft, in der Transsexualität, Posthumanität und Homosexualität gelebt wird, stehen. Phillipsons Beschreibung des Cyber-Kaufhauses könnte damit als Kritik an dem mangelnden Platz für dieses differente »Wir« gelesen werden. Das Cyberspace-Kaufhaus ist demzufolge ein trans-korporealer Raum, da er die Körperlichkeit materieller Körper, ihre geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, auffaltet ohne sie zu manifestieren. Die Auflösung des Konzepts der Zweigeschlechtlichkeit, die trans-geschlechtlichen Erfahrungen in der materiellen Realität, werden in der virtuellen Welt zwar nicht dargestellt, bilden jedoch die korporealen Bezugspunkte des Begehrens im Cyberspace.
4.3
Trans-korporeale Konsumption zwischen virtueller und materieller Realität
Bis hierhin wurde eine Trennung zwischen virtuellen und materiellen Körpern und ihren Erfahrungen beschrieben. Auch McCracken geht in seiner eingangs zitierten These von einer klaren Trennung zwischen Orten des haptischen Erlebens und virtuellen Orten der Beschaffung aus. Diese Unterscheidung scheint jedoch zu vereinfachend zu sein, um die zukünftigen Netze aus materiellen und virtuellen Handlungen, Aktionen und Wahrnehmungsapparaten zu beschreiben. Es scheint sich heute daher zunehmend ein Verständnis eines virtuellen Raums, der betreten werden kann, mit dem eines materiellen Körpers, der besessen werden kann, zu überlagern.33 Die Kunstwissenschaftlerin Verena Kuni betont, dass ein Medium wie das Internet sein Potential erst in seiner Benutzung durch die Menschen entfalte.34 Das Internet als Netz, als Matrix der Kommunikation, entsteht also erst, sobald wir es nutzen, wodurch es sich zwischen Körpern handelnder Menschen aufspannt. Die Pädagogin Birgit Althans sieht in dieser korporealen Rückbindung bezogen auf den Konsum einen Ausweg aus dem endlosen Begehren nach Mehr und begründet dies im Rückgriff auf den Soziologen Hartmut Rosa und seine Beobachtungen zur Digitalisierung des Konsums als Prozess 33 | Vgl. beispielsweise Levin, Boaz/Tollmann, Vera: Der Körper des Webs, in: Skulptur Projekte Münster (Hg.): Out of Body, [Ausgabe Frühling 2016] keine Seitenangaben: »Wie wir gesehen haben, verbinden sich das Digitale und Reale zu immer neuen Formen und Instrumenten und ältere Mythen lösen sich […] langsam aber unaufhaltsam auf. Die alten Abgrenzungen zwischen dem menschlichen Körper im physischen Raum und der sogenannten Immaterialität der digitalen Sphäre werden aufgehoben.« 34 | Vgl. Kuni, Verena: Die Flaneurin im Datennetz. Wege und Fragen zum Cyberfeminismus, in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Konfigurationen: zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999, S. 467-485, hier S. 467.
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der De-Materialisierung und Re-Materialisierung. Der Zugang zu Dingen werde ein Zugang zu Möglichkeitsräumen, die sich in der Konsumsehnsucht nach unbegrenztem und immer verfügbarem Warenangebot wie dem Flatrate-Internetzugang oder der Bahncard100 abzeichneten. Dazu gegenläufig sei die Tendenz der Re-Materialisierung »in Form von ›Korporealisierungen des Konsums‹ […]: ›Diese basiert auf dem Faktum, dass es ein unhintergehbares, nicht-disponibles, unersetzbares materielles Substrat oder Objekt gibt, das immer stärker in den Mittelpunkt der spätmodernen Konsumkultur rückt: der eigene Körper‹«.35 Der Cyberspace als Raum des Konsums spannt sich demnach zwischen dem imaginären Konsum und den materiellen Begrenzungen des Körpers auf. Die Erweiterung virtueller Möglichkeitsräume geht einher mit einem Denken über den Körper als erweiterter Raum, dessen materielles Potential genutzt werden kann, um virtuelle Handlungsspielräume zu erweitern. Anders als die Pädagogin Birgit Althans den Körper als physische Begrenzung eines Konsumbegehrens beschreibt, scheint es jedoch wahrscheinlicher dass virtuelles Begehren und physische Körper sich gegenseitig durchdringen und nicht einseitig der materielle Körper die imaginären Möglichkeitsräume der Konsumption eindämmt. Hier wäre an die Erprobungen von »Virtual-Reality-Brillen« zu denken, die die Grenze zwischen virtueller und materiell-korporealer Welt eng aneinanderrücken lassen. Vor unseren Augen entstehen hier Welten, die für andere Personen neben uns zunächst nicht sichtbar sind und durch das erweiterte Sichtfeld nah an die »eigenen Bilder im Kopf« heranrücken. Stellen wir uns einen Besuch eines Supermarktes mittels einer solchen Brille vor; die strikte Trennung zwischen einem betretbaren, virtuellen Raum und einem physischen Körper weicht auf. Denn wenn wir erst mit Brillen überall alles einkaufen können, rückt uns das digitale Kaufhaus so sehr auf die Haut, dass es nicht mehr abwegig sein wird, von unserem Körper als Kaufhaus zu sprechen: »Der Laden in deinem Kopf« – so titelte die Journalistin Astrid Dörner am 13.3.2016 im Handelsblatt und beschrieb zukünftige Einkaufserlebnisse mit der »Virtual-Reality-Brille«, wie sie Facebook beispielsweise für 2016 angekündigt hat.36 Damit werden körperliche Affekte wie Blicke zu 35 | Althans, Birgit: The desire to consume: Ernährung zwischen Shoppen, Kochen und Verzehren als Inszenierung weiblicher Geschlechtsidentität, in: Dies/Bilstein, Johannes (Hg.): Essen – Bildung – Konsum: Pädagogisch-anthropologische Perspektiven, Wiesbaden: Springer 2016, S. 225-244; S. 242. Zitiert hier Rosa, Hartmut: Über die Verwechslung von Kauf und Konsum: Paradoxien der spätmodernen Konsumkultur, in: Heidbrink, Ludger/Schmidt, Imke/Ahaus, Björn (Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten: Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum, Frankfurt a.M.: Campus 2011, S. 115-132, hier S. 124f. 36 | www.handelsblatt.com/technik/it-internet/virtual-reality-der-laden-in-dein emkopf/13313182.html
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
marktrelevanten Aktivitäten, die aufgezeichnet und verwertet werden können. Die Unterscheidung zwischen einer identifizierbaren physischen Realität des Körpers, hier seiner Blicke, und einem Begehren nach Konsumereignissen, das hier als virtuelle Körperraumerfahrung erlebt werden kann, wird obsolet, da beide im Körper der Benutzer*innen zusammenfallen. Trans-Korporealität repräsentiert folglich ein neues Körperverständnis, das die zunehmende Spannung zwischen De- und Re-Materialisierung in der Alltagserfahrung wahrnimmt. Heather Phillipsons Video TOWELS (2015) thematisiert diese Entwicklung der Blickregime im digitalen Raum aus einer kritischen Perspektive. Die Kamera befindet sich in einem Raum aus Regalen, der bis zur Decke mit Handtüchern gefüllt ist. Auf den Handtuchregalen lagern einige Schaufensterpuppenköpfe mit Turbanen aus umwickelten Handtüchern. Mit spannungsgeladener Musik erzeugt sie plötzlich ein Schreckenszenario der Observation im Cyberspace. Sie beschreibt, dass sie sich von den Puppengesichtern beobachtet fühlt. Then I realise I’m being watched. No two faces look too new, and no two faces look the same. And yet, in here, they are ›fungible‹.
Die Feststellung, dass die Gesichter der Schaufensterpuppen austauschbar sind, verweist erneut auf das Gesicht als Interface im Cyberspace und könnte erweitert gelesen werden als die Austauschbarkeit der Blicke der Konsument*innen im Cyber-Kaufhaus, da sie letztlich nicht nur durch das Warenangebot, sondern auch durch die technisch verfügbare Auswahl an Blicken und Perspektiven im virtuellen Raum bestimmt werden. Im Video SPECIAL OFFERS (2015) beschreibt Phillipson diese kommerzialisierten Blicke noch deutlicher. Die Kamera fährt durch die Gänge des Kaufhauses: these aren’t navigation paths for buying, they’re streets they’re streets (streets (streets), streets (streets)) people walk along them wearing looks of interest, interest BROWSING (browsing).
Sie beschreibt das Umherbrowsen als eine Erwartungshaltung mit der Intention, dass etwas Besonderes passieren möge und eine Entdeckung gemacht werde. Die Kamerahöhe bleibt auf der Höhe der Brust oder des Bauches eines Menschen. Stünde eine Person vor uns, sähen wir keine Köpfe, genauso wie auf den Produktverpackungen der Unterhosen die Köpfe fehlen. Doch diese Erwartung kann nur enttäuscht werden, da es gar kein eigentliches Interes-
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se mehr gibt, das befriedigt werden könnte. Das Interesse ist selbst schon zu einem »look of interest« geworden, der gleichsam wie ein Kleid getragen wird. Ein letztes Beispiel für die Entwicklung trans-korporealer Körperräume: Betrachten wir beispielsweise Amazon Echo, Amazons Smart-Home-Lösung für das Kaufhaus von morgen. Das Gerät reagiert auf den Namen Alexa und hat eine feminine Stimme. Sie wird als die kleine, fast unscheinbare »Freundin zuhause« angepriesen, die sowohl Wissensdurst, musikalische Unterhaltungslust als auch die materiellen Konsumbedürfnisse stillen kann: auf Zuruf bestellt die perfekte Konsumassistentin, die stets mit allen digitalen Schnittstellen verbunden ist, auf Amazon die fehlenden Produkte, die dann nach Hause geschickt werden. Sie steht wie eine kleine Musikbox im Raum und ist immer erreichbar. Hier lassen sich die Zukunftsträume vom »Laden in unseren Köpfen« als »Laden in unserem Zuhause« formulieren. Amazon Echo evoziert ein Szenario, in dem wir zukünftig nur noch online einkaufen beziehungsweise unsere menschlichen Grundbedürfnisse mittels technischer Geräte befriedigen – eine Vorstellung, die die Fragen nach sozialem Zugang und Teilhabe aller Menschen massiv neu stellt. Diese Fragen stellt auch Heather Phillipson in ihrer Installation FINAL DAYS in Bezug auf die Verschiebungen zwischen virtueller und materieller Realität des Konsums, indem sie nach der Positionierung menschlicher Körper fragt. Zudem wirft das leere Kaufhaus, in dem nur noch Monitore zu sehen sind und keine Produkte mehr haptisch greif bar sind, auch die Frage auf, wo die Dinge sind, wenn sie im Cyber-Kaufhaus lagern. Mit Boaz Levin und Vera Tollmann muss hier also nach dem Körper des Webs gefragt werden, da das Internet eben jene einst verheißungsvolle Immaterialität offensichtlich eingebüßt hat. Vielmehr sind Tendenzen der Verschleierung prägend, die den Konsumort in eine »Cloud« packen und damit »digitale Daten zentralisieren und Software wie Hardware in eine undurchschaubare Black Box […] verwandeln«37. Hinter der Cloud und dem Cyber-Kaufhaus steht jedoch ein Netzwerk aus Kabeln und zentralisierten Rechnern und Daten, die von Stromversorgungen und Telefonleitungen abhängen, die territorialen Staatsgrenzen und der Privatisierung des öffentlichen Raums unterliegen. Auf diese Kontrollmechanismen im digitalen Cyber-Kaufhaus macht Phillipson aufmerksam, wenn sie postuliert, dass die Konsumgänge keine Navigationswege des Konsums seien, sondern Straßen: »They’re Streets.« Offensichtlich jedoch sind die gezeigten Korridore keine öffentlichen Straßen, was so interpretiert werden könnte, dass das Cyber-Kaufhaus die Straßen als öffentliche Zugänge zu Konsumorten privatisiert.
37 | B. Levin/V. Tollmann: Der Körper des Webs. In: Out of Body, keine Seitenangaben.
Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
5. S chluss Mit den Worten der Philosophin Elisabeth Grosz muss die Entwicklung zum Cyber-Kaufhaus dahingehend geprüft werden, was sie ermöglicht. Ihr zufolge sei die entscheidende Frage für den Feminismus, wie wir eine größere Vielzahl von Aktionen auch im Sinne von Wissensproduktion schaffen können, sodass Männer und Frauen neue, nicht dagewesene Perspektiven und Interessen kennenlernen können: »How to enable more action, more making, and doing, more difference«38. Heather Phillipson öffnet ein Tableau jener Räume und Körper, in denen trans-korporeale Verbindungen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern und virtuellen Räumen als Charakteristika von Konsumerlebnissen beschrieben werden. Gleichzeitig fragt sie kritisch nach den Möglichkeiten und Hindernissen dieser konsumorientierten Körperräume für die individuelle Freiheit, die gesellschaftliche Akzeptanz von Unterschieden, sowie für soziale Teilhabe und Gleichheit. Dem Konzept der Trans-Korporealität liegt zugrunde, dass es menschliche Körper sind, die die Grundlage vieler Erfindungen und prothetischer Erweiterungen sind. Trotz der Technik verweist die teils nur noch indexikalische Anwesenheit des Körpers letztlich auf seine Irreduzibilität und Verletzlichkeit. Folgerichtig müsste sich die Reflexion über einen ethischen Umgang mit digitalen Körperräumen der Konsumption anschließen: Wo entstehen Möglichkeiten der körperlichen Berührung und sinnlichen Erfahrung souveräner Körper in einer digitalisierten Konsumgesellschaft? Verhindert das Cyber-Kaufhaus diese Dimensionen der Körpererfahrung durch zunehmende Kontrolle? Phillipsons Arbeit wirft viele Fragen auf bezüglich des Risikos und der Potentiale für menschliche Bewegung innerhalb der »neuen« Körperräume, die durch die Technologie bedingt werden. Sie zeichnet die Auflösungstendenzen der Immaterialität der digitalen Sphäre und der menschlichen Körper im physischen Raum nach und setzt ihre Sprache strategisch ein, um einen Anspruch auf vormals ökonomisierte Bezeichnungen und Benennungen sowie auf ihre (Wieder-)Aneignung und Neu-Besetzung zu formulieren.39 Einmischen wird sich Phillipsons Stimme gewiss weiterhin, mit einem klaren, offenen und dennoch kritischen Blick in die Zukunft: »I keep asking myself: why not? And the answer always comes back: yes, but…/yes, but…«40 38 | Grosz, Elisabeth: Feminism, Materialism, and Freedom, in: Coole, Diana H./Frost, Samantha (Hg.): New materialisms: ontology, agency, and politics, Durham: Combined Academic Publishing 2010, S. 139-157, hier S. 154. 39 | Vgl. E. Suoyrjö/H. Phillipson: »The Mess of Getting into It«. In: N.Paradoxa: International Feminist Art Journal 36 (Juli 2015), S. 89-95, hier S. 91: »An embedded politics – angency, entitlement, de-/re-territorialization – is always bubbling, overt or not.« 40 | Heather Phillipson im Video »Bedroom« (2015), https://vimeo.com/139335670.
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Trans-korporeale Konsumption im Cyber-Kaufhaus
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Kalter Krieg im Kühlregal Sowjetische Eiskrem und amerikanische Hühnerkeulchen als Erinnerungsorte Monika Rüthers
Seit einigen Jahren boomt in Russland die »sowjetische« Eiskrem, die es in allen Varianten zu kaufen gibt, im Waffelbecher, als Brikett oder am Stiel. Die raue Haptik des Papiers und vertraute Formen und Symbole wie Eisbären oder Pinguine wecken nostalgische Erinnerungen. Der Trend findet ein starkes Echo in den sozialen Netzwerken. Milchspeiseeis (plombir) gilt als russische Nationalspeise, ja »heiliger Gral der Sowjetnostalgie« (Sasha Raspopina) und vereint Alte und Junge, Große und Kleine in den Erinnerungen an die glückliche sowjetische Kindheit.1 Der Kult um die sowjetische Eiskrem sagt nicht nur einiges über aktuelle Befindlichkeiten aus, sondern wirft auch ein Licht auf die sowjetische Konsumästhetik und die Widersprüchlichkeit der Bewertungen sowjetischer und postsowjetischer Konsumbeziehungen. In den sozialistischen Gesellschaften waren die Konsumbeziehungen stärker politisch aufgeladen. Der Staat gebärdete sich als Versorger und Monopolist und kommunizierte über Waren und Verteilsysteme mit den Bürgern. Deshalb nahmen die Menschen Warteschlangen und Konsumgüter, auch die materielle Qualität
1 | Zur Auswahl sowjetischer Eissorten: Raspopina, Sasha: Sweet Nostalgia. Why the ice cream brands of communist Russia are still a hot favourite, in: The Calvert Journal. A guide to the new East http://calvertjournal.com/features/show/4632; Gorovcova, Dar’ja: Sovetskoe Moroženoe. Kakimi byli 48 kopeek, plombir i eskimo v SSSR [Sowjetisches Eis. Wie waren die Eissorten 48 Kopeek, Plombir und Eskimo in der UdSSR], http://22-91.ru/veschi-i-predmety-sovetskoy-epohi/874/sovetskoe-morozhenoe-ka kimi-byli-48-kopeek-plombir-i-ehskimo-v-sssr; www.mintorgmuseum.ru/vocabular y/ 587/; http://mintorgmuseum.ru/vocabulary/190/
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und die ästhetischen Eigenschaften der Dinge, als Ausdruck der Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern wahr.2 Nach dem Ende der Sowjetunion wurden Konsumbeziehungen weiterhin politisch interpretiert. Dadurch erhielten einige Dinge ganz besondere Bedeutungen. Das trifft besonders auf Lebensmittel zu. Essen verleiben sich die Menschen ein, es kommt ihnen besonders nah und es ist Teil intensiver sozialer Beziehungen. Während einheimische Lebensmittel an Ansehen gewannen, wurden importierte Esswaren teils angeeignet, teils aber auch durch ein Geflecht von Gerüchten und Verleumdungen mit Bedeutungen befrachtet. Beispiele sind die Nationalspeise Eiskrem, die an die Wonnen der Kindheit erinnert, und amerikanische Hühnerbeine. Diese Hilfsgüter wurden als chemieverseuchte Schlachtabfälle des Kapitalismus interpretiert, die der Klassenfeind nun den von ihrem Staat im Stich gelassenen ehemaligen Sowjetbürgern vorwarf. Beide, Eis wie Keulchen, sind Erinnerungsorte und wirkmächtige Symbole, die sich politisch einsetzen lassen.
E is als B otenstoff sowje tischen G lücks 70 Jahre lang versprach die sowjetische Führung den Menschen eine lichte Zukunft. Im Zustand des vollendeten Kommunismus sollten sie sich nach ihrem Vermögen an der Produktion beteiligen und nach ihrem Bedarf von den kollektiv hergestellten Gütern nehmen und konsumieren können. Je harscher die Lebensbedingungen in der frühsozialistischen Realität aussahen, desto wunderbarer wurde die Zukunft ausgemalt. Auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors 1937 und 1938 leuchteten Champagnerflaschen, Lippenstifte und Eiskrem von den Plakaten. Das Speiseeis verdankte seine massenhafte Verbreitung ab 1938 Anastas Mikojans Initiative zur Einführung modernster US-amerikanischer Technologie.3 Es war das süße Ergebnis einer konsumpolitischen Wende: Mitte der 1930er Jahre verkündete Stalin das Ende der Askese und führte ein System von Privilegien und Anreizen ein. So wurden sowjetische Luxusgüter geschaffen, als Vorgeschmack des kommenden Lebens im Überfluss und Symbol dafür, dass die Sowjetunion den Arbeitern zugänglich 2 | Verdery, Katherine: What Was Socialism, and What Comes Next?, Princeton: Princeton University Press 1996, S. 28; Fehérváry, Krisztina: »Goods and states. The political logic of state-socialist material culture«, in: Comparative Studies in Society and History 51.2 (2009), S. 426-459. 3 | Geist, Edward: »Cooking Bolshevik. Anastas Mikoian and the Making of the Book about Delicious and Healthy Food«, in: The Russian Review 71.1 (2012), S. 295-313; S. 299; Gronow, Jukka: Caviar with champagne. Common luxury and the ideals of good life in Stalin’s Russia, Oxford/New York: Berg 2003, S. 115-117.
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machte, was vor der Revolution nur die Aristokratie kannte. Champagner und Kaviar, Konfekt und Parfüm und eben auch Eiskrem: Mit dem »kleinen Luxus für alle« (der keineswegs allen zugänglich war) belohnte der fürsorgende Staat seine »Kinder« für besondere Leistungen oder an Feiertagen und sprach die Emotionen an.4 Eiscafés sollten einen neuen urbanen Lebensstil verbreiten. Sie hoben sich als Orte der Erholung und des Vergnügens von Restaurants und Kantinen ab. Allerdings gab es Mitte der 1930er Jahre Klagen über zu wenige Eisdielen, 1934 soll es in Moskau eine einzige gewesen sein.5 Wie es um 1960 im größten Moskauer Eiscafé zuging, berichtet Paul Thorez: Im zweistöckigen Eispalast an der Gor’kijstraße mit einem breiten Schaufenster, aus dem am Abend ein weißer Bär leuchtet, hat eine Portion Eis 150 Gramm und die Kunden verlangen immer das Doppelte oder Dreifache. Da gibt es Persönlichkeiten, von denen man nie erwartet hätte, dass sie vor einer mit eingemachten Kirschen gespickten und mit Orange und Ananaswürfelchen vermischten Eispyramide sitzen würden. Niemals werde ich die beiden Generäle in Galauniform, die Brust von Orden strotzend vergessen, die sich, an einem Tisch allein, einen Fruchtbecher einverleibten. 6
Schon Mikojan betonte, Eis sei nicht nur für Kinder bestimmt, sondern eine gesunde Nahrung für alle Sowjetbürger.7 Trotzdem war Eis vor allem Teil des sowjetischen Kindheitskultes. Die heile Kinderwelt mit ihren Bildungs- und Freizeitangeboten, Ferienlagern und Spielen war das Versprechen einer besseren Zukunft. Perfekte Orte holten diese mindestens für die Kinder bereits
4 | Osokina, Elena: Za fasadom ›stakinskogo izobiliia‹. Raspredelenie i rynok v snabzhenii maseleniia v gody industrializatsii, 1927-1941. Moskau: Rosspèn 1998; Hessler, Julie: Cultured Trade. The Stalinist turn towards consumerism, in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Stalinism. New Directions, London/New York: Routledge 2000, S. 182-209; J. Gronow: Caviar with champagne; Kelly, Catriona/Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881-1940. Oxford: Oxford University Press 1998; Randall, Amy: The Soviet Dream World of Retail Trade and Consumption in the 1930s, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008; Goscilo, Helena: Luxuriating in Lack. Plentitude and Consuming Happiness in Soviet Paintings and Posters, 1920s–1953, in: Dobrenko, Evgeny/Balina, Marina (Hg.): Petrified Utopia. Happiness Soviet Style, London/New York: Anthem 2009, S. 53-78. 5 | J. Gronow: Caviar with champagne, S. 115. 6 | Thorez, Paul: Moskau, Lausanne: Recontre 1964, S. 83. 7 | Mikoian, Anastas: Piščevaja industrija Sovetskogo Sojuza, Moskau : Piščepromizdat 1941, S. 147, zit.n. E. Geist: Cooking Bolshevik, S. 299.
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in die Gegenwart.8 Ein Beispiel für eine solche Kindheitsheterotopie war das 1957 eröffnete legendäre Kinderwarenhaus Detskij Mir (Welt des Kindes) am Moskauer Lubjanka-Platz.9 In diesem als gigantisches Puppenhaus konzipierten Mikrokosmos der glücklichen Kindheit gab es das beste hausgemachte Eis Moskaus. Die Erinnerung an dieses Eis ist bis heute lebendig. Kinder auf dem Dorf hatten allerdings das Nachsehen.10 Die Eisproduktion war von Kühlanlagen abhängig, deshalb lagen Herstellung und Verkauf meist nahe beieinander. Weil Eis sogleich verzehrt werden musste, wurde es in der Öffentlichkeit und häufig auch in Gesellschaft genossen. Eis essen als kollektive Tätigkeit entsprach den ideologischen Grundsätzen der sowjetischen Gesellschaft somit eher als der amerikanische Schokoladenriegel, der ursprünglich als Arbeitermahlzeit entwickelt wurde: Man kann ihn mitnehmen und für sich alleine essen, deshalb fördert er »asoziale« Essgewohnheiten.11 Eis war ein Botenstoff sowjetischen Glücks und eine Ausnahme in einer überwiegend sperrigen Konsumwelt. Die Dinge des »kleinen Luxus« wurden zum sozialen Besitzstand und überdauerten die Herrschaft Stalins.
V om A ufbruch in den M assenkonsum zur D emütigung durch die D inge Obwohl Chruščev die Rückkehr zu den wahren, asketischen Werten der Revolution verkündete, brachte seine Amtszeit (1954-1964) den Eintritt in das Zeitalter des Massenkonsums für die Sowjetbürger. Damals und auch in den 1970er und 1980er Jahren gab es Kampagnen gegen den Dingkult (veščism), welche die übermäßige Fixierung auf materielle Güter als unsozialistisch brandmarkten.12 Doch der Systemwettstreit wurde nicht nur im Weltall ausge8 | Kelly, Catriona: A Joyful Soviet Childhood. Licensed Happiness for Little Ones, in: Dobrenko, Evgeny/Balina, Marina (Hg.): Petrified Utopia. Happiness Soviet Style, London/New York: Anthem 2009, S. 3-18. 9 | Vgl. Architektura i stroitel’stvo Moskvy (1957) Nr. 2 und 7; Rüthers, Monica: Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume zwischen Utopie, Terror und Alltag, Wien: Böhlau 2007, S. 163; S. 167. 10 | D. Gorovcova: Sovetskoe Moroženoe. 11 | Cross, Gary S./Proctor, Robert N.: Packaged Pleasures. How Technology and Marketing Revolutionized Desire, Chicago: University of Chicago Press 2014, S. 113-114, beschreiben, dass Schokoladenriegel von Beginn an als praktische Zwischenmahlzeiten beworben wurden und anfangs auch größer waren, aber gemeinsame Mahlzeiten untergruben. 12 | Gurova, Ol’ga: Vešči v Sovetskoj kul’ture, in: Dies. et al. (Hg.) Ljudi i vešči v sovetskoj i postsovetskoj kul’ture, Novosibirsk:NGU 2005, S. 6-48; S. 18-21; Oushaki-
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tragen, sondern auch auf Weltausstellungen, in den Medien und an der Ladentheke. An der Amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 stritt Chruščev, berauscht vom Erfolg des Sputnik, mit dem damaligen amerikanischen Vizepräsidenten Richard Nixon angesichts einer amerikanischen Einbauküche darüber, welches System überlegen sei und kündigte an, die junge und dynamische Sowjetunion werde die USA bald überholen.13 Innenpolitisch punktete Chruščev mit Investitionen in die Konsumgüterindustrie und neuen Ladengeschäften wie dem Konsumparadies Detskij Mir. Vor allem aber versprach er den Sowjetbürgern den Auszug aus den Gemeinschaftswohnungen in eigene Wohnungen. Diese wurden mit neu entwickelten Technologien in standardisierter Massenbauweise erstellt. Die Standardisierung von Produktionsverfahren und Gütern war von Beginn an Teil des sowjetischen Modernisierungsprojektes. Das sozialistische Einheitsdesign war Ausdruck sozialer Gleichheit: Alle leben in den gleichen Wohnungen, mit den gleichen Möbeln und bekommen das Gleiche.14 Im Alltag wurden die Standards allerdings eher mit der Monotonie der Plattenbauten und schlechter Qualität der Industriegüter verbunden. Die standardisierten Modelle wurden jahrzehntelang produziert und angesichts von Defiziten und Beschaffungsschwierigkeiten auch nach ihrer Aneignung durch die Konsumentinnen viele Jahre behalten. Hochwertige Dinge hingegen, wie in der Sowjetunion hergestellte, aber für den Export bestimmte Waren, Importe aus der DDR oder gar Westgüter waren nur den Eliten zugänglich.15 Im Spätsozialismus waren höhere Qualität und mehr Auswahl mit mehr Mitbestimmung, Teilhabe und Status assoziiert, aber auch mit dem »Westen« als System und Gegenentwurf.16 Die sperrige sozialistische Konsumerfahrung unterstrich ne, Sergej A.: »›Against the Cult of Things‹. On Soviet Productivism, Storage Economy, and Commodities with No Destination«, in: The Russian Review 73 (2014), S. 198-236; S. 222. 13 | Vgl. Reid, Susan E.: »Who Will Beat Whom? Soviet Popular Reception of the American National Exhibition in Moscow, 1959«, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 9.4 (2008), S. 855-904. 14 | K. Fehérváry: Goods and states. 15 | E. Osokina: Za fasadom ›stakinskogo izobiliia‹. Osokina beschrieb als erste das sowjetische System als Konsumhierarchie, in der Zugang zu Waren über sozialen Status bestimmte. Sie weist aber auch darauf hin, dass die Schere weniger auseinanderging als im Westen. 16 | Patico, Jennifer: »Consuming the West but becoming Third World. Food Imports and the Experience of Russianness«, in: The Anthropology of East Europe Review 1 (2003), S. 31-36; Nadkarni, Maya/Shevchenko, Olga: »The Politics of Nostalgia. A Case for Comparative Analysis of Post-Socialist Practices«, in: Ab Imperio 4.2 (2004), S. 487-519; S. 495.
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den Erfolg derjenigen, die etwas Besonderes ihr Eigen nannten.17 So sprachen denn sowjetische Konsumentinnen in den 1960er bis 80er Jahren davon, was in den Läden »ausgeworfen« wurde. Darin äußerte sich die Wahrnehmung, dass der Staat die Bürger geringschätzte und ihnen Waren »vorwarf«.18 Das staatsbürgerliche Bewusstsein war im Spätsozialismus geprägt von den Eigenschaften der offiziellen Konsumkultur: Von Werbung und Propaganda, den Ladengeschäften mit ihren knappen Vorräten, schlechter Qualität und unfreundlichen Verkäuferinnen, bürokratischen Hindernissen beim Erwerb von Wohnungen, Autos oder Ferienreisen, ganz besonders aber durch die materielle Beschaffenheit der einmal erworbenen Güter.19 Ab 1991 gab es in Russland schlagartig westliche Waren, die wegen hoher Importzölle und dem Zerfall des Rubels sehr teuer waren. Trotzdem wollten alle sie endlich ausprobieren. Mars und Snickers konnte man an den überall sprießenden Kiosken kaufen, Jeans und Videos in den Unterführungen, erschwingliche Importwaren aus China und der Türkei auf riesigen Freiluftbasaren an den Rändern der Städte, Markenartikel in den ersten Supermärkten. Allerdings verbanden russische Kundinnen Auswahl und Qualität nicht in erster Linie mit der geringen Kaufkraft. Mindere Qualität von Billigimporten wurde vielmehr Lieferhierarchien zugeschrieben, nach denen Russland wie ein »Drittweltland« behandelt werde.20 Schon wieder hatten die Kunden das Gefühl, »man« (diesmal die westliche Welt) werfe ihnen Reste hin: Die Demütigung durch die Dinge setzte sich fort.
Z wischen russischer I dee und C amembert Die 1990er Jahre gingen denn auch als Zeit der Krise und Erniedrigung in das kollektive Gedächtnis ein: Der einst starke Staat war schwach und konnte seine Bürger nicht mehr versorgen. Die Währung zerfiel, der Respekt des Auslands war geschwunden. Aus den Bürgern einer gefürchteten Supermacht waren über Nacht Einwohner eines bröckelnden Drittweltlandes geworden. Nachdem 17 | Shevchenko, Ol’ga: »›Between the Holes‹. Emerging Identities and Hybrid Patterns of Consumption in Post-socialist Russia«, in: Europe-Asia Studies 54.6 (2002), S. 841866; S. 854. 18 | Humphrey, Caroline: Creating a culture of disillusionment. Consumption in Moscow, a chronicle of changing times, in: Miller, Daniel (Hg.): Worlds Apart. Modernity through the prism of the local, London/New York: Routledge 1995, S. 43-68; S. 47. – Patico: Consuming the West. – Fehérváry: Goods and states, S. 446. 19 | K. Fehérváry: Goods and states, S. 428, S. 454; K. Verdery: What Was Socialism, S. 27-28. 20 | J. Patico: Consuming the West, S. 34.
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nicht nur der Kommunismus gescheitert war, sondern sich auch die Hoffnung auf einen schnellen Wohlstand für alle im neuen, »kapitalistischen« Russland zerschlagen hatte, stellte sich unter der Bevölkerung eine allgemeine Orientierungslosigkeit ein.21 Die Regierung lancierte Mitte der 1990er Jahre die Suche nach einer »russischen Idee«. Das begünstigte die Hinwendung zu russischen Produkten und zum russischen Geschmack.22 Gerüchte kursierten über abgelaufene Lebensmittel aus dem Westen, die mit neuen Daten überklebt und nach Russland geliefert würden.23 Einheimische Lebensmittel hätten weniger chemische Zusatzstoffe, weil sie mit weniger entwickelter Technologie hergestellt seien.24 Selbst ärztliche Diagnosen lauteten auf »Allergie gegen importierte Lebensmittel«.25 Die Besonderheiten des sowjetischen Warenangebotes erschienen aus dieser Warte plötzlich positiv.26 Sowjetische Marken und ihre Qualitätsstandards eroberten in den Herzen der Menschen den Platz, den zu Sowjetzeiten Westgüter innehatten. Die GOST-Nummern finden sich bis heute auf vielen Lebensmittelpackungen, obwohl die staatliche Prüfstelle mit der Sowjetunion unterging.27 Auf dem »sowjetischen« Eis stehen sie für die Originalrezeptur und suggerieren strenge Qualitätskontrollen. Die Begriffe naš (unsrig) und čistij (rein) wurden in den 1990er Jahren zu den wichtigsten Attributen für Lebensmittel und sind es seither geblieben.28 Gleichzeitig gewöhnten sich die Menschen aber auch an die Vielfalt und Auswahl, die nun nicht mehr 21 | Vgl. Uhlig, Christiane: »Nationale Identitätskonstruktionen für ein postsowjetisches Russland«, in: Osteuropa 47.12 (1997), S. 1191-1206. 22 | Vgl. C. Humphrey: Creating a Culture of Disillusionment, S. 46, S. 53; O. Shevchenko: »Between the Holes«, S. 845. 23 | Vgl. J. Patico: Consuming the West, S. 33. 24 | Vgl. O. Shevchenko: »Between the Holes«, S. 863; Chazan, Guy: »Russians Develop Preference For ›Homegrown‹ Products«, in: The Wall Street Journal Interactive Edition vom 14.01.2001 https://www.wsj.com/articles/SB979497102402952141 (23.11.2017); Raleigh, Donald J.: Russia’s Sputnik Generation. Soviet Baby Boomers Talk About Their Lives, Bloomington: Indiana University Press 2006, S. 85. 25 | J. Patico: Consuming the West, S. 32; C. Humphrey: Creating a culture of disillusionment, S. 55, S. 58. 26 | Vgl. Caldwell, Melissa L.: »The taste of nationalism. Food politics in postsocialist Moscow«, in: Ethnos 67.3 (2002), S. 295-319; K. Verdery: What Was Socialism, S. 28; C. Humphrey: Creating a culture of disillusionment, S. 43. 27 | Zum Kult um die GOST-Nummern vgl. Kravets, Olga/Örge, Örsan: »Iconic Brands. A Socio-Material Story«, in: Journal of Material Culture 15.2 (2010), S. 205-232; Suchova, Svetlana: »GOSTom budete. V Rossii gosudarstvo zaščitit provo každogo s’est‹ nevkusnuju, no bezvrednuju kotletu«, in: Itogi Nr. 14 vom 3.4.2006, www.itogi.ru/archi ve/2006/14/49472.html 28 | M.L. Caldwell: The taste of nationalism, S. 311-312.
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den Eliten vorbehalten blieb: Camembert und Parmesan für alle wurden zum neuen sozialen Besitzstand und suggerierten Weltgewandtheit und kosmopolitischen Lebensstil. Die Konsumgeschichte hat in ihren Beiträgen zu sozialistischen Gesellschaften in der Regel den Mangel in den Blick genommen. In letzter Zeit verschiebt sich der Fokus jedoch vermehrt auf die Dinge und ihre Beschaffenheit.29 Wegen der Langlebigkeit und der politischen Aufladung der Dinge zu Sowjetzeiten spielten Konsumgüter und ihre Bedeutungen auch bei der Bewältigung des Wandels und der Suche nach der russischen Idee eine wesentliche Rolle.30 Manche wurden zu Schlüsselobjekten der materiellen Kultur, in die zeithistorische Zusammenhänge und Bedeutungen als Narrative eingeschlossen sind.
A lmosen vom K l assenfeind – B ush ’s H ühnerbeinchen (nožki buša) Das Fleisch gewordene »Symbol der Erniedrigung des großen Landes«31 sind die nožki buša (Bushs Keulchen), deren soziale Karriere paradigmatisch für die postsowjetische symbolische Lebensmittelpolitik ist. Als im Jahr 1990-1991 die Läden so leer waren »wie im Krieg«,32 wurden die US-amerikanischen Keulchen im Rahmen von Nothilfe-Krediten geliefert. Obwohl sie nicht gratis abgegeben, sondern verkauft wurden, galten sie als Almosen des Systemgegners und besiegelten symbolisch die Niederlage im Kalten Krieg. Trotzdem entwickelten sich die billigen Keulchen im Laufe der 1990er Jahre zum wichtigsten amerikanischen Exportgut nach Russland. 2002 deckten sie 61 Prozent des
29 | S. A. Oushakine: »Against the Cult of Things«; O. Gurova: Vešči v Sovetskoj kul’ture; Grundlegend: Appadurai, Arjun (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press 1986. 30 | O. Shevchenko: »Between the Holes«, S. 863; A. Appadurai: The Social life of things; Kopytoff, Igor: The cultural biography of things. Commoditization as process, in: Appadurai, Arjun (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 64-91. 31 | Švirc, Majkl: Bor’ba Rossii s nožkami buša. Amerikanskij vzgljad na sobytami. Online 812 (2010), www.online812.ru/2010/01/20/002/; Eng. in: Schwirtz, Michael: »Russia Seeks to Cleanse Its Palate of U.S. Chicken«, in: New York Times vom 19.01.2010, www.nytimes.com/2010/01/20/world/europe/20russia.html 32 | Lemon, Alaina: »The emotional life of Moscow things«, in: Russian History 36 (2009), S. 201-218; S. 202.
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russischen Geflügelbedarfs.33 Um 2010 hatten Hühnerbeine einen Anteil von 65 Prozent am amerikanischen Export nach Russland. Daher eigneten sie sich auch für Boykotte. Der erste Importstopp erfolgte im März 2002, unmittelbar nach der Einführung von Strafzöllen auf russischen Stahl durch die USA. Die Zölle betrafen auch Japan und Deutschland. In Russland jedoch wurden sie als ein weiteres Glied einer Kette von Demütigungen angesehen, nach den Disqualifikationen russischer Sportlerinnen bei den Olympischen Winterspielen in Salt Lake City und der Diskussion um die Entsendung amerikanischer Militär-Ausbilder nach Georgien.34 In den russischen Medien war jedoch in erster Linie von Laborproben die Rede, die in den Keulchen Salmonellen und Rückstände von Antibiotika nachgewiesen hatten.35 2008 schloss der damalige Premierminister Putin nach Inspektionen 19 amerikanische Firmen vom Import aus und verkündete, die Maßnahme sei rein wirtschaftlich begründet und habe nichts mit dem Georgienkrieg zu tun.36 Ein weiteres Importverbot drohte 2010, weil die USA die von Russland verlangten Lebensmittel-Standards nicht einhielten. Skandale um Antibiotika und Salmonellen in Hühnerfleisch häuften sich um 2002.37 Allerdings dienten solche Skandale in der russischen Politik als Argument für die Regierung, sich als paternalistischer Staat in sowjetischer Tradition als Beschützer der Bevölkerung zu gebärden. Der Verzehr von nožki buša wurde als Gesundheitsrisiko eingestuft, aber das war noch nicht alles. Es gab ein ganzes Bündel von Motiven, die in den Hühnchen-Diskursen zirkulierten. So hieß es, die Amerikaner würden selber nur das »ökologische, weiße Fleisch der Brust« essen und den »Abfall«, nämlich das dunkle oder »rote« Fleisch der Beine gewinnbringend nach Russland verhökern.38 Entsprechend gab es auch 2010 noch Gerüchte, es handle sich um Restbestände der U.S. Ar33 | Rožkov, Evgenij: »Torgovaja Vojna. Kury protiv stali. Nožki Buša opasty dlja zdorov’ja« [Handelskrieg. Hühner gegen Stahl. Nožki Buša gefährden die Gesundheit], in: Vesti Nedeli vom 10.03.2002, www.vesti7.ru/news?id=616 34 | Tavernise, Sabrina: »Duties on Steel Anger Russia«, in: New York Times vom 07.03.2002, www.nytimes.com/2002/03/07/business/us-duties-on-steel-anger-russia.html 35 | E. Rožkov: Torgovaja Vojna. 36 | Vgl. Fredrix, Emily: »Russia Bans Imports From 19 U.S. Poultry Producers«, in: The Washington Post vom 29.08.2008. https://www.reuters.com/article/us-poultry-rus sia-us/russia-bans-poultry-imports-from-19-u-s-suppliers-idUSLT27221220080829 (23.11.2017) 37 | 2002 wurde in der Schweiz der Import von Hühnerfleisch aus China deswegen verboten. 38 | Vgl. E. Rožkov: Torgovaja Vojna. Ähnlich fasst die Geschichte auch das politisch alles andere als korrekte russische Wiki-Portal lurkmore zusammen: http://lurkmore.to
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my.39 2002 verbreiteten Presse, Fernsehen und Internetseiten Informationen des Gesundheitsministers über erhöhten Fettgehalt, Hormone und Antibiotika. Ein Vertreter von Jabloko sagte, die Keulchen seien »gefährlicher als Atommüll«, und Radio Rossii behauptete, sie gefährdeten die Potenz.40 Außerdem schwächten sie das Immunsystem und lösten schwere allergische Reaktionen aus, vor allem bei Kindern.41 Eine Autorin wies allerdings darauf hin, dass mehr als 60 Prozent der Russen die Keulchen konsumierten, weil sie auch für Einkommensschwache erschwinglich seien.42 Die russische Produktion konnte den Bedarf nicht decken, und russische Keulchen kosteten 10 bis 15 Prozent mehr als die amerikanischen.43 Die Hühnerkeulchen sind ein Beispiel dafür, dass Putin auch vor dem Embargo von 2014 geschickt die sowjetische Institution besonderer »Standards« für seine Politik nutzte. Die gesundheitsschädigenden oder hygienischen Probleme wurden jeweils im engen zeitlichen Zusammenhang mit verschiedenen außenpolitischen Konflikten in den Medien diskutiert. Gefahr drohte in Form von Bakterien, Salmonellen, Hormonen und »Chemie«. Die Berichterstattung betonte zugleich die Qualität der eigenen Produktion und der strengen staatlichen Kontrollen, also den Schutz des Volkskörpers. Im Zusammenhang mit den Importbeschränkungen von 2008 sagte Putin ausdrücklich, man sei nun nicht mehr auf die nožki buša angewiesen. Damit spielte er auf den verletzten Nationalstolz der Supermacht an und propagierte das neue Selbstbewusstsein. Die Tatsache, dass der Präsident des Verbandes der Hühnerfleischproduzenten, Vladimir Fisinin, im Mai 2015 nochmals in der Zeitung Argumenty i Fakty mit der Überschrift »Wir brauchen Bushs Keulchen nicht mehr« Entwarnung gab, lässt solche Statements eher als Beschwörungsformeln erscheinen.44 Die rituelle Wiederholung zeigt, dass die Keulchen im russischen Alltagswissen immer noch eine Schlüsselfunktion haben: Ihnen ist die Geschichte des Verlustes des Großmachtstatus als kollektive Kränkung eingeschrieben.
/%D0%9A%D1%83%D1%80%D0%B8%D1%86%D0%B0#.D0.9D.D0.BE.D0.B6.D0.BA. D0.B8_.D0.91.D1.83.D1.88.D0.B0 39 | Vgl. M. Schwirtz: Russia Seeks to Cleanse. 40 | Vgl. Evstigneeva, Elena: »Psichiceskaja ataka na »nožki Buša«, in: Vedomosti vom 12.03.2002, www.vedomosti.ru/newspaper/articles/2002/03/12/psihicheskaya-ata ka-na-nozhki-busha 41 | Vgl. E. Rožkov: Torgovaja Vojna. 42 | Vgl. E. Evstigneeva: Psichiceskaja ataka. 43 | Vgl. E. Evstigneeva: Psichiceskaja ataka; E. Rožkov: Torgovaja Vojna. 44 | Fisinin, Vladimir: »Nožki Buša bol’še ne nužny«, in: Argumenty i Fakty 21 vom 20.05.2015, www.aif.ru/money/opinion/nozhki_busha_bolshe_ne_nuzhny
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Abb. 1: »Yankee go home!« herrscht der zum Skelett abgemagerte russische Doppeladler mit den Kochmützen und der altmodischen Krücke das fette Hühnchen an.
Während die Hühnerbeine ein Beispiel für die Abgrenzung und Überwindung einer fremden, »hässlichen« und ungeliebten Speise sind, repräsentiert die Eiskrem das Gegenstück zu fremden Versuchungen.
E is gegen S nickers : C omfort food Bezeichnenderweise nannte man die erste Phase des Eindringens westlicher Produkte, die zunächst an Kiosken vertrieben wurden, Snikerizacija (Snickerisierung). Bereits dieser Begriff verweist auf eine Wahrnehmung als Kolonisierung hin.45 Neue Sinneseindrücke prägten den Alltag, bunte Buchumschläge,46 Zeitschriften, Werbung, Mode und verpackte Lebensmittel.47 Deutlich zeichnet sich aber ab, dass es sich nicht um einen linearen Prozess handelte, 45 | Morris, Jeremy: Drinking to the Nation. Russian Television Advertising and Cultural Differentiation. In: Europe-Asia Studies 59 (2007) 8, S. 1387-1403; S. 1392. 46 | Dieses Beispiel findet sich in Condee, Nancy/Padunov, Vladimir: The ABC of Russian Consumer Culture. Readings, Ratings, and Real Estate, in: Condee, Nancy (Hg.): Soviet hieroglyphics. Visual culture in late twentieth-century Russia, London: BFI 1995, S. 130-172; S. 158. 47 | Vgl. Farquhar, Judith: Appetites. Food and Sex in Postsocialist China, Durham: Duke University Press 2002; Chatwin, Mary E.: Socio-Cultural Transformation and Foodways in the Republic of Georgia, Commack, NY: Nova Science 1997; Dunn, Elizabeth C.:
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sondern um ein komplexes Neben- und Miteinander »alter« und »neuer« sensorieller Systeme.48 Der Aufschwung des sowjetischen Milchspeiseeises ist im Zusammenhang dieser Aushandlungsprozesse zu sehen. In der Konkurrenz zu Schokoladenriegeln wie Snickers hat das Eis gute Chancen, denn es vereint mehrere positive Bedeutungen auf sich: Die lange Tradition, den Charakter als russische Nationalspeise und die Eigenschaften eines typischen Wohlfühl- oder Trostessens (comfort food).49 Erhöhter Stress durch Faktoren, die außerhalb der eigenen Kontrollmöglichkeiten liegen, stärkt das Verlangen nach vertrauten comfort foods. Solche Speisen sollen Trost spenden und beruhigen oder einfach dazu dienen, sich selbst etwas Gutes tun, sich zu belohnen. Wohlfühlspeisen sind häufig nostalgische Lebensmittel, die bestimmte vergangene Momente wie glückliche Kindheitserinnerungen evozieren. Ferner handelt es sich meist um genussorientierte Lebensmittel (indulgence foods) mit einem hohen Anteil an Zucker, Salz und Fett. Solche Kalorienbomben lösen beim Verzehr Glücksgefühle aus. Drittens überwiegen Fertigprodukte (convenience foods), weil sie sofort verfügbar sind. Die vierte typische Eigenschaft betrifft die Konsistenz. Physical comfort foods sind Lebensmittel, die ohne besondere Anstrengung genossen werden können, weil sie breiförmig und häufig auch warm sind. Dazu gehören Pudding, Suppe, aber eben auch Eis.50 Eis kann individuell wie kulturell als Kinderbelohnung nostalgische Erinnerungen wecken, es ist süß und genussorientiert, es ist gebrauchsfertig und hat eine weiche, breiige Konsistenz. Die Kälte, die »Postsocialist spores. Disease, bodies, and the state in the Republic of Georgia«, in: American Ethnologist 35.2 (2008), S. 243-258. 48 | Vgl. Lankauskas, Gediminas: »Souvenirs sensoriels du socialisme«, in: Anthropologie et Sociétés 30.3 (2006), S. 45-69; S. 63. 49 | Vgl. Locher, Julie et al.: »Comfort Foods. An Exploratory Journey into the Social and Emotional Significance of Food«, in: Food and Foodways: Explorations in the History and Culture of Human Nourishment 13.4 (2005), S. 273-297. Zu den Marken: Sperling, Walter: »›Erinnerungsorte‹ in Werbung und Marketing. Ein Spiegelbild der Erinnerungskultur in gegenwärtigen Russland?«, in: Osteuropa 51.11/12 (2001), S. 1321-1341; Morris, Jeremy: »The Empire Strikes Back. Projections of National Identity in Contemporary Russian Advertising«, in: The Russian Review 64.4 (2005), S. 642-660; Roberts, Graham H.: It’s (im)material. Packaging, Social Media and Iconic Brands in the New Russia. The Occasional Paper Series (2013), www.materialworldblog.com/2013/09/ its-immaterial-packaging-social-media-and-iconic-brands-in-the-new-russia; O. Kravets/Ö. Örge: »Iconic Brands«. 50 | Alkohol und Zigaretten, die ebenfalls zu den beliebtesten sowjetischen Nostalgiemarken zählen, können die comfort foods der Kindheit ersetzen, werden hier aber aus Platzgründen nicht diskutiert, ebenso wenig wie der offensichtliche geschlechtsspezifische Aspekt.
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es beim Genuss zu überwinden gilt, ist ebenfalls Teil der russischen nationalen Selbstverständnisse,51 und macht das Eis umso mehr zur »angeeigneten« Nationalspeise. Nostalgische Speisen wie das Eis stellen eine Kontinuität her zwischen dem erinnerten Moment und dem jetzigen, gefährdeten Selbst. Gerade weil solche Lebensmittel apokryphe, also nicht bewusste und bereits in Erzählungen kanonisierte Erinnerungen wachrufen, reichen sie in tiefere emotionale Schichten.52 Auffällig ist der regressive Aspekt, denn Brei, Pudding und das früher nur zu besonderen Gelegenheiten genossene Eis stellen als typische Kindernahrung einen Bezug zur Kindheit (Brei, Schlecken) und zum versorgt werden her. Denn comfort foods sind häufig mit der Erinnerung an liebende Fürsorge verbunden. Im postsowjetischen Kontext erinnern sie also auch an einen allmächtigen, fürsorgenden Staat und die garantierte »glückliche sozialistische Kindheit«. Emotional besonders besetzt sind spezielle Marken, die man sich nur zu besonderen Anlässen gönnt.53 Dabei kann der Verzehr einer kulturell als süße Belohnung etablierten Speise wie Eis durch die mit anderen geteilte Erfahrung eine nicht selbst erlebte glückliche Kindheit konstruieren. Arjun Appadurai nannte dieses Phänomen der Sehnsucht nach einer nicht selbst erlebten Vergangenheit, das sich die Werbung zu Nutzen macht, armchair nostalgia.54 Die sowjetische Propaganda stellte immer wieder den Zusammenhang zwischen der intensiv beworbenen »glücklichen Kindheit« und der Eiskrem her. Eiskrem war aber nicht überall erhältlich. Deshalb kann der Konsum der begehrten »Nationalspeise« tatsächlich an den besonderen Moment erinnern, aber auch kompensatorisch wirken und so rückwirkend Ausgleich schaffen.
51 | Zur gemeinschaftsstiftenden Bedeutung der Kälte vgl. Herzberg, Julia: Kältejagd. Entdeckung, Verschiebung und Verlust des Kältepols in Jakutien. In: Die Geschichte der sowjetischen Arktis. Repräsentationen und Aneignungen. Hg. von Alexander Ananyev/ Klaus Gestwa. (im Druck). 52 | Vgl. J. Locher et al.: Comfort Foods, S. 280, S. 281. 53 | Vgl. J. Locher et al.: Comfort Foods, S. 284; zu den Marken vgl. J. Morris: The Empire Strikes Back; W. Sperling: »Erinnerungsorte«; O. Kravets/Ö. Örge: Iconic Brands. 54 | Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 78. Er schreibt über Patina und Nostalgie als kulturelles Kapital, das der Distinktion dient. Nostalgie (armchair nostalgia) kann auch eine Attitüde sein, die gepflegte Sehnsucht nach etwas, das man selbst gar nicht kannte (hier S. 76). Zur Funktion von Tradition, Nostalgie und »Authentizität« in Marketingstrategien vgl. Outka, Elizabeth: Consuming Traditions. Modernity, Modernism and the Commodified Authentic, Oxford: Oxford University Press 2009.
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E is essen im R e tro -M odus Sowjetisches Eis wurde auf der Straße meist im Waffelbecher aus offenen Kartons verkauft. Die postsowjetischen Hygienevorschriften führten zu Einzelverpackungen, die wiederum mit visuellen Reizen arbeiten. Gab es 2008 erst wenige Sorten Retro-Eiskrem,55 boomte die Eiskrem-Nostalgie 2014, zeitgleich mit dem russischen Importembargo für westliche Lebensmittel, so dass ein Anspruch auf Vollständigkeit bei deren Erfassung bereits schwer zu erfüllen wäre. »Nostalgische« Verpackungen gibt es seit Beginn der Verpackungsindustrie gerade im Lebensmittelbereich. Sie preisen beispielsweise Gebäck »aus Großmutters Küche« oder »Uncle Ben’s« Reis an und bedienen die Sehnsucht nach dem »Authentischen«. Gerade die Aura des nicht kommerziellen, welche eine nostalgische Verpackung kreiert, macht die Waren begehrenswert. Dass die Waren zugleich authentisch und kommerziell jederzeit verfügbar sind, macht sie hybrid: modern und »alt«, vertraut, herkömmlich zugleich.56 Das Besondere an der russischen Eiskrem-Nostalgie ist die Ausdifferenzierung in unterschiedliche »sowjetische« Retro-Stile. Diese referieren über die Namensgebung und ihre visuelle und haptische Aufmachung jeweils nicht nur auf eine bestimmte historische Epoche, sondern durch ihre Gestaltung, ihren Stil, auch auf eine postsowjetische Haltung des jeweiligen Zielpublikums zu dieser »Geschichte«. Die Eisverpackungen sind nicht einfach »Bilder«, sondern kulturelle Texte, denen die sozialen, politischen und ästhetischen Kontexte, aus denen sie entstanden sind, eingeschrieben sind.57 Sie können als performative Displays russischer Geschichtsvorstellungen gelesen werden. Diese Bilder, die Diskurse von Russischer Eigenheit und Überlegenheit transportieren, sind in Form der Waren-Verpackungen, aber auch durch TV-Spots zu besten Sendezeiten im russischen Alltag sehr präsent und gestalten diese Diskurse mit.58 In der russischen Werbung hatte die kulturelle Abgrenzung seit Ende der 1990er 55 | Makarenko, Kseniya/Borgerson, Janet: Ice Cream and ›CCCP‹. Evoking Nostalgia in Post-Soviet Packaging. Occasional Paper Series 4. Properties & Social Imagination: Explorations & Experiments with Ethnography Collections (2009), www.materialworldblog.com/2009/05/ice-cream-and-cccp-evoking-nostalgia-in-post-soviet-packaging, hier sind erwähnt: SSSR von Russkij Cholod, 48 Kopeek von Nestlé und Gold standard von Unilever-Inmarko. 56 | Vgl. E. Outka, Consuming Traditions, S. 4. 57 | Vgl. Schroeder, Jonathan E.: Visual consumption, London/New York: Routledge 2002, S. 62. 58 | Die binären Oppositionen, die Pilkington 2002 in einer Studie mit russischen Jugendlichen erhoben hat und die sich sehr gut in der Werbung umsetzen lassen, sind: Kollektiv vs. Individuum, Wärme vs. Kälte, Ehrlichkeit vs. Falschheit, Gefühl und Spiri-
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Jahre große Bedeutung. Damals lancierte die Jelzin-Administration die Suche nach der »Russischen Idee« – diese manifestierte sich in der Folge unter anderem in der Werbung für Bier, die sich spezifisch an Männer richtete.59 In der Putin-Zeit wurde die Verbindung von Bier und nationaler Größe besonders explizit.60 Der Anthropologe Serguei Oushakine hat einen etwas anderen Ansatz: Er weist auf die Anleihe bei sowjetischen Vorlagen hin. Das kulturelle Repertoire der Sowjetzeit werde in neue Kontexte versetzt und angeeignet. Durch das Herauslösen aus den alten Kontexten verlören Bilder, Filme und Lieder einen Teil ihrer Bedeutung. Die nostalgischen Reproduktionen seien ahistorisch und stellten einen Versuch dar, die Sowjetzeit »abzuschließen«, um sie der Gegenwart einverleiben zu können. Die Bilder wurden konsumierbar und ließen sich einordnen in eine Abfolge generationeller Stereotypen. In Analogie zur Aphasie, so die Hauptthese, vermittelten die Reproduktionen keine spezifische Botschaft, sondern dienten allein dem Zweck des Wiedererkennens und geteilter Erfahrungen. Sie verwiesen auf ein gemeinsames symbolisches Vokabular. 61
W ir danken D ir , G enosse S talin , für unsere glückliche sozialistische K indheit Ein Typ von Eisverpackungen bezieht sich auf die 1930er Jahre, die mit Stalin verbunden sind. Dieser wird in der postsowjetischen Populärkultur selektiv als Landesvater und siegreicher Feldherr des Zweiten Weltkrieges erinnert. Die Retro-Linie des Eisherstellers Udmurtskij von Anfang 2014 zeigt ein Mädchen in der Schuluniform der Stalinzeit, einen Jungen mit Reifen und einen Jungen auf einem altertümlichen Fahrrad sowie eine Eisverkäuferin mit einem typischen sowjetischen Wägelchen. Visuell lässt sich diese Serie den 1930er oder den frühen 1950er Jahren zuordnen. Von der Auswahl des Zeitfensters her nehmen diese Motive Bezug auf den Beginn der sowjetischen Eiskrem-Produktion in den 1930er Jahren. Der Illustrationsstil erinnert an die damalige Plakatwerbung in seiner Anlehnung an den Sozialistischen Realismus. Die 30er Jahre waren unter anderem geprägt von einem stalinistischen Kindheitskult, der zur Errichtung von heterotopischen heilen Kinderwelten führte und dem Verspre-
tualität vs. Rationalität und Leere. Pilkington, Hilary: Looking West? Cultural Globalization and Russian Youth Cultures. University Park, PA 2002, S. 208. 59 | Morris: Drinking to the Nation; Sperling: »Erinnerungsorte«. 60 | Morris: Drinking to the Nation, 1395; Roberts, it’s immaterial. 61 | Oushakine, Serguei Alex.: »We’re Nostalgic but We’re Not Crazy«: Retrofitting the past in Russia. In: Russian Review 66 (2007) 3, S. 451-482.
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chen einer lichten Zukunft diente.62 Damit verbunden war ein bestimmter Illustrationsstil, die sozrealistische Optik einer heilen Welt. Auch darauf bezieht sich die Illustration auf der Verpackung. Die Agentur Getbrand informierte auf einem Werbeblog zu Udmurtskij über ihre Absicht, die Kunden durch die Wahl natürlicher Farben, handschriftlich anmutender Typografie und eines realistischen Illustrationsstiles an ihre eigene Kindheit und »die glücklichen Momente zu erinnern, wenn sie das beste Eis der Welt probierten. Diesen Moment sollten sie heute mit ihren Kindern und Enkeln teilen können.«63
A ufbruchstimmung und P urismus Ein weiterer Verpackungstyp bezieht sich auf die 1960er Jahre. Eis gilt als Symbol für Freizeit und Vergnügen, aber auch für die von den Erwachsenen noch kollektiv als glücklich erinnerte Kindheit in einer Zeit, in der der Lebensstandard spürbar stieg. Die 1960er Jahre waren die Zeit des Tauwetters und der optimistischen Auf bruchsstimmung, der Erfolge in der Raumfahrt und des bescheidenen Wohlstands. Es war eine Zeit, in der sich glückliche Kindheit und internationaler Großmachtstatus verbanden und die Teil der autobiografischen Erinnerung breiter Bevölkerungsteile ist. Abb. 2 zeigt die gelbe Packung des Filevskij Plombir von Ajsberry (iceberry.ru) im Stil der 1960er Jahre; Abb. 3 zeigt das Eskimo Plombir »28 Kopeken« der Firma Morozprodukt in Mar’ina Gorka in Belarus. (Fotos: Pavel Glagolev)
62 | Vgl. C. Kelly: A Joyful Soviet Childhood. 63 | http://eegd.co/sozdanie-brenda-v-retro-stile/
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Auf diese Jahre verweisen »puristische« Retro-Packungen, die sich an die tatsächlichen Familienpackungen der 1960er Jahre anlehnen. Besonders authentisch wirken die einfachen, geometrisch bedruckten Familienpackungen aus Karton von Ajsberry 2011.64 Waffeln und Eis am Stiel werden, da zu Sowjetzeiten Einzelportionen rudimentär oder überhaupt nicht verpackt waren, möglichst reduziert, in rauem Papier mit einem Abbild des Inhaltes, in Alufolie oder durchsichtig verpackt. Eine Retro-Linie des Moskauer Milchwarenkombinats nennt sich Čistaja Linija (reine Linie), betont wird die Verwendung weniger, natürlicher Zutaten.65 Die Packungen dieses Typs verfolgen eine Doppelstrategie: Das Eis ist nicht nur besonders rein und gesund und bedient damit allgemeine Konsumtrends, die ökologisch und biologisch verträgliche Lebensmittel fordern. Dieses Eis symbolisiert in seiner Schlichtheit die einfachen Gewissheiten des sozialistischen Alltags und aktiviert das autobiografische Erinnern. Linien mit diesem Bezug werden auch in Belarus und in der Ukraine produziert.
S piele mit den S ymbolen der M acht Ein dritter Typ Retro-Eis ist charakteristisch für die 1990er Jahre, als das ironische Spiel mit den Symbolen der Sowjetmacht Konjunktur hatte. In dieser Tradition stehen verschiedene Produkte mit der Bezeichnung SSSR. Die Verwendung sowjetischer Embleme auf Hochglanz-Eiskrem-Packungen bedeutete doppelte Gegenüberstellungen: Die Entwertung alter Machtsymbole als Kitsch in der Tradition der SocArt 66 und die Gegenüberstellung der neuen und der alten Konsumwelten. Die SocArt entstand in den 1970er Jahren als Vorläuferin des Moskauer Konzeptualismus und nahm absurde Phänomene des realsozialistischen Alltags aufs Korn.67 Die Künstler deuteten die offiziellen Bilder und Floskeln um und legten ihre mangelnden Sinnstrukturen bloß. Das Künstler-
64 | Kompanija »Ajsberri« zapustila »retro« liniju moroženogo vom 01.12.2011, http:// news.unipack.ru/37669/ 65 | www.pure-line.ru/morozhenoe.html 66 | Vgl. Sabonis-Chafee, Theresa: Communism as Kitsch. Soviet Symbols in Post-Soviet Society, in: Barker, Adele Marie (Hg.): Consuming Russia. Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev, Durham: Duke University Press 1999, S. 362-382. 67 | Vgl. Chomogorova, Olga Vladimirovna.: Soc-Art, Moskau: Galart 1994. In der Konzeptkunst zählt die Idee, nicht die Ausführung eines Kunstwerkes, es wird »entmaterialisiert«. Gewohnte Sichtweisen und Begriffe werden hinterfragt und neue erfunden. Dabei wird der Betrachter mit einbezogen. Konzeptkunst arbeitet mit Kontexten, Bedeutungen und Assoziationen.
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duo Komar&Melamid68 prägte den Begriff SocArt im Jahre 1972. Ausgangspunkt ihrer Arbeiten war der offizielle Bilder- und Formenkanon. Die ästhetische Methode bestand darin, die immer gleichen und daher allen vertrauten Themen und Motive in andere Zusammenhänge zu versetzen, etwa die eigenen Portraits an die Stelle der Profile von Lenin und Stalin zu malen oder offizielle Losungen als die eigenen auszugeben. Der Effekt war überraschend und komisch, vor allem aber entlarvend.69 Mit dem Ende der Sowjetunion wurde diese Kunstrichtung auf einen Schlag »historisch«. Doch die kreativen Geister beschäftigten sich bald mit den Ikonen des »Kapitalismus« und spielten mit den Kontrasten zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Schon während der Perestrojka-Zeit gab es T-Shirts, die Lenin-Portraits mit dem Coca-Cola-Emblem oder McDonald’s kombinierten.70 In den 1990er Jahren landeten nun westliche und »sozialistische« Konsumgüter nebeneinander in den Verkaufsregalen. Die postsowjetische Werbekommunikation beruhte auf den sowjetischen Sehgewohnheiten, dem Lesen zwischen den Zeilen, der Äsopischen Sprache und der Gemeinschaft stiftenden Funktion bestimmter sprachlicher Codes.71 Auch die Praktiken des kreativen Umgangs mit offiziellen Losungen und Bildern, die die SocArt entwickelt hatte, wirkten fort. Gegen Ende der 1990er Jahre blühte in Russland das Genre der antireklama72 und der Online-Bildwitze auf.73 Das sowjetische Staatswappen mit Hammer und Sichel auf der Eiswaffel, die patriotisch-heroische Symbolik auf rotem Grund reflektiert die Verwandlung der soeben noch mächtigen Symbole zu Kitsch. Dieser Stil kombiniert frei popkulturelle Versatzstücke spätsowjetischer Bildwelten wie Staatsymbo-
68 | Die Grafiker Vitalij Komar (geb. 1943) und Aleksandr Melamid (geb. 1945) wurden 1973 aus dem sowjetischen Künstlerverband ausgeschlossen. 1974 wurden einige ihrer Werke an einer informellen Freilicht-Ausstellung in Moskau von Bulldozern zerstört, darunter das Doppelportrait. Die Künstler emigrierten 1977 erst nach Israel, dann nach New York. 69 | Vgl. zu SocArt: Prigow, Dmitri: Die Ethik der SozArt, in: Choroschilow, Pawel et al. (Hg.): Berlin-Moskau, Moskau-Berlin 1950-2000, Berlin: Nicolausche Verlagsbuchhandlung 2003, S. 165-166; S. 27, S. 31. 70 | Vgl. N. Condee/V. Padunov: The ABC of Russian Consumer Culture, S. 132. 71 | Vgl. Boym, Svetlana: Common Places. Mythologies of Everyday Life in Russia, Cambridge: Harvard University Press 1994, S. 271. 72 | Antireklama ist die subversive Umformulierung eines »offiziellen« Werbebildes, eine Form der Satire, die ein ironisches Spiel mit geläufigen Bildtraditionen treibt. Antireklama gibt es auch in anderen Ländern und Formen unter dem Stichwort »Kommunikationsguerilla«, etwa die kanadischen adbusters oder die französischen brigades anti-pub. 73 | Zu SocArt und Antireklama vgl. Rüthers, Monica: »Der Marlboro man im Kreml. SocArt, Antireklame und kollektives Gedächtnis«, in: Osteuropa 58.3 (2008), S. 3-15.
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lik, Gütesiegel, Schriftzüge, Kosmos-Folklore und Che Guevara.74 Diese Packungen können patriotisch-heroisch oder aber ironisch gedeutet werden. Abb. 4: Fabrika Moroženogo, Vladivostok (Vladicecream.ru). Die Verpackung kombiniert das sowjetische Staatswappen mit Che Guevara (Foto zur Verf. gest. von Julja Kurz, Fabrika Moroženogo, Vladivostok); Abb. 5: »CCCP-Eis« von Russkij Cholod nahe Moskau (rusholod.ru). Die Verpackung spielt in Typographie und Symbolik auf die sowjetische Kosmosbegeisterung an. (Foto zur Verfügung gestellt von Vladimir Silkin, Russkij Cholod)
S owje tisches P in U p Ein weiterer Typ des Retro-Stils in der Produktwerbung entstand in den 2000er Jahren und wird als sovietskij Pin Up bezeichnet. In diesem Stil sind die Verpackungen der Eislinie Gostorg der Firma Kalinov Most in Dzeržinsk gestaltet. Der Name Gostorg ist das Akronym der sowjetischen Handelsorganisation. Illustrationsstil und Jahreszahl verweisen auf die 1950er bis 1970er Jahre. Abb. 6: Die Packungen der Retro-Linie Gostorg folgen den Jahreszeiten. Der Sommer zeigt im Hintergrund einen arkadischen Küstenstrich am Schwarzen Meer, der Winter Eisläufer. Die Eisverkäuferin hat das sowjetische Kostüm an, wirkt aber unsowjetisch freundlich, sogar aufgekratzt und strahlt nahezu unverschämt aus dem Bild. Auch der Ausschnitt ist unsowjetisch großzügig. Fotos: Zur Verfügung gestellt von Oleg Michajlovič Gnusar’kov, Fa. Kalinov Most, Dzeržinsk.
74 | K. Makarenko/J. Borgerson: Ice Cream and ›CCCP‹.
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Die Packungen zeigen eine dralle Eisverkäuferin. Die Presseinformation der Marketing-Agentur Dream Catchers, die für die Gestaltung verantwortlich zeichnet, verweist explizit auf den Illustrationsstil des sovetskij pin up.75 Der Stil des sovetskij pin up ist mit dem Namen des Illustrators Valerij Barykin verbunden, der seit Mitte der 2000er Jahre Alltagssituationen im Bus, im Kurort, im Café, in der Eisenbahn entwirft, in denen sowjetische Schaffnerinnen oder Verkäuferinnen in der Manier amerikanischer pin up girls dargestellt sind. Das Genre des Pin up war Teil der glamourösen amerikanischen GI-Kultur und verströmte die Aura von Weltläufigkeit, Überlegenheit und Siegesgewissheit. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich um die ironische Aneignung und Zusammenführung der Illustrationsstile der Systemgegner im »Kalten Krieg«, von Rita Hayworth und Betty Grable mit sowjetischen Proletariern im Stil des sozialistischen Realismus, wie er auf Plakaten der sowjetischen sozialen Propaganda zu finden war. Die Situationen sind deutlich als sowjetisch markiert durch den Bezug auf Propagandakampagnen und Losungen, durch die materielle Umgebung und die Gestaltung und Kleidung der Figuren, aber auch durch einen zwar in Pin Up Manier von Glamour überzogenen, doch zugleich noch erkennbar sozrealistischen Stil. Der komische Effekt entsteht dadurch, dass die Schaffnerinnen und Bedienungen jeweils ganz unsowjetisch sexy auftreten, mit kurzen Röcken, tiefen Ausschnitten, kokettem Blick und aufreizender Körperhaltung. Unvergessen und längst Teil der (post-)sowjetischen urbanen Folklore ist die Anekdote aus einer spätsowjetischen Fernseh-Schaltung in die USA, der Leningrad-Boston-telemost/space bridge vom 17.7.1986, an der die Teilnehmerin Ljudmila Ivanova sagte: »In der Sowjetunion gibt es keinen Sex (im Fernsehen)«. Der letzte Teil des Satzes ging allerdings im Gelächter unter, so dass sich das Bonmot verselbständigte und alsbald Teil der sowjetischen Klischees wurde.76 2012 engagierte die Agentur Dream catchers Barykin, um für die Biermarke Baltika die neue »Sammler«-Linie Zhiguli barnoe kollekcionnoe mit Motiven des sovetskij pin up zu gestalten. Die Dame auf der Eispackung ist allerdings weniger explizit sexualisiert, da die Zielgruppe vor allem Kinder sind.
75 | Moroženoe GOSTORG v upakovke ot Dream Catchers [Das Eis GOSTORG in der Packung von Dream Catchers], www.dairynews.ru/news/morozhenoe-gostorg-v-upakov ke-ot-dream-catchers.html?PAGEN_2=15 vom 21.02.2014. 76 | Vgl. http://russiapedia.rt.com/on-this-day/july-17/
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Abb. 7: www.advertology.ru/article108868.htm und www.advertology.ru/ article103331.htm
Abb. 8: »Pin up« Pel’meni (Teigtaschen) der Firma Zadotoff. Fotos: Marianna Zhevakina, 2015
Es ist kein Zufall, dass sovetskij pin up als Stil in den frühen 2000er Jahren entstand. Dies war die Zeit der ersten Präsidentschaft Putins, der die Nähe zu Pop-Idolen suchte, Unterhaltungskultur und »Glamour« förderte. Die russländische Glamour-Kultur nahm unter Präsident Wladimir Putin Gestalt an und ist seit 2006 eines der beliebtesten Themen in den Medien des Landes. Die Faszination für Glamour war so groß, dass viele Kommentatoren von einer neuen Ideologie spra-
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Die Glamour-Kultur begleitete die Stabilisierung durch Putins Wirtschaftspolitik: Rohstoffexporte spülten Geld in die Staatskassen, und in Russland entstand neben reichen Unternehmern auch eine wachsende Mittelschicht. Am neuen Glamour sollten alle teilhaben! Das galt allerdings nur für die urbanen Zentren, das Dorf und die Peripherie blieben bitterarm. Die Glamour-Ideologie wurde zur auffälligsten und verlockendsten Neuerung in Putins Russland. Glamour (russ. glamúr) beschrieb eine Kultur, die sich um Hochglanzjournale, Prominenten-Magazine, Haute Couture, die Schönheitsindustrie und den Luxusgüterkonsum gruppierte. Eine zentrale Rolle bei der Darstellung verführerischer Visionen des neuen Lebens spielten die Medien, die den Lebensstil der neuen Reichen exzessiv zur Schau stellten. Die »Sehnsucht nach Wohlstand und einem individuellen Lebensstil im Hier und Jetzt […] ist ebenso wie die post-traumatische Nostalgie für die große imperiale russische Vergangenheit nach den chaotischen 1990er Jahren aufgekommen. Glamour ist zur offiziellen Ideologie nach dem Prinzip »Brot und Spiele« geworden, nicht nur zu einer Taktik. Sie wird von der politischen Elite im Kampf um gute Posten benutzt, insbesondere von der Putin-Administration.« 78 Inzwischen ist die Glamour-Kultur abgeklungen. Doch die Zurschaustellung von Sex, Geld und Macht war Mitte der 2000er Jahre in Russland dominierender Teil der medial vermittelten Populärkultur und passt stilistisch zum sovetskij pin up: pimp my Soviet past! Die »goldenen« 1970er Jahre mit ihrem bescheidenen Wohlstand, auf welche die Jahreszahl 1973 neben der eher zeitlosen Eis-Dame auf der Gostorg-Packung anspielt, eignen sich gut dafür.
M ärchenmotive Märchenmotive waren bereits zu Sowjetzeiten für Verpackungen von Konfekt und Eis beliebt. Folklore spielte im Zusammenhang mit der komplexen sowjetischen Nationalitätenpolitik eine ambivalente Rolle. Die Nationalitäten des Vielvölkerreiches wurden zunächst gefördert und sollten Anteil an der sowjetischen Modernisierung haben. Später jedoch ging es darum, separatistische
77 | Rudova, Larissa: »Russland – im Glamour vereint«, in: kultura. Russland-Kulturanalysen 6 (2008), S. 2-3; S. 2. 78 | Menzel, Birgit: »Der Glamour-Diskurs in Russland«, in: kultura. Russland-Kulturanalysen 6 (2008), S. 16-21; S. 16.
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Gelüste im Keim zu ersticken.79 Die nationalen Sprachen wurden zugunsten des Russischen zurückgestuft, die Bildungsinhalte waren sowjetisch. Trotzdem wurde Wert gelegt auf die gerechte Behandlung aller Völker der Sowjetunion. Darunter verstanden die Kulturpolitiker vor allem die Förderung des nationalen Kulturgutes. Literaten und Künstler beispielsweise aus Usbekistan wurden angehalten, »Nationalkunst« zu produzieren. Die Folklorisierung der Nationalitäten drückte sich in Märchensammlungen und der Produktion regionaler Souvenirs aus: Russische Chochloma (mit Bauernmalerei verziertes Holzgeschirr), usbekische Töpferwaren und Stoffe, karelische Schnitzereien. Die in Scherenschnitt-Manier gestalteten Illustrationen auf den Verpackungen von belorusskie skazki (Morozprodukt) knüpfen deutlich an solche Traditionen an. Abb. 9: belorusskie skazki des weißrussischen Herstellers Morozprodukt mit Märchenmotiven in Scherenschnitt-Manier
Z ar und M ut terl and Wer sich mit der Sowjetzeit schwer tut, kann auf ältere Epochen zurückgreifen: Proksima vertreibt unter der Marke Azovskaja Gubernija ein Eis, auf dessen Verpackung Peter I, das Azovsche Meer, die Festung Asov und eine Landkarte mit historischen Informationen abgebildet sind.80 Hier wird selbstverständlich auf die imperiale Vergangenheit des russischen Großreiches und auf all seine Territorien angespielt. Die Helden der Historie bevölkern die russischen Werbewelten und Verpackungen seit Mitte der 1990er Jahre. Bezüge zur imperialen russischen Geschichte appellieren an den Nationalstolz, wie dies etwa von der Biermarke Sibirskaja Korona gepflegt wird: Sie unterhält seit 2012 auf Facebook
79 | Vgl. Martin, Terry: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923-1939, Ithaca: Cornell University Press 2001; Hirsch, Francine: Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca: Cornell University Press 2005. 80 | Vgl. Bušmarinova, Ekaterina: »Tendencii v upakovke moroženngo«, in: Mir morožennogo i bystrozamorožennych produktov [World of ice cream and quick-frozen foods] 2 (2014), S. 24-26; S. 25.
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eine »Karte des russischen Stolzes«81 und produzierte im Sommer 2014 einen Werbefilm für YouTube mit dem amerikanischen Schauspieler David Duchovny (X-Files, Californication), dessen Großeltern aus seinerzeit zum Russischen Reich gehörenden polnischen bzw. ukrainischen Gebieten auswanderten.82 In dem Clip durchlebt Duchovny vor dem inneren Auge eine alternative Biografie in der Sowjetunion und stellt angesichts der Möglichkeiten, die sich ihm dort geboten hätten fest, Russland habe viel, worauf es stolz sein könne. Die Möglichkeiten sind: Mit russischen Freunden in der Banja feiern, Kosmonaut werden oder Direktor des Bolschoi-Balletts, Eishockey-Spieler, Polarforscher oder Rocksänger. Die wichtigste Botschaft ist, dass Russland von einem erfolgreichen amerikanischen (!) »Grenzgänger zwischen den Welten« als großes Land gewürdigt wird. Abb. 10: Das Eis Asovskaja Gubernija des Herstellers Proksima.
81 | Vgl. G.H. Roberts: It’s (im)material, www.materialworldblog.com/2013/09/its-im material-packaging-social-media-and-iconic-brands-in-the-new-russia 82 | Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=q1zHjGO0LAk
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D as schöne E is , die B iester und das V ertr auen Ein Beitrag in der Branchen-Zeitschrift Mir morožennogo i bystrozamorožennych produktov 83 bezeichnete anlässlich der Eishersteller-Messe im Februar 2014 Nostalgie im Zusammenhang mit einem ebenfalls als »traditionell sowjetisch« bezeichnetem Gesundheitsbewusstsein als wichtigste Tendenzen auf dem Markt für Speiseeis. Firmen wie Morozprodukt suchten in den Archiven nach alten Rezepturen, um den »Geschmack der Kindheit« reproduzieren zu können. Die Autorin weist auf die Beliebtheit von Retro-Seiten über die UdSSR im Internet und den Erfolg sowjetischer Retro-Eiskrems hin. Sie erklärt den in Umfragen geäußerten Wunsch nach der Rückkehr in die Sowjetunion nicht mit Anpassungsschwierigkeiten, sondern mit dem Zerfall der Werte nach dem Ende der Sowjetunion: Viele, auch junge Menschen wollten einfach auf die Errungenschaften ihres Landes stolz sein, und das konnte man zu Sowjetzeiten. Damals wollten kleine Jungs Flieger oder Kosmonauten werden, nicht Banker.84 Übersetzt heißt das: Damals gab es noch höhere Werte, ein Sendungsbewusstsein jenseits des schnöden Mammons. Die Retro-Produkte knüpfen an solche Werte und an einen spezifisch sowjetischen Konsumstil an. Dieser war durch informelle Beschaffungsnetzwerke, Gefälligkeiten und Tauschsysteme geprägt. Die zentrale Währung in diesen Konsumbeziehungen war das Vertrauen.85 Im Unterschied dazu wirken in den westlichen und auch den postsowjetischen Marktwirtschaften anonyme und abstrakte Kräfte von Angebot und Nachfrage, hier stellt Geld das wichtigste Tauschmittel dar.86 Der vertrauens- und beziehungsbasierte Konsumstil gilt als dem entfremdeten »kapitalistischen« Konsumstil moralisch überlegen. Negative Verkörperung des kapitalistischen Stils waren in den 1990er Jahren die »Neuen Russen«.87 Die Schaffung von Vertrauen, nämlich des potenziellen Konsumenten in Hersteller, Produkt-Qualität und Preisgestaltung innerhalb dieses abstrakten Spiels anonymer Kräfte ist genau das, was eine »Marke« leisten soll.88 Insofern kann man die spezifischen Formen der Sozialität und der Beschaffungsnetzwerke89 als Teil der kulturellen Marke Sowjetunion begreifen. Solidarität und Vertrauen sind als wichtige sowjetische Erinnerungsorte bestimmten Gütern eingeschrieben. 83 | Vgl. E. Bušmarinova: Tendencii v upakovke moroženngo, S. 25. 84 | Vgl. ebd., S. 26. 85 | Vgl. M.L. Caldwell: The taste of nationalism, S. 299. 86 | Vgl. ebd., S. 314-315. 87 | Vgl. C. Humphrey: Creating a culture of disillusionment. 88 | Vgl. Manning, Paul: »The Semiotics of Brand«, in: Annual Review of Anthropology 39 (2010), S. 33-49. 89 | Vgl. K. Verdery: What Was Socialism, S. 215.
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Eis und Keulchen überwanden je auf ihre Weise die scheinbare Epochengrenze von 1991, so wie auch die postsowjetischen Funktionäre und Machthaber wie die Oligarchen auf solide sowjetische Karrieren zurückblicken können und allesamt aus den sowjetischen Kaderschmieden des Komsomol kamen. Eis und Keulchen zeigen, wie politisch die »Dinge« sind. In sozialistischen Konsumbeziehungen gehörten die Hindernisse der Aneignung wie auch die materielle Qualität und die ästhetischen Eigenschaften und Tücken der Waren in den Bereich des Politischen.90 Die allgemeine Sperrigkeit der Konsumwelt entfremdete die Bürger zunehmend der Partei.91 Das ist bis heute im sozialen Bewusstsein verankert. Deshalb lässt sich die obrigkeitlich unterstützte Glamour-Kultur der frühen Putin-Jahre als Annäherung des Staates an die Bürger interpretieren. Dass der Staat sowjetische kulturelle Marken stützte, untermauert diese These.92 Die Werbung schwenkte ein und funktioniert nicht mehr in erster Linie über Lifestyle und Glamour, sondern über Nationalstolz. Die vielen verschiedenen Retro-Verpackungen deuten darauf hin, dass Konsum als Entschädigung für den Mangel an politischer Mitsprache steht. Die Retro-Eiskrems bedienen Identitätsbedürfnisse in zahlreichen Varianten: Die verschiedenen Stile »erzählen« die große russische, sowjetische und postsowjetische Geschichte. Beim Eis essen kann sich jeder seine Version abholen. Eiskrem ist das wunderschöne, süße Gegenstück zu den hässlichen und demütigenden amerikanischen Hühnerbeinen: Im Eis überlagern sich der Geschmack der Kindheit, das gustatorisch, haptisch und visuell ausgelöste Erinnern, mit bestimmten kulturell geprägten Bildern und Deutungen der glücklichen sowjetischen Kindheit, heroischer Epochen und Geschichtsnarrative, aber auch mit Zukunftsversprechen.
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90 | Vgl. Ferus, Katharina/Rübel, Dietmar (Hg.): »Die Tücke des Objekts«. Vom Umgang mit Dingen, Berlin: Reimer 2009. 91 | Vgl. K. Fehérváry: Goods and states, S. 428, S. 454; K. Verdery: What Was Socialism, S. 27-28. 92 | Vgl. O. Kravets/Ö. Örge: Iconic Brands.
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Konsum als Aneignung von Gütern Versprechungen der Warenwelt und alltägliche Erfahrungen mit käuflichen Dingen Hans P. Hahn
E inleitung Die täglich oder wenigstens mehrmals wöchentlich verbrachte Zeit im Supermarkt ist eng verbunden mit einigen der am besten etablierten Handlungsroutinen des modernen Bürgers in der Konsumgesellschaft. Zugleich sind die Minuten und Stunden, die man sich im Supermarkt, im Warenhaus oder an anderen Orten des Konsums aufhält, sorgsam choreografiert.1 Hell und Dunkel, mit Musik oder eher ohne, mit glatten oder grob gepflasterten Fußböden – jedes Detail an solchen Orten ist wissenschaftlich geprüft und soll zuerst dem Zweck dienen, jedem Einzelnen einen angenehmen Aufenthalt und eine positive Grundstimmung für die anstehenden Konsumentscheidungen zu vermitteln. Die mehr oder weniger täglich erlebte Atmosphäre dieser Konsumorte signalisiert eine perfekte formale und inhaltliche Einbettung des Konsums, der zugleich die wichtigste Praxis des Erwerbs von Gütern in den meisten zeitgenössischen Gesellschaften darstellt. Wir haben uns an die Funktionalität und die gesellschaftlichen Bedeutungen der Konsumgüter gewöhnt. Was die soziale Botschaft einer bestimmten Ware ist, können wir erklären und mitteilen. Wir vertrauen darauf, dass zu jeder Ware ein Nutzwert gehört, der sich auf die Funktion und eben auch auf seine Bedeutung stützt. Die Botschaften bekannter Marken sind keine zufällig gesponnenen Geschichten, sondern das Ergebnis systematischer ›Markenführung‹ und kreativer Gestaltung von ›Markenbotschaften‹.2 1 | Jiminez, Fanny: »Psychofalle Supermarkt«, in: Die Welt vom 21.5.2012, S. 20. 2 | Esch, Franz-Rudolf (Hg.): Moderne Markenführung: Grundlagen, innovative Ansätze, praktische Umsetzungen. Wiesbaden: Gabler 2000; Domizlaff, Hans: Die Gewinnung öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik, Hamburg: Dulk 1951.
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Zu den Regeln moderner Konsumgesellschaften gehört es, dass es bei den Eigenschaften von Konsumgütern nicht nur um filigrane kulturwissenschaftliche Überlegungen geht, sondern auch um handfeste rechtliche Ansprüche jedes einzelnen Konsumenten. Konsum basiert auf sicheren Erwartungen, die vom Staat mithilfe zahlreicher gesetzlicher Grundlagen durchgesetzt werden. Diese Ausführungen stehen bewusst am Anfang dieses Beitrags, weil sie an einen dominanten und laufend fortgesetzten Diskurs erinnern sollen, mit dem sich kulturwissenschaftliche Aussagen zu Konsum auseinandersetzen müssen. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen der von internationalen Konzernen bestimmten und normativ sanktionierten Konsumlogik muss jede kulturwissenschaftliche Position Stellung zu diesen Setzungen und Regeln beziehen und klären, ob sie damit übereinstimmt oder divergierende Einsichten zutage fördert. In diesem Sinne ist ein Thema dieses Beitrags der Befund einer irritierenden Parallele, die Anlass zur Suche nach tieferen Erklärungen gibt. Es geht dabei um die überraschend großen Ähnlichkeiten zwischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Konsum und die Bedeutung von Konsumgütern einerseits und den bereits erwähnten marktstrategischen Kontexten des Konsums andererseits. Warum verhält es sich so, dass wichtige Theoretiker des Konsums keine Aussagen vertreten, die im grundlegenden Widerspruch zum Konsum selbst stehen? Wie ist es zu erklären, dass – wenigstens in den letzten Jahrzehnten – die wissenschaftliche Erforschung des Konsums im Grunde eine parallele Konjunktur im Vergleich zum Konsum als solchem hat? Diese weitreichende Übereinstimmung führt unmittelbar zur Frage, warum kulturwissenschaftliche Forschung heute – im Gegensatz zur früheren Konsumkritik – nicht mehr in gleichem Maße den Anspruch vertritt, die Widersprüche des Konsums aufzudecken. Welche Gründe verhindern in der Forschung heute, sich mehr für eine grundlegende Alternative einzusetzen? Wieso vertritt sie gegenüber konsumaffirmativen Auffassungen keine radikal differierende Positionen mehr? Ganz offensichtlich ist der Verweis auf die lange Tradition der Konsumkritik, die schon im 19. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt hatte, aber auch in den 1970er Jahren noch eine große Rolle spielte, keine Antwort auf diese Frage.3 Damals wurde der Konsum einer eher pauschalen Kritik unterzogen, die aus heutiger Sicht einer näheren empirischen Prüfung kaum standhält.4 Der Verzicht darauf, an eine aus heutiger Sicht wenig überzeugende Kritik der Warenwelt anzuknüpfen, muss aber nicht bedeuten, auf eine kritische Perspekti3 | Miller, Daniel: The Poverty of Morality, in: Journal of Consumer Culture 1.2 (2001), S. 225-243. 4 | Haug, Wolfgang F.: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971.
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ve im Hinblick auf Praktiken des Konsums überhaupt zu verzichten. Daraus ergibt sich die Frage, die am Ende dieses Beitrags noch einmal erörtert werden soll: Welche Möglichkeiten einer Kritik des Marketings und des Konsums gibt es heute, und auf welcher Grundlage könnte sie auf bauen? Die Perspektive, um die es hier gehen wird, basiert auf Modellen, die mit ethnografischen Erfahrungen arbeiten. Die unmittelbare Beobachtung des Alltags wird sicher nicht ausreichen, um alternative Theorien des Konsums zu entwerfen. Aber sie macht es möglich, die bestehenden Ansätze zu kritisieren und damit die Fehler der ihnen zugrunde liegenden Annahmen aufzuzeigen. Es ist sinnvoll, den empirischen Weg noch weiter zu beschreiten und die überwiegend kleinteiligen Beobachtungen der Alltagsethnografie als Ausgangspunkt für neue Positionierungen zu nutzen. Diese Position beinhaltet eine kritische Sicht auf die Folgen des Konsums. Bevor diese Kritik aber im Detail ausgeführt wird, sollen zunächst sehr knapp einige kulturwissenschaftliche Grundlagen des Konsums skizziert werden. Pierre Bourdieu, Mary Douglas und Daniel Miller sind für ihre Beiträge zur Untersuchung der Warenwelt weithin anerkannt; zugleich bilden ihre Konzepte eine anschauliche Grundlage, um darauf auf bauend die ethnografisch begründete Korrektur darzulegen. Deshalb ist erst der zweite Teil den abweichenden oder dazu im Widerspruch stehenden Beobachtungen gewidmet. Schließlich endet der Beitrag mit einigen Überlegungen dazu, wie eine kulturwissenschaftliche Untersuchung von Konsum aussehen könnte, die ihre Fähigkeit zu einer kritischen Positionierung gegenüber dem Konsum im Blick behält.
S ozialstruk tur und K onsumforschung Untersuchungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Konsum müssen schon aufgrund des Gegenstands disziplinübergreifend sein. Neben der Berücksichtigung der schon im letzten Abschnitt genannten, bekannten und in Soziologie und Ethnologie weithin rezipierten Autoren ist auch ein Blick in die ökonomischen Fächer naheliegend. In der Tat beeindruckt ein Besuch in einer wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek durch den Reichtum an Zeitschriftentiteln, die unmittelbar mit dem Thema ›Konsum‹ verbunden sind. Das Journal of Consumer Research, das Journal of Consumer Behavior, das Journal of Marketing Research oder das Journal of Consumer Culture etc. lassen schon vom Titel her erwarten, über Konsumwelten, Waren und Supermärkte zu informieren. Die Überraschung einer solchen Erweiterung des fachlichen Horizontes entsteht aber erst durch die nähere Lektüre ausgewählter Aufsätze. Die Beiträge in diesen Zeitschriften haben nämlich vergleichsweise zeitnah mit den Veröffentlichungen der bereits erwähnten ethnologischen und soziologischen
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Autoren deren neueste Ergebnisse zu Konsum und Lebensstilen aufgegriffen, diskutiert und mit empirischem Befunden angereichert.5 Die Exkursion in eine Welt, in der Akteure des Marktes und des Marketings auf ihr professionelles Handlungsfeld vorbereitet werden, scheint nur auf den ersten Blick eine fremde Denkweise zu berühren. Das sichere Gefühl unterschiedlicher Zugänge und Perspektiven weicht schnell der Verunsicherung über ein Kontinuum oder gar über weitreichende Übereinstimmungen zwischen denen, die Konsum analysieren und kulturell deuten (Soziologie, Ethnologie, Literatur und Kunst), und den Fachleuten, die ihn antreiben und steuern. Woher diese Nähe? Weshalb sind Ökonomen und Fachleute für Marketing so mühelos in der Lage, sich die Ergebnisse der Kulturwissenschaftler zu eigen zu machen und in einer Weise zu rezipieren, dass sie daraus einen signifikanten Nutzen für das ökonomische Handeln der betreffenden Produzenten ziehen können? Was ist die Bedeutung dieser ›unheimlichen‹ Übereinstimmung? Was kann daran überraschend sein, wenn unsere Kulturwissenschaft als eine Stütze des Marketings wirkt? Allerdings, selbst wenn daran nichts Bemerkenswertes wäre, so bliebe doch die Frage, warum solche nahtlosen Übergänge von Konzepten aus der einen in die andere Sphäre überhaupt möglich sind. Was hat zum Beispiel Bourdieu richtig erkannt und beschrieben, was jetzt über Fächergrenzen hinweg – und insbesondere in Konsumforschung und Marketing – als nützliches Wissen angesehen wird? Knapp zusammengefasst beschreibt Bourdieu den Besitz bestimmter Konsumgüter als Ausdruck des sozialen Status in der Gesellschaft.6 Über bestimmte Dinge zu verfügen, ist ein Mittel der Distinktion. Menschen sind, was sie haben. Natürlich hat Bourdieu 5 | Arnould, Eric J./Thompson, Craigh J.: Consumer Culture Theory (CCT). Twenty Years of Research, in: Journal of Consumer Research 31 (2005), S. 868-883; Coupland, Jennifer: Invisible Brands. An Ethnography of Households and the Brands in Their Kitchen Pantries, in: Journal of Consumer Research 32 (2005), S. 106-118; Davis, Harry L.: Decision Making within the Household, in: Journal of Consumer Research 2.4 (1976), S. 241-260; Joy, Annamma: Gift Giving in Hong Kong and the Continuum of Social Ties, in: Journal of Consumer Research 28 (2001), S. 239-256; Holt, Douglas B.: Poststructuralist Lifestyle Analysis: Conceptualizing the Social Patterning of Consumption in Postmodernity, in: Journal of Consumer Research 23 (1997), S. 326-350; Oswald, Laura R.: Culture Swapping: Consumption and the Ethnogenesis of Middle-Class Haitian Immi grants, in: Journal of Consumer Research 25 (1999), S. 303-318. 6 | Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982; Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Ders. (Hg.): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M. 1998: Suhrkamp, S. 13-32.
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das weiter differenziert, indem er zum Beispiel auf die Notwendigkeit des Lernens hinweist. Erst Kompetenz und Verinnerlichung der richtigen Umgangsweise schaffen die Grundlage, um prestigeträchtige Konsumgüter vorzeigen zu können. Der Besitz eines Schachspiels kann nur dann bedeutungsvoll wirken, wenn der Besitzer auch die Regeln des Spiels kennt, sich also damit praktisch auseinandersetzt. Ein teures Auto zu nutzen, verlangt die passende Kleidung zu haben. Zur Wohnzimmereinrichtung gehört die Kompetenz, den Gästen an diesem Ort den richtigen Wein anzubieten. Es geht nach Bourdieu in Bezug auf Stilempfinden nicht um einzelne Dinge, sondern um die Verknüpfung von Dingen, Gesten und Umgangsweisen. Erst der sogenannte »Habitus« macht aus Sachbesitz ein Mittel der Distinktion.7 Mary Douglas argumentiert im gleichen zeitlichen Horizont, in den 1970er Jahren, ganz ähnlich. Sie ist allerdings noch radikaler, indem sie den tatsächlichen Gebrauch von Konsumgütern für irrelevant erklärt und auf die Bedeutung des Sachbesitzes für das Denken in sozialen Unterschieden verweist.8 Der umfangreiche Sachbesitz des Einzelnen in der modernen Konsumgesellschaft macht es nach Douglas ohnehin unmöglich, alle diese Dinge intensiv zu verwenden. Autos stehen zumeist einfach nur herum, damit andere sie sehen. Die Sportausrüstung ist viel eher ein Zeichen der Zugehörigkeit zu einer sportlich dynamischen Oberschicht; die tatsächliche Intensität der Nutzung ist nur sekundär. Die Dinge, die ein Mensch besitzt, sind ein Mittel, um Zugehörigkeit und Abgrenzung zu zeigen. Eine genaue Analyse des Sachbesitzes kann nach Douglas den Platz jedes Einzelnen in der Sozialstruktur bestimmen. Vor dem Hintergrund der obigen Skizze könnten Bourdieu und Douglas als wichtige Vertreter eines historischen Moments der Fachgeschichte angesehen werden, die insbesondere die theoretische Weiterentwicklung betrifft. Die große Zahl der Verweise auf ihre Schlüsselwerke gerade in der jüngsten Zeit zeigt, dass diese Autoren auch heute immer noch relevante Positionen vertreten. Zudem haben Fachleute in den letzten Jahren diese Tradition des Denkens über Konsum fortgesetzt. Ein Beispiel dafür ist Daniel Miller, der im Jahr 1998 eine »Theorie des Einkaufens« vorlegte, in der man wichtige Elemente der 20 Jahre früher publizierten Konzepte von Bourdieu und Douglas wiederfindet: Konsum ist demzufolge motiviert durch die Intention der Konsumenten, ihre soziale Einbettung zu artikulieren.9 Nach Miller möchten Käufer mit ihren Konsumentscheidungen zeigen, welche Menschen sie lieben. Ein Konsumakt 7 | Pappi, Franz U./Pappi, Ingeborg: Sozialer Status und Konsumstil. Eine Fallstudie zur Wohnzimmereinrichtung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 30 (1978), S. 60-86. 8 | Douglas, Mary/Isherwood, Baron: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption, London: Routledge 1996. 9 | Miller, Daniel: A Theory of Shopping, Ithaca: Cornell University Press 1998.
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in Antizipation der Präferenzen nahstehender Menschen erzeugt soziale Bindung und grenzt die eigene Gruppe zugleich von anderen ab. Das Einkaufen ist damit auch ein »Opfer«10, weil nicht subjektive Gefühle, sondern vermutete Erwartungen an den Käufer wesentlich dafür sind. Demnach sind Zufriedenheit und Glück für den Einzelnen dann gegeben, wenn er die richtigen Waren erwirbt – nicht für sich, sondern im Sinne einer Verstärkung seiner sozialen Umgebung. Man fühlt sich bei diesen Aussagen förmlich erinnert an die freundliche Helferin von Ariel, Klementine, die der Käuferin zuflüstert: »Nur mit dieser Marke wirst zu glücklich sein«. Genauso scheint auch das Alter Ego von »Frau Sommer«, das ihr rät, um der Zufriedenheit der Gäste willen nicht bei der Auswahl des Kaffees zu sparen, und Jacobs-Kaffee zu nehmen.
Miller hat dieses Konzept in einer Untersuchung über Sachbesitz von verschiedenen Haushalten im Londoner East End weiter ausgearbeitet. In dem Buch Der Trost der Dinge beschreibt er die Gegenstände in diesen Haushalten und die soziale Lage der Einwohner.11 Natürlich gibt es in seinen sorgfältigen ethnografischen Beschreibungen Hinweise auf Freiheiten der Konsumentscheidung. Aber entsprechend dem theoretischen Konzept von Miller sind solche Freiheiten irrelevant für die Gesamteinschätzung. Da ist zum Beispiel ein gerade aus dem Gefängnis entlassener Kleinkrimineller, der in einem fast leeren Appartement wohnt. Eine Matratze liegt auf dem Boden und ersetzt das Bett, Bierkästen sind Sitzgelegenheiten. Wie Miller erklärend hinzufügt, hat der Bewohner dieser Wohnung kaum soziale Kontakte und lebt dort ohne Pläne für seine Zukunft. Ein anderes Beispiel aus diesem Buch ist die Wohnung einer älteren Dame. Das Wohnzimmer wirkt leicht überfüllt; es gibt rosa Vorhänge, rosa Plüschtiere und auch sonst viele kleine Dekor-Objekte, die man als »Kitsch« bezeichnen könnte. Die Fülle an geschätzten und sorgfältig präsen10 | Ebd. S. 106. 11 | Miller, Daniel: Der Trost der Dinge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010 (original: The Comfort of Things, London: Polity 2009).
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tierten Dingen entspricht dem regen sozialen Leben der Bewohnerin sowie einer hohen Anerkennung im Kreis der Kinder, Enkel, Freunde und Bekannten. Die Sinus-Milieus in Deutschland 2009 – Soziale Lage und Grundorientierung (Quelle: Sinus Sociovision (2009): 13)
Das von Miller gezeichnete Bild von Konsum ist differenziert und beruht auf einer umfassenden empirischen Beobachtung. Zugleich entspricht es den Konzepten von Bourdieu und Douglas, wie übrigens auch den älteren Vorläufern, Gabriel Tarde und Thorstein Veblen.12 Mit dieser Linie des Denkens über Konsumgüter und ihre Bedeutungen ist ein großes Narrativ der sozialwissenschaftlichen Forschung skizziert. Im Kern interpretiert dieses Narrativ materielle Kultur als eine Art erweitertes Zeigeinstrument, das die Lage des Einzelnen in der Gesellschaft markiert.13 Susanne Küchler bezeichnet eine Welt von Dingen mit einer solchen Zeigefunktion als ein »Durkheimsches
12 | Tarde, Gabriel: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, (original: Les lois de l’imitation, Paris: Èditions Kimé 1890); Veblen, Thorstein: Theorie der feinen Leute. Frankfurt a.M.: Fischer 1986, (original: The Theory of the Leisure Class. An Economic Study of Institutions, New York: Macmillan 1899). 13 | Hahn, Hans P.: Consumption, Identities, and Agency in Africa: An Overview, in: Berghoff, Hartmut/Spiekermann, Uwe (Hg.): Decoding Modern Consumer Societies, New York: Palgrave Macmillan 2011b, S. 69-87.
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Universum«.14 Damit wird zugleich betont, wie in modernen differenzierten Gesellschaften alle Elemente darauf ausgerichtet sind, die Lage des Einzelnen in der komplexen Struktur zu stabilisieren. Die Artikulation der Lage des Individuums funktioniert ähnlich wie bei Durkheim über »kollektive Repräsentationen«. Durkheim selbst führte in seinen Studien Rituale und Symbole als Beispiele an; entsprechend der neueren Forschung zum Konsum ist dies auf Sachbesitz ganz allgemein zu erweitern.15 Die Ausstattung der Wohnungen in London, das richtige Auto, das Schachspiel, der Genuss von Rotwein, all diese stellen im weiteren Sinne kollektive Repräsentationen dar. Warum sollte das Marketing diese Ideen nicht dankbar aufgreifen? Funktioniert Werbung nicht auch als Einübung und Bestätigung von sozialen Rollen? Beantwortet nicht jeder Werbeclip die Frage nach dem »Wer bin ich, wer könnte ich sein?« auf dem Umweg über die Verfügung über und den Gebrauch von Dingen? Konsumforscher hätten keine Schwierigkeiten, eine Analyse von Haarshampoo nach Bourdieu vorzulegen;16 die Theorie des Einkaufens von Miller ist für die Kreativen des Marketings wahrscheinlich eine hervorragend geeignete Basis, um die nächste Werbung für Cornflakes und Wohnzimmergarnituren zu gestalten.17 Eine konzeptuelle Weiterentwicklung auf der Grundlage von Bourdieus feinen Unterschieden und bis heute ein wichtiges Instrument der Konsum- und Marketingforschung ist die sogenannte SINUS-Studie, die seit dreißig Jahren regelmäßig auf der Grundlage neuer Befragungen erstellt wird (Sociovision). Das zum Zwecke der Visualisierung unterschiedlicher Lebensstile häufig verwendete sogenannte »Kartoffelmodell« mag Kulturwissenschaftlern zunächst banal erscheinen, reflektiert es doch die vierzig Jahre alte Theorie von Bourdieu. Die SINUS-Studie sollte aber doch zur Kenntnis genommen werden, erstens, weil sie die Schnittstelle zwischen Konsum und Konsumenten zeigt, und zweitens, weil sie die weitreichenden Übereinstimmungen zwischen Kulturwissenschaft und Marketing in besonderer Weise ausdrückt.
14 | Küchler, Susanne: Rethinking Textile: The Advent of the ›Smart‹ Fiber Surface, in: Textile: Journal of Cloth and Culture 1.3 (2003), S. 262-272. 15 | Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, (original: Les formes élémentaires de la vie réligieuse, Paris: Alcan 1912). 16 | Ullrich, Wolfgang: Unter der Dusche, in: Merkur 709 (06.2008), S. 512-517. 17 | Askegaard, Søren/Kjeldgaard, Dannie: The Water Fish Swim In? Relations Between Marketing and Culture in the Age of Globalization, in: Knudsen, Thorbjørn/Askegaard, Søren (Hg.): Perspectives on Marketing Relations, Copenhagen: Karnov Group 2002, S. 15-35.
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Tr ansformation der W are zum persönlichen G ut : W ahrnehmung und T ücke Welche alternativen Konzepte gibt es nun aber, um den Umgang mit Konsumgütern nach dem Kauf und im Alltag jenseits der Normen von Lebensstil und Bedeutungsaufladung zu beschreiben? Eine erste Perspektive liefert die Phänomenologie der Lebenswelt, in der die Dinge des Alltags zwar eine wichtige, aber doch deutlich andere Rolle spielen. In dieser Sichtweise muss die Zuordnung der Dinge zu den von der Werbung versprochenen Eigenschaften als eine problematische Form eines leeren Versprechens erscheinen: jeder weiß, dass das, was die Werbung sagt, nicht stimmt, und dennoch macht man sich nicht die Mühe des Widerspruchs. Phänomenologisch gesprochen, kann es keine abgeschlossene, objektivierte Liste von Dingwahrnehmungen geben. Wie die Dinge dem Benutzer erscheinen, welche Aufforderung zum Handhaben er aus der Gegenwart einer Sache ableitet, klärt sich überhaupt erst im Moment der Interaktion.18 Der Eintritt einer Sache in die Lebenswelt, die Ko-Präsenz, wie Gumbrecht es formuliert hat, ist ein entscheidungsoffener Moment.19 Erst in diesem Moment entstehen Beurteilung und Bewertung, erst dann bildet sich eine subjektiv gültige Wahrnehmung heraus. Erst wenn der Benutzer ein Ding in der Hand hält, es sieht, riecht, schmeckt und seine Gegenwart körperlich spürt, erfährt er also seine Einschätzung als eine subjektive Wahrheit.20 Jede Sache wird zu einem eigenen Ding, von dem sich bestimmte Eigenschaften als Stimulus oder Aufforderung erweisen, während andere eher als Problem oder Hindernis wahrgenommen werden. Es geht hier um ganz alltägliche Erfahrungen: Wer hat nicht schon Kleidung nach dem Kauf für unpassend oder unangenehm zu tragen befunden? Wie viele Kleidungsstücke bleiben nach einmaligem Tragen ungenutzt im Kleiderschrank, weil der Besitzer nach der ersten »Körpererfahrung« keine Lust mehr hat, sich mit diesem Kleidungsstück noch einmal zu befassen?21 Dinge, die die Erwartungen des Benutzers nicht erfüllen, Konsumgüter, die unerwartete Eigenschaften zeigen, sind kein einmaliges Ereignis, sondern immer wiederkehrende Irritationen, mit denen fast jeder schon wiederholt 18 | Selle, Gert: Wie man ein Ding ansieht, so schaut es zurück, in: Moebius, Stephan/ Prinz, Sophia (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 131-140. 19 | Gumbrecht, Hans U.: Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012. 20 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966. 21 | Desjarlais, Robert/Throop, C. Jason: Phenomenological Approaches in Anthropology, in: Annual Review of Anthropology 40 (2011), S. 87-102.
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konfrontiert war. Katharina Ferus und Dietmar Rübel haben diese verbreitete Erfahrung in einem Sammelband mit dem bezeichnenden Titel Die Tücke des Objekts thematisiert.22 Dieses Werk zeigt, wie unterschiedlich solche Erfahrungen verunglückter Objektbeziehungen sein können. Und selbstverständlich reflektiert die Objektkunst schon lange irritierende Objekterfahrungen in der Konsumgesellschaft. Diese Verfremdung von geschätzten Konsumgütern verweist zudem auf einen besonderen Umstand, dass es nämlich oft gerade die Konsumgüter sind, mit denen wir besonders hohe Erwartungen verbinden, die uns in dieser Weise ›enttäuschen‹. Es sind nicht kleine Dinge, wie die verdorbene Milch oder der nicht zu öffnende Reisbeutel, sondern vielmehr das schicke Kleid, das wir dann doch nicht tragen, weil es zu unbequem ist, oder das teure Handy, deren Funktionen uns nicht befriedigen. Kein Zufall, dass zwanzig Jahre vor diesem Sammelband Adolf Muschg als Autor eines Essays hervorgetreten ist, der den heraufordernden Charakter mancher Konsumgüter präzisiert. Dieser Essay hat den Titel Die Tücke des verbesserten Objekts.23 Oftmals ist es gerade die – im Hinblick auf Technik, aber auch auf Modefragen – behauptete Innovation, die zur Herausforderung wird oder gar zu gescheiterten Versuchen des Gebrauchs führt. Die verbesserten Dinge beinhalten eben oftmals auch eine andere, möglicherweise gesteigerte Anforderung an den Besitzer und Nutzer. Gebrauchsanweisungen sind ein Mittel, um den versprochenen Eigenschaften von Konsumgütern ihre Geltung zu verschaffen. Die Hersteller dieser Dinge hoffen, mit solchen Anleitungen das Verhältnis zwischen innovativem Konsumgut und unerfahrenem Benutzer zu stabilisieren und die Zahl der Frustrationen gering zu halten. Allerdings sind die Klagen über solche Anleitungen Legende. Das kann an der unklaren Sprache liegen oder aber daran, dass subjektiv wichtig erscheinende Eigenschaften einfach nicht erwähnt werden. Die in der letzten Zeit populären YouTube-Videos (unpacking) können als ironische und verfremdende Kommentare auf die lange Tradition solcher Anleitungen verstanden werden, weil sie auch Raum für wertende Kommentare und für die gelegentliche Ratlosigkeit dessen lassen, der dieses Auspacken durchführt.24 Damit sind zwei Felder benannt, die sich mit dem »Anders-Sein« der Dinge beschäftigen. Einerseits ist das – ausgehend von der Phänomenologie – die Beobachtung, dass jede Erfahrung von der Gegenwart des Materiellen subjektiv ist. Andererseits geht es um die Enttäuschungen, die in der Folge der un22 | Ferus, Katharina/Rübel, Dietmar (Hg.): Die Tücke des Objekts. Vom Umgang mit Dingen, Berlin: Reimer 2009. 23 | Muschg, Adolf: Die Tücke des verbesserten Objekts, Wald: Im Waldgut 1981. 24 | Vgl. das Unboxing eines IKEA-Bürostuhls: https://www.youtube.com/watch?v= tSX-Q CUBvNI
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mittelbaren Auseinandersetzung mit neuen Konsumgütern entstehen können und die zur Rede von der »Tücke des Objekts« geführt haben. Dass Dinge sich als anders erweisen als erwartet, muss aber nicht unbedingt mit dem Scheitern im alltäglichen Umgang zu tun haben. Es gibt ja immerhin auch ziemlich viele Dinge, die als Waren auftreten, erworben werden und dann nach und nach zu geschätzten Dingen werden. Die ethnografische Beobachtung ermöglicht nähere Einblicke in diese Prozesse, die als Vollzug einer Veränderung aufgefasst werden können. Der Wandel von der anonymen Ware zu einem persönlichen, vielleicht sogar geschätzten Gut kann aus der Perspektive der Akteure, also der Besitzer und Benutzer, als eine »Arbeit« angesehen werden. Mit den Worten von James Carrier handelt es sich dabei genauer um die »Arbeit der Aneignung«.25 Das kann eine kreative Arbeit sein, zum Beispiel das Erfinden oder Entwickeln von Eigenschaften. Es kann aber auch eine schwere, hindernisreiche Arbeit sein, wenn es etwa darum geht, soziale Anerkennung für Besitz und Gebrauch eines zuvor kaum gebräuchlichen Gutes zu erlangen. Der Begriff der Arbeit zielt hier weniger auf »geleisteten Krafteinsatz« ab, sondern im Sinne von Max Weber eher auf die intentionale Einwirkung auf die Umwelt.
K ulturelle A neignung Der Begriff der kulturellen Aneignung betont die Perspektive der Konsumenten als Handelnden.26 Sie sind Männer und Frauen, die sich Dinge aneignen und erst am Ende eines mitunter länger andauernden Prozesses selbst wissen, ob sie nun über einen nützlichen, persönlich geschätzten Gegenstand verfügen. Aneignung ist allerdings kein individueller Prozess, sondern bedarf der Einbettung in eine Gemeinschaft. Mit der Aneignung verändert sich auch die soziale Gruppe insgesamt. Kulturelle Aneignung ist weiterhin auch eine Aushandlung darüber, was legitime persönliche Güter des Angehörigen einer Gesellschaft sind, oder wo dem Besitz und Gebrauch Grenzen gesetzt sind. Blue Jeans sind in diesem Zusammenhang ein sehr gutes Beispiel: Es handelt sich 25 | Carrier, James G.: The Work of Appropriation, in: Ders.: Gifts and Commodities. Exchange and Western Capitalism since 1700. London: Routledge 1995, S. 106-125. 26 | Hahn, Hans P.: Antinomien kultureller Aneignung: Einführung, in: Zeitschrift für Ethnologie 136.1 (2011a), S. 11-26; Hahn, Hans P.: Cultural Appropriation. Power, Transformation, and Tradition, in: Huck, Christian/Bauernschmidt, Stefan (Hg.): Travelling Goods, Travelling Moods. Varieties of Cultural Appropriation. Frankfurt a.M.: Campus 2012, S. 15-35; Hahn, Hans P.: Aneignung und Domestikation. Handlungsräume der Konsumenten und die Macht des Alltäglichen, in: Hohnsträter, Dirk (Hg.): Konsum und Kreativität, Bielefeld: transcript 2016, S. 43-60.
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um eine Arbeiterkleidung, die im Laufe der Zeit den Status als Modeobjekt erworben hat und heute in allen gesellschaftlichen Gruppen verwendet wird. Das Vordringen einer Ware und ihre zunehmende Anerkennung bei den Besitzern bilden einen wechselseitigen Prozess, in den zumindest in gewissen Zeitabständen auch Anpassungen durch die Produzenten von Modelabels bedeutsam sind. Sie entwickeln neue Modelle und unterstützen die Veränderung durch andere Materialien, Farben und Formen. Wichtiger als die Einflussnahme der Kleidungsfirmen ist aber die kleinteilige Veränderung im Alltag: Das betrifft zum Beispiel die Frage, ob und, wenn ja, wann am Arbeitsplatz Jeans angemessene Kleidungsstücke sind. Vor einigen Jahrzehnten ging es um die Frage, ob junge Frauen Jeans abends zum Ausgehen tragen dürfen.27 Daniel Miller hat eine eigene Theorie entwickelt, um die Frage zu beantworten, warum die Aneignung der Jeans weltweit und mit so großem Erfolg quer durch alle Schichten stattgefunden hat. Er vermutet, Jeans seien ein Mittel, um Identität zu verstecken.28 Die Freiheit, gerade kein Statement zu Lebensstil und Milieu- oder Schichtzugehörigkeit zu machen, ist ihm zufolge das eigentliche Motiv für die breite Annahme dieser Kleidung. Zweifellos ist hier eine Bedeutungsverschiebung zu konstatieren, die von den Herstellern nicht vorhergesehen wurde und mit vielen neuen, vielfach auch alltäglich gewordenen Gebrauchsweisen einhergeht.29 Kulturelle Aneignung ist in dieser Hinsicht auch durch die ›Macht des Unvorhergesehenen‹ geprägt. Es geht in den einschlägigen Konzepten darum, mit alltäglichen Taktiken die strategische Überlegenheit der Produzenten zu unterlaufen. Michel de Certeau hat sogar von der »subversiven Kraft« der Aneignung gesprochen.30 Das wäre für das Beispiel der Jeans nur zu einem historischen Zeitpunkt, etwa in den 1950er Jahren, anzunehmen.31
27 | Hay, Margaret J.: Who Wears the Pants? Christian Missions, Migrant Labor, and Clothing in Colonial Western Kenya, Boston: Boston University 1992; Thorsen, Dorte: Jeans, Bicycles and Mobile Phones: Adolescent Migrants’ Material Consumption in Burkina Faso, in: Veale, Angela/Dona, Giorgia Hg.): Child and Youth Migration. Mobility-in-Migration in an Era of Globalization, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014, S. 67-90. 28 | Miller, Daniel/Woodward, Sophie: Blue Jeans: The Art of the Ordinary, Los Angeles: University of California Press 2012. 29 | Hohmann, Katharina/Tietze, Katharina (Hg.): Denimpop. Jeansdinge lesen, Berlin: Merve 2013. 30 | De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988. 31 | Wahrlich, Heide: Hose und Herrschaft. Die Kleidung spricht, in: Journal-Ethnologie 4 (2006).
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Am Beispiel der Marke LONSDALE wird der allein durch die Art des Tragens bewirkte Charakter der Subversion deutlicher, wenn auch aus einer überraschenden Richtung. Die ursprünglich einmal nur in schwarz oder weiß verkauften T-Shirts wurden nämlich ab einem bestimmten Zeitpunkt mehr und mehr von rechtsextremen Jugendlichen getragen. In der rechten Szene gehört zu dieser Mode das Tragen schwerer Bomberjacken über den Shirts. Diese Jacken werden in etwa zur Hälfte geöffnet, so dass vom Schriftzug der Firma nur noch die Buchstaben NSDA zu erkennen sind. Als Lonsdale auf diese politisch-symbolische Aneignung aufmerksam wurde, versuchte die Marke, sich durch eine spezielle Kampagne dagegen zu wehren. Das Motto dieser Kampagne war »Lonsdale loves all colours«, wobei die Hemden in den unterschiedlichsten Farben verkauft wurden. Ob diese ästhetische Neuorientierung einen Gewinn darstellte, soll hier offenbleiben, genauso wie die Frage, ob es damit gelungen ist, die subversive Aneignung abzuschütteln. Aneignung kann also, wie in diesem Beispiel, spektakulär verlaufen. Andere spektakuläre Beispiele sind dem von Birgit Richard und Alexander Ruhl herausgegebenen Band Konsumguerilla zu entnehmen.32 Dort werden beispielsweise Ikea-Möbel so umgebaut, dass sie ganz anderen Zwecken als den zunächst intendierten dienen. Viel häufiger sind es im Alltag aber kleine unspektakuläre Schritte, die die Transformation eines Dings von der Ware zum persönlichen Gut begleiten. Eine Minimalpraxis wäre in etwa das Reinigen: Natürlich werden viele frisch gekaufte Kleidungsstücke zuerst einmal gewaschen, so als ob sie schmutzig aus der Fabrik gekommen wären. Ein neu erworbener Computer oder ein Handy wird erst dann zu einem persönlichen Gut, wenn das persönliche Adressbuch oder spezielle Programme darauf installiert sind. Es gibt gute Gründe, mit diesen Aspekten der Aneignung auch von einer Wertsteigerung durch Gebrauch zu sprechen: Zumindest im Fall eines Verlustes wird man den Verlust als bedeutender empfinden, wenn das Gerät vorher ›personalisiert‹ wurde.33 Zur Aneignung gehören auch die Verfügbarkeit der Dinge selbst und deren Nutzungsoffenheit in Hinblick auf verschiedene Gebrauchsweisen. In manchen Fällen, wie bei den modernen elektronischen Geräten, wird die Möglichkeit der Aneignung schon fast als eine Option mit eingebaut, in anderen Fällen werden Sperren errichtet. Aneignung bedeutet dann unter Umständen auch,
32 | Richard, Birgit/Ruhl, Alexander (Hg.): Konsumguerilla. Widerstand gegen Massenkultur? Frankfurt a.M.: Campus 2008. 33 | Schwarz, Ori: Good Young Nostalgia. Camera Phones and Technologies of Self among Israeli Youths, in: Journal of Consumer Culture 9.3 (2009), S. 348-376.
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mit spezieller Software diese Sperren zu umgehen oder zu durchbrechen.34 Aneignung ist nicht nur eine Art der Begegnung von Akteuren mit unterschiedlicher Handlungsmacht und unterschiedlichen strategischen Potentialen. Es ist auch eine Form des kulturellen Recyclings: Wo eine Ware von Funktionen und Bedeutungen her unterdefiniert ist, wo sich Freiräume eröffnen, da werden neue Gebrauchsweisen eingeführt, es findet eine »Wiederaufwertung« statt. Das kann im Konsens erfolgen, es können aber auch unerkannte Freiräume – Möglichkeiten der Umgestaltung – genutzt werden. Auf der Grundlage einer Studie zum Umgang mit Medien in Haushalten hat Roger Silverstone fünf Aspekte von Aneignung geschildert, die gut auf Konsumgüter insgesamt anwendbar sind.35 Es geht dabei im Einzelnen um: 1. Erwerb/Annahme – Konsum (also der »Kauf«) ist nur einer unter verschiedenen denkbaren Wegen, durch die Dinge in eine Gesellschaft gelangen können. Raub, Schnorren und Nachfragen oder auch Betteln und Stehlen sind andere Wege, um an Dinge zu gelangen. Kreativität beginnt oft bei den Dingen, denen man zufällig begegnet. 2. Materielle Umgestaltung – Dinge werden möglicherweise dadurch zu persönlichen Gütern, dass sie eine materielle Umgestaltung erfahren. Second-Hand-Waren sind ein gutes Beispiel dafür. Man erwirbt etwas (»sehr günstig«) zum Beispiel vom Flohmarkt, rechnet aber zugleich mit der Notwendigkeit einer materiellen Anpassung. Das Kleid muss umgenäht werden, ein altes Fahrrad muss instandgesetzt werden. Hierzu gehört auch die Personalisierung von Handy oder PC. 3. Benennung – Neue Dinge erhalten einen lokalen Namen und werden dadurch einer Klasse der bekannten Dinge zugeordnet. Die Dinge werden damit zugleich mit einer bestimmten Umgebung assoziiert oder kategorisiert. Die Tatsache der Benennung verweist auf die Bedeutung der Kontextualisierung. Das typische Beispiel dafür ist die Erfindung des Wortes »Handy« für Mobiltelefone im Deutschen. Dieser Begriff weckt die Aura des Internationalen, steht aber für die Lokalisierung. 4. Kulturelle Umwandlung – Wesentlich für die Umwandlung ist die definitive Verbindung des Gegenstands als solchem mit bestimmten lokalen Bedeutungen. Das kann die Assoziation zu bestimmten Objektbereichen, 34 | Hahn, Hans P./Kibora, Ludovic O.: The Domestication of the Mobile Phone. Oral Society and new ICT in Burkina Faso, in: Journal of Modern African Studies 46.1 (2008), S. 87-109. 35 | Silverstone, Roger/Hirsch, Eric/Morley, David: Information and Communication Technologies and the Moral Economy of the Household, in: Silverstone, Roger (Hg.): Consuming Technologies. Media and Information in Domestic Spaces, London: Routledge 1992, S. 15-31.
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aber auch die Zuordnung zu einem Geschlecht, zu einer Altersgruppe oder einer ähnlichen Kategorie bedeuten. Den Dingen werden auf diese Weise neue Bedeutungen zugewiesen. 5. Inkorporierung – Mit einem Ding »richtig« umzugehen hat auch mit körperlichen Fähigkeiten zu tun. Jedes bekannte Objekt verlangt eine bestimmte Art des Gebrauchs und definiert in bestimmter Weise die Zeit, die in unmittelbarer Nähe zu dem Objekt verbracht wird. Auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers verändert sich durch den Gebrauch des (nun nicht mehr neuen) Objekts.
S chluss Eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den alltäglichen Erfahrungen der Benutzer von Waren zeigt eine ganze Reihe von Optionen der Veränderung der Dinge, die als Waren in die Konsumwelt kommen. Die Versprechungen der Werbung stellen Festlegungen von Bedeutung dar, die einer genauen ethnografischen Untersuchung nicht standhalten. In sehr vielen Fällen sind die Dinge anders, als die vermeintlich objektive Beschreibung der Wareneigenschaften unterstellt. Das Anliegen dieses Beitrags ist es, auf diese Offenheit im Hinblick auf Bedeutungen und Funktionen der Konsumgüter hinzuweisen. Daraus folgt unmittelbar, dass nur eine sorgfältige ethnografische Analyse solche »unerwarteten Funktionen« aufzeigen kann. Für dieses Anders-Sein wurden unterschiedliche Konzepte herangezogen. Das kann zunächst einfach eine überraschende Gegenwart oder, genauer, die Ko-Präsenz sein. Im Extremfall kommen Nutzer zum Schluss, ein ›tückisches Objekt‹ vor sich zu haben. Ein drittes, hier ausführlicher vorgestelltes und mit ethnografischen Beobachtungen verbundenes Konzept ist das der kulturellen Aneignung. Dieser Begriff beschreibt aus der Perspektive der Akteure als alltäglicher Nutzer den Wandel von einer anonymen Ware hin zu einem persönlichen Gut. Zur Aneignung gehören mehrere Teilprozesse, die – in gegebenen Grenzen – kontextuelle und materielle Veränderungen des Gegenstands, der Gesellschaft und nicht zuletzt auch des Körpers des Nutzers oder Besitzers beschreiben. Diese Prozesse beschreiben oftmals minimale Veränderungen: das Aufspielen neuer Programme auf das Handy, die Umbenennung oder die Reinigung frisch gekaufter Kleidung. Trotz ihres vielfach unspektakulären Charakters eröffnen die Beobachtung und das Hervorheben dieser Prozesse eine Sicht auf Konsum jenseits der starren Welt der Warenversprechungen. Es geht hier um ein Feld außerhalb dessen, was Produzenten vorhersehen und beeinflussen können. Dabei kann es sich um äußerst kreative Auseinandersetzungen mit Waren handeln; aus alltäglichen Massenerzeugnissen wird dann etwas
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ganz Neues. Aber Kreativität ist keine Vorbedingung für diese Veränderung, viel öfter geht es um eher der Pragmatik geschuldete Handlungsweisen. Wichtiger als das Ausmaß der Veränderungen ist das Ergebnis solcher Handlungsweisen: Durch Aneignung entsteht etwas Neues. Es bildet sich ein alltägliches Ding heraus, das hier mehrfach als ›persönliches Gut‹ bezeichnet wurde. Letztlich bewirkt dieser persönliche Charakter einen spezifischen Mehrwert: Der Nutzer erzielt eine bessere Einpassung, neue Funktionen und andere Bedeutungen als die vom Hersteller vorhergesehenen. An dieser Stelle ist an das übergeordnete Anliegen dieses Beitrags zu erinnern: Es geht hier um Beobachtungen jenseits der Welt der Warenlogik, die sich auch kritisch dazu stellen. Die vorstehenden Ausführungen sollen dazu beitragen, die Beschäftigung mit Konsum den Händen der Produzenten und des Marketings zu entreißen und auf die spezifischen Handlungsfelder der Konsumenten zu verweisen. Nicht immer ist es angemessen, dabei gleich von ›autonomen Feldern‹ zu sprechen. Aber die hier genannten Konzepte und Beispiele bilden eine gute Basis für die Frage, was die Reichweite autonomen Handelns im Kontext von Konsum ist. Sie zeigen die Möglichkeiten, die Dinge zu anderen werden zu lassen, als es die Werbung und die Gebrauchsanweisungen glauben machen wollen. Im Kontrast zu den an Zeichen und Bedeutungen orientierten, marketingaffirmativen Modellen rechnen sie auch mit dem Konsumwandel. Es geht um das Aufkommen und die Annahme neuer Konsumgüter (Beispiele hier: Jeans, Handys), und um die durchaus nicht immer vorhersehbaren Umwandlungen und Einbettungen, die diese Dinge erfahren. In diesem Sinne soll diese Perspektive dazu ermutigen, nach den ›blinden Flecken‹ in den dominanten Diskursen über Konsum zu suchen, und bislang verborgene Handlungsmöglichkeiten der Konsumenten zu markieren.
Z usammenfassung Neuere Forschungen zur materiellen Kultur beruhen wesentlich auf der Einsicht in die Bedeutungen der Dinge. Dinge werden in diesem Rahmen als Träger von Zeichen und Symbolen verstanden, ihr Besitz und Gebrauch gilt als soziales Handeln, das gesellschaftlich relevante Botschaften übermittelt. Diese ›konventionelle Deutung‹, die unter anderem von Pierre Bourdieu und Mary Douglas vertreten wurde, erweitert die diskursiven Felder einer Gesellschaft um ein wichtiges neues Feld: die Kommunikation mit Dingen. Zugleich gibt es aber eine weitere Perspektive auf materielle Kultur, die ebenfalls große Resonanz hat. Hier geht es um die Tücke des Objektes, um eigensinnige Objekte und auch um die Frage, ob in Prozessen der Erkenntnisgewinnung Dinge wirklich immer die ihnen zugedachte Rolle spielen. Von
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Adolf Muschg über ein aktuelles, von Dietmar Rübel herausgegebenes Buch bis hin zu Hansjörg Rheinberger reicht diese Linie des Denkens, die in Dingen etwas ganz anderes sieht; nämlich viel öfter eine Täuschung oder wenigstens eine problematische Grundlage vermeintlich gesicherten Wissens. Für eine Synthese dieser beiden Ansätze lohnt eine genauere Betrachtung der Kontexte und der Dingeigenschaften: Wann vergewissern materielle Dinge ihren Träger seines sozialen Status? Wann entlarven sie dagegen falsche Annahmen über das Objekt oder seine Besitzer/Beobachter? Die zentrale Aufgabe materieller Kultur ist es, materielle Objekte als Herausforderung zu verstehen. Dinge sollten nicht einfach als eine Erweiterung bestehender Diskurse aufgefasst werden. Vielmehr gilt es, den unsicheren epistemischen Grund herauszuarbeiten. Nur im Rückgriff auf ein solchermaßen erweitertes Verständnis ist das Paradoxon zu ergründen, weswegen Dinge so oft soziale Strukturen bestätigen, sich dann aber in bestimmten Situationen als tückisch erwiesen und die gestellten sozialen Erwartungen und ihre Funktion als »Zeichenträger« gerade nicht erfüllen.
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Cover-Erzählungen Begegnungen von Pop und Marke im Originalitätsdiskurs des Werbefilms Melanie Horn
A n der K reuzung Seattle 1953 – der elfjährige James Marshall Hendrix streift mit einem Stück Pizza auf der Hand und ein paar Cents in der Tasche durch die Straßen seines Viertels. Links und rechts der Straße entdeckt er zwei sich gegenüberstehende, nahezu identische Cola-Automaten der konkurrierenden Herstellermarken Pepsi- und Coca-Cola, die das eisgekühlte Getränk zum Preis von je zehn Cent pro Flasche feilbieten. Sich unter diesen Umständen für eines der beiden gleichwertigen Markenprodukte zu entscheiden, hat die Form eines klassischen Paradoxons: Buridans Esel wäre in dieser Situation längst verdurstet. Hendrix jedoch entscheidet sich nach kurzer Abwägung für den Pepsi-Automaten. Eine schicksalhafte Wahl: Während er die Flasche der rasch geöffneten Brause an den Mund setzt, fällt sein Blick auf die Auslagen des Pfandleihauses, vor dem der Pepsi-Automat steht. Im Schaufenster prangt eine neuwertige Fender Telecaster, die seit 1951 unter diesem Namen produzierte, erste industriell gefertigte E-Gitarre mit Massivkorpus – und damit das heißeste, was der Markt zu diesem Zeitpunkt zu bieten hat. Vor seinem inneren Ohr, und in einer Art akustischer Mitsicht auch vor demjenigen des Zuschauers, ertönt augenblicklich das berühmte Riff von »Purple Haze« (dumdumdumdum). Der dazugehörige Song, Hendrix’ erste selbst komponierte Hitsingle, handelt wahlweise von einem das lyrische Ich verhexenden Mädchen und/oder einer verstörenden Traumerscheinung (lila Nebelschwaden) oder von einem Drogentrip; immerhin ist ›Purple Haze‹ eine Cannabissorte. »Purple Haze« wird 1967 das Genre des Psychedelic Rock mitbegründen und mit dem Einsatz von Verzerrern und dem berühmten, dissonanten ›Teufelsakkord‹ musiktheoretische Gewissheiten herausfordern. Der junge James wagt einen Blick auf die andere Seite der Straße. Hinter dem Coca-Cola-Automaten befindet sich
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»Bob’s Accordion World«, ein Akkordeon An- und Verkauf. Wieder erklingt das Riff, diesmal in der folkigen Akkordeon-Version, die gleich auf mehreren Ebenen (Lautstärke, Sex-Appeal, nicht elektrisch) nicht zündet. »Whew, that was a close one« heißt es in einer Texteinblendung, die das filmische Geschehen auktorial kommentiert. Im Abspann lässt sich der Junge vom Pfandleiher die begehrte E-Gitarre zeigen. Die märchenhafte Szene, die hier augenzwinkernd und im Schutze der Freiheiten werberischer Fiktion Jimi Hendrix’ musikalischen Initiationsmoment erzählt, stammt aus dem Werbespot »Crossroads«1 der Agentur BBDO New York, den Pepsi 2004 in der Pause des amerikanischen Superbowl schaltete. Kleinlichere Pop-Chronisten könnten monieren, dass Hendrix im Sommer 1953 noch keine elf, sondern erst zehn Jahre zählte, als Kind aus bettelarmen Verhältnissen wohl kaum Taschengeld für Fastfood und Softdrinks bekommen haben dürfte und vor seiner ersten (nebenbei: akustischen) Gitarre bereits Mundharmonika und Ukulele gespielt hatte. Als seine erste elektrische Gitarre gilt gemeinhin die Supro Ozark 1560 S, die ihm sein Vater 1958 in einem Musikgeschäft in Seattle kauft. Hendrix’ späteres Signature-Instrument und »Liebe seines Lebens«,2 die weiße Fender Stratocaster, soll ihm schließlich
1 | Ich danke Heinz Drügh für den Hinweis auf das gleichnamige Roadmovie bzw. den Coming-of-Age-Film »Crossroads« aus dem Jahr 1986 (Regie: Walter Hill), auf den der Werbespot augenscheinlich anspielt. Im Mittelpunkt des Films steht der Mythos um einen Pakt mit dem Teufel an einer Straßenkreuzung, den der früh verstorbene ›King of the Delta Blues‹, Robert Johnson, in seinem lange Zeit verloren geglaubten Song »Cross Road Blues« (1936) besingt und der Legende nach auch selbst eingegangen sein soll. Sowohl Jimi Hendrix als auch Bob Dylan nennen Johnson als wichtigen musikalischen Einfluss. Im Film macht sich Eugene, ein weißer Musikschüler aus New York, nach Harlem in ein Altenheim für Strafgefangene auf, um den dort inhaftierten schwarzen Bluesmusiker Willie Brown nach dem verschollenen Bluessong von Robert Johnson zu befragen (von »my friend Willie Brown« ist auch im Song »Cross Road Blues« die Rede). Aus dieser Begegnung entspinnt sich ein Roadtrip nach Mississippi zu den Wurzeln des Blues. Parallelen zwischen dem jungen Jimi Hendrix im Werbespot und dem jugendlichen Protagonisten Eugene sind durchaus erkennbar: Auf der Reise entscheidet sich auch Eugene gegen die klassische Musikerausbildung und für den schwarzen Bluesrock, indem er bei einem Händler eine elektrische Gitarre ersteht. In einer Schlüsselszene des Films (44:15) erzählt Eugene seiner ersten großen Liebe Frances sogar, sein autoritärer Vater habe ursprünglich für ihn vorgesehen gehabt, das Akkordeonspiel zu erlernen – eine offenbar indiskutable Option, die von beiden mit einem wissenden Lachen quittiert wird. 2 | Die Aussage, die Fender Stratocaster sei Jimi Hendrix’ große Liebe gewesen, stammt von Shiroky selbst. Vgl. Theweleit, Klaus/Höltschl, Rainer: Jimi Hendrix. Eine Biografie, Berlin: Rowohlt 2008, S. 75.
Cover-Erzählungen
1966 seine Freundin Carol Shiroky – ein Callgirl – geschenkt haben. Doch um historische Akkuratheit geht es hier gar nicht. Konsumgesellschaften sind Gesellschaften der Wahl. Analog zu Paul Watzlawicks metakommunikativem Axiom – man kann nicht nicht kommunizieren – ist die Notwendigkeit der Wahl in kapitalistisch organisierten Gesellschaften nicht verhandelbar. »Das Wählen an sich […] steht nicht zur Debatte«3 schreibt etwa der Soziologe Zygmunt Bauman. Faktisch stehen Produktwahl und Kommunikation in fortgeschrittenen Konsumgesellschaften in einem engen Verwandtschaftsverhältnis. Produkte haben zwar einen Gebrauchs- und einen Tauschwert, sind aber auch semantisierte Objekte, kurz: Zeichen, mit denen postmoderne Konsumenten theoretisch ein ganzes »Pantheon der Selbste«4 aufführen und ausprobieren können. Um versiert über Konsumgegenstände zu kommunizieren, bedarf es allerdings über die Einzelwahl hinaus kuratorischen Geschickes des Zeichenverwenders, denn, so Grant McCracken: The meaning of a good is best (and sometimes only) communicated when this good is surrounded by a complement of goods that carry the same significance. Within this complement, there is sufficient redundancy to allow the observer to identify the meaning of the good. In other words, the symbolic properties of material culture are such that things must mean together if they are to mean at all. 5
Wo es aber um eine (syntagmatische) Zusammenstellung von Zeichenmengen aufgrund von (paradigmatischen) Ähnlichkeitsbeziehungen geht, handelt es sich nach Roman Jakobson bekanntlich um einen poetischen Text. Folgt man McCracken in seiner Annahme, man könne in der Konsumkultur nur über Arrangements von überwiegend signifikant ähnlichen Gütern Bedeutung transportieren bzw. ›Lesbarkeit‹ erzeugen, ließe sich behaupten, dass die Sprache des Konsums – in der der Einzelne persönliche Vorlieben, Prioritäten, tatsächliche und gewünschte Zugehörigkeiten, in letzter Konsequenz also: sich selbst ausdrückt – immer schon eine poetische ist. Spinnt man diese Überlegungen weiter, lässt sich Werbung als Text (Film, Bild, Schrift…) gewordenes Experimentierfeld begreifen, das diese kuratorische bzw. poetische Arbeit des Konsumenten versuchsweise vorwegnimmt und dabei Äquivalenzen (und Differenzen) behauptet, d.h. Produkt- und Markenbedeutungen über gezielte Zusammenstellungen von zeichenhaften, kon3 | Bauman, Zygmunt: Leben als Konsum, Hamburg: Hamburger Edition 2009, S. 111. 4 | Karmasin, Helene: Produkte als Botschaften. Konsumenten, Marken und Produkt strategien, Landsberg am Lech: mi 2007, S. 253. 5 | McCracken, Grant: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington: Indiana University Press 1990, S. 121.
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sumierbaren Dingen mitkonstituiert. Im Packshot von »Crossroads« klingt das Ergebnis dieser kuratorischen Bemühungen so: »Nothing sounds better than pizza and Pepsi.« Der Spot erweitert diesen metonymischen Gleichklang (›sound‹) einer bestimmten Produktgruppe mit einem Markenprodukt (Pizza und Pepsi) um ein Produkt der Pop-Musik: die über eine käufliche E-Gitarre erzeugten Klangwelten von Jimi Hendrix. Diese werden – so soll man es wohl lesen – gegen den traditionelleren Folk eines Bob Dylan (»Bob’s Accordion World«) in Stellung gebracht. Dylan, der ganz Amerika 1971 im Song »When I Paint My Masterpiece«6 zum »land of Coca-Cola« und damit die Konkurrenz zu einem nationalen Symbol erklärt hatte, veröffentlichte zwar erst 2009 ein Album, in dem das volkstümliche Akkordeon eine tragende Rolle spielt.7 Akkordeonversionen seiner Songs sind aber durchaus keine Seltenheit, auf Videoplattformen wie Youtube finden sich zahlreiche Amateurvideos von Harmonikaspielern, die ihre Versionen von »Blowing In The Wind« oder »Knocking On Heavens Door« zum Besten geben. Weil gerade Dylans frühe, melodische Protestsongs längst internationales Volksliedgut geworden sind, wirken derartige Aneignungen nicht lächerlich oder skurril – ganz im Gegensatz zur Akkordeonversion eines Songs wie »Purple Haze«. Über die künstlerische Beziehung zwischen Hendrix und Dylan ist bekannt, dass sie von wechselseitiger Verehrung gekennzeichnet war, wenngleich sie sich privat nur flüchtig kannten. Hendrix zumal war ein großer Bewunderer von Bob Dylan und trug – so besagt es der Mythos – stets ein Liederbuch mit dessen Kompositionen bei sich. Seine elektrifizierte Version von Dylans »All Along the Watchtower«,8 die er 1968, kurz nach dem Erscheinen des Originals, auf seinem wohl bedeutendsten Album »Electric Ladyland« sowie als Single veröffentlichte, gilt in der Popgeschichte als eine der wenigen Coverversionen, die stimmiger sind als ihre Vorlagen. Dylan selbst, der auf »John Wesley Harding« eigentlich eine Rückkehr zu seinen FolkWurzeln und eine damit einhergehende Abkehr vom Rock unternommen hatte, zeigte sich begeistert. Seit Hendrix’ Tod im Jahr 1970 orientierte er seine eigene Live-Performance des Songs an dessen Interpretation; über die merkwürdige Verkehrung von Original und Replik schreibt er 1985 im Begleitheft zu seiner ersten Kompilation »Biograph«: »Strange how when I sing it, I always feel it’s a tribute to him in some kind of way.«9 Christian Huck nennt diese Formen der eigenständigen, kreativen Aneignung von bestehendem Songmaterial ›interpretive covers‹. Sie würden häufig abgegrenzt von künstlerisch wertlosen Formen: den (a) werkgetreu 6 | The Band: Cahoots (1971), Capitol. 7 | Dylan, Bob: Together Through Life (2009), Columbia. 8 | Originalversion: Dylan, Bob: John Wesley Harding (1967), Columbia; Coverversion: The Jimi Hendrix Experience: Electric Ladyland (1968), Track (UK)/Reprise (US). 9 | Booklet zum Box-Set Dylan, Bob: Biograph (1985), Columbia.
Cover-Erzählungen
imitierenden ›reduplication covers‹ (etwa von Tribute-Bands) und den (b) auf marktgängige Sparten oder Stimmungen hin konfektionierten kommerziellen Zweitverwertungen (etwa Fahrstuhlmusik)10 – man könnte sie in Ermangelung eines eingeführten Fachterminus als ›ambience covers‹ bezeichnen. Den Einzug eines E und U innerhalb der Coverkultur führt Huck auf die (in Pop 2 längst obsolete?) postromantische Ideologie von Rock und Rockkritik zurück, die Popmusik mit einem Kunstanspruch versieht und ästhetische Kategorien der Authentizität, Originalität, Eigenständigkeit verteidigt. Er selbst spricht, in Verwandtschaft zu Diederichsens Sound-»Attraktionen«,11 von dem »gewissen ›Etwas‹ […], welches mich als Popmusikhörer angeht«12 und das eine gelungene Coverversion in einen neuen Kontext zu transponieren vermag. Was immer es ist, das Jimi Hendrix’ psychedelisch-experimentelles Dylan-Cover originaler als das Original klingen lässt (vermutlich spielen Wahl und Einsatz des richtigen Instruments eine tragende Rolle), eine inverse Aneignungsfigur jenseits der bloßen Wiederaneignung – sprich: Dylan covert Hendrix – ist eher unwahrscheinlich. Breitet man die popmusikalischen Kontexte dergestalt aus und legt sie neben den Werbespot, wird deutlich, dass die konsumästhetische Versuchsanordnung hier mehr tut, als warenförmige PopMusik und popförmige Markenprodukte paradigmatisch anzuordnen und antagonistisch gegeneinander antreten zu lassen: Pepsi, E-Gitarre und Hendrix als cooles, kraftvolles Stil-Ensemble hier, Coca-Cola, Akkordeon (und Dylan, sofern die Referenz erkannt wird) als veraltetes, reizloses Arrangement dort. Für eingeweihte Popmusikfans, die bei »Bob’s Akkordion World« sofort Bob Dylan assoziieren und denen »All Along The Watchtower« als markantester musikalischer Berührungspunkt zwischen den Pop-Künstlern geläufig ist, zieht der Spot eine weitere Bedeutungsschicht ein. Sie kann nur decodiert werden, wenn dem Adressaten die erstaunliche punktuelle Entwertung des Autorschafts- und Originalitätsmodells in der Popmusik durch Hendrix’ Dylan-Cover bekannt ist. Die Strukturanalogie zum seit den 1970er Jahren schwelenden Cola-Krieg zwischen Pepsi und Coca-Cola lässt sich dann folgendermaßen auserzählen: Coca-Cola mag die Ur-Cola 1886 in einer Apotheke in Atlanta erfunden haben, so wie Bob Dylan Urheber des besagten Songs ist, den er 1967 in den Colum10 | Vgl. Huck, Christian: »Coverversionen. Zum populären Kern der Popmusik«, in: Pop. Kultur & Kritik 4 (2014), S. 154-173, hier S. 159. 11 | Bei Popmusik geht es laut Diederichsen nicht nur um das Songwriting, sondern »zum einen um die […] kontingenten Punctum-Effekte, zum anderen um Totem-Sounds und andere punktuelle Soundzeichen und Signature-Sounds, die geeignet sind, im Schutze der Musik Bedeutungen anzunehmen, und schließlich um Sound-Färbungen.« (Diederichsen, Diedrich: Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 52.) 12 | C. Huck: Coverversionen, S. 154.
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bia Recording Studios aufnimmt. Pepsis idiosynkratische Appropriation der Cola-Grundrezeptur ist aber so gut, dass sie – poptheoretisch gesprochen – als ›interpretive cover‹ zu verstehen ist; mehr noch: als Sonderfall der Markengeschichtsschreibung, in der das ›Cover‹ die Originalversion übertrifft, zu »der Cola« – sprich: generisch – wird. Denn genauso wie Dylan Hendrix’ spektakuläre Interpretation von »All Along the Watchtower« nicht nur als rätselhaftes Originalformat akzeptiert, sondern aufgrund ihrer außerordentlichen Qualität in einer Art künstlerischen Rückkopplungsschleife sogar imitiert, hatte CocaCola die geheime Original-Rezeptur ihres Softdrinks 1985 kurzzeitig an diejenige von Pepsi angeglichen, als sich herausstellte, dass die süßere Pepsi-Cola im Blindtest bei den Probanden besser abschnitt. Die New Coke (als Cover des Covers) allerdings floppte, vergleichbar mit Dylans Griff zur elektrischen Gitarre beim Newport-Festival 1965: Die Fans wollten den Originalgeschmack bzw. -sound ›ihrer‹ Ikone zurück. Freilich kommt hier die Analogie zwischen Pop und Marke an ihr Ende: Während Dylan seine Hörer immer wieder programmatisch frustriert und somit ganz markenuntypisch gerade die Unberechenbarkeit und den Neuanfang zu künstlerischen Prinzipien erhebt, macht Coca-Cola die geschmackliche Anverwandlung an die Konkurrenz postwendend rückgängig. Im Gegensatz zum Kunst- und Innovationsanspruch der von Diederichsen als Pop 1 bezeichneten frühen Popmusik zwecken Marken schließlich seit ihrer Erfindung an der Schwelle zum Spätmittelalter auf eine Konservierung eines einmal eingeführten Standards ab, die eine entlastende Kontinuität von Produktqualität und Preis, aber eben auch Ästhetik oder Rezeptur verspricht: »Marken versichern Qualität, signalisieren Sicherheit, vermitteln Vertrauen«.13 Die Kunst hingegen, deren Nähe die Popmusik immer wieder gesucht hat, will Josef Früchtl zufolge die Bereitschaft im Rezipienten hervortreiben, sich nachgerade »verunsichern, reizen und herausfordern zu lassen«, kurzum: eine »Irritationskompetenz auszubilden«.14 Entscheidend ist aber, dass der Pepsi-Spot die Wahl zwischen den beiden großen Cola-Marken überhaupt mit Entscheidungspraktiken innerhalb der Popmusikkultur engführt. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass das Konkurrenzprodukt in der Werbefilmdiegese mit dargestellt wird, sondern auch, dass die rivalisierenden Markenprodukte als nahezu gleichwertige Optionen erscheinen. Den einzigen Unterschied, neben Farbe und Markensignatur, verraten die Schriftzüge auf den jeweiligen Getränkeautomaten: Während CocaCola nur »cold« ist, ist Pepsi »ice cold«. Diese besondere Coolness ist nun aber 13 | Hellmann, Kai-Uwe: Soziologie der Marke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 11. 14 | Früchtl, Josef: Vom Nutzen des Ästhetischen für eine demokratische Kultur. Ein Plädoyer in zehn Punkten, in: Brombach, Ilka/Setton, Dirk/Temesvári, Cornelia (Hg.): »Ästhetisierung«: Der Streit um das Ästhetische in Politik, Religion und Erkenntnis, Zürich: diaphanes 2010, S. 119-132, hier S. 131.
Cover-Erzählungen
nicht etwa ein Effekt des Gebrauchswerts, sondern verdankt sich einem intimen Näheverhältnis zum Pop (präziser: ausgesuchten Pop-Stilen). An diesem Punkt wird der Werbefilm selbstreferentiell, denn er legt eine grundlegende Verfahrensregel von Pop-Werbung offen: Die Verbindung zwischen Automat und Musikgeschäft, lies: die paradigmatische Beziehung zwischen dem Life stylegetränk und der ›richtigen‹, d.h. unweigerlich anziehenden Popmusik, ist – so zeigt der Spot – keineswegs notwendig oder kausal, sondern wird über räumliche Nachbarschaft (= syntagmatische Verknüpfungen) hergestellt, über Werbeangebote also allererst vermittelt oder zumindest integral mitkonstituiert. Zwar gerieren sich diese anempfohlenen Syntagmen eher als lockere, jederzeit aufkündbare Wahlverwandtschaften15 denn als feste Verbindungen. Nichtsdestotrotz trägt Werbung zur popkulturellen Geschmacksbildung bei, indem sie den Pop-Zeichen ein mediales Schaufenster bereitstellt. Hätte Pepsi den angehenden Popmusiker nicht an den coolen Sound herangeführt, wäre Hendrix nie zum Gitarrengott avanciert. Der gesamte Duktus des Spots, kulminierend im Werbekommentar: »Whew… that was a close one.«, zeigt aber an, dass die behauptete existenzielle Schwere der Wahl schlussendlich mit einem Augenzwinkern bzw. einer poptypischen Leichtfüßigkeit rezipiert werden soll. Liest man den Namen des Akkordeonshops nämlich tatsächlich als Hinweis auf Bob Dylan und nicht als unspezifischen Marker einer Volksmusikkultur, welche »die dicke Trennlinie«16 zwischen dem Popgeschmack und dem indiskutablen »Nicht-Geschmack des Normalbürgers«17 überschreitet, ist die Entscheidung zwischen Cola und Pepsi nicht als substanzielle Weichenstellung zu begreifen. Vielmehr geht es um ästhetische Verfeinerungspraktiken und lustvolle Parteinahmen innerhalb der »insgesamt akzeptablen«18 Sphäre der Pop-Communitas. Darin gleicht der Cola-War dem ›Battle Of The Bands‹ zwischen Blur und Oasis, die der Ich-Erzähler in Benjamin von Stuckrad-Barres Poproman »Soloalbum« schon 1998 als »Quatschkampf« bezeichnete: »Mei15 | Ein naheliegendes Beispiel für diese Wahlverwandtschaften sind die Zulieferabkommen von McDonald’s und Burger King mit Coca-Cola bzw. Pepsi. Gab es in früheren Jahren klare Zuordnungen, verkauft Burger King mittlerweile beide Marken-Colas – abhängig von den Vorlieben der Käufer in der jeweiligen Region. McDonald’s begann 2007 seinerseits, sich in seiner Getränkepolitik von der Beschränkung auf Coca-Cola-Produkte zu lösen und verkaufte erstmals zu Pepsi gehörige Drinks und Säfte wie Gatorade, Tropicana und Lipton-Eistee. Auch die Sponsoring- und Werbeverträge mit Popmusikern sowie die Musiklizenzen ihrer Songs sind lediglich zeitlich begrenzte Zusammenkünfte von Pop und Marke. 16 | Baßler, Moritz: »Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur«, in: Pop. Kultur & Kritik 6 (2015), S. 104-127, hier S. 111. 17 | Ebd. 18 | Ebd.
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ner Meinung nach können die Bands musikalisch friedlich koexistieren, das hat doch wirklich kaum was miteinander zu tun. Beides super Bands. Oder – Blur: super, Oasis: supersuper.«19 So ähnlich sagt das ja auch der Spot: CocaCola: cool, Pepsi: supercool.
D u hast den R ichtigen , B aby ! (U h -H uh) Die Praxis, den kritischen Moment der Wahl und somit das Panorama paradigmatischer Alternativen derart offensiv zur Schau zu stellen, ist in der jüngeren Werbekultur, zumal der deutschen, eher eine Seltenheit. In der Regel entwirft die Werbung, seit sie als Lifestyle- und Kreativwerbung in Erscheinung tritt, monolithische fiktionale Welten, in denen das vorgeführte Markenprodukt keine Option, sondern das Ergebnis einer vorausgegangenen klugen Entscheidung ist. Man denke etwa an die ›Bacardi-Feeling‹-Kampagne aus den frühen 1990ern, die das Produkt fernab jeden Supermarktes an den Strand einer einsamen Karibikinsel verfrachtet, wo es Lockerheit und Partystimmung garantiert. Werbung ist hier die fortgesetzte Affirmation einer von vornherein entschiedenen Wahl: Sie versichert ihren Kunden via werberischer Wunschweltmodellierung, auf das einzig richtige Produkt zu setzen bzw. gesetzt zu haben, indem sie das vielversprechende ›Danach‹ ausgestaltet. Explizit macht diesen stets mitlaufenden Subtext (= Du hast den Richtigen, Baby!) eine weitere Superbowl-Pepsi-Kampagne, die von 1990 bis 1993 im amerikanischen Fernsehen läuft und in vielerlei Hinsicht stilprägend für all jene späteren Werbekampagnen ist, die Coverversionen von Popsongs nicht nur als Hintergrundmusik (zum Beispiel in Form eines ›ambient covers‹) einsetzen, sondern sie nutzen, um Markennarrative an Originalitätsdiskurse im Pop anzuschließen. Im wohl bekanntesten Spot der Kampagne (erster Spot der dreiteiligen Superbowl-Serie von 1991, BBDO New York) sitzt der stets bestens gelaunte Ray Charles – umschmeichelt von drei freizügig gekleideten Raelette-Lookalikes – am Klavier, vor ihm eine Dose Pepsi-Cola: »You got the right one Baby« beglückwünscht er sich und den designierten Pepsi-Trinker am heimischen Bildschirm im für ihn geschriebenen Werbesong (»Ray’s Song«) zur bereits getroffenen Wahl. Das Arrangement ist keineswegs neu: Ein Jahr zuvor sitzt Elton John beim Superbowl bereits für Diet Coke am (auf dem, neben dem) Klavier und preist im Duett mit einer leicht überdrehten Paula Abdul den guten Geschmack der Diätversion von Coca-Cola. Doch erst der seit seiner Kind-
19 | Stuckrad-Barre, Benjamin v.: Soloalbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S. 210.
Cover-Erzählungen
heit erblindete ›King of Cool‹ mit seinen heißen ›Backgroundsängerinnen‹20 und dem eingängigen, R&B-förmigen Pepsi-Jingle mit dem idiosynkratischen »Uh-Huh« entwickeln popkulturelle Durchschlagskraft. Die Songzeile gerät in den USA zur ubiquitären Catchphrase21 der 1990er Jahre, die sogar ins PopTV zurückwandert: In der dritten Staffel der TV-Show The Fresh Prince of Bel-Air (deutsch: »Der Prinz von Bel-Air«) etwa bedauert Will, dass sein Onkel Phil Banks ihm wohl kaum erlauben würde, die sexy ›Uh-Huh-Girls‹ für ein Werbevideo anzuheuern, in dem sich Phil den Wählern als Kandidat für das Amt des Richters am Obersten Gerichtshof empfiehlt: »Banks is the right one, Baby. Uh-Huh.«22 scherzt Will. Was für den Rechtsanwalt mit karrieristischen Ambitionen die Grenzen der Seriosität weit überschreitet, ist für den in die Jahre gekommenen Popstar Ray Charles ein angemessenes Arrangement. Wie im Hendrix-Spot besteht der Reiz der Lektüre aber nicht nur in der Präsentation sinnlich ansprechender akustischer und visueller Oberflächen, sondern auch darin, dass der Clip im doppelten Sinne intertextuell verfährt: Seine vollumfängliche Bedeutung setzt auch hier Pop-Kennerschaft und Werbe-Expertise gleichermaßen voraus, sodass sich der Spot als Feld erweist, auf dem der Zuschauer popkulturelles sowie konsumkulturelles Kapital zur Schau stellen, genießen oder erwerben kann.23 Denn die Zeile »You got the right one, Baby« referiert auf einen Spot aus dem Vorjahr (1990), der seine Pointe wiederum aus der Doppelsinnigkeit des Begriffs ›Blindtest‹ bezieht. Um ihn zu verstehen, muss man zum einen über Ray Charles’ Handicap informiert sein und zum anderen Pepsis oben ausgeführte erfolgreiche Blindstudien in den 1970er Jahren kennen. Der blinde Sänger und Pianist bekommt darin, während er emphatisch seine persönliche 20 | Ein Artikel im People-Magazine klärt 1993 auf, dass die drei ›Uh-Huh-Girls‹ die namengebenden Laute (trotz eigenen popmusikalischer Ambitionen) nur lippensynchron nachahmen würden. Sie seien aus einer Gruppe von vierhundert Tänzerinnen, Models und Sängerinnen gecastet worden, würden aber fälschlicherweise häufig mit den Raelettes (Ray Charles’ lang jährigen Hintergrundsängerinnen) oder dem R&B-Quartett En Vogue verwechselt werden. Vgl. O.A.: »Uh-Huh, Girls«, in: People Magazine vom 20.12.1993, online abrufbar unter: http://people.com/archive/uh-huh-girls-vol-40no-25/, letzter Aufruf: 15.11.2017. 21 | Vgl. Lydon, Michael: Ray Charles: Man and Music; Updates Commemorative Edition, London: Routledge 2004, S. 377. 22 | The Fresh Prince of Bel-Air (USA 1990-1996, P: Borowitz, Andy/Borowitz, Susan), Staffel 3, Folge 9 (»A Night at the Oprah«), Erstausstrahlung 1992. 23 | Zum Konzept des popkulturellen Kapitals vgl. Hinz, Ralf: Die hohe Kunst der Kopie. Überlegungen zur Geschmackssoziologie der Coverversion in der populären Musik, in: Fehrmann, Gisela (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln: DuMont 2004, S. 258-272, hier S. 259-263.
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Vorliebe für die Diet Pepsi bekundet, eine Dose des ›falschen‹ Getränks (Diet Coke) vorgesetzt, bemerkt den Trick aber postwendend, sobald er den ersten Schluck probiert hat: »Ah, now who’s the wise guy?« fragt er amüsiert ins Off – Gelächter im Hintergrund. Hier etabliert sich die R&B-Legende bereits in den ersten Minuten als mitreißende ›Cool Cat‹ am Klavier sowie wenig später als lässiger, humorvoller Connaisseur, der die Gesetze des Pop und der zeitgenössischen Werbung gleichermaßen durchschaut und zu seinem Vorteil nutzt. »In the post-Levi’s age of Individuality«, so konstatieren Robert Goldman und Stephen Papson in ihrer Studie »Sign Wars« von 1996, »jokes based on a handycap are acceptable.«24 Der vermeintliche Makel wird zur persönlichen Signatur, der selbstironische Umgang mit ihm zum Ausweis von Coolness und Überlegenheit. Aufschlussreich für den Originalitätsdiskurs in der frühen Pop-Werbung25 ist aber vor allem ein weiterer Clip aus der Superbowl-Serie von 1991 mit dem Titel »Auditions«.26 Schon dreizehn Jahre vor »Crossroads« wird hier u.a. das Akkordeonspiel als Inbegriff des Uncoolen und Epigonalen gegen ein genialisches Original in Stellung gebracht. In »Auditions« ›ärgert‹ sich der »Grandpa of Pop«27, freilich hintersinnig lächelnd, also im Modus des Spielerisch-Unernsten, über die zeitgenössische Hybris dilettantischer Kopisten: »These days as soon as you get a hit song everybody thinks they can sing it better.« Was folgt, ist eine musikalische Freak-Show, die ihresgleichen sucht: Von der bieder gekleideten Bildungsbürgerin, die den Jingle in der Art und Ernsthaftigkeit der Arie der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte vorträgt, bis hin zum zünftig gekleideten bayerischen Volksmusiker mit besagtem Akkordeon zieht der Spot sämtliche Register. Unter den Gecasteten befinden sich auch professionelle ›Freaks‹ wie der mehr krächzende als singende Slapstick-Komiker Jerry Lewis, der schon in den 1940er und 1950er Jahren als Duett-Partner von Dean Martin den musikalischen Dilettanten mimt, Las Vegas-Diva Charo28 und der exzentrische Falsettsänger Tiny Tim, der den Song auf der Ukulele performt. 24 | Goldman, Robert/Papson, Stephen: Sign Wars. The cluttered landscape of advertising, New York: Guilford Press 1996, S. 76. 25 | Unter Pop-Werbung verstehe ich jede Art von Markenwerbung, deren Ästhetik sich in weiten Teilen auf Verfahren und Zeichen der Popkultur, z.B. der Popmusik, stützt. 26 | Ich beziehe mich im Folgenden auf die Langversion des Spots (0:60 min). 27 | M. Lydon: Ray Charles: Man and Music, S. 377. 28 | Charo (*1951) ist eine in Spanien geborene US-amerikanische Sängerin, Schauspielerin und Flamenco-Gitarristin, die wie Ray Charles und Frank Sinatra eine eigene Show in Vegas hatte. Ihre Markenzeichen sind Ausruf »cuchi cuchi«, der sich nach eigenen Angaben auf das Hüftwackeln ihres Hundes bezieht, knappe Glitzerkleidchen und das durch Schönheitsoperationen geformte Äußere.
Cover-Erzählungen
Komisch, aber auch blamabel sind die hintereinandergeschalteten laienhaften Cover-Versionen von »Ray’s Song« nicht nur wegen ihrer zweifelhaften musikalischen Qualitäten. Was ihnen fehlt, ist vor allem die Pose, in heutiger Terminologie könnte man sagen: der ›Swag‹. Ob inbrünstig geschmetterte Arie, enthusiasmiert gekiekste vokale Flamencobegleitung, schmalzige Schlagernummer mit kitschigem Vibrato oder kraftstrotzende Crossover-Adaption: Die Aneignungen des Prätextes zeugen von einem ausgeprägten Willen zur mal hochkulturellen, mal folkloristischen, mal genretypischen Stilisierung oder Wiederholung des Einzigartigen. Jene Formen des Overacting wirken in ihrer Unbeholfenheit (= dem Verfehlen des Punctums) peinlich und sind nur durch das Wissen um ihren kalkulierten Einsatz als Stilmittel (wie bei Jerry Lewis) oder eine campy Lesart in den Pop hinüberrettbar.29 Verstärkt wird die Unzulänglichkeit des Vortrags noch dadurch, dass einige Kandidaten die kritische Distanz zu ihrer defizitären Vorstellung vermissen lassen: »I thought I was great« lautet etwa die wenig bescheidene Einschätzung des weißhaarigen Schlagerbarden. »There’s only one right one, Baby« kommentiert der ›Hohepriester des Soul‹ schlicht und performt die Werbephrase noch einmal im Original. Eigentlich gibt es in diesem Setting natürlich mindestens zwei Originale: Ray Charles und Pepsi Cola. Dabei ist Pepsi durchaus bewusst, dass auch laienhafte Coverversionen bzw. ›billige‹ Imitate, im deutschen Raum wären das wohl Cola-Getränke vom Format der Aldi River-Cola oder aber – zumindest aus der Warte von Pepsi – Coca-Colas Versuche, Pepsis Werbestrategien zu adaptieren, keineswegs nur problematisch sind.30 Jenseits des hierarchischen Gefälles von Primärem zu Sekundärem lässt sich das Verhältnis von Original und Kopie nämlich als eines der wechselseitigen Dependenz beschreiben: Originale begründen nicht nur eine Vielzahl von kulturellen Diskursen, sondern werden über diese allererst als Originale konstituiert. In den unterschiedlichen Praktiken des 29 | Zum Wesen des naiven Camp (der hier freilich vom Werbespot vorfabriziert und daher lediglich vorsätzlich naiv ist) gehört nämlich bekanntlich gerade jenes unbewusste Overacting, ein ›Zuviel‹, das der Camp-Geschmack umwertet und schätzt. Vgl. Sontag, Susan: Anmerkungen zu ›Camp‹, in: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M.: Fischer 2012, S. 322-341; insbesondere Paragraph 24 u. 26 (S. 331). 30 | So rief Pepsi bzw. BBDO im Jahr 1991 tatsächlich einen landesweiten Gesangswettbewerb (›Uh-Huh-Contest‹) aus, der wohl auch die Idee zum Clip Auditions anstieß, womit Pepsi auch im Bereich der nutzergenerierten Inhalte im Marketing visionäre Qualitäten bewies. Mehr als 4000 Videos wurden eingesendet, die zehn besten wurden prämiert und 1992 teilweise wiederum in einem Werbevideo kompiliert. Online abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=oPslpl-wtVs.
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Melanie Horn Kopierens, Imitierens, Simulierens oder Reproduzierens und den daran anschließenden Diskursen ästhetischer, juristischer und ökonomischer Ausrichtung werden erst jene Transkriptionsleistungen vollbracht, die etwas in den Status eines Originals überführen und es als Original ausweisen. 31
Diese Blickrichtung nimmt der letzte hier besprochene Spot aus Pepsis 1991er-Superbowl-Serie ein (»Caught On«). Umringt von den drei Uh-HuhGirls sitzt Ray Charles jammend am Klavier, als er sich jäh unterbricht: »You know I just love this new Diet Pepsi Song – but do you think it’s caught on yet?« will er von den Mädchen wissen. Anstelle einer Antwort schließen sich fiktive Szenen an, die aufweisen, in welch immensem Umfang der Song bereits ins transkulturelle Gedächtnis eingesickert ist: Afrikanische Ureinwohner stimmen ihn bei ihren rituellen Tänzen an, ein indischer Guru predigt ihn, Mitglieder einer afro-amerikanischen Gemeinde führen ihn als Gospel auf, japanische Geishas singen ihn während einer Choreographie, buddhistische Mönche summen ihn, im amerikanischen Footballstadion infiltriert er die Fangesänge. Rückblende zu Ray Charles: »You think it’s caught on yet? Nyah.« gibt dieser sich zur allgemeinen Erheiterung unwissend bzw. bescheiden. Erst das Cover, verstanden als Überführung und Einpassung des Songs in neue kulturelle Kontexte, zeigt hier also, dass er ›eingeschlagen‹ hat und fortan Originalitätsstatus beanspruchen darf. Der Witz besteht freilich darin, dass es sich bei den vorgeführten Praktiken des Sekundären gar nicht im engeren Sinne um Coverversionen handelt, d.h. um musikalische Umarbeitungen vorgefundenen Materials zum Zweck der mehr oder weniger kunstvollen Unterhaltung. Vielmehr schreibt der Spot dem profanen Werbejingle eine solche semiotische Wucht zu, dass seine Derivate sogar in die geschützten und streng regulierten sowie reformträgen Räume der religiösen und quasi-religiösen Kultpraktiken einwandern, seien es Kirchen oder Stadien. Wenn der Werbesong allerorten von so hoher, ja höchster kultureller Stelle kopiert wird, erhebt ihn das zu mehr als einem Original: er mutiert zum kulturübergreifenden Archetypus, zur Ikone. Selbstverständlich ist diese Überhöhung des profanen Jingles als werberische Übertreibung zu verstehen, die das Stilmittel der hyperbolischen Erzählung einsetzt, um auf die durchaus beachtliche kulturelle Mobilität von »Ray’s Song« zu verweisen, den Journalisten in den 1990er Jahren verschiedentlich als Ray Charles’ größten Hit bezeichnen.32 Doch was ist es, das einem Original seinen Originalitätsstatus verschafft, vor allem dann, wenn man – wie bei Jimi Hendrix, Elvis Presley oder Pepsi 31 | Fehrmann, Gisela et al.: Originalkopie. Praktiken des Sekundären – Eine Einleitung, in: Dies. et al.(Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln: DuMont 2004, S. 7-17, hier S. 9. 32 | Vgl. M. Lydon: Ray Charles: Man and Music, S. 37.
Cover-Erzählungen
Cola – die zeitliche Vorgängigkeit nicht als notwendiges Kriterium ansetzen kann? Ein letzter Superbowl-Spot mit Ray Charles aus dem Jahr 1992 (»Court room«) gibt darüber einigen Aufschluss. In einer öffentlichen Anhörung treten die drei Uh-Huh-Girls als Zeuginnen33 eines Gerichtsprozesses auf: »Are you in fact the singers on the diet pepsi song: You got the right one baby, uhhuh?« werden sie von einem der Investigatoren befragt. »Uh-Huh« lautet die synchron vorgebrachte Antwort, woraufhin ein erregtes Raunen durch den Saal geht. Auch auf die nächsten beiden Fragen nach der geheimen Zutat von Pepsi (»You have any knowledge of a secret ingredient in Diet Pepsi?«/»An ingredient that gives Diet Pepsi an unfair advantage?«) bleibt die Antwort der Mädchen dieselbe, allerdings ändern sich Intonation und Nachdrücklichkeit: »UH-HUH«. Als der anschließend befragte Ray Charles auf die Frage nach der geheimen Zutat ebenfalls nur ein lässiges »Uh-Huh« hervorbringt, verliert der Oberste Richter die Beherrschung: »Well, what is it?« brüllt er, sich aus seinem Sitz erhebend, in den Saal. Auf dieses Stichwort hin ändert sich die Szenerie: Ray Charles tauscht den vor ihm stehenden Tisch gegen ein darunter verborgenes Klavier ein, die Mädchen streifen ihre biederen Flanellkostüme zugunsten kurzer Paillettenkleidchen ab und in den hinteren Reihen geben sich freizügig gekleidete Showgirls zu erkennen. Auch den schwerfälligen Juristen, die sich klatschend und Pepsi trinkend aus ihren Sitzen erheben, wird schlagartig bewusst, dass das repetitiv vorgetragene »Uh-Huh« mehr ist als ein bestätigendes Responsiv. In Verbindung mit der mitreißenden musikalischen Performance von Ray Charles und deren spektakulärer Rahmung (Vorhang, Backroundtänzerinnen, ›Paylettes‹34) 33 | Jane Caput behauptet, dass der fiktive Pepsi-Gerichtsprozess den Anita Hill-Clarence Thomas Anhörungen im Jahr 1991 nachempfunden wären, in denen die Rechtsprofessorin den für den Obersten Gerichtshof nominierten Richter der sexuellen Belästigung beschuldigte. Die These hat einiges für sich, denn die Kulisse des Spots weist in der Tat signifikante Ähnlichkeiten zur nur ein Jahr zurückliegenden Verhandlung auf, die als »das gesellschaftliche Ereignis in den USA« im Jahr 1991 gilt. Sie ist die erste derartige Anhörung, die als TV-Spektakel (ergo als Pop) inszeniert wird und wird als Initiationsmoment des sogenannten ›Genderquake‹ in den Folgejahren bewertet. (Lenzhofer, Karin: Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien, Bielefeld: transcript 2006, S. 39.) Caputs Behauptung, der Pepsi-Spot mit den drei nahezu identischen und sprachlosen Mädchen würde Frauen wie Anita Hill ihre Integrität und Individualität absprechen und sich implizit für die Unschuld Clarence Thomas’ aussprechen, lässt allerdings die intertextuellen und seriellen Referenzen innerhalb der Sphäre der Werbung unberücksichtigt. Vgl. Caput, Jane: Gossip, Gorgons & Crones. The Fates of the Earth, Santa Fe: Bear & Co 1993, S. 85. 34 | ›Paylettes‹ war einer der scherzhaften Spitznamen für die ›Uh-Huh-Girls‹, der die drei Models als käufliche Version der ›Raelettes‹ hinstellt.
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erweist sich die Phrase selbst als ›geheime Zutat‹ des Diätgetränks. Pepsi dokumentiert hier, vielleicht noch überzeugender als in den vorangegangenen Kooperationen mit Michael Jackson und Madonna, dass die Markenwerbung die Codes des Pop unterdessen treffsicher reproduziert: Die popkulturelle Karriere des ornamental und unbedeutend wirkenden sowie semantisch unterbestimmten »Uh-Huh« zeigt, dass dem Spot die Generierung eines – mit Diederichsen gesprochen – ›punktuellen Sound-Zeichens‹ von enormer Strahlkraft gelungen ist, das weniger das Resultat einer zufälligen Improvisation als das Ergebnis eines ausgeklügelten popaffinen Sound-Designs ist. Bestimmt man Pop mit Georg Diez als das »große JA«35, als kulturelle Verabredung oder vielmehr Einladung, das Selbstbewusstsein, ja die Selbstfeier des Individuums – gerne auch in der gesellschaftlichen Rolle des Außenseiters oder Freaks – ganz oben auf die Werteagenda zu setzen, steht das (selbst-)affirmative »Uh-Huh« geradezu für den Gestus des Pop an sich ein. Einem grundlegenden Missverständnis unterliegen daher all jene Kandidaten in den Pepsi-Auditions, die das ikonische Sound-Zeichen beliebig zerdehnen, einkürzen oder durch Phrasen aus anderen Registern (z.B.: yeehew = wilder Westen) substituieren. Nur wer die ›echte‹ Pepsi mit ihrer maßgeschneiderten Phrase für den ›echten‹ Ray Charles hat, hat also den Pop – und dass dem so ist, lässt sich nur durch performative Evidenz überprüfen: Dem popförmigen Konsum-Spektakel mit seiner theatralen Show-Ästhetik und seiner stilsicheren Attitüde kann sich – zumindest innerdiegetisch – niemand entziehen. Urheberschaft bzw. die von Kritikern und Fans seit den 1960ern als authentisch empfundene Personalunion von Singer und Songwriter spielt dabei, wie schon in Crossroads, keine signifikante Rolle. Ray Charles, der neben eigenen Kompositionen schon immer über ein großes Repertoire von neu arrangierten Standards verfügt, bleibt auch dann der Original-Interpret, wenn der Song, hier von Pepsi-CD Alfred Merrin und dem Werbemusiker Peter Cofield, arbeitsteilig von anderen komponiert wurde. Einzig eine gewisse Meisterschaft in der Beherrschung des gewählten Instruments – E-Gitarre, Klavier, aber auch Stimme – muss sich, zumindest in den Anfangstagen der Popmusik, zu ebenjener, nur performativ belegbaren Charismatik gesellen, auf die es im Pop ankommt.
35 | Diez, Georg: These 1: »Die Versprechungen des Pop ziehen nicht mehr«, in: SZ-Magazin vom 31.12.2009, Heft 53, S. 12, online abrufbar unter: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/32025/These-1-Die-Versprechungen-des-Pop-ziehennicht-mehr, letzter Aufruf 15.11.2017.
Cover-Erzählungen
A rgumentationsfiguren : O f t kopiert,…!? Schlaglichtartig soll abschließend gezeigt werden, wie neuere Werbespots Pepsis Idee, den romantischen Mythos popkultureller Originalität an Markendiskurse anzuschließen, fortschreiben und transformieren. Deutliche Anleihen an Pepsis »Auditions« macht beispielsweise ein Clip aus dem Jahr 2013 für den VW Golf GTI mit dem titelgebenden Claim »Oft kopiert. Nie erreicht.« Er beginnt mit einer Kompilation vermeintlicher Amateurclips in DIY-Optik, wie sie im Web 2.0 auf Videoportalen wie YouTube zu finden sind: Laienmusiker filmen sich selbst oder lassen sich dabei aufzeichnen, wie sie Coverversionen von bekannten Songs – hier: Paul Ankas bzw. Frank Sinatras »My Way« (1969) – vor heimischer Kulisse oder im halböffentlichen Raum aufführen. Sofern es sich nicht um Lehrvideos (Tutorials) handelt, dient diese Art des Vortrags vornehmlich einer ›authentischen‹ Selbstinszenierung, für die das Internet in den letzten zehn Jahren neue mediale Bühnen geschaffen hat. Die millionenfache Netzpräsenz von Homevideos, deren Titel mit »Me singing…« beginnt,36 weist das ›Me Singing-Video‹ gar als eigenes Internetgenre aus. Volkswagen nutzt die Popularität und Unverbrauchtheit dieses neuen Genres, um Pepsis Vorlage ins 21. Jahrhundert zu überführen. War es in »Auditions« noch ein fiktiver Gesangswettbewerb, der das Fremdschämpotential von TV-Castingshows à la »Pop Idol« vorwegnahm, lebt der Spot nun von den kompromittierenden, rührenden, verblüffenden oder erheiternden Versuchen männlicher Aspiranten auf ihre Warhol’schen 15 Minuten viralen Weltruhms. Der Rezipient darf sich dabei einiger besonders eigenwilliger Aneignungen des vielleicht meistgecoverten Songs in der Popgeschichte erfreuen; die Montage bietet etwa eine Adaption für Panflöte, die noch ungeschliffene Gesangseinlage eines Jungen auf dem Schulball und die gequäkte Interpretation eines Rockers, der sich im eigenen Garten auf dem selbstgezimmerten E-Banjo begleitet. Wer möchte, kann den Kampf eines Sinatra-Imitators mit den Rückkopplungseffekten seines Verstärkers durchaus als selbstreflexiven Kommentar auf die imperfekte Bild- und Tonästhetik der mit Web- oder Handkameras erzeugten Videoausschnitte lesen – der inszenatorisch von den Hobby-Filmern kaum mitbedachte Bildausschnitt gewährt im Hintergrund überdies intime Einblicke in deren häusliches Umfeld. In Minute 0:40 der Langversion (1:12) setzt der Spot dann jedoch die ästhetische Zäsur: Die Synopse der ›Fundstücke‹ aus den Archiven des Word Wide Web wird abgelöst durch hochkarätige Filmaufnahmen Hollywood’scher
36 | Vgl. Epting, Peter: Musik im Web 2.0. Ästhetische und soziale Aspekte, Berlin: Logos 2013, S. 143.
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Prägung, die die Handschrift des Filmregisseurs Paul W. S. Anderson37 tragen. Die hyperrealistischen Bilder zeigen einen weißen Golf GTI bei seiner nächtlichen Fahrt über den palmengesäumten Las Vegas Boulevard. Gleichzeitig ersetzt Frank Sinatras kraftvolle und professionell orchestrierte Originalaufnahme von »My Way« aus dem Jahr 1968/69 das Medley der Internet-Amateure: »For what is a man, what has he got/If not himself then he has naught/The record shows I took the blows/And did it my way.« Währenddessen arbeitet sich der Golf GTI bis auf das Dach eines Gebäudes vor, wo er mit einigen Drifts seine sportliche Eleganz beweist. Erst als die Kamera – parallel zum wuchtigen Songfinale – vollständig aus der Szene herauszoomt, wird erkennbar, dass sich der Wagen auf dem Dach des 36-stöckigen 4-Sterne-Casino-Hotels »Treasure Island« befindet. Wem bekannt ist, dass die geläufige Abkürzung für jenes direkt am Vegas Strip gelegene Hotel »TI« ist, dem gelingt der konnotierte Übertrag vom ›Grand Tourismo Injection‹ zum ›Golf Treasure Island‹ (Schatzinsel). Will heißen: So wie das Luxushotel im Karibikstil Attraktionen wie eine permanente Cirque-du-Soleil-Show, ein Casino und vielfältige Wellness-, Shopping-, Gastronomie- und Unterhaltungsangebote unter seinem Dach vereint, verbirgt sich auch hinter der eleganten Fassade des GTI ein ganzer Mikrokosmos kurzweiliger Vergnügungen. »Oft kopiert. Nie erreicht.« heißt es schließlich im Abspann – ein Fazit, das Pepsis »There’s only one right one, baby.« sichtlich nahesteht. Wird hier also die Argumentationsfigur des Prätextes mit neuen Mitteln und einem neuen Popstar (Frank Sinatra für Ray Charles) wiederholt? Dass Urheberschaft und Originalität in der Popmusik nicht zwingend aneinander gebunden sind, sagt ja schon der Pepsi-Spot und muss darüber hinaus in den historischen Kontext gestellt werden. In der Früh- und Vorgeschichte des Pop wird zwar bereits das Hollywood-Starsystem auf den Musiksektor appliziert: Frank Sinatra etabliert sich früh als Solokünstler mit eigener PR, hat Fanclubs in vielen amerikanischen Bundesstaaten und wird von den sogenannten ›Bobbysoxers‹ oder ›Swooners‹ umschwärmt,38 die in den 1940ern massenhaft in seine Konzerte strömen. Das Primat des eigenen Songmaterials als Ausweis von Progressivität und Artifizialität ist allerdings ein Phänomen der sechziger Jahre.39 In der Swing-Ära groß geworden, bleibt Sinatra zeitlebens ein Inter37 | Der 1965 in Großbritannien Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent ist vor allem durch Computerspiel-Verfilmungen hervorgetreten u.a. führte er bei Mortal Kombat (1995) und der Resident Evil-Reihe (seit 2002) Regie. 38 | Kunz, Johannes: Frank Sinatra und seine Zeit, München: Langen Müller 2015, S. 50. Die Bezeichnung ›Bobbysoxers‹ bezog sich auf die damalige Mode unter Collegemädchen, kurze Söckchen zu tragen, der Begriff des ›Swooners‹ geht auf gelegentliche Ohnmachtsanfälle der weiblichen Fans zurück. 39 | Vgl. R. Hinz: Die hohe Kunst der Kopie, S. 264.
Cover-Erzählungen
pret des »Great American Songbook«. Sein explizit angemeldeter Kunst- und Originalitätsanspruch besteht in der Auswahl von Standards, vor allem aber in der Perfektionierung eines einzigartigen, vom Jazz inspirierten Crooningstils, der seinerzeit als sexuell aufreizend gilt. Außer Frage steht, dass der Spot Frank Sinatra mit seinen raffinierten Arrangements von vorgefundenen Nummern wie seinem Signature-Song »My Way« zum unanfechtbaren Original stilisiert. Wie aber positioniert sich der Spot zu den Protagonisten der ›Me Singing Videos‹? Philipp Pabst hat den rührigen Laienperformances in seiner Interpretation des Spots völlig zu Recht eine digitale Dignität zugesprochen, denn der Vergleich zwischen Original und Kopie sei »von vornherein entschieden und unverhältnismäßig« 40. Man könnte ja durchaus auch darüber nachdenken, ob der Spot die vorgeführten ›Individualisten‹ mit ihren idiosynkratischen Aufzügen nicht geradezu synekdochisch für die anvisierte Käufergruppe des sportiven, aus der Masse herausstechenden GTI einsetzt. In der schrägen, nonkonformistischen Aneignung der Privatleute würde die in »My Way« gefeierte Einzigartigkeit (hier: des künftigen Konsumenten) dann via medialem Selbstzeugnis performativ eingelöst. In dieser Lesart wären die Laiendarbietungen gerade deshalb akzeptabel, weil sie außerhalb der Normen und Qualitätsstandards der massenproduzierten Unterhaltungskultur stehen: Ihr einziger Zweck ist ein expressiver. Dennoch: Selbst wenn der Werbespot mit seinen künstlich hergestellten Netzfundstücken eine affirmative Haltung gegenüber den rührigen Subjekten derartiger digitaler Aufführungspraktiken zumindest offen lässt, so stellt er sich doch klar auf die Seite einer hochprofessionalisierten Unterhaltungsindustrie und der ihr eigenen Hochglanzästhetik. Gegen den überscharf gefilmten Vegas Strip mit seinen bunten Lichtern und imposanten Gebäuden und der perfekt abgemischten, weltmännische Potenz suggerierenden Tonaufnahme Frank Sinatras wirken die Heimvideos wenig glamourös. Hinzu kommt das Geheimnis, die mittransportierte Verheißung: Um Frank Sinatras Verbindung zu Las Vegas, wo er regelmäßig mit Hut, Fliege und Smoking als Entertainer auf der Bühne stand, ranken sich wilde Gerüchte. Die Gazetten berichten seinerzeit von Glücksspiel, exzessivem Alkoholkonsum und zahlreichen Affären; auch über Verbindungen zur italienischen Mafia wird spekuliert. Sie befeuern das ›Lebemann‹-Image Sinatras und laufen bei den rituellen »My Way«-Interpretationen stets als biografischer Kontext mit. Der weiße GTI mit seinen getönten Scheiben und seinem rasanten Fahrwerk wird hier an den Sinatra-Diskurs angedockt. Ohne dies an irgendeiner Stelle explizit zu machen, verspricht das Auto qua metaphorischer Merkmalsübertragung klassische Stilsicherheit und die Fiktion Sinatraesquer ›Abenteuer‹, die nur im Windschatten echter 40 | Pabst, Philipp: »Frankies Erben. Deutschsprachige Coverversionen von Sinatras ›My Way‹«, in: Pop. Kultur & Kritik 9 (2016), S. 158-173, hier S. 159.
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Exzellenz gedeihen können. Denn ›The Voice‹ ist in der Musikbranche als Perfektionist und Workaholic bekannt, der u.a. regelmäßige Tauchübungen gemacht haben soll, um seine Atemtechnik zu vervollkommnen.41 Zu den Laienaufnahmen im Web 2.0 hätte sich der 1998 gestorbene Sinatra – der seine Stimme als Instrument verstand – vermutlich ähnlich geäußert wie einst Ray Charles in einem Interview mit dem »Spiegel«: »Ich kann eine Menge ertragen, aber auf keinen Fall Leute, die ihr Instrument nicht beherrschen.«42 Oder, so ist mit dem Werbespot hinzuzufügen, das falsche Auto fahren. Mit seinem Verfahren, ein valorisiertes und alternativloses Original gegen ein ästhetisch unterlegenes Plagiat auszuspielen, ohne letzteres auf Produktebene zu zeigen oder zu nennen – Kandidaten wären bspw. der Opel Astra oder der Ford Focus –, schließt der Golf GTI-Spot in der Tat bruchlos an die Diet-Pepsi-Kampagne an. Das Markenprodukt ist auch hier das unübertroffene und wohl auch zukünftig nicht einholbare Original. Einem anderen Originalitätsbegriff verpflichtet ist der Werbespot »Parkuhr« für den Smart Forfour (2004, Springer & Jacobi Hamburg) mit Robbie Williams, dem ehemaligen Boygroupmitglied der Casting-Band Take That, der seit seinem Soloalbum »Swing When You Are Winning« (Chrysalis, 2001) des Öfteren als neuer Frank Sinatra gehandelt wird.43 Der Plot: Ein junger Mann fährt in seinem Smart durch die Straßen einer Stadt und sucht einen Parkplatz. Aus den Lautsprechern ertönt der Hitsong »Feel«44 von Robbie Williams, den der Fahrer schräg, aber gut gelaunt mitsingt. Als er endlich eine Parklücke ergattert, wird ihm bewusst, dass ihm das nötige Kleingeld für die Parkuhr fehlt. Ungünstiger Weise ist ein paar Meter weiter bereits eine Polizistin damit beschäftigt, Strafzettel zu verteilen. Statt den eroberten Platz nun aber aufzugeben, wirft der Mann kurzentschlossen seine Mütze auf den Boden und betätigt sich als Straßenmusiker, um die fehlenden Cents einzutreiben. Zu seinem Leidwesen kann seine herzzerreißend schiefe Version von »Feel« jedoch weder die Passanten, noch die Gesetzeshüterin zur Gnade erweichen. Dabei entwickeln Zeilen wie »I don’t wanna die, but I ain’t keen on living either« in 41 | Vgl. J. Kunz: Sinatra und seine Zeit, S. 48. 42 | Hüetlin, Thomas: »›Wer ist hier der King?‹ Entertainer Ray Charles über seinen Blues, die Frauen und seinen Durchblick in Rassenfragen«, in: Der Spiegel vom 6.5.1996, S. 199. 43 | Der Vergleich wird von Williams selbst vorbereitet: Auf »Swing When You Are Winning« findet sich beispielsweise eine Version von Sinatras Klassiker »It Was a Very Good Year« (1965), in dem Robbie Williams ein Duett mit Sinatras Originalstimme singt. Bei seinem Konzert in der Royal Albert Hall in London 2001, das unter dem Titel Live at the Albert auf DVD erschien, covert Robbie Williams auch Sinatras »My Way«. 44 | Williams, Robbie: Escapology, Chrysalis 2002. Im zugehörigen Musikvideo inszeniert sich Robbie Williams als einsamer Cowboy auf der Suche nach der wahren Liebe.
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ihrem übertriebenen Pathos und ihrer kontextuellen Absurdität eine veritable Situationskomik; das grotesk verrissene »I scare myself to death« nimmt der Zuhörer dem Protagonisten durchaus ab. Die humorlose Polizistin bekommt angesichts der bemitleidenswerten Vorstellung allerdings gerade einmal ein strenges, fast angewidertes »Nice try« über die Lippen. Da taucht plötzlich – Urs Meyer spricht in seiner Interpretation des Spots von einem ›coup de théâtre‹ und einem ›Deus ex machina‹-Effekt45 – Robbie Williams höchstpersönlich in der Menschenmenge auf und wirft den fehlenden Betrag in die Mütze. Nicht ohne den blutigen Anfänger zu korrigieren: Es heiße nicht »love«, sondern »I’ve got so much life running through my veins«. Anschließend lobt Williams im Vorbeigehen noch den Smart Forfour: »Nice car. Keep it up.« Ist es in Pepsis »Auditions« sowie in VWs »My Way«-Spot die exklusive Könnerschaft, die im Zusammenspiel mit dem gewissen Etwas (Stichwort: Uh-Huh) Originalität generieren, bestärkt der Popstar und Urheber46 hier den clownesquen Imitator in seinem spektakulären Scheitern. Funktionieren kann das, weil Robbie Williams trotz seiner Anleihen an Frank Sinatra und andere Swing-Größen einen völlig anderen, neuen Pop-Typus verkörpert: den ›reinen‹ Entertainer. Silke Borgstedt, die anhand von Tageszeitungsberichten eine Image-Analyse Robbie Williams’ unternommen hat, hat »die in jedem Medium aufzufindende Etikettierung Williams’ als ›Entertainer‹«47 folgendermaßen definiert: »Ein Entertainer ist jemand, bei dem es letztlich egal ist, was er macht, solange er das Publikum kurzweilig unterhält.«48 Insbesondere die drei kopistischen Kategorien ›Imitation‹, ›Rollenspiel/Verwandlung‹ und ›Inszeniertheit‹ würden dabei in den journalistischen Sekundärtexten über Robbie Williams immer wieder zum Tragen kommen: So gehen das musikalische Zitat (von Beatles über Queen bis hin zu Red Hot Chili Peppers), die Verwendung standardisierter Rollenmuster (vom Prolo über den Clown bis hin zum Gentleman) und die perfekte Inszenierung als glamourös-dekadente PotpourriShow eine symbiotische Verbindung ein. 49
45 | Meyer, Urs: Einfache Formen in der Werbung. Überlegungen zum Verhältnis zwischen literarischer Anthropologie und Gattungstheorie, in: Wegmann, Thomas (Hg.): Markt: literarisch, Bern: Lang 2005, S. 183-196, hier S. 185. 46 | Als Songschreiber von »Feel« werden Robbie Williams und Koautor Guy Chambers geführt. 47 | Borgstedt, Silke: »Das inszenierte Erfolgsmodell. Robbie Williams im Spiegel der Tagespresse«, in: Samples 3 (2004), S. 9-18, hier S. 15. 48 | Ebd. 49 | Ebd.
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Getreu der Williams’schen Devise des ›whatever works‹ valorisiert der Spot die originelle, spontane Improvisation mit ihrem Mut, Witz und Einfallsreichtum. Robbie Williams macht es vor: Spektakulär inszenierte Stimmqualitäten werden bei ihm ersetzt durch die Meisterschaft der Inszenierung selbst, die als postmoderne Bricolage, als Aneinanderreihung von Zitaten, Pointen und (Show-)Effekten in Erscheinung tritt. So macht es auch Sinn, ein besonderes Augenmerk auf dekorative Elemente wie ein schickes Auto als Instrument der Selbstinszenierung zu legen. Wer moniert, »bei Robbie Williams interessierten die Motive auf seinen Schlüpfern immer schon mehr als der Sound der Gitarren«,50 geht daher fehl. Interessant ist, dass Smarts erster Viersitzer von Kritikern gerade nicht als originelles Konsum-Statement, sondern geradezu als Inbegriff automobiler Durchschnittlichkeit gedeutet wird. Die Auto Bild konstatiert unter Verwendung popmusikalischer Terminologie, der neue Viertürer lasse die »Originalität des city-coupés«51 vermissen und komme eher als eine, so wörtlich: »gecoverte Version von Nissan Micra, Hyundai Getz oder Mitsubishi Colt«52 daher. In der ZEIT wird der Kleinwagen als erwachsen gewordene, vernünftige, aber auch etwas unentschiedene Smart-Version für die ›Empty Nesters‹ vorgestellt. Gemeint ist eine Gruppe von Mitt- oder Endvierzigern, deren Kinder soeben das elterliche Zuhause verlassen haben.53 Für diese Zielgruppe qualifizieren den Forfour eine Hebelmechanik, mit der die Rückbank bei Bedarf zügig in einen größeren Kofferraum verwandelt werden kann, und die mit 3,70 m noch immer überschaubare Länge. Jene Gebrauchswertvorzüge des neuen Smart bleiben im Spot allerdings außen vor. Statt an die Elterngeneration wenden sich Springer & Jacobi zudem an die Generation der dem Nest Entstiegenen. Automarke und Musikgeschmack fungieren hier als quasi-erzieherische biografische Requisiten auf dem Weg zu einer erwachsene(re)n Konsum- und Selbstperformance.54 Um sie – und damit zugleich: Originalitätsstatus – zu 50 | Sawatzki, Frank: »Dem Nichts entsprungen«, in: Die Zeit vom 21.11.2002, online abrufbar unter: www.zeit.de/2002/48/Dem_Nichts_entsprungen, letzter Aufruf: 26.11.2017. 51 | O.A.: »Ein ganz normaler Smart?«, in: Auto Bild vom 5.2.2004, online abrufbar unter: www.autobild.de/artikel/fahrbericht-smart-forfour-44327.html, letzter Aufruf: 26.11.2017. 52 | Ebd. 53 | Lechner, Wolfgang: »Der undankbare vierte Platz«, in: Die Zeit, 25.3.2004, online abrufbar unter: www.zeit.de/2004/14/Autotest_14, letzter Aufruf: 26.11.2017. 54 | Schließlich ist Robbie Williams, der 2001 selbstverständlich das weltmännische »My Way« ans Ende seines gefeierten Tribute-Konzerts an das Rat Pack in der Royal Albert Hall stellte, 2004 bereits dem langen Schatten seiner Boygroup-Vergangenheit bei Take That und seiner Drogenabhängigkeit entstiegen. 2004 zieht Williams Bilanz: Er
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erlangen braucht es keine technische Perfektion, sondern inszenatorische Gewitztheit, Improvisationstalent und den ›Mut zur Lücke‹. Legen die Smart- und die Golf GTI-Werbung den Fokus eindeutig auf die (jeweils etwas unterschiedlich bewertete) Kluft zwischen hochwertigem Original und minderwertiger Adaption, tritt ein anderer Werbespot für den Golf VII (2012, Grabarz & Partner Hamburg) an, diese Lücke zumindest annäherungsweise zu schließen. Statt Amateure bei kühnen, öffentlichen oder für die Öffentlichkeit bestimmten Gesangs- und Instrumentaleinlagen zu zeigen, beschreibt der Spot ein Panorama popmusikalischer Aneignungspraktiken von Golffahrern, die innerhalb der geschützten Grenzen privater automobiler Innenräume verbleiben. In bemerkenswert unpeinlichen, intimen Close-Ups erweist der Clip der Individualität der Protagonisten seine Reverenz: Eine junge Fahrerin singt am Steuer verträumt und beiläufig einige Songschnipsel der intradiegetischen Musik 55 mit, ein fröhlich zum Takt wippender Gelegenheitscowboy bricht über seine eigenen Posen in sympathisches Gelächter aus und ein Partygirl auf dem Weg ins Nachtleben heizt die Vorfreude im Auto durch ein expressives »Whoohoo« an. Eine Gruppe schwarz gekleideter Gothic-Rocker zieht es erwartungsgemäß vor, die Musik schweigend zu rezipieren. Der Clou dabei ist, dass die unterschiedlichen Protagonisten das gleiche Lied in individuell auf ihren soziokulturellen und situativen Kontext abgestimmten Coverversionen hören, mitsingen und/oder körperlich mitvollziehen. Es handelt sich dabei um Versionen des von Martin Gore geschriebenen Depeche Mode-Klassikers »People are People«, der der Band 1984 zum internationalen Durchbruch verhilft und drei Wochen auf Platz eins der deutschen Charts steht. So entsteht ein Medley von Coverversionen, das sich aus stilistischen Registern wie Singer/Songwriter, Country, Disco, Schlaflied, Gothic Rock oder Kuschelpop zusammensetzt und durch die formale Integration den inhaltlichen Integrationsappell des Songs (»People are people, so why should it be/You and I should get along so awfully«) unterstreicht. Dramaturgisch wiederholt sich hier zwar das bekannte Muster, den Höhepunkt des Werbefilms als zweifachen Auftritt des Originals zu gestalten: In der letzten Einstellung fährt Depeche Mode-Frontman Dave Gahan in einem silbernen Golf VII durch die Nacht – akustisch begleitet von der Originalververöffentlicht ein »Greatest Hits« Album und autorisiert die freizügige Biografie »Feel« des Musikjournalisten Chris Heath. Im gleichen Jahr wird er auch als einflussreichster Künstler der 1990er Jahre in die britische Music Hall of Fame aufgenommen. 55 | Für die Identifizierung der Musik als intradiegetisch spricht neben dem Mitsingen der Protagonisten auch, dass die Musik abrupt abbricht, als das Auto am Schluss des Spots verlassen und abgeschlossen wird. Realitäts-Effekte wie eine Räumlichkeit suggerierende Dämpfung der Musik werden allerdings nicht erzeugt, die Hochglanzästhetik des Spots wird von einer hohen Tonqualität unterstützt.
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sion des Songs im vertrauten Stil von Synthie-Pop und New Wave. Im Unterschied etwa zum pompösen Star-Auftritt des GTI, der mit einem ästhetischen Register- und Qualitätswechsel verknüpft ist, ist die kurze Einlage des Originals im Golf-Spot aber wesentlich subtiler. Gahans kurzes, metonymisch unauffällig in die Szenenfolge eingepasstes Aufscheinen ist der Tradition des Cameoauftritts verpflichtet: »Können Sie in dem Spot einen Star entdecken?« heißt es ganz in diesem Sinne in der Beschreibung zu einem der vielen im Netz kursierenden YouTube-Videos. Der Star geriert sich als einer unter vielen, ›seine‹ Version des Songs wird zu einer möglichen Wahloptionen im reichen Warenlager der Pop-Stilistiken. In einem auf YouTube verfügbaren Making Of-Video des TV-Spots wird dem Werberezipienten die Arbeit der Spotexegese abgenommen. Gahan persönlich erklärt dessen Botschaft: Ein wirklich guter Song würde in jedem beliebigen Stil funktionieren. Timm Weber von Grabarz & Partner ergänzt: Ähnlich wie ein guter Song (man könnte sagen: ein kanonisches Original) würde sich der Golf flexibel verschiedensten Lebensstile anpassen. Im Grunde genommen ist dies jedoch ein unsauberer Vergleich. Denn die als gleichwertig ausgestellten, eigens für den Werbezweck produzierten Coverversionen von »People are People« stellen genau besehen einen empfindlichen Eingriff in die popmusikalische DNA der Toleranz-Hymne dar. Heiko Wandler behauptet beispielsweise, dass die musikalische Bedeutung von Depeche Modes Nr.1-Hit »weniger im Songwriting als vielmehr in der Klanggestaltung«56 liege. Neben Synthesizerklängen, Hall- und Zerreffekten arbeitet man bei der Produktion des Songs in den legendären Berliner Hansa-Studios nämlich mit aus dem Industrial bekannten, metallisch klingenden Soundsamples. »People are People« überführt diese von Bands wie Throbbing Gristle geprägte und aus dem Futurismus entlehnte, schwer konsumierbare, ›harte‹ Klangästhetik in den Pop-Mainstream, indem er ihn mit tanzbaren, »eingängige[n] Melodien (vor allem im Refrain) und einfache[r] Harmonik«57 kombiniert. Streicht man diese Soundästhetik aus dem Song heraus, hat man es mit einer echten Variation zu tun, deren Kunst- oder Popanspruch sich dann erst wieder an der Generierung neuer Punctum-Effekte (Diederichsen) oder der Interessantheit der »Haltung zum Original«58 (Ralf Hinz, gemeint sind z.B. Destruktion, Parodie, Affirmation) bemisst.
56 | Wandler, Heiko: »People Are People« (Depeche Mode), in: Fischer, Michael/Hörner, Fernand/Jost, Christofer (Hg.): Songlexikon. Encyclopedia of Songs, online abrufbar unter: www.songlexikon.de/songs/peopleare, 12/2011. 57 | Ebd. 58 | Hinz rekonstruiert in seinem Aufsatz den musikkritischen Diskurs um ›legitime‹ Coverversionen. Vgl. R. Hinz: Die hohe Kunst der Kopie, S. 267.
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Anders verhält es sich beim Auto; hier geht es um das, was Jean Baudrillard in Anlehnung an Riesmans ›marginale Differenzen‹ einmal den »Reiz der kleinen Unterschiede«59 genannt hat. Die Konsumdinge variieren »in der Farbe, in der Ausarbeitung, in Details«. Rein äußerlich sind zwischen den verpersönlichten Golf-Varianten, die der Spot präsentiert, in der Tat nur marginale Unterschiede (z.B. die Lackierung) festzumachen. Die Personalisierung ist nicht so sehr eine vorfabrizierte, ein ›Pre-Customizing‹, sondern ein ›Self-Customizing‹: Individuell ausdifferenzierte Strukturen erhält das massengefertigte Automobil erst durch dezente Akte des Verzierens (Glücksbringer am Autospiegel) oder des Umnutzens (Zweckentfremdung des Schalthebels als Haargummi-Halterung), die der Endverbraucher vornimmt. Kurzum: Was der Spot als Kompilation legitimer ›Produktcover‹ vorführt, ist bei genauerem Hinsehen ein und dasselbe Original – eben: das Auto.60 Ebenso verhält es sich auch schon in Pepsis »Caught On«: Geht der Song auch in verschiedenen Versionen um die Welt; Design und Geschmack der Pepsi bleiben doch stets gleich – unabhängig davon, ob sie in China, Amerika oder Großbritannien konsumiert wird. Aufrichtiger ist da schon die ein Jahr später für denselben Golf geschaltete »One Thing«-Kampagne (DDB Tribal). Der zugehörige Werbespot beginnt mit der Frage: »Wenn Du im Leben nur EIN LIED hören könntest,…welches wäre es?« Die via Gedankenspiel erzeugte Singularität und überzeitliche Bedeutsamkeit wird abschließend auf das Auto übertragen: »Wenn Du Dich im Leben auf nur EIN AUTO verlassen könntest,… welches wäre es?« Keine Frage, der Golf natürlich, wie der darauf eingeblendete Golf mit einem ›Zwinkern‹ (Auf blenden) seiner Scheinwerfer suggeriert. Dass diese Verengung der Wahl auf das eine Produkt, mit dem der Konsument garantiert Stil und Persönlichkeit beweist, durchaus auch diktatorisch interpretiert werden kann, zeigt ein Spot für den Toyota Auris von 2013 (Saatchi & Saatchi Italy), der hier abschließend erwähnt werden soll. Er liest sich wie eine Parodie auf die Onething-Kampagne, verwendet aber ebenfalls die Idee der Cover-Version. Ein Alleinherrscher à la Louis XIV. ordnet an, dass künftig im Staat nur noch ein Song gehört werden dürfe, der Sommerhit aus dem Jahr 1994: »Macarena«, ein Song des spanischen Pop-Duos Los del Rio, der seinerzeit eher durch den zugehörigen Partytanz als die expliziten Lyrics einschlug. Der Protagonist des Clips imaginiert daraufhin die möglichen Situationen, in denen er künftig dem diktatorischen Regime des einen Songs unterworfen sein wird: In seiner Vorstellung erklingt »Macarena« auf der Violine beim romantischen Abendessen, eine Männerchorversion ist auf der Trauerfeier zu 59 | Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen [1968], Frankfurt a.M.: Campus 2007, S. 176. 60 | VW verwendet den vom damaligen Marketingchef Jochen Sengpiehl erdachten Claim »Das Auto« von 2007-2015, er rundet auch den Spot »People Are People« ab.
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hören und sogar im Stadion stimmen die Spieler »Macarena« anstelle der Nationalhymne an. Als der Diktator auch noch das eine Auto – eine pinkfarbene, winzige Billigproduktion – als ›Volkswagen‹ ausruft, kehrt der Protagonist dem Einheitsstaat endgültig den Rücken zu und wählt die echte Alternative: den Hybridwagen Toyota Auris. Der Spot argumentiert hier aus der Außenseiterperspektive einer weniger etablierten Marke und zeigt mögliche Grenzen der herkömmlicherweise an das Original geknüpften ›One fits all‹-Devise auf: »In a world where you think you only have one choice, we introduce: the alternative.«
S chluss : B eschr änk te H af tung Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich schrieb einmal, Marken seien als »Elite der Dingkultur« zu verstehen, als »eine Gruppe semantisch aufgeladener Objekte, die mehrfach in Erregung versetzen. Mit ihnen lassen sich Lebensgefühle ausdrücken, sie dienen der Selbstvergewisserung, durch sie kann man zu einem markanteren Profil gelangen […].«61 Markenprodukte sind also ein gewichtiger Teil des kulturellen Zeichenvorrats, der in Konsumgesellschaften für eine kohärente semiotische Selbstperformance zur Verfügung steht. Ihre mitgebrachten Bedeutungspotentiale generieren sie nicht zuletzt durch über Werbeangebote erzeugte Kontiguitäten zum Pop. Den Gesetzen einer kombinatorischen ›Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch…‹Logik folgend, werden Pop- und Markenprodukt im Modus der Empfehlung auch in ein loses semantisches Näheverhältnis gerückt. Das ist für Marken vor allem deshalb attraktiv, weil Pop-Stars als Hybride aus unerreichbarer, künstlicher Persona und lebendiger, auf Bühnen erlebbarer Person62 intensivere Erregungszustände hervorrufen und Bindungen erzeugen können als unbelebte Dinge. Hinzu kommt eine Vorbildfunktion: Sind Marken die Elite der Dingkultur, so sind Popstars u.a. die Elite der Selbstdarstellung mit den Mitteln dieser Dingkultur – davon zeugen vielfach kopierte Bühnen- und Freizeitoutfits, Fotografie-Requisiten, Homestorys etc. Wenn Popmusiker also in Werbespots auftreten, tun sie das häufig in ihrer Rolle als professionelle Konsumenten: Ray Charles trinkt Pepsi, Robbie Williams lobt die Entscheidung für den ›erwachsenen‹ Smart und Dave Gahan fährt Golf. Vertrauenswürdig ist diese 61 | Ullrich, Wolfgang; Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur? Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 35. 62 | Vgl. Schulze, Holger: »Personae des Pop. Ein mediales Dispositiv popkultureller Analyse«, in: pop-zeitschrift.de, 02/2013 [www.pop-zeitschrift.de/wp-content/uploads/2013/02/aufsatz-schulze-personae.pdf], S. 1-23, hier S. 4.
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Konsumexpertise aber nur, weil sich Charles, Williams und Co. bereits auf dem Feld der Popmusik als E im U, als Pop-Elite bzw. Pop-Originale etabliert haben. Sinn der in diesem Aufsatz durchgeführten kulturpoetischen Lektüren war es zu zeigen, mit welchen ästhetischen (und speziell: popmusikalischen) Mitteln Werbespots Popmusiker als aufsehenerregende Originale (re-)konstruieren und gleichzeitig mit Markenprodukten engführen, denen sie denselben Originalitätsstatus zuschreiben. Denn die werberisch insinuierten Originalitäts- und das heißt immer auch: Exzellenzbegriffe, variieren stark und sind zudem nur auf dem Hintergrund der zahlreichen kulturellen Diskursfäden und Kontexte zu verstehen, als deren Kumulationspunkt der Popstar oder -song fungiert. Während etwa Sinatras Version von »My Way« im Golf GTISpot für elitäre technische und ästhetische Qualitätsstandards sowie den solitären Weg eines waghalsigen Spielers einsteht, behandelt der Golf-Spot Popsong und Auto als Ressourcen, an denen sich die Gemeinschaft im Sinne des Toleranzgedankens frei bedienen kann. Eines allerdings ist auch hier nicht verhandelbar: Die Wahl des Markenprodukts als Bedingung der Möglichkeit individueller Gestaltung. Diese punktuellen Kopplungen von Marke und Pop, die Werbespots als konsumästhetische Speicher auf bewahren, sorgen dafür, dass Popmusik- und Markenimage sich an einem historischen Punkt wechselseitig erhellen. Als zeitlich begrenzte Wahlverwandtschaften verbleiben sie aber immer auf der Ebene gegenseitiger Affinitäten: In den flüchtigen Strömen der Werbung haften Marken und Pop nicht lange aneinander. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Ray Charles als Vorläufer: Sein Engagement für Pepsi ist nämlich nicht sein erster Werbedeal. In den 1960er Jahren macht er schon einmal Reklame – für Coca-Cola.63
L iter aturverzeichnis Baßler, Moritz: »Definitely Maybe. Das Pop-Paradigma in der Literatur«, in: Pop. Kultur & Kritik 6 (2015), S. 104-127. Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen [1968], Frankfurt a.M.: Campus 2007. 63 | Ähnlich steht es mit der Verwendung des Songs »My Way« in der Autowerbung. 1993, also zwanzig Jahre vor VW, hatte Mercedes Benz bereits mit dem Song für seine C-Klasse geworben (Springer & Jacoby Hamburg). Der Variationsreichtum des Modells wird hier an verschiedenen Coverversionen durchdekliniert, wobei Sinatras Originalversion wieder einmal das Finale bildet. Der narrative Aufbau des Spots erinnert somit gleichzeitig stark an VWs »People are People« von 2012 bzw. kann als dessen direkte Vorlage gelesen werden.
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»An Illusion to live by« Liebe, Geld und Konsum in The Great Gatsby Annemarie Opp
[H]e stretched out his arms toward the dark water in a curious way, and, far as I was from him, I could have sworn he was trembling. Involuntarily I glanced seaward – and distinguished nothing except a single green light, minute and far away, that might have been the end of a dock. When I looked once more for Gatsby he had vanished, and I was alone again in the unquiet darkness.1
Als James Gatz, oder wie er sich selbst nennt, Jay Gatsby, das erste Mal das Haus von Daisy Fay betritt, wird die Beziehung der beiden über eine NäheDistanz-Dichotomie definiert, die im grünen Licht ihren symbolischen Niederschlag finden und bis zum Ende des Romans Gültigkeit behaupten wird: She was the first ›nice‹ girl he had ever known. In various unrevealed capacities he had come in contact with such people, but always with indiscernible barbed wire between. He found her excitingly desirable. He went to her house, at first with other officers from Camp Taylor, then alone. It amazed him – he had never been in such a beautiful house before. But what gave it an air of breathless intensity, was that Daisy lived there – it was as casual a thing to her as his tent out at camp was to him. (GG 149)
Die Zugänglichkeit – man könnte auch sagen: Verfügbarkeit – Daisys, die eben kein Stacheldraht von Gatsby trennt, wird kontrastiert durch den Vergleich des luxuriösen Hauses, in dem sie auf selbstverständlichste Weise wohnt, mit dem bescheidenen Zelt des Soldaten Gatsby. Trennt ihn der aus dem militärischen Bildbereich stammende Stacheldraht normalerweise von »such people«, so ist es gerade seine Soldatenuniform, die den »colossal accident« (GG 150) zuallererst ermöglicht, durch den Gatsby sich in Daisys Haus wiederfindet: »[H]e was 1 | Fitzgerald, F. Scott: The Great Gatsby. The Tale of a Man who built himself an Illusion to live by, London: Penguin 2012 [1925], S. 22. Die Zitate werden im Folgenden anhand der Sigle GG mit nachgestellter Seitenzahl im Fließtext nachgewiesen.
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at present a penniless young man without a past, and at any moment the invisible cloak of his uniform might slip from his shoulders.« (Ebd.) Die Uniform nimmt eine Doppelfunktion ein: Indem sie Gatsby als Soldaten ausweist, ist sie identitätsstiftend, verbirgt aber zugleich sein wahres Ich und bietet damit die Möglichkeit der Suggestion einer Fiktion: »[H]e let her believe that he was a person from much the same strata as herself – that he was fully able to take care of her.« (Ebd.) Die Uniform also stellt Nähe, Intimität her – Gatsby »felt married to her« (ebd.) –, während die Differenz der Behausung beider die unüberwindliche Distanz unterschiedlicher gesellschaftlicher Klassen verdeutlicht: »Rich girls don’t marry poor boys«2 lautet das Urteil im Film von Baz Luhrmann angesichts derartiger romantischer Ambitionen. Die erste Begegnung von Daisy Fay und Jay Gatsby setzt die Parameter ihrer Beziehung, die in der intrikaten Verbindung von Liebe, Geld und Konsum bestehen: There was a ripe mystery about it [das Haus Daisys, A.O.], a hint of bedrooms upstairs more beautiful and cool than other bedrooms, of gay and radiant activities taking place through its corridors, and of romances that were not musty and laid away already in lavender but fresh and breathing and redolent of this year’s shining motor-cars and of dances whose flowers were scarcely withered. (GG 149)
Gatsbys Interpretation des luxuriösen Hauses verknüpft dessen Räume, vor allem die Schlafzimmer, mit ›romances‹, also Liebesgeschichten, und zwei zentralen Konsumobjekten bzw. -aktivitäten des Textes: ›shining motor-cars‹ und ›dances‹. Alle drei legen den Grundstein für die Vorstellung von seinem künftigem Leben: Er wird sich ein Haus zulegen, das jenes von Daisy an Luxus übertrumpft, ausgelassen-dekadente Partys geben, die ihresgleichen in New York suchen – wobei die einzige Person, mit der er tanzt, Daisy ist –, und unter anderem ein gelbes Luxusauto fahren, das ihm schließlich zum Verhängnis werden wird. In diesem Leben fehlt lediglich eines: die Bewohnerin des Hauses, Daisy. Sie wird zum Zentrum von Gatsbys Fantasien, die er zur Religion erhebt: »[H]e found that he had committed himself to the following of a grail.« (GG 150) Dieser heilige Gral offenbart sich Gatsby am Ende seiner ersten Begegnung mit Daisy als die Verbindung von Liebe, Geld und Konsum: »Gatsby was overwhelmingly aware of the youth and mystery that wealth imprisons and preserves, of the freshness of many clothes, and of Daisy, gleaming like silver, safe and proud above the hot struggles of the poor.« (GG 151)
2 | The Great Gatsby (USA 2013, R: Baz Luhrmann); 00:29:10. Das Zitat bezieht sich an dieser Stelle zwar auf Nick Carraway und Jordan Baker, kann aber natürlich auch als Kommentar bezüglich Gatsby und Daisy gelesen werden.
»An Illusion to live by«
Die Verbindung der Fantasien Gatsbys mit konkreten Konsumobjekten mag zunächst verwundern, sie hat jedoch ihre Grundlage in der Konsum-Kultur-Theorie: Das Individuum fühlt sich stärker, wenn es von Dingen umgeben ist, die ihm zusätzliche Möglichkeiten – schmeichelhafte Rollen in alternativen Biographien – verheißen. Wer einen Geländewagen kauft, macht es oft nicht wegen dessen Gebrauchswert, sondern um den eigenen Möglichkeitssinn zu beleben. 3
In Konsumgesellschaften, in denen der Gebrauchswert der Dinge kein Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb darstellt, ist es laut Wolfgang Ullrich für die Unternehmen notwendig, sich auf andere Weise von ihrer Konkurrenz abzusetzen. Daher ist es zu der signifikanten »Verschiebung vom Gebrauchsund Statuswert hin zum Emotions- und Fiktionswert der Produkte«4 gekommen: »Primär geht es mittlerweile also darum, was ein Ding ›im Inneren‹ des Konsumenten auslöst.«5 Die Genialität dieses Konzepts besteht darin, dass das Fiktionswertversprechen im Gegensatz zum Gebrauchswertversprechen grundsätzlich nie vollständig erfüllbar ist, entspringt es doch zuallererst der Fantasie der Konsumenten – Enttäuschungen oder Beschwerden sind damit nahezu ausgeschlossen (und sollte es doch dazu kommen, werden die damit verbundenen Fiktionswerte schlichtweg auf ein anderes Produkt verschoben).6 Wenn das Fiktionswertversprechen jedoch grundsätzlich unerfüllbar ist, warum reicht es dann nicht, einfach nur Fiktionen von Konsumprodukten zu konsumieren, z.B. durch Warenkataloge oder Lifestyle-Magazine zu blättern, ohne tatsächlich etwas zu kaufen? Wie Colin Campbell darlegt, steht die enge Verbindung von Fantasien und Konsumprodukten am Anfang der Konsumgesellschaft, wodurch das Schwelgen im sogenannten »day-dreaming« 7 ein Vergnügen an sich bereitet: This dynamic interaction between illusion and reality is key to the understanding of modern consumerism and, indeed, modern hedonism generally. […] This is because wishdirected day-dreaming turns the future into a perfectly illusioned present. One does not 3 | Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 45. 4 | Ebd., S. 46. 5 | Ebd. 6 | Vgl. ebd., S. 47 sowie McCracken, Grant: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington, IN: Indiana University Press 1990, S. 112. 7 | Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism, York: Writers Service 2005 [Reprint von Oxford 1987], S. 84f.
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Annemarie Opp repeat cycles of sensory pleasure-seeking as in traditional hedonism so much as continually strive to close the gap between imagined and experienced pleasures. Whatever one experiences in reality it is possible to ›adjust‹ in imagination so as to make appear more pleasurable; thus the illusion is always better than the reality: the promise more interesting than actuality. 8
Konsumprodukte jedoch suggerieren anhand ihrer Dinglichkeit, ihrer Materialität, dass sie die Konsumenten ebenjenen Träumen ein Stück näher bringen können, indem sie sie mit einer realen Entität ihrer Fantasien versorgen. Anders gesagt: Konsumprodukte machen sich die Diskrepanz zwischen der von den Konsumenten erfahrenen Realität und den Imaginationen ihrer Fantasie zunutze, die eine zentrale Quelle für deren Unruhe und Unzufriedenheit ist. Sie schließen diese signifikante Lücke, indem sie »bridges to these hopes and ideals«9 sind: Sie suggerieren, dass Träume wahr werden können.
»[H] is P l atonic concep tion of himself «: D ie I llusion ›J ay G atsby‹ Jay Gatsby besitzt in der Beschreibung Nick Carraways eine außerordentliche Gabe der Hoffnung, die ihn fasziniert: »[T]here was something gorgeous about him […] – it was an extraordinary gift for hope, a romantic readiness such as I have never found in any other person and which it is not likely I shall ever find again.« (GG 2) Damit verbunden ist Gatsbys Neigung zum ›day-dreaming‹, die bereits vor der Begegnung mit seinem späteren Mentor Dan Cody ausgeprägt ist und anhand derer er sich ein besseres Leben erträumt: »For a while these reveries provided an outlet for his imagination; they were a satisfactory hint of the unreality of reality, a promise that the rock of the world was founded securely on a fairy’s wing.« (GG 100)10 Diese Passage entspricht den Beschreibungen der Differenz zwischen der Realität und dem imaginierten Ideal bei Colin Campbell derart, dass es nahezu zwangsläufig scheint, dass Gatsby »his Platonic conception of himself« (GG 99) maßgeblich über Konsumakte zu verwirklichen sucht – die Schlusspassage des Romans fasst dieses Streben nach Fiktionswerten und dessen Scheitern anhand von Gatsbys Glauben an das grüne Licht:
8 | Ebd. S. 90. 9 | G. McCracken: Culture and Consumption, S. 104. 10 | Daisys Mädchenname ›Fay‹ bedeutet im Altenglischen ›Fee‹, also Neuenglisch: ›Fairy‹, so dass das ›day-dreaming‹ Gatsbys an dieser Stelle indirekt mit Daisy verknüpft wird.
»An Illusion to live by« Gatsby believed in the green light, the orgastic future that year by year recedes before us. It eluded us then, but that’s no matter. Tomorrow we will run faster, stretch out our arms further… And one fine morning – So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past. (GG 183f.)
Der Versuch der Überführung dieser »illusion to live by«11 in die Realität erfolgt anhand von fünf Aneignungsakten. Erster Akt: Die Akquirierung von kulturellem Kapital. James Gatz stammt aus der Unterschicht, er besitzt weder Geld noch Bildung und hat damit wenig Perspektiven, dieser Schicht zu entkommen. Der Millionär Dan Cody, dem Gatsby das Leben rettet und mit dem er fünf Jahre auf See unterwegs ist, vermacht ihm zwar einen Teil seines Vermögens in Höhe von 25.000 Dollar, doch das Testament wird angefochten, so dass Gatsby nichts davon bleibt – bis auf die Bildung, die er in Gegenwart Codys genossen hat: »He was left with his singularly appropriate education; the vague contour of Jay Gatsby had filled out to the substantiality of a man.« (GG 102) Diese Bildung, so verdeutlicht Luhrmanns Film, besteht vor allem in kulturellem Kapital,12 das es Gatsby überhaupt erst ermöglicht, Daisy für sich zu gewinnen, indem er ihr, geschützt durch die Soldatenuniform, eine Fiktion seiner selbst verkauft: nämlich jene, dass er ein Angehöriger derselben Schicht wie sie selbst sei. Durch die Begegnung mit Daisy erreicht die Ausgestaltung seiner Illusion einen vorläufigen Höhepunkt: Ihre reale Existenz wird mit seinen Fantasien untrennbar ›verheiratet‹: He knew that when he kissed this girl, and forever wed his unutterable visions to her perishable breath, his mind would never romp again like the mind of God. So he waited, listening for a moment longer to the tuning-fork that had been struck upon a star. Then he kissed her. At his lips’ touch she blossomed for him like a flower and the incarnation was complete. (GG 112)
Dieser Moment der Vereinigung ist eine Ursprungsszene biblischer Prägung: Gatsby, »son of God« (GG 99), belebt seine sprachlich nicht artikulierbare Vision durch Daisys Atem, was zugleich eine Absage an alle anderen Möglichkeiten, Fantasien und Fiktionen des »mind of God« bedeutet. Durch Daisy wird seine Vision geerdet, konkret und sterblich: Im Moment des Kusses kommt es zur Inkarnation, zur irreversiblen Deckung von realer Entität und fiktiver Illusion – es ist dieser Moment, an den Gatsby am Ende zurückkehren wollen wird. 11 | Die Penguin-Ausgabe von The Great Gatsby trägt den Untertitel: »The Tale of a Man who built himself an Illusion to live by«. Vgl. Fußnote 1. 12 | Vgl. The Great Gatsby: 01:08:13: Gatsby erzählt Nick, Cody »taught me everything: how to dress, act and speak like a gentleman«.
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Zweiter Akt: Die Akquirierung von finanziellem Kapital. Geld ist für den Versuch, die Idee ›Jay Gatsby‹ zu realisieren, unabdingbar – nicht nur, weil es den Konsum all jener Dinge ermöglicht, die zu dieser Idee gehören, sondern vor allem, weil Geld im Vergleich zu Konsumprodukten den höchsten Fiktionswert hat: »Es ist gerade dadurch definiert, für beliebig vieles verwendbar, aber auf keine bestimmte Verwendung festgelegt zu sein. Damit ist es der Joker par excellence.«13 Während also Konsumprodukte in der Regel eine bestimmte Fantasie zu realisieren versprechen, bietet Geld die Möglichkeit, unendlich viele Fantasien zu bedienen, da es alle Möglichkeiten offenhält: »Geld ist Fiktionalisierungsmasse«.14 Als Gatsby nach dem Ersten Weltkrieg auf Mr. Wolfshiem trifft, verhilft dieser ihm dazu, sehr schnell sehr viel Geld zu verdienen. In Wolfshiems Aussage über Gatsby: »I made him« (GG 173) ist jedoch eine Störung des Ideals des ›self-made man‹ angelegt, die ebenso wenig unerheblich ist wie die Tatsache, dass das Geld auf illegalem Weg verdient wird. Die Opposition von ›old‹ vs. ›new money‹, die den Roman durchzieht, wird dadurch verschärft: Nicht nur stammt das Geld Gatsbys nicht aus Familienbesitz, woran sich die Nobilitierung durch Herkunft knüpft, es ist zudem auch noch durch Schwarzhandel, also: unredlich, erworben. Gatsbys »incorruptible dream« (GG 156) wird durch korruptes Geld ermöglicht, was die Verwirklichung seines Traums auf ein Paradox gründet: »You cannot win the ideal with the corrupt.«15 Die Gegensätzlichkeit von altem und neuem Geld schlägt sich unter anderem auch in der Farbsymbolik des Romans nieder. Daisys Charakterisierung als »the golden girl« (GG 120) verweist auf ›old money‹: Gold als realer Gegenwert unterscheidet sich von ›new money‹ in Form von Papiergeld insofern,16 als letzteres nur die Fiktion eines Gegenwertes darstellt. Es bedarf des Glaubens daran, dass es sich nicht nur um – objektiv betrachtet – ein Stück Papier handelt, auf dem Zahlen aufgedruckt sind.17 Papiergeld als ›new money‹ scheint daher einen höheren Fiktionswert zu haben als ›old money‹, knüpfen sich daran doch viel eher die Träume und Fantasien jener Neureichen, die durch die Akquisition von Geld danach streben, gesellschaftlich aufzusteigen. 13 | W. Ullrich: Habenwollen, S. 59. 14 | Ebd. 15 | Lewis, Roger: Money, Love and Aspiration in The Great Gatsby, in: Bruccoli, Matthew J. (Hg.): New Essays on The Great Gatsby, Cambridge, London u.a.: Cambridge University Press 1985, S. 41-57, hier S. 52. 16 | Vgl. Samkanashvili, Maia: »Uses of symbols and colors in The Great Gatsby by F. Scott Fitzgerald«, in: Journal of Education (International Black Sea University) 2 (2013), H. 1, S. 31-39, hier S. 31. 17 | Vgl. Künzel, Christine: Imaginierte Zukunft. Zur Bedeutung von Fiktion(en) in ökonomischen Diskursen, in: Balint, Iuditha/Zilles, Sebastian (Hg.): Literarische Ökonomik, Paderborn: Fink 2014, S. 143-157, hier S. 147.
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Daisys Ehemann Tom Buchanan als Vertreter des ›old money‹ ist die Verbindung von Geld und Träumen indes fremd: »Tom may buy anything he wishes – from polo ponies to cufflinks – but he understands that polo ponies and cufflinks are all he is buying. His money was divested of dreams before he was even born.«18 In dieser Hinsicht ist es signifikant, dass Gatsbys ›illusion to live by‹ durch ein grünes Licht symbolisiert wird: Grün ist auch die Farbe des Papiergeldes in den Vereinigten Staaten, es verkörpert wie kaum etwas anderes den American Dream, den auch Gatsby lebt: Alles ist möglich – und New York ist der perfekte Ort dafür: »›Anything can happen now that we’ve slid over this bridge […] anything at all…‹ Even Gatsby could happen, without any particular wonder.« (GG 69) In dem grünen Licht potenziert sich die Illusion Gatsbys damit zur Fiktion von Fiktionswerten. Dritter Akt: Der Kauf des Hauses. Direkt gegenüber Daisys neuer, luxuriöser Behausung gelegen, ermöglicht die Inbesitznahme des Hauses – »a colossal affair by any standard« (GG 5) – überhaupt erst die Symbolwerdung des grünen Lichts: »Gatsby bought that house so that Daisy would be just across the bay.« (GG 79) Gatsby geht es bei diesem Konsumakt um viel mehr als den bloßen Erwerb eines Hauses, das sich an Daisys ursprünglichem Heim orientiert und einen größtmöglichen Kontrast zu seinem Soldatenzelt von einst markiert: »When he buys his fantastic house, he thinks he is buying a dream, not simply purchasing property.«19 Die Verknüpfung von Geld und Träumen ist bei diesem Konsumakt Gatsbys am offensichtlichsten: »[H]e is completely innocent of the limits of what money can do, a man who, we feel, would believe every word of an advertisement.«20 Er kauft das Haus also nicht aufgrund seines Gebrauchs-, sondern aufgrund seines Fiktionswertes: des Glaubens daran, Daisy wiedergewinnen zu können, indem er anhand des Hausbesitzes beweist, dass er nun in der Lage ist, »to take care of her« (GG 150). Doch wie das durch Schwarzhandel erworbene Geld ist auch das Haus mit einem Makel behaftet: Der vorherige Besitzer und Erbauer des Hauses war selbst an einer nicht zu realisierenden Vision gescheitert und kurz darauf verstorben (vgl. GG 89). Das Haus wird damit am Ende zu einem Haus des Scheiterns, einem »huge incoherent failure« (GG 183). Vierter Akt: Die Akquirierung von Luxuskonsumgütern. Zur Vision ›Jay Gatsby‹ gehört der Luxus der »freshness of many clothes« (GG 151), also die Ausstattung mit einer angemessenen Menge an Kleidung, die nichts mehr mit der alten Soldatenuniform gemein hat: »[H]e opened for us two hulking patent cabinets which held his massed suits and dressing-gowns and ties, and his shirts, piled like bricks in stacks a dozen high.« (GG 93) Gatsby wählt diese 18 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51. 19 | Ebd. 20 | Ebd.
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Kleidung allerdings nicht selbst: Das übernimmt ein ›personal shopper‹, wie man heute sagen würde, der ihm zu Beginn von Frühling und Herbst jeweils eine Auswahl aus England zusendet (vgl. GG 93). Es ist bezeichnend, dass die Kleidung Gatsbys seit seiner Begegnung mit Dan Cody nicht mehr von ihm selbst gewählt zu werden scheint: Cody stattet ihn mit »a blue coat, six pairs of white duck trousers, and a yachting cap« (GG 101) aus; im Weltkrieg kleidet ihn die Soldatenuniform; danach und mit der Akquisition finanziellen Kapitals lässt er sich einkleiden. Ist Kleidung Ausdruck von Identität und Status, dann materialisiert sich die Vision ›Jay Gatsby‹ anhand der Yacht-Outfits Codys über die Soldatenuniform bis hin zum »pink suit« (GG 122). Zu den von Gatsby konsumierten Luxusgütern gehören neben Haus und Kleidung weitere Statussymbole, unter anderem ein »hydroplane« (GG 48) – ein in den 1920er Jahren großer Luxus – sowie mehrere Autos, darunter ein Rolls-Royce sowie das berühmte »yellow car« (GG 141),21 das am Ende zum »death car« (GG 138) wird. Die Farbe dieses Autos dient nicht nur dem Zweck, Aufmerksamkeit zu erregen, sondern steht in Verbindung mit der Farbe von ›old money‹: Gelb ist immer auch der Versuch, Gold zu imitieren. Entsprechend luxuriös ist seine Aufmachung: It was a rich cream colour, bright with nickel, swollen here and there in its monstrous length with triumphant hat-boxes and supper-boxes and tool-boxes, and terraced with a labyrinth of windshields that mirrored a dozen suns. (GG 64)
Das Auto als Konsumprodukt steht in direkter Verbindung zu der ersten Begegnung mit Daisy, spielt es doch eine zentrale Rolle in der Erinnerung Jordan Bakers daran: When I came opposite her house that morning her white roadster was beside the kerb, and she was sitting in it with a lieutenant I had never seen before. […] The officer looked at Daisy while she was speaking, in a way that every young girl wants to be looked at sometime, and because it seemed romantic to me I have remembered the incident ever since. His name was Jay Gatsby[.] (GG 75)
Diese Passage markiert, dass die Begegnung Daisys und Gatsbys zum Zeitpunkt einer Umbruchssituation der Anbahnung romantischer Beziehungen 21 | Im Film von Baz Luhrmann ist Gatsbys gelbes Auto ein Rolls-Royce, diese Identifikation ist im Text jedoch nicht gegeben, die Marke des gelben Autos wird, wie Matthew J. Bruccoli anmerkt, nicht genannt: »The most famous car in American fiction is never identified.« (Bruccoli, Matthew J.: Introduction, in: Ders. [Hg.]: New Essays on The Great Gatsby. Cambridge, London u.a.: Cambridge University Press 1985, S. 1-14, hier S. 6). Das Auto bietet dem Rezipienten damit einen ganz eigenen Fiktionswert.
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stattfindet: Um die Jahrhundertwende hat das Vorsprechen im Haus der Eltern ausgedient, an dessen Stelle tritt die Praxis des Rendezvous, was die Form der Interaktion der potentiellen Liebespartner grundlegend veränderte: Romantische Interaktionen wurden zu einer öffentlichen Form der Erfahrung, die in einer anonymen und öffentlichen Sphäre des Konsums stattfand, während diese Interaktionen gleichzeitig einen zeitweiligen Rückzug aus der Zugehörigkeit zur Gruppe und Familie voraussetzten. 22
Diese neue Praxis wurde laut Eva Illouz maßgeblich durch neue Freizeittechnologien geprägt, von denen das Auto eine der populärsten war, versprach es doch in besonderem Maß Unabhängigkeit.23 Auch Gatsbys »gorgeous car« (GG 63) ist auf diese Weise untrennbar mit Daisy und dem Traum, sie für sich zu gewinnen, verbunden. Fünfter Akt: Die Veranstaltung von luxuriösen, ausgelassenen Partys. Nick verzeichnet akribisch den Aufwand, den Gatsby für diese Veranstaltungen betreibt: Vom üppigen Catering über endlose Alkoholströme, Live-Musik und ausgefeilte Beleuchtungstechnik bis hin zu illustren Gästen ist für alles gesorgt (vgl. GG 39ff.). Gatsby zelebriert bei diesen Partys eine Politik der offenen Grenzen, denn der Zugang wird nicht über Einladungen reguliert, kein ›barbed wire‹ soll andere davon abhalten, bei ihm zu Gast zu sein: »People were not invited – they went there.« (GG 41) Auch dies steht im Dienst der Verwirklichung seiner Illusion: So wie er sich selbst durch einen Zufall einst in Daisys Haus wiederfand, hofft er, dass auch sie eines Tages mit den Massen, die seine Partys besuchen, zufällig in sein Haus kommen würde: »›I think he half expected her to wander into one of his parties, some night‹, went on Jordan, ›but she never did. Then he began asking people casually if they knew her, and I was the first one he found.‹« (GG 79f.) Konsequenterweise enden die Partys genau dann, als sie diese Funktion erfüllt haben: Daisy besucht sie nur ein einziges Mal und missbilligt sie, worauf es die letzte Party ist, die jemals in Gatsbys Haus stattfindet (vgl. GG 110, 113). In dem Maße, in dem Gatsby die Vision seiner selbst über diese Aneignungsakte zu verwirklichen sucht, wird er zur Projektionsfläche von Fantasien, Fiktionen und Geschichten der anderen Figuren im Roman – er wird selbst zu einer Art Konsumobjekt, anhand dessen sich die anderen die Zeit vertreiben. Die »romantic speculation« (GG 44), die sich an seiner Person entzündet, mündet in zahllose Geschichten seiner Partygäste: »Gatsby has shifting identities according to which party guest one listens to, but most of the 22 | Illouz, Eva: Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 80. 23 | Vgl. ebd., S. 82f.
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identities, even the one that turns out to be ›true‹, have something of the unreal or fantastic about them.«24 Es sind indes nicht nur die Partygäste, die GatsbyGeschichten erzählen: Gatsby selbst erzählt Nick mindestens zwei Versionen seiner Geschichte – die erste stammt vom Tagesausflug in die Stadt, die zweite aus der Nacht des tödlichen Autounfalls –; Jordan berichtet Nick von den Ereignissen in der Version, die Gatsby ihr auf einer seiner Partys darbietet; Tom präsentiert Daisy seine Sicht auf Gatsby, basierend auf seinen Nachforschungen; und schließlich werden all diese Geschichten in jener der Erzählerfigur Nick Carraway vereinigt. Die einzige Perspektive, die nicht vermittelt wird, ist jene von Daisy: Ihr Bild von Gatsby bleibt bis zum Schluss eine Leerstelle – und damit die wohl authentischste Version.25 Gatsbys Identität als Leerstelle unterstreicht indes nicht nur »the rootlessness of postwar American society«,26 sondern eine Problemlage der condition humaine in der Moderne und Postmoderne allgemein, in der Identitäten nicht mehr festgelegt, sondern mobil, in ständiger Veränderung und vom Individuum immer wieder neu zu gestalten sind. Es ist dies die zentrale Angst Gatsbys, die er beinahe nebenbei gegenüber Nick erwähnt: »I didn’t want you to think I was just some nobody.« (GG 67) Seine Illusion, ausgestaltet durch die Verbindung von Liebe, Konsum und Geld, ist das Fundament seiner Identität.
D ie I nk arnation der I llusion G atsbys : »The golden girl« Die Art, wie die Figur Daisy eingeführt wird, offenbart unmittelbar, wie sie zum Zentrum von Gatsbys Illusion werden konnte: The only completely stationary object in the room was an enormous couch on which two young women were buoyed up as though upon an anchored balloon. They were both in white, and their dresses were rippling and fluttering as if they had just been blown back in after a short flight around the house. (GG 8)
Nicht nur ist ihre Erscheinung ephemerer, fast schon fantastischer Art, die ihrem Mädchennamen gerecht wird,27 ihre bevorzugte Farbe ist zudem Weiß: Einerseits Reinheit und Unschuld suggerierend, gleicht Daisy damit anderer24 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 46. 25 | Luhrmanns Verfilmung führt dies explizit aus, wenn Gatsby am Ende über sich selbst sagt: »You know I’ve thought for a while I had a lot of things. But the truth is I’m empty. I suppose that’s why I make things up about myself.« (The Great Gatsby: 01:52:51) 26 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 46. 27 | Vgl. Fußnote 10.
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seits einer Projektionsfläche, die beliebig beschrieben und geformt werden kann. Diese Hypothese wird gestützt durch die Wahrnehmung ihrer Wahrnehmung: erstens ihr Blick, zweitens ihre Stimme. Die Wiederbegegnung mit Daisy, wie Nick sie beschreibt, ist eine der wenigen Stellen im Roman, die Auskunft über Daisys Wirkung auf Männer geben: ›I’m p-paralysed with happiness.‹ She laughed again, as if she had said something very witty, and held my hand for a moment, looking up into my face, promising that there was no one in the world she so much wanted to see. That was a way she had. (GG 9)
Daisys Blick rückt ihr Gegenüber ins Zentrum und affirmiert dessen Einzigartigkeit, ganz ähnlich Gatsbys Lächeln, das auf Nick bei deren erster Begegnung einen vergleichbaren Effekt hat (vgl. GG 48). Vergleicht man diese Beschreibung mit jener von Daisys Stimme, die kurz darauf erfolgt, fällt die wiederholte Zuschreibung einer bestimmten Eigenschaft auf: I looked back at my cousin, who began to ask me questions in her low, thrilling voice. It was the kind of voice that the ear follows up and down, as if each speech is an arrangement of notes that will never be played again. Her face was sad and lovely with bright things in it, bright eyes and a bright passionate mouth, but there was an excitement in her voice that men who had cared for her found difficult to forget: a singing compulsion, a whispered ›Listen‹, a promise that she had done gay, exciting things just a while since and that there were gay, exciting things hovering in the next hour. (GG 9f.) 28
Nicht nur ihr Blick, auch ihre Stimme ist ›promising‹ – ein Versprechen von künftigen Möglichkeiten, beflügelt sie Fantasien, Träume, Wünsche, kurz: Fiktionen. Nick identifiziert Daisys Stimme als zentrale Attraktion für Gatsby: »I think that voice held him most, with its fluctuating, feverish warmth, because it couldn’t be overdreamed – that voice was a deathless song.« (GG 97) Dass Daisys Stimme als unsterblich und durch keinen Traum zu übertreffen wahrgenommen wird, ist im Zusammenhang mit Gatsbys berühmter Charakterisierung von Daisys Stimme zu verstehen – die, wie Roger Lewis anmerkt, nur Gatsby vornehmen kann:29 »Her voice is full of money« (GG 120). Vor dem Hintergrund, dass Geld den höchsten Fiktionswert überhaupt hat, weil es ein Versprechen unendlicher, künftiger Möglichkeiten ist, enthält Gatsbys Aussage die Essenz von Daisys Funktion für seine Illusion: Als Verheißung aller Möglichkeiten in der Zukunft ist sie in ihrer gesamten Erscheinung die per28 | Die Passage erinnert in Teilen an Gatsbys Beschreibung von Daisys Haus, in der u.a. von »gay and radiant activities taking place through its corridors« (GG 149) die Rede ist. 29 | Vgl. R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51.
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fekte Leinwand, auf die er seine Visionen malen kann: »Daisy’s charm is allied to the attraction of wealth, money and love hold similar attractions.«30 Ihre Funktion besteht jedoch nicht in einer reinen Äquivalenzbeziehung zu jener von Geld, viel eher ist sie für ihn das perfekte Konsumprodukt: Als ephemere und schwer zu fassende Figur bietet sie genügend Raum für ›day-dreaming‹, gleichzeitig ist sie gerade noch real genug, um Gatsbys Illusion in der Realität zu verankern.31 Daisy bildet damit nicht nur die perfekte Ergänzung zu Gatsbys Illusion; die Eigenschaft, eine Projektionsfläche für Fantasien und Träume der anderen Figuren zu sein, ist auch eine der wenigen Gemeinsamkeiten der beiden. Das wird beispielsweise auch am Einsatz des Wortes ›whisper‹ deutlich, das akustisch ein Grenzphänomen zwischen Verstummen und Artikulation darstellt: Es ist Daisy, deren Verlautbarungen am häufigsten als Flüstern charakterisiert werden, während die Projektionen der anderen Figuren auf Gatsby ebenfalls »whispers« (GG 44) sind. Am Ende des Textes verknüpft der Text das Flüstern mit der Überhöhung von Gatsbys Illusion, wenn Nick über West Egg sinniert: »Its vanished trees, the trees that had made way for Gatsby’s house, had once pandered in whispers to the last and greatest of all human dreams.« (GG 183) Dass Daisy jedoch nicht vorbehaltlos ihre Funktion in der Illusion Gatsbys erfüllen mag, wird deutlich, wenn man ihren Namen auf der Folie der Farbsymbolik des Romans betrachtet: ›Daisy‹ bezeichnet im Englischen das Gänseblümchen bzw. die Margerite, eine Blume also, die außen weiße Blütenblätter und innen einen gelben Kern hat. Kann Gelb aufgrund der Ähnlichkeit mit Gold, also ›old money‹ assoziiert werden, ist es jedoch gleichzeitig der Versuch, dieses zu imitieren: Gelb ist damit nicht eindeutig ›new‹ oder ›old money‹ zuzuordnen.32 Die Konnotation des nur Scheinhaften wird anhand der anderen Gelb-Zuschreibungen im Roman deutlich: Gelb sind nicht nur Gatsbys Auto, die Musik seiner Partys (»yellow cocktail music« [GG 40]) oder die Kleider seiner Gäste (»two girls in twin yellow dresses« [GG 43]), sondern auch die Fenster bei Toms Party in Myrtles Apartement (»yellow windows« [GG 36]), die »enormous yellow spectacles« (GG 23) von Doctor T.J. Eckleburg, und das Haar von Daisys Tochter Pammy (»old yellowy hair« [GG 117]). Für Daisys Charakterisierung bedeutet dies, dass sie im Kern zum einen von dem Verlangen 30 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 50. 31 | Dafür spricht unter anderem auch, dass er Daisy anhand ihres ›Wertes‹ beurteilt, der sich am Begehren anderer bemisst: »It excited him, too, that many men had already loved Daisy – it increased her value in his eyes.« (GG 149). Daisy wird damit zu einem viel begehrten Konsumobjekt, einem ›Topseller‹ sozusagen. 32 | Dem Aufsatz von Maia Samkanashvili mangelt es in dieser Hinsicht leider an notwendiger Differenzierung, indem Gelb grundsätzlich ›old money‹ zugeordnet wird (vgl. M. Samkanashvili: Uses of symbols and colors, S. 34).
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nach Geld, also materieller Sicherheit getrieben ist – was angesichts der wohlhabenden Schicht, der sie entstammt, wenig verwundert – und zum anderen der Scheinhaftigkeit unterliegt, das heißt, dass sie bereit ist, sich selbst, also ihre Identität, dem Streben nach Geld unterzuordnen und entsprechend den Projektionen der Männer, die dieses Geld besitzen, anzupassen. Dies zeigt sich anhand der Geschehnisse nach dem Ersten Weltkrieg. Mit Ende des Krieges kann Gatsby nicht sofort zurück nach Amerika kommen, Daisy wird ungeduldig: »[S]he wanted to see him and feel his presence beside her and be reassured that she was doing the right thing after all.« (GG 152) Im Gegensatz zu Gatsby nimmt ihre Liebe und Treue in der Zeit seiner Abwesenheit ab, ihr fehlt die physische Präsenz, deren Absenz Gatsbys Liebe zu Daisy gerade umso besser gedeihen lässt: »The period when his love becomes most intense, however, is precisely that in which he does not see Daisy.«33 Daisy dagegen drängt es aus ihrem Innersten – dem gelben Kern – zu einer Entscheidung: And all the time something within her was crying for a decision. She wanted her life shaped now, immediately – and the decision must be made by some force – of love, money, of unquestionable practicality – that was close at hand. That force took shape in the middle of spring with the arrival of Tom Buchanan. (GG 152f.)
Die letztendliche Macht, die die Entscheidung herbeiführt, ist nicht in erster Linie Liebe, sondern Geld, das anhand von (materieller) Erleichterung den Kampf der Gefühle für sich entscheidet: »There was a wholesome bulkiness about his person [Tom, A.O.] and his position, and Daisy was flattered. Doubtless there was a certain struggle and a certain relief.« (GG 153) Die klassische Opposition von Liebe versus Geld wird anhand zweier Gaben, die Daisy am Tag vor ihrer Hochzeit von Gatsby und Tom empfängt, überdeutlich in Szene gesetzt: Tom schenkt ihr »a string of pearls valued at three hundred and fifty thousand dollars« (GG 76), während Gatsby ihr einen Brief schreibt,34 dessen Inhalt der Leser nicht erfährt. Ist ersteres eine Demonstration der Macht des Geldes – in Baz Luhrmanns Film sieht man Tom die Perlenkette um Daisys Hals wie eine Leine halten35 –, so steht letzteres in der Tradition der Empfind33 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 49. 34 | Der Text selbst sagt an dieser Stelle nicht, dass der Brief von Gatsby ist, jedoch lässt die emotionale Reaktion Daisys innerhalb der Logik der Narration kaum einen anderen Schluss zu: Welch anderer Brief könnte eine derartige Reaktion hervorrufen? 35 | Vgl. The Great Gatsby: 00:46:36. Dass es sich bei der Hochzeit der beiden um eine Inbesitznahme Daisys durch Tom handelt, verdeutlicht der Film anhand der Beschreibung seines Handelns: »A year later, Tom Buchanan of Chicago swept in and stole her away.« (vgl. ebd. 00:46:28) Die Assoziation der Perlenkette mit einer Tierleine ver-
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samkeit und des authentischen Gefühlsausdrucks, der sich über das Verhältnis von Nähe und Distanz bestimmt.36 Der Brief bleibt jedoch eine Leerstelle,37 suggerierend, dass es Liebe ohne Geld nicht geben kann, da Liebe, die sich nicht auch in monetären Einheiten ausdrücken lässt, keine Stimme erhält. Daisys Zerreißen der Perlenkette deutet zwar kurz die Möglichkeit an – sie sagt Jordan, sie habe es sich anders überlegt –, doch der Brief löst sich auf, bevor seine materielle Existenz Wirkmacht entfalten könnte: »She wouldn’t let go of the letter. She took it into the tub with her and squeezed it up in a wet ball, and only let me leave it in the soap-dish when she saw it was coming to pieces like snow.« (GG 77) Daisy verstummt daraufhin: [S]he didn’t say another word. We gave her spirits of ammonia and put ice on her forehead and hooked her back into her dress, and half an hour later, when we walked out of the room, the pearls were around her neck and the incident was over. Next day at five o’clock she married Tom Buchanan without so much as a shiver[.] (GG 77)
Der gelbe Kern ihres Wesens wird hieran deutlich: Nicht nur entscheidet sie sich für das Geld, für das die gelbe Farbe steht, sie lebt fortan eine Scheinexistenz, indem sie etwas wird, das sie ihrer emotionalen Reaktion auf Gatsbys Brief nach zu urteilen gar nicht sein möchte: Tom Buchanans Frau – mit allen Konsequenzen, wie Jordan weiter berichtet: »I saw them in Santa Barbara when they came back, and I thought I’d never seen a girl so mad about her husband.« (Ebd.) Die Lehre, die Gatsby daraus zieht, ist nicht, dass Liebe und Geld austauschbar sind, wohl aber, dass Geld ein Katalysator für Liebe sein kann. Sein Streben nach Geld ist daher fortan auch nicht der Ersatz für Liebe, wie Roger Lewis behauptet,38 sondern Mittel zum Zweck: Auch er wird fortan seine Liebe anhand von Geld und Konsum zum Ausdruck bringen. Der Fiktionswert von Geld schließt die Fiktion von Liebe gerade nicht aus, sondern ein. Auf diesem Zusammenhang schließlich gründet Gatsbys ›illusion to live by‹.
bindet Daisy zudem mit Toms Geliebter Myrtle, die von ihm eine Hundeleine geschenkt bekommt, vgl. dazu: Froehlich, Maggie Gordon: »Jordan Baker, Gender Dissent, and Homosexual Passing in The Great Gatsby«, in: The Space Between 7 (2010), H. 1, S. 81103, hier S. 96. 36 | Vgl. dazu allgemein: Stauf, Renate/Simonis, Annette/Paulus, Jörg (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin/Boston: de Gruyter 2013. 37 | Der Film Luhrmanns füllt diese Leerstelle und schafft damit Eindeutigkeiten – der Inhalt des Briefes lautet im Film u.a.: »Dear Daisy, the truth is…I’m penniless« (The Great Gatsby: 01:53:55). 38 | Vgl. R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 51.
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»You can ’ t repe at the past«: D ie U nvereinbarkeit von I llusion und L eben Das Wiedersehen von Daisy und Gatsby in der Mitte des Romans stellt den Höhepunkt der bisher ausgeführten Zusammenhänge von Geld, Liebe und Konsum dar. Zunächst ist Nick von Gatsbys Bescheidenheit hinsichtlich der Bitte, Daisy zum Tee einzuladen beeindruckt: The modesty of the demand shook me. He had waited five years and bought a mansion where he dispensed starlight to casual moths – so that he could ›come over‹ some afternoon to a stranger’s garden. (GG 79)
Dahinter steckt aber natürlich jene Absicht, mit der Gatsby das Haus gekauft hat: »He wants her to see his house« (ebd.) erklärt ihm Jordan – um, so die Implikation, Daisy erneut für sich zu gewinnen, indem er ihr ein Haus wie jenes bietet, in dem sie aufgewachsen ist. Gatsbys Kleidung an diesem Tag spiegelt die Farben Daisys wieder, wie er sie sieht: »Gatsby, in a white flannel suit, silver shirt, and gold-coloured tie« (GG 85), lässt Nicks Behausung mit einem »greenhouse« (ebd.) ausstatten, um Daisy einen angemessenen Empfang zu bereiten. Der Beginn des Treffens ist jedoch von Verlegenheit auf allen Seiten geprägt, die einer gewissen Komik nicht entbehrt: Herzstück dessen ist eine »defunct mantelpiece clock« (GG 87), die durch Gatsbys Anspannung in Mitleidenschaft gezogen wird: »Luckily the clock took this moment to tilt dangerously at the pressure of his head, whereupon he turned and caught it with trembling fingers, and set it back in place.« (Ebd.) Die Uhr deutet nicht nur darauf hin, dass es für Daisy und Gatsby im Grunde bereits zu spät ist – »It’s too late« (GG 85) sagt Gatsby selbst kurz vor Daisys Ankunft –, sondern auch auf die unabweisliche Wahrheit, auf die Nick Gatsby kurz darauf aufmerksam macht: »You can’t repeat the past.« (GG 111)39 Eine Entspannung der Situation tritt erst ein, als Nick Daisy und Gatsby für eine Weile allein lässt – wie schon beim Brief Gatsbys an Daisy vor ihrer Hochzeit bleibt auch der Inhalt dieses Gesprächs zwischen den beiden eine Leerstelle. Was auch immer Gatsby ihr erzählt, es führt zur Erfüllung eines zentralen Elements seines Traums: Daisy kommt in sein Haus, womit seine Illusion nicht mehr länger nur Fiktion ist, wird sie doch durch die Anwesenheit Daisys, durch ihre reale Existenz und Präsenz belebt, ja greif bar. Die Rechnung, Daisy
39 | Gatsby wird in der Folge zudem selbst als Uhr charakterisiert: Nicht nur weiß er die exakte Zeitspanne zu benennen, während der er Daisy nicht gesehen hat (vgl. GG 88), er reagiert auch auf Daisys Anwesenheit in seinem Haus wie eine zu stark aufgezogene Uhr: »Now, in the reaction, he was running down like an overwound clock.« (GG 93)
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durch »showing off his possessions«40 zu gewinnen, geht zunächst auf. Angesichts seines Hauses bringt sie – zum ersten Mal im Roman – Liebe wörtlich zum Ausdruck: »›That huge place there?‹ she cried pointing. – ›Do you like it?‹ – ›I love it‹« (GG 91). Roger Lewis bezeichnet den Zusammenhang zwischen Liebe und Konsum an dieser Stelle als ›comically‹, »even though those feelings are sincere«.41 Dies ist er jedoch keineswegs, denn anhand von Daisys und Toms Hochzeit hat Gatsby gelernt, dass diese Art der Liebeskommunikation der authentischste Ausdruck von Gefühlen gegenüber Daisy ist. Nicht obwohl, sondern gerade weil die Gefühle echt sind, werden sie im Vokabular von Konsum ausgedrückt. Um den Moment des Beginns der Transformation von Gatsbys Traum in Realität – also den Moment, in dem Daisy sein Anwesen betritt – angemessen zu begehen, nehmen sie nicht die Abkürzung durch Nicks Garten, sondern den Umweg über die Straße. Das Anwesen durch das große Eingangstor betretend, zeigt das Haus bei Daisy die begehrte Wirkung: With enchanting murmurs Daisy admired this aspect or that feudal silhouette against the sky, admired the gardens, the sparkling odor of jonquils and the frothy odor of hawthorn and plum blossoms and the pale gold odor of kiss-me-at-the-gate. (GG 91f.)
Durch die zahlreichen Räumlichkeiten des Hauses schlendernd, gelangen sie schließlich zu Gatsbys Zimmer, in dem ein Set von Objekten sofort Daisys Aufmerksamkeit auf sich zieht: »His bedroom was the simplest room of all – except where the dresser was garnished with a toilet set of pure dull gold. Daisy took the brush with delight, and smoothed her hair[.]« (GG 92f.) Nicht nur handelt es sich bei der Frau, die bei der Toilette sitzt, um eine kulturgeschichtlich ikonische Szene, was ihre Funktion als Projektionsfläche unterstreicht, sie suggeriert auch unmittelbar Intimität mit Gatsby. Dass dies anhand von Objekten geschieht, die aus purem Mattgold gemacht sind, bestätigt Gatsby in seiner Strategie der Verknüpfung von Liebe, Geld und Konsum. Glaubt man dem Motto, das dem Roman vorangestellt ist, ist Gatsby fast an seinem Ziel angekommen: Then wear the gold hat, if that will move her; If you can bounce high, bounce for her too, Till she cry ›Lover, gold-hatted, high-bouncing lover, I must have you!‹
40 | R. Lewis: Money, Love and Aspiration, S. 45. 41 | Ebd.
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Dementsprechend unterzieht Gatsby, »consumed with wonder at her presence« (GG 93), all seine Besitztümer einer Neubewertung: »[H]e revalued everyt hing in his house according to the measure of response it drew from her well-loved eyes.« (GG 92) Durch die Reaktion auf das Toilette-Set bestätigt, geht Gatsby dazu über, seinen Reichtum an Kleidung vorzuzeigen: He took a pile of shirts and began throwing them, one by one, before us, shirts of sheer linen and thick silk and fine flannel, which lost their folds as they fell and covered the table in many coloured disarray. While we admired he brought more and the soft rich heap mounted higher – shirts with stripes and scrolls and plaids in coral and apple-green and lavender and faint orange, with monograms of indian blue. (GG 93)
Gatsbys Liebeskommunikation, die sich in der Sprache des Konsums ausdrückt, wird von Daisy erwidert: »Suddenly, with a strained sound, Daisy bent her head into the shirts and began to cry stormily. ›They’re such beautiful shirts‹ she sobbed, her voice muffled in the thick folds. ›It makes me sad because I’ve never seen such – such beautiful shirts before.‹« (GG 93f.) Dass ihre Stimme – ›full of money‹ und daher das Medium der unendlichen Möglichkeiten – in den vielen bunten Hemden, also in Konsumprodukten, erstickt, verdeutlicht die Reue über nicht wahrgenommene und damit vergangene Möglichkeiten. Gleichzeitig werden diese Möglichkeiten als solche überhaupt erst anerkannt: Die Hemden sind die schönsten, die sie je gesehen hat und es macht sie traurig, dass sie diese erst jetzt sieht – lies: dass Gatsby erst jetzt in ihr Leben zurückkehrt. Es ist also nicht nur Gatsbys Liebe zu Daisy, die in der Sprache des Konsums Ausdruck findet,42 sondern auch Daisys Liebe zu Gatsby. Dementsprechend ist sie nicht nur für ihn, sondern auch er für sie eine Projektionsfläche: Mit der Verbindung von Liebe, Geld und Konsum vermittelt er ihr, dass alles ganz anders sein könnte, schließlich fühlt sie sich gefangen in der »purposelessness characterizing her whole life«:43 Ihr Leben ist bestimmt durch die nicht sonderlich glückliche Ehe mit Tom, der sie bereits kurz nach den Flitterwochen betrogen hat: »Well, I’ve had a very bad time, Nick, and I’m pretty cynical about everything.« (GG 17) All ihre Hoffnungen auf ein Leben ohne Tom kann sie auf Gatsby projizieren, damit hat er für sie ebenso einen Fiktionswert wie sie für ihn: Er wird zum Konsumprodukt, das ihr suggeriert, ihre Träume könnten wahr werden.44 Sie vergleicht Gatsby daher folgerichtig 42 | Vgl. ebd., S. 45f. 43 | Ebd., S. 50. 44 | Luhrmanns Film verleiht dem Ausdruck, wenn Daisy, mit Gatsby in seinem Haus tanzend, zu ihm sagt: »I wish I’d done everything on earth with you. All my life. I wish it could always be like this.« (vgl. The Great Gatsby: 01:06:10) Später, als Daisy bei seiner Party zu Gast ist, bringt sie ihre Faszination für Gatsbys Fantasien zum Ausdruck, wo-
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mit einer Werbeanzeige, die Nick signifikanterweise mit ihrem Liebesgeständnis assoziiert: »›You always look so cool,‹ she repeated. She had told him that she loved him, and Tom Buchanan saw. […] ›You resemble the advertisement of the man‹ she went on innocently. ›You know the advertisement of the man –‹« (GG 119). Tom unterbricht sie, bevor sie ihr Liebesgeständnis, in die Sprache des Konsums gehüllt, vollenden kann.45 Mit Daisys Anwesenheit in seinem Haus verschwimmen für Gatsby die Grenzen zwischen Realität und Fiktion: »Sometimes, too, he stared around at his possessions in a dazed way, as though in her actual and astounding presence none of it was any longer real. Once he nearly toppled down a flight of stairs.« (GG 92) Das Verwischen dieser Grenze, die ihn ins Stolpern bringt, markiert die Verschiebung seiner Illusion ins Reale: Das Haus, sein Besitz, all die Luxuskonsumgüter und schließlich Daisy sind reale Entitäten und nicht länger Teil seiner Fiktion. Das grüne Licht am anderen Ende der Bucht verliert damit an Bedeutung: Possibly it had occurred to him that the colossal significance of that light had now vanished forever. Compared to the great distance that had separated him from Daisy it had seemed very near to her, almost touching her. It had seemed as close as a star to the moon. Now it was again a green light on a dock. His count of enchanted objects had diminished by one. (GG 94)
Die Umsetzung dieser Passage in Baz Luhrmanns Verfilmung verdeutlicht die eingangs dargelegte Spannung zwischen Nähe und Distanz, die die Beziehung der beiden bestimmt: Gatsby und Daisy liegen gemeinsam in seinem Bett, von dem aus er das grüne Licht sehen kann. Er hält Daisy in seinem Armen, doch er sieht sie nicht. Gatsby hält noch immer Ausschau nach dem grünen Licht
bei er gleichzeitig ihre Funktion als Projektionsfläche spiegelt: »DAISY: ›Is all this made entirely from your own imagination?‹ – GATSBY: ›No. You see, you were there all along… in every idea…in every decision. Of course, if anything is not to your liking, I’ll change it.‹ – DAISY: ›It’s perfect. From your perfect irresistible imagination.‹« (Ebd.: 01:12:51) Bei Gatsbys Angebot, alles zu ändern, was Daisy nicht gefällt, erfolgt ein Schnitt auf Tom, der sich gerade zu einem Stelldichein mit einer anderen Frau aufmacht. 45 | Der Film von Baz Luhrmann unterstreicht den Zusammenhang zwischen Liebe und Konsum an dieser Stelle, indem er Daisy ausreden lässt und die Werbeanzeige unmittelbar mit den bunten Hemden Gatsbys verknüpft: »You always look so cool like the advertisement of the man in Times Square. The man in the cool, beautiful shirts.« (Ebd. 01:28:45)
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– obwohl das, was es bis dahin signifizierte, nun real und nicht mehr Illusion ist.46 Diese ist indes machtvoller geworden als ihr ursprüngliches Objekt: There must have been moments even that afternoon when Daisy tumbled short of his dreams – not through her own fault, but because of the colossal vitality of his illusion. It had gone beyond her, beyond everything. He had thrown himself into it with a creative passion, adding to it all the time, decking it out with every bright feather that drifted his way. No amount of fire or freshness can challenge what a man can store up in his ghostly heart. (GG 97)
Die Illusion verselbstständigt sich und löst sich schließlich um ihrer selbst willen von der Realität, womit sie potentiell pathologisch wird. Gatsbys Erweiterung seiner Illusion um den unrealistischen Wunsch, die Vergangenheit der letzten fünf Jahre ungeschehen zu machen,47 äußert sich als Symptom dessen: He talked a lot about the past, and I gathered that he wanted to recover something, some idea of himself perhaps, that had gone into loving Daisy. His life had been confused and disordered since then, but if he could once return to a certain starting place and go over it all slowly, he could find out what that thing was… (GG 111)
Dass er die Realisierung dieser Wiederholung der Vergangenheit an seine Identität knüpft, wird zum entscheidenden Faktor seines Scheiterns.48 Gatsby legt sich und seine Existenz so sehr auf diese Illusion fest, dass er die Realität nicht mehr anerkennt. Daisy bricht unter seinem Drängen, Tom zu sagen, dass sie ihn nie geliebt habe, zusammen: »›Oh, you want too much!‹ she cried to Gatsby. ›I love you now – isn’t that enough? I can’t help what’s past.‹ She began to sob helplessly. ›I did love him once – but I loved you too.‹« (GG 133) Gatsby ist nicht nur angesichts ihrer Ablehnung seines Ansinnens, ›to repeat the past‹ entsetzt – für Daisy zählt nur die Gegenwart –, sondern auch und vor allem an46 | Vgl. The Great Gatsby: 01:03:05. Dieser Inszenierung wird umso mehr Gewicht verliehen, als sie kurz darauf wiederholt wird: 01:25:35. 47 | Gatsby macht in dieser Hinsicht keine Kompromisse. Nachdem Daisy Tom verlassen hat – mit der Begründung, dass sie ihn nie geliebt habe – soll die Uhr zurückgedreht werden: [A]fter she was free, they were to go back to Louisville and be married from her house – just as if it were five years ago.« (GG 111) 48 | Im Grunde lässt sich die Ereigniskette von seinem Tod bis zu diesem Punkt zurückverfolgen: Wäre es für Gatsby genug gewesen, »just to hold Daisy« (The Great Gatsby: 01:06:40), hätte es das Mittagessen in Toms Haus mit dem sich anschließenden Ausflug in die Stadt, den vertauschten Autos und der daraus resultierenden Fehlinterpretation Myrtles nicht gegeben. Myrtle wäre nicht ums Leben gekommen und Wilson hätte keinen Grund gehabt, zum Mörder Gatsbys (im Auftrag Toms) zu werden.
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gesichts der Verletzung des Exklusivitätsgebots der romantischen Liebe: »›You loved me too?‹ he repeated.« (Ebd.) Vor dem Hintergrund, dass Gatsby sich seit ihrer ersten Begegnung mit Daisy verheiratet fühlt, ist ihre Ehe mit Tom eine Anomalie in Gatsbys Realität, die keine mehr ist. Folgerichtig leugnet Gatsby gegenüber Nick den Wahrheitsgehalt von Daisys Aussagen: »I don’t think she ever loved him. […] Of course she might have loved him just for a minute, when they were first married – and loved me more even then, do you see?« (GG 153)49 Da sein Ziel die Rückkehr zum Zeitpunkt der Ursprungsszene ist, als er seine Vision mit Daisys sterblichem Atem verheiratet hat, kann er ihren Worten keinen Glauben schenken. In dieser Perspektive ist es nicht die Trias von Liebe, Geld und Konsum, die Gatsby und Daisy scheitern lassen, wie kulturkritische Interpretationen behaupten mögen – diese drei sind keine Opponenten, sondern gegenseitige Stabilisatoren, wie sich an der Beständigkeit der Ehe von Tom und Daisy zeigt. Und Gatsby verheiratet die Illusion von sich selbst nicht nur mit dem Konsumobjekt Daisy Fay, sondern, um sie für sich zu gewinnen, auch mit dem Erwerb von Geld und dem Konsum von Luxusgütern. Diese Identitätskonstruktion ist von Erfolg gekrönt, solange seine ›illusion to live by‹ qua Liebe, Konsum und Geld realisierbar bleibt. Mit der Leugnung der Vergangenheit und dem Wunsch, diese in sich selbst zu verändern, verlässt Gatsbys Illusion jedoch den Bereich des Machbaren. Und so ist mit dem Verlust der Realität auch Gatsby der materiellen Welt abhandengekommen. Am Ende, so vermutet Nick, mag ihm auch das letzte, das von seiner Identität noch blieb, verloren gegangen sein – der Glaube an seine Illusion und an Daisy: No telephone message arrived […]. I have an idea that Gatsby himself didn’t believe it would come, and perhaps he no longer cared. If that was true he must have felt that he had lost the old warm world, paid a high price for living too long with a single dream. (GG 163)
Mit dem Verlust der ›illusion to live by‹, an der die Identität Gatsbys hängt, ist die Auslöschung der physischen Existenz Gatsbys nur folgerichtig. Der Text markiert die zutiefst materielle Determinierung der Welt, in welcher der Träu49 | Der Streit Gatsbys mit Tom, wen Daisy liebt und wen nicht, erinnert an das Spiel »Sie liebt mich, sie liebt mich nicht«, das man mit Margeriten, also englisch: ›Daisies‹, zu spielen pflegt. Dies ist der Punkt, an dem der gelbe Kern Daisys für Gatsby problematisch wird: Während die Farbe Weiß ihre Unschuld vorgibt, steht die gelbe Mitte für ihr Streben nach Geld und materieller Sicherheit, was ihre Hochzeit mit Tom begründet. Dass sie ihn neben Gatsby auch liebte, ist dem Schein, für den die Farbe Gelb im Roman auch steht, zu verdanken: Daisy hat sich angepasst, ihre Gefühle sozusagen auf Tom transferiert.
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mer Gatsby keinen Platz mehr hat, indem auch sein Tod in der Metaphorik der Kosten-Nutzen-Rechnung gefasst wird: Gatsby bezahlt den Glauben an seine Illusion mit dem höchsten Preis: seinem Leben.
L iebes -K onsum -Ä sthe tik Es lässt sich resümieren, dass der aufgezeigte Zusammenhang von Liebe, Geld und Konsum nicht nur die Beziehungen zwischen Gatsby und Daisy beziehungsweise Daisy und Tom prägt, sondern auch die Art und Weise, wie davon erzählt wird. Nicht nur wird Liebe primär durch Konsumvokabular zum Ausdruck gebracht oder beschrieben, auch die Erzählperspektive des Romans ist davon geprägt. Die homodiegetische, intern fokalisierte Erzählperspektive Nick Carraways filtert sämtliche Ereignisse in und um Gatsby, so dass die narrative Vermittlung durch seine Wahrnehmung geprägt ist. Obgleich er sich der Objektivität verschreibt (vgl. GG 1f.) und von sich behauptet, eine der wenigen ehrlichen Personen zu sein, die er kennt (vgl. GG 60), ist er ein höchst unzuverlässiger Erzähler, was sich nicht nur in der gezielten Selektion zu erzählender Begebenheiten und damit einhergehender Leerstellen, sondern auch in den zahlreichen fragmentierten und sich zum Teil wiederholenden Analepsen niederschlägt. Die Ausgestaltung nebensächlicher wie zentraler Ereignisse – wie beispielsweise Nicks und Gatsbys Ausflug in seinem ›hydroplane‹ oder der Brief Gatsbys an Daisy – wird an die Imagination des Lesers delegiert.50 Seine Motivation, die Geschichte Gatsbys zu erzählen, gibt Nick nicht preis, auch dies bleibt eine Leerstelle – die die Verfilmung von Baz Luhrmann durch die Pathologisierung der Erzählerfigur und ihrer Gleichsetzung mit dem Autor Fitzgerald zu füllen sucht. Die damit implizierte Traumatisierung Nicks durch die Erlebnisse mit Gatsby unterstellen der Beziehung der beiden eine affektive Grundlage: Wie Edward Wasiolek herausgearbeitet hat, gibt es gute Gründe, Nick Carraway als homosexuelle Figur zu lesen – allen voran die oft überlesene Passage am Ende des zweiten Kapitels, in der Nick mit Mr McKee im Bett landet.51 Nicks Faszination für Gatsby ist damit mehr als nur Bewun-
50 | Das Füllen dieser Leerstellen führt mitunter zur Produktion neuer literarischer Texte, wie beispielweise Chris Bachelders Kurzgeschichte Gatsby’s Hydroplane, in der es darum geht, wie das Wasserflugzeug wohl ausgesehen haben mag (in: Subtropics 5 (Winter/Spring 2008). 51 | Vgl. Wasiolek, Edward: »The Sexual Drama of Nick and Gatsby«, in: The International Fiction Review 19 (1992), S. 14-22; insbes. S. 18-21. Vgl. auch M.G. Froehlich: Jordan Baker, S. 85.
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derung, Gatsby ist »Nick’s economic and social phantasy«,52 die in der heldenhaften Überhöhung des ›Great Gatsby‹ mündet: »Nick romanticizes Gatsby in the exact same way that Gatsby romanticizes Daisy«53. Die Illusion Gatsbys, die anhand der Liebe zum Konsumobjekt Daisy figuriert wird, spiegelt sich im affektiven Verhältnis des Erzählers, Nick, zu seinem Erzählgegenstand, Gatsby. Dessen Lächeln hat für Nick von Beginn an identitätsstiftende Funktion – analog zu Konsumprodukten und ihren Fiktionswerten: He smiled understandingly – much more than understandingly. It was one of those rare smiles with a quality of eternal reassurance in it, that you may come across four or five times in life. It faced – or seemed to face – the whole eternal world for an instant, and then concentrated on you with an irresistible prejudice in your favour. It understood you just so far as you wanted to be understood, believed in you as you would like to believe in yourself, and assured you that it had precisely the impression of you that, at your best, you hoped to convey. (GG 48, Hervorhebung im Original) 54
Unter den Vorzeichen affektiver Zuneigung erzählt Nick damit wie Gatsbys Partygäste eine Geschichte davon, wer Gatsby ist – womit dieser für ihn wie für den Leser zum (Text-)Konsum-Objekt gerät, an dem sich Fantasien entzünden. Die Erzählerfigur Nick ist nicht zuletzt Teil des »bond business« (GG 3), das heißt: Er handelt beruflich mit Projektionen, Hoffnungen und Fiktionen. Dem Erzählverfahren, also der Ästhetik des Textes ist damit das Begehren von Liebe, Konsum und Geld analog der Konstruktion der Illusion ›Jay Gatsby‹ durch James Gatz eingeschrieben: The Great Gatsby ist gekennzeichnet durch eine genuine Liebes-Konsum-Ästhetik.
L iter aturverzeichnis Bachelder, Chris: »Gatsby’s Hydroplane«, in: Subtropics 5 (Winter/Spring 2008). Bruccoli, Matthew J.: Introduction, in: Ders. (Hg.): New Essays on The Great Gatsby, Cambridge, London u.a.: Cambridge University Press 1985, S. 1-14.
52 | Ebd. S. 21. 53 | Olear, Greg: Ga(stb)y, in: The Weeklings, www.theweeklings.com/golear/2013/ 01/08/gatsby vom 8.1.2013. 54 | Baz Luhrmann inszeniert die erste Begegnung von Nick und Gatsby als Höhepunkt der Gatsby-Party. Gatsbys Lächeln und erster Auftritt im Film wirkt, begleitet von Feuerwerk und dementsprechend dramatischer Musik, wie eine Offenbarung: Für Nick ist es Liebe auf den ersten Blick. Vgl. The Great Gatsby: 00:29:47.
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Campbell, Colin: The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism. York: Writers Service 2005 [Reprint von: Oxford 1987]. Fitzgerald, F. Scott: The Great Gatsby. The Tale of a Man who built himself an Illusion to live by, London: Penguin 2012 [1925]. Froehlich, Maggie Gordon: »Jordan Baker, Gender Dissent, and Homosexual Passing in The Great Gatsby«, in: The Space Between 7 (2010), H. 1, S. 81103. Illouz, Eva: Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Künzel, Christine: Imaginierte Zukunft. Zur Bedeutung von Fiktion(en) in ökonomischen Diskursen, in: Balint, Iuditha/Zilles, Sebastian (Hg.): Literarische Ökonomik, Paderborn: Fink 2014, S. 143-157. Lewis, Roger: Money, Love and Aspiration in The Great Gatsby, in: Bruccoli, Matthew J. (Hg.): New Essays on The Great Gatsby, Cambridge, London u.a.: Cambridge University Press 1985, S. 41-57. McCracken, Grant: Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington, in: Indiana University Press 1990. Olear, Greg: Ga(stb)y, in: The Weeklings, www.theweeklings.com/golear/2013/ 01/08/gatsby vom 8.1.2013. Samkanashvili, Maia: »Uses of symbols and colors in The Great Gatsby by F. Scott Fitzgerald«, in: Journal of Education (International Black Sea University) 2 (2013), H. 1, S. 31-39. Stauf, Renate/Simonis, Annette/Paulus, Jörg (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin/ Boston: de Gruyter 2013. Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Wasiolek, Edward: »The Sexual Drama of Nick and Gatsby«, in: The International Fiction Review 19 (1992), S. 14-22.
F ilmverzeichnis The Great Gatsby (USA 2013, R: Baz Luhrmann)
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Die Botschaft lag ganz offen für alle da. Irritierend an den maskierten, grünen Männchen, die am 27. Februar 2014 aus heiterem Himmel an sogenannten »brisanten Orten«1 wie dem Parlamentsgebäude und dem internationalen Flughafen der ukrainischen Hauptstadt Simferopol – Simferopol, von griech. Sympheropolis, »Stadt des Gemeinwohls« – sowie den Militärstützpunkten der Halbinsel auftauchten, war eigentlich nur ein Punkt: sie waren nicht beschriftet. Man konnte zwar, einer finnischen Soldatenbestimmungs-Zeitschrift zufolge2, eindeutig neue EMR CamouflageKampfanzüge, neue 6Sh112 Kampfwesten, neue 6B27 Komposithelme, neue 7.62 mm PKP Maschinengewehre, 6B26 Komposithelme, wie sie ausschließlich von den Luftlandetruppen der russischen Föderation getragen werden, 6Sh92-5 Kampfwesten, wie sie ausschließlich von den Luftlandetruppen der russischen Föderation getragen werden, Gorka-3 Kampfuniformen, wie sie ausschließlich von russischen Spezialeinsatzkräften und Gebirgsjägern getragen werden und Smersh AK/VOG Kampfwesten, wie sie ausschließlich von russischen Sondereinsatztruppen getragen werden, identifizieren und damit zum Schluss kommen, dass es sich bei den grünen Männchen mit hoher Wahrscheinlichkeit zum großen Teil um Soldaten des russischen 45. Selbstständigen Aufklärungs-Garderegiments (Speznas) in Kubinka handeln dürfte, das auf Hubschraubereinsätze spezialisiert ist. Aber das stand an den Uniformen nicht dran. Man hatte zwar die verschiedenen Elemente und konnte sich 1 | Hier und im folgenden: Yurchak, Alexei: »Little green men. Russia, Ukraine and Post-Soviet sovereignty«, in: Anthropoliteia. Critical perspectives on police, security, crime, law and punishment around the world, http://anthropoliteia.net/2014/03/31/ little-green-men-russia-ukraineand-post-soviet-sovereignty/vom 31.3.2014. 2 | Pulkki, Arto: »Crimea Invaded By High Readiness Forces of the Russian Federation«, in: Suomen Sotilas (Soldier of Finland), www.suomensotilas.fi/en/artikkelit/crimea-in vadedhigh-readiness-forces-russian-federation vom 3.3.2014.
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Rember t Hüser
seinen Soldaten zusammenbauen, kriegte den Namen aber nicht zusammen. Konnte also nicht grüßen. Fragte man die Männer, zu welcher Armee sie eigentlich gehören würden, erhielt man die immer gleiche Antwort: Wir versuchen nur, Gewalt zu verhindern. Fragte man Putin auf einer Pressekonferenz in Novo-Ogarevo am 4. März, ob diese Männer nicht russische Soldaten seien, antwortete dieser: Nein. Das sind wahrscheinlich Truppen der Krimverteidigung, die ihre Uniformen in einem der Läden vor Ort gekauft haben. Und die haben, wie wir alle wissen, die verrücktesten Sachen im Angebot. Die Moscow Times griff das drei Tage später noch einmal auf.3
Eigentlich kann es uns ja auch egal sein, welche Forces genau heute gerade mit uns sind. Welche Uniformen im Einzelnen in der Stadt zu haben sind und dann dort auch noch frei herumlaufen und herumstehen. Keine Abzeichen, kein Name, keine Geschichte. Any kind of uniform I want. Was wollt ihr denn? Auch wenn die hier zugegebenermaßen schon mehr hergaben als die anderen wild zusammengewürfelten Outfits der Separatisten. Es muss anscheinend einen großen Posten einheitlicher Berufskleidung auf dem neuesten Stand in den Läden der Krim gegeben haben. Aber gut. Gesichter, die Aufschluss geben könnten, vielleicht kennt ja jemand jemanden hier, gab es auch keine. Und doch ist alles merkwürdig vertraut. Die grünen Männchen, die auf der Halbinsel gelandet waren, erregten eine Menge Aufsehen. Abgesehen von ihrer elementaren Rätselhaftigkeit sahen sie erst einmal nur toll und kompetent aus. Sie waren höflich, nett und ungemein fotogen. Was immer sie machten, war ein Heidenspaß! Die Einwohner hatten 3 | O.A.: »Putin’s Russia. Photo Gallery. Multimedia« The Moscow Times vom 7.3.2014, in: Pinterest. The World’s Catalog of Ideas. https://de.pinterest.com/pin/504614333 221870724/.
Krimkrams
einen großen Tag, liefen auf die Straßen und hielten wie wild auf sie drauf. Grüne Männchen mit zwei Kindern mit Mützchen. Schwangere mit Grünem Männchen. Grünes Männchen mit Kätzchen. Berühmter Blogger mit Grünem Männchen. Opa, Freundin, Papa, Hund – grüne-Männchen-Bilder zum Reinlegen. Die Einwohner und die neuen Sehenswürdigkeiten vor den Toren der Sehenswürdigkeiten. Mit ganz leichtem Kitzel, wie man ihn sonst vielleicht nur vom Darf-ich-den-Hund-mal-streicheln her kennt. Aber was soll’s. Wir sind schließlich Familie. Nur war es gar nicht so einfach, die ganzen Bilder am Ende des Tages auszuwerten, zu sortieren und zusammenzukriegen. Beschriften für die Alben konnten wir sie nicht, obwohl wir uns präzise erinnerten. Es fehlten die Worte, obwohl wir genau wussten, was Sache war. Vielleicht waren es ja auch gar keine Bilder, sondern nur Bilderrahmen. Grüne-Männchen-Ketten von Wir-wissen-woher um das Parlamentsgebäude, die Kasernen und dergleichen herumgezogen. Ein anonymer Blogger brachte die Ironie im Spiel mit der scheiternden Klassifikation, den Spielregeln von gestern und der wachsenden Paranoia auf den Punkt: These Russian military men do not look like Russian military men. I mean, they are definitely ›Russian‹ and they are definitely ›military men‹, but they belong to some completely new, different breed of people. They look smart, they look nice, they look fit. They do not harass women. They do not steal vegetables from the fields. They do not wander aimlessly around the city. They do not say anything superfluous. And there is no insignia on their uniform. Besides, for some reason Putin said that this is not Russian Army at all. When I heard this, I actually felt offended — because these men look so good and because every last cretin on Earth understands that of course this is Russian Army. At the same time, if real Russian army actually looked this way, then I might even decide to join it. 4
Alexei Yurchak vom Anthropologie Department der UC Berkeley hat die grünen Männchen von einem anderen Stern auf der Halbinsel im Hoheitsgebiet der Ukraine, die auf Russisch schnell in »die höflichen, kleinen grünen Männchen« umbenannt worden waren, analysiert (und ich folge hier schon eine Weile seinem Argument): »What we witnessed in Crimea is a curious new political technology — a military occupation that is staged as a non-occupation. These curious troops were designed to fulfill two contradictory things at once – to be anonymous and yet recognized by all, to be polite and yet frightening, to be identified as the Russian Army and yet, be different
4 | A. Yurchak, Little green men.
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Rember t Hüser from the Russian Army. They were designed to be a pure, naked military force – a force without a state, without a face, without identity, without a clearly articulated goal.« 5
Militär spielt Paramilitär. Aber die nackte, höfliche Gewalt allein, das einerseits-andererseits und mit- und ohne-alles im Krieg ohne Sterne auf den Schulterklappen trifft es noch nicht. Die Unentscheidbarkeit der beiden Pole der »political technology of non-occupation« bedarf des Kitts, der sie ohne Wimpernzucken, ohne die Miene zu verziehen, zusammenhält: des zynischen Witzes. Wo sich keiner entscheiden kann, ist das Entscheidende der Witz. Ein Männerwitz – wenn du nicht mitlachst, kriegst du einen in die Fresse – der nicht von allen geteilt wird und auf den zu erwidern uns nichts einfällt. Der Winter ist noch nicht ganz vorbei, da macht Macht sich auf der Krim lustig. Ein Einmarsch wird zur großen Kirmes. Erstes Grün bricht das Völkerrecht. Sollte man Blumen schießen? This technology is not only openly cynical – it is also designed to function as a cynical joke (if you share Putin’s sense of humor). Creating an army without insignia and saying, with a smirk, […] [die Jacken kannst du auch im Laden kriegen], is one of those jokes. Picking as the new Prime Minister of Crimea a man called Sergey Aksyonov (whom no one knew a month ago), is another. He is a name-sake of a famous Russian writer Vassily Aksyonov, author of a popular futuristic novel ›The Island of Crimea‹ 6
in der, ich kürze es ab, die frühe Geschichte der Sowjetunion auf der Krim auf dem Papier einen anderen Verlauf genommen hatte. Der Krim war es gelungen, mit dem Sieg der Weißen Armee sich – auch physisch: sie schneidet sich als Insel vom Festland ab –, abzukoppeln und zum kapitalistischen Paradies gleich neben dem sowjetischen Elend zu mausern: Wolkenkratzer, grenzenloser Konsum, Wohlstand, die internationalen Banken lecken sich die Finger, das ganze Programm. Der Name des Autors, der sich diese Satire ausgedacht hat, die zugleich ein ukrainischer Traum von 2014 war, ist jetzt der Name des von Russland eingesetzten neuen Premiers der Krim, einem Mitglied der russischen Einheitspartei, die bei der letzten Wahl 4 % der Stimmen bekommen hatte, und der früher einmal Boxer mit dem Kampfnamen Goblin gewesen war, ein grotesker, hässlicher Zwerg mit Gier nach Gold also7. Wer-hat-sichdas-bloß-ausgedacht? wird zum Namen der neuen Realsatire. Hier habt ihr sie, die Autonomie eurer Wolkenkratzer und internationalen Banken und den 5 | Ebd. 6 | Ebd. 7 | Vollmer, Jan: »Oberstaatsanwältin der Krim macht Japaner kirre«, in: Die Welt vom 21.3.2014, www.welt.de/vermischtes/kurioses/article126047707/Oberstaatsanwae l tin-d er-Krim-macht-Japaner-kirre.html.
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Konsum ohne Ende mit dem einheimischen Boxweltmeister aus dem Westen, der euch den Weg weisen wird. Der Traum bekommt den Witz als Quittung. »Der Traum ist immer noch ein, wiewohl unkenntlich gemachter, Wunsch; der Witz ist ein entwickeltes Spiel. […] Der Witz […] gelangt […] sekundär zu nicht unwichtigen, der Außenwelt zugewendeten Funktionen.«8 Am 11. März 2014 rutscht Natalja Wladimirowna Poklonskaja mit einem Pferdeschwanz in einer großen, dunkelblauen Jacke mit goldabgesetztem Kragen und Schulterklappen mit zwei Sternen hinter vier dicken Mikrophonen, einem Telefon und einer Gegensprechanlage auf dem Stuhl und bringt ihren Körper in Positur. »Wie Sie alle wissen«, der Kloß im Hals wird weggeschluckt, sie ist nervös, schaut auf ihr Blatt, Staatsstreich, bewaffnete Verbände. Poklonskaja beißt sich auf die Lippen und dreht den Stift in ihrer Hand hin und her. Artikel 4, der Kopf ist unten, sie schaut nach oben, atmet schwer entlang der einzelnen Worte, die Dienstaufsicht des Staatsanwaltes, Einhaltung der Gesetze, Krim, redet schnell und mechanisch, schlägt die Augen auf. Ich wiederhole Ukraine, Ukraine, liegt beim Volk, Ukraine. Methoden mit denen sie zur Macht gekommen sind. Ihr Handy klingelt neben ihr auf dem Tisch. Pause. Sie blickt es an, nimmt es auf, checkt den Anruf, stellt das Handy aus, Pause, das Wort, das noch fehlte, wird mechanisch nachgeliefert. Niemand darf die Staatsgewalt an sich reißen. Poklonskaja ist gestresst. Sie leckt sich über die Lippen, schaut vor sich auf dem Tisch hin und her, seufzt tief, nimmt ein Blatt auf, das weiter links liegt, liest es konzentriert und still durch. Und laut dann los. Gesetzlosigkeit nicht akzeptieren. Jedes Wort wird überdeutlich artikuliert. Sie schaut hin und her, große Augen, Wimpern hektisch in Bewegung, Minipausen, schweres Ausatmen. Die Zeigefinger an der rechten Kuli- und der linken Hand gehen hoch in die Horizontale: Aus diesem Grund bin ich heute zur Staatsanwältin der autonomen Krimrepublik ernannt worden. Die Finger rollen einer nach dem anderen nervös durch. Pause. Poklonskaja leckt sich verlegen über die Unterlippe, setzt neu an, atmet erschöpft, starrt vor sich hin, hier und da ein Wort, Ukraine, Pause. Das ist alles, was ich sagen wollte. Noch Fragen? Putin hat noch ein Bild draufgesetzt. Nach den kleinen, grünen, höflichen Männchen ohne Etikett, den langen Lastwagenkolonnen mit oder ohne Hilfsgütern, mit oder ohne Waffen und Munition, mit oder ohne toten Soldaten hinter den Planen über die Grenze und hinter der Grenze, der Ernennung der zuvor unbekannten Person mit dem Boxgiftzwergnamen zum Premierminister aus dem Traumbilderbuch, den Motorradrockerkorsos mit willkürlichen Kontrollpunkten quer durchs Land, jetzt der 34-jährige, nie zuvor in Amt und 8 | Freud, Sigmund: Der Witz und seine Bedeutung zum Unbewußten, in: Ders.: Studienausgabe. Band IV: Psychologische Schriften. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt a.M.: Fischer 1970, S. 9-219, hier S. 168.
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Würde gesehene, weibliche Modelkörper der russischen Autorität mit Pferdeschwanz und Augenklimpern in der neu geschaffenen Position auf dem Boden der soeben nicht okkupierten/okkupierten Krim. Das neue Recht des Stärkeren ist jung, weiblich, hat keinerlei Erfahrung und sieht gut aus. Für die russische Autorität ist nichts unmöglich. Träumt ruhig weiter. Wir machen schon klar, wer hier was zu sagen hat. Wir drucken derweil T-Shirts und trinken Sekt. Putins Popularitätwerte steigen um 20 Prozent. Die kritische Antwort des Westens lässt nicht lange auf sich warten. Nur konnte der Westen sie neben seinen üblichen offiziellen Verlautbarungen selbst nicht identifizieren, weil er sie nicht kannte, weil sie nicht kritisch gemeint war, von einer Seite kam, mit der man nicht gerechnet hatte, und an Stellen auftauchte, an denen man nicht nach ihr gesucht hatte. Und weil es nicht eine, sondern ganz, ganz viele Antworten waren. Man kann sie nicht finden, weil man nicht nach ihr Ausschau gehalten hatte. Dabei hatte diese äußerst effektive, nichtoffizielle Antwort den großen Spaß einfach nur für bare Münze genommen. Beim Starke Männer-Witzekitt selbst angesetzt. Und ihn, das Bild und die Geschichten, die er laut und überdeutlich in Fernsehen und Internet zu verbreiten sucht, nach Strich und Faden konsumiert. Verputzt. Eine vernichtende Antwort in bislang unbekanntem Sinne und Maße, die den üblichen kritischen Verlautbarungen und Protestnoten um Längen voraus ist. Eine Antwort, die sehr genau ist und mächtig auf die Kacke haut. Wie will man sich ernsthaft zur Ukraine-Krise äußern? Ist die Situation, wo die aggressive NATO-Osterweiterung auf die expansive Putin-Autokratie trifft, das nahtlose Fortschreiben der Tschetschenien-Georgien-Spirale in der Ukraine, nicht viel zu kompliziert, als dass es noch einer Meinung mehr eines selbsternannten Experten aus den Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften, Literaturwissenschaften oder der Philosophie bedürfte? Aber wer sagt das? Wer wäre hier nicht selbsternannter Experte? Welcher Bereich heutzutage könnte noch (kein Witz) eine Deutungshoheit für sich beanspruchen, behaupten, ganz ohne grundsätzliche Deutungen und Meinungen aus anderen Bereichen in den zig Wendungen dieser komischen, offensichtlichen, völlig undurchschaubaren Knoten sich zurecht zu finden, erst recht im Hinblick auf etwas, dessen Charakteristikum daraus besteht, auf etwas zu verweisen, was noch nicht stattgefunden hat? Die Ukraine-Krise bezieht ihre Logik aus dem Kalten Krieg, wo jede Eskalation, jede militärische Operation, alle Ängste im Banne des Verweises auf den viel größeren Krieg, der einmal stattfinden könnte, stehen. Überlegt es Euch gut! Wehrt Ihr Euch, schubst Ihr die grünen Männchen vor Eurer Tür, von denen Ihr sehr genau wissen solltet, woher sie kommen, jeder Idiot weiß das, schreibt Euch das hinter die Ohren, deshalb war es ja auch nicht nötig, sie zu beschriften, schubst Ihr also meine kleine Brüderchen, die Euch in einem fort vors Schienbein treten, kriegt Ihr Ärger mit mir, Putin, und meiner dicken Riesenarmee. Aber dann mit Abzeichen dran.
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Wollt Ihr das? Heute, in dieser Situation der Wiederkehr der einen Zeit, in der wir groß geworden sind, und der anderen Zeit, von der wir gehört und gelesen haben, könnte es daher vielleicht hilfreich sein, wieder einmal die Texte des Nuclear Criticisms aus der Mitte der 80er Jahre hevorzuholen, die genau die Frage unserer Politik und unserer Angst, unter diesen Vorzeichen zu schreiben, thematisieren: In unserer wissenschaftlich-technischen-diplomatisch-militärischen Inkompetenz können wir uns dennoch für so kompetent erachten wie die anderen, um uns mit einem Phänomen zu beschäftigen, dessen wesentliches Charakteristikum es ist, durch und durch auf fabulöse Weise [fabuleusement] textuell zu sein. Die atomare Bewaffnung hängt mehr als jede bisherige Bewaffnung – so scheint es – von Information und Kommunikationsstrukturen, von Sprachstrukturen, auch solchen der nichtvokalisierbaren Sprache, der graphischen Chiffrierung und Dechiffrierung, ab. Aber sie ist auch ein auf fabulöse Weise textuelles Phänomen in dem Maße, in dem – bis zum Augenblick – ein Atomkrieg nicht stattgefunden hat. Man kann davon nur sprechen und schreiben.9 Und wenig später im selben Text: Nein, der Atomkrieg ist nicht allein fabulös, weil man von ihm allein reden kann, sondern weil die außergewöhnliche Raffiniertheit [sophistication] der Technologien […] wesentlich ko-existiert, ko-operiert mit der Sophistik, der Psycho-Rhetorik und der allersummarischten, zutiefst archaischen und der vulgärsten Meinung verhafteten Psychagogie.10
Eine andere zentrale Position jener Jahre formuliert es so: »In order to be fabulous, nuclear criticism must not only be incompetent, it must also be funny.«11 Drei Tage gehen nach der welthistorischen Weichenstellung auf der Krim ins Land. Dann twittert ein koreanischer Blogger aus Deutschland mit Hobbies Kochen, Snowboarding, Werbung, Graphic Design, der jetzt in Tokyo lebt,12 ein Foto der Generalstaatsanwältin am Tisch der neuen Fakten mit einem Link zum Video der Pressekonferenz: 9 | Derrida, Jacques: No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives), in: Engelmann, Peter (Hg.) Apokalypse, Graz/Wien: Böhlau 1985, S. 91-132, hier S. 101. 10 | Ebd., S. 105-107. 11 | Klein, Richard/Warner, William B.: »Nuclear Coincidence and the Korean Airline Disaster«, in: diacritics 16.1 (1986), S. 21, hier S. 2. 12 | Vollmer, Jan: »Japanische Anime-Fans lieben die neue Oberstaatsanwältin der Krim«, in: Motherboard, http://motherboard.vice.com/de/read/Neue-Oberstaatsan waeltin-auf-der-Krim-wird-zuviralem-Anime-Star vom 20.3.2014.
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»Die neue Staatsanwältin auf der Krim: Oh, oh, oh.« BUMM! Was auch immer das im einzelnen für eine Botschaft oder Geschichte gewesen sein mag, mit der diese Figur mit der unverständlichen Sprache einmal in den Weiten des Internets unterwegs gewesen ist, spielt plötzlich keine Rolle mehr. Das lässt Nutzer Affechan-Hausman völlig kalt. Was sie stattdessen lostritt, ist etwas gänzlich anderes: das Bild dieser Figur ist aus so vielen erkennbaren Versatzstücken zusammengesetzt, hat soviel Otaku13-Potential, daß es bei ihm und in den Kreisen, in denen er sich bewegt, sofort Zuneigung (moe) auszulösen imstande ist.14 Was folgt, ist ein Austausch von Zeichensystemen. Eine überwältigende Reihe von leidenschaftlichen Zustimmungen und Bestätigungen, eine Kettenreaktion von unzähligen, kleinen, dezentralen Explosionen in allen möglichen Ecken der Welt. Entladungen von in der Summe machtvollen Energien auf verschiedenen Kontinenten und in ganz unterschiedlichen virtuellen Szenen und Gemeinschaften. Orten, die sich nicht mehr auf die SchwarzmeerInsel Krim und Russland begrenzen lassen, Aktivitäten, die sich nicht mehr kontrollieren lassen, wenn sie sich einmal in Bewegung gesetzt haben, und deren weiteren Mobilisierungen und Effekte unabsehbar sind. Der Oh-Oh-OhHin und Weg-Tweet wird viral, auf der Stelle rund 10.000mal retweeted. Auf einem japanischen YouTube-Kanal allein wird das Video der Pressekonferenz 13 | Otaku sind Mitglieder einer weltweiten Subkultur, »generally between the ages of 18 and 40, who fanatically consume, produce, and collect comic books (manga), animated films (anime), and other products related to these forms of popular visual culture and who participate in the production and sales of derivative fan merchandise« (Jonathan E. Abel and Shion Kono: Translators’ Introduction, in: ebd., S. xv) 14 | »Independently and without relation to an original narrative, consumers in the 1990s consumed only […] fragmentary illustrations or settings [of fictional worlds]; and this different type of consumption appeared when the individual consumer empathy toward these fragments strengthened. The otaku themselves called this new consumer behavior »chara-moe«—the feeling of moe toward characters and their alluring characteristics« (Hiroki Azuma: Otaki: Japan’s Database Animals, Minneapolis, London: University of Minnesota Press, 2009, S. 36).
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ohne englische oder japanische Untertitel in der ersten Woche 263.000mal angeklickt. (Keine Ablenkung durch Synchronisation oder Untertitel, einzig und allein die Bewegtbilder im Original. Wenn Autorenfilm-Hardliner das bloß erleben könnten.) In der Folgezeit potenzieren sich die Clicks weiter in Windeseile. 1,5 Millionen werden im Nu erreicht. Sind ein Klacks. Warum? Wir hatten mit soetwas nicht im Traum gerechnet. Es ist das Déjà-vu, die Wiedersehensfreude! Das ist doch… JA! Natalja Poklonskaja wird in den Kanälen des Internets von zahlreichen Otaku-Pop-Profilern mit Datenbankgespür sogleich erkannt. Und die Freude ist groß. Gut, sie hat Stress im Augenblick und versucht das Beste aus einer schwierigen Situation zu machen. Sie muss an einem krümeligen Tisch das Einholen der Flaggen besiegeln, einen Völkerrechtsbruch legitimieren, die neue, rohe Gewalt gut aussehen lassen, die neue Superwaffe sein. Aber sowas hat sie doch immer schon gemacht. Wir müssen ihr nur wieder mal helfen. Es stimmt nicht, wenn sie sagt, sie beschützt uns, da überschätzt sie sich mal wieder. Wir müssen sie beschützen. Auch vor ihren Beschützern. Sie ist viel mehr als die meisten bislang gedacht hatten. Sie ist nicht einfach bloß eine Frau in dicker Uniform. Da kann man uns nichts vormachen. Das mag eine ihrer vielen, neuen Rollen sein, aber wichtig ist das nicht. Sie kann auch fliegen und andere Sachen mehr. Nein, erst einmal ist sie eine von uns. Wir kennen sie ganz genau. Wir haben jahrelang mit ihr zusammen gespielt. Wir kennen sie aus der Schule. Von zahlreichen Abenteuern. Und wir kennen sie aus dem Eff-Eff. Auf allen Teilen der Welt schnappen sich auch ohne Kommando richtig viele User, viel mehr als sich normalerweise für Politik interessieren, die Pressekonferenz in Europa und motzen sie auf. Pimp the ride! Unzählige Anime-Profiler mit Gespür für chara-moe und AusmalspezialistInnen machen sich aus heiterem Himmel ihr eigenes Bild von der Pressekonferenz mit der neuen russischen Whatever-Generalstaatsanwältin in der Ukraine und posten es im Netz.
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Ja, jetzt sehe ich es auch. Sie ist es tatsächlich. Kein Zweifel! Diese Frau ist kein Abziehbild. Sie ist keine Nebenfigur. Und schon gar nicht eine Marionette von wem auch immer. Diese Frau, die jetzt gerade auf der Krim den Namen Natalja Poklonskaja trägt, ist eine weltbekannte Anime-Heldin, ich komme gerade nicht auf den Namen, weil sie soviele hat, und hat tatsächlich jede Menge Handlungsmacht. Und tolle Klamotten. Teilweise sogar lila Haare. Anderswo könnte sie sogar ein kleines Einhorn-Pony sein. Oder eine Disneykönigstochter. Die großen Augen und die Uniform hatten die Identifizierung leicht gemacht. Wir haben endlos viele Bilder mehr von ihr zuhause. Und könnten sie jetzt jederzeit hochladen. Und neue dazu zeichnen. Welche Uniform war das nochmal genau? Zum Glück gibt es Bestimmungsbücher. Wir müssen zurück in die Manga-Schule.
Mitte der 1980er Jahre waren die japanische Schuluniformen in ihren beiden Varianten Matrosenanzug und Blazer mit aufgestickten Abzeichen, die an die Sportlerjacken der Olympischen Spiele in Tokyo 1964 erinnerten, zu Modemarkennamen geworden.15 1985 veröffentlicht der Designer Nobuyuki Mori die erste Fassung seines Illustrated Schoolgirl Uniform Guidebooks, das versucht, die unzähligen Variationen der Schuluniformen in Tokyo zu erfassen. 200.000 Exemplare verkaufen sich auf Anhieb. Mit den wechselnden Moden über die Jahre wird der Schuluniformenführer immer wieder neu aufgelegt und bis heute regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht. Natalja Poklonskaja ist eine Absolventin von dessen jüngster Generation. Sie kommt von irgendeinem dieser Schulhöfe, deren Webadresse stets mit angegeben ist, und schaut mit grossen Augen, einer Aufgabe und einer Schuluniform in die Welt. Beim Blättern durch die Schulhofwelten des Bestimmungsbuches fangen die Schwierigkeiten aber allererst an. Für ihre Uniform gibt es eine ganze Reihe von Deutungsmöglichkeiten. Und so werden erste Identifikationsversuche, zunächst noch kunsthistorisch angeleitet, durch vergleichendes Sehen angestellt. 15 | Hier und im folgenden: Ashcraft, Brian/Ueda, Shoko: Japanese Schoolgirl Confidential. How Teenage Girls Made a Nation Cool, Tokyo/Rutland, VT/Singapore: Tuttle 2014, S. 20f.
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Natürlich geht es anderswo im Netz erheblich wilder zu. Natalja Poklonskaja wird augenblicklich als eine Heldin aus einem Shojo-Manga identifiziert, d.h. der Manga-Sparte mit großer Actionheldinnen-Ahnengalerie wie dem Bad Girl Sukeban Deka, dem Undercover Cop in High Schools und Nanako SOS, ebenfalls im Matrosenanzug und mit Superkräften nach Laborzwischenfall auf Verbrecherjagd, die vorwiegend Mädchen und junge Frauen adressiert und bis heute enorme Popularität genießt.16 Ruhm und Ehre und ewige Liebe den großen Shojo-Heldinnen! Das Toughe-Bad-Girl-das-doch-zerbrechlich-ist-Modell wird über die Jahre weiter variiert. Sailor Moon, Haruhi Suzumiya, jetzt Natalja Poklonskaja. Eine beste Freundin von uns, die furchtlos die Eisen aus dem Feuer holt und Satan und das Böse bekämpft, die zwar den russischen Muskelprotzmann mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd auf ihrer Seite hat, aber vor allem auch selbst beschützt werden muss. Diese kleine zierliche Person mit den Kulleraugen in der fast schon zu großen Uniform auf der Krim braucht uns jetzt. Und zwar dringend. Natalja hat eine Otaku-Ansage gemacht. Wir stehen ihr zur Seite und halten ihr Bild hoch und legen ein weiteres daneben. Natalja ist nicht allein. Wir sind ganz viele, wir helfen ihr, wir remixen sie. In endlosen Versionen. Die russische Armee ist lachhaft. Kann man knicken. Natalja ist ein Bild von einem Bild, ein Metabild, wo die großen Augen der Manga-Natalja zugleich die grünen Männchen, die Aliens ohne Armeeabzeichen, die auf der Krim gelandet sind, ins Gedächtnis rufen, so wie Alien in der populären Phantasie für gewöhnlich eben halt Kindskörper mit großen Augen sind. Das Bild, das eine Klarstellung sein sollte, für alle mal kurz und unmissverständlich die Annexion abfeiern, gründlich aufräumen sollte, fällt also auf einen Haufen Bilder, der komplett die Luft aus ihm herauslässt. Oder genauer eigentlich anders herum, der Haufen auf das Bild. Es fällt ja nicht weich. Auf die Annexion durch das Bild folgt die Invasion des Bildes durch die Bilder, die sich mit ihm befassen. Im Netz stapeln sich plötzlich so viele Staatsanwältinnen, bis man nicht mehr kann. Jeden Tag werden hunderte neu ernannt. Staatsanwältinnen soweit das Auge reicht. 16 | Vgl. ebd., S. 186-187.
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Am Anfang war die Pressekonferenz. Das Bild der schönen, jungen Frau, die für Recht und Ordnung gegen das Böse kämpft, sollte um die Welt gehen. Und tat es ja dann auch. Allerdings in ganz anderer Form als geplant. Waren alle Hemmungen einmal gefallen, interessiert sich plötzlich kein Schwein mehr für Rußlands glorreiche Mackermacht und aggressive Größe. Das kleine Mädchen hat den grünen Männchen den Zahn gezogen. Jede einzelne der großen Gesten am Tisch scheint auf einmal beliebig besetzbar zu sein.
Zwischen dem 22. und 25. März 2014 macht Ginkz, um nur ein einziges Beispiel herauszugreifen, ein Cosplayer von der Ostküste der USA 17, geschlechtlich ein Es18, das seit 2011 auf Conventions geht, jeweils eine Fotosession am Tag und stellt die Ergebnisse unter dem Namen OneEyedDragonParty auf die Deviant Art Website. Jeder Tag eine neue Pressekonferenz. Kein Tag ohne aufs Neue die offizielle Ernennung zur russischen Generalstaatsanwältin der annektierten Krim. Ein weiterer Körper ist eingesprungen. Bis Ginkz schließlich genug hat. Die Lust verliert. Zwei Monate später ist es Bride Mikasa, Oichi und ein »swimsuit Erin Jaeger« aus der Attack on Titan-Serie auf der ColossalCon im Kalahari Resort und Convention Center in Sandusky, Ohio, die Ginkz transkribiert. Das Jahr drauf ein knatschgelber Super Sonic. Die Generalstaatsan17 | »I am from the east coast/New York. An Anime + Manga fan & Gamer for most of my life. I’ve been cosplaying as far back childhood dressing up as characters like Goku & Gabumon in the ›90s, as well as L & Hitsugaya in the 00’s. In terms of the convention scene my first con was Toracon in April 2011 & i’ve been hooked/attending conventions since, with my first convention cosplay being the same year at Anime Syracuse 2011 (Chiba form Beck Mongolian Chop Squad), my firsts weren’t all that great obviously but I’ve quite a ways since then, And even more recently i’ve been getting into videography, been video editing since my teen years with AMV making which I no longer par take in, but ever since I obtained my first DSLR not long ago I’ve once again been able to put my video editing skills to use again. c:« (https://www.facebook.com/OEDPC/in fo/?tab=page_info). 18 | »Gender: Neutral (It)« (https://www.facebook.com/OEDPC/info/?tab=page_info).
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wältin der Krim steht ganz selbstverständlich in dieser Reihe der Anime-Figuren und Superhelden. »Natalja Poklonskaya cosplay. Took only a couple days to put this all together (quickest cosplay yet). Also first time putting my Canon Rebel T3 to use«.19 Die einzelnen Gesten sind mit Sorgfalt über die Tage verteilt. Den Auftakt macht die Parade der Mikrophone. Der Blick nicht in die Runde, sondern aus der Runde auf den Tisch der Dekrete. Das nachgebaute Set Design des Originals kündigt das Reenactment am Abend zuvor für alle auf Facebook an. Lange müsst ihr nicht mehr warten, der Tisch ist gedeckt: »It is happening, very soon in fact«.
Das ist alles feinstes Handwerk, liebevoll selbst gemacht, geschummelt wird auch nur ein kleines bisschen, »took a few hours to make all these mic’s (except the black one, which is an actual mic XD.«20 An diesem Tisch wird der große Auftritt stattfinden, dem wir alle entgegenfiebern. Wir sind schon mächtig gespannt. Was wir vor Augen haben, ist, mit Simondon gedacht, ein technisches Ensemble, bei dem die Kräfteverhältnisse nicht von vorneherein fest gegeben sind.21 Körper, so viel ist sicher, werden mit technischen Objekten interagieren, aber wieviel und was die einen den anderen aus ihren autonomen Zonen heraus zugestehen, ist ungewiss. Die Aufzeichnungs- und Übertragungsapparate installieren erst einmal nur einen Aufschub, eine Verzögerung im Verhältnis von Ursache und Wirkung, die Spielräume eröffnet, die es zugleich aber mit zu bedenken gilt. Diese Unentschiedenheit gewinnt uns ein wenig Zeit. Was Putins Pressekonferenz vom Speicher geholt und auf der Krim installiert hatte, war nicht viel mehr als der Screen, den wir schon vom Raum mit 19 | https://www.facebook.com/OEDPC/photos/pb.433912780000402.-22075200 00.1457284043./674468662611478/?type=3&theater. 20 | OneEyedDragonParty: »Microphones,« deviantart.com, http://oneeyeddragonparty.deviantart.com/art/Microphones-442201525. 21 | Vgl. im Folgenden: Lamarre, Thomas: The Anime Machine. A Media Theory of Animation, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2009, S. xxxiii.
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dem Vorhang in Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse her kennen. Einen Tisch, ein paar Mikrophone und die Umrisse einer Figur.
Die Videoaufzeichnung der Konferenz im Netz hatte die Gesten abgespeichert und zur zukünftigen Aneignung freigegeben. Wir können uns jetzt nehmen, was wir brauchen können. Das Laubsäge-Ensemble von Tisch, Technik und Gestalt in unsere Kinderzimmer und in den Garten stellen. Von der ersten Session werden 5 Fotos gepostet: die Mikrophone, »Natalja Poklonskaya embarrassed« (wie sie sich hinter dem Blatt versteckt, von dem sie vorliest) und drei Varianten, wie Natalja Poklonskaja den Stift hält. Session 2 besteht ausschließlich aus Fotos von Natalja Poklonskaja und ihrem Handy (3 Fotos). Session 3 variert in drei Fotos das Embarrassed-Motiv – in welches Mauseloch kann ich mich hier verkriechen? Da ist dann auch schon mal das Gesicht übermalt, das Reenactment wird abstrakt –; den Abschluss bildet eine Porträtreihe: Natalja Poklonskaja an ihrem Tisch, die mit der rechten Hand etwas verschlagen das Peace-Zeichen macht. Und Natalja Poklonskaja, die das Handy aufnimmt, der unwirklichste Moment der Pressekonferenz auf der Krim: Der Stellvertreterkörper des ab sofort russischen Ausnahmerechts unter massivem Druck, der mitten in der Verlesung der Verlautbarung, dem Diktat der neuen Spielregeln, einen Telefonanruf auf seinem Handy erhält, der ihn noch zusätzlich stresst. I’ve got your number. Natalja Poklonskaja, die wenige Minuten später ihre Berufung bekanntgeben wird, nimmt den Anruf entgegen und schaut aufs Display. Ist in diesem Augenblick also zeitlich/räumlich ganz woanders. (Ich tippe mal im Mangaland. Bei ihrem nächsten Auftrag.) Das Cosplay widmet sich dieser Situation mit irritierender Sorgfalt. Selbst das Logo des Fernsehsenders baumelt nun als Hatsune Miku-Logo im Bild.
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Die Vertreterin-von-was-eigentlich? spiegelt sich im Gerät – Kommunikation wird zum Make Up, made up –, und erschrickt. In aller Öffentlichkeit. Meine Güte, wie sehe ich denn aus! Die Störung, Noise, irgendwas klingelt immer dazwischen, das verweigerte, aber zugleich realisierte Bild im Bild, das zweite Interface, ist ein Moment der Enunziation. Propaganda verweist auf ihr Gemachtsein. Hier nimmt jemand stellvertretend den Ruf entgegen. Er ist nicht privater Natur. Weil alles an dieser Stelle, dieser russischen Stellung auf ukrainischem Territorium, symbolisch sein soll, fordert der Ruf danach, ebenfalls symbolisch gelesen zu werden. Wir sehen die Performanz einer Ernennung. Jemandem wird ein Platz angewiesen. Technologie ist dabei keine Jungenstechnologie, mit der die Mädchen mal spielen dürfen. Im Cosplay wird sie demaskulinisiert. Auch wir können diese Nummer jederzeit anrufen. In die allzu glatte Inszenierung eben mal dazwischenfunken. Was wird hier eigentlich erzählt, noch ohne dass ein einziges Wort vorgelesen worden ist? Die Inszenierung verschärft den Blick durch die Hinzufügung einer Brille. Ohne Brille, mit Brille, mit rosafettroter Brille, Natalja Poklonskaja ist also jetzt Mirai Kuriyama, die Fotos spielen die ganze Palette durch.
»Natalja Poklonskaya cosplay, with thick red megane/glasses«. Megane, japanisch für »Brille«, macht für die, die noch immer nicht begriffen haben, klar, dass das hier die Welt der Mangas und der Mash Ups ist, die hier regiert, und lässt aber zugleich auch einen Augenblick der Orientierungslosigkeit zu. Das
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Genauer-Hinsehen-Wollen, das Über-den-Rand-Blicken, das Fixieren, auf dem Kieker-Haben, der Wechsel von Vorlesen zum Publikum, das das wiederum liest, zeigt letztlich selbst uneingeschüchtert das Verfahren. Huch: Russland! Wir sind hier in Beyond the Boundary. Was hast du denn wieder angestellt? Das zynische Bild aus dem Militärspind-Fundus fliegt der Großrusslandmacht um die Ohren und macht sie zum weltweiten Gespött! Für die russische Propaganda sind das ganz schlechte Nachrichten. Die Zerstäubung des Bildes der Macht der neuen mächtigen Generalstaatsanwältin der Krim-Republik in Japan ist der GAU. Die Strategie hatte auf eine symbolische Lesart abgezielt, auf Eindeutigkeit. Putins Avatar, das Bild des Körpers des Königs als junge schöne Frau in etwas zu großer Paradeuniform, die eigentlich nur seine Schultern wirklich füllen können, wird zum Brüller. Putin, der homophobe MachoSchulhof bully mit seinem Halbstarkentraum, kann sich den gemeinsamen Streitkräften von Schulmädchen, Little Pony, Frozen, Sonic the Hedgehog & Co nicht erwehren. Macht zerläuft sich. ER ist eher nicht so groß, ein Es, ein lila Einhorn, für das man Lieder schreibt. Was bleibt, ist die Realität eines dreckigen, gewaltsamen Einmarsches in ein anderes Land. (Mit der unhöflichen Gewalt hinter den Türen in den Kasernen, vor denen die grünen Männchen Posten schieben.) Kinder, die bei Militärinvasionen Blumen bringen, haben, ehrlich gesagt, noch nie gerührt. Natalja Poklonskajas Pressekonferenz sollte als Symbol eine einzige, unmissverständliche universelle Bedeutung kommunizieren: die leuchtende Kraft und grenzenlose Macht Russlands. Die ungewöhnliche Verkündigung des Machtwechsels durch das kleine Fotomodell mit dem Pferdeschwanz mitten in der laufenden Militäraktion – die Annexion der Krim wird erst 14 Tage später am 25. März von Russland offiziell bestätigt – sollte der Welt unmittelbar zu verstehen geben, dass für Russland alles möglich ist: Wir hätten auch einen Tanzbären schicken können. Aber, halt mal, habe ich ein Problem? Fragen das nicht die grünen Bullymänner, sobald man sie anschaut und nicht einfach gehorcht? Kann das denn nicht sein? (Ganz so wie bei den grünen Männchen auch: Vielleicht ist das hier ja nur eine junge Frau, die antritt, ihren Job zu machen und in zugegeben schwierigen Zeiten, ziemlich nervös, plötzlich an der Spitze der Hierarchie von Recht und Ordnung steht. Vielleicht sind das ja wirklich keine russischen Soldaten.) Kann ich die Möglichkeit nicht zulassen, dass es unter den neuen Vorzeichen neue unorthodoxe Karrieremöglichkeiten für dynamische Frauen geben könnte? Dass sich in Extremsituationen fähige Frauen für Führungspositionen finden lassen? Ist es nicht sexistisch, Poklonskaja abzustempeln, nur weil sie gut aussieht und eine Frau ist? Was kann sie denn dafür? Es müssen doch nicht immer alte, dicke, glatzköpfige Generäle und Staatsanwälte sein, die zu Kriegszeiten ihr gutes Recht verkünden? Sollte die Frauenemanzipation in Putins Russland am Ende womöglich ganz andere Chancen haben? Von der wir hierzulande nicht einmal zu träumen wagen? Ist die Gleichstel-
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lung dort vielleicht weitaus selbstverständlicher? Dafür wimmelt es ja auch sonst nur so von Anzeichen. Putins Kriegspropaganda ist darauf spezialisiert, mit dem Double Bind des Westens zu spielen. Die junge Frau an der Spitze der Hierarchie des touristischen Urlaub-Badeparadieses ist in der Tat als Emanzipationsprojekt angelegt. Sie soll dem Inland und Ausland die »Heimkehr« der Krim in die Arme des großrussischnationalen Reichs als Emanzipation vom Westen zu verstehen geben. Ihr redet davon, wir machen es. Und da ist plötzlich das Bild gestört. Der Empfang der Sendung hat mit massiven Problemen zu kämpfen. Die hölzerne Natalja-auf-der-Pressekonferenz ist als Screen in den umkämpften Märchenpark der Krim geschoben worden. Jetzt wundert sich die russische Propaganda, dass sie nicht die einzige ist, die Bilder auf diese Leinwand wirft. Auch andere Leute haben damit angefangen, dieses Kino zu bespielen. Und sich mit der Anziehpuppe mit großen Augen zu identifizieren, um die es im Grunde noch nie gegangen war. Die höchst unwahrscheinliche, weltweite Reaktion auf den proklamierten Neuanfang ist weder die Anerkennung, noch das Dementi. Sondern an unerwarteter Stelle eine genaue Inspektion des Bildes, das uns da am Tisch zuhause vorgesetzt wird, und seiner jeweiligen Besetzungsenergien. Eine Reaktion, die sich Zeit nimmt, und bei der die Allegorie auf das Symbol losgelassen wird. Und da macht die Allegorie im Zusammenspiel mit der Datenbank das, was Allegorien halt immer so tun22, sie besteht auf dem Unterschied von Signifkanten und Signifikat und verweist die Gegenwart des Bildes ohne Unterlass auf seine Bildvergangenheit und Bildfelder. Und schreibt sie damit unkontrollierbar Stück für Stück in andere, nicht heroische, triviale, sexuelle, konsumistische, einhorntechnische Kontexte ein. Schlimm ist das deshalb für die russische Seite, weil die so lange vorbereitete, anvisierte, eine, wahre, eigentliche Bedeutung des Bildes, das man diesmal im Unterschied zu seinen zynischen Vorläuferbildern sehr sorgfältig beschriftet hatte – ja, man könnte sogar sagen, dass die ganze Pressekonferenz nichts anderes als der entscheidende erste Benennungsakt nach Serien des Namensverzichtes war, endlich die Verleihung eines Namens, der Sprechakt: ich bin jetzt Eure Generalstaatsanwältin, die Stellvertreterin der höchsten russischen Gnade auf krimschen Erden, hier regiert jetzt Vladimir Putin –, auf einmal keine Rolle mehr spielt. Und – noch schlimmer – nicht von irgendwelchen ernannten oder selbsternannten Experten, sondern weltweit von jungen Anime-Lesern als Mal-Vorlage jubelnd in die Luft geworfen wird. Vermittels einer großen Anzahl kreativer Praktiken des Konsums: Texten, Zeichnungen, Fotografien, Rollenspielen als genau das erkannt wird, was sie ist. Jeder weiß zu jeder Zeit, was hier gespielt wird. Natalja Poklonskaja in diesem Bildersog symbolisch unmittelbar 22 | Vgl. Johnson, Barbara: Women and Allegory, in: Dies.: The Wake of Deconstruction. Oxford/Cambridge: Blackwell 1994, S. 52-75, hier S. 63.
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als das eine große Bild der Annexion, die Ikone der Übernahme festschreiben zu wollen, ist vollends absurd und lächerlich geworden. Der Double Bind ist ausgetrickst. Ein Bildtypus hat vor unseren Augen Platz genommen, lässt sich nicht mehr kontrollieren und wuchert fröhlich quer durch die Netze. Bis er verpufft. Was wir sehen, sind die Verlautbarungen einer Figur. Die Deklaration einer tatsächlichen Unabhängigkeit. Inmitten der Invasion hat Manga seine Visitenkarte abgegeben. Im Natalja-Manga-Bilder-Pool baut Natalja Poklonskaja mehr und mehr ab. Da kann die russische Annexionsmacht noch so sehr mit dem Grüne-Männchen-Fuß im schwarzen Stiefelchen aufstampfen, das Bild, das sie ungewollt freigelassen hat, holt sie nicht mehr ein. Weil es hier aber um das Zentrum der Autokratie geht: den heroischen Körper des Präsidenten, der mit den Kranichen fliegt, der Tigerköpfe hält, Amphoren hochtaucht, mit Feuerflugzeugen löscht, Walproben nimmt und Bratpfannen biegt, macht die russische Propaganda aber dennoch einen Anlauf, gegen den Manga-Hagel von allen Seiten anzugehen. Diese unkontrollierbare Anime-Explosion ist ihr alles andere als egal. Der massive Ansehensverlust – Russland würde so gerne als letztes lachen, wenn es irgendwo einmarschiert – hat sie kalt erwischt. Die schöne Idee ist auf einmal eine Show für ganz Dumme. Die große Machtphantasie ein schlechter Witz! Blöd gelaufen. Die Propagandamaschine versucht in der Folge unter erheblichen Einsatz, auf vier Ebenen zu retten, was zu retten ist. Den Schaden zu minimieren. 1. Natalja Poklonskaja, von der noch nie jemand zuvor gehört hatte, bekommt zunächst ihre beruflichen Credentials in einer heroischen Biographie nachgeliefert. Ich zitiere aus der auf einmal sehr umfangreichen englischen Wikipedia-Website: On 25 February 2014, Poklonskaya handed in her resignation, in which she stated that she was ›ashamed to live in the country where neo-fascists freely walk about the streets‹ (a reference to radical Euromaidan activists). The resignation was not accepted. Instead, she was given a vacation and left Kiev for Crimea where her parents lived. In Simferopol, Poklonskaya offered her help to the Crimean government. While the Autonomous Republic of Crimea sought independence from Ukraine, on 11 March, Poklonskaya was appointed Prosecutor of the Autonomous Republic of Crimea. Poklonskaya was appointed to the position by Sergei Aksyonov after the position had also been reportedly rejected by four others, including the former Vice-Prosecutor of Crimea, Vyacheslav Pavlov. Her previous criticism of the opposition protests in Ukraine, and the ›anti-constitutional coup‹ led the Ukrainian government to launch a criminal case against her and strip her of the civil service rank of Counsellor of Justice. She was reportedly subject to an assassination attempt on 17 March, on which she refused to comment. 23 23 | O.A.: Natalja Poklonskaya. in: Wikipedia. The Free Encyclopedia, https://en.wiki pedia.org/wiki/Natalja_Poklonskaya.
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2. Die einschlägigen Natalja Poklonskaja-Manga-Fanpages werden mit hero ischrusslandpatriotischen Natalja-Liebeserklärungen und für Shojo-Mangas unüblichen, stark sexualisierten und zum Teil offen pornographischen Natalja-Zeichnungen und Fotomontagen zugepflastert. Da dies die jüngsten Darstellungen im Thread sind, muss man sich erst endlos durch sie hindurch scrollen, um zu den ersten, massiven Reaktionen aus der Otakuwelt zu gelangen. 3. Die Aufmerksamkeit wird von der Pressekonferenz weggelenkt. Der neue Auslöser des Natalja Poklonskaja-Hypes soll nun das staatsheroische, fahnenwedelnde Video eines russischen Electromusikers Enjoykin sein, das einen Monat nach der Pressekonferenz am 15. April ins Netz gestellt wurde. In a combination of the official speech and several informal interviews, Poklonskaya appears to be singing: ›Power. Blood. Nyash-myash. Blood. Power. Crimea is ours,‹ (which rhymes in Russian). The ›nyash-myash« bit was apparently taken out from Poklonskaya’s own reaction to her becoming an anime star and receiving a Russian nickname of Nyasha – to which she replied that she would prefer to be perceived as a prosecutor and will not allow any ›nyash‹ or ›myash‹ while at her post. On a more serious note, the rest of the clip offers cuts from Poklonskaya’s solemn statement which said that »the anticonstitutional mayhem has led to a massive bloodshed…we have no moral right to step aside from our people…our task is to get the work of the prosecutor’s office back on track in this country.« It also features some original Japanese-style animation of Poklonskaya fighting monsters and sending a toy boat of ›friendship‹ to a girl who is possibly representing Ukraine. The video, which was uploaded to YouTube on Tuesday afternoon, managed to grasp 3,791,552 views. 24
4. Natalja Poklonskaja wechselt das Register der Männerphantasien, wird umfrisiert und mütterlich, trifft den Zaren und hält vor säuselnder Hintergrundsmusik die Neujahrsansprache. »2014 was an extraordinary year It became a part of the great Russian history In which were reflected all of our fates And on new year’s eve When we will be reflecting upon The days we lived through in 2014 We all, not only Crimeans Will be thinking about one event It is Crimea’s return home, To its home harbour It is the reunification of Russian lands The upkeep of consciousness, honour and dignity Before our ancestors Who willed for us to take care of Russia And when all Crimeans
24 | O.A.: »Crimean prosecutor music clip hits 3.7 mn views in three days«, in: Russia Today, http://rt.com/news/poklonskaya-nyash-myash-youtube-492/vom 18.4.2014.
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And with pride will be watching the address of our president We as citizens of Russia Will raise our glass for our motherland Our land For our great holy Russia And may God help us: To keep her, take care of her and strengthen her In the words of Nicholas II:
Which I would not make to save Russia Whatever we decide to do in the new year Whatever we wish for We all clearly understand That all these desires are unbreakably connected with the success of Russia I would like to wish all health in the new year May everyone be happy May there be peaceful skies A clear bright sun May families return to their homes Which they were forced to flee
May all wars and revolutions end Regardless of which country they are in I wish to all in the upcoming year All the very, very best I wish success in your good deeds I wish for all your most important wishes to come true Everything will come true for sure Happy
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Rember t Hüser upcoming year, Lots of Happiness to you; Happy New Year! TASS-Russian Information Agency Subtitles End: mo.dbxdb.com« 25
Das neue Jahr hat schön angefangen.
Die russische Krimannexion ist die Blaupause für zukünftige aggressiv-expansive Militärpolitik. Dennoch hätte es für die russische Regierung schöner laufen können. Mit der Ästhetik ihrer Militäreinmärsche liegt es noch ein wenig im Argen. Da wird sie in Zukunft wohl noch etwas feilen müssen. Die geographie-übergreifende Otaku-Bildokkupation, die die Besetzungsenergien und Machtphantasien dieser aggressiv-nationalistischen Hardliner-Regierung 25 | Tass: »Natalja Poklonskaya’s New Year’s Message (English Subtitles)«, in: YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=187PtO46Wsk vom 30.12.2014.
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zeitgleich weltweit durchspielt, ausstellt, variier- und abruf bar macht, hatte es ihr nicht einfach gemacht. Sie wird zum Modell-Workshop zum Umgang mit politischer Ikonographie. Auf die Feier der Annexion, der einseitigen Verknüpfung, antwortet sie mit der Okkupation, d.h. der eingehenden Beschäftigung mit seinen symbolischen Kontexten. Occupy! Im März 2015 wird Natalja Poklonskaja zur Leiterin der japanisch-russischen Freundschaftsgesellschaft ernannt. Im April 2016 strahlt das russische Fernsehen als nationalen Nachklapp einen Dokumentarfilm »Crimea. Path to the Motherland« von Andrey Kondrashev aus, der die höflichen grünen Männchen vom 27. Februar zeigt und die Staatsanwältin, die ein Zeichentrick-Star geworden war. »Soldiers were polite, Crimeans were in high spirits and even the prosecutor was one of a kind«.26 Poklonskaja trinkt Tee unter einem Baldachin im Grünen und sagt, sie hätte gerne Vladimir Klitschko, der auf dem Maidan herumgebrüllt hätte, strafrechtlich verfolgt, weil er jemanden umgebracht habe, hätte aber keine Chance dazu gehabt. Präsident Putin, der lustige Bratpfannenfuchs, erklärt, dass die Heimkehr ins Reich, der Beschluss, russische Truppen in die Ukraine zu entsenden, in einer nächtlichen Sitzung vom 22. auf den 23. Februar getroffen worden war. »We finished about seven in the morning. When we were parting, I told all the colleagues, ›We are forced to begin the work to bring Crimea back to Russia.‹«27 Kann sich noch wer daran erinnern, was für eine Jacke er auf der Pressekonferenz in Novo-Ogarevo am 4. März anhatte? Nach so langer Zeit wird er es sich ganz sicher auch nicht mehr anziehen wollen. Derweil auf der Krim verfügt Natalja Poklonskaja am 13. April 2016 noch während eines von ihr angestrengten laufenden Gerichtsverfahrens, dass der Medschlis, die zentrale Exekutivkörperschaft der Krimtataren, der indigenen, muslimischen Bevölkerung der Krim, seine Arbeit vollständig einzustellen hat. Gleichzeitig beantragt sie beim russischen Justizministerium den Medschlis auf die Liste der in Russland verbotenen Organisationen zu setzen.28 Im September 2016 wird Natalja Polonskaja in die 7. Konvokation der Duma gewählt. Sie reicht daraufhin ihr Rücktrittsgesuch als Generalstaatsanwältin der 26 | Kondrashev, Andrey: »Crimea. The Way Home«, in: YouTube, https://www.youtube. com/watch?v=t42-71RpRgI. 27 | O.A.: »Putin reveals secrets of Russia’s Crimea takeover plot«, BBC News, www. bbc.com/news/world-europe-31796226 vom 9.3.2015; O.A.: »The trailer has an interesting confession«, in: Crimea. Path to the Motherland, Pro Russia News, www.bbc. com/news/world-europe-31796226. 28 | Reinke, Sarah: »Krimtatarischer Medschlis verboten. ›Fast keine internationale Reaktion, das ist enttäuschend und beschämend‹«, in: Gesellschaft für bedrohte Völker. News, https://www.gfbv.de/de/news/krimtatarischer-medschlis-verboten-7981/ vom 14.3.2016.
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Republik Krim ein, dem Vladimir Putin am 6. Oktober entspricht. Polonskajas zukünftiger Zuständigkeitsbereich ist die Restaurierung kultureller Denkmäler. Auf der Krim wird Polonskajas Nachfolger ein energisch blickender, glatzköpfiger Mann. Es ist brüllend komisch.
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j) shafafebriani-kokona: She is not your waifu, in: Deviant Art, https://www. deviantart.com/shafafebriani-kokona/art/SHE-IS-NOT-YOUR-WAIFU445555070 [27.1.2018]. k) JCAce: Natalia Poklonskaya, in: Deviant Art, https://www.deviantart.com/ jcace/art/Natalia-Poklonskaya-443773875, [27.1.2019]. 8) Ginkz: Natalia Poklonskaya: Crimea Prosecutor, in: Cosplay, https://cos play.com/costume/vq1pm9#gallery-11 [27.1.2019]. 9) Ginkz: Natalia Poklonskaya: Crimea Prosecutor, in: Cosplay, https://cos play.com/costume/vq1pm9#gallery-12 [27.1.2019]. 10) Das Testament des Dr. Mabuse, D 1933, Fritz Lang, Criterion Collection 231, 2004. 11) Ginkz: Natalia Poklonskaya: Crimea Prosecutor, in: Cosplay, https://cos play.com/costume/vq1pm9#gallery-3 [27.1.2019]. 12) Ginkz: Natalia Poklonskaya: Crimea Prosecutor, in: Cosplay, https://cos play.com/costume/vq1pm9#gallery-2 [27.1.2019]. 13) Ru33ab: Natalia Poklonskaya’s New Year’s Message (English Subtitles), YouTube, 30.12.2014, https://www.youtube.com/watch?v=187PtO46Wsk [27.1.2017]. 14) Ru33ab: Natalia Poklonskaya’s New Year’s Message (English Subtitles), YouTube, 30.12.2014, https://www.youtube.com/watch?v=187PtO46Wsk [27.1.2017]. 15) Ru33ab: Natalia Poklonskaya’s New Year’s Message (English Subtitles), YouTube, 30.12.2014, https://www.youtube.com/watch?v=187PtO46Wsk [27.1.2017]. 16) Funny: Putin riding a dinosaur. 9gag, 10.10.2015, https://9gag.com/gag/ a5K5jLG/putin-riding-a-dinosaur [27.1.2019]. 17) Thora T: Party ›n‹ Puke, 8.2.2013, in: tumblr, http://partyandpuke-blog. tumblr.com/post/42576567686/credits-to-thora-t [27.1.2019]. Vielen Dank an Kerim Dogruel für seine zahlreichen Hinweise!
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Autorinnen und Autoren
Moritz Baßler, geb. 1962, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und lehrt dort Kulturpoetik. Er forscht und publiziert insbesondere zur Literatur der Klassischen Moderne, zur Literaturtheorie und zur Gegenwartsliteratur. Bei transcript erschien zuletzt seine Studie »Western Promises: Pop-Musik und Markennamen«. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik. Christina von Braun, geb. 1944, ist Filmemacherin und Professorin i.R. für Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie hat zahlreiche Filme gedreht und Bücher zu Religions-, Medien-, Geschlechtergeschichte publiziert. Sie war Gründungsleiterin des 2012 eingeweihten Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und ist dort weiterhin als Senior Research Fellow aktiv. Letzte Monographie: ›Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte‹, Berlin 2018. Heinz Drügh, geb. 1965, lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. Neuere Deutsche Literatur und Ästhetik. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des 18.-21. Jahrhunderts, Pop- und Konsumkultur und die ästhetische Theorie. Im Jahr 2015 veröffentlichte er den monographischen Essay »Ästhetik des Supermarkts«. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik. Josef Früchtl, geb. 1954, ist Professor für Philosophy of Art and Culture an der Universität von Amsterdam (UvA). Seine Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik, Theorie der Kultur und der Moderne, Kritische Theorie und Filmphilosophie. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Zuletzt erschien die Monographie Vertrauen in die Welt. Einer Philosophie des Films (München 2014, in engl. Übers. als Trust in the World. A Philosophy of Film bei Routledge 2018).
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Konsumästhetik
Katja Gunkel, geb. 1981, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstpädagogik, Lehrstuhl Neue Medien, der Goethe-Universität Frankfurt. Sie lehrt, forscht und publiziert im Bereich Bild- und Medienwissenschaften sowie Pop- und Internetkultur; derzeit insbesondere zur affektiv-ästhetischen Qualität von partizipativen Medienformaten wie dem Animated Gif. Ihre Doktorarbeit wurde 2018 unter dem Titel »Der Instagram-Effekt. Wie ikonische Kommunikation in den Social Media unsere visuelle Kultur prägt« im transcript Verlag veröffentlicht. Hans P. Hahn, geb. 1963, Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M.. Er arbeitet über materielle Kultur, Konsum und Migration. Neben Projekten der Museumskooperation forscht er zu Konzepten von »Werten in Dingen«, sowie zu Konsumgütern in Westafrika. Buchveröffentlichungen u.a.: »Ethnologie und Weltkulturenmuseum« (2017), »Dinge als Herausforderung« (2018). Thomas Hecken, geb. 1964, ist Professor für »Neuere deutsche Literatur, insbesondere Pop & Populäre Kulturen« an der Universität Siegen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Begriffsgeschichte, Ästhetik und Poetologie, Avantgardebewegungen, Popkultur. Er ist Redakteur der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« und der Website pop-zeitschrift.de. Buchveröffentlichung u.a.: »Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter« (2010). Dirk Hohnsträter, geb. 1968, lehrt Kulturwissenschaft an der Universität Hildesheim und leitet die dortige Forschungsstelle Konsumkultur. Sein Interesse gilt insbesondere dem kulturellen Kapitalismus, der Digitalisierung und dem Verhältnis von Konsum, Kritik und Ästhetik. 2019 erscheint »Konsumkultur. Eine Standortbestimmung« (hg. zus. mit Stefan Krankenhagen). Melanie Horn, geb. 1982, war von 2013-2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Rahmen des Forschungsprojekts »Konsumästhetik. Formen des Umgangs mit kaüflichen Dingen« beschäftigte sie sich mit der Poetik der Popmusik in Markenwerbung. Rembert Hüser, geb. 1961, ist Professor für Medienwissenschaft an der Goethe Universität Frankfurt. Jüngste Veröffentlichungen zu Unbekannten Flugobjekten, GIFs, der Mao-Bibel, dem Goat Simulator, Western um 1968 und den Schönsten Bahnstrecken Deutschlands. Annemarie Opp, geb. 1983, promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft zum Zusammenhang von
Autorinnen und Autoren
»Liebe und Konsum in Romanen der Moderne und Postmoderne« im Rahmen des Forschungsverbundprojekts »Konsumästhetik – Formen des Umgangs mit käuflichen Dingen«. Birgit Richard, geb. 1962, ist Professorin für Neue Medien in Theorie und Praxis am Institut für Kunstpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte, Forschungsprojekte und Publikationen liegen in den Bereichen Visuelle Kulturen (Jugend – Kunst – Geschlecht), Todesbilder, audiovisuelle Mediengestaltung und Jugendkulturästhetik. 1994 initiierte sie das JugendKulturArchiv, eine stetig wachsende Privatsammlung jugend- und subkultureller Objekte an der Goethe-Universität Frankfurt. Als Kuratorin realisierte sie verschiedene Ausstellungen im In- und Ausland, zuletzt »Hamster-Hipster-Handy. Im Bann des Mobiltelefons« (25.04.-05.07.2015, Museum Angewandte Kunst Frankfurt). Monica Rüthers, geb. 1963, ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Geschichte sozialistischer Städte, die »Festivalisierung« von Juden und Roma, die visuelle Kultur der Sowjetunion, russische und sowjetische Konsumgeschichte, Fotoalben sowie Politiken des Essens und der Erinnerung zwischen Nostalgie, Kitsch und Ironie. Sie schreibt online für dekoder.org. Demnächst erscheint die Monografie »Unter dem Roten Stern geboren – Sowjetische Kinder im Bild«. Wolfgang Ullrich, geb. 1967, war von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an die Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seither lebt er als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig. Er forscht und publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zu bildsoziologischen Themen sowie zu Konsumtheorie. – Letzte Buchveröffentlichungen: Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Berlin 2017; Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens, Berlin 2019. Antonia Wagner, geb. 1984, hat zu feministischen Perspektiven auf Konsum promoviert. Sie forscht und lehrt an den Schnittstellen von Konsum, Feminismus, Kunst und Wirtschaft und arbeitet als Beraterin im Kulturmanagement.
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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