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German Pages [377] Year 2019
Neue Phänomenologie
Robert Gugutzer Charlotte Uzarewicz Thomas Latka Michael Uzarewicz (Hg.)
Irritation und Improvisation Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495817612
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B
NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 29
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer
https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robert Gugutzer Charlotte Uzarewicz Thomas Latka Michael Uzarewicz (Hg.)
Irritation und Improvisation Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robert Gugutzer / Charlotte Uzarewicz / Thomas Latka / Michael Uzarewicz (Eds.)
Irritation and Improvisation On dealing with the unexpected creatively In everyday life not everything unfolds as expected. Surprises happen, routines fail, the obvious becomes problematic. How do people react to such irritations, which arise from a sudden »irruption of the new« (H. Schmitz)? As it appears, often spontaneously, intuitively, or via improvisation. What is improvisation and how does it succeed? How do irritations and improvisations actually interact in everyday and professional situations? The contributions to this book address these questions from the perspective of the New Phenomenology. The Editors: Robert Gugutzer, Charlotte Uzarewicz, Thomas Latka and Michael Uzarewicz are the founding members of the Munich Work Group for New Phenomenology.
https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robert Gugutzer / Charlotte Uzarewicz / Thomas Latka / Michael Uzarewicz (Hg.)
Irritation und Improvisation Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem Zum Alltag gehört, dass nicht immer alles glatt läuft. Überraschendes passiert, Routinen greifen nicht mehr, das Selbstverständliche wird problematisch. Wie reagieren Menschen auf solche Irritationen, die aus dem »plötzlichen Einbruch des Neuen« (H. Schmitz) resultieren? Wie es scheint, häufig spontan, intuitiv, improvisierend. Was aber heißt Improvisation und wie gelingt sie? Und wie spielen Irritation und Improvisation in alltäglichen und beruflichen Situationen konkret zusammen? Die Beiträge des Buches behandeln diese Fragen aus der Perspektive der Neuen Phänomenologie. Die Herausgeber: Robert Gugutzer, Charlotte Uzarewicz, Thomas Latka und Michael Uzarewicz sind die Gründungsmitglieder des Münchner Arbeitskreises für Neue Phänomenologie.
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Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49027-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81761-2
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Inhalt
Charlotte Uzarewicz Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Philosophische und soziologische Reflexionen Hermann Schmitz Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
17
Robert Gugutzer Situationsprobleme und kreatives Handeln. Neopragmatismus und Neophänomenologie im Dialog .
28
Walter Burger Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht . . . . . .
58
Robert Josef Kozljanič Von normwidrigen Irritationen zu vernünftigen Improvisationen. Plädoyer für eine situationsangemessene Lebenserfahrungsvernunft . . . . . . . . .
85
Ungewissheit und Unbestimmtheit in Pädagogik und Pflege Viola Straubenmüller Am Betroffensein lernen. Irritation eines einseitigen Kompetenzbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 7 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Inhalt
Klaudia Schultheis Das Unerwartete als pädagogische Chance. Historische und aktuelle Einblicke in den Umgang mit Irritation in der Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Barbara Wolf Leibliche Dimensionen des pädagogischen Taktes. Vom Unwillkürlichen, Unverfügbaren und Unvorhersehbaren der pädagogischen Situation . . . . . 160 Sabine Dörpinghaus Leibliche Gewissheit. Ermöglichung, Begrenzung und Bedingung bei Unbestimmtheiten im geburtshilflichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Die (Un-)Verfügbarkeit von Körper und Natur Gudula Linck Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen. Leben als Improvisation – à la Chinoise . . . . . . . . . . 225 Michael Uzarewicz Das Irritierende brachialer Handlungen. Neue Phänomenologie der Gewalt . . . . . . . . . . . . 236 Jürgen Hasse Irritation im Natur-Erleben. Zur Option des WachWerdens auf dem Grat Erster und Zweiter Natur . . . . 261
Irritationen in der Praxis: Werkstattberichte Heinz Becker Vitalisierung von Organisationen. Ohne Irritation keine Zukunftsfähigkeit . . . . . . . . . . 289
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Inhalt
Robby Jacob Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Thomas Latka Die Rolle der Haltung im Umgang mit Irritation und Improvisation. Agile Softwareentwicklung und provokative Psychotherapie als Praxisfeld . . . . . . . . 313 Henning Hintze Irritation als Ausgangspunkt von Innovation . . . . . . . 335 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . 363
9 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Vorwort
Im Oktober 2016 veranstaltete der Münchner Arbeitskreis für Neue Phänomenologie anlässlich seines fünfjährigen Bestehens eine Fachtagung zu dem Thema, das sich im Titel des Buches widerspiegelt. Der Erfolg dieser Veranstaltung, die in enger Kooperation mit der Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V. (GNP) durchgeführt wurde, hat die Initiatoren des Arbeitskreises ermutigt, einen erweiterten Sammelband herauszugeben. Erweitert in zweifacher Hinsicht: Zum einen haben über die Tagungsreferentinnen hinaus weitere Autorinnen zugesagt, zu diesem Thema einen Beitrag zu liefern; zum anderen haben wir den Titel umfassender formuliert: Hieß die Tagung noch »… zum professionellen Umgang mit Unerwartetem«, so lesen Sie hier nun etwas »… zum kreativen Umgang mit Unerwartetem«. Der Tagungstitel ergab sich aus dem Spannungsfeld, eine philosophisch ausgerichtete Tagung an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften durchzuführen. Die Katholische Stiftungshochschule München, an der die Themen der Neuen Phänomenologie einem breiteren und heterogenen Publikum zugänglich gemacht wurden, hat ihre Studienschwerpunkte in den Bereichen der Sozialen Arbeit, der Gesundheit und der Pflege. So ist es nicht verwunderlich, dass pädagogische, gesundheitliche und Managementthemen zur Sprache kamen. Aber weit über konkrete Umgangsweisen, Anwendungsfelder und Professionen hinaus berühren die Themen »Irritation und Improvisation« die anthropologische Seinsweise schlechthin und damit alle sozialen Handlungsfelder. Menschen sind eingebettet in eine chaotische Mannigfaltigkeit von Sachverhalten, Programmen und Problemen, deren binnendiffuse Bedeutsamkeit gespürt wird, deren Vereinzelungen aber 11 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Vorwort
immer nur sukzessive zum Vorschein kommen. So wissen wir gar nicht, welche Kompetenzen wir haben, um mit Unerwartetem umzugehen. Als in die Welt Geworfene sind Menschen irritierbar. Dieser Sachverhalt wird auch in der Etymologie des Wortes deutlich: Von Anbeginn unseres Daseins stehen wir in leiblicher Kommunikation mit der Welt und das bedeutet, wir reizen und werden gereizt, wir erregen und werden erregt, wir provozieren und werden provoziert. Durch diese leiblichen Erfahrungen lernen wir die Welt zu verstehen und sie uns als Akteur und Patheur gleichermaßen anzueignen. Irritation ist also sowohl eine Alltäglichkeit, mit der wir gelernt haben umzugehen, als auch eine Besonderheit, die maßgeblich an den individuellen und soziohistorischen Entwicklungen beteiligt ist. Trotzdem oder gerade deshalb ist das Thema Sicherheit zu einer allgegenwärtigen Ideologie avanciert, die dieses anthropologische Phänomen verschleiert. Sicherheit ist eine Illusion, in der das Streben nach eindeutigen und erwartbaren Konstellationen verortet werden kann. Die postmodernen Vokabeln in den Sozialwissenschaften hierzu sind Standardisierung und Qualitätssicherung. Gesellschaften haben Institutionen herausgebildet, die sich durch ein Heer von Regeln und Normen charakterisieren lassen. Diese lenken und leiten unsere Erwartungen und damit auch die Wahrnehmung. Wir wissen scheinbar, wie wir uns in verschiedenen Situationen zu verhalten haben. Das funktioniert meist auch, und zwar auf der Makro-, Mesound Mikroebene sozialen Seins. Oder sollte man sagen: hat funktioniert? Die Welt ist mittlerweile hyperkomplex geworden, in der unsere Normen- und Regelsysteme nicht mehr ausreichend tragen. So entsteht das Unerwartete inmitten des Gewohnten. Dann improvisieren wir. In diesem Wort steckt unser leibliches Vermögen, uns zur und in der Welt zu verhalten. Aus dem italienischen ›improvviso‹ abgeleitet, bedeutet es: unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet. Warten, sehen, muten – spüren, was ist, sich der Widerfahrnisse gewahr werden, um dann erst, in einem zweiten Schritt, sich auf die Ebene des Handelns zu begeben. Das sind die Pfeiler unserer leiblichen Existenz, in der die Kreativität essentieller Bestandteil ist: Wir erwählen, erschaffen, erfinden und erzeugen – so die ursprüngliche Wortbedeutung. 12 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Vorwort
Die Autorinnen dieses Bandes haben die vielfältigen Aspekte der Themen sehr unterschiedlich bearbeitet. Bei Hermann Schmitz, Robert Gugutzer, Walter Burger und Robert Kozljanic finden sich philosophische und soziologische Reflexionen. Viola Straubenmüller, Klaudia Schultheis, Barbara Wolf und Sabine Dörpinghaus befassen sich mit Ungewissheiten und Unbestimmtheiten in Pädagogik und Pflege. Gudula Linck, Michael Uzarewicz und Jürgen Hasse betrachten die (Un-)Verfügbarkeit von Körper und Natur; und Heinz Becker, Robby Jacob, Thomas Latka sowie Henning Hintze liefern anschauliche Werkstattberichte aus verschiedenen Praxisfeldern. Bezogen auf die Genderschreibweise gab es keine formalen Vorgaben; so haben wir dies den Beteiligten selbst überlassen. Jedem Aufsatz sind ein Abstract sowie Keywords vorangestellt, so dass Sie sich, liebe Leserinnen, schnell einen Überblick über die einzelnen Themen verschaffen und sich, je nach aktuellem Bedarf, mit diesen in Kommunikation begeben, vielleicht sogar in Resonanz gehen können. Das sind zumindest die Hoffnung, der Wunsch und die Motivation, die wir mit diesem Buch verbinden. Wir danken zu guter Letzt bzw. zu allererst den an diesem Projekt Mitwirkenden: hauptsächlich natürlich allen Autoreninnen und Referentinnen, die sich mit ihren Gedanken zu diesem umfangreichen Thema geäußert haben. Die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V. hat nicht nur die Tagung unterstützt, sondern es auch ermöglicht, dass dieses Buch in die GNP-Reihe aufgenommen werden konnte; dafür sei ihr herzlich gedankt. Das IF-Institut für Fort- und Weiterbildung, Forschung und Entwicklung der Katholischen Stiftungshochschule München hat die Tagung organisiert und administriert. Die Arbeiten, die Backstage stattfinden, sieht man nie, aber man spürt sie atmosphärisch, denn sie tragen maßgeblich dazu bei, dass eine Veranstaltung gelingt und in guter Erinnerung bleibt. Auch hierfür sei herzlich gedankt. München im Juni 2018
Charlotte Uzarewicz
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https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Philosophische und soziologische Reflexionen
https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Hermann Schmitz
Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete 1
Abstract: Da nicht alles durchgängig (vor)bestimmt ist, ist die Zukunft offen und alles ist möglich, sofern es widerspruchsfrei zu denken ist. Erst im Augenblick des Entstehens entscheidet sich, was im bis dahin Möglichen noch nicht gewesen ist und was aus der Zukunft in Gegenwart eintritt. Dadurch kann jederzeit eine neue aktuelle Situation entstehen. Durch Anwendung von Konstellationen und Explikationen lernen Menschen, sich in Situationen zurechtzufinden. Hinzu kommen die notwendige Fähigkeit, ungerichtete Verhältnisse in gerichtete Beziehungen aufzuspalten und das Vermögen, die Form der Einzelheit ins Nichtseiende zu projizieren. Nur so können die Menschen der Herausforderung des Entstehens kompetent begegnen und sich dem Unerwarteten anpassen. Durch solche kompetente Aktualisierung von zuständlichen Situationen erarbeitet sich der Mensch Konstellationen, mit denen er die Herausforderungen in den Griff bekommt und die Aufgabe bewältigen kann, sich zurechtzufinden. Sein Griff auf die gegenwärtige Situation muss zugleich ein Vorgriff auf künftige sein. Gleichwohl klafft hier immer eine Lücke, die nur durch unvollständige Induktion, indem er die bisher durch den Erfolg seines Erwartens bestätigten Regeln auf die Zukunft ausdehnt, zu schließen ist. Besonders bewährt haben sich hier die Naturwissenschaften, mit ihren Regeln provisorischer Prognose. Diese können aber nicht zu allgemeinen Naturgesetzen hypostasiert werden, denn die Grundform menschlicher Selbstbehauptung besteht immer in der Abwechslung von Situationen und Konstellationen, dem Grundrhythmus der Geschichte. Keywords: Kompetenz, Konstellation, Situation, Unerwartetes, Zukunft 1
Der vorliegende Text wurde erstmals veröffentlicht in Hermann Schmitz: Zur Epigenese der Person. Freiburg 2017, S. 137–147. Er wurde lediglich der neuen Rechtschreibung angepasst.
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Hermann Schmitz
Die gewöhnliche Rede von Zukunft verbirgt einen Doppelsinn. Man muss nämlich zwischen geschlossener und offener Zukunft unterscheiden. Die geschlossene Zukunft enthält alles, was noch nicht ist, aber einmal sein wird. Die offene Zukunft enthält alles, was noch möglich ist. Wenn die offene Zukunft keinen Überschuss über die geschlossene hat, ist alles vorherbestimmt. Dann wird genau das eintreten, was jetzt noch nicht ist, ohne Spielraum für Zufall und Freiheit. Das ist aber nicht der Fall. Ich habe bewiesen, dass die offene Zukunft einen Überschuss über die geschlossene Zukunft hat. 2 Der Beweis beruht auf der Widerlegung des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung durch den Nachweis, dass ein durchgängig bestimmter Gegenstand, der jede mögliche Bestimmung als etwas entweder besäße oder nicht besäße, vielmehr völlig unbestimmt wäre. Was aber, wie hiernach jeder Gegenstand, nicht durchgängig bestimmt ist, kann auch nicht durchgängig vorherbestimmt sein. Nun fragt sich, wie weit der Überschuss reicht. Ich kenne keine andere präzise Bestimmung der Möglichkeit als durch die Angabe, dass alles möglich ist, was sich widerspruchsfrei denken lässt, in dem Sinn, dass etwas behauptet wird, woraus kein logischer Widerspruch folgt. Wenn man einen engeren Begriff wählt, kann man ihn zurückweisen durch die Erwägung, dass ein kühnerer Ausflug des Denkens weitere Möglichkeiten eröffne. Nur der Widerspruch ist eine absolute Grenze, weil die widersprechenden Sätze einander im Sinn aufheben, so dass gar nichts übrig bleibt, das behauptet wird, erst recht nichts, das der Fall sein könnte. Wenn der Begriff aber so weit gefasst wird, stellt sich heraus, dass die Zukunft schrankenlos offen ist, abgesehen von einigen logischen und analytischen Wahrheiten, die nicht falsch sein können, ohne dass sich ein Widerspruch ergibt. Alle Inhalte der Zukunft, insbesondere alle Ereignisse, kann man nämlich widerspruchsfrei wegdenken; man muss dann nur in dem, was übrig bleibt, mehr oder weniger umräumen. Nicht einmal dann folgt ein Widerspruch, wenn man sich ausmalt, dass die Zukunft selbst irgendwann entfällt. Sowie 2
Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben (Ausgrabungen). Freiburg 2016, S. 93–97 und 289–291.
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Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
ein Überschuss der offenen Zukunft über die geschlossene zugegeben wird, gibt es also kein Halten mehr. Für die geschlossene Zukunft ergibt sich daraus, dass sie sozusagen nur nachträglich eintritt, als das, was vom Augenblick des Entstehens her noch nicht gewesen ist. Zwar ist die geschlossene Zukunft in der offenen enthalten, aber was für ein Teil sie ist, steht erst durch das Entstehen fest, durch den Übergang der offenen Zukunft in Gegenwart. Das gilt nicht nur für das menschliche Wissen, als erführe der Mensch erst durch das Entstehen, was im Schoße der Zukunft verborgen lag, sondern auch in Wirklichkeit, ohne Rücksicht auf Wissen oder Nichtwissen, entscheidet erst das Entstehen darüber, was in dem bis dahin Möglichen noch nicht gewesen ist. Diese Entscheidung geschieht auch nicht mit einem Schlag, sondern sukzessive und unaufhörlich, solange die Zeit verstreicht. Selbst wenn es Zeiten geben sollte, in denen sich nichts ereignet, entstünde auch dann etwas, nämlich eine Leere des Geschehens, ein Ausbleiben von Ereignissen. Jeder Augenblick des Entstehens entscheidet hiernach neu darüber, was aus der Zukunft in Gegenwart eintritt. Dadurch kann jederzeit eine neue aktuelle Situation entstehen. Ich erkläre mich kurz darüber, wie ich das meine. Eine Situation ist Mannigfaltiges, das ganzheitlich – d. h. in sich zusammenhängend und nach außen mehr oder weniger abgehoben – zusammengehalten wird durch eine binnendiffuse Bedeutsamkeit aus Bedeutungen, die Sachverhalte, Programme oder Probleme sind. Binnendiffus ist die Bedeutsamkeit, weil nicht alle (sehr oft keine) Bedeutungen in ihr einzeln sind; einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt, d. h. um die Anzahl jeder Menge, in der jedes Element mit jedem identisch ist. Situationen können aktuell, d. h. der Wandlung jeden Augenblick fähig, sein, wie eine zu sofortiger Bewältigung anstehende Gefahr, ein Gespräch oder ein Problem, an dem jemand grübelt, oder zuständlich, so dass sie sich nur allmählich ändern und daher auch nur nach längeren Fristen sinnvoll auf Veränderung geprüft werden können, außer bei Katastrophen, wobei auch sie schnell abreißen oder eine andere Gestalt annehmen können. Zuständliche Situationen sind z. B. eine Sprache, die Persönlichkeit eines Menschen als seine nach der Säuglingszeit sich lebens19 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Hermann Schmitz
lang bildende und umbildende persönliche Situation und der im Wandel des Gesichts beharrende Charakter eines Dinges, woraus man es als Ding eines bestimmten Typs oder als genau dieses individuelle Ding (z. B. einen Bekannten) erkennt. Tiere sind in Situationen gefangen, von deren Programmgehalt (dem Nomos der Situation) ihr vitaler Antrieb gesteuert wird. Menschen nach der Säuglingszeit haben Gelegenheit, aus den Situationen, in denen sie leben und mit denen sie an erster Stelle zu tun haben, herauszutreten, indem ihre satzförmige Rede einzelne Bedeutungen, darunter Sachverhalte als Tatsachen und Programme als für sie geltende, herausholt und zu Konstellationen vernetzt. In diesen Netzen können beliebige Sachen durch Subsumtion unter Gattungen untergebracht und so als einzelne aus den Situationen herausgeholt und anders geordnet werden; die Gattungen sind spezielle (partikulär quantifizierte) Sachverhalte in Konstellationen. 3 Durch Anwendung von Konstellationen auf Situationen und Vereinzelung von Sachen unter Gattungen müssen Menschen lernen, sich in Situationen zurechtzufinden; sie können zwar aus diesen aussteigen, aber nie von ihnen loskommen, da sie Situationen als Quelle der Explikation benötigen. Um dabei die nötige Beweglichkeit zu erlangen, benötigen die Menschen zwei weitere Begabungen: Die eine ist die ihnen vom Fluss der Zeit geschenkte 4 Fähigkeit, ungerichtete Verhältnisse in gerichtete Beziehungen aufzuspalten, wodurch sie zur beweglichen Umgruppierung gegebener Ordnungen befähigt werden; die andere besteht in dem Vermögen, die Form der Einzelheit ins Nichtseiende zu projizieren, wodurch Erwartung und in deren Gefolge Planung, Wagnis, Hoffnung, Furcht sowie – auch unabhängig vom Erwarten – Phantasie möglich werden. Mit dieser Ausrüstung begegnen die Menschen der Herausforderung durch das Entstehen, bei dem sich, was noch nicht war, aus der offenen Zukunft abscheidet und in Gegenwart übertritt. Dabei können sich die Erwartungen erfüllen oder nur geringfügig modifiziert werden; dann kann sich die aktuelle Situation dem 3 4
Schmitz, Ausgrabungen, S. 74–81. Schmitz, Ausgrabungen, S. 271 f.
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Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
Geschehen leicht anpassen und braucht nicht ersetzt zu werden. Sehr oft geschieht aber etwas Unerwartetes, und dann liegt eine neue aktuelle Situation vor, die eine neue Anpassungsleistung der beschriebenen Art verlangt, bestehend aus Explikation von Bedeutungen, Konstellationsbildung, Subsumtion und Vereinzelung von Sachen, Spaltung von Verhältnissen, Projektion ins Nichtseiende. Der Anpassungsdruck der durch überraschendes Entstehen aufscheinenden aktuellen Situationen ist die Hauptform der von Kant bestrittenen 5 Wahrnehmung der Zeit. Dieser Anpassungsdruck wird gebremst durch das Beharren der zuständlichen Situationen, die sich durch die aktuellen hindurch ziehen. Auf die zuständlichen Situationen kann man sich gewöhnlich verlassen und sie in den Dienst der Bewältigung der aktuellen Situationen stellen. Dafür eignen sich besonders die erworbenen Kompetenzen, vom Gehen und Sprechen über das verfügbare Wissen und das soziale Benehmen bis hin zu komplizierten motorischen Kompetenzen wie Maschineschreiben, Autofahren, Tanzen, Klavierspielen usw. Kompetenzen sind keine Konstellationen im Sinne einer ein- oder mehrdimensionalen Abfolge von Einzelschritten, sondern bei flüssiger, gekonnter Ausübung Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit. Das flüssige Sprechen ist z. B. keine geordnete Menge von Einzelhandlungen, sondern ein virtuoser, ganzheitlicher, spielerisch aus einem unabsehbaren Vorrat von Möglichkeiten schöpfendender Umgang mit Sprache und Mund, und entsprechendes gilt für alle flüssigen Körperbewegungen; nur der Lehrling und der Stümper beim Tanzen achtet auch auf Abstände und Winkel seiner Füße. Mit Anwendung der Kompetenz als Aktualisierung einer zuständlichen Situation erarbeitet sich der Mensch Konstellationen, mit denen er die Herausforderung durch die neue aktuelle Situation in den Griff bekommt. Die zuständlichen Situationen, auf die er sich dabei stützt, können aber auch in Katastrophen zusammenbrechen. Ein oft eher geringfügiges Beispiel liegt vor, wenn man sich über den im Wechsel des Gesichts beharrenden Charakter eines Dinges, z. B. als dieser 5
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 225: »Nun kann die Zeit für sich nicht wahrgenommen werden.«
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Hermann Schmitz
Mensch gemäß dem »Bild«, das man sich von ihm macht, oder als Blume oder als gesundes Nahrungsmittel gründlich getäuscht hat und so »aus allen Wolken fällt«, dass die zuständliche Situation nicht mehr weiterhilft, weil der Charakter umgeschlagen ist. Dann muss die Konstellation zur Bewältigung der Herausforderung durch eine aktuelle Situation auch ohne Hilfe, der bis dahin leitenden zuständlichen Situation neu aufgebaut werden, was Schlagfertigkeit erfordert. Die Bewältigung der Herausforderung durch die im Entstehen unerwartet neu eintretenden aktuellen Situationen benötigt den Erfolg nach zwei Richtungen der Leistung. 1. Die Situation in den Griff zu nehmen. Dazu gehört der Blick auf das Wesentliche im Interesse der eigenen Zwecksetzung, um der Situation durch Explikation und Vernetzung der Explikate das dafür Erforderliche abzugewinnen. Dafür müssen die betreffenden Zwecksetzungen aber erst einmal bereitgestellt werden. Sie richten sich keineswegs nur nach vorgegebenen Einstellungen, sondern hängen ebenso sehr davon ab, wie die Situation den Betroffenen anspricht. Um darauf eine Antwort zu finden, muss oft neu das vielstimmige Konzert der partiellen Situationen in der persönlichen Situation mit ihrem eigenen Nomos zur Einstimmigkeit einer Absicht vermittelt werden. Es genügt auch nicht, sich nur nach der persönlichen Situation zu richten. Diese ist durch leibliche Kommunikation im Kanal des vitalen Antriebs, also durch Einleibung in meinem Sinn, in gemeinsame Situationen eingebettet, die bei Personen, anders als bei Tieren, durch sprachlich vermittelte Verständigung, persönliche Bindungen, Einbindung in Traditionen usw. aufgefüllt werden. Was das Individuum beabsichtigt, hängt weitgehend von diesen gemeinsamen Situationen ab, die angesichts der Herausforderung mit weitgehend gleichen Mitteln wie die herausfordernde aktuelle Situation bearbeitet werden müssen. Eine beträchtliche Bedeutung besitzt dabei zusätzlich die Suggestion, die Überredung, damit der Funke überspringt, der ein gemeinsames Feuer der Absichtsbildung entzündet. Die Absicht allein ist aber noch kein Wollen. Zur Bewältigung der Herausforderung muss die Zuwendung des vitalen Antriebs zur Absicht gewonnen werden, ebenso des indi22 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
viduellen wie des gemeinsamen Antriebs der Einleibung, damit die Absicht Schwung gewinnt. Der Antrieb kann matt oder schwer beweglich (durch engende Spannung gebunden) oder von Reizen überlastet oder durch einen vielsagenden Eindruck, der sich z. B. aus Angst oder Scham oder Unterwürfigkeit aufbaut, blockiert sein, so dass der Ruck zum Einsatz nicht oder unzulänglich zu Stande kommt. Erst wenn alle diese Hindernisse entfallen oder überwunden sind, gelingt es, die Situation in den Griff zu nehmen. 2. Zur Bewältigung der Aufgabe, sich zurechtzufinden, die die Befreiung aus der Gefangenschaft in Situationen dem Menschen aufgeladen hat, genügt es aber nicht, dass er die jeweils gegenwärtige Situation in der angegebenen Weise in den Griff nimmt. Vielmehr steht seine Macht, einzelne Ereignisse und sonstige Inhalte in die nichtseiende (noch nicht seiende) Zukunft durch Erwartung zu projizieren, in ständigem Konflikt mit seiner Ohnmacht, der Entscheidung darüber, was noch nicht gewesen ist, in jedem Augenblick des Entstehens ausgesetzt zu sein. Diese Entscheidung kann ebenso für wie gegen die Erwartung ausfallen. Der Mensch kann sich im Verhältnis zu einer gegenwärtigen aktuellen Situation also nur behaupten, indem er zugleich auf künftige Situationen gefasst ist, die in die gegenwärtige Situation einbrechen und ihm das Heft, mit dem er diese im Griff hält, aus der Hand nehmen könnten. Sein Griff auf die gegenwärtige Situation muss zugleich ein Vorgriff auf künftige Situationen sein. Die geschickte Kombination beider Griffarten ist das eigentliche Meisterstück professioneller Bewältigung des Unerwarteten, der improvisierenden Meisterung von Irritationen. Manche Menschen haben dafür ein intuitives Vorgefühl, eine antizipatorische Ahnung aus der gegenwärtigen Situation, was kommen wird. Ein geschichtenmächtiger Träger dieses Vermögens ist Themistokles, der Urheber des Sieges der Griechen über die Perser, der den Anschlag vereitelte, die eben entstehende abendländische Aufklärungs- und Diskussionskultur gleich in ihren ersten Anfangen zu ersticken. Thukydides sagt von ihm: »Noch im Undurchsichtigen sah er im höchsten Mail voraus, was das Bessere und Schlechtere sein werde. Und überhaupt wurde er durch Macht der Natur und kurz angebun23 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Hermann Schmitz
denes Zupacken der Stärkste darin, das Gehörige zu improvisieren.« 6 Ein ähnliches Geschick sagt Heinrich Leo dem Philosophen Hegel und dem damaligen Hochschulreferenten im preußischen Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Johannes Schulze nach »Es liegt in ausgezeichneten Menschen ein Instinkt, der sie ihre Lage oft verstehen und fassen lehrt, wo die Prämissen noch gar nicht deutlich genug vorliegen, um einen mit klarem Bewusstsein auszusprechenden Schlag zu ertauben. Ein solcher Instinkt wirkte wohl in Schulze, ein solcher in Hegel.« 7 Weder dieses Ahnungsvermögen noch der größtmögliche Einsatz von Analyse und Konstruktion können die Kluft schließen, die zwischen der menschlichen Kunst des Erwartens und dem jederzeit möglichen Einbruch des Unerwarteten, der den Einsatz neuer Mittel erfordert, klafft. Dem Menschen bleibt nichts übrig als der Versuch, diese Lücke durch unvollständige Induktion zu schließen, indem er die bisher durch den Erfolg seines Erwartens bestätigten Regeln auf die Zukunft ausdehnt. Für die Rechtfertigung dieser induktiven Schlussweise gibt es keinerlei Begründung, außer der Not des Menschen, der sich der automatischen Führung durch den Nomos von Situationen entzogen hat und sich anders nicht zu helfen weiß, um sich in den Situationen, denen er ausgesetzt ist, zu behaupten. Wie wenig gesichert sein Vertrauen auf die Induktion ist, zeigt die Parabel Bertrand Russells vom induktiven Truthahn. Das Tier schließt daraus, dass es 364 Tage lang gut gepflegt worden ist, dass es immer so weitergehen werde, bis ihm am 365. Tag die schreckliche Überraschung zuteilwird, dass es für das britische Weihnachtsfest geschlachtet wird, was von vornherein der Grund der guten Pflege war, wovon es aber nichts wissen konnte. So könnte es allen Apologeten des naturwissenschaftlichen Weltbildes gehen, wenn sie auf die unvollständige Induktion allgemeiner Naturgesetzte bauen. Es kann keine allgemeinen Naturgesetze geben, wenn die Zukunft offen 6
Thukydides: Historiae, I 138,3. Heinrich Leo, zitiert nach Nicolin, Günter (Hrsg.): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970, S. 209.
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Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
ist, wenigstens radikal offen in der angegebenen Weise. Gerade dazu aber, sich in die Zukunft nicht ohne Orientierung vorzutasten, werden Gesetze und Regeln der Naturwissenschaft gebraucht, und diese liefert das Benötigte mit überraschender Zuverlässigkeit und Dichte ihrer Prognosen. Für diese hat sie aber keine andere Bewahrungsprobe als die bis zur Gegenwart erstreckbaren vergangenen Erfahrungen, und daher kann jede Bestätigung eines Naturgesetzes ebenso als Bestätigung für irgend ein anderes aufgefasst werden, in dem Sinn, dass bei gleichen Ausgangsbedingungen zunächst das bisher Erwartete eintritt, von einem gewissen Zeitpunkt an, der frühestens der gegenwärtige ist, aber irgendetwas anderes. Schon diese Überlegung beweist, dass die sogenannten allgemeinen Naturgesetze nur bewährte Regeln provisorischer Prognosen sind. Die Naturwissenschaft wiegt die Menschen in Sicherheit, indem sie ihnen den Glauben zumutet, es sei gelungen, der Natur und der Zukunft ihre Geheimnisse abzulauschen. Daraus schöpft sie zusätzlich den Gewinn, dass sich allgemeine Naturgesetze anders als provisorische Regeln der Prognose auch zur Retrodiktion anwenden lassen und daher der menschlichen Neugierde, zu erfahren, wie es zu dem gekommen ist, was wir hier und jetzt sehen, Befriedigung verschaffen können. Für solche Ansprüche bietet die Naturwissenschaft höchst eindrucksvolle Sicherheiten in Gestalt der überraschenden Bewahrungskraft und Dichte ihrer Prognosen, die sich obendrein, auf verschiedenen Wegen gewonnen, oft gegenseitig stützen und bestätigen und mit bewundernswertem Aufwand von Sorgfalt und Scharfsinn immer weiterentwickelt werden. Deswegen wäre es vermessen, den Ergebnissen der Naturwissenschaft den Glauben schlechthin zu verweigern. Sie sind vielmehr höchst plausibel, aber die für sie erhobenen Ansprüche halten gründlicher erkenntnistheoretischer Kritik dennoch nicht stand. Die Grundform der Selbstbehauptung des aus der automatischen Führung durch die Bedeutsamkeit von Situationen ausgetretenen Menschen besteht immer in der Abwechslung von Situationen und Konstellationen. Aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit werden Explikate herausgeholt und vernetzt, einerseits Sachverhalte, die zum Teil als Gattungen Gelegenheit zur Verein25 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Hermann Schmitz
zelung absolut identischer Sachen als deren Fälle geben, andererseits als Programme und Probleme, die vorzeichnen, worauf man hinaus und wovon man weg will. Der Inhalt der Situationen ist vielfach am Druck des Entstehens auf Anpassung durch Explikation und Vernetzung beteiligt, teils wegen der Inkonsistenzen, die in der binnendiffusen Bedeutsamkeit unbemerkt schlummern können und bei Explikation hervortretend die alte Situation sprengen und eine neue entstehen lassen, teils durch Zusammenstoß von Situationen und ihrer Nomoi, wenn anderes Wollen in das eigene eingreift. Immer dann und in vielen anderen Fällen müssen Situationen in Konstellationen überführt werden, um durch Anhalt an einzelnen Sachverhalten, einzelnen Programmen, einzelnen Problemen die Richtlinien für die Anpassung an die neue Lage zu gewinnen. Das ist aber nur eine Übergangsphase, da das menschliche und tierische Leben ständig in Situationen verläuft. Die Konstellationen werden Gewohnheiten, sie wachsen ins Leben ein und bilden wieder Situationen, aktuelle und zuständliche, die unter dem Druck des Entstehens wieder zum Aufbau von Konstellationen treiben usw. Diese Wechsel von Situationen und Konstellationen ist der Grundrhythmus der Geschichte. 8 Ich verstehe das Wort in ganz weitem Sinn, der sowohl die Welt- und Kulturgeschichte umfasst als auch die individuelle Lebensgeschichte oder Episoden aus der Überkreuzung solcher Lebensgeschichten wie die Geschichte einer Liebesbeziehung oder einer Feindschaft. Geschichtliches Gewicht im emphatischen Sinn gewinnt dieser zyklische Wechsel, wenn er in persönliche Schicksale eingreift. Als persönliches Schicksal bezeichne ich eine Erschütterung nicht unbedingt leidvoller Art, z. B. durch Entsetzen, Enttäuschung, Konfrontation mit Überraschungen, wobei sich dem Individuum etwas in seiner persönlichen Situation herausstellt, das ihm vorher verborgen oder fremd war. Die personale Regression wirkt dann also als Explikation. Dieser Explikation schließt sich in einem persönlichen Schicksal eine Implikation in die persönliche Situation an, indem 8
Hermann Schmitz: Phänomenologie der Zeit. Freiburg/München 2016, S. 200–208.
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Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete
das, worauf die personale Regression des Menschen gestoßen hat, als partielle Situation in seine persönliche Situation gleichsam einheilt, in dem Sinn, dass es sich mit anderen partiellen Situationen in unspaltbarem Verhältnis verbindet, daraus aber wieder durch Vereinzelung und Spaltung des Verhältnisses in Beziehungen hervortreten kann. Wenn solche persönlichen Schicksale, über die man nicht einfach hinweg leben kann, in den Rhythmus von Situationen und Konstellationen eingemischt sind, wird dieser Prozess in prägnantem Sinn geschichtlich, als Heimstätte geschichtlicher Ereignisse. Was ihn anstößt, ist immer der Druck des Entstehens, bei dem sich entscheidet, was noch nicht war, und nun teilweise als geschlossene (gewesene) Zukunft aus der offenen heraustritt. Den Anstoß gibt dabei das Unerwartete. Insofern ist Geschichte in allen ihren Formen die Herausforderung durch das Unerwartete. Literatur Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, B 225. Nicolin, Günter (Hrsg.): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970. Schmitz, Hermann: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Freiburg/München 2016, S. 93–97 und 289–291. Schmitz, Hermann: Phänomenologie der Zeit. Freiburg/München 2016, S. 200– 208. Thukydides: Historiae, I 138, 3.
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Robert Gugutzer
Situationsprobleme und kreatives Handeln. Neopragmatismus und Neophänomenologie im Dialog Abstract: Der Beitrag setzt am Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie (NPS) an und entwickelt darauf aufbauend ein handlungstheoretisches Konzept, in dessen Mittelpunkt das kreative Handeln steht. Ausgangspunkt dafür ist die neopragmatistische Theorie der »Kreativität des Handelns« von Hans Joas. Deren zentrale Idee, Kreativität sei problemlösendes Handeln, wird mit Hilfe der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz konkretisiert und neophänomenologisch-soziologisch reformuliert. Im Ergebnis führt dies zu einem differenzierten Verständnis von Situationsproblemen und zu einer Unterscheidung von vier Dimensionen kreativen Handelns. Damit ist der konzeptionell-begriffliche Grundstock einer neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie gelegt. Keywords: soziologische Handlungstheorie, Pragmatismus, Phänomenologie, Kreativität, Praxis
»Die Kreativität des Handelns« lautet der Titel eines 1992 erschienenen Buchs von Hans Joas, in dem dieser eine Kritik an den in der Soziologie vorherrschenden rationalistischen und normorientierten Handlungstheorien vornimmt. 1 An den rationalistischen Handlungstheorien kritisiert Joas, dass diese auf drei mehr oder minder stillschweigenden Annahmen basieren, die empirisch falsch seien: »Sie unterstellen den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt.« 2 Normorientierten Handlungstheorien wiederum, allen voran der Handlungstheorie von Talcott Parsons, wirft 1 2
Hans Joas: Die Kreativität des Handelns (Kreativität). Frankfurt a. M. 1992. Joas, Kreativität, S. 217. Eine gründliche Einführung in den Neopragmatismus
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Joas vor, dass sie keine Erklärung für die Entstehung neuer Werte und Normen lieferten. Abgrenzend zu diesen beiden zentralen handlungstheoretischen Positionen betont Joas, dass es eine grundlegendere, das rationale und normbasierte Handeln »überwölbende« Handlungsform gebe, nämlich das kreative Handeln. Joas zufolge weise »alles menschliche Handeln eine kreative Dimension« 3 auf, selbst das zweck- oder wertrationale, traditionale oder affektuelle Handeln 4 enthalte ein kreatives Moment. 5 Kreativität sei keine handlungstheoretische Sonder- oder Restkategorie, sondern elementarer Bestandteil jeden Handlungstypus’. Aus diesem Grund spricht Joas von der »Kreativität des Handelns«. 6 Der vorliegende Beitrag greift diese These auf, arbeitet sie jedoch nicht, wie Joas, neopragmatistisch aus, sondern neophänomenologisch. Es soll gezeigt werden, dass auf der Grundlage der Neuen Phänomenologie ein differenzierteres Verständnis von Kreativität und kreativem Handeln entwickelt werden kann als jenes, das Joas in seinem Ansatz vorgeschlagen hat. Dabei zielt die folgende Auseinandersetzung mit Joas’ Theorie kreativen Handelns (1.) und Schmitz’ Überlegungen zu Kreativität (2.) primär darauf, die Neophänomenologische Soziologie (NPS) 7 handvon Joas bietet Sabine Schößler: Der Neopragmatismus von Hans Joas. Handeln, Glaube und Erfahrung. Münster 2011. 3 Joas, Kreativität, S. 15. Für eine Kritik an dieser These siehe exemplarisch Richard Münch: Die Kreativität des Handelns: Hans Joas (Joas), in: ders.: Soziologische Theorie, Band 2. Frankfurt/New York 2007, S. 329–345, hier S. 337 ff. 4 Vgl. zu dieser Typologie Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1980, S. 12 f. 5 So ist z. B. zweckrationales Handeln dann kreativ, wenn ein Unternehmer überlegt, wie er seine Angebotsstruktur ändern soll, um konkurrenzfähig zu bleiben, er dazu seine Handlungsroutinen, mit denen er an die Grenzen ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit gestoßen ist, aufgibt und neue Handlungsstrategien entwickelt. 6 Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen (Sozialtheorie). Frankfurt a. M. 2004, S. 707. 7 Die NPS ist ein bislang erst in Ansätzen vorliegendes Theorie- und Forschungsprogramm, deren Intention es ist, eine Alternative zur vorherrschenden, auf Husserl und Schütz zurückgehenden phänomenologischen Soziologie anzubieten, wofür sie sich entscheidend auf die Leib- und Situationstheorie von Schmitz stützt. Siehe dazu grundlegend Robert Gugutzer: Leib und Situation. Zum Theo-
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Robert Gugutzer
lungstheoretisch weiterzuentwickeln. Im Mittelpunkt wird hierbei ein Konzept kreativen Handelns stehen, das untrennbar mit der Lösung von Situationsproblemen verknüpft ist (3.). Der Text endet mit einer kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse und einem Ausblick auf die weitere Ausarbeitung einer neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie (4.). 1.
Hans Joas’ neopragmatische Theorie kreativen Handelns
Theoretische Grundlage der Handlungstheorie von Joas ist die Philosophie des Pragmatismus. 8 Der Pragmatismus, wie er von seinen Gründervätern Charles Sanders Peirce, William James, John Dewey und George Herbert Mead repräsentiert wird, ist im Kern eine »Philosophie der Kreativität«, der es fundamental darum geht, »eine Welt verständlich zu machen, in der Kreativität möglich ist.« 9 Erkennbar wird das an zentralen Begriffen des Pragmatismus’ wie Problem, Problemlösung, Intelligenz, Rekonstruktion, Abduktion oder Situationsdefinition, die allesamt auf das kreative Moment alltäglichen Handelns verweisen. Dabei modelliert der Pragmatismus kreatives Handeln als ein Geschehen, das aus vier aufeinander folgenden, zyklisch ablaufenden Phasen besteht: (1) Handlungsgewohnheit, (2) Handlungshemmung, (3) Experiment und (4) Legitimation. 10 rie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie (Leib), in: Zeitschrift für Soziologie 46(3), 2017, S. 147–166; siehe außerdem Robert Gugutzer: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Untersuchungen (Verkörperungen). Bielefeld 2012, sowie: Michael Uzarewicz: Der Leib und die Grenzen des Sozialen. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen. Stuttgart 2011. 8 Siehe dazu Hans Joas: Einleitung: Schritte zu einer pragmatistischen Handlungstheorie, in: ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 7–22; Hans Joas: Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition, in: ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 23–65. 9 Vgl. Hans-Joachim Schubert: Einleitung, in: ders. et al. (Hrsg.): Pragmatismus zur Einführung. Hamburg 2010, S. 9–11, hier S. 9. 10 Hans-Joachim Schubert: Charles Sanders Peirce – Philosophie der Kreativität
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Die Kreativität des Handelns zeigt sich demnach darin, dass (1) das gewohnte, routinierte, unhinterfragte Handeln (2) unsicher und fraglich wird, weil es auf einen Widerstand oder ein Problem stößt, es einen Konflikt oder irgendeine Art von Handlungshemmung gibt. Das ist die Phase des praktischen Zweifels. Ihr folgt (3) die Phase des Experiments, in der der Handelnde versucht, durch die Rekonstruktion des unterbrochenen Handlungsflusses eine Lösung für das Handlungsproblem zu finden. Dazu muss die Wahrnehmung »neue oder andere Aspekte der Wirklichkeit erfassen« oder die Handlung muss woanders als bisher ansetzen oder vollkommen neu strukturiert werden. »Gelingt es, durch die veränderte Wahrnehmung die Handlung umzuorientieren und damit wieder fortzufahren, dann ist etwas Neues in die Welt gekommen: eine neue Handlungsweise, die sich [4; RG] stabilisieren und selbst wieder zur unreflektierten Routine werden kann.« 11 Innerhalb dieses modelltheoretischen Kreislaufs aus Handlungsroutine, Handlungsunterbrechung, Rekonstruktion/ Experiment und neue Handlung(sroutine) ist es also die Phase des Experiments, in der Kreativität ihren Ort hat. Experimentelle »Freisetzung für neue Handlungen« 12 lautet daher das zentrale pragmatistische Verständnis von Kreativität. Joas Theorie kreativen Handelns hebt nun zwei Aspekte besonders hervor, die in den meisten soziologischen Handlungstheorien randständig oder gar völlig unberücksichtigt sind: a) Zum einen ist die Kreativität des Handelns in Situationen eingebettet, b) zum anderen hat der Körper einen zentralen Stellenwert für das kreative Handeln. (a) Menschliches Handeln findet nie in einem gesellschaftsleeren Raum statt, vielmehr ist es immer situativ gerahmt. Handlungen sind »Antworten auf Situationen«, so Joas, was umgekehrt
(Peirce), in: ders. et al. (Hrsg.): Pragmatismus zur Einführung. Hamburg 2010, S. 13–47, hier S. 45. 11 Joas, Kreativität, S. 190. 12 Joas, Kreativität, S. 196. Siehe auch: Hans-Joachim Schubert: Hans Joas – Die Kreativität des Handelns (Joas), in: ders. et al. (Hrsg.): Pragmatismus zur Einführung. Hamburg 2010, S. 166–195, hier S. 180.
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Robert Gugutzer
heißt, Situationen »muten uns Handlungen zu«. 13 Das ist selbstredend nicht als Situationsdeterminismus zu verstehen, denn keine Situation zwingt den Einzelnen dazu, sich genau auf diese oder jene Weise zu verhalten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil ja nicht die Situation ›als solche‹, sondern die Wahrnehmung der Situation – in den Worten von William I. Thomas: die »Definition der Situation« – entscheidend für das Handeln ist. Nach John Dewey hat dabei jede Situation eine »diffus problematische Qualität«. 14 Ob aus dem diffusen ein konkretes Problem wird, hängt von der Situationsdefinition der handelnden Person(en) ab. Zugleich enthält jede Situation aber auch einen »Horizont von Möglichkeiten«, den der Akteur »in der Krise des Handelns« 15 jeweils neu zu erschließen hat. Angesichts dieses Sachverhalts, dass Handlungen und Handlungsprobleme immer in Situationen eingebettet sind und die Lösung der Handlungsprobleme von den sozialen und materiellen Aspekten der Situation beeinflusst ist, plädiert Joas mit Nachdruck dafür, Situation als grundlegende Kategorie der Handlungstheorie zu begreifen. 16 Konsequenterweise bezeichnet er seine eigene Handlungstheorie daher als »Theorie situierter Kreativität«. 17 (b) So wie die situativen Bedingungen den konstitutiven Rahmen für kreatives Handeln abgeben, so ist Joas zufolge der menschliche Körper ein konstitutives Element kreativen Handelns, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens ist die körperlichsinnliche Wahrnehmung der Situation die Bedingung der Möglichkeit von Kreativität – ohne Wahrnehmung kein Handeln. Der Pragmatismus vertritt dabei die Position, dass die Wahrnehmung dem situativen Handeln nicht vorgelagert, sondern eine Phase der Handlung ist. Die sinnliche Wahrnehmung der Situation ist ein »handlungsbezogenes Phänomen«, 18 die Problemdefinition im 13 14 15 16 17 18
Joas, Kreativität, S. 236. Joas, Kreativität, S. 193. Joas, Kreativität, S. 196. Joas, Kreativität, S. 235. Joas, Kreativität, S. 197. Joas, Kreativität, S. 233.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Handeln identisch mit der Situationswahrnehmung. Die Weltwahrnehmung ist eben pragmatisch ausgerichtet: Wir nehmen nicht alles in der Situation Vorhandene wahr, sondern nur so viel, wie für das Handeln in der jeweiligen Situation praktisch erforderlich ist. Nur wenn die Weltwahrnehmung scheitert, wird aus der ganzheitlichen (Gestalt-)Wahrnehmung eine analytische – mit Schmitz gesprochen: eine konstellationistische – Wahrnehmung, in der dann einzelne Bedeutungen in den Vordergrund rücken (siehe Abschnitt 2). Zweitens ist der biologische Körper die Bedingung der Möglichkeit jeglichen und damit auch kreativen Handelns. Ohne Körper kein Handeln, wobei Joas zufolge für das körperliche Handeln des Menschen das sich in der Kindheit konstituierende »Körperschema« bzw. »Körperbild« wesentlich ist. Erst durch das »Bewusstsein des Handelnden von der morphologischen Struktur des eigenen Körpers, seiner Teile und seiner Haltung, seiner Bewegungen und seiner Grenzen« 19 ist aktives, intentionales Handeln möglich. Der Körper ist dem Menschen also nicht unmittelbar, sondern vermittelt über das in der primären Sozialisation erworbene Körperschema gegeben. Nichtsdestotrotz ist der Körper auch der Ort von »vorreflexiven Strebungen«, 20 die sich dem Menschen unwillkürlich aufdrängen und zu denen er handelnd Stellung beziehen muss. Schließlich kann auch der Körper selbst situationsbedingt problematisch werden. Der Körper kann (sich) selbst zum Handlungsproblem werden, wenn ihm Dinge, Personen oder Ereignisse widerfahren, 21 die eine Zumutung darstellen, mithin ein Problem bedeuten, das einer kreativen Antwort bedarf. Damit hängt drittens zusammen, dass der Körper Teil des kreativen Handelns insofern ist, als er nicht jederzeit beherrschbar 19
Joas, Kreativität, S. 257; siehe auch Joas/Knöbl, Sozialtheorie, S. 713. Joas’ Verständnis von Körperschema entspricht dem, was bei Schmitz das »perzeptive« Körperschema ist. Das von Schmitz davon abgegrenzte »motorische« Körperschema kennt Joas nicht. Siehe dazu Hermann Schmitz: Der Leib (Leib). Bonn 2011, S. 9–12, 21–25. 20 Joas, Kreativität, S. 238. 21 Vgl. Joas, Kreativität, S. 196.
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Robert Gugutzer
ist. Wie oben erwähnt, kritisiert Joas an den rationalen Handlungsmodellen, dass sie stillschweigend unterstellen, Handelnde seien zur Kontrolle ihres Körpers fähig und der Körper daher per se für zielgerichtetes Handeln instrumentalisierbar. Die Kritik richtet sich hier auf den aktivistischen Handlungsbegriff der Handlungstheorie, den Joas um einen passiven Handlungsbegriff ergänzt sehen möchte. Es gelte, so Joas, den Körper in seiner »Passivität, Sensibilität, Rezeptivität, Gelassenheit« 22 anzuerkennen und den in diesem Sinne passiven Körper in die soziologische Handlungstheorie zu integrieren. Joas stützt sich hier auf die Wahrnehmungsphänomenologie von Maurice Merleau-Ponty, etwa auf dessen Konzept der »passiven Intentionalität«. Passiv intentional sind Handlungen, in denen der Körper absichtsvoll freigesetzt, losgelassen, nicht kontrolliert wird, beispielsweise beim Einschlafen: Man kann nicht absichtsvoll einschlafen, sondern lediglich die Bedingungen fürs Einschlafen schaffen. Im pragmatistischen Sinne entspricht die passive Intentionalität der Experimentierphase im Modell kreativen Handelns. Alltagsweltlich bedeutet das, »um ein Problem zu lösen, darf man sich eben nicht auf eine Handlungsweise versteifen, sondern muss man sich freisetzen für die Einfälle und neuen Handlungsansätze, die sich aus der vorreflexiven Intentionalität des Körpers ergeben.« 23 Die passive Intentionalität ist somit zugleich Bedingung wie auch Ausdruck der Kreativität körperlichen Handelns. Das folgende Zitat fasst die Theorie kreativen Handelns von Joas zusammen; im Hinblick auf die weiteren Ausführungen gilt es bei dem Wort »irritiert« dessen körperlich-leibliche Dimension mitzudenken: »Es sind Problemsituationen, in denen der Handelnde irritiert und dadurch zwangsläufig auf neue Dinge und Aspekte aufmerksam wird und diese dann zu ordnen und zu verstehen sucht, kurzum: zu denken beginnt. Erst wenn der quasinatürliche Fluß des Handelns im Alltag durch ein Problem unterbrochen wird, werden die ehemals für selbstverständlich erachteten Situationsbestandteile neu analysiert. Ist eine Lösung gefun22 23
Joas, Kreativität, S. 246. Joas, Kreativität, S. 248
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
den, kann sie vom Handelnden gespeichert und in zukünftigen Situationen von ähnlichem Zuschnitt abgerufen werden.« 24 2.
Hermann Schmitz’ Anmerkungen zu einer Neophänomenologie der Kreativität
Während Joas eine breit ausgearbeitete Theorie des kreativen Handelns vorgelegt hat, hat Hermann Schmitz sich erstaunlich wenig mit dem Phänomen Kreativität befasst. Abgesehen von einem Interview zum Erleben von Kreativität 25 sowie ein paar Bemerkungen zur Kreativität als einer Facette menschlicher Praxis 26 und zu der mit Kreativität eng zusammenhängenden Improvisation 27 hat Schmitz sich meines Wissens nicht zu diesem Thema geäußert. Gleichwohl lassen sich Schmitz’ Überlegungen für ein differenziertes Verständnis von Kreativität nutzen, das überdies für eine Konkretisierung der Joas’schen Theorie kreativen Handelns dienlich ist. Schmitz entwickelt seinen Kreativitätsbegriff auf der Grundlage seiner Situationstheorie. 28 Kreativität ist Schmitz zufolge eine schöpferische Tätigkeit in dem Sinne, dass sie aus der binnendif24
Joas/Knöbl, Sozialtheorie, S. 189. Hermann Schmitz: Kreativität erleben (Kreativität), in: Christian Julmi (Hrsg.): Gespräche über Kreativität. Philosophische Annäherungen an ein subjektives Phänomen. Bochum/Freiburg 2013, S. 17–42. 26 Hermann Schmitz: Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie (Praxis), in: ders.: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017, S. 148–161, hier S. 151 f. 27 Hermann Schmitz: Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete (Geschichte), in: ders.: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017, S. 137–147, hier S. 143 f. (Der Text ist in diesem Band wiederabgedruckt.) 28 Ich teile damit nicht die Auffassung von Julmi und Scherm, dass der »Ausgangspunkt« für Schmitz’ Kreativitätsbegriff dessen Intelligenzbegriff ist, wenngleich Kreativität selbstredend viel mit Intelligenz zu tun hat (s. u.). Vgl. Christian Julmi/Ewald Scherm: Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität (Kreativität), in: Stefan Volke/ Steffen Kluck (Hrsg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit. Freiburg/München 2017, S. 249–274, hier S. 258. Zur Situationstheorie von Schmitz siehe Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie (Gegenstand). Bonn 25
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Robert Gugutzer
fusen Bedeutsamkeit einer Situation etwas herausholt (schöpft) und die Situation dabei so abändert, dass eine neue Situation entsteht. Dieses Schöpfen aus der Situation vollzieht der Mensch hauptsächlich aufgrund seiner Fähigkeit zur »satzförmigen Rede«. Die satzförmige Rede ermöglicht es dem Menschen nämlich, aus dem chaotisch Mannigfaltigen der Situation einzelne Bedeutungen, das heißt, Sachverhalte (das, was ist, im Engeren: Tatsachen), Programme (das, was sein soll: Normen und Wünsche) und Probleme (das, was Schwierigkeiten bereitet: Aufgaben, Herausforderungen, Sorgen etc.), zu explizieren und miteinander zu verknüpfen. Vor diesem Hintergrund meint Schmitz: »Kreativ sein bedeutet, wenn man dies [die Explikation; RG] in Hinsicht auf ein vorschwebendes Ziel in einer besonders geschickten Weise tut. Die Aufgabe einer solchen Explikation von Situationen ist es, die Situation gewissermaßen in den Griff zu bekommen, indem man springende Punkte herausgreift und so die Situation an Übersicht gewinnt.« 29 An diesem Zitat zeigt sich eine erste Gemeinsamkeit des neopragmatistischen und des neophänomenologischen Kreativitätsverständnisses: Beide setzen Kreativität in Relation zu Situation. Auch wenn Joas und Schmitz unterschiedliche Situationsbegriffe verwenden, 30 so teilen sie doch die Auffassung einer »situierten 2007, S. 65–79; Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg/München 2005, S. 17–61. 29 Schmitz, Kreativität, S. 17. 30 Joas’ Situationsbegriff steht in der Tradition von William Isaac Thomas und bleibt letztlich räumlich-zeitlich auf das Hier-Jetzt beschränkt. Schmitz’ Situationsbegriff ist verglichen damit viel weiter, da er nicht nur die gemeinsame und aktuelle Situation umfasst, sondern ebenso zuständliche und persönliche Situationen. Des Weiteren unterscheidet Schmitz noch implantierende und includierende sowie segmentierte und impressive Situationen (vgl. die Literaturhinweise in Fn. 36). An einer Stelle seines Buchs präsentiert Joas allerdings eine Situationsdefinition, die sehr nah an jener von Schmitz’ Konzept der gemeinsam-aktuellimpressiven Situation ist. Joas zitiert hier Dietrich Böhler: »Unter ›Situation‹ verstehen wir – ›wir‹ als handelnde und vom Handeln wissende Menschen – ein Verhältnis von Menschen untereinander und zu Sachen oder von einem Menschen zu Sachen, das der jeweils erörterten Handlung schon vorausgeht und daher von den betroffenen bzw. dem betroffenen Menschen als Herausforderung, etwas zu tun oder aber nicht zu tun, je schon verstanden ist. Umgangssprachlich
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Kreativität« (Joas), mit der sie sich von psychologischen Kreativitätskonzepten distanzieren, die ihren Fokus allein auf das Individuum richten. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Joas und Schmitz besteht darin, dass sie Situationen im Hinblick auf ihren Problemgehalt betrachten, weshalb sie Kreativität konsequenterweise als problemlösende Tätigkeit verstehen. Bei Schmitz ist Problemlösung der Prototyp der »prosaischen Explikation«, die »bei der Lösung eines theoretischen oder praktischen Problems im Sinne der Frage: Was soll ich tun? zur Geltung kommt.« 31 Während Joas offen lässt, was genau ein Problem ist, führt Schmitz dies aus. Ein Problem ist Schmitz zufolge selbst eine Situation mit binnendiffuser Bedeutsamkeit, die aus einem oder mehreren Sachverhalten, Programmen und häufig aus Teilproblemen besteht. 32 Ein charakteristischer Programmanteil nahezu jeden Problems ist dabei, dass es gelöst werden soll. Dazu Schmitz: »Da es bei der Problemlösung nicht auf das Problem, sondern nur auf die Lösung ankommt, 33 werden einzelne Tatsachen – bzw. bei praktischen Problemen einzelne Programme – als die geltenden herausgefischt. Der Rest wird gewissermaßen weggeworfen, so dass die sagen wir, man ›gerate‹ in eine Situation, sie ›widerfahre‹ uns, sie ›stoße uns zu‹ und wir sähen uns ›vor sie gestellt‹. Damit drücken wir aus, dass die Situation etwas ist, dass unserem Handeln (oder Lassen) vorausgeht, dieses aber auch herausfordert, weil sie uns ›angeht‹, uns ›interessiert‹ oder ›betrifft‹.« (Dietrich Böhler: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. 1985, S. 252; zitiert nach Joas, Kreativität, S. 235). 31 Schmitz, Kreativität, S. 18. 32 Vgl. Schmitz, Gegenstand, S. 72. 33 Auch diese Auffassung ist verwandt mit dem Pragmatismus. Das zeigt sich besonders in der auf dem Pragmatismus basierenden »Lösungsorientierten Kurztherapie« nach Steve de Shazer. Der lösungsorientierten (systemischen) Kurztherapie geht es bei der Problemlösung nicht um das Problem (seine Genese, Schwere etc.), sondern von Anfang an ausschließlich um Lösungsmöglichkeiten für das Problem. Die grundlegende, pragmatische Annahme lautet, dass Menschen nicht an ihren Problemen, sondern an deren Lösung interessiert seien, und dass das Reden über Probleme die Probleme stabilisiere, während das Reden über Lösungsmöglichkeiten Lösungen hervorbringe. Siehe dazu Steve de Shazer: Wege der erfolgreichen Kurztherapie. Stuttgart 1989.
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Robert Gugutzer
ursprüngliche Situation nicht mehr interessiert. Die prosaische Explikation dient also dazu, die Situation übersichtlich zu machen und sie in den Griff zu nehmen.« 34 Grundlage des Problemlösens im Sinne prosaischer Explikation ist die »analytische Intelligenz«, die Schmitz von der »leiblichen« und »hermeneutischen Intelligenz« unterscheidet. 35 Mit Hilfe analytischer Intelligenz gelingt es dem Menschen, die binnendiffuse Bedeutsamkeit der Situation so (analytisch) zu zergliedern, dass einzelne Sachverhalte und Programme als relevante hervortreten und zu Konstellationen verknüpft werden können. Wer arbeitslos ist und dies als Problem bewertet, wird die Situation seiner Arbeitslosigkeit analysieren und vielleicht zu dem Schluss kommen, dass die damit verbundene Tatsache relativ viel freier Zeit (Sachverhalt) für ihn selbst zwar schön ist, da er sich aber mit der Erwartung (Programm) seiner Familie konfrontiert sieht, ein regelmäßiges Einkommen zum Haushalt beizusteuern, wird er sich doch um eine neue Stelle umsehen (Sachverhalt), womit er letztlich auch seinem eigenen Bild des Familienernährers (»programmatisches Wunschbild« 36) entspricht. Durch dieses konstellationistische Vorgehen reduziert diese Person die ganzheitliche Situation Arbeitslosigkeit »auf das Wesentliche« und bekommt sie so in den »Griff« 37 – zumindest besser, als wenn sie sich von der chaotischen Mannigfaltigkeit dieser Situation gefangen nehmen ließe. Das In-den-Griff-Bekommen der Gesamtsituation markiert für Schmitz den wesentlichen Unterschied zwischen Intelligenz und Kreativität: 38 »Kreativität ist immer eine intelligente Leistung, aber die Intelligenz wird erst kreativ, indem sie eine Situation als Ganze zugänglich macht und als Ganze in den Griff zu
34
Schmitz, Kreativität, S. 18. Vgl. Hermann Schmitz: Bewusstsein (Bewusstsein). Freiburg/München 2010, S. 86–95. 36 Schmitz, Gegenstand, S. 75. 37 Schmitz, Bewusstsein, S. 93. 38 Der Pragmatismus setzt demgegenüber Intelligenz und Kreativität synonym, wie Joas mit Verweis auf John Dewey hervorhebt; vgl. Joas, Kreativität, S. 196 f. 35
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
nehmen gestattet.« 39 Die problematische Situation Arbeitslosigkeit kreativ zu lösen, setzt dem entsprechend voraus, dass sie in ihrem ganzen Ausmaß (analytisch) durchdrungen wird, ihre relevanten Sachverhalte, Programme und partiellen Probleme erfasst und auf neue Weise arrangiert werden, so dass daraus eine Verbesserung der Situation resultiert. Ganz ähnlich klang es oben bei Joas, wo es hieß, dass eine Problemsituation die davon betroffene Person »irritiert«, weil das Problem ihre Handlungsroutine unterbricht und sie deshalb versuchen wird – sofern sie das Problem lösen möchte bzw. muss –, für »neue Dinge und Aspekte aufmerksam« zu werden und sie folglich »zu ordnen und zu verstehen«. Diese ordnende und verstehende, die Gesamtsituation durchdringende und sie somit rational erfassende Art der Problemlösung gelingt der Person mit Hilfe ihrer »analytischen Kreativität«, 40 wie Julmi und Scherm anknüpfend an Schmitz sagen. Bisher ist deutlich geworden, dass Neopragmatismus und Neophänomenologie darin übereinstimmen, Problemlösung als eine kreative Tätigkeit zu verstehen, und zwar als analytische Kreativität (bzw. prosaische Explikation). Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen besteht darin, dass der Pragmatismus und folglich der Neopragmatismus ausschließlich diese Art Kreativität kennen. Paradigmatisch zeigt sich die Gleichsetzung von Problemlösung und analytischer Kreativität im Pragmatismus bereits bei Peirce und dessen zentralem Begriff der »Abduktion«. 41 Abduktion ist (neben Deduktion und Induktion) eine Variante logischen Schließens, die ihre alltagspraktische Anwendung in der Rekonstruktion der Problemsituation und dem damit verbundenen Experimentieren hat. Im Neopragmatismus von Joas findet diese Idee ihre handlungstheoretische Fortsetzung: Die Freisetzung des Neuen im kreativen, problemlösenden Handeln ist das Ergebnis analytischer Kreativität. Das neophänomenologische Kreativitätsver39
Schmitz, Kreativität, S. 20. Julmi/Scherm, Kreativität, S. 264. 41 Siehe dazu Joas, Kreativität, S. 197 f., sowie Schubert, Peirce, S. 24–28. Peirce hat »die Frage des Pragmatismus« mit der »Frage der Logik der Abduktion«, also des hypothetischen Schlussfolgerns, gleichgesetzt (Schubert, Peirce, S. 25). 40
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Robert Gugutzer
ständnis ist demgegenüber differenzierter. Neben der analytischen kennt die Neophänomenologie nämlich zwei weitere Arten von Kreativität: »leibliche« und »hermeneutische Kreativität«. 42 Wie eingangs zu diesem Abschnitt erwähnt, setzt Schmitz Kreativität mit dem Schöpferischen synonym und meint damit das Herausholen einzelner Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen. Neben der prosaischen Explikation kann dieses schöpferische Tun außerdem als »poetische Explikation« 43 in Erscheinung treten. Poetische Explikation entspricht einer hermeneutischen Intelligenz 44 bzw. hermeneutischen Kreativität 45 und kann in zwei Varianten auftreten: Zum einen als »Gestaltung« von Situationen, zum anderen als »Anpassung« an die Situation. Als Beispiel für Personen, die mittels hermeneutischer Intelligenz Situationen zu gestalten vermögen, nennt Schmitz die Dichter. Dichter gestalten Situationen auf kreative Weise, wenn es ihnen gelingt, ihre Worte so sorgfältig und spar42
Julmi/Scherm, Kreativität, S. 261–264. Julmi und Scherm nutzen den dreidimensionalen Kreativitätsbegriff, um ihre These zu stützen, dass Kreativität »bereichsspezifisch« zu verstehen sei (Julmi/Scherm, Kreativität, S. 250 und öfter). Diese These teile ich nur bedingt. Zwar mag es zutreffend sein, dass in der Musik eine andere Art von Kreativität erforderlich ist als in der Wissenschaft, wie auch im Sport eine andere Art kreativer Leistungen gezeigt wird als beim Kochen oder Malen. Doch so wenig Kreativität auf den Bereich Kunst beschränkt ist, so wenig plausibel erscheint es, dass in irgendeinem sozialen Bereich eine einzige Form von Kreativität dominiert. Ein Wissenschaftler, der ausschließlich über analytische, nicht jedoch auch über hermeneutische und leibliche Kreativität verfügte, dank derer er etwas ahnt, spürt, (vielleicht sogar im wörtlichen Sinne) riecht oder wittert, der nicht intuitiv handelte, improvisierte und einfach mal was Neues ausprobierte, ohne zu wissen, wohin ihn das führt, ist kaum vorstellbar (zumindest, wenn es sich um einen ›guten‹ Wissenschaftler handelt). Erst recht ist der Alltag aufgrund seiner zahlreichen und vielfältigen Situationen mit ihren je spezifischen Programmen und Problemen schwerlich als Wirklichkeitsbereich vorstellbar, in dem eine einzige Art von Kreativität vorherrschend ist. Daher halte ich es für plausibler, die drei Kreativitätsdimensionen als analytische Kategorien zu betrachten, die realiter in allen sozialen Bereichen gleichermaßen vorhanden bzw. notwendig sind, lediglich ihre Schwerpunktsetzung mag variieren. 43 Schmitz, Kreativität, S. 17 f. 44 Schmitz, Bewusstsein, S. 90. 45 Julmi/Scherm, Kreativität, S. 263 f.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
sam einzusetzen, dass die Ganzheit der Situation, die sie beschreiben, indem sie Einzelnes (das Wesentliche) aus ihr herausholen, unversehrt erhalten bleibt. Denn das ist der Kern hermeneutischer Intelligenz: »dass bei der Explikation auf die Integrität der Situation oder der Situationen, aus denen expliziert wird, Rücksicht genommen wird.« 46 Dass Schmitz hermeneutische Intelligenz allein den Dichtern zugesteht (er nennt zumindest keine anderen Beispiele), leuchtet allerdings nicht recht ein. Die Herausforderung, aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einer Situation einzelne Sachverhalte, Programme oder Probleme so sorgsam zu schöpfen, dass die Ganzheit der Situation möglichst vollständig erhalten bleibt, ist sicherlich nicht ein ausschließlich der Dichtung vorbehaltenes Problem. Die Notwendigkeit, die eigenen Worte sorgfältig auswählen zu müssen, um die Situation und die mit ihr verbundene (zum Beispiel: heikle) Atmosphäre 47 nicht zu gefährden, findet sich vielmehr auch im Alltag, etwa in Gesprächen. So zeichnet sich die ›Kunst der Gesprächsführung‹ in spannungsgeladenen Situationen eben dadurch aus, die ›richtigen‹ Worte zu finden, wobei das Kriterium für die Richtigkeit der Worte sowohl das Nichtbeschädigen der persönlichen Situation der Beteiligten (etwa durch Kränkung) als auch ihrer gemeinsamen Situation ist. Ein solchermaßen kunstvoll geführtes Gespräch gestaltet die gemeinsame Situation der Beteiligten womöglich weit über das konkrete Gespräch hinaus. Eine anpassende Sicherung der Integrität der Situation wiederum liegt vor, wenn die Gesamtsituation spürend erfasst wird und das Verhalten sich danach ausrichtet. Schmitz bezeichnet diese Art hermeneutischer Intelligenz als »Takt« oder – Erich Bader zitierend – als »Gespür für Situationen«, das »unerlässlich [ist], wo es um erfolgreiche Menschenbehandlung geht«. 48 Wann immer Menschen miteinander zu tun haben, ist es für eine gelingende 46
Schmitz, Bewusstsein, S. 90. Zum Zusammenhang von Situation und Atmosphäre siehe Hermann Schmitz: Atmosphäre. Freiburg/München 2014, besonders S. 50–64. 48 Schmitz, Bewusstsein, S. 90. 47
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Interaktion zweifelsohne hilfreich, wenn die Beteiligten den Programmgehalt ihrer gemeinsamen Situation unmittelbar erfassen und sich programmadäquat verhalten, indem sie zum Beispiel Höflichkeitsregeln einhalten oder unausgesprochene Wünsche erkennen und respektieren. Hermeneutisch intelligent ist eine Person, wenn sie spontan, intuitiv die Bedeutsamkeit einer Situation erkennen kann. Intuition nämlich ist die »Fähigkeit, Eindrücke zu haben und Situationen – sofern sie impressiv sind und die Bedeutsamkeit mit einem Schlage da ist – aufzufassen und zu bearbeiten.« 49 Die erfolgreiche Bearbeitung des intuitiv Wahrgenommenen erfolgt dabei typischerweise improvisierend. Improvisation ist die aktive, gestaltende Kehrseite der passiven, als Widerfahrnis sich zeigenden Intuition. Improvisation ist eine kreative Tätigkeit, die auf der Fähigkeit basiert, »in die Situation, mit der man umgehen will, so hineinzuschlüpfen, dass man sich den Programmanteil der Situation zu eigen machen kann.« 50 Wie die Bemerkungen zum Takt und dem Gespür für die Situation, zu Intuition und Improvisation erkennen lassen, sind hermeneutische Intelligenz und Kreativität nicht in jedem Fall auf »satzförmige Rede« (Schmitz) angewiesen, vielmehr zeigen sie sich bereits auf vorsprachlicher, leiblicher Ebene. Das hermeneutische Erfassen einer Situation ist oftmals identisch mit einem leiblichen Erfassen, weshalb man in solchen Fällen auch von einem »leiblichen Verstehen« 51 sprechen könnte. Schmitz selbst nennt dies leibliche Intelligenz, die sich dadurch auszeichnet, dass sie »aus der Einleibung hervor[geht], in der sich unablässig Situationen mit Programmen bilden, die zur Lösung von Aufgaben (Problemen) herausfordern. Von dieser Art ist das intelligente Denken der Tiere und namentlich der Säuglinge bei der Aneignung ihrer Umgebung.« 52 Leibliche Intelligenz ist in diesem Sinne 49
Schmitz, Kreativität, S. 24. Schmitz, Kreativität, S. 22. 51 Vgl. Gugutzer, Verkörperungen, S. 64 ff.; zu Schmitz’ Verständnis von leiblichem Verstehen siehe Hermann Schmitz: Leibliches Verstehen, in: ders.: selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg/München 2015, S. 209–225; ebenda: Erfahrung als leibliches Verstehen, S. 226–237. 52 Schmitz, Bewusstsein, S. 87. Das gilt genau genommen für alle Lernsituatio50
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
das Ergebnis (wiederholter) leiblicher Kommunikation(en), in denen der Einzelne mit Problemen konfrontiert war, die aus dem »Nomos« 53 der Situation (ihren Programmen, das heißt, Normen und Wünschen) resultierten, innerhalb derer die leibliche Kommunikation stattfand. Umgekehrt heißt das, dass die Vielzahl alltäglich stattfindender leiblicher Kommunikationen, die bedingt durch den Programmgehalt der Situation als problematisch wahrgenommen werden, sehr häufig auf leiblich-kreative Weise bewältigt werden. Typische Beispiele hierfür sind leiblich-kommunikative Abstimmungsprozesse, in denen es darum geht, dem Anderen nicht zu nah (U-Bahn-Fahrt) oder unbedingt, allerdings auf eine bestimmte Art nah zu kommen (Sexualität). Jede dieser Situationen enthält Programme von erlaubter bzw. erwünschter Nähe, die problematisch werden können, sofern man die Normen und Wünsche der Situation nicht kennt oder respektiert. Leibliche Intelligenz bzw. Kreativität zeigt sich entsprechend darin, den Nomos der Situation vorreflexiv (intuitiv) wahrzunehmen und sich demgemäß zu verhalten. Fasst man das neophänomenologische Kreativitätsverständnis zusammen und setzt es in Relation zu jenem des Neopragmatismus, lässt sich Folgendes festhalten: (1) Die Neophänomenologie geht wie der Neopragmatismus von einer situierten Kreativität aus und betrachtet (2) Kreativität als eine problemlösende Tätigkeit. (3) Der neophänomenologische Kreativitätsbegriff ist allerdings differenzierter als der neopragmatistische, da er neben der analytischen Kreativität (prosaische Explikation), die er mit dem Neopragmatismus teilt, auch eine hermeneutische (poetische Explikation) und eine leibliche Form von Kreativität kennt. 54 nen, die ja immer implizieren, dass man etwas tun soll (und anderes nicht), was für den Lernenden zwangsläufig eine Herausforderung (Problem) darstellt. 53 Hermann Schmitz: Im Reich der Normen. Freiburg/München 2012, S. 13. 54 Schmitz nennt zusätzlich zu den beiden Arten der Explikation die »Plakatierung« als eine weitere Möglichkeit, Situationen auf kreative Weise in den Griff zu bekommen (Schmitz, Kreativität, S. 18 f.). Plakatieren ist das Verdichten einer segmentierten zu einer impressiven Situationen, etwa die persönliche Situation (alltagssprachlich: Persönlichkeit) in Gestalt eines Porträts, das das Ganze der persönlichen Situation (das Wesentliche dieser Persönlichkeit) ›auf den Punkt bringt‹
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(4) Während Schmitz damit die leibliche Dimension kreativen Tuns hervorhebt (Gespür für die Situation, Intuition, Improvisation), betont Joas’ Theorie des kreativen Handelns die körperliche Dimension problemlösenden Handelns (Körperschema, Nichtkontrollierbarkeit des Körpers). (5) Dabei ist bei Joas der (biologische) Körper die generelle Bedingung der Möglichkeit menschlichen Wahrnehmens und Handelns, wohingegen der Körper für kreatives Handeln lediglich ex negativo im Sinne passiver Intentionalität relevant wird. Bei Schmitz wiederum spielt der (phänomenologische) Leib eine wichtige Rolle, um die Erfahrungsdimension von Kreativität zu verdeutlichen, während die Handlungsdimension von Kreativität, das körperliche Tun, kaum thematisiert wird. Vor dem Hintergrund dieser beiden Positionen sollen im folgenden Abschnitt Überlegungen zu einer neophänomenologischsoziologischen Handlungstheorie angestellt werden. 3.
Situationsprobleme und kreatives Handeln – Folgerungen für eine neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie
Grundlage einer neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie ist der »methodologische Situationismus« 55 der NPS, dem zufolge gemeinsame Situationen die zentrale soziologische Analyseebene darstellen. Ähnlich wie es Goffman in seiner Soziologie »um Situationen und ihre Menschen« 56 (und nicht um Menschen und ihre Situationen) ging, geht es auch der NPS primär um Situationen mit ihren Sachverhalten, Programmen und Problemen und sekundär um die Menschen, die die gemeinsamen und auf diese Weise einen Eindruck hinterlässt. Die Werbung lebt von dieser Art der Kreativität ganz besonders, besteht ihre Aufgabe doch darin, in wenigen Worten und/oder Bildern das Wesentliche eines Produkts zu vermitteln – WerbePlakate sind Plakat-Situationen. 55 Gugutzer, Leib, S. 160 f. 56 Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1986, S. 9.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Situationen hervorbringen, gestalten, erleiden, sich einverleiben etc. Entsprechend dieser methodologischen Grundlage interessiert sich die NPS primär für Situationsprobleme und sekundär für Handlungsprobleme: Im Mittelpunkt der NPS stehen situationsimmanente Probleme, die Menschen praktisch-kreativ zu lösen versuchen. Was aber sind Situationsprobleme genau, und welches Verständnis kreativen Handelns vertritt die NPS? 3.1 Situationsprobleme Probleme, so hieß es oben, sind selbst Situationen. Das Dopingproblem des Spitzensports beispielsweise ist eine Situation in dem Sinne, dass der Sachverhalt tatsächlicher Dopingpraktiken und -methoden den Programmen des Sports (Fairness-Ideal, Chancengleichheit, Regeln des IOC) zuwiderläuft und den Spitzensport vor Legitimationsprobleme stellt. 57 Dieses situationstheoretische Problemverständnis lässt sich um eine Betroffenenperspektive ergänzen. Aus der Sicht des von einem Problem betroffenen Individuums oder einer davon betroffenen Gruppe erscheint ein Problem als etwas, »wovon man weg will«. 58 Ein Problem ist etwas, das man loswerden möchte. Der wesentliche Grund dafür, dass man »weg will« von dem Problem, ist dessen leibliche Qualität. Ein Problem ist ein Problem nämlich deshalb, weil man von dem Etwas auf eine unangenehme Art leiblich-affektiv betroffen ist – deshalb möchte man es loswerden. Etwas, das einen ›kalt lässt‹, ist für einen selbst kein wirkliches Problem. Wenn die spürbare negative Evidenz fehlt, ist es bestenfalls ein reales 59 Problem, das man sich aus Vernunftgründen oder moralischer Verpflichtung zu eigen gemacht hat, aber ein wirkliches, leiblich nahegehendes Problem ist 57
Siehe zu dieser Problematik Robert Gugutzer: Doping im Spitzensport der reflexiven Moderne (Doping), in: Sport und Gesellschaft 6(1), 2009, S. 3–29. 58 Schmitz, Geschichte, S. 146. 59 Zur Differenz von Wirklichkeit und Realität siehe Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 159–164.
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es für einen selbst nicht. Doping ist daher auch nur für die Athleten ein wirkliches Problem, für die Fairness, Chancengleichheit etc. zentrale Programmpunkte des Sports sind, weshalb die Dopingpraktiken Anderer für sie ein echtes, spürbares Ärgernis sind. Jene Athleten wiederum, die ihren eigenen Programmen folgen, etwa dem unbedingten Wunsch nach sportlichen Erfolgen, betrachten Doping womöglich zwar als real existierendes Problem, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen (z. B. es vertuschen), aber es ist kein wirkliches Problem für sie, das sie loswerden wollen. Verallgemeinert heißt das: Das Bestreben, ein Problem lösen zu wollen, hängt wesentlich davon ab, ob es sich für die Betroffenen um ein wirkliches oder ein reales Problem handelt. Im ersten Fall erfolgt der Lösungsversuch ernsthaft, im zweiten halbherzig, vorgetäuscht oder gar nicht. Aus Sicht der neophänomenologischsoziologischen Handlungstheorie bedeutet das, dass Situationsprobleme nur dann ernsthaft zu lösen versucht werden, wenn Patheure 60 im Spiel sind. Gemeinsame problematische Situationen ohne Patheure, das heißt ohne wirklich, leiblich-affektiv von der Situation betroffene Subjekte, werden zumindest mit geringerer Wahrscheinlichkeit zu lösen versucht als solche, bei denen die Betroffenheit eines oder mehrerer Beteiligter hoch ist. Das gilt auf mikro-, meso- und makrosozialer Ebene gleichermaßen: 61 Ob anhaltende Streitigkeiten zwischen Ehepartnern, wiederholte Konflikte in der Abteilung eines Unternehmens oder demokratiefeindliche Äußerungen politischer Gruppierungen, problematisch sind diese Situationen, weil Menschen von deren Atmosphäre auf unangenehme Weise leiblich ergriffen sind, weshalb sie vermutlich eher geneigt sind, dagegen etwas zu unternehmen, als wenn das atmosphärische Ergriffensein fehlte. Eine empirische offene Frage ist dabei zum einen, ob die 60
Vgl. Gugutzer, Leib, S. 150. Den Begriff »Patheur« übernehme ich von Jürgen Hasse. Siehe Jürgen Hasse: Raum der Performativität. »Augenblicksstätten« im Situationsraum des Sozialen, in: Geographische Zeitschrift 98, 2010, S. 65–82, hier S. 70. 61 Vgl. Gugutzer, Verkörperungen, S. 56 f.; Gugutzer, Leib, S. 159 f.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
Dauer des Problems (alt/neu) das Lösungsbestreben der Patheure eher hemmt oder eher fördert. Manche Probleme werden nie gelöst, weil der für das Lösen-Wollen wesentliche »vitale Antrieb« 62 der beteiligten Personen erschlafft und/oder ihre leibliche Kommunikation abgebrochen ist, andere Probleme werden hingegen sofort in Angriff genommen, weil der Bewältigungsdruck aufgrund der dem Problem innewohnenden Programmatik (z. B. Abwenden einer plötzlichen Gefahr) sehr hoch ist. Zum anderen ist es empirisch offen, ob das wiederholte Auftreten eines Situationsproblems durch Routinehandeln beantwortet werden kann (bspw. das übliche Ritual zur Bewältigung von Lampenfieber), oder ob – in der Sprache der systemischen Therapie – gerade die gewohnheitsmäßige »Lösung das Problem« 63 ist und es daher einer neuen, kreativen Umgangsweise mit dem Problem bedürfte. 3.2 Kreatives Handeln Der zuletzt genannte Aspekt kann als Kritik an der Handlungstheorie von Joas verstanden werden. Wie in Abschnitt 1 ausgeführt, ist für Joas kreatives Handeln gleichbedeutend mit Problemlösung, was umgekehrt heißt, Probleme werden durch kreatives Handeln gelöst, und zwar ausschließlich. Das ist jedoch sicher nicht zutreffend. Man kann sich mit Problemen arrangieren, wenn bzw. weil sie einem vertraut sind und man befürchtet, dass eine Änderung mehr Nach- als Vorteile zur Folge hätte. Es gibt Probleme, die so regelmäßig auftreten, dass man längst Stra62
Schmitz zufolge bedarf das vollständige Wollen nicht nur einer »Absichtsbildung«, sondern ebenso sehr »der Gewinnung des vitalen Antriebs zur Zuwendung an die Absicht im Dienst ihrer Realisierung.« (Schmitz, Praxis, S. 157 f.) Zum vitalen Antrieb siehe z. B. Schmitz, Leib, S. 15–20. 63 Der Ausdruck stammt von Paul Watzlawick. Siehe dazu Paul Watzlawick/John Weakland/Richard Fish: Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern 1979. Zur Interpretation des Dopingproblems im Spitzensport als einem Beispiel dafür, wie die Lösung das eigentliche Probleme ist, weil sie das Problem auf Dauer stellt statt es zum Verschwinden zu bringen, siehe Gugutzer, Doping, S. 17 f.
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tegien entwickelt hat, wie man mit ihnen umzugehen hat und dadurch mit der Situation insgesamt klarkommt. Das gilt insbesondere für reale Probleme, etwa den morgendlichen Stau auf dem Weg ins Büro, den man stoisch hinnimmt oder aber mit Hilfe zuvor ausfindig gemachter Nebenstraßen (das heißt, durch zweckrationales Handeln) zu umfahren versucht. Solche Anpassungen an ein reales Problem sind hilfreich und stellen eine Lösung dar, sie sind jedoch nicht kreativ im Sinne einer »Freisetzung des Neuen« (Joas). Kreatives Handeln ist dem gegenüber vor allem dann gefragt bzw. wird primär dann ausgeübt, wenn wirkliche Situationsprobleme vorliegen, wenn also Patheure ins Spiel kommen (und nicht nur traditional, wert- oder zweckrational handelnde Akteure). Paradigmatisch hierfür sind Situationsprobleme, die überraschend und unerwartet eintreten. Der »plötzliche Einbruch des Neuen« 64 verletzt den Nomos der Situation, insbesondere das situativ Erwartbare, und auf diese Erwartungsenttäuschung reagieren die Patheure typischerweise 65 spontan, intuitiv, improvisierend, kurz: kreativ. Schmitz zufolge gleicht das Unerwartete einer neuen aktuellen Situation, die eine »Herausforderung« darstellt, für die es zwei typische – von ihm an dieser Stelle nicht so genannte – kreative Möglichkeiten der Bewältigung gibt. 66 Zum einen kann das Unerwartete durch den Versuch beantwortet werden, die »Situation in den Griff zu nehmen«, indem der »Blick auf das Wesentliche im Interesse der eigenen Zwecksetzung« gerichtet wird. Das entspricht Schmitz’ Verständnis analyti64
Hermann Schmitz: Von der Verhüllung zur Verstrickung. Der Mensch zwischen Situationen und Konstellationen, in: Michael Großheim/Steffen Kluck (Hrsg.): Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Freiburg/München 2010, S. 37–51, hier S. 37. 65 Unerwartete Situationen können auch durch die »Aktualisierung einer zuständlichen Situation« beantwortet werden, allen voran durch persönliche oder gemeinsame »Kompetenzen« (Schmitz, Geschichte, S. 141). Traditionell soziologisch könnte man hier vom Habitus sprechen, der als inkorporierte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata eine Praxis anleitet, die dann zur Meisterung der unerwarteten Herausforderung führt. 66 Vgl. zum Folgenden Schmitz, Geschichte, S. 141–144.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
scher Intelligenz: Die neue aktuelle Situation wird durch prosaische Explikation in eine Konstellation einzelner Bedeutungen übersetzt, wodurch das Unerwartete auf das subjektiv Wesentliche reduziert und dadurch handhabbar wird. Der überraschende Lottogewinn – auch ein positives Ereignis kann eine unerwartete und wirklich-problematische Herausforderung darstellen – schafft eine neue Situation, die man in den Griff bekommt, indem man die eigenen Ziele, Relevanzen, Wünsche etc. sortiert und neu zusammensetzt. Mit Blick auf die traditionelle soziologische Handlungstheorie gilt es damit festzuhalten, dass Ziele und Zwecke integraler Bestandteil kreativen Handelns sein können – ein Sachverhalt, dessen Nichtberücksichtigung Richard Münch an Joas’ Handlungstheorie kritisiert. 67 Und mit Blick auf die neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie 68 ist hervorzuheben, dass das, »was das Individuum beabsichtigt«, also ihre Zwecksetzungen, »weitgehend« von den »gemeinsamen Situationen« abhängt, 69 in die es eingebettet ist. Zum Zweiten können Menschen den Einbruch des Unerwarteten in die entfaltete Gegenwart durch eine feinfühlige Hinwendung an die Zukunft bewältigen. Die Kunst der Bewältigung besteht hier darin, zukünftige Situationen, die in die gegenwärtig aktuelle Situation einbrechen könnten, wodurch diese problematisch würde, vorauszuahnen. Das entspricht Schmitz’ Verständnis hermeneutischer Intelligenz. Hermeneutisch intelligent ist ein Mensch, der in der Lage ist, die gegenwärtige Situation in den Griff zu nehmen und zugleich auf zukünftige Situationen vorgreifen zu können. »Die geschickte Kombination beider Griffarten ist das eigentliche Meisterwerk professioneller Bewältigung des Unerwarteten, der improvisierenden Meisterung von Irritatio-
67
Vgl. Münch, Joas, S. 338 f. Der methodologische Situationismus der NPS impliziert die Aufhebung klassischer soziologischer Dualismen wie Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handeln etc. Die neophänomenologisch-soziologische Situationsanalyse geht stattdessen »von der Verwobenheit von persönlicher und gemeinsamer Situation aus« (Gugutzer, Leib, S. 157). 69 Schmitz, Geschichte, S. 142. 68
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nen. Manche Menschen haben dafür ein intuitives Vorgefühl, eine antizipatorische Ahnung aus der gegenwärtigen Situation, was kommen wird.« 70 Unerwartete, irritierende Herausforderungen sind der Prototypus für wirkliche Situationsprobleme, die kreatives Handeln erfordern. Kreatives Handeln ist darüber hinaus bei festgefahrenen, fortdauernden Problemen der zentrale Handlungstypus, wenn es darum geht, eine neue Sicht der Dinge ins Spiel zu bringen. All das sollte soweit unstrittig sein, dass die Lösung wirklicher Situationsprobleme etwas mit Kreativität zu tun hat. Nur, in welcher Hinsicht ist hier vom kreativen Handeln die Rede? Was genau meint hier Handeln? Das gilt es zu klären, schließlich ist das der zentrale Begriff jeder soziologischen Handlungstheorie. Zur Beantwortung der Frage, welches Verständnis von Handeln eine neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie vertritt, kann auf den Praxisbegriff der Neuen Phänomenologie zurückgegriffen werden. Schmitz unterscheidet zwei Praxis-Stufen, eine »präpersonale« und eine darauf aufbauende »personale«. Mit präpersonaler Praxis meint Schmitz »die tierische und quasitierische [Praxis; RG] routinisierter menschlicher Tätigkeiten (etwa zweckmäßiger Primitivreaktionen in Schrecksituationen und automatische flüssige Bewegungen)«. 71 Präpersonale Praxis ist die grundlegende tier- und menschliche »Aktivität«, 72 die durch zwei Merkmale gekennzeichnet ist: Sie basiert erstens auf dem vitalen Antrieb – der antreibenden (weil sich wechselseitig hemmenden) Verschränkung von Engung und Weitung – und zweitens der Steuerung des vitalen Antriebs durch den Programmgehalt der relevanten Situation. Wer Durst verspürt, greift routiniert zu dem vor ihm stehenden Wasserglas und trinkt. Die leibliche Tatsache Durst wird von dem programmatischen Wunsch gesteuert, ihn zu löschen, wobei es des motorischen Körperschemas bedarf,
70 71 72
Schmitz, Geschichte, S. 143. Schmitz, Praxis, S. 155. Schmitz, Praxis, S. 156.
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um den Impuls in eine Körperbewegung – die Aktivität des automatischen Greifens und zum-Mund-Führen des Wasserglases – zu übertragen. Die personale Praxis unterscheidet sich von der präpersonalen dadurch, dass zur leiblichen Aktivität das Wollen hinzukommt, wodurch die Aktivität zum »Handeln« 73 wird. Wie oben erläutert, versteht Schmitz unter Wollen eine Absichtsbildung plus Zuwendung des vitalen Antriebs an die Absicht zu deren Realisierung. Wer nur die Absicht hat, den Rasen zu mähen, aber nicht den vitalen Antrieb, die Absicht in die Tat umzusetzen, mäht den Rasen nicht. In diesem Beispiel erfolgt das Handeln mittels Körperbewegungen, daneben gibt es auch Handeln ohne Körperbewegungen, wofür Schmitz als Beispiel das Kopfrechnen 74 nennt. Dieses ohne das motorische Körperschema angeleitete Handeln könnte man Denken nennen, jenes mit Körperbewegungen Agieren. Mit diesem neophänomenologischen Praxisverständnis ist es nun möglich, einen für die soziologische Handlungstheorie nützlichen Begriff kreativen Handelns zu formulieren, der differenzierter ist als jener von Joas. Während Joas, wie dargelegt, kreatives Handeln recht allgemein als situiertes Problemlösen bezeichnet, kennt die neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie vier Dimensionen situierten kreativen Handelns (zusammenfassend siehe Schaubild 1). Dabei gilt es zu betonen, dass aus Sicht der NPS, anders als bei Joas, nicht jede Praxisform eine kreative Dimension aufweist. Präpersonale, leibliche Aktivitäten sind nichtkreativ. Der Grund hierfür ist, dass das instinktive oder routinisierte (quasi-automatische) Tun voll und ganz in der Situation gefangen ist. Auf dieser Praxisstufe fehlt das für die Kreativität wesentliche Moment der Explikation aus der Situation. Kreatives Handeln findet auf personaler Ebene statt, und dies, wie gesagt, in vierfacher Ausprägung.
73 74
Schmitz, Praxis, S. 156. Schmitz, Praxis, S. 158.
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Schaubild 1: Dimensionen kreativen Handelns Praxis
(+ Wollen)
präpersonal:
personal:
Handeln
Aktivität
Instinkt
Routine
Denken
Agieren An
pa
ssu
Improvisation
leiblich
ng
ng
st Ge
u alt
analytisch
hermeneutisch
Kreativität in Situationen gefangen sein
aus Situationen schöpfen
Quelle: Eigene Darstellung
Das Schöpfen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit gemeinsamer Situationen kann erstens als leiblich-kreatives Agieren erfolgen. Die praktische Problemlösung im Sinne der Beantwortung der Frage »Was soll ich tun?« gelingt hier auf die Weise, dass der Nomos der Situation vorreflexiv erfasst und handelnd beantwortet wird. Der leiblichen Wahrnehmung des Programmgehalts der Situation korrespondiert dabei ein körperliches Tun, etwa die »Kunst, bei der Begegnung auf der Straße ohne Zusammenstoß am Anderen vorbeizukommen.« 75 Eng damit verwandt ist zweitens das hermeneutisch-kreative Agieren, das auf eine körperliche Anpassung an die gemeinsame Situation abzielt. Die schöpferische Leistung besteht hier vor allem darin, die Atmosphäre der 75
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band V: Die Aufhebung der Gegenwart. Bonn 2007, S. 57.
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Situation zu erfassen und mit angemessenen Körperbewegungen zu beantworten. Ein Gespür für die Atmosphäre der gemeinsamen Situation kann diese durch spontanes, intuitives körperliches Tun (eine Umarmung, Verbeugung, ein Schritt zurück) retten, wo Worte womöglich fehl am Platz wären. Leiblich-kreatives und hermeneutisch-kreatives Agieren haben eine gemeinsame Schnittfläche, die sich in Situationen zeigt, in denen leibliches Verstehen gefragt ist. Solche Situationen treten häufig unerwartet ein, was zur Folge hat, dass Routinehandlungen nicht greifen. Die körperliche Antwort auf die programmatische Frage, was man hier nun tun solle, ist daher sehr oft improvisierender Art. Drittens, wenn das praktische Situationsproblem primär mit Worten (und weniger mit körperlichen Handlungen) in dem Sinne gelöst wird, dass bei der Explikation die Integrität der gemeinsamen Situation erhalten bleibt, ist dies dem hermeneutisch-kreativen Denken geschuldet. Mit den richtigen Worten, die es zu finden gilt, kann es gelingen, Situationen so zu gestalten, dass sie nicht auseinanderbrechen, vielmehr in eine positive Richtung verlaufen. In einer hitzigen Diskussion ist es oft hilfreich, wenn einer der Beteiligten den »springenden Punkt herausgreift« (Schmitz), an dem sich die Diskussion entzündet hat, und so eine neue Sicht der Dinge ins Spiel bringt, die die Gemüter beruhigt. Zielt das hermeneutisch-kreative Denken somit besonders auf die situativen Atmosphären, richtet sich viertens das analytisch-kreative Denken primär auf die Sachverhalte, Programme und (Teil-)Probleme der Situation, die es neu zu ordnen versucht. Kreativ ist das analytische Denken dann, wenn es zu einer »Umstrukturierung der Situation« in der Weise führt, dass »die Bedeutsamkeit […] wechselt, während der übrige Inhalt der Situation weitgehend bleibt.« 76 Detektive gehen so vor, 77 indem sie Fakten (tatsächliche 76
Schmitz, Praxis, S. 151 f. Wie Michael Großheim in seinem Vergleich der beiden Meisterdetektive Jules Maigret und Sherlock Holmes gezeigt hat, gehen keineswegs alle Detektive analytisch-kreativ denkend vor. Der klassische, weil geniale Repräsentant konstellationistischer Detektivarbeit ist Holmes, während Maigret ein Situationist ist, der sein Fälle mit Hilfe seiner überragenden hermeneutischen Intelligenz löst. Vgl. Michael Großheim: Von der Maigret-Kultur zur Sherlock-Holmes-Kultur. Oder:
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Sachverhalte) sammeln, Hypothesen entwickeln und verwerfen, weil neue Fakten aufgetaucht sind, die Wünsche und Hoffnungen (Programme), Sorgen und Nöte (Probleme) der Beteiligten deutlich geworden sind etc., bis sie irgendwann das chaotisch Mannigfaltige dieses Situationsproblems konstellationistisch durchdrungen haben. Die Einzelheiten der Situation liegen dann auf dem Tisch, sind neu angeordnet, die Situation ist in den Griff genommen, der Fall gelöst. Die vier Dimensionen kreativen Handelns sind selbstverständlich in einem analytischen Sinne zu verstehen. Realiter liegt diese Trennung so (eindeutig) nicht vor. Im Falle konkreter Situationsprobleme ist davon auszugehen, dass für deren Lösung mehrere Dimensionen kreativen Handelns notwendig oder zumindest hilfreich sind. 4.
Zusammenfassung und Ausblick
Der Beitrag hatte das Ziel, auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit dem Neopragmatismus von Hans Joas und der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz Eckpunkte einer neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie zu formulieren. Als deren zentraler Begriff wurde das kreative Handeln eingeführt. Kreativität ist das handlungstheoretische Korrelat zum methodologischen Situationismus der NPS: Menschen leben in gemeinsamen Situationen, Situationen weisen neben Sachverhalten und Programmen auch Probleme auf, und Probleme werden durch kreatives Handeln gelöst. Analytischer Ausgangspunkt der neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie sind damit Situationsprobleme und nicht Handlungsprobleme. Konkret sind es wirkliche, nämlich leiblich-affektiv betroffen machende Situationsprobleme, die kreatives Handeln erfordern oder zuminDer phänomenologische Situationsbegriff als Grundlage einer Kulturkritik, in: ders./Steffen Kluck (Hrsg.): Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Freiburg/München 2010, S. 52–84, hier vor allem S. 62–70.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
dest nahelegen. Reale Situationsprobleme können demgegenüber auch nichtkreativ, das heißt routinemäßig oder rational, gelöst werden. Wirkliche Situationsprobleme müssen dabei keineswegs ›groß‹ im Sinne von erschütternd oder niederschmetternd sein. Sie zeigen sich vielmehr in jeglicher Irritation, die aufgrund einer Unterbrechung des gewohnten Handlungsverlaufs eintritt, was auch bei ›kleinen‹ Problemen der Fall ist. Handlungstheoretisch ist daran bedeutsam, dass das Subjekt der neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie nicht nur der handelnde Akteur ist, sondern gleichermaßen der Patheur, dem das Situationsproblem widerfährt. 78 Die Lösung des Situationsproblems kann dann in Abhängigkeit von diesem auf unterschiedlich kreative Weise erfolgen: Das leiblich-kreative wie auch das hermeneutisch-kreative Agieren sind dabei explizit körperlich ausgeführte Arten des Handelns, während das hermeneutisch-kreative und das analytisch-kreative Denken ohne äußerlich wahrnehmbare Körperbewegungen geschehen. Aus der konzeptionellen Einbettung kreativen Handelns in gemeinsame Situationen folgt, dass jedes kreative Handeln vom Nomos der Situation angeleitet ist, wie auch Ziele und Zwecke integrale Bestandteile kreativen Handelns sind. Die neophänomenologisch-soziologische Handlungstheorie integriert damit normorientiertes, rationales und kreatives Handeln. Wie diese Integration des homo sociologicus, homo oeconomicus und homo creativus genau aussieht, gilt es in der weiteren Ausarbeitung der neophänomenologisch-soziologischen Handlungstheorie als nächstes zu klären. In Anlehnung an Joas’ neopragmatistische Theorie des kreativen Handelns, der sie die Idee der Kreativität als Problemlösung (und damit einen wertfreien Kreativitäts78
Die gleichrangige Bedeutung von Akteur und Patheur korrespondiert mit der etymologischen Bedeutung des Wortes Kreativität, der zufolge Kreativität sowohl aktives, schöpferisches Handeln als auch passives Geschehenlassen meint. Kreativität geht einerseits zurück auf das lateinische Wort creare, was so viel wie »erschaffen, zeugen, ins Leben rufen« bedeutet und womit das aktive Tun angesprochen ist. Andererseits hat es die lateinische Wurzel crescere, was mit »wachsen, zunehmen« oder »geschehen« übersetzt werden kann und worin sich etwas Passives zeigt (Duden: Das Herkunftswörterbuch. Mannheim et al. 1997, S. 366).
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Robert Gugutzer
begriff ) verdankt, hat die neophänomenologisch-soziologische Theorie kreativen Handelns als zweites die gesellschaftstheoretische Bedeutung kreativen Handelns herauszuarbeiten. Literatur Böhler, Dietrich: Rekonstruktive Pragmatik. Von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationsreflexion: Neubegründung der praktischen Wissenschaften und Philosophie. Frankfurt a. M. 1985. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001. de Shazer, Steve: Wege der erfolgreichen Kurztherapie. Stuttgart 1989. Duden: Das Herkunftswörterbuch. Mannheim et al. 1997. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a. M. 1986. Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen. Frankfurt a. M. 2004. Großheim, Michael: Von der Maigret-Kultur zur Sherlock-Holmes-Kultur. Oder: Der phänomenologische Situationsbegriff als Grundlage einer Kulturkritik, in: ders./Kluck, Steffen (Hrsg.): Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Freiburg/München 2010, S. 52–84. Gugutzer, Robert: Doping im Spitzensport der reflexiven Moderne, in: Sport und Gesellschaft 6(1), 2009, S. 3–29. Gugutzer, Robert: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Untersuchungen. Bielefeld 2012. Gugutzer, Robert: Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 46(3), 2017, S. 147–166. Hasse, Jürgen: Raum der Performativität. ›Augenblicksstätten‹ im Situationsraum des Sozialen, in: Geographische Zeitschrift 98, 2010, S. 65–82. Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns. Frankfurt a. M. 1992. Joas, Hans: Einleitung: Schritte zu einer pragmatistischen Handlungstheorie, in: ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 7–22. Joas, Hans: Von der Philosophie des Pragmatismus zu einer soziologischen Forschungstradition, in: ders.: Pragmatismus und Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1992, S. 23–65. Julmi, Christian/Scherm, Ewald: Leibliche, hermeneutische und analytische Kreativität, in: Volke, Stefan/Kluck, Steffen (Hrsg.): Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit. Freiburg/München 2017, S. 249–274. Münch, Richard: Die Kreativität des Handelns: Hans Joas, in: ders.: Soziologische Theorie, Band 2. Frankfurt/New York 2007, S. 329–345.
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Situationsprobleme und kreatives Handeln
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Walter Burger
Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
Abstract: Stabilität wird meist positiver bewertet als Irritation und Veränderung. Diese wirken oft verunsichernd. Man wünscht sich übersichtliche Verhältnisse, »belastbare Daten« und daraus abgeleitete klare Handlungsoptionen. Der Umgang mit komplexen Situationen ist in der Tat schwierig, Prognosen oft falsch. Ein systemischer Zugang zu schwierigen Fragestellungen nach dem Muster des von Thure von Uexküll ausgearbeiteten »bio-psychosozialen Modells« erleichtert und ermöglicht einen strukturierten Überblick und Zugang zu komplexen Systemen. Er macht deutlich, wieso Irritation für Entwicklung und Stabilität komplexer Systeme unverzichtbar ist. Die Semiotik erweitert das Bild von Kausalität und bietet neue Ansätze zum Verständnis biologischer Systeme. Die Kenntnis der Grundelemente der Komplexitätstheorie (»Chaostheorie«) hilft, komplexe von komplizierten Systemen zu unterscheiden und so inadäquate Lösungsansätze zu vermeiden. Sie gibt Impulse für innovative Betrachtungs- und Lösungsansätze in unübersichtlichen Situationen. Keywords: Systemtheorie; Komplexitätstheorie; Chaostheorie, Semiotik, Prognosesicherheit.
»Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert«. 1
1.
Stabilität ist gut … oder?
Auch wenn keiner leugnen wird, dass es ohne Veränderung keine Entwicklung geben kann, steht Stabilität doch hoch im Kurs. Preise, Gesundheit, Umwelt, alles soll möglichst stabil bleiben, 1
Albert Einstein (1879–1955) zugeschrieben, ohne Quelle.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
damit das Leben in gewohnter Weise weitergehen kann. Dies gilt zumindest für Menschen, die gesund sind und ihre Lebensumstände als angenehm erleben, sich also – im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf der Erde – in einer relativ privilegierten Situation befinden. Leider muss dann aber oft mit Beunruhigung zur Kenntnis genommen werden, dass sich die Verhältnisse ständig ändern, und auch oft nicht in der Weise, die als »gut« empfunden wird. Aus einer solchen Sicht bekommt »Irritation« als potentieller Stör-und Verunsicherungsfaktor eine negative Konnotation, sie ist eher beunruhigend. 2 Menschen in ungünstigen Lebensbedingungen oder auch nur Menschen, die in ihrem Arbeitsumfeld etwas gestalten wollen, hoffen und setzen dagegen auf Veränderungen. Dann erweisen sich die bestehenden Verhältnisse aber oft als ärgerlich stabil, auch wenn »eigentlich« gute Möglichkeiten zu positiven Veränderungen vorliegen. Veränderungsaktivitäten werden nämlich nicht selten vom Umfeld als Irritation erlebt, werden mit offenem Widerstand blockiert oder versanden einfach. Die zwiespältige Bedeutung von Stabilität und Labilität gilt im Besonderen für unsere Gesundheit, die wir uns stabil wünschen, während sie sich dann leider oft als ausgesprochen labil, erweist. Krankheitszustände, die wir uns als labil, d. h. durch therapeutische Maßnahmen veränderbar wünschen, zeigen aber umgekehrt oft eine hohe Stabilität und erweisen sich nicht selten als sehr resistent gegenüber therapeutischen Bemühungen, verkürzen unser Leben, führen zu Behinderungen oder begleiten uns in anderer Weise als chronische Krankheiten ein Leben lang. Stabilität, Umgang mit Irritationen und Veränderung/Entwicklung sind also für uns Menschen zentrale Themen, sowohl im persönlichen, wie auch im beruflichen, sozialen und politischen Leben. Da nicht nur wir (z. B. durch intermittierende Krankheiten und unvermeidbare Reifungs- und Alterungspro2
Irritation wird im Folgenden entsprechend dem umgangssprachlichen Gebrauch als etwas verstanden, was irritierend wirkt, die gewohnte Ordnung stört, zur Auseinandersetzung zwingt und entweder als fördernder oder störender Stressor erlebt wird.
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Walter Burger
zesse), sondern auch alles in unserer Umgebung Veränderungsund Entwicklungsprozessen unterliegt, müssen wir ständig mit »Irritationen« umgehen und auf Veränderungen unserer Umgebung reagieren. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche Bedingungen für Stabilität oder Veränderung notwendig und verantwortlich sind, und wie wir diese in der von uns gewünschten Weise beeinflussen können. Bei dem Versuch, gezielt Veränderungen zu bewirken, erweist sich nämlich oft die Fülle und Vernetzung von Einflussfaktoren als problematisch und macht es uns schwer oder unmöglich, einfache Ursache-Wirkungsketten zu identifizieren und gezielt die gewünschten Effekte zu bewirken. 3 Politische Interventionen sind dafür klassische Beispiele. Um komplexe Situationen und ihre Interaktionen besser verstehen und ordnen zu können, hat sich in vielen Bereichen ein sog. systemischer Ansatz bewährt. Die theoretischen Grundlagen finden sich unter dem Begriff der Systemtheorie, wobei dieser Begriff ebenso wie das Adjektiv systemisch aber keineswegs einheitlich gebraucht wird. So wird darunter in der Mathematik etwas ganz anderes verstanden, als etwa in der Soziologie, Medizin oder Psychologie und auch die systemische Familientherapie hat ihre eigenen theoretischen Grundlagen und Interventionsmethoden. Man sollte korrekterweise also eher von Systemtheorien sprechen und beim Sprechen darüber klarstellen, auf welche systemische Theorie man sich bezieht. 2.
»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie …« 4
Es gibt nicht nur Werkzeuge sondern auch Denkzeuge. Diese sog. Algorithmen helfen uns, unsere Erlebnisse zu strukturieren und zu bewerten. Dies ist unverzichtbar, um sich in unserer Lebenswelt zurechtzufinden und auch, um in der Wissenschaft eine aus3
»Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.« (Lebensweisheitsspruch). 4 »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.« Johann Wolfgang von Goethe: Faust 1 (Faust), Verse 2038/2039.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
reichend sichere Plattform für die gemeinsame Weiterentwicklung von Wissen und Erkenntnis zu haben. Problematisch wird es aber immer dann, wenn sich eine Wissenschaft dazu aufschwingt, ihr eigenes Modell zur Grundlage einer allgemeinen Welterklärung zu machen, wie – zurzeit in weiten Kreisen der Naturwissenshaft en vogue – beispielsweise »Gedanken und Empfindungen sind nichts anderes als neuronale Aktivitäten unserer Gehirne«. Dann wird das von Goethe angesprochene »Graue« der Theorie gegenüber dem Grün des goldenen Lebensbaums deutlich. Bedenkt man aber, dass es sich bei Theorien immer um Modelle handelt, die zwar für bestimmte Situationen und Problemstellungen hilfreich sein können, aber keineswegs den Anspruch haben können, die Lebensrealität vollumfänglich zu beschrieben, dann bekommen die Theorien ihren adäquaten Platz und erweisen sich in den meisten Fällen als sehr hilfreich. Im Falle der Naturwissenschaft grenzt dies bis ans Wunderbare. Auch die Systemtheorie liefert nur ein Modell, ein Denkzeug, dass in bestimmten Situationen, die im Folgenden genauer ausgeführt werden, eine fundierte und praktische Orientierung ermöglicht, die über die Erfassung und Kombination von Einzelfaktoren hinausgeht und einen mehr »ganzheitlichen« Ansatz ermöglicht. Allerdings sollte die sicher oft begründete hohe Wertschätzung, die der Begriff »ganzheitlich« in bestimmten Kreisen besitzt und die oft routinemäßige Anforderung, Dinge ganzheitlich zu sehen, nicht den Blick davor verschließen, dass viele Situationen und Probleme keineswegs einen ganzheitlichen Betrachtungs- oder Lösungsansatz erfordern, sondern auch gut oder sogar besser mit einer reduzierten, auf geschickter Erfassung und Kombination von Einzelfaktoren basierenden Vorgehensweise versteh- und lösbar sind. Die Systemtheorien erheben den begründeten Anspruch, eine gegenüber der klassischen Naturwissenschaft erweiterte erkenntnistheoretische Grundlage zum Verständnis komplexer biologischer Vorgänge zu liefern. Dies sollte aber nicht vergessen lassen, dass in der von Hermann Schmitz entwickelten Neuen Phänomenologie eine noch grundlegender erweiterte Erkenntnistheorie und mit seiner differenzierten Leibtheorie eine Lösung des Körper-Seele61 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Walter Burger
Problems vorgelegt worden ist. Diese geht über die systemischen Verständnisansätze des bio-psycho-sozialen Modells hinaus ohne es als Teilaspekt auszuschließen. Durch ihre Ableitung direkt vom erlebten Phänomen ist sie außerdem ziemlich nahe am Grün des Lebens goldnen Baums angesiedelt. 5 Dies wertet aber die enorme Innovationskraft des systemischen Ansatzes und seine für viele Fragestellungen hervorragende praktische Brauchbarkeit in keiner Weise ab. Um die grundlegenden Charakteristika des systemischen Ansatzes mit seinen Möglichkeiten zum Verständnis von Stabilität und Veränderung aufzuzeigen, wird im Folgenden von den systemtheoretischen Begriffen der Medizin und Psychologie, wie es Thure von Uexküll in seinem bio-psycho-sozialen Modell formuliert hat, 6 ausgegangen. Ergänzt wird dies durch einen kurzen Abriss der Komplexitätstheorie. 3.
Einheit in der Vielfalt
Die Systemtheorie geht nicht von den einzelnen, an einem Geschehen beteiligten Phänomenen oder Faktoren aus, sondern beschreibt ihre Gliederung und die Dynamik ihrer Beziehungen als zusammengehörige Einheit, als System. Für den biologisch-systemischen Ansatz sind dabei folgende Elemente von zentraler Bedeutung: System- bzw. Integrationsebenen, Emergenz und Semiose.
5
Literaturauswahl: Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Grundlagen), Bonn 1994; Hermann Schmitz: Gibt es die Welt? (Welt), Freiburg/München 2014; Hermann Schmitz: Der Leib (Leib), Berlin/Boston 2011. 6 Thure von Uexküll/Wolfgang Wesiak: Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns (Humanmedizin), München/Wien/Baltimore 1988, S. 95–174.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
3.1 Systemebenen Systeme werden als hierarchisch gegliederte Einheiten aufgefasst. Höhere, komplexere Einheiten sind aus einfacher strukturierten zusammengesetzt. Am Beispiel des Menschen wäre die unterste Ebene die der Atome/Moleküle, dann aufsteigend Zellstrukturen, Zellen, Zellverbände (Organe), Organsysteme, der Mensch als Gesamtorganismus mit somatischer und psychischer Dimension, dann die sozialen Beziehungen und das soziale System (z. B. Gruppe, Gemeinde, Staat) und – wenn man weiterdenken will – die Welt und der Kosmos. Zwischen diesen Ebenen gibt es einen Austausch, indem Faktoren von höheren Ebenen auf untergeordnete einwirken (»Abwärtseffekte«) und umgekehrt untergeordnete auf höhere (»Aufwärtseffekte«). Ein einfaches Beispiel wäre etwa die Entstehung eines Bluthochdrucks bei einem Menschen durch Belastungen am Arbeitsplatz, mit Wirkung auf seine Organe und Zellen, die durch veränderte Hormonproduktion einen Bluthochruck erzeugen (Abwärtseffekt). Der erhöhte Bluthochdruck wird dann akut oder chronisch Veränderungen und Symptome an Organsystemen und dem Gesamtorganismus zur Folge haben, möglicherweise mit Notwendigkeit von medizinischen Interventionen und Veränderungen des Verhaltens (z. B. Ernährung), vielleicht psychischen Folgen (Krankheits- oder Defizitgefühle), Verlust- oder Gefährdung des Arbeitsplatzes, ggf. mit Auswirkungen auf das soziale Verhalten und Befinden (Aufwärtseffekt). Ein Vorteil der systemischen Sichtweise ist, dass ein Phänomen, wie in diesem Beispiel der Bluthochdruck, nicht nur isoliert als Folge hormoneller Veränderungen oder nur als soziales/psychisches Stressphänomen betrachtet wird, sondern dass sie ermöglicht, das Ineinandergreifen strukturiert darzustellen und damit die Möglichkeit, eine differenziertere Analyse als Ausgangspunkt möglicher therapeutischer Interventionen auf verschiedenen Ebenen eröffnet, ohne den Gesamtzusammenhang aus dem Auge zu verlieren. Diese könnten z. B. der Rat zur Veränderung des Arbeitsplatzes (soziale Ebene), eine psychotherapeutische Intervention zur Stressreduktion und -bewältigung (Ebene des Indivi63 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Walter Burger
duums), die Behandlung einer Organstörung (z. B. Nierenerkrankung) oder der Einsatz eines Pharmakons (zelluläre Ebene) oder aber, wie meist sinnvoll, eine gezielte Kombination von Interventionen auf verschiedenen Ebenen sein. 3.2 Emergenz In hierarchisch gegliederten Systems treten grundsätzliche Veränderungen (Sprünge) beim Wechsel der Ebenen auf, indem die jeweils übergeordnete Ebene Eigenschaften und Fähigkeiten hat, die der untergeordneten nicht zur Verfügung stehen und aus der Analyse der untergeordneten Ebene allein auch nicht direkt ableitbar sind. So kann man von der einzelnen Zelle nicht ohne weiteres auf die Eigenschaften schließen, die eine aus ihr zusammengesetzte Zellorganisation (Organ) haben wird, aus den einzelnen Organen nicht auf die Eigenschaften von Organsystemen und von diesem nicht auf das Verhalten des Organismus als Ganzem. Auch das Verhalten des einzelnen Gesamtorganismus als Individuum kann sich sehr von seinem Verhalten in einer Gruppe unterscheiden, in der er sich möglicherweise ganz anders verhält, als aus der Betrachtung von ihm als Individuum zu erwarten gewesen wäre. Natürlich kann der Biologie oder Mediziner z. B. aus morphologischen Charakteristika einer Zelle auf Eigenschaften des Zellverbands (Organ) schließen, aber das ist nur möglich, da vorher schon Organe und die Auswirkungen der Zellen auf seine spezifischen Funktionen untersucht wurden. Hätte ein Chemiker nie eine Flüssigkeit gesehen und untersucht, könnte er aus der chemischen Struktur des Wassers niemals auf die Flüssigkeit des Wassers schließen. Erst die Kenntnis beider Ebenen ermöglicht das Verständnis typischer chemischer Strukturen von Flüssigkeiten und erlaubt Vorhersagen der Substanz auf der Basis von molekularen Strukturen (Kombination induktiver und deduktiver Verfahren). Dieses Phänomen des Auftauchens neuer Eigenschaften beim Wechsel der Systemebenen wird als Emergenz bezeichnet. 64 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
3.3 Semiose Wie werden nun diese Aufwärts- und Abwärtseffekte bewerkstelligt, wie »kommunizieren« die Systemebenen miteinander? Aus der klassischen Mechanik kennt man klare Ursache-Wirkungsketten in der Interaktion fester Körper, in denen das Ausmaß der Ursache (z. B. Stoß) mit dem Ausmaß der Wirkung (z. B. Bewegung, Zerstörung) korrespondiert. Bei entsprechend genauer Kenntnis der Ausgangssituation (z. B. Konsistenz von Stein und Glas sowie Ausmaß der Einwirkungskraft) kann die Reaktion (Glas bleibt stabil und wird in Bewegung versetzt oder bricht) ziemlich genau vorhergesagt werden. Ähnliches gilt für andere Gebiete der Physik, wie z. B. der Elektrizität oder Radioaktivität. Diese Zusammenhänge können sehr verzweigt und kompliziert sein. Auf dieser Vorhersagekraft beruht die erstaunliche Zuverlässigkeit technischer Geräte und Maschinen und der auf den Gesetzen der Statik errichteten Gebäude etc., denen wir uns täglich mit berechtigter Zuversicht anvertrauen. In biologischen Systemen hilft dieser Ansatz nur begrenzt weiter. Sie verhalten sich für den Beobachter sehr viel unberechenbarer, »freier«, obwohl die Naturwissenschaft mit guten Begründungen auch biologischen Phänomenen mechanistischmolekulare Interaktionen zugrunde legt, die eigentlich eine gute Vorhersagbarkeit analog zu Maschinen ermöglichen müssten. In der Realität sind die Reaktionen biologischer Systeme auf Reize aber so variabel, dass sie nicht auf einfache Reiz/UrsacheReaktion/Wirkungsschemata zurückgeführt werden können und auf mathematischen Berechnungen beruhende Prognosen oft Lügen strafen. Diese Problematik beschreibt Einstein in seinem bekannten Aperçu sehr drastisch: »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.« 7 Ein Ansatz, die hohe Reaktionsbreite biologischer Systeme auf ihren unterschiedlichen Ebenen zu erklären ist, ihre Interaktionen 7
Albert Einstein: Mein Weltbild, Frankfurt a. M. 1991 S. 119 f.
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Walter Burger
als Austausch von Zeichen, als Semiose zu verstehen. Damit tritt der Begriff des Zeichens in den Blickpunkt. In der inzwischen sehr elaborierten Wissenschaft der Semiotik 8 gibt es viele Überlegungen darüber, was als Zeichen verstanden werden kann. Am grundlegendsten erscheint mir die Definition des Biologen, Anthropologen und Kybernetikers Gregory Bateson, der ein Zeichen definiert als »Ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht«. 9 Anders als im Kausalitätsbegriff der klassischen Physik geht die Semiotik also nicht von einem direkten Ursache-Wirkungskonzept im Modell der Interaktion fester Körper aus, sondern folgt einem Modell, nach dem erst die Interpretation des Zeichens durch den Empfänger die Wirkung ausmacht. So wirkt ein Hormon nur, wenn es an einen entsprechenden Zellrezeptor gebunden und »verstanden« wird, der dann die spezifischen Wirkungen auslöst bzw. vermittelt. Störungen der Signal-/Zeichenkette in der Zelle können die Wirkung blockieren und zu einer sogenannten Hormonresistenz führen, d. h. trotz ausreichend vorhandener und entsprechend messbarer Hormonkonzentrationen, stellt sich keine Wirkung ein. Auch ein gesprochenes Wort zwischen zwei Menschen kann ja nur wirken, wenn es entsprechend verstanden wird, also in einer gemeinsamen Sprache und Deutungstradition erfolgt. Diese Beispiele sind beliebig vermehrbar. Für den (z. B. wissenschaftlichen) Beobachter folgt daraus, dass er die Bedeutung eines Zeichens erst aus der Wirkung erschließen kann und allein die Kenntnis der Faktoren/Zeichen der Ausgangssituation (z. B. molekulare oder sonstige messbare Konstellationen) nicht ausreicht, um ihre Wirkung vorhersagen zu können. Die Wirkung/Reaktion hängt bei biologischen Systemen von ihrem inneren Reaktions- und Deutungsmuster ab, das auch von »Erfahrungen« (z. B. auf der Organebene von Belastungen und Vorschädigungen von Zellen) beeinflusst werden, also für die aktuelle Situation eine »Geschichte« mitbringen, die für den Betrachter von außen nicht erkennbar ist. 8
Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, Stuttgart 2000. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1992, S. 580 ff.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
Zum Verständnis der Semiose in Systemen ist weiterhin wichtig, dass sich auf den verschiedenen Ebenen mit den Funktionen auch die »Sprachen« bzw. Codes ändern. Auch diese können aus Sicht der untergeordneten Ebene nicht vorhergesagt werden, sondern entwickeln sich emergent. So könnte keiner, der nur die physikalisch-biochemischen Vorgänge in Zellen kennt, vorhersagen, dass ein daraus zusammengesetzter Organismus sich mit Hilfe etwa der chinesischen oder deutschen Sprache oder durch Zwitschern mit anderen Organismen verständigt. Das Emergenzphänomen spiegelt sich auch in der Diversität der wissenschaftlichen Disziplinen wider. Für jede Systemebene gibt es eine eigene wissenschaftliche Disziplin (z. B. Physik, Biochemie, Molekulargenetik, somatische Medizin, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft), die mit eigenen Methoden und einer darauf abgestimmten »Sprache« ihre Forschung betreibt. Sie haben jeweils unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden und können sich daher mitunter nur schwer untereinander austauschen. Auch hier ergibt sich durch einen systemtheoretischen Ansatz die Chance, die wissenschaftlichen Ergebnisse miteinander in Beziehung zu setzen. Durch die Beschreibung allgemeiner Prinzipien von Systemen wird eine Art Metasprache angeboten, mit der Interaktionen und Wechselwirkungen beschrieben werden können. 10 4.
»Prognosen sind schwierig, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen« 11
Es ist ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, Ursache und Folge in einem sinngemäßen Verhältnis zu sehen und zu setzen. Ohne diese Vorstellung und Erfahrung von Kausalität gäbe es keine menschliche Initiative. Auf der anderen Seite ist jedem bewusst, wie stark Ereignisse des persönlichen Lebens oder auch in 10
Uexküll/Wesiak, Humanmedizin, S. 108. Wechselweise Karl Valentin, Mark Twain oder Niels Bohr zugeschriebener Ausspruch.
11
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Walter Burger
der Geschichte von Gesellschaften von Zufällen abhängen, 12 also nicht beeinflussbar sind. Im beruflichen Kontext ist die Frage der Vorhersagbarkeit von Interventionen besonders für die Berufsgruppen zentral, deren Aufgabe es ist, gezielt Wirkungen zu erzeugen. Dies betrifft Therapeuten unterschiedlicher Professionen ebenso wie etwa Unternehmer und deren Berater oder politische Entscheidungsträger und viele andere mehr. Wünschenswert wäre für sie alle eine möglichst präzise Vorhersagbarkeit, auf deren Grundlage die zu erwartende Entwicklung sowie Chancen und Risiken von Interventionen eingeschätzt werden können. Vorhersagbarkeit ist unter dem Begriff »Determinismus« auch in Philosophie und Theologie und in neuerer Zeit auch in der Neurowissenschaft ein wichtiges Thema und berührt grundsätzliche Fragen, wie die Verantwortlichkeit des Menschen sich selbst, anderen oder Gott gegenüber sowie der Willensfreiheit. Diese Aspekte sollen hier aber nicht behandelt werden. Sie sind seit Jahrhunderten Gegenstand intensiver theologischer und philosophischer Abhandlungen und Auseinandersetzungen und in jüngerer Zeit in großer Genauigkeit von Hermann Schmitz zusammenfassend untersucht, abgehandelt und einer neuen philosophischen Lösung zugeführt worden. 13 Einem radikalen Determinismus liegt ein Weltbild zugrunde, in dem alles, was geschieht, direkt kausal miteinander verknüpft und prinzipiell vorhersagbar ist: Der Mensch und die ganze Welt ist danach eine hochkomplizierte Maschine, deren Bauplan es zu entschlüsseln und, aufbauend auf diesen Erkenntnissen, in gewünschter Weise zu stabilisieren oder zu verändern gilt. Eine solche Sicht ist keineswegs neu. Schon der Mathematiker Pierre12
Siehe z. B. Tom Tykwers Film »Lola rennt« 1998; Karl Theodor Richard Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1991, Nachdruck u. a. München 1983 oder Dieter Kühn: N, Suhrkamp Taschenbuch 93, Berlin 1973, der ein sehr amüsantes und zum Nachdenken anregendes Panorama eröffnet, wie verschieden das Leben Napoleons und somit die Geschichte Europas hätte verlaufen können, wenn in bestimmten Situationen anders entschieden worden oder zufällig anderes geschehen wäre. 13 Hermann Schmitz: Freiheit, Freiburg/München 2007.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
Simon La Place (1749–1827) formulierte im frühen 19. Jahrhundert die These, dass ein Wesen, welches vollständige Kenntnisse über die Ausgangssituationen und Naturgesetze besitzt, alle vergangenen und zukünftigen Ereignisse rekonstruieren bzw. vorhersagen könne (»La Place’scher Dämon«). 14 Die Überzeugungskraft eines deterministischen Weltbilds wird für uns durch die tägliche und in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle positiven Erfahrungen, der mit den Methoden der Naturwissenschaft erzielten großartigen Errungenschaften und Erfolge – etwa in Medizin und Technik – bestätigt und befestigt. Sie sind aus unserer Lebenserfahrung nicht mehr wegzudenken und erweisen sich als sehr verlässlich und oft sehr segensreich. Hermann Schmitz spricht von diesen Erfolgen der Naturwissenschaft als »geregelte[m] Zaubern«. 15 Hochkomplizierten Maschinen, wie z. B. Computern oder Autos, Flugzeugen, Fahrstühlen aber auch medizinischen Eingriffen, vertrauen wir ohne große Zweifel täglich unser Leben an und hoffen und erwarten immer weitere Fortschritte. Unvorhergesehene Ereignisse werden als noch bestehende Lücken des Wissens gedeutet, die im Verlauf weiterer Forschung in der Zukunft geschlossen werden können und somit grundsätzlich beherrschbar sind. Dies gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. Dieses hoffnungsvolle Weltbild ist allerdings seit den Ergebnissen der Komplexitäts-(»Chaos-«)Theorie in seinem universellen Anspruch so nicht mehr zu halten. Es lässt sich nämlich mathematisch exakt begründen, warum komplex konfigurierte Systeme sich in bestimmten Situationen für den Beobachter/Untersucher grundsätzlich unvorhersehbar verhalten und die Genauigkeit der Prognose auch bei unendlicher Zunahme der Kenntnis der Ausgangsbedingungen nicht erhöht werden kann. Populär geworden ist der in einschlägigen Werken zur Chaostheorie immer wieder beschriebene Flügelschlag des Kolibris, der am anderen Ende der Welt einen Sturm auslösen kann, auch wenn man seine 14
Pierre-Simon Laplace im Vorwort des Essai philosophique sur les probabilités von 1814. 15 Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 72.
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Walter Burger
ursächliche Rolle im Einzelfall sicher mit keiner verfügbaren Methode beweisen kann. Obwohl sich das Gesamtsystem »frei«, also aus Sicht des Beobachters von außen indeterminiert verhält, widerspricht das noch nicht der klassischen physikalischen Theorie einer Determinierung der Einzelreaktionen innerhalb des Systems. 16 Im Gegenteil, man kann solche, für den Beobachter indeterminierte Systeme, auch als »über-determiniert« verstehen, in denen auch minimale Einflüsse nicht verloren gehen und durch Rückkopplungsschleifen zu Effektverstärkungen führen, die dann das Verhalten des Gesamtsystems in unterschiedliche Richtungen lenken können (s. Abb. 1). Im linearen Prozess sind die Einwirkungen der verschiedenen Faktoren aufeinander linear, d. h. stärkere Wirkungen haben stärkere, schwächere schwächere Effekte. Bei Kenntnis der Ausgangsfaktoren und seiner Interaktionen lassen sich aus den Ursachen ziemlich zuverlässig die Wirkungen ableiten. Im Prozess-Netzwerk dagegen wirken die einzelnen Faktoren so verknüpft aufeinander, dass sie sich aufheben oder stark verstärken können, so dass für einen Beobachter die Reaktion des Systems auf einen gegebenen Reiz nicht sicher vorhersagbar ist, dass System verhält sich »frei«. Vor allem biologische, lebende Systeme müssen in ihrem Gesamtverhalten grundsätzlich als komplex angesehen werden. Der Kybernetiker Heinz von Foerster hat das unterschiedliche Verhalten komplizierter und komplexer/biologischer Systeme in seinem 16
Hermann Schmitz hat noch grundlegender in der von ihm entwickelten Ontologie dargestellt, dass das seit der zweiten Hälfte des vorchristlichen Jahrhunderts in der westlichen Welt herrschende, mit den Philosophen Leukipp und Demokrit verbundene Weltverständnis, das von einer primären Einzelheit der Weltbestandteile ausgeht, nicht haltbar ist (Eine kurze Darstellung findet sich z. B. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/München 2009 S. 47 ff.). Nach Schmitz ist stattdessen von einer binnendiffusen Mannigfaltigkeit von Situationen auszugehen ist, aus der sich Einzelheit erst durch Explikation darstellt. Dies soll hier aber nicht vertieft werden, kann aber zum erweiterten Verständnis des von Naturwissenschaftlern entwickelten Begriffs des »Chaos« beitragen.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
Abbildung 1. Schematische Darstellung der Interaktionsketten linearer und nichtlinearer Systeme. A
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Quelle: Burger 2008.
Modell der »trivialen« und »nichttrivialen« Maschine beschrieben und die prinzipielle Unvorhersehbarkeit komplexer/biologischer Systeme erklärt. Dies gelingt ihm sogar ohne das Modell des Zeichenaustauschs, unter Annahme streng deterministischer, prinzipiell mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbarer Wirkabläufe. Dennoch bleibt ein komplex figuriertes System für den Beobachter undeterminiert, »frei«, u. a da er nicht in der Lage ist, den inneren Systemzustand, d. h. die Reaktionsmuster, ausreichend genau einzuschätzen. Es reagiert »nicht-trivial«. 17 Wenn man will, korrespondiert dies aber mit der Theorie der Semiotik, nämlich dass in biologischen Systemen die Reaktionen auf äußere Reize (»Zeichen«) von der »Deutung« durch den Empfänger abhängen, die wiederum von inneren Systemeigenschaften, wie genetischer Ausstattung, aber auch »Erfahrung« und »Erinnerung« vorausgegangener Interaktionen abhängen und für den Be17
Heinz von Foerster: Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M. 1993, S. 233–268.
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obachter ohne Kenntnis »innerer« Deutungsmuster nicht vorhersagbar sind. 5.
Wieso gibt es in einer komplexen Welt überhaupt »Stabilität«?
Angesichts der vielen irritierend miteinander verflochtenen Einflussfaktoren kann man sich eigentlich nur wundern, wie es überhaupt so viel Stabilität geben kann, die unsere Welt in vielen Bereichen so verlässlich konstituiert. Das Erstaunen über die Stabilität von Systemen kommt interessanterweise aus der Physik und basiert auf dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Dazu Jürgen Kriz: »Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde, ausgehend von den Gesetzen der Wärmeausbreitung (durch Fourier), erstmals die Irreversibilität von Prozessen – in denen die Richtung der Zeit somit eine wesentliche Rolle spielt – ins Zentrum der Wissenschaft gerückt. Dies gipfelte in dem berühmten 2. Hauptsatz der Thermodynamik, demzufolge (so die populäre Rezeption) alle Ordnung über kurz oder lang zerfällt, weil die Entropie, als Maß für Unordnung, nur zunehmen kann (jedenfalls in einem abgeschlossenen System – doch diese Einschränkung schien zunächst ziemlich irrelevant zu sein).« Dazu weiter: »Die mit der Chaos-Forschung verbundene moderne Systemtheorie betont in besonderer Weise den Umstand, daß die Welt als Prozeß begriffen werden muß: sie ist nicht, sondern sie geschieht […]. Denn genau genommen ist alles, was wir kennen und benennen können, der Veränderung unterworfen, und alles Statische und alle »Zustände« sind Illusionen (was manche Kulturen und Weisheitslehren immer schon betont haben). Angesichts einer Welt aus ständig fließenden Prozessen ist natürlich der Begriff »Veränderung« äußerst unpräzise und irreführend. Es schafft daher Sinn, zwischen reversiblen und irreversiblen Aspekten von Prozessen zu unterscheiden: Der erste Aspekt betont die periodische, zyklische Komponente eines Geschehens – Tages-, Monats- und Jahresrhythmen, Herzschlag, Atmung, Pendelbewegung, atomare Schwingungen etc. – und ist 72 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
damit ausschlaggebend für phänomenale Stabilität. Der zweite Aspekt betont die instabile, nicht periodische, chaotische, geschichtliche Komponente eines Geschehens – Wetter, Ontogenese mit Geburt und Tod, Turbulenzen in Flüssigkeiten und Gasen, Wachstumsprozesse unter bestimmten Bedingungen, etc. – und ist damit ausschlaggebend für phänomenale Veränderung, d. h. Für die oben angesprochenen Phasenübergänge (ggf. bis zum Zerfall zu mikroskopischem Chaos).« 18 Wie der 2. Hauptsatz der Thermodynamik mit Stabilität vereinbar ist, erklärte der russisch-belgische Physikochemiker Ilyas Prigogine. 1977 erhielt er für seine Entdeckung der dissipativen Systeme, d. h. molekularer Systeme, die durch Energiezufuhr, die eigentlich eine »Dissipation/Zerstreuung« bewirkt, Strukturen aufbauen können, den Nobelpreis für Chemie. Irritation und zugeführte Unordnung führt also in bestimmten Situationen zur Ordnung. Als Philosoph hat er sich intensiv an der Beschreibung der Selbstorganisation als grundlegendes Prinzip des Lebens beteiligt. Zum »Geheimnis«, wie sich komplexe Systeme trotz des Entropiesatzes in einer instabilen Umgebung immer wieder selbst organisieren, hat auch die von Hermann Haken ins Leben gerufene wissenschaftliche Richtung der »Synergetik« weitere grundlegende Beobachtungen und Überlegungen gesammelt, entwickelt, und geordnet. 19 Tatsächlich sind komplexe und vor allem biologische Systeme auf ständige Irritation, »Stressoren«, angewiesen. Ohne diese gäbe es weder Entwicklung noch Stabilität. So ist Gesundheit kein stabiler Zustand, sondern muss in der Auseinandersetzung mit der Umwelt beim Aufbau von Immunsystem, Funktion der Sinne, Stabilität und Funktionsfähigkeit von Knochen, Muskeln oder Nervensystem und vieles andere mehr ständig erzeugt werden. Es ist leicht einzusehen, welche katastrophalen Folgen es hät18
Jürgen Kriz: Chaos und Struktur. Systemtheorie, Band 1. München 1992, S. 15, 19. 19 Hermann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken, Hamburg 1995.
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te, wenn man mit dem Ziel, die Gesundheit zu erhalten, sich in einem möglichst reizarmen Milieu ins Bett legen würde. 6.
Systeme sind sowohl komplex als auch kompliziert
Biologische Organismen reagieren aber keineswegs immer komplex. Sie unterliegen auch einer klassisch physikalischen Kausalität, selbst wenn diese manchmal sehr kompliziert und schwer durchschaubar zusammengesetzt ist. So kann man sicher, wenn auch unter z. T. nur mit komplizierten Analysemethoden, die Reaktion des menschlichen Körpers vorhersagen, etwa bei pharmakologischen Interventionen, Wirkungen von Schädigungen, wie z. B. Strahlungen oder auch – relativ einfach –, bei welchem Ausmaß an Krafteinwirkung ein menschlicher Knochen brechen wird. Die Auswirkung chronischer Belastungen auf die Gesundheit oder Überlebensfähigkeit eines Individuums (z. B. koronare Herzkrankheit, Suizidalität oder Auftreten von Krebs) ist aber vor dem Auftreten relevanter Schädigungen (deren Verläufe dann wieder besser vorhersehbar sind) grundsätzlich nur schätzungsweise auf der Basis statistischer Analyse beobachteter Ereignisse möglich. Von Genetikern genährte Hoffnungen, durch Analyse des menschlichen Genoms eine präzise Vorhersage von Erkrankungen und deren Verlauf zu machen, ignorieren die Erkenntnisse der Komplexität und Semiotik, auch wenn sie in linear verknüpften Teilbereichen komplexer Systeme, etwa in der individuellen Planung onkologischer Therapien, sehr hilfreich sein können. Auf die Medizin bezogen, kann etwas pauschalisiert festgestellt werden, dass bestimmte Bereiche, nämlich große Teile der Akutmedizin sich hervorragend nach dem Modell linearer UrsacheWirkungsketten beschreiben und im Vergleich zu vergangenen Zeiten in geradezu wunderbarem Ausmaß gezielt beeinflussen lassen. Es spricht auch alles dafür, dass es durch intensive wissenschaftliche Forschung noch weitere Verbesserungen geben wird. In anderen Bereichen dagegen, z. B. dem Gebiet chronischer Krankheiten, stiften lineare Erklärungs- und Therapieansätze aber 74 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
Abbildung 2: Wechsel der Freiheitsgrade des Systems im Wechsel von Gesundheit zu chronischen und akuten Krankheitszuständen.
Gesundheit
akute Erkrankung chronische Erkrankung
Quelle: Burger 2008.
oft mehr Verwirrung und Schaden, als Klarheit und Nutzen (s. Abb. 2). 20 Im Zustand der Gesundheit verhält sich der Mensch und sein Körper aus systemischer Sicht frei, d. h. er hat eine hohe Variabilität auf externe Reize zu reagieren und eine hohe Fähigkeit der Selbstorganisation. Für den Beobachter ist sein Verhalten frei, d. h. schwer prognostizierbar. Bei akuten Erkrankungen dominieren lineare Prozesse, die eine relativ zuverlässige Vorhersage über den Verlauf aber auch den Effekt von therapeutischen Interventionen erlauben. Bei chronischen Krankheiten flottiert das System zwischen komplexem, freien Verhaltensmustern in Zeiten der Sta-
20
Walter Burger: Die neue Phänomenologie in der Kinder- und Jugenddiabetologie, in: Heinz Becker (Hrsg): Zugang zu Menschen, Freiburg/München 2013, S. 73–99.
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bilität und linearen Mustern bei akuten Komplikationen. Der therapeutische Umgang mit chronisch kranken Menschen und auch ein wissenschaftlicher Untersuchungsansatz muss entsprechend dem vorliegenden »Systemzustand« sehr variabel angepasst werden. Je akuter die Situation, desto präziser die Prognose und Abschätzung von Risiko und Interventionsergebnis. Analoges gilt in anderen Bereichen, wie etwa Politik, Wirtschaft, Bildungswesen, Erziehung etc. 7.
Umgang mit Komplexität
Die Theorien der Chaosforscher 21 sind verunsichernd und werden daher oft einfach ignoriert, indem man sich mit enormer Energie und mit großem Scharfsinn auf die Identifizierung und Charakterisierung von Einzelfaktoren und deren Wechselwirkungen konzentriert. Dies erklärt die aktuell ins schier unermesslich gesteigerte Menge wissenschaftlicher Erkenntnisse, die den an praktischen Konsequenzen interessierten Praktiker oft ratlos stehen lässt. 22. Man ist versucht, mit Goethe zu sagen: »Dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt, leider! nur das geistige Band.« 23 Dies wird sich aber wohl noch eine Weile nicht ändern. Es ist zurzeit nicht abzusehen, wann Gebiete wie Komplexitätsforschung, Semiotik und Kybernetik, die aktuell noch weitgehend außerhalb des Mainstreams liegen, integraler Bestandteil der täglichen naturwissenschaftlichen Arbeit werden. Folgt man den schon vor etlichen Jahrzehnten angestellten Untersuchungen und Überlegungen von Thomas Kuhn, sind zurzeit noch keine
21
Literaturauswahl: Jack Cohen, Ian Steward: Chaos und Anti-Chaos. Ein Ausblick auf die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts. München 1994; Roger Lewin: Die Komplexitätstheorie. Wissenschaft nach der Chaosforschung. München 1996. 22 Was aber nicht ausschließt, dass auf diesem Wege sehr wichtige und auch für die Lösung von praktischen Problemen hilfreiche Erkenntnisse gewonnen werden. 23 Goethe, Faust, Vers 1938/1939.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
für einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel notwendigen Bedingungen gegeben. 24 Heinz von Foerster konstatierte schon vor Jahren, dass von drei Möglichkeiten, sich dem Problem nichttrivialen Verhaltens von Systemen zu nähern, nämlich es erstens zu ignorieren, zweitens die Problemstellungen durch maximale Reduktion zu trivialisieren und drittens, neue Zugangswege zu nichttrivialen Fragestellungen zu suchen, vor allem die ersten beiden Möglichkeiten ergriffen werden. 25 8.
Geht es auch anders?
In einigen Naturwissenschaften (z. B. Biologie, Kybernetik, Wirtschaftswissenschaften) haben die Ergebnisse der Komplexitätsforschung und der systemisch/semiotische Denkansatz schon Anwendungen gefunden. Sie haben neben hochinteressanten neuen Denk- und Betrachtungsansätzen auch grundlegende erkenntnistheoretische Diskussionen eröffnet und wiederbelebt, indem sie darauf hinweisen, dass unsere Lebenswelt nicht allein durch Analyse der messbaren Elemente erklärt werden kann, sondern auch eines intuitiven Zugangs bedarf. 26 Allerdings sollten die intuitiven Eindrücke nicht nur hingenommen werden, sondern einer kritischen Revision unterliegen. Die kann entweder im Sinne einer Lebenshaltung der kritischen Selbstprüfung geschehen oder im wissenschaftlichen Milieu mit den Denkzeugen wie sie die Erkenntnistheorien bereithalten. Auch hier ist m. E. wieder die Neue Phänomenologie besonders fruchtbar. Komplexe Systeme und Probleme fordern einen anderen hermeneutischen Zugang, als der klassisch-analytische Ansatz der Naturwissenschaften. Her24
Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1976. 25 Heinz von Foerster: Mit den Augen des anderen, in: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke. Frankfurt a. M. 1993, S. 360. 26 Wilhelm Dilthey: Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir, in: ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Berlin 1894, S. 1314.
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mann Schmitz hat die unterschiedlichen hermeneutischen Ansätze durch Gegenüberstellung von konstruktiver und explikativer Vernunft grundlegend erkenntnistheoretisch abgehandelt. 27 Die oft als unwissenschaftlich geschmähte, aber im täglichen Leben unverzichtbare Intuition bekommt auf diese Weise eine theoretische Begründung. Es gibt daher keinen Grund, angesichts der Komplexitätsproblematik zu resignieren, sondern durchaus Möglichkeiten, sich auch in einer komplexen, nicht in allen Bereichen berechenbaren und vorhersehbaren Welt zu orientieren, sowohl im täglichen Leben, wie auch in der wissenschaftlichen Tätigkeit. 28 In komplexen Situationen/Problemstellungen gilt es, die Bedeutung des Eindrucks zum Verständnis von Situationen gegenüber einem analytischen Erklärungsansatz zu rehabilitieren. Will man nämlich möglichst viel vom Gesamtbild verstehen, muss man vom Eindruck ausgehen. Erst vom Eindruck kann man zu den Einzelheiten herabsteigen. In der Medizin bedeutet dies, dem »ersten Eindruck« zu folgen und von diesem ausgehend genauere, analysierende Betrachtungen vorzunehmen, die entweder den Eindruck präzisieren, oder ihn korrigieren. Dieses Prinzip wird übrigens von den meisten Menschen instinktiv im Umgang mit Gefahrensituationen befolgt. Ein Versuch, ausgehend von den Einzelheiten das Gesamtbild zu konstruieren, muss scheitern, da sich in der Situation immer mehr verbirgt, als in der Beschreibung von Einzelheiten beschreibbar ist (z. B. Atmosphären) und die Interaktion von Einzelheiten neue Qualitäten entstehen lässt (Emergenz, Nichttrivialität), die sich möglicherweise als die entscheidenden herausstellen. Ent27
Hermann Schmitz: Grundlagen, Bonn 1994, S. 215 ff. und Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie (Höhlengänge), Berlin 1997, S. 185 ff. 28 Literaturauswahl: Jack Cohen/Ian Steward: Chaos und Anti-Chaos. Ein Ausblick auf die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts, München 1994; Hermann Haken: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Hamburg 1995; Klaus Mainzer: Thinking in Complexity, Berlin/Heidelberg/New York 1996; Nassim Nicholas Taleb: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (Antifragilität). München 2014.
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sprechend dem bekannten Aperçu ist das Ganze eben mehr, als nur die Summe seiner Teile. Der Umgang mit Eindrücken muss nun keineswegs beliebig oder zufällig sein, er sollte und kann geschult werden, entweder in der differenzierten Entwicklung von Lebenstechniken (»Lebenserfahrung«) oder im professionellen Umfeld durch theoriegestützte Übungen. (Nähere Ausführungen z. B. bei Hermann Schmitz 29) 9.
Irritation erzeugt Stabilität
Besonders intensiv hat sich Nassim Nicholas Taleb damit auseinandergesetzt, welche Möglichkeiten bestehen, sich in einer grundsätzlich nicht berechenbaren Welt sinnvoll zu verhalten und Katastrophen möglichst aus dem Weg zu gehen. In seinem lesenswerten Buch »Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen« 30 entwickelt er zum Verständnis komplexer Systeme den Begriff der Antifragilität. Das Gegenteil von Fragilität ist nach seiner Auffassung nicht, wie üblicherweise angenommen, Stabilität, sondern Antifragilität, d. h. die Eigenschaft einer Sache oder eines Systems, auf ständige Irritation von außen angewiesen zu sein, um weiter existieren zu können. Ohne ständige Irritationen können antifragile Systeme nicht überleben. Antifragilität ist daher deutlich von Resilienz oder Robustheit, die Widerstandsfähigkeit ausdrücken, zu unterscheiden und Taleb zeigt uns, dass Antifragiles häufiger anzutreffen ist, als man gemeinhin vermutet. Wenn man – in bester Absicht – versucht, antifragile Systeme durch Schutz vor Störungen zu stabilisieren, führt dies zu ihrem Untergang. Antifragiles liebt Unbeständigkeit, es profitiert von Unsicherheit, Unordnung und Unbekanntem, kurz »Chaos«. Im Unterschied zum Fragilen 29
Hermann Schmitz, Höhlengänge, S. 119 ff.; Hermann Schmitz: Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg/München 2015, S. 209 ff. 30 Taleb, Antifragilität, 2014.
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braucht es zu seinem Schutz keine Stabilität. Natürlich dürfen aber die Stressoren das antifragile System auch nicht überfordern: »Wind löscht eine Kerzenflamme, offenes Feuer regt er an.« 31 Dass das Antifragile übersehen wird, rührt laut Taleb nicht zuletzt daher, dass durch retrospektive Analysen von Ereignisabläufen der Anschein von Linearität erzeugt wird, in dem erklärt wird, warum dieses oder jenes eben genau so hatte kommen müssen. Dies nährt die Illusion von stabilem, berechenbarem Verhalten auch dort, wo eher antifragile Bedingungen herrschen. Daher lautet einer seiner vielen, mit praktischen Beispielen untermauerten Hinweise, wie man sich möglichst erfolgreich in unserer Welt, die reich an unerwarteten Ereignissen ist, verhalten kann, sich nicht so sehr mit der sowieso prinzipiell unvorhersehbaren Zukunft zu beschäftigen, sondern zwischen stabilisierenden, fragilisierenden und antifragilen Situationen zu unterscheiden. Fragilisierende Faktoren sollen vermieden oder durch stabilisierende Maßnahmen beseitigt werden, Antifragiles nicht durch Stabilisierungsversuche gestört, sondern eher erhalten oder durch Unterstützung von Irritation und Unordnung (»Kreativität«?) gefördert werden. Hier gibt es viele Bezüge zur Komplexitäts- und Systemtheorie. In vielen komplexen/unübersichtlichen Situationen erweist sich die »via negativa« als hilfreich. Dies bedeutet, Handeln durch Nichthandeln zu ersetzen, so könne man sicher seine Gesundheit zuverlässiger fördern, indem man nicht raucht oder nicht zu viele freie Kohlehydrate (»Zucker«) zu sich nimmt, als den vielfältigen, zum Teil widersprüchlichen und sich immer wieder wandelnden Ratschlägen zur Gesundheitsförderung zu folgen. Das Unterlassen bekannter fragilisierender/schädlicher Maßnahmen ist oft viel wirksamer, als das in bester Absicht unternommene aktive Eingreifen in komplexe Abläufe.
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Taleb, Antifragilität, S. 21.
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10. Kann man daraus etwas für die Praxis lernen? Die Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen aus der System- und Komplexitätstheorie ist schwierig, da – wie sich aus der vorangegangenen Darstellung ergibt – komplexe Situationen und Systeme definitionsgemäß nicht auf »Wenn-Dann«-Regeln heruntergebrochen werden können, so wie das für komplizierte Mechanismen möglich ist, die auf solchen Regeln aufgebaut sind. Praktische Konsequenzen können sich also »nur« auf Herangehensweisen, auf unsere Denk- und Handlungsalgorithmen und Organisationsstrukturen beziehen. Dies ist allerdings schon eine ganze Menge. Denk- und Handlungsmuster und Organisationsstrukturen haben zwar einen allgemeinen Charakter, bestimmen aber – meist unbemerkt – unsere täglichen Entscheidungen und Problemlösungsmuster. Eine auf der Grundlage der Systemund Komplexitätstheorie vorgenommene kritische Reflexion und ggf. Veränderung dieser Grundmuster kann daher machtvolle praktische Konsequenzen haben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige Folgerungen aufgeführt. Für wissenschaftliche Fragestellungen: • Unterscheide komplizierte von komplexen Fragestellungen und passe die Untersuchungsstrategie entsprechend an. Bei komplizierten Fragestellungen, Systemen oder Systemteilen ist eine detaillierte Analyse von Einzelfaktoren möglich und sinnvoll, bei komplexen kann das Ziel lediglich die Identifizierung von Rahmenbedingungen sein, innerhalb derer sich Entwicklungen und Reaktionen ereignen und über die nur statistische Aussagen gemacht werden können (Untersuchungsansatz nach dem Modell der trivialen oder nichttrivialen Maschine). • Prüfe, ob ein kybernetisch-semiotischer Untersuchungsansatz oder eine Analyse objektiver physikalisch-chemischer Ausgangsbedingungen oder aber eine Kombination beider angemessen ist.
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Für das tägliche Leben und seine Entscheidungssituationen: • Realisiere die Komplexität der Lebenssituationen und ihrer dadurch prinzipiell eingeschränkten Prognostizierbarkeit. Entwickle eine Haltung der Offenheit. • Schule das Vermögen der intuitiven Einfühlung in das »Innere« komplexer Systeme/Situationen durch reflektiertes Umgehen mit »Eindrücken«. • Unterscheide komplexe und komplizierte Situationen und vermeide lineare Analyse- und Lösungsansätze für komplexe Situationen und Fragestellungen. • Reflektiere, ob gewünschte Stabilisierungen oder Veränderungen eher durch Abschirmung von Irritationen erreicht werden können, oder ob ein antifragiles System vorliegt, dessen Selbstorganisation auf irritierende Reize/Aufgaben angewiesen ist (z. B. bei der Aufrechterhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der eigenen Leistungsfähigkeit von anderen Individuen, Arbeitsgruppen oder Institutionen). • Vertraue auf die Selbstorganisationsfähigkeit komplexer Systeme (z. B. Personen, Gruppen, Familien) und reflektiere, ob geplante Maßnahmen diese eher behindern oder fördern. (Manchmal organisieren sich Systeme aber auch auf einem unerwünschten oder pathologischen Niveau und ihre Selbstorganisation sollte besser gestört werden). • Prüfe, ob zum Verständnis und zur Lösung von Problemen oder zum Erreichen bestimmter Ziele ein partikularer oder eher ein systemischer Betrachtungs- oder Interventionsansatz sinnvoll ist. • Überprüfe, ob Störungen und unerwünschten Entwicklungen Störungen in der hierarchischen Systemstruktur und dem Informations- und Zeichenaustausch zwischen den Systemebenen zugrunde liegen (s. auch den Beitrag von Heinz Becker in diesem Band). • Handle in Entscheidungssituationen nach Möglichkeit so, dass danach Deine Möglichkeiten zur Entscheidungsfreiheit und Selbstorganisation größer sind, als zuvor.
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Stabilität und Irritation aus systemischer Sicht
• In unübersichtlichen, komplexen Situationen kann – systemisch gut begründet (»via negativa«) – Nichthandeln die beste Handlungsempfehlung sein. Literatur Bateson, Gregory: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1992. Burger, Walter: Macht und Ohnmacht in der Arzt-Patienten-Begegnung, in: Wendel, Hans Jürgen/Kluck, Steffen (Hrsg.): Zur Legitimierbarkeit von Macht. Freiburg/München 2008, S. 151–176. Burger, Walter: Die neue Phänomenologie in der Kinder- und Jugenddiabetologie, in: Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Freiburg/München 2013, S. 73–99. Cohen, Jack/Steward, Ian: Chaos und Anti-Chaos. Ein Ausblick auf die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts. München 1994. Einstein, Albert: Mein Weltbild. Frankfurt a. M. 1991. Foerster, Heinz von: Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, in: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M. 1993. Foerster, Heinz von: Mit den Augen des anderen, in: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt a. M. 1993. Haken, Hermann: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Hamburg 1995. Kriz, Jürgen: Chaos und Struktur. Systemtheorie, Band 1. München 1992. Kühn, Dieter: N. Berlin 1973. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M. 1976. Lessing, Karl Theodor Richard: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1991, Nachdruck u. a. München 1983. Lewin, Roger: Die Komplexitätstheorie. Wissenschaft nach der Chaosforschung. München 1996. Mainzer, Klaus: Thinking in Complexity. Berlin/Heidelberg/New York 1996. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 2000. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994. Schmitz, Hermann: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Berlin 1997. Schmitz, Hermann: Freiheit. Freiburg/München 2007. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/ München 2009. Schmitz, Hermann: Jenseits des Naturalismus. Freiburg/München 2010. Schmitz, Hermann: Der Leib. Berlin/Boston 2011.
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Walter Burger
Schmitz, Hermann: Gibt es die Welt? Freiburg/München 2014. Schmitz, Hermann: Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg/München 2015. Taleb, Nassim Nicholas: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München 2014. Uexküll, Thure von/Wesiak, Wolfgang: Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. München/Wien/Baltimore 1988.
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Robert Josef Kozljanič unter Mitarbeit von Inga Haverkampf und Rudolf Gaßenhuber
Von normwidrigen Irritationen zu vernünftigen Improvisationen. Plädoyer für eine situationsangemessene Lebenserfahrungsvernunft Abstract: Wenn mensch etwas nicht steuern kann, aber doch, gerade in höchst drängenden und irritierenden Krisen- und Übergangssituationen, Konzepte und Lösungen entwickeln muss (um nicht in dauerhafte Resignation und Depression abzustürzen), dann bleibt ihm nur eines übrig: zu improvisieren. Wie das aber trotzdem möglichst vernünftig geschehen kann: Das ist die Frage, der ich hier nachgehen werde. Meine These lautet, dass die persönliche Lebenserfahrungsvernunft dabei eine Schlüsselrolle spielt, gerade weil sie – im Gegensatz zur genormten unpersönlichen schulischen Vernunft (›Lehrbuch-Vernunft‹) – flexibler und lebensnäher ist und sich (schulisch nur begrenzt vermittelbare) Improvisations-Kompetenzen im Umgang mit tiefgreifend irritierenden Situationen aneignen konnte. Diese Kompetenzen lassen sich nur dadurch erwerben, dass mensch sich, immer und immer wieder, auf die in solchen Situationen auftretenden irritierenden, betroffen-machenden, irrationalen Momente einlässt, ohne sich in ihnen ganz zu verlieren. Es geht hier also darum zu lernen, sich emotional und kognitiv aus dem Konzept bringen zu lassen, um genau dadurch ein neues situationsangemessenes Konzept entwickeln zu können. Diese These wird anhand von Erfahrungsbeispielen und im Rahmen lebensphilosophischer und neophänomenologischer Konzepte entfaltet und begründet. Keywords: normwidriges Ereignis, heterogene Lebenserfahrung, lebendige Vernünftigkeit, Anerkenntnis der Gefühlsvoten, situationsangemessenes Interagieren
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Robert Josef Kozljanič
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Die Lebenserfahrungsvernunft als selbst- und fremdberatende Vernünftigkeit
Zur Veranschaulichung sei ein fiktives Szenario vorangestellt: Ein guter Freund wurde von seiner Frau verlassen. Er kommt über den Schmerz der Trennung nicht hinweg. Schlaf- und Essstörungen setzen ihm zu. Eine beginnende Cardiophobie (Herzneurose) verschärft die Situation. Alte unaufgearbeitete Probleme holen ihn wieder ein. Seit der Trennung trinkt der Freund – inzwischen täglich und zu viel. Ich mache mir große Sorgen. Ich muss befürchten, dass sich der Freund dadurch seine persönliche und berufliche Zukunft verbaut. Das aber wäre in mehrfacher Hinsicht unvernünftig und destruktiv. Ich versuche, ihm als vertrautem Freund beizustehen und gut zuzureden. Oft fällt dann in solchen oder ähnlichen Situationen die Redewendung »Nimm doch Vernunft an!«, »Bitte, sei vernünftig!«, »Komm doch endlich wieder zur Vernunft!«. Vorausgesetzt, dass ich hierbei nicht nur besserwisserische und von außen herangetragene Ratschläge erteilen will, sondern offen und ehrlich versuche, zusammen mit dem aus seiner Mitte Geratenen ein tragfähiges, situationsangemessenes, vernünftiges Konzept zu entwickeln – was meine ich dann mit ›Vernunft‹ ? Die von mir hier zu entwickelnde und zu begründende These lautet: Ich meine dann eine situationsangemessene Lebenserfahrungsvernunft. Ich meine die Fähigkeit, gerade auch in normwidrigen und irritierenden Situationen vernünftige Lösungen improvisieren und entwickeln zu können. Eine Fähigkeit, die sich m. E. weder auf einer Schule noch Hochschule erlernen lässt, sondern nur dadurch, dass mensch sich, immer und immer wieder, auf die in solchen Situationen auftretenden irritierenden, betroffen-machenden, irrationalen Momente einlässt, ohne sich in ihnen ganz zu verlieren. Etwas widersprüchlich formuliert, geht es hier darum, die Fassung verlieren zu können, ohne aber restlos fassungslos zu werden. Weniger widersprüchlich formuliert, geht es darum, sich emotional und kognitiv aus dem Konzept bringen zu lassen, um danach miteinander ein neues Konzept entwickeln zu können. 86 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Von normwidrigen Irritationen zu vernünftigen Improvisationen
Grundzüge und Hauptaspekte dieser Lebenserfahrungsvernunft habe ich in einigen Aufsätzen entfaltet und begründet. 1 Derjenige, der bisher die umfassendste und detaillierteste Analyse und Explikation der Lebenserfahrungsvernunft – oder, wie er sagt, »lebendigen Vernünftigkeit« – vorgelegt hat, ist Ulrich Pothast. Der letztlich entscheidende Aspekt der »lebendigen Vernünftigkeit« ist laut Pothast die Fähigkeit, Emotionen im Vernehmens- und Vernunftprozess zulassen zu können, solcherart, dass das eigene, leibseelisch-spürende Für-Angemessen-Befinden eine ausschlaggebende Rolle spielen kann: »Lebendige Vernünftigkeit, so viel läßt sich als ein Minimum (und nur als ein solches) sagen, ist Vernünftigkeit lebender Personen mit wesentlicher Beteiligung ihres spürenden Organismus als Orientierungs- und Auskunftsinstanz.« 2 Wie Pothast damit andeutet, fungiert die Lebenserfahrungsvernunft nicht nur als eine gefühlsgestützte Vernehmensund Orientierungsinstanz, sondern auch als Auskunftsinstanz. Eng mit den erfahrungs- und erkenntnisgenerierenden Anteilen sind die beratenden Anteile verbunden. Lebendige Vernünftigkeit ist in diesem Sinne immer auch Lebensberatungsvernunft. Auf die beratenden Momente werde ich mich nun besonders konzentrieren. Wie ersichtlich, meint die von mir anvisierte Lebenserfahrungsvernunft etwas Anderes als das, was Kant – und mit ihm die nachfolgenden Generationen an Schulphilosophen – unter »reiner« oder »praktischer Vernunft« fassten. Ich meine nicht das 1
Vor allem in: Robert Josef Kozljanič: Lebendige Vernunft als Lebenserfahrungsvernunft. Auseinandersetzung mit Ludwig Klages und Philipp Lersch, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 8, 2016–2017, S. 171–187; vgl. aber auch: ders.: Lebendige und wissenschaftliche Vernunft. Zur dramatisch-freiheitlichen Philosophie von Eberhard Simons, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 6, 2012– 2013, S. 19–42; und: ders.: Sokratisches Gespräch, Lebenserfahrung und lebendige Vernunft (unveröffentlichtes Manuskript). 2 Ulrich Pothast: Lebendige Vernünftigkeit. Zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts (Vernünftigkeit). Frankfurt a. M. 1998, S. 31. Diejenige, die auf die enorme Praxisrelevanz des Pothast’schen Begriffes (v. a. auf dem Gebiet der Geburts- und Hebammenkunde) hingewiesen hat, ist: Sabine Dörpinghaus: Dem Gespür auf der Spur. Eine leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe. Freiburg/München 2013.
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erkenntnistheoretische transzendentalphilosophische Vermögen, das der Schulphilosoph bemüht, um die rational-logischen »Bedingungen der Möglichkeit« von diesem oder jenem zu erörtern. Was ich meine, ist eher dies: eine selbst- wie fremdberatende Vernunft und Vernünftigkeit, die auch unter unvernünftigen Bedingungen in der Lage bleibt, zu vernünftigen Handlung(soption)en zu führen. Zu Handlung(soption)en, deren Vernünftigkeit nicht formallogisch, sondern nur inhaltlich-biographisch zu bestimmen ist. Ich meine damit auch ein menschliches (philanthropisches) Vermögen, einen vernünftig-beratenden Dialog führen zu können. Einen Dialog, in dem miteinander und unter Hinzuziehung der je eigenen »Spürensvoten« 3 abgewogen wird, was in dieser konkreten und einmaligen Lebenssituation ›am besten‹ – d. h. am lebensangemessensten – zu tun sei. Für solch einen vernünftig-beratenden Dialog benötigt mensch v. a.: Einfühlungs- und Distanzierungsvermögen, ›gesunden Menschenverstand‹ und die Fähigkeit gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen, biographisches Einzelwissen und Vertrautheit mit Menschlich-Allzumenschlichem, wertschätzendmitfühlenden Umgangston und die Fähigkeit, Werte in Frage stellen zu können, offene Ohren für Vorsprachlich-Erspürtes und ein angemessenes Gesprächs- bzw. Verbalisierungsvermögen. Da aber keine_r zugleich empathisch und distanziert, konventionell und unkonventionell, einzel- und allgemeinfokussiert, wertschätzend und wert-in-frage-stellend, vorsprachlich-offen und sprachlichgebunden sein kann, benötigen wir eine weitere Kompetenz: die, zwischen diesen Einstellungen im passenden Moment spontan wechseln zu können. 2.
Lebenskünstlerisches Pendeln zwischen Emanzipation und Regression (Schmitz)
Hermann Schmitz hat solch eine Kompetenz einmal – m. E. sehr treffend – unter dem Stichwort »Lebenskunst« thematisiert. Le3
Vgl. z. B. Pothast, Vernünftigkeit, S. 191 u. 244.
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benskunst als die Kunst zwischen den Polen »personaler Emanzipation« und »personaler Regression« pendeln zu können. Denn die »personale Emanzipation« – »die Abstand nimmt, Bedeutungen neutralisiert und die Grenze zwischen Eigenem und Fremden setzt« – braucht einen Gegenspieler. Dieser Gegenspieler ist »die für Personsein ebenso wichtige personale Regression mit Gestalten wie Ergriffenheit von Gefühlen, Gepacktsein und Faszination, Ausgelassenheit, Jähzorn, Schwermut, Wollust, Angst, Schmerz, Verstimmungen und bedrängenden leiblichen Regungen aller Art, Lachen und Weinen usw. bis hin zur Fassungslosigkeit. Diese personale Regression kann man nicht steuern.« 4 Und damit bin ich bei meinem Thema. Denn, wenn mensch etwas nicht steuern und planen kann, aber doch, gerade in Krisenund Übergangssituationen, Konzepte und Lösungen entwickeln muss (wenn er nicht einfach nur zuschauen bzw. wegschauen will), dann bleibt ihm nur eines übrig: zu improvisieren. Wie das aber trotzdem möglichst vernünftig geschehen kann: Das ist die Frage, der ich hier ein Stück weit nachgehen werde. Obwohl diese Frage im Rahmen von Wissenschaft und Philosophie kaum je gestellt wird (und auch kaum sinnvoll gestellt werden kann, denn Wissenschaft zielt auf das Planbare, Philosophie auf das Begriffliche ab, doch sowohl das Planbare wie auch das Begriffliche reichen nicht in die Schicht der personalen Regression, sondern prallen – methodisch wie inhaltlich – daran ab) ist sie doch fundamental. Nicht nur als Frage nach der Lebenskunst, sondern, viel gravierender noch, als die Frage, wie wir in den entscheidenden Krisenund Übergangssituationen unseres persönlichen, gemeinschaftlichen wie gesellschaftlichen Lebens möglichst vernünftige Entscheidungen treffen können. Wie wir also in Situationen – in denen jede genormte Rationalität versagen muss, weil sie für das Neue, Unerwartete, Normwidrige, mit dem sie konfrontiert wird, eben keine Normen und Kategorien hat, zumindest keine angemessenen – trotzdem einigermaßen vernünftig improvisieren können. 4
Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung (Situationen). Freiburg/München 2005, S. 94.
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Hierbei ist zunächst festzuhalten: 1. Vernünftiges Improvisieren ereignet sich im Schwingungs- und Spannungsraum zwischen den Polen personaler Emanzipation und personaler Regression. 2. Im Zustand personaler Emanzipation können wir (mehr oder weniger gut) steuern, in dem der personalen Regression nicht. 3. Da aber die Krisen- und Übergangssituation ihren Problemund Lösungsschwerpunkt in der personalen Regression hat, ist klar, dass die Vernunft – auch die Lebenserfahrungsvernunft – hier an Grenzen stößt und scheitert. 3.
Verzweifelndes Scheitern und kreatives Werden (Jaspers)
Nun hat Karl Jaspers, überzeugend, wie ich meine, dargelegt, dass es zwei Arten von Scheitern-in-Grenzsituationen gibt. »Auf Grenzsituationen […] reagieren wir entweder durch Verschleierung, oder wenn wir sie wirklich erfassen, durch Verzweiflung und durch Wiederherstellung: wir werden wir selbst in einer Verwandlung unseres Seinsbewußtseins.« 5 In seinem Hauptwerk »Philosophie« heißt es noch deutlicher: »Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten.« 6 Obwohl also unsere Vernunft in den entscheidenden Krisenund Übergangssituationen unseres Lebens scheitert, haben wir doch (mindestens) zwei Hauptoptionen. Die eine lautet: ›Wegschauen‹, die andere: ›Hinschauen‹. Es gibt viele Arten von ›Wegschauen‹ : Verdrängen, Überspielen, Flucht-nach-vorn, Schönreden, Rationalisieren etc. Immer aber wird hierbei versucht, 5
Karl Jaspers: Einführung in die Philosophie (Einführung). München 1953, S. 20. Zu diesem scheiternden und sich-verwandelnden Selbst-Werden hat Kick Entscheidendes gesagt; vgl. Hermes Andreas Kick: Identität – Bildung und Bewährung in der Grenzsituation, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 8, 2016– 2017, S. 207–218. 6 Karl Jaspers: Philosophie, Band 2: Existenzerhellung. München 1973, S. 204.
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dem Scheitern soweit als immer möglich auszuweichen und/oder es zu verschleiern. Es gibt auch viele Arten von ›Hinschauen‹ : Sich-Betreffenlassen, Die-Krise-Akzeptieren, Das-Leid-Aushalten, In-der-Veränderung-Mitgehen, Sich-bewusst-Ausliefern etc. Immer aber geht es hier auch um das persönliche Scheitern, das scheiternde Sich-Verwandeln. »Verzweiflung«, darauf hat besonders Hermes Andreas Kick hingewiesen, wird hier »als kreative Herausforderung« angenommen. 7 Und, so Jaspers, »[d]ie Grenzsituationen […] zeigen mir das Scheitern.« Doch zugleich bergen sie auch »den Grundantrieb, im Scheitern den Weg zum Sein zu gewinnen.« 8 Wie die Wendung »im Scheitern den Weg zum Sein zu gewinnen« anklingen lässt, hat Jaspers das Scheitern-in-Grenzsituationen stark in Richtung auf ein »scheiterndes Transzendieren« gedeutet – und damit metaphysisch ein wenig überfrachtet. So sagt er etwa: »In den Grenzsituationen zeigt sich entweder das Nichts, oder es wird fühlbar, was trotz und über allem verschwindenden Weltsein eigentlich ist. Selbst die Verzweiflung wird durch ihre Tatsächlichkeit, daß sie in der Welt möglich ist, ein Zeiger über die Welt hinaus.« 9 Damit mutet er den Grenzsituationen aber zu viel und zu wenig zu. Zu viel: weil das vernunftmäßig nicht fassbare grenzsituative Geschehen zunächst und v. a. ein lebensweltimmanentes Geschehen ist; es kann zu einem Transzendieren führen, muss aber nicht. Zu wenig: weil wir im grenzsituativen Scheitern nicht dem Nichts, sondern unserem werdend-vergehendneuwerdenden Leben in seinen tiefsten und rätselhaftesten Auswirkungen begegnen.
7
Hermes Andreas Kick (Hrsg.): Verzweiflung als kreative Herausforderung. Münster 2008. Vgl. hierzu auch meinen Beitrag: Robert Josef Kozljanič: Wie Phönix aus der Asche: An Grenzen scheitern und neu werden. Über Krisenkompetenz und unstetige Formen der Erlebnispädagogik, in: erleben & lernen (1), 2014, S. 11–15. 8 Jaspers, Einführung, S. 23. 9 Jaspers, Einführung, S. 24.
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4.
Die Begegnung als ›ekstatisches‹ Ereignis (Guardini und Hasse)
Damit ist das Stichwort gefallen: wir begegnen hier einem sehr lebendigen und unausleuchtbaren ›Etwas‹. Und das scheint m. E. bei jeder Krisen-und Übergangssituation das Entscheidende zu sein: dass hier eine Begegnung möglich ist; eine Begegnung mit leibseelisch und lebensweltlich tief gründenden Phänomenen. Und genau in dieser Begegnung liegt das Potenzial, aus dem die Lebenserfahrungsvernunft schöpfen kann. Nicht dass sie diese Begegnung planen oder ganz durchleuchten könnte. Aber sie kann sich auf diese Begegnung einlassen, tiefer in sie hineingehen, in einen leiblichen und verbalen Dialog treten. Damit wird die Begegnung zu einer »gemeinsamen Situation«, 10 zu einem ›gemeinsamen Dialog‹, zu einer, sagen wir besser, gemeinsamen Begegnungs- und Gesprächssituation. Es kommt zu gemeinsam geteiltem und verbalisiertem Erleben. Und aus diesem gemeinsamen Erleben kann die Lebenserfahrungsvernunft schöpfen. Aus ihm kann sie – situationsangemessen und improvisativ – vernünftige Lösungen entwickeln. Das ist der entscheidende Punkt. Jürgen Hasse hat diesen Punkt in seinem hier abgedruckten Beitrag »Irritation und Natur-Begegnung« besonders differenziert dargestellt. Er hat – unter Verweis auf den Begriff der Begegnung bei Romano Guardini (aber ohne dessen metaphysisch-christliche Implikationen zu übernehmen) – die unersetzbare Funktion der Begegnung hervorgehoben. So zeige Guardini, am »Beispiel der Begegnung mit einem Baum«, »dass auch Dinge (und nicht erst Menschen) eine Begegnung vermitteln bzw. initiieren können. Neben dem Sich-Öffnen eines Menschen gegenüber einem Erscheinenden komme es entscheidend auf dessen Aus-sich-Heraustreten an.« Begegnung betreffe damit nicht allein den Menschen, »der um des Entgegentretenden willen aus sich selbst hinaustritt, sondern«, so Guardini, »auch den Gegenstand, dessen Wesen aus 10
Zum Begriff der »gemeinsamen Situation« vgl. z. B.: Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand (Gegenstand). Bonn 21995, S. 74 ff.; und: Schmitz, Situationen, S. 24–27 u. 239 f.
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der Verhülltheit in ihm selbst heraustritt, auf den Menschen zu und ihm offen wird.« 11 Begegnung setze sowohl das ›ekstatische‹ Aus-sich-Heraustreten des Menschen als auch das ›ekstatische‹ Heraustreten der Wesen und Dinge voraus. Nicht ohne Grund spricht auch Gernot Böhme in ähnlichem Zusammenhang von den »Ekstasen des Dings«. 12 In dem Vortrag »Zur politischen Relevanz der Lebensphilosophie« hat Hasse präzisiert: »Deutlich wird damit ein Verständnis des Erscheinens, wonach noch die Dinge (und Halbdinge) sich in einer Weise ›äußern‹ können, die vom wahrnehmenden Menschen im Sinne eines dialogischen Ausdrucksverstehens als etwas Lebendiges aufgefasst werden [kann …]. Guardini sieht auch die Wandlungsfähigkeit der Dinge. Daher ›äußern‹ sie sich – in diesem Wandel – und geben sich in situationsspezifischer Weise zu verstehen. […]. Gerade weil eine Begegnung nicht geplant werden kann, liegt in ihr der Keim der Problemwahrnehmung. Aus dem Ereignis-Charakter der Begegnung folgt, dass ihr Verlauf frei und ihr Gegenstand offen ist und durch kein Kalkül eines Systems eingefangen werden kann.« 13 5.
Begegnung als unstetige Erlebnis- und Interaktionsform (Bollnow, Uzarewicz)
Der Ereignis-Charakter der Begegnung macht dieselbe zu einer heterogenen Erlebnisform, mit Otto Friedrich Bollnow gesagt, 11
Romano Guardini: Die Begegnung, in: Romano Guardini und Otto Friedrich Bollnow: Begegnung und Bildung. Würzburg 1956, S. 9–24, hier 23. 12 Vgl. hierzu: Gernot Böhme: Atmosphäre. Frankfurt a. M.1995, S. 32 f. 13 Jürgen Hasse: Zur politischen Relevanz der Lebensphilosophie. Vortragsmanuskript. Der Vortrag wird im 9. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2018 publiziert werden. Zur Psychologie und Philosophie des Ausdrucksverstehens vgl.: Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Paderborn 1989, v. a. den Abschnitt »Ausdrucksverständnis als leibliche Kommunikation« S. 175–199; ebenso: Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III.5: Die Wahrnehmung. Bonn 1978, § 241 f., S. 75 ff. Ich habe die Ausdruckstheorie von Ludwig Klages und Hermann Schmitz dargestellt in: Robert Josef Kozljanič: Lebensphilosophie – Eine Einführung. Stuttgart 2004, S. 165–178 u. 230–233.
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zu einer »unstetigen Form«. Was Bollnow bereits 1959 für die Pädagogik forderte, gilt ebenso für andere Disziplinen, etwa Psychotherapie, Medizin und nicht zuletzt für die Philosophie: Dass sie sich nicht nur mit den stetigen Formen menschlichen Werdens und Erlebens, sondern auch mit den unstetigen Formen auseinandersetzen sollten. Also nicht nur mit dem, was sich an Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen – stetig und normiert – analysieren und explizieren, therapieren und verbessern lässt. Sondern auch mit dem, was lebensgeschichtlich und geschichtlich hochrelevant, aber unstetig, d. h. nicht steiger-, normier-, kontrollier- oder machbar ist: Krise, Erweckung, Appell, Beratung – und eben auch Begegnung. 14 Es fällt auf, dass diese unstetigen Formen in hohem Maße situations- und persongebunden, subjektiv und (mit) menschlich sind; dass sie sowohl Lebenserfahrung, Empathie als auch Intuition voraussetzen; und dass sie sich nicht (im bürokratischen Sinn) ›verschulen‹ lassen. Zugleich hat Bollnow drei entscheidende Punkte einer Pädagogik der unstetigen Formen hervorgehoben. Erstens: die Krise hat hierbei eine Schlüsselstellung. 15 Zweitens: »Wagnis und Scheitern« gehören dazu. 16 Drittens: jede echte »Krise bleibt Schicksal. Der Erzieher kann sie nicht herbeiführen oder sie beherrschen, […] er kann zu helfen versuchen, die Krise in ihrem Sinn klar zu begreifen und bis ans Ende durchzuhalten. Und oft wird ein verständnisvolles Nahesein, auch ohne daß er irgendwas Besonderes tut, das Beste sein, was er zu leisten vermag.« 17 Auf dem Gebiet der Pflege und Pflegewissenschaft haben sich Charlotte und Michael Uzarewicz mit unstetigen Erlebnis- und Interaktionsformen auseinandergesetzt. Sie plädieren diesbezüglich für ein »situationsbezogene[s] subjektivierende[s] Arbeitshandeln als eine[r] mögliche[n] Alternative«. Dieses »Arbeitshandeln« »besteht aus folgenden Parametern: 1. Interaktiv-dialogisches Vor14
Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung (Erziehung), Stuttgart 51977, S. 16–20. 15 Bollnow, Erziehung, S. 24–41. 16 Bollnow, Erziehung, S. 132–151. 17 Bollnow, Erziehung, S. 37 f.
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gehen: Die konkrete Arbeit ergibt sich nicht aus detaillierten Plänen und Vorgaben […]. Die jeweilige Situation und die Interaktion mit dem zu Pflegenden bilden die Basis für eine Rahmenplanung, die als Orientierungsrahmen verstanden werden soll. […] 2. Sinnliche Wahrnehmung als Grundlage der Arbeitsorientierung [… Die Sinne sind] vor allem dort relevant und unersetzlich, wo objektive Messverfahren nichts ausrichten: Gerüche, Atmosphären, (Gesichts-)Ausdrücke. […] 3. Erfahrungswissen, assoziatives Denken, Gespräch, […] Empfindungswissen […]. 4. Empathische Beziehung zu den Pflegebedürftigen: […] Damit ist keine emotionale Verstrickung, sondern ein Einfühlen und Nachempfinden […] gemeint«. 18 6.
Vorläufige Zusammenfassung
Mit Begriff und Phänomen der Begegnung als einer unstetigen Erlebnis- und Interaktionsform komme ich meiner Frage nach einer lebendig-improvisativen Vernunft ein wenig näher. Ich halte deshalb ein paar wichtige Punkte fest und schreibe obige Zusammenfassung fort: 1. Vernünftiges Improvisieren ereignet sich im Schwingungs- und Spannungsraum zwischen den Polen personaler Emanzipation und personaler Regression. 2. Im Zustand personaler Emanzipation können wir (mehr oder weniger gut) steuern, in dem der personalen Regression nicht. 3. Da aber die Krisen- und Übergangssituation ihren Problem- und Lösungsschwerpunkt in der personalen Regression hat, ist klar, dass die Vernunft – auch die Lebenserfahrungsvernunft – hier an Grenzen stößt und scheitert. 4. Wenn sich in diesem Scheitern eine Begegnung ereignet, dann kommt es zu dialogischen Erscheinens- und Aus-sich-Heraustretens-Prozessen. 5. Erst in diesen und durch diese dialogischen Erscheinens- und Aus-sich-Heraustretens-Pro-
18
Charlotte Uzarewicz/Michael Uzarewicz: Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege (Weite). Stuttgart 2005, S. 63 f.
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zesse erhält die Vernunft – via leibliche Kommunikation, Ausdrucksverstehen und Verbalisierung – die Möglichkeit, situationsangemessene Optionen zu sehen, zu explizieren und abzuwägen. 6. So dass es schließlich zu improvisiert-vernünftigen Urteilen und Entschlüssen kommen kann, die sich, obwohl sie auf kein bewährtes Regelwerk zurückgreifen können, doch in der Situation bewähren. 7.
Inga Haverkampf: Beispiele und Folgerungen aus der Physiotherapie
Beispiel 1: Ich war damals gerade ein Jahr berufstätig. Da kam eine ca. 75-jährige Patientin mit massiven HWS-Beschwerden (Halswirbelsäulen-Beschwerden) zu mir. Bei der Testung der Rotation zeigte sie ein Bewegungsausmaß von höchstens 15° zu jeder Seite. Die Flexion und Extension (Biegung und Streckung) der HWS konnte sie nur in den Kopfgelenken C0/C1 und C1/C2 durchführen, die untere HWS zeigte keine Bewegung. Die Schulter-Nacken-Muskulatur war buchstäblich ›steinhart‹. Um ihr etwas Linderung zu verschaffen, versuchte ich die Muskulatur zu lockern. Ohne Erfolg. Außerdem gab ich ihr zwei Übungen zum Mobilisieren der HWS und der Schulter mit. Beim nächsten Termin kam sie ohne Verbesserung und ohne, dass sie ihre ›Hausaufgaben‹ gemacht hatte. Als Berufsanfängerin war ich ratlos und behandelte sie wieder auf die gleiche Art. Wieder ohne Erfolg. Meine Ratlosigkeit wuchs. Beim vierten Termin, als ich mich, wieder vergeblich und nun schon resignierend, gerade an ihrem Nacken abmühte, fragte ich sie spontan, was sie in diesem betongleichen Nacken verberge. Die Patientin antwortete mir, dass im letzten Jahr fünf nahestehende Angehörige kurz nacheinander verstorben wären. Wir vertieften dieses sehr persönliche Gespräch, während ich sie weiter mobilisierte. Es ging etwas voran mit der Beweglichkeit. Als ich erfuhr, dass sie keine Trauerbegleitung in Anspruch genommen hatte, kam mir ein Gedanke und ich gab ihr eine neue ›Hausaufgabe‹ : Sie solle doch mit ihrem Pfarrer (sie war in der Kirchengemeinde sehr aktiv) darüber reden 96 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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und sich beraten lassen. Beim nächsten Termin kam sie mit leichterem Gang in die Praxis und hatte sowohl mit dem Pfarrer gesprochen, der ihr eine Trauerbegleitung vermittelt hatte, als auch meine Bewegungs-›Hausaufgaben‹ gemacht. Mit dem Folgerezept konnten wir die Muskulatur deutlich mobiler machen und auch die Bewegungsausmaße der HWS auf ca. 50° verbessern. Die Schmerzen gingen ebenfalls zurück. Beispiel 2: Viele Jahre später, berufserfahren, während meiner Zeit als Reha-Therapeutin, kam eine 48-jährige Patientin mit Fibromyalgie (›Muskelrheuma‹) zu mir. Sie hatte starke Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich rechts und deutliche Ausstrahlungen in den rechten Arm. Sie war ziemlich verzweifelt, da der Schmerz sie stark belastete und sie seit längerer Zeit nicht arbeitsfähig war. Intensive Behandlungen konnte sie nicht tolerieren, so dass ich sehr weich am Bindegewebe arbeitete. Ich hatte gerade den Eindruck gewonnen, dass ich nicht recht vorankomme, als ich, den Spannungen folgend, mehr intuitiv als bewusst gelenkt, zum Zwerchfell kam. Ich mobilisierte das Zwerchfell unter dem rechten Rippenbogen. Hier fand sich zu meiner Überraschung ein deutlicher Verspannungsbereich. Als ich daran arbeitete und das Zwerchfell detonisierte, sah mich die Patientin mit großen Augen an und erzählte mir von einem Urlaub am Mittelmeer. Dort sei sie vor ca. 5 Jahren in einem Leihauto eine immer kleiner werdende Passstraße hinaufgefahren. Als einer ängstlichen Autofahrerin sei ihr das bald zu viel geworden. Aus Angst wäre Panik geworden. Es hätte keine Wendemöglichkeit gegeben. Die Straße sei immer kleiner und ausgesetzter und ihre Atmung immer hektischer geworden (Hechelatmung). Wie sie aus dieser Situation wieder herausgekommen sei, konnte sie mir nicht sagen. Sie wusste es nicht mehr. Aber an den Tagen danach hätte sie einen ständig zunehmenden Schmerz unter dem rechten Rippenbogen gespürt. Als nach diesem traumatischen Ereignis der Alltagsstress wiedereingesetzt hätte, habe sie ihren ersten Fibromyalgieschub gehabt. Seitdem leide sie darunter. Von diesem, von mir aufgespürten Verspannungsbereich ausgehend, behandelte ich sie weich weiter und übte mit ihr zusätzlich verschiedene Atemtechniken, die das Zwerchfell in seiner 97 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Funktion unterstützten. Der Zustand der Patienten besserte sich deutlich. Die Fibromyalgie aber blieb. Ich habe im Laufe meines langen Berufslebens immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich emotionale Erlebnisse oder emotionale Spannungen an verschiedenen Körperregionen darstellen. Stress am Arbeitsplatz und mit Arbeitskollegen führt z. B. oft zu Verhärtungen im Schulter-Nacken-Bereich. In dem Moment, wo ich die dortigen Verspannungspunkte entdecke und bearbeite, kommen dann ganz oft die entsprechenden Bilder und Geschichten zum Vorschein. D. h. die Patient_innen erzählen mir dann – meist ohne Aufforderung –, was vorgefallen war und was sie bedrückt. Wir reden dann während der Behandlung einfach darüber. Mir ist nicht ganz klar, welche Rolle das DarüberReden hier spielt. Doch es hilft. Es stellt sich, wie gesagt, ganz oft von alleine ein. Ich forciere es jedenfalls nicht. Ich möchte auch nicht behaupten, dass in allen oder den meisten Muskelverhärtungen solche Erlebnisse ›schlummern‹. Vieles ist doch rein physiologisch bedingt. Und man sollte dann auch nichts hineininterpretieren. Doch bei den von mir erwähnten Fällen ist es eben, als ob diese Erlebnisse – manchmal auch Traumata – in den verhärteten Muskelregionen wie ›eingefroren‹ dort abgelagert wären. In dem Augenblick, in dem ich die Verhärtungen löse, lösen sich auch die Erlebnisse und kommen zum Vorschein. Dies freilich nicht immer. Denn manchmal – vielleicht weil die eingefrorenen Erlebnisse zu heftig sind, weil sie (noch) nicht zugelassen und bearbeitet werden können – werden die Verspannungen schlimmer. Auch in diesen Fällen bedarf es eines sehr individuellen und besonnenen Vorgehens. Fall für Fall muss ich genau hinschauen, hinspüren; muss entscheiden, wie, wo und wie intensiv manuell therapiert werden soll; und wie weiter verfahren werden soll. Empfehle ich einem Patienten, einer Patientin – parallel zur Physiotherapie – eine Psychotherapie? Wann schicke ich sie oder ihn zu welchem Arzt? Liegen die Probleme im Alltag des Patienten, der Patientin, und bedürfen einer alltäglichen Lösung? Welche Bewegungstipps und ›Hausaufgaben‹ sind dann die angemessenen? Usw. Ich bin keine Psychotherapeutin. Ich bin Physiotherapeutin und schätze meinen Beruf. Und doch stoße ich immer wieder – 98 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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in der direkten Arbeit am Körper – auf Psychisches. Immer wieder kann ich in meiner Arbeit die Erfahrung machen, dass sich Körper und Seele gar nicht auseinanderhalten lassen. Oder nur künstlich. D. h. ich müsste die Augen krampfhaft schließen, um all das nicht zu sehen. Oft steckt das Seelische im Körper, es hängt an gewissen Körperregionen und ist in diesem Sinne tatsächlich auch körperlich. Mittlerweile gibt es viel Literatur über diese KörperSeele-Zusammenhänge. Inwiefern diese Zusammenhänge im Rahmen der orthopädischen Schulmedizin zur Kenntnis genommen werden, entzieht sich meiner genaueren Kenntnis. Ich befürchte allerdings: noch viel zu wenig. In meiner Ausbildung habe ich darüber so gut wie nichts gelernt. Ein Ausbilder sagte zwar: Wundert Euch nicht, wenn während Eurer Behandlung die Patienten zu weinen beginnen. Doch das war’s. Auch denke ich mir, dass ich Vieles eben nur durch die praktische Arbeit am Menschen lernen konnte. Berufserfahrung ist in diesem Sinne unersetzbar. Und doch bleibt viel, was sich nicht standardisieren lässt. Z. B. wo und wie und wann sich ein emotional belastendes Erlebnis als muskuläre Verspannung zeigt, bleibt sehr individuell und kann meines Erachtens nur schwer standardisiert werden. Im Alltagsbetrieb wende ich die erlernten standardisierten Schemata natürlich an. Aber dort, wo der Patient nicht hineinpasst, frage ich in andere Richtungen weiter und experimentiere. Oft kommen wir dann besser voran. Dabei ist es nach meiner Erfahrung wichtig, sich von den erlernten Schemata und Konventionen ein Stück weit zu lösen. Auch und gerade, wenn man noch nicht weiß, wohin das führen wird. Man braucht eine gewisse Offenheit und ein Gespür; für sich, für die Situation, für diesen individuellen Menschen, den man gerade behandelt. Wenn meine behandelnde Hand die Haut des Patienten berührt, ist das zunächst ›äußerlich‹. In dem Moment, in dem aber zwischen uns eine Art Kontakt stattfindet, wird es ›innerlich‹. Oft geht der Kontakt mit einem Gespräch einher. Dann habe ich einen besseren Zugang zu den körperlichen Problemen, dann verstehe ist sie besser. Und dann sind auch die während der Behandlung aufsteigenden Intuitionen und Gedanken treffsicherer. Fasziniert hat mich die Erfahrung, von der der berühmte 99 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Osteopath Dr. Lawrence H. Jones berichtet. Denn sie zeigt, dass dann, wenn man mit seiner bisherigen Weisheit am Ende ist, etwas passieren kann. Man experimentiert und improvisiert unter einem enormen Druck. Man experimentiert als Fachmann. Und dann aber doch nicht als Fachmann. Denn für diesen neuen Fall gibt es ja noch gar kein Fach, noch gar keinen Fachmann. Man ist in solchen Situationen ganz auf sich zurückgeworfen. Das ganze Fachmanntum hilft hier nicht. Hier bin ich, ein Mensch mit viel fachlichem Wissen, das aber nicht greift. Dort ist der Patient mit einem enormen Leidensdruck, ein Mensch, der leidet und der von mir Hilfe erwartet. Und dann, wenn man Glück hat, passiert’s. Man findet die Lösung. Sie ›springt‹ unter großem Druck aus der Situation. Auf einmal passt’s. Eins fügt sich zum anderen. Diese Erfahrung kenne ich selbst. Bei Jones wird sie auf besonders drastische Weise greifbar: ›Mein Patient war ein gesunder, 39-jähriger Mann, der seit 4 Monaten unter extremen Rückenschmerzen litt. Ich hatte ihn schon über einen Monat behandelt, und alle meine Tricks erfolglos angewendet. Ich wusste nicht, was ich noch tun konnte. Er schlug vor, er könne vielleicht dann von der Behandlung profitieren, wenn er nur nachts schlafen könne. Er wache nachts nämlich ca. alle 15 Minuten auf, um eine angenehmere Position zu finden. An diesem Punkt der Behandlung war ich bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen und auch die unmöglichsten Dinge zu versuchen. Da […] versuchte ich mit ihm, eine angenehme Position zu finden. Ich dehnte ihn in verschiedene Richtungen und fragte, ob er mehr oder weniger Schmerzen empfinde. Es dauerte 20 Minuten, bevor ich halbwegs erfolgreich war. Inzwischen befand er sich in einer abenteuerlichen, grotesken Position, die so aussah, als belaste sie ihn stark, aber er war letztendlich fast vollständig schmerzfrei. […] Als ich von der Behandlung eines anderen Patienten zurückkam, ging es ihm immer noch gut und wir besprachen, wie er die Position im Bett wieder einnehmen könnte. Als er sich von der Behandlungsliege erhob, kam der Schmerz nicht zurück. Zum ersten Mal seit 4 Monaten konnte er aufrecht fast schmerzfrei stehen. […] Wir waren beide überaus erfreut, aber ich stand vor einem Rätsel. […] Seitdem habe ich mein Leben der Aufgabe gewidmet, diese Technik selbst an100 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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zuwenden und sie anderen Ärzten und Physiotherapeuten beizubringen.‹ 19 8.
Erster Exkurs: Aushalten und »Kneten« der Situation (Schmitz)
Ich habe bisher sechs verschiedene Punkte hervorgehoben, die beim lebenserfahrungs-vernünftigen Improvisieren wichtig sind. Diesen Punkten kann ich jetzt, nach den Beobachtungen Inga Haverkampfs, zwei weitere hinzufügen: 7. Wenn es so etwas wie einen ›professionellen Umgang mit dem Unerwarteten‹ überhaupt gibt, dann besteht die Professionalität hier nicht darin, schulisch Gelerntes und Standardisiertes anwenden zu können (so wichtig dies sonst auch ist); sie besteht auch nicht darin, seinen Fachhorizont ein wenig erweitern und modifizieren zu können; sondern die ›Professionalität‹ besteht v. a. darin, im rechten Moment aus den professionellen Routinen aussteigen und in ein »situationsbezogene[s] subjektivierende[s] Arbeitshandeln« 20 und Improvisieren einsteigen zu können. Diese Kompetenz, das zeigt mir meine eigene Erfahrung, scheint aber den Nur-Professionellen oft zu mangeln. Dies deshalb, weil es eben nicht jedermanns und jederfraus Sache ist, die Unsicherheiten und den teils enormen Druck irritierender und normwidriger Situationen aushalten zu können, sich darauf überhaupt erst einmal einlassen zu können. Und auch deshalb, weil der Fachmann und die Fachfrau in genau solchen Situationen einen Gesichts- und Autoritätsverlust befürchten (und oft auch hinnehmen) müssen. Nämlich sich und Anderen einzugestehen, dass die eigene Weisheit hier am Ende ist. Doch all das ist wichtig. Wie sich immer wieder zeigte: Das Scheitern (auch der Professionalität) ist Voraussetzung, um zu einem tieferen Patienten- und Problemkontakt durchdringen zu können, um in die Begegnung eintreten und aus ihr heraus gemein19
Lawrence H. Jones: Strain-Counterstrain. Osteopathische Behandlung der Tenderpoints. München/Jena 2001, S. 1 f. 20 Uzarewicz/Uzarewicz, Weite, S. 63.
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same Lösungen entwickeln zu können. Deshalb ist es, 8., entscheidend, die Krisen- und Übergangssituation aushalten zu können. Es ist wichtig, in dieser belastenden und irritierenden Drucksituation bewusst verharren zu können – bis aus ihr die situationsangemessene Lösung (oftmals unbewusst) ›herausspringt‹. Wichtige Entscheidungen, die wir an Wegscheiden und Wendepunkten unseres eigenen Lebens treffen, sind oft unbewusst motiviert – können sich aber im Nachhinein als höchst vernünftig erweisen. Auch hier scheint unsere Lebenserfahrungsvernunft, allem Verstandeskalkül zuvor, einem schwer ausleuchtbaren (inneren) ›Etwas‹ zu begegnen. Es ist wichtig, diese belastende und irritierende Drucksituation aushalten und durchstehen zu können. Denn genau aus diesem Ausharren und dieser Begegnung erwachsen der Lebenserfahrungsvernunft entscheidende Kriterien, werden Optionen greif- und wägbar, situations- und personbasierte Lösungen möglich. Ein anschauliches Beispiel bringt Hermann Schmitz: »So kommen scheinbar verworrene Prozesse der Entschlußfindung zu Stande, deren geheime Zielstrebigkeit sich schließlich daran erweist, daß von den zwei Möglichkeiten, die zur Entscheidung stehen, plötzlich eine als die richtige herausspringt und damit die Qual der Wahl ein Ende hat. So etwas berichtet der Mathematiker Hermann Weyl vom Weg zu seinem Entschluß, im Jahr 1923 einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Göttingen abzulehnen: ›Als sich die Entscheidung nicht länger aufschieben ließ, lief ich im Ringen darum mit meiner Frau stundenlang um einen Häuserblock herum und sprang schließlich auf ein spätes Tram, ihr zurufend: ›Es bleibt doch nichts anderes übrig als annehmen.‹ Aber dann muß es mir das fröhliche Treiben, das sich an diesem schönen Sommerabend um und auf dem See entfaltete, angetan haben: ich ging zum Schalter und telegraphierte eine Ablehnung. Meine Frau war natürlich baß erstaunt, als ich heimkam.‹ (Hermann Weyl, Gesammelte Abhandlungen, Band IV, Berlin/Heidelberg/New York 1968, S. 650; zuerst 1955)«. 21
21
Schmitz, Gegenstand, S. 169 f.
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Die entscheidende Frage, die sich hier stellt, ist: Was passiert in solchen Entscheidungssituationen in der Tiefe der Person? Was passiert »bei der Vorbereitung und dem Gelingen wichtiger, krisenhafter Lebensentscheidungen«? 22 Unter Verwendung von Zitaten aus Hans Thomaes Buch »Der Mensch in der Entscheidung« 23 spricht Schmitz von einem »Sichherantasten an das Gefühl der Stimmigkeit der verschiedenen Möglichkeiten und Aspekte der Situation mit einem bis dahin noch nie erfahrenen Generalentwurf der eigenen Zukunft«, der »eine Art ›Vorgestalt‹ individueller Daseinsführung« ist, »durchaus schon mit Konturen versehen, welche die Biographie der Existenz einzeichnete, und doch noch nicht in spezielle Gerichtetheiten, Reaktionsbereitschaften und Erfahrungsbestände ausgegliedert«. 24 In dieser »Krise des Ringens um bedeutende und schwierige Entscheidungen« sei, so Schmitz, »das räsonnierende Hin- und Herwenden des Für und Wider ein Vorwand, um die persönliche Situation so ›kneten‹ zu können, daß sie sich hinlänglich herausstellt; wenn der Mensch merkt, was zu ihm paßt, ist die Entscheidung gefallen.« 25 So 1990. 2002 spricht Schmitz von der Schwierigkeit, folgenreiche Zukunftsentscheidungen zu fällen: »Das zeigt sich bei gewichtigen Lebensentscheidungen, vor denen sich oft ein quälendes Wälzen des Für und Wider abspielt, das eigentlich nur ein Kneten der persönlichen Situation ist, bis deren prospektiver Anteil sich so herausstellt, daß sich für den vor der Entscheidung stehenden Menschen abzeichnet, welche Wahl zu ihm oder vielmehr seiner persönlichen Situation paßt. Dann ist nämlich die Entscheidung plötzlich gefallen, und der Mensch weiß, was er will, obwohl die Überlegung kein logisch begründetes Ende hatte.« 26 Auf die Plötzlichkeit und verstandesmäßige Unvermitteltheit 22
Schmitz, Gegenstand, S. 169. Hans Thomae: Der Mensch in der Entscheidung. München 1960, S. 145 u. 154. 24 Zit. in: Schmitz, Gegenstand, S. 169; vgl. hierzu auch Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person. Bonn 1980, S. 289 f. 25 Schmitz, Gegenstand, S. 169. 26 Hermann Schmitz: Begriffene Erfahrung. Mit Beiträgen v. G. Marx und A. Moldzio. Rostock 2002, S. 88. Vgl. hierzu die ganz ähnliche Stelle in Schmitz, 23
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solcher Lebensentscheidungen weist auch Pothast hin; und ebenso darauf, dass solche Entscheidungen in einem lebensangemessenen Sinne aber doch auch vernünftig sein können: »Spürendes Stellungnehmen vom eigenen Innengrund her, unversehens auftretend, könne gerade in komplexen Lebenslagen, in denen die Person mit genormter Rationalität nur schwer weiterkommt, wie mit einem Schlag die Prioritäten klarstellen. Das Handeln der Person gemäß diesen unversehens klarwerdenden Prioritäten könne durchaus vernünftig sein – aber gerade nicht normiert-vernünftig, sondern eher lebendig-vernünftig im Sinne von jetzt und hier sachund lebensgerecht, den Existenz- und Orientierungsbedingungen spürend-körperlicher Wesen angemessen.« 27 Schmitz spricht immer wieder von einem »Kneten der persönlichen Situation«: eine Metapher, die ich als sehr treffend und erhellend empfinde. Ich möchte sie deshalb – für unser Thema passender – zugleich zu einem »Kneten der gemeinsamen Situation« erweitern. Wie sich oben an den Beispielen Haverkampfs zeigte, ist dieses Kneten in der physiotherapeutischen Praxis nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinn zu verstehen. Die Physiotherapeutin knetet und massiert in der gemeinsamen Behandlungssituation tatsächlich die Patientin bzw. deren verspannte Muskeln. Und zwar solange, bis etwas – in obigem Fall das belastende vergangene Erlebnis und auch eine Möglichkeit der Lösung/Entspannung – dabei ›herausspringt‹. Wo ich Schmitz allerdings nicht zustimmen kann, ist, dass »das räsonnierende Hin- und Herwenden des Für und Wider« nur »ein Vorwand« sei; dass das qualvolle »Wälzen des Für und Wider« »eigentlich nur ein Kneten der persönlichen Situation« sei. Das sehe ich anders. In meinen Augen ist Beides gleich entscheidend: sowohl das ›vorsprachliche‹ und leibliche »Kneten der Situation« als auch das sprachliche und »räsonnierende Hin- und Herwenden des Für und Wider«. Auch Haverkampf hat diesen Punkt oben hervorgehoben: dass, parallel zum physiotherapeutischen ›KneSituationen, S. 96, wo es heißt: »das oft quälende Abwägen des Für und Wider« sei »aber nur ein Vorwand für ein ›Kneten‹ der eignen persönlichen Situation«. 27 Pothast, Vernünftigkeit, S. 185.
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ten‹, das ›knetende‹ Miteinander-Sprechen oft eine Schlüsselrolle bei der Kontaktaufnahme und der Lösungsfindung spielt. Besonders deutlich wird die Rolle des ›knetenden‹ Miteinander-Sprechens in krisenhaften Aushandlungs-Gesprächen, z. B. zwischen Jugendlichen und ihren Eltern. Wie Barbara Wolf, gestützt auf die neophänomenologische Theorie und Begrifflichkeit von Hermann Schmitz, gezeigt hat, prallen im Konfliktfall nicht nur Meinungen, sondern auch tiefe Gefühle und persönliche Grundhaltungen aufeinander. Gerade hier aber sei das Miteinander-Reden und »Aushandeln in gemeinsamen Situationen notwendig, um der jeweiligen Seite eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Beide Seiten müssen die persönliche Eigenwelt umbauen, da für den einen die Eltern, für die anderen das Kind allmählich ein Stück weiter in die persönliche Fremdwelt geschoben werden müssen. […] Dieser Prozess erfordert ein Aushandeln von Distanz und Nähe, der einerseits mehr Abstand ermöglicht, dennoch aber die Verbundenheit erhält. Dieser wichtige Lernprozess ist oft von heftigen Auseinandersetzungen geprägt und wird häufig als schmerzhaft erlebt.« 28 Schon oben ergab sich mehrmals, dass das ›Aushalten-Können‹ der krisenhaften Begegnungs- und Gesprächssituation alles andere als leicht ist. Hier spricht Wolf nun von heftigen Auseinandersetzungen und schmerzhaften Aushandlungs-Prozessen. Beides zeigt, dass das ›Kneten‹ der gemeinsamen Situation nicht nur ein ›Selber-Kneten‹, sondern, mehr noch, ein ›Geknetet-Werden‹ ist. 9.
Zweiter Exkurs: Spüren und Sprechen (Pothast)
Damit das ›knetende‹ Aushandeln und Verbalisieren aber nicht ›in der Luft hängt‹, ist es entscheidend, dass es gefühlsmäßig gestützt und unterbaut ist. Darauf hat mit aller Deutlichkeit Ulrich 28
Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung. Freiburg/München 2016, S. 79. Die (von der Autorin) kursivierten Begriffe sind neophänomenologische Fachtermini.
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Pothast hingewiesen. Er bezieht sich auf die Erfahrungstatsache, dass beim Finden eines angemessen-vernünftigen sprachlichen Ausdrucks das leibseelische Hin-Spüren aktiv mithilft. Nicht nur beim vorsprachlich-spontanen, intuitiv-leiblichen Urteilen und Handeln, sondern auch bei der sprachlichen Artikulation mache sich an zentraler Stelle das eigene – kreative, persönliche, prüfende – Gefühlsoptieren bemerkbar. Vom eigenen Spürensgrund her wird ein sprachlicher Ausdruck für passend(er) oder unpassend(er) empfunden. Dies längst nicht nur in den Fällen, wo wir der Meinung sind, dass sich jemand im ›Ton vergriffen‹ habe; sondern generell immer dann, wenn wir etwas, das uns persönlich betrifft – für das sich aber das angemessene Wort, die angemessene Formulierung nicht leicht einstellen will – artikulieren wollen: Sei es, dass es sich um eine besonders neuartige oder höchst individuelle Situation handelt; sei es, dass ein tiefes, ambivalentes und schwer in Worte zu fassendes Gefühl uns zur Aussprache drängt; sei es, dass wir aus anderen Gründen – etwa um jemanden auf die richtige Weise nahezutreten – ›um passende Worte ringen‹. Immer gilt, dass »sprachliche Wendungen […] von diesem Spüren her eine Art Überwachung ihrer Richtigkeit, ihres Passens erfahren.« 29 Damit ist freilich nicht gesagt, dass, wie Schmitz oben meinte, das sprachliche »Hin- und Herwenden des Für und Wider« nur »ein Vorwand« sei. Und damit ist ebenso wenig gesagt, dass Sprechen und Spüren der gleichen Ebene zuzuordnen wären. Wie Pothast präzisiert: »Sprechen qua Sprachverwendung überhaupt ist von Spüren erkennbar verschieden: es beruht normalerweise auf geschichtlich gewachsenen Konventionen, die individuell in einem langen Lernprozess angeeignet wurden.« 30 In meinen Worten ausgedrückt: Sprache hat ihren Schwerpunkt im ›Sozio-Kultürlichen‹, Spüren im ›Sozio-Natürlichen‹ als dem ›Natürlichen‹, wie es sich innerhalb der menschlichen Gesellschaft und nicht unbeeinflusst von ihr in spezifischer Eigendynamik entfaltet. Denn das Spüren, die Gefühle und Ausdruckserscheinungen (zumindest 29 30
Pothast, Vernünftigkeit, S. 167. Pothast, Vernünftigkeit, S. 85.
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die basalen 31) haben eine unvergleichlich engere Anbindung an die allgemeinmenschlichen, biotisch-organismischen Positionen und Dispositionen. Sie sind – kulturübergreifend bzw. kulturunterbauend – in den leibseelischen Tiefen aller Menschen verankert. Wohingegen die Sprache einer höherschichtigen, geistigsemantischen und kulturspezifischeren Ordnung angehört. Wieder mit Pothast gesagt: »Weil Spüren und Sprechen zur Weltorientierung menschlichen Lebens gleichermaßen, und zwar in enger Verbindung miteinander, gehören, sich aber wegen ihrer […] verschiedenartigen Beschaffenheit und Struktur nicht aufeinander abbilden lassen, spreche ich davon als von heterogenen Orientierungsmustern. Meines Erachtens ist dies ein sehr folgenreicher Grundzug unserer Weise, uns in der Welt und mit uns selbst zurechtzufinden.« 32 »Menschliches Leben ist Leben mit heterogenen Orientierungsmustern. […] Lebendige Vernünftigkeit ist schwerlich eine Sache sicheren Ausrechnens. Sie ist eher eine Sache des SichKlarwerdens bei unvollkommener Erkenntnis«. 33 Spüren und Sprechen sind dabei für Pothast nicht irgendwelche Orientierungsmuster, sondern »die beiden wichtigsten [… des] menschlichen Lebens«. Umso erstaunlicher ist, dass die unterschwellig leitende Rolle des Spürens beim Finden des angemessenen Sprachausdrucks bisher »weitgehend unbekannt, erst recht unerforscht zu sein« scheint. 34 31
Etwa die von Ekman herausgestellten »Basisemotionen« Fröhlichkeit, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung; vgl. Paul Ekman: Gefühle lesen. Heidelberg 22010. Die Ekman’sche Liste ist allerdings erweiterungsbedürftig. Gefühle (mitsamt ihren Ausdrucksdynamiken) wie sexuelle Begierde, Mutter-Kind-Liebe, Neugier, Beschämung, etc. müssten m. E. ebenso zu den Basisemotionen gerechnet werden. 32 Pothast, Vernünftigkeit, S. 86 f. 33 Pothast, Vernünftigkeit, S. 87 f. 34 Pothast, Vernünftigkeit, S. 168. In der dazugehörigen Anmerkung schreibt Pothast: »Ich habe das Sich-Bemerkbar-Machen spürenden Widerstands mit einer Korrektur- bzw. Überwachungsfunktion für alles Zur-Sprache-Bringen von Spürenssachverhalten in der philosophischen Literatur noch nicht beschrieben gefunden. Diese Rolle erscheint mir jedoch unverzichtbar für einen die je eigene Person überzeugenden Sprachgebrauch wie auch für die vernunftrelevante Selbsterkundung von Personen überhaupt. Mein eigener kurzer Versuch dazu un-
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Ich gehe einen Schritt weiter. Ich konfrontiere die jetzigen Ergebnisse mit den Beobachtungen eines Psychotherapeuten. 10. Rudolf Gaßenhuber: Lebendige Vernünftigkeit – Psychotherapeutische und kulturkritische Überlegungen Eine »lebendige Vernünftigkeit« suchen wir, sie soll Verstand und Bauch, Kopf und Herz wieder versöhnen. Wir Modernen haben zu viel auf unsere Rationalität gesetzt, auf Theorien und Konzepte und sind dabei, unsere Verbundenheit mit den Anderen und mit der Natur insgesamt immer mehr zu verlieren. Die Natur beginnt sich zu rächen und wir beginnen langsam zu begreifen, dass der technische Weltzugang zwar viel Komfort erzeugt hat, uns aber in unserem Wunsch nach Glück und Lebensfülle nicht nachhaltig satt machen konnte. Eine »lebendige Vernünftigkeit« soll jetzt die Gefühle wieder mehr mitspielen lassen, die Intuition, die Liebe, den Leib, kurz alles, was nicht bloßer Verstand ist. Unsere ganze Natur soll sich zusammentun, soll uns nochmal beistehen und uns aus unserer Malaise herausführen. Die Abtrennung von Denken und Fühlen, Sachlichkeit und Empathielosigkeit haben uns und die gesamte Natur an den Rand der Katastrophe geführt, nun soll die Versöhnung von Natur und Geist uns wieder herausführen? Wie soll das gehen? Was soll Versöhnung bedeuten, wenn schon so viel verwüstet ist und auch in unseren Charakteren das isolierte Subjekt, der abgetrennte Beobachter zum allgegenwärtigen, global verbreiteten Standard geworden ist? Haben wir überhaupt noch eine Chance? Global gesehen weiß ich es nicht, aber in der Gegenwart, jetzt im Moment gibt es durchaus Hoffnung. Im Judentum gibt es die Idee des jedem einzelnen Menschen innewohnenden »sekündlichen Messianismus«, d. h. wir erwarten die Versöhnung nicht in ferner Zukunft oder in einem Jenseits, aber jetzt, hier in Dir und mit Dir kann sie jederzeit geschehen.
ter dem Titel ›Spürendes Passen‹ findet sich in ›Philosophisches Buch‹, Frankfurt a. M. 1988, Kap. XIII, Abschn. 86, S. 407–415.«
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Mir gefällt die Idee gut, aber was genau kann sie bedeuten und wie können wir zu ihrer Verwirklichung beitragen? Ich knüpfe an beim ersten obigen Beispiel und erweitere es fiktiv, aber lebensmöglich. Nehmen wir also an, wir sehen einen jungen Mann, der von seiner großen Liebe verlassen wurde und nun in Liebeskummer versinkt. Er schwankt zwischen Wut und Verzweiflung, schwerer Trauer und bitteren Selbstanklagen, er entwickelt das Gefühl, im Leben gescheitert zu sein. Er verstrickt sich, auch aufgrund früher erworbener Dispositionen, immer weiter in destruktiven Selbstzweifeln und Gedanken bis hin zu Gefühlen von Sinnlosigkeit und wir beginnen, uns Sorgen zu machen, ob er nicht seinen Lebensmut ganz verlieren könnte. – Wie können wir ihm beistehen, was würde eine »lebendige Vernünftigkeit« hier unternehmen? Wenn jemand trauert, bieten ihm seine Freunde Trost an. Wenn ein Kind sich weh tut, weint es, läuft zu seiner Mutter umarmt sie und lässt sich umarmen, halten und trösten. Es zeigt, hässliches Wort für eine schöne Sache, »Bindungsverhalten«. Wenn wir einen Freund trösten wollen, sind wir vorsichtig, ob er umarmt werden will oder sich verspannt, es kann passen oder auch nicht. Weiße Männer sind hier im Allgemeinen eingeschränkter als Frauen. Im Grade dieser diffusen Hemmungen spiegelt sich auch die Entkörperung, die unsere Kultur uns zunehmend auferlegt. Naturdistanz verankert sich tief in dem, was der Zivilisierte als Uneindeutigkeit empfindet. Die für ihn unklaren Atmosphären und Gegebenheiten verunsichern und er vermeidet oder zivilisiert sie: den Sumpf, das Dunkle, die Nacht, das Fremde, das Diffuse, das Nebulöse, die Stille. Vor 30 Jahren war ich in Afrika und fuhr dort viele Stunden mit einem öffentlichen Überlandbus. Mein Sitznachbar, ein mir völlig fremder Mensch, legte irgendwann ungefragt seinen Kopf an meine Schulter und schlief ein. Ich war baff. Ich habe das dann auch so gemacht und wir schliefen ein gutes Stündchen Kopf an Kopf. In Afrika ist das ganz normal, man sitzt auf dem Boden nebeneinander, beansprucht wenig körperlichen Raum, die personale Aura ist klein und der Mensch leicht körperlich berührbar. In Europa macht man sich steif, wenn man im Bus steht, um Berührung zu vermeiden, in Afrika ist man um vieles beweglicher 109 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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und tänzerischer. Trost ist dort einfacher und natürlicher möglich. Der weiße Mann hat irgendwann einiges an Hemmung und Peinlichkeit zwischen den Leibern aufgerichtet. Jeder in der Altenpflege Tätige weiß um die meist schon körperliche Einsamkeit der Heimbewohner; Zuwendung, ein Halten der Hand und ein Streicheln der Wange sind oft das hilfreichste, was man tun und erleben kann. Unser weißer junger Mann wird nun also so recht und schlecht getröstet und wenn es gut geht, vermittelt ihm seine Grenzerfahrung an Verzweiflung eine neue Sicht auf sein Leben und darauf, was im Leben wichtig ist und er findet allmählich wieder ins Leben zurück. Wenn es nicht so gut geht, werden durch diese Erfahrungen von Trauer und Schwäche alte, harte Seiten angesprochen, die das Trauern zu früh und zu gewaltsam beenden. Im schlechten Fall werden genau diese Stimmen, sich zusammenzureißen, auch durch gut gemeinte Interventionen seiner Freunde verstärkt. Wenn es, warum auch immer, nicht so gut läuft, heilt die Wunde nicht ausreichend aus, der immer noch Liebeskranke stürzt sich in die Arbeit, ist dort jahrelang erfolgreich, findet viel Bestätigung und kann seine Selbstzweifel, Trauer und entstandenes Misstrauen durch seinen Berufserfolg kaschieren. Die Arbeitsfähigkeit ist wiederhergestellt, wenn auch um den Preis des schleichenden Unglücks. Der Aufruf zur Vernünftigkeit wurde als Aufruf zur Disziplin missverstanden. Er arbeitet gut, bleibt im Privaten aber ein gebranntes Kind, findet keine tragende Beziehung zu einer neuen Partnerin, nähert sich schleichend einer tiefen Erschöpfung und erzeugt zunehmend auch körperliche Symptome, Schlafstörungen, Verspannungen, Herzrhythmusstörungen. Nun skizziere ich einen möglichen Weg der Umkehr über Körper- und Psychoarbeit. Das ist sicher nicht der einzig mögliche Weg. Und es ist auch nicht gesagt, dass dieser Weg zum Ziel führen muss. Aber es ist ein möglicher Weg, der schon vielen geholfen hat, die dann erlebten, dass verschüttete Lebensfreude und Bindungsfähigkeit wieder freigelegt werden können. Wegen seiner Muskelschmerzen geht er zu einer Physiotherapeutin und hat das Glück, dass sie ihre gute Intuition zu den pas110 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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senden Griffen, Fragen und Tonlagen leitet, die eine erste Lösung der Verpanzerung bewirken. Unser Freund ist erschüttert, er weint viel, ohne recht zu wissen, warum. Danach fühlt er sich erleichtert, aber auch verwirrt und benebelt. Das Gefühl des Nebels ist ein guter Indikator für tieferliegende, ungelöste Leiden. Er beginnt eine Psychotherapie, seine Selbstresonanz ist aber weitgehend blockiert, er kommt schlecht in ein inneres, situatives Mitgehen. Als Grundlage jeder Gesprächstherapie und speziell für resonanzreduzierte Personen ist das Therapieverfahren Focusing von Eugene Gendlin (1926 in Wien – 2017 in New York) eine oft hilfreiche Methode. Jedes vertiefende Gespräch kämpft mit dem Dilemma, ein individuelles Problem mit allgemeinen Begriffen verständlich machen zu müssen. Dieses Dilemma ist nicht ganz leicht zu verstehen, aber zentral für ein Begreifen der Kluft von Natur und Geist. Alle unsere Empfindungen sind letztlich einmalige, individuelle Empfindungen, die mit jeweils eigenen Assoziationen und biografischen Fäden verknüpft sind. Wenn ein Klient sagt »ich bin so traurig«, so ist da im Grunde ein ganz individuelles, spezielles Gefühl mit vielen Neben- und Hintergrundgefühlen und vielen Unklarheiten, das nun mit einer allgemeinen Schablone »Trauer« etikettiert wird. Jedes Wort ist deshalb immer auch schief und jede Kommunikation ein Missverständnis. Das ist das große Dilemma unserer Sprache, alles Erleben und jedes konkrete Sein in das Prokrustesbett ihrer Schablonen pressen zu müssen. In jedem besseren Gespräch versuchen wir nun, dieses Dilemma durch wiederholtes Nachfragen, Pointierungen, Umschreibungen sowie Empathie und Intuition zu lösen. Wir beginnen mit etwas Ungefährem und nähern uns dem eigentlich Gemeinten allmählich an. Das dann Explizierte ist oft genauer als es dem Sprecher ursprünglich bewusst war. Verständigung mischt sich mit erweitertem Selbstverständnis, das zeichnet ein gutes Gespräch aus. – Eine schrittweise Annäherung ist auch die Grundidee von Focusing, wir beginnen mit einem auch diffusen Situationsgefühl und »genauern« es von einer Implikation zur nächsten. Und es kommt etwas Entscheidendes hinzu, das tat111 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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sächliche Verweilen beim Diffusen: »Diese Zeit mit etwas Unklarem, diese paar Sekunden oder paar Minuten, in denen man mit etwas ist, das man ganz konkret erlebt, ohne zu wissen, was es ist – das ist Focusing. Nur das will ich Focusing nennen. […] Focusing ist wie eine Tür: Was auf der anderen Seite der Tür ist, überlasse ich jedem selbst.« 35 Durch das Bleiben beim Unklaren erhält unser Leben jenseits der Sprache, erhält das, woher die Sprache kommt, eine Chance zur Explikation. Denn dort, wo Sprache aufhört, wohnen wir wirklich. 36 Die Unverfügbarkeit des Ur-Orts unserer Existenz umfasst auch den Ort unserer sozialen Existenz, der in einem tiefen Sinne gleichfalls unterhalb des Sagbaren liegt. Der persische Mystiker Rumi hat es in einem schönen, derzeit gern zitierten Satz so ausgedrückt: »Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.« – Eine direkte Entsprechung von Körper- und Seelenarbeit fällt hier ins Auge: Beide sind methodisch intensivierte Verfahren, das somato-psychische Leben und Erleben von Verklebungen zu befreien und Beweglichkeit und Feinfühligkeit wieder zuzulassen. Der Physiotherapeut interagiert mit der körperlichen Verspannung, einer Bewegungseinschränkung; der Psychotherapeut interagiert mit dem Nebulösen, einer Gefühlseinschränkung oder einem Kommen eines Gefühls. Eine genauere Entsprechung speziell zu Focusing bilden Körperschulungen, wie die aktiven Methoden der Physiotherapie, Alexander-Technik oder Feldenkrais, in denen der Klient selbst, unter Anleitung und Unterstützung des Therapeuten, mit seinen Fehlhaltungen und gehemmten Bewegungsmustern interagiert und auf Lösungen hinarbeitet. – Was erreichen wir durch Verfahren wie Focusing? Wenn es gelingt, unterlaufen wir die Begrenzungen der Begriffssprache und nähern uns einem wirklichen individuellen Verständnis, einem »individuellen Begriff« (Leibniz), der die Implikationen des Empfindens dieses besonderen Klienten fortspinnt und expli35
Eugene Gendlin: Denken geht anders, in: Johannes Wiltschko (Hrsg.): Focusing und Philosophie (Focusing), Wien 2008, S. 27–44, hier S. 27. 36 Eugene Gendlin: Die Praxis des Denkens mit dem felt sense, in: Wiltschko, Focusing, S. 45–64, hier S. 50.
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ziert. Verständigung und Selbst-Verständigung werden möglich, die Nebel können sich verziehen und hinter dem Nebel scheint wieder die Sonne. Mit Hilfe des Psychotherapeuten findet der junge Mann nun einen Zugang zu den Implikationen des wahrgenommenen Nebulösen. Was steht dahinter, was sollte bisher hinter dem Nebel nicht wahrgenommen werden? Ist das Nicht-wahrnehmen jetzt noch lebenswichtig oder der Schmerz schon erträglich? Darf jetzt endlich wahrgenommen werden, was dem Kind nicht möglich war zu sehen? Die alten Schmerzen können im guten Fall verarbeitet werden, neues Selbst- und Weltvertrauen kann wachsen. Das generalisierte Misstrauen differenziert sich, Sympathien und Bindungen können wieder entstehen. So könnte die Geschichte dann doch noch ein gutes Ende nehmen. Wobei hat nun eine »lebendige Vernünftigkeit« hier geholfen und inwiefern wurde Natur und Denken hier einer Versöhnung nähergebracht? Geholfen wurde hier vor allem beim Wiederaufleben von Selbstvertrauen, allgemeiner Zuversicht und Liebesfähigkeit. Eine Versöhnung von Natur und Geist setzt immer Sympathie voraus. Erst auf einer Basis von Wertschätzung und Zuneigung können Empathie und Verständigung auch wieder eine, wenn auch temporäre, Einheit herbeiführen. – In einer Welt, die tiefer von Verwandtschaft und Verbundenheit geprägt ist als von Angst und Misstrauen, existieren dann auch generell weniger Irritationen. Denn so manches von dem, was in einer gereizten Verfassung Irritation ist, ist im Modus vertrauensvoller Gelassenheit ein willkommenes Ereignis und ein Angesprochen-werden: aus dem gefährlichen Sumpf wird ein Lebensraum, die AngstNacht wird von einem Sternenhimmel überwölbt, aus manchen Fremden werden Nachbarn, aus peinlicher Stille wird eine besondere Art der Begegnung. Aus therapeutischer Sicht kann man eine »lebendige Vernünftigkeit«, eine Versöhnung von Natur und Geist also in drei Momente ausfalten: Da ist einmal ganz basal der direkte Körperkontakt mit Natur, mit Anderen und ein Wohnen unter der Sonne 113 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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und den Sternen; das Gegenteil dieses Moments ist Naturdistanz und ein Leben in Städten und Zimmern. Dann Sympathie, Feinfühligkeit und Resonanz mit dem eigenen Leib und Befinden; das Gegenteil davon ist eine Vorherrschaft von Pflichtgefühl, Angst oder Ehrgeiz. Und schließlich eine Verbundenheit mit allen Mitlebewesen, Pflanzen, Tieren, Menschen sowie vertrauensvolle Bindungen im Nahbereich; das Gegenteil davon ist die Abwertung von Natur zur Ressource sowie Misstrauen, Sympathiedefizit und Bindungsängste unter den Menschen. – Will man die drei Momente nicht auftrennen, so ergibt sich ein Weltbild des Verwandt-seins, des Gleich-seins und Dazugehörens; das Gegenteil davon ist ein Grundgefühl von Fremdsein, Gegenüber-sein, Überlegen-, Ausgesetzt- und Bedroht-sein. Kurz gesagt, lebendig und vernünftig zugleich sind wir möglicherweise dann, wenn unsere überspannte Rationalität ihre Zentralposition aufgibt und mit der Vielfalt des Lebendigen wieder einen Einklang riskiert. Man höre: Für Rumi ist der Mensch ein Flötenspieler, der mit seinem Atem einen Klang spielt, der von Trennung und Einheit erzählt. Literatur Böhme, Gernot: Atmosphäre. Frankfurt a. M. 1995. Bollnow, Otto Friedrich: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart 51977. Dörpinghaus, Sabine: Dem Gespür auf der Spur. Eine leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe. Freiburg/München 2013. Ekman, Paul: Gefühle lesen. Heidelberg 22010. Gendlin, Eugene: Denken geht anders, in: Wiltschko, Johannes (Hrsg.): Focusing und Philosophie. Wien 2008, S. 27–44. Gendlin, Eugene: Die Praxis des Denkens mit dem felt sense, in: Wiltschko, Johannes (Hrsg.): Focusing und Philosophie. Wien 2008, S. 45–64. Guardini, Romano: Die Begegnung, in: Guardini, Romano/Bollnow, Otto Friedrich: Begegnung und Bildung. Würzburg 1956, S. 9–24. Hasse, Jürgen: Zur politischen Relevanz der Lebensphilosophie, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 9. München (erscheint 2018). Jaspers, Karl: Philosophie, Band 2: Existenzerhellung. München 1973.
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Von normwidrigen Irritationen zu vernünftigen Improvisationen
Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie. München 1953. Jones, Lawrence H.: Strain-Counterstrain. Osteopathische Behandlung der Tenderpoints. München/Jena 2001. Kick, Hermes Andreas: Identität – Bildung und Bewährung in der Grenzsituation, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 8, 2016–2017, S. 207–218. Kick, Hermes Andreas (Hrsg.): Verzweiflung als kreative Herausforderung. Münster 2008. Kozljanič, Robert Josef: Lebendige Vernunft als Lebenserfahrungsvernunft. Auseinandersetzung mit Ludwig Klages und Philipp Lersch, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 8, 2016–2017, S. 171–187. Kozljanič, Robert Josef: Wie Phönix aus der Asche: An Grenzen scheitern und neu werden. Über Krisenkompetenz und unstetige Formen der Erlebnispädagogik, in: erleben & lernen (1), 2014, S. 11–15. Kozljanič, Robert Josef: Lebendige und wissenschaftliche Vernunft. Zur dramatisch-freiheitlichen Philosophie von Eberhard Simons, in: Jahrbuch für Lebensphilosophie 6, 2012–2013, S. 19–42. Kozljanič, Robert Josef: Lebensphilosophie – Eine Einführung. Stuttgart 2004. Pothast, Ulrich: Lebendige Vernünftigkeit. Zur Vorbereitung eines menschenangemessenen Konzepts. Frankfurt a. M. 1998. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg/München 2005. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band III.5: Die Wahrnehmung. Bonn 1978. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band IV: Die Person. Bonn 1980. Schmitz, Hermann: Leib und Gefühl. Paderborn 1989. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 21995. Schmitz, Hermann: Begriffene Erfahrung. Mit Beiträgen v. G. Marx und A. Moldzio. Rostock 2002. Thomae, Hans: Der Mensch in der Entscheidung. München 1960. Uzarewicz, Charlotte/Uzarewicz, Michael: Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege. Stuttgart 2005. Wolf, Barbara: Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung, Freiburg/München 2016.
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Ungewissheit und Unbestimmtheit in Pädagogik und Pflege
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Viola Straubenmüller
Am Betroffensein lernen. Irritationen eines einseitigen Kompetenzbegriffs Abstract: Die Gründe, dem Programm Kompetenzorientierung im Bildungswesen mit Vorsicht zu begegnen, sind vielfältig. Dabei geht es nicht um Kritik am Können oder an Bemühungen, Menschen mit Handwerkszeug auszustatten. Dass souveräne Situationshandhabung angesichts einer offenen Zukunft weiterhilft, steht außer Frage. Bedenklich ist vielmehr eine Anthropologisierung und Idealisierung des Konstrukts. Kompetenzentwicklung ist kein Privatunternehmen und kein objektiver Sachverhalt. Wird Kompetenz als Sinn für Angemessenheit der Bewegung in Situationen verstanden, ist sie unweigerlich ein leibgebundenes Phänomen. Vor diesem Hintergrund tritt ihr Charakter als Prozess- und Ergebnisdimension leiblicher Kommunikation als Grundform des Sozialen in Erscheinung. Keywords: Leiblichkeit, Kompetenz, Situation, Resonanz, Phänomenologie
1.
Das souveräne Selbst – kompetent oder gebildet?
Die folgenden Überlegungen zum Kompetenzbegriff bauen auf einer langen Tradition der Kritik auf. Selbstermächtigungsstrategien in Gestalt unterschiedlicher Programme sind nichts Neues – und haben vielfach gute Gründe. Dass wir beruhigt sind, wenn ein behandelnder Chirurg kompetent, zielgerichtet und nüchtern dem Geschehen im Operationssaal entgegentritt, wird keiner bestreiten. Dass eine Musikerin ihr Instrument zuerst beherrschen sollte, bevor sie improvisieren und sich vom Strom der Musik mitreißen lassen kann, ebenso wenig. Die Frage ist vielmehr, wie der Weg in die Kompetenz tatsächlich aussieht – und ob ihr 119 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Viola Straubenmüller
Erwerb so glatt und linear verläuft, wie Lehrpläne oder Modulhandbücher suggerieren. Das Vorgehen, »Situationen explizierend aufzuspalten und aus ihnen Konstellationen zu gewinnen«, 1 ist zunächst zweckmäßig, um sich zurechtzufinden. Personen und Institutionen sind auf Strukturen, Normen und Regelhaftigkeiten angewiesen. Zugleich verstellen Abstraktionen den Blick auf Bedeutsamkeiten, die der Besinnung lohnen. 2 Dem Programm Kompetenzorientierung wird hier nicht nur deshalb Skepsis entgegengebracht, weil es zu einer Überbetonung von Ergebnissen (Outcomes) führt. Dies wird (teilweise zu Recht) polemisch angegriffen, wobei konstruktive Revisionsvorschläge nicht selten ausbleiben. 3 Bevor ich einen dahingehenden Vorschlag mache, skizziere ich beispielhaft, was die hier zur Diskussion stehende Kompetenzkonjunktur im Kern (mit-)befördert hat. Diese Annäherung greift ausgewählte Strukturmomente heraus und erhebt keinen Anspruch auf umfassende Darstellung. Zu Dimensionen von Kompetenz steht eine unüberschaubare Fülle an Literatur zur Verfügung, auf die hier mit einer gängigen Definition verwiesen werden soll. Demnach beinhaltet sie »die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die 1
Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg/München 2005, S. 28, zit. in Robert Gugutzer (2017): Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie (Leib), in: Zeitschrift für Soziologie 46(3), S. 147–166, hier S. 155. 2 Vgl. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Einführung). Freiburg/München 2014, S. 9. 3 Besonders aufschlussreich sind zu diesem Sachverhalt folgende Beiträge: Roland Reichenbach: Kompetenzen und Insuffizienzen: Bemerkungen zur neuen Lust, schulische Bildung zu kontrollieren, zu steuern und zu messen, unter: http:// www.ife.uzh.ch/dam/jcr...f8ed.../Kompetenzen%20und%20Insuffizienzen.pdf (Stand: 21. 06. 2017), und Roland Reichenbach: Der Mensch – ein dilettantisches Subjekt: Ein inkompetenztheoretischer Blick auf das vermeintlich eigene Leben (Mensch), unter: http://genderbibliothek.de/Record/57871genderbib/ HierarchyTree?hierarchy=57863genderbib&recordID=57871genderbib (Stand 21. 06. 2017).
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damit verbundenen motivationalen, volitionalen […] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können«. 4 Es sind komplexe Situationsanforderungen, die eine Grenze der Macht von Wissensbeständen allein zu markieren scheinen: Wissen spielt gar eine untergeordnete Rolle im Kompetenzdiskurs, da es vermeintlich schnell veraltet. Umso wichtiger wird es, skills für lebenslanges Lernen zu erwerben, mittels derer dem beschleunigten Wandel 5 entgegengetreten werden kann. Ein Grund für die kompetenzorientierte Wende ist also Beschleunigung, weil sich Gesellschaft nur dynamisch stabilisieren kann. 6 Dem Steigerungsanspruch gerecht zu werden, ist mit großen Herausforderungen sowohl an Systeme als auch an Subjekte verbunden: die Etablierung einer vermeintlich inneren Ausrüstung zur Anpassung an die Geschwindigkeit ist sprichwörtlich Pflichtprogramm. Über Dispositionen selbstorganisierten Handelns zu verfügen, die es erlauben, ausgehend von Wissen schöpferischkreativ in mehr oder weniger jeder Situation agieren zu können, 7 klingt vor diesem Hintergrund verheißungsvoll. Kompetenzorientierung, so die Hoffnung, macht Menschen fit, hilft ihnen, die Synchronisation der Eigenzeit mit immer mehr Ansprüchen abzuwickeln. Kein anderer Ansatz scheint die Falle, in der spätmoderne Menschen stecken, effizienter anzugehen. Seine Potenziale werden in einer Schlüsselmetaphorik ausgedrückt: Kompetenz als der Schlüssel zu mehr, als die persönliche Voraus4
Franz E. Weinert in: Angelika Diller: Kompetenzorientierung in der Weiterbildung – Entwicklungslinien –frühpädagogische Bestandsaufnahme – Herausforderungen, unter: http://www.bvktp.de/files/tagung_zukunft_im_fokus_diller. pdf (Stand: 22. 11. 2017), hier S. 4. 5 Vgl. dazu Michael Brater: Was sind ›Kompetenzen‹ und wieso können sie für Pflegende wichtig sein? (Kompetenzen), in: Pflege & Gesellschaft 21(3), 2016, S. 197–213, hier S. 204. 6 Vgl. dazu Hartmut Rosa: Weltbeziehung im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik (Beschleunigung). Berlin 2013, S. 190 f. 7 Siehe hierzu John Erpenbeck und Lutz von Rosenstiel in: Barbara KniggeDemal/Constanze Eylmann: Berichte aus Lehre und Forschung. Nr. 18: Kompetenzorientierte Prüfungsgestaltung – Teil 1 – anhand von Fallbeispielen. Bielefeld 2006, S. 9–10.
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setzung, alle möglichen Türen zu öffnen – auch die ins bislang Unbekannte. Doch was genau ist gegen einen solchen Schlüssel einzuwenden? Vielleicht sind es zu »hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff«. 8 Kompetenz kann als Plastikwort gelten, dessen Inhalt auf beunruhigende Weise austauschbar ist, weil es auf nahezu allen Wirklichkeitsfeldern zum Einsatz kommt. 9 In diese Felder fallen auch solche, die mit Schmitz als unwillkürliche Lebenserfahrung, als subjektive Tatsachen des affektiven Betroffenseins bezeichnet werden können. Letztere entfalten ihre bildende Wirkung jedoch insbesondere durch Labilisierung und (nicht normativ, sondern phänomenologisch verstandene) Negativität. 10 Diese Tatsache ruft Dimensionen von Bildung auf den Plan, die im Kontext eines neuhumanistischen Ideals etwa im Anschluss an Humboldt einen affektiven Weltbezug stark machen. Dabei erlangt eine pädagogische Atmosphäre Bedeutung, 11 die durch Kompetenzorientierung unterbelichtet wird. Bildungsgeschehen als Wechselwirkung zwischen Individuum und Welt, 12 als Begegnung geht über Kompetenzerwerb hinaus und meint vielseitige Persönlichkeitsentfaltung. Dabei hat Bildung den doppelten (paradoxen) Auftrag, auf ein Leben in der durch Verwertungs- und Beschleunigungszwänge geprägten Gesellschaft vorzubereiten und Individuen zugleich Widerständigkeit gegenüber besagten 8
So Hartmut von Hentig in einem gleichnamigen Beitragstitel über den Kreativitätsbegriff: Hartmut von Hentig: Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Weinheim 2007. 9 Vgl. Uwe Pörksen, in Heike Diefenbach: Rezension zu: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 2011, unter: https://science files.org/2012/04/14/plastikworter/ (Stand: 13. 07. 2017). 10 Dazu Dietrich Benner: Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung, unter: http://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/9783407411501.pdf (Stand: 14. 07. 2017), hier S. 7. 11 Siehe hierzu Otto Friedrich Bollnow, in: Jens Beljan: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung (Schule). Weinheim/ Basel 2017, S. 95 f. 12 Vgl. Wolfgang Klafki in: Xiaohong XU: Lernen, Negativität und Fremdheit, unter: http://www.diss.fu-berlin.de/diss/servlets/MCRFileNodeServlet/FUDISS _derivate_000000005202/final.pdf (Stand 1. 12. 2017), S. 31.
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Verfügungszwängen zu ermöglichen. 13 Dieses Moment, das auf gesellschaftliche Emanzipation und Solidarisierung abzielt, markiert eine Differenz im Verhältnis von Bildung zu Kompetenz. 14 Gerade weil der Mensch der Welt in bildenden Beziehungen nicht berechnend oder instrumentell beherrschend gegenübersteht, 15 entzieht sich Bildung dem direkten Zugriff. Zudem »hebt sich Bildung gegenüber Kompetenz durch ihre übergreifende Funktion einer Orientierungsstiftung und Fokussierung auf eine paradigmatische Lebensführung ab«. 16 Tenorth erblickt in Bildung einen »zum Habitus verfestigten Stil des Umgangs mit der Welt, mit den Menschen und der Kultur«. 17 Wenn nun also im Folgenden in erster Linie von Kompetenz die Rede ist, sei vorausgeschickt, dass sich Bildung nicht in ihr erschöpft, sondern Kompetenz allenfalls ein Strukturmoment gelingender Bildung sein kann. Ein neuphänomenologischer Blick auf das Konstrukt ist in der Lage, diese Position zu untermauern. Im Folgenden werden hierzu markante Schlüsselbegriffe von Hermann Schmitz genutzt, um sie im Anschluss für eine Perspektiverweiterung hinsichtlich Kompetenz heranzuziehen. Die dahingehenden Möglichkeiten sind weitaus vielfältiger, als sich in diesem Rahmen zeigen lässt. 2.
Könnerschaft aus Sicht der Neuen Phänomenologie
Bemühungen, sich Wissen und Können einzuverleiben, kommen nicht am Betroffensein vorbei. Der Mensch muss geradezu »auf etwas stoßen, dessen er nicht Herr ist, um ganz er selbst zu sein und der Verstiegenheit in einseitiger personaler Emanzipation zu
13
Vgl. Martin Lehner: Allgemeine Didaktik (Didaktik). Bern 2009, S. 90. Vgl. Rainer Brödel: Relationierungen zur Kompetenzdebatte (Relationierungen), unter: http://www.die-bonn.de/esprid/dokumente/doc-2002/nuissl02_02. pdf (Stand: 30. 11. 2017), hier S. 15. 15 Vgl. Beljan, Schule, S. 81. 16 Willy Strzelewicz (1973), zit. in: Brödel, Relationierungen, S. 45. 17 Heinz-Elmar Tenorth in: Lehner, Didaktik, S. 89. 14
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entgehen.« 18 Die Erfahrung zeigt dies eindrücklich: an unbekannte Anforderungen wird sich tastend angenähert, dabei tritt ein gewisser Dilettantismus 19 zu Tage. Personen bleiben also in eine Vielzahl von Unwägbarkeiten verstrickt. Ihre sich aus Mannigfaltigem zusammensetzende persönliche Situation wird, mit Schmitz gesprochen, von einer leiblichen Disposition grundiert, die darüber bestimmt, wie der vitale Antrieb eingesetzt werden kann und wie die Resonanz auf ergreifende Gefühle ausfällt. 20 Deshalb gilt es, Stellung zu Gespürtem zu beziehen. Jede Irritation erinnert merklich oder unbemerkt daran. Leibvergessene Lernprogramme ignorieren die grundlegende Tatsache, dass Situationen das Element sind, in dem Menschen leben – sie müssen »[…] in ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit im Auge […] behalten« 21 werden. Die Neue Phänomenologie, die eine Situationsontologie vertritt, unterscheidet hier präzise. Indem Situationen als aus Sachverhalten, Programmen und Problemen 22 zusammengesetzt verstanden werden, weisen sie eine Komplexität auf, welche die gängige Vorstellung von einer zeitlich und örtlich begrenzten Erlebniseinheit, innerhalb derer es der Kopräsenz mindestens zweier Menschen bedarf, 23 weit übersteigt. Konsequenzen eines dahingehend erweiterten Situationsbegriffs für Theoriebildung und Forschung sind in viele Richtungen denkbar – etwa als Neophänomenologische Soziologie mit dem Programm eines methodologischen Situationismus. 24 Damit ist nicht gesagt, dass Situation als Begriff in bisherigen Kompetenzkonzeptionen keine Rolle spielte. 25 Vielmehr liegt die Erweiterung in der Auffassung darü18
Hermann Schmitz (2005, S. 94), in: Marie-Therese Mäder/Chantal Metzger/ Stefanie Neubert/Adjai Paulin Oloukpona-Yinnon/Louise Schellenberg (Hrsg.): Brücken bauen. Kulturwissenschaft aus interkultureller und multidisziplinärer Perspektive. Bielefeld 2016, S. 130. 19 Vgl. Reichenbach, Mensch, S. 1. 20 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 108 f. 21 Schmitz, Einführung, S. 54. 22 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 47. 23 Vgl. Gugutzer, Leib, S. 155. 24 Vgl. Gugutzer, Leib, S. 160. 25 Siehe dazu Fußnote 158.
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ber, was unter Situation(en) zu verstehen und subsummieren ist. Die Blickrichtung sollte dabei aus der Innenwelt des oder der Einzelnen heraus auf die besagte Ausbildung eines Sinns für Angemessenheit 26 in dem Gesamtgefüge aus verschachtelten Situationen gehen. Schmitz unterscheidet zum Beispiel impressive, aktuelle, segmentierte, zuständliche oder includierende 27 Situationen, wobei sie nie einzeln vorkommen. Dass jemand eine Sprache fließend spricht und zu beherrschen glaubt (zuständliche Situation), hat nicht automatisch zur Folge, dass er oder sie in einem Gesprächskontext, der sprichwörtlich von dicker Luft beherrscht wird (aktuelle Situation), sein Können zeigt. Hier kann es gar ein Zeichen von Takt oder Fingerspitzengefühl sein, zu schweigen. Vielleicht bewirkt eine leiblich spürbare Qualität im Blickkontakt das situationsadäquate Zurücknehmen der ursprünglichen Initiative. Vielsagende Eindrücke im Sinne Schmitz’ 28 haben im kompetenten Agieren das noch immer unterschätzte Potenzial, Orientierung zu verleihen. Sie helfen beim Erfassen von Wesentlichem jenseits allgemeiner Normen und Regeln. Nicht selten zwingen sie gar zum Abweichen vom eigentlichen Plan – und stören dadurch den Ablauf. Um dennoch als Teil von Kompetenz zu gelten, bedürfen sie der Artikulation, gleichsam eines Alphabets. Welche Folgen hat dies für die Bildungspraxis? Zwar sprengt diese Frage den vorliegenden Rahmen. Dennoch lässt sich sagen, dass Outcome-Beschreibungen, wie also idealerweise in einer bestimmten Situation agiert werden soll, auf den (leibphänomenologischen) Prüfstand müssen. Es gilt zu entscheiden, wo sie Sinn ergeben und an welchen Stellen sie etwas vermessen, das de facto nicht vermessen werden kann. Dem präzisen Erfassen von Lernleistungen in Kompetenzfeststellungsverfahren steht dies zunächst entgegen. Bei allem Verständnis für an zeitökonomischen Interes26
So Hilge Landweer, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie (Gefühle). Berlin 2011, S. 18. 27 Vgl. Hermann Schmitz (2005, S. 25), in: Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung. Freiburg/München 2017, S. 75. 28 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 48.
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sen orientierten Programmen darf nicht in Kauf genommen werden, dass besagte Wissensarten negiert werden. Das betrifft auch den Status von Gefühlen als Atmosphären, 29 die, wenn sie ergreifen, Autorität erlangen können. Von einem ergreifenden Gefühl auf ein (situations-)angemessenes Niveau personaler Emanzipation zurückzukehren, ist meist unsichtbare Arbeit, die im täglichen Leben fortlaufend geleistet wird. Für leibliche Regungen wie Mattigkeit oder Frische 30 scheint ebenso, wenn auch in abgeschwächter Form zu gelten, dass sie Möglichkeiten, in der aktuellen Situation Kompetenzen performativ hervorzubringen, beeinflussen (man denke an einen Vortrag in der drückenden, Mattigkeit verbreitenden Spätsommerschwüle). Das Hervorbringen von Könnerschaft hängt nicht zuletzt von der leiblichen Gestimmtheit eines Menschen ab: mal laufen wir zur Hochform auf, mal sind wir nicht in Form, vielleicht, weil wir in die Enge getrieben werden. Daran wird deutlich, dass Kompetenz nur verstanden werden kann, wenn personale Emanzipation als dialektisch verwoben mit einem Abtauchen in personale Regression 31 aufgefasst wird. Meisterung der Situation durch die Person beinhaltet je nach Kontext über Ertragen hinaus Handeln. Kompetenz wird nicht selten als lediglich »in den Subjekten zu lokalisierende, ihnen immanente Voraussetzung« 32 im Sinne eines individuellen Potenzials angenommen. Sie lagert sich jedoch nicht im Inneren ab, um bei Bedarf abgerufen zu werden, wie es eine mit Schmitz widerlegte psychologistische und introjektionistische Sicht suggeriert. 33 Zwar mag sie kognitive Problemlösefähigkeit im Sinne einer Disposition beinhalten, erschöpft sich aber nicht darin. Wird sie darüber hinaus als Potenzial zur leibgebundenen Bewegung in Situationen mit binnendiffuser Bedeutsamkeit verstanden, so tritt eine Dynamik in den Vordergrund, die zwischen
29
Vgl. Schmitz, Einführung, S. 83. Vgl. Schmitz, Einführung, S. 75. 31 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 49 f. 32 Brater, Kompetenzen, S. 198. 33 Vgl. Hermann Schmitz, in: Anna Blume (Hrsg.): Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung. Freiburg/München 2005, S. 2. 30
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den Polen Enge und Weite aufgespannt ist. 34 Performanz zeigt sich dann als Antwort auf gespürte Enge, die Richtung Weite strebt. Engt ein Gegenüber mit scharfen Blicken ein, so ist der personalen Emanzipationsfähigkeit, etwa das Wesentliche zu tun oder zu sagen, anderes abverlangt als wenn ein entgegenkommender Blick wohlwollend erscheint. Sind Personen von Scham oder Ekel ergriffen, so ist in der situativen Performanz ein leiblich gespürter Widersacher wirksam. Dieser lässt sich gegebenenfalls nur unter Aufbringung hohen Kraftaufwands überwinden. Der Mensch muss also im Hinblick auf Gespürtes Fassungsarbeit betreiben, was in erster Linie eine leibkommunikative 35 Leistung darstellt. Entscheidend ist für Kompetenzerwerb demnach das Wechselspiel der konkurrierenden Tendenzen personaler Emanzipation gegenüber Regression. 36 Überraschendes, das auftritt, wenn der Strom des Gewohnten abreißt, versetzt in primitive Gegenwart. 37 Hört eine Person etwa sie beleidigende oder ihre grundlegenden Überzeugungen in Frage stellende Worte, so ist Betroffensein die entscheidende Bedingung der Auseinandersetzung mit diesem Sachverhalt. Immunisierungsversuche gegen derart Wiederfahrendes können, wenn überhaupt, nur Teile einer Situation einholen. Hartnack folgend, müssen in Bildungskontexten Situationen aufgebrochen werden, damit begreifen stattfinden 38 kann. Gegenüber diesem Bruch, der auf dem pathischen Charakter von Lernen 39 beruht, wird lernkulturell und alltagspraktisch versucht, unmittelbar zu dem zu kommen, was als Ergebnis er-
34
Vgl. Schmitz, Einführung, S. 35. Vgl. Schmitz, Einführung, S. 29 f. 36 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 105. 37 Barbara Wolf, in: Florian Hartnack: Leibliche Didaktik. Bildungsprozesse aus leibphänomenologischer Perspektive (Didaktik), unter: http://www.pedocs.de/ volltexte/2017/12738/pdf/Hartnack_2017_Leibliche_Didaktik.pdf (Stand: 30. 07. 2017), S. 2. 38 Vgl. Hartnack, Didaktik, S. 2, im Anschluss an Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Bielefeld/Locarno 2008, S. 75. 39 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Zur Erfahrung des Lernens. Eine phänomenologische Skizze, in: Santalka Filosofia 18(3), 2010, S. 6–15, hier S. 6. 35
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wartet wird und im Leistungsüberprüfungsgeschehen zur Geltung kommt. Die damit verbundene Abstraktion von der Situation zur Konstellation muss jedoch nicht das einzelne Subjekt je neu leisten, vielmehr sind Konstellationen 40 vielfach das, was bereits vorgefunden wird. Dazu ein Beispiel. Die Ausbildung im Altenpflegeberuf ist als regelmäßiger Wechsel zwischen Theorieeinheiten (mehrwöchige Schulzeit im Rahmen der Ausbildung) und Praxis (Arbeit im Altenheim) organisiert. In der Praxis sind die Auszubildenden mit Situationen alter gebrechlicher Menschen leiblich direkt konfrontiert. Sie erfahren spürend, was es bedeutet, sich zu schämen und zu ekeln, unter Zeitdruck zu stehen oder sich von einer Atmosphäre des Miteinanders ergreifen zu lassen. Sie sind umgeben von vielsagenden, oft irritierenden Eindrücken. In Gerüchen, Geräuschen und vielleicht bizarr wirkenden Lebensäußerungen begegnet ihnen die »Fremde Welt Pflegeheim«. 41 Im theoretischen Ausbildungsanteil am Lernort Pflegeschule wird nun überwiegend in Konstellationen über das, was zuvor erfahren wurde, verhandelt. Eine kompetenzaffine Manageability von Scham oder Ekel in Form outcomeorientierter Curricula (Lernziel: Ekelmanagement, Zeitmanagement etc.) hat zwar im Zeichen angestrebter Handhabbarkeit eine gewisse Berechtigung, weist aber eine Überbetonung der personalen Emanzipation gegenüber der personalen Regression auf. 42 Wo diese übersehen, übergangen oder übersprungen wird, bleibt nachhaltige Kompetenzentwicklung im Sinne einer Bewegung in binnendiffuser Bedeutsamkeit aus. Stattdessen wird eine starre Schablone über das in Situationen begegnende gestülpt, und was am Rand übrigbleibt, wird gleichsam in die Innenwelt verlegt – als Privatsache. Dass dies mitunter schwerwiegende Folgen haben kann, zeigt sich nicht nur im besagten Handlungsfeld, das in besonderem Maß mit Phänomenen wie Leid, Schmerz oder Hoffnungslosig40
Vgl. Schmitz, Einführung, S. 50. Vgl. Ursula Koch-Straube: Fremde Welt Pflegeheim: eine ethnologische Studie. Bern 2002. 42 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 96. 41
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keit zu tun hat. Generell gilt: Wo Betroffenheiten ignoriert und Situationen fortlaufend auf gewünschte Lernergebnisse enggeführt werden, zugleich aber in die Leiblichkeit anderer empfindlich eingegriffen wird, kann schlechterdings kompetentes Handeln entstehen. Kompetenz hat in Anbetracht wirkmächtiger Atmosphären als Disposition selbst-organisierten Handelns 43 eine sprichwörtlich natürliche Grenze. Die Einseitigkeit, mit der ihre Positivität behauptet wird, ist zudem deshalb kritikwürdig, weil letztlich dem Subjekt zugeschrieben wird, alleinverantwortlich und in Verfügungsgewalt zu sein. Primitive Gegenwart strahlt in alles Bewussthaben aus und ist eng an die subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins geknüpft. 44 Dass es eine zentrale Fähigkeit von Personen ist, Ergreifendes zu überholen und spürbar davon loszukommen, 45 stellt die Bedeutung von Ergriffenwerden nicht in Frage, im Gegenteil. Wo es dazu führt, sich für die Durchdringung und Überholung eines Problems einzusetzen, findet mehr statt als Kumulation von Bindestrich-Kompetenzen. Die Situation bildet durch aktive und pathische Anteile von Welt- und Selbstbegegnung im Medium leiblicher Kommunikation. 46 Für einen nicht-reduktionistischen Kompetenzbegriff folgt daraus: A) Personen sind gleichermaßen Akteure und Patheure. 47 Kompetenz ist lediglich ein Strukturmoment von Bildung. Sie belichtet den Teil menschlichen Lernens, der auf personale Emanzipation abzielt. Diese ist nur vor dem Hintergrund personaler Regression angemessen zu fassen. Affektives Betroffensein bedarf daher der Anerkennung als konstitutiver Bestandteil von Kompetenzentwicklung.
43
Vgl. John Erpenbeck: Kompetenz und Performanz im Bild moderner Selbstorganisationstheorie, unter: http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/ erpenbeck_03_4_2002.pdf (Stand: 07. 03. 2017). 44 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 34. 45 Vgl. Schmitz, Einführung. 46 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 38. 47 Vgl. Jürgen Hasse, in: Gugutzer, Leib, S. 150.
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B) Atmosphären sind wirkmächtige Einflussinstanzen auf Kompetenzentwicklung. 48 Sie präformieren den Möglichkeitsraum, der ihr eröffnet wird. 49 Das Verhältnis von Kompetenz zu Performanz ist durch die leibliche Dynamik zwischen Enge und Weite grundiert – leibliche Kommunikation ist das Medium von Kompetenzentwicklung. 50 C) Die leibliche Verfasstheit von Personen bedarf der Aufmerksamkeit in Bildungsprozessen. Damit verbunden ist die Thematisierung handlungsrelevanter Wissensarten wie vielsagende Eindrücke und (zwischen-)leiblich Gespürtes. Zur Artikulation solcher Wirklichkeitsbereiche kann die Neue Phänomenologie dienen und wertvolle Impulse für eine kritische Kompetenzdebatte anbieten. Darüber hinaus ermöglicht sie, anders als die meisten bisher existierenden Begründungsfiguren, eine konsequent von Leib und Situation(en) ausgehende Bildungsidee. Der letzte Abschnitt soll in Fragmenten zeigen, welche Orientierungen reinen Kompetenzerwerbbestrebungen zur Seite gestellt werden sollten. Es handelt sich dabei keinesfalls um ein fertiges, ebenso wenig um ein grundlegend neues Programm. Als leitendes Prinzip gilt dabei einerseits die Bezugnahme auf unwillkürliche Lebenserfahrung als Instanz für die Rechtfertigung von Behauptungen 51 und andererseits auf den Stellenwert des Dazwischen, das im Medium des Ästhetischen artikuliert werden kann. Auf diesem Weg können Spuren zu Bedeutungen aufgenommen werden, die den Reichtum von Situationen erst ausmachen. Dies soll nur dann als Kompetenz bezeichnet werden, wenn er besagte Voraussetzungen für ein erweitertes Kompetenzverständnis erfüllt.
48
Vgl. Barbara Wolf, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen. Wiesbaden 2018, S. 169 f. 49 Vgl. Jan Slaby, in: Andermann/Eberlein, Gefühle, S. 125. 50 Vgl. Gugutzer, Leib, S. 151. 51 Vgl. Schmitz, Einführung, S. 13.
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Am Betroffensein lernen
3.
Zur Vergegenwärtigung von Situativität 52
Auch eine vermeintlich funktionierende Person stößt in ihrer Lebenswirklichkeit auf einen unverfügbaren Rest, auf Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Für die Begegnung mit diesen Sachverhalten eignen sich Zugänge, die Bedeutungen auf anderer Ebene Ausdruck verleihen als es erklärende, definitorische Herangehensweisen vermögen. Hierzu liegt im Ästhetischen eine besondere Chance. Ästhetische Bildung hat unter anderem jene Empfindungen und subjektiv gespürten Tatsachen zum Gegenstand, die dem Prinzip der schnellen Machbarkeit und des Abhakens im Wettlauf allgemeiner Leistungsorientierung entgegenstehen. 53 Sie sensibilisiert Hasse zufolge die Wahrnehmung für gelebte Wechselwirkungen zwischen Selbst und Welt, während outcomeorientierte Lernprozesse allein das intelligible Denken für Wechselwirkungen in der Welt fördern. 54 Wird sich einem Feld künstlerisch-ästhetisch angenähert, so ist damit ein Weg beschritten, der den begrifflich identifizierenden anreichert, Subjektivität und Wissenschaftlichkeit also durchaus in ein produktives Verhältnis setzt. 55 Dies bedeutet weder per se eine Absage an evidenzbasierte Programme und Wissenschaft, noch sentimentale Affirmation des Emotionalen, Unbestimmten und Chaotischen. Vielmehr gilt Wolfgang Welschs Forderung nach einer transversalen Vernunft, die Übergänge zwischen Rationalitätsformen »kontrolliert zu vollziehen«
52
Vgl. Jürgen Gunia: Kompetenz. Versuch einer genealogischen Ideologiekritik (Kompetenz), unter: http://www.uni-muenster.de/Textpraxis/sites/default/files/ beitraege/juergen-gunia-kompetenz.pdf (Stand: 04. 08. 2017), hier S. 9. 53 Vgl. Horst Rumpf, in: Birgit Engel: Spürbare Bildung. Über den Sinn des Ästhetischen im Unterricht, unter: http://www.pedocs.de/volltexte/2011/4887/ pdf/Engel_2011_Spuerbare_Bildung_2003_D_A.pdf (Stand: 27. 11. 2017), S. 84. 54 Vgl. Jürgen Hasse: Ästhetische Bildung – Eine doppelte Perspektive ganzheitlichen Lernens (Bildung), unter: http://www.widerstreit-sachunterricht.de/ ebeneI/didaktiker/hasse/aesbildung.pdf (Stand: 28. 04. 2017), S. 7. 55 Vgl. den Titel des Beitrags von Charlotte Uzarewicz: Zwischen Subjektivität und Wissenschaftlichkeit. Phänomenologische Methode in der Pflegebildung – Eine Annäherung (Subjektivität), in: PADUA (1), 2010, S. 6–13, hier S. 6.
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vermag. 56 Das verringert fehlgeleitete Dichotomisierungen wie diejenige zwischen Dichtung und Wirklichkeit, deren Übergänge auch im Hinblick auf Kompetenzorientierung fließender sind als manches evidenzbasierte Bildungsprogramm nahezulegen versucht. Der Poesie spricht Schmitz das Potenzial zu, mit Respekt vor der binnendiffusen Bedeutsamkeit Situationen zu einer besonderen Gestalt der Explikation in satzförmiger Rede auszubilden. So »webt der Dichter aus den Sachverhalten, Programmen und Problemen […] gleichsam ein so dünnes Netz, dass die von ihm heraufbeschworene Situation […] in unversehrter Ganzheit durchscheinen kann«. 57 In Lyrik als Abduktion leiblicher Erfahrungen in rhythmisierter Sprache und Versprachlichung von Anmutungen 58 werden so Situationen vorgestellt und doch in ihrer Bedeutsamkeit nie vollständig enthüllt. Indem sie die Thematisierung von Atmosphärischem jenseits kausalanalytischen Denkens 59 befördern, wird die Vorherrschaft des Objektivitätsideals aufgebrochen, Denken und Empfinden außerhalb der vorgezeichneten Bahnen wird angeregt. Die Vergegenwärtigung von Situativität, welche die Stiftung neuer, nicht instrumentell gedachter Antworten und Beziehungen im Hinblick auf Welt ermöglicht und erfahrbar macht, 60 sollte in diesem Sinne fester Bestandteil von Kompetenzentwicklung sein. 4.
Fazit
Kompetenz ist unverzichtbar zur Ingriffnahme der persönlichen Situation und gemeinsamer Situationen. Sie entfaltet sich jedoch nicht im Inneren, sondern ist Ausdruck und Ergebnis leiblicher 56
Wolfgang Welsch, in: Hasse, Bildung, S. 8. Schmitz, Einführung, S. 54 ff. 58 Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie. München 2012, S. 119. 59 Vgl. Uzarewicz, Subjektivität, S. 6. 60 Vgl. Gunia, Kompetenz, S. 9. 57
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Kommunikation. Lernatmosphären, die von bestimmten Programmen (etwa Outcomeorientierung) dominiert werden, schreiben sich in die Leiblichkeit ein – sind sie etwa von permanenter Hektik und Effizienzdenken geprägt, wird auch dies am Leib Spuren hinterlassen. Der oder die Einzelne ist zwar dadurch nicht vollständig determiniert – vielmehr eröffnet die in das affektive Betroffensein investierte Gesinnung 61 gewisse Spielräume. Dennoch: ob und wie Kompetenzen heranreifen können, ist an mehr als an personale Dispositionen gebunden. Soll über ein bloßes Funktionieren hinaus Bildung angeregt werden, so bedarf es dazu Wege, Situationen phänomenologisch zu erkunden und, etwa im Medium der Kunst, reicher und voller zu bearbeiten. Dann kann es auch eher gelingen, den Horizont des Möglichen nicht aus den Augen zu verlieren. Das »Überfliegen der rauhen Wirklichkeit«, 62 mit dem Kompetenzentwicklung verbunden ist, ist nicht immer planbar, bringt auf notwendige Abwege und verweist in Abgründe. Ob sie thematisiert werden oder nicht – Konstellationen heben sie nicht auf. Die Metapher des Sandkastenspiels 63 für menschliche Bemühungen um Emanzipation und Selbstermächtigung verweist treffend auf unseren Status als Spielende, der nicht verloren geht, so souverän Personen auch scheinen mögen. Zum Spiel gehört nicht zuletzt eine Aufmerksamkeit für das nur vermeintlich Nebensächliche. Literatur Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine (Hrsg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Berlin 2011. Beljan, Jens: Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung. Weinheim/Basel 2017. Benner, Dietrich: Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung, unter: http://
61 62 63
Vgl. Schmitz, Einführung, S. 126. Schmitz, Einführung, S. 54. Vgl. Schmitz, Einführung, S. 50.
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Am Betroffensein lernen
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Viola Straubenmüller
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Klaudia Schultheis
Das Unerwartete als pädagogische Chance. Historische und aktuelle Einblicke in den Umgang mit Irritationen in der Erziehung Abstract: Irritation in der Pädagogik ist durchaus positiv konnotiert. Phänomene, Handlungen, Erlebnisse oder Situationen, die irritieren, spielen eine Rolle in der Erziehungs- und Bildungstheorie, aber auch für die Didaktik und das pädagogische Handeln. Die folgenden Überlegungen zeigen auf, wie Irritation zum Pädagogikum werden kann. Zu Beginn wirft der Beitrag Schlaglichter auf den pädagogischen Umgang mit Irritation bzw. dem Unerwarteten. Dazu bieten sich u. a. Beispiele aus der pädagogischen Tradition an. Kurze Einblicke in die erziehungswissenschaftliche Reflexion zum Thema Irritation zeigen, wie das Thema erziehungs-, bildungs- und wissenschaftstheoretisch diskutiert wird. Der Beitrag endet mit einer Deutung der pädagogischen Irritation unter Bezug auf Überlegungen der Autorin zu einem leibphänomenologisch fundierten Verständnis des Lernens im Anschluss an die Leibphänomenologie von Hermann Schmitz. Keywords: Leibliches Lernen, Conceptual Change, Lernerfahrung, Lehrerkompetenz
1.
Irritation als Aufforderung zum eigenständigen Denken: Der Club der toten Dichter
Der Film »Der Club der toten Dichter« (»Dead Poets Society«) zeigt den 2014 verstorbenen Robin Williams in einer seiner Glanzrollen. Er spielt den liberalen Englischlehrer John Keating, und wir beobachten ihn hier in seinem pädagogischen Handeln, das weit über Didaktik und Unterrichtsplanung hinausgeht, und auch ihn – den Lehrer selbst – als pädagogisches Vorbild zeigt. Ich habe den Film schon sehr oft gesehen, da ich ihn immer wieder in 137 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Klaudia Schultheis
Seminaren, insbesondere solchen, in denen es um die professionelle Entwicklung, und auch um die Persönlichkeitsentwicklung von Lehrerinnen und Lehrer geht, einsetze. Jedes Mal fasziniert mich der Enthusiasmus und Idealismus des Lehrers John Keating und ich wünsche mir, dass davon ein wenig auf die nächste Lehrergeneration überspringt. Was macht den Film, was macht diese Rolle des Englischlehrers John Keating so faszinierend? 1959 kommt John Keating an die traditionsbewusste Welton Academy – eine sehr konservative Internatsschule im US-Bundesstaat Vermont. Die Leitideen, das Ethos des Internats sind gekennzeichnet durch »tradition, honor, discipline, excellence«. Die Schule hat sich der Elitebildung verschrieben – viele der Absolventen studieren später an den amerikanischen Yvi League Universitäten. Der Weg der Schule sind ein starrer Lehrplan, lehrerzentrierte Unterrichtsmethoden wie Buch- und Tafelunterricht, Gehorsam und hohe Leistungsanforderungen an die Schüler. Die Schule erwartet »commitment« und Konformität von ihren Lehrern und Schülern. Das System darf dabei nicht in Frage gestellt werden – die Schule ist kein Ort für Kreativität und freies Denken. Sie fordert vielmehr die Anpassung an das Etablierte und konstruiert eine intellektuell und politisch repressive Atmosphäre für die Schüler durch den Zwang zur Anpassung und totale Kontrolle. Diese Atmosphäre bricht der Lehrer John Keating auf. Das gelingt ihm mit seinen reformorientierten pädagogischen Methoden, mit seiner Botschaft und durch seine eigene Person. Er bringt ein Moment der Irritation in die Schule: für die Schüler, die Kollegen, den Direktor. Am ersten Schultag kommt er, leise pfeifend ins Klassenzimmer, mit Hemd und Krawatte, aber ohne Jacket. Er springt auf das Pult und sagt den Schülern, sie könnten ihn mit Bezug auf ein Gedicht, das er rezitiert, mit »Oh Captain, my Captain« ansprechen. Völlig unerwartet führt er die Schüler in den Welton Honor Room, um dort einen Moment beim Betrachten früherer Klassenphotos zu inszenieren, als würden die früheren Schüler flüstern: Carpe Diem – seize the day – make your lives extraordinary«. Es gelingt ihm, die Schüler leibhaft in den Bann zu ziehen und ihre Präsenz und Gegenwart spüren zu lassen. Kein 138 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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anderer Lehrer der Schule hatte je zuvor so etwas getan oder würde zu solchen pädagogischen Methoden greifen und sich selbst so exponieren. Es ist ein Moment der Irritation, aber in der Spannung der Situation spürt man die positive Kraft, die darin steckt. Irritation entsteht auch in vielen anderen pädagogischen Situationen, die die Schüler mit ihrem Lehrer Keating erfahren: Er fordert sie auf, aktiv Seiten aus einem Buch herauszureißen, weil man nicht allem, was geschrieben steht, Glauben schenken muss, sondern selbst denken kann. Er lässt die Schüler auf das Pult steigen, um am eigenen Leib zu erfahren, wie sich durch einen anderen Standort die Perspektive verändert. Dass der Lehrer Keating die Schüler als Subjekte, als Individuen anerkennt, sie zum kritischen Denken und zur Kreativität herausfordert, irritiert sie zwar, aber fasziniert sie auch gleichzeitig. Keating überzeugt, weil er selbst lebt, was er lehrt. Er stellt sich selbst als Lehrer gegen das Etablierte. Dabei zwingt er nicht – er provoziert, macht neugierig und macht den Schülern Mut, ihren Verstand und Intellekt zu gebrauchen. Miteinander rufen die Schüler den geheimen Club der toten Dichter, dem einst ihr Lehrer Keating angehörte, wieder ins Leben. Ein Schüler entdeckt seine Leidenschaft für das Theaterspielen und übernimmt eine Rolle in einem örtlichen Theater. Als er wegen dieser Entscheidung mit seinem Vater in Konflikt gerät, nimmt er sich das Leben. Die Schule macht Keaton für den Selbstmord verantwortlich, lässt die Schüler eine Erklärung mit unwahren, belastenden Behauptungen unterschreiben und entlässt den Lehrer. In der Schlussszene holt Keaton während der Unterrichtsstunde seine Sachen aus dem Klassenraum. Ein Schüler steigt auf das Pult und erweist dem Lehrer seinen Respekt, indem er »Oh Captain, my Captain« ruft. Als Keating sich umwendet, schließt sich nach und nach die halbe Klasse an, den schreienden und wütenden Schulleiter, der die Schüler zum Hinsetzen auffordert, ignorierend. Es ist ein Moment der Irritation in der Person des Lehrers und seinem für die Schüler ungewohnten pädagogischen Handeln, das den Schülern Wege aus der Enge ihrer aktuellen Erfahrung aufzeigt. Sie erfahren auf einmal sich auch in ihrer Rolle als Schüler 139 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Klaudia Schultheis
in ihrem Hier und Jetzt, in ihrer leiblichen Verfasstheit, in ihrer Kreativität, Individualität und Selbstbestimmung. Die Irritation wird zum Pädagogikum, sie initiiert Lernprozesse. 2.
Irritierende Explosion: Die Pädagogik Makarenkos
Für unser modernes pädagogisches Verständnis irritierend ist das Verhalten des Erziehers in einer klassischen pädagogischen Anekdote – berichtet von dem russischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko (1888–1939) in seinem Buch »Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem«. Makarenko zählt zu den Klassikern der Pädagogik und gilt als Vertreter einer Kollektiverziehung, die über die konkrete Erfahrung der Gemeinschaft, durch Arbeit und bewusste Disziplin den neuen, kollektiven Menschen erziehen will. Im Gegensatz zum ersten Beispiel steht hier nicht die Individualität, sondern die Einordnung in die Gemeinschaft im Vordergrund. Im pädagogischen Poem berichtet Makarenko unter anderem über seine pädagogische Arbeit als Leiter der Gorki-Kolonie in der Ukraine von 1920–1928. Hier landeten in der Oktoberrevolution obdachlos gewordene und verwahrloste Kinder und Jugendliche. Die ersten fünf Zöglinge waren 18 Jahre alt und wegen bewaffneten Raubüberfalls oder Diebstahls in die Kolonie geschickt worden. 1924 hatte die Kolonie, die keine geschlossene Anstalt war, 98 Kolonisten, 89 männliche und neun weibliche. Die Vergehen, die zur Einweisung in die Einrichtung führten, waren: Diebstahl 51, Totschlag zwei, Banditentum, konterrevolutionäre Betätigung sechs, Landstreicherei 39. 1 Bei einem Treffen ehemaliger Zöglinge der Gorki-Kolonie und der Dzierzynski-Kommune zum 90. Geburtstag Makarenkos 1978, waren von 133 Teilnehmern zehn Wissenschaftler, 15 Ingenieure und Techniker, 18 Meister und 30 Facharbeiter, 25 Lehrer und Erzieher, vier 1
Vgl. Edgar Günther-Schellheimer: Makarenko heute (Makarenko). Vortrag vor dem Seniorenseminar der Technischen Hochschule Wildau 2006, unter: http:// www.makarenko.eu/4.html (Stand: 24. 02. 2017).
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
Ärzte, 13 Betriebsleiter, zehn Berufsoffiziere, sechs Literaturschaffende und zwei Künstler. 2 Makarenkos pädagogische Arbeit war also durchaus erfolgreich und fand entsprechende Anerkennung. Die pädagogische Situation, um die es hier geht, spielt in der Anfangszeit der Gorki-Kolonie. Makarenko überschreibt das Kapitel im pädagogischen Poem mit »Die unrühmlichen Anfänge der Gorki-Kolonie«. Er berichtet, dass die ersten Monate für ihn und seine Mitarbeiter »nicht nur Monate der Verzweiflung und ohnmächtiger Anstrengungen« 3 waren, sondern auch eine Zeit des Suchens nach dem rechten Weg. Er widmete sich eingehend der Lektüre pädagogischer Schriften, um zum folgenden Schluss zu kommen: »Das Hauptergebnis dieser Lektüre war für mich die feste Gewissheit, von der ich plötzlich unerschütterlich überzeugt war, dass ich mit diesen Büchern keinerlei Wissenschaft in meinen Händen hatte und auch keine Theorie, dass die Theorie erst aus der Summe der sich vor meinen Augen abspielenden realen Erscheinungen abgeleitet werden müsse«. 4 Als sich eines Tages der Zögling Sadarow der Anweisung Makarenkos, in den Wald zu gehen und Holz für die Küche zu hacken, mit der Äußerung »Geh doch selber hacken, ihr seid ja genug Leute hier!« widersetzt, verliert er die Kontrolle: »Und da geschah es: Ich glitt auf dem hohen pädagogischen Seil aus und stürzte«. 5 Wütend über das Verhalten und beleidigt durch die Ansprache eines Zöglings mit »Du« ohrfeigt und schlägt er den großen kräftigen Schüler, bis dieser leise flüstert: »Verzeihen Sie, Anton Semjonowitsch …«. Diese Szene bewirkt eine Wende im Verhalten der Zöglinge. Von da an sind sie zugänglich und kooperativ und folgen den Anordnungen Makarenkos. Ihm war klar, dass sein Verhalten nicht pädagogisch und juristisch ungesetzlich war, aber er zeigte sich dadurch den Zöglingen verletzlich und menschlich. Sie wussten, dass sich Makarenko hier auf gefähr2
Vgl. Günther-Schellheimer, Makarenko. Anton Semjonowitsch Makarenko: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem (Weg). Berlin/Weimar 1967, S. 20. 4 Makarenko, Weg, S. 21. 5 Makarenko, Weg, S. 21. 3
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Klaudia Schultheis
liches Terrain begab und zollten ihm von da an Respekt für sein Engagement. Aus dieser Szene machte Makarenko später die sog. »Explosionsmethode«: Dabei sollte der Konflikt zwischen Persönlichkeit und Kollektiv bis auf die äußerste Spitze getrieben werden und so für die Reinigung der angespannten Atmosphäre sorgen. 6 Es führte ihn zu der Erkenntnis, dass erzieherische Prozesse nicht immer kontinuierlich verlaufen, sondern durch erschütternde oder dramatische Situationen befördert werden können. Makarenko schloss daraus, dass man eine solche Situation auch hervorrufen und für den Erziehungsprozess fruchtbar machen könnte. Das, was hier pädagogisch wirkt, ist das für die Zöglinge Unerwartete. Es führt zur Irritation, weil es das gewohnte Verhalten des Erziehers durchbricht und mit starken Emotionen verbunden ist. Das ist in etwa so, wie wenn sich das Kind von der Hand der Mutter losreißt und auf die verkehrsreiche Straße rennt, wobei die Mutter es gerade noch einholen kann, festhält, schüttelt und panisch anschreit. Als einmaliges Ereignis wirkt das Verhalten der Mutter wie ein Schock und prägt sich dem Kind tief ein. So ist es nach Makarenkos eigener Deutung der Schock, der eine Veränderung im Verhalten Sadarows bewirkt. 7 Es ist auch hier eine leibliche Erfahrung, die Lernen initiiert. Dennoch ist die Qualität der erlebten Spannung ganz anders als im ersten Beispiel. Man spürt die Enge, die hohe konzentrierte Anspannung der Beteiligten; man fühlt, dass gleich etwas passieren muss. Makarenko leitet aus seiner biographischen pädagogischen Erfahrung 8 eine pädagogische Methode ab in der Hoffnung, damit eine auf andere, ähnliche Situationen übertragbare Technik zu finden. Das hat er dann auch öfters so angewendet. Eine solche
6
Vgl. Verena Zimmermann: Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990). Köln u. a. 2004, S. 67. 7 Vgl. Isabella Rüttenauer: A. S. Makarenko. Ein Erzieher und Schriftsteller in der Sowjetgesellschaft. Freiburg u. a. 1965, S. 268. 8 Vgl. zum Zusammenhang von Biographie und pädagogischer Theorie: Klaudia Schultheis: Pädagogik als Lösungswissen. Eine biographische Analyse der pädagogischen Semantik Paul Oestreichs. Bad Heilbrunn 1991.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
irritierende »Explosion« des Erziehenden, darauf läuft es letztlich hinaus, erscheint uns heute eher problematisch. 3.
Irritation als Lernmotivation
Hingegen ist die didaktische Irritation aus dem modernen Unterricht nicht wegzudenken. Sie findet sich in vielen Gestalten: im Ausgehen von realen Fragen und Problemen im problemorientieren Unterricht oder Projektunterricht, im Ausgang von Phänomenen, die Staunen hervorrufen und eventuell im Widerspruch zu vorhandenen kognitiven Konzepten stehen, wobei der Unterricht dann zu einem »conceptual change« führen kann. Ein solcher Ansatz ist das Genetische Lehren, wie es der Physik-Didaktiker Martin Wagenschein (1896–1988) beschrieben hat. Es beginnt bei der real erfahrbaren phänomenalen Wirklichkeit des Kindes. Nach Wagenscheins Auffassung kann man, auch wenn man ganz in der Sphäre der Phänomene bleibt, Einsichten in die Physik gewinnen. Man kann das Verstehen physikalischer Zusammenhänge anbahnen, ohne bereits von Molekülen, Atomen oder Elektronen reden zu müssen. Wagenschein, der selbst Physiklehrer war, zeigt an vielen Beispielen auf, wie die Sensibilität und Offenheit für Naturphänomene, das Staunen, zu Fragen und zu immer weiterem Nachforschen wollen bei den Schülern führt. Dabei entsteht Interesse und ein Grundverständnis physikalischer Zusammenhänge, dass, so Wagenschein, der »nur nachgeahmten Fachsprache, der nur bedienten Formeln, der handgreiflich missverständlichen Modellvorstellungen« 9 nicht bedarf. Es sind die überraschenden und damit irritierenden Phänomene, wie z. B. der Schall, die Gravitation u. v. m., die die Schüler staunen machen, sie herausfordern, nach Antworten für ihre Fragen zu suchen – und damit letztlich zum Lernen motivieren. 9
Martin Wagenschein: Rettet die Phänomene! (Der Vorrang des Unmittelbaren), in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht (Unterricht) 30(3), 1977, S. 10.
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Klaudia Schultheis
Ähnlich berühmt und zum pädagogischen Klassiker geworden ist Friedrich Copeis Milchdosenbeispiel (1950/1963). Er zeigt daran, wie »fruchtbare Momente im Bildungsprozess« entstehen – so der Titel eines seiner Bücher. Auf einer Schulwanderung bringt ein Junge eine Büchse mit Kondensmilch mit – etwas, das die Landkinder zur damaligen Zeit noch nicht kennen. Der Junge öffnet die Büchse, indem er an einer Stelle ein Loch hineinbohrt. Er will die Milch ausgießen, aber die Milch fließt nicht heraus. Die Kinder rätseln, da beim Schütteln doch Tropfen herausspritzen. Ein anderer Junge, der es schon irgendwo gesehen hat, schlägt ein zweites Loch in die Büchse. Alle staunen – die Milch fließt nun in einem vollen Strahl aus der Dose. Was die Kinder bereits begonnen haben: das Fragen, Stutzen, Vermuten, Probieren, Beobachten, lässt sich im Unterricht aufgreifen und vertiefen. Copei sagt dazu: »Wesentlich ist doch für diesen Weg gegenüber einem dozierenden Vorführen und Erklären, dass das Problem von Anfang an jeden Jungen intensiv in Beschlag genommen hat, dass jeder Junge alle Schritte, auch die, welche mit einem Misserfolge schlossen, selbst tun musste, dass er nicht einfach einem Vormachen denkend und beobachtend folgte, sondern immer von einer Frage aus auf die nächste Beobachtung und Überlegung gestoßen wurde«. 10 Für den Lehrer bedeutet das aber, so Copei, dass er nicht »Gegenstände« im Unterricht behandelt, sondern dass er mit den Kindern die von ihnen selbst aufgeworfenen Fragen zu lösen versucht. Die Kinder würden lernen, auch bei weniger auffälligen Phänomenen, Probleme zu sehen und Fragen zu stellen. Der Lehrplan, so Copei, sehe die Organe des menschlichen Körpers vor, aber die Kinder haben eigentlich ganz andere Fragen: Warum ein Mensch operiert werden kann, warum Kinder wachsen und Erwachsene nicht, warum Menschen denken. Das nicht Selbstverständliche – das Irritierende wird zum Lernanlass. Auch die Theorie des Projektunterrichts geht davon aus, dass ein Projekt aufgrund eines für die Schüler realen Problems ent10
Friedrich Copei: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. Heidelberg 1950/1963, S. 105.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
steht. Das wohl bekannteste Bespiel für ein pädagogisches Projekt ist das bei John Dewey & William Kilpatrick referierte »Typhusprojekt«. 11 In einer Klasse sind zwei Schüler, in deren Familie es regelmäßig im Herbst zu Typhus-Erkrankungen kommt. Die Schüler sind betroffen, dass die Mitschüler immer wieder krank sind und nicht zur Schule kommen. Sie setzen sich mit diesem Problem auseinander und stellen Hypothesen über mögliche Ursachen dieser wiederkehrenden Erkrankung eigenständig auf, z. B. schlechte Wasserqualität, verdorbene Lebensmittel, zu viele Fliegen. Im Anschluss macht die Klasse einen Besuch bei der betroffenen Familie Smith, um die Lebensbedingungen zu untersuchen und ihre Hypothesen zu prüfen. Es stellt sich heraus, dass vermutlich Fliegen und mangelnde Hygiene der Grund für die Erkrankung sind. Schließlich versuchen die Schüler, eine Lösung für das Problem zu finden. Sie forschen nach und befragen Experten. Als Lösung schlagen sie vor, den Mülleimer mit einem Deckel zu versehen und eine Fliegenfalle zu bauen. Die Familie Smith befolgt die Ratschläge und das Problem ist gelöst: Die Fliegenplage hört auf und die beiden Mitschüler erkranken nicht mehr an Typhus. John Dewey als Vertreter einer Pädagogik des Pragmatismus sieht in konkreten Erlebnissen (experience) den Anlass für Handlungen und das Bemühen, das Gegebene zu verändern. In seinem Buch »How we think« (1910; dt. 2002) legt er dar, wie sich der Prozess der Denkhandlung vollzieht. Dabei wird deutlich, dass jeder forschende Lernprozess, der zur Problemlösung und zu kritischem Denken führt, seinen Ausgang bei einer auftretenden Schwierigkeit oder einem beunruhigenden Phänomen nimmt. Lernprozesse beginnen mit problematisch-irritierenden Situationen, deren Bewältigung Fragen aufwerfen und eine Herausforderung darstellen. Diese Situationen schaffen stets Betroffenheit in irgendeiner Form. Wenn sie real erlebt werden, haben sie Appellcharakter und verlangen nach wirklichen Lösungen. 11
Vgl. John Dewey/William Kilpatrick: Der Projektplan. Grundlegung und Praxis. Weimar 1935. Heute wissen wir durch Michael Knoll allerdings, dass das Projekt eine Fiktion ist (Michael Knoll: Dewey, Kilpatrick und die ›progressive‹ Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik. Bad Heilbrunn 2011).
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Klaudia Schultheis
Schaubild 1. Soziales Lernen in Schule, Hochschule und Weiterbildung Auftreten einer Schwierigkeit bzw. eines beunruhigenden Phänomens
Prüfung der entwickelten Ideen (neue Beobachtungen und Experimente)
Logische Entwicklung der Konsequenz des Ansatzes
Explikation der Schwierigkeit: Beobachtung und Prüfung der Tatsachen zur Abgrenzung und Erklärung des Problems
Erarbeitung von Hypothesenund/oder möglichen Lösungen
Quelle: Online-Kurs »Service Learning – Soziales Lernen in Schule, Hochschule und Weiterbildung«.
Wie weit Projektunterricht – und überhaupt der Unterricht in unseren Schulen davon entfernt ist, sieht man daran, dass Projekte oft die Lückenfüller für die letzten Schultage vor den Ferien sind und häufig gar nicht von einem wirklichen Problem der Schüler ausgehen. Damit schließe ich die Reihe der Beispiele, wie Irritation im pädagogischen Sinn zum Lernanlass werden kann, ab. Im Folgenden möchte ich zeigen, wie die erziehungswissenschaftliche Reflexion die Frage der pädagogischen Irritation thematisiert. Wir begeben uns also auf die Ebene der pädagogischen Theorie.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
4.
Irritation in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion
In der Erziehungswissenschaft ist das Thema Irritation eigentlich ein Dauerbrenner, insbesondere in der Bildungsphilosophie. Die Überlegungen drehen sich dabei um die Frage, was das Unerwartete, Unvorhergesehene im Hinblick auf Bildungsprozesse bedeuten kann. 2016 ist erst wieder eine Aufsatzsammlung zum Thema erschienen, in dem es um »Negativität als Bildungsimpuls« geht, d. h. untersucht wird die pädagogische Bedeutung von Krisen, Konflikten und Katastrophen. 12 In einem Beitrag des Buches wird sogar von Irritationen der Selbstverständlichkeit und Normalität gesprochen, um deutlich zu machen, dass es nicht unbedingt einer Katastrophe bedarf, um Bildung zu ermöglichen. 13 Negativität in Bildungsprozessen wird also durchaus als etwas Positives gesehen. Ich greife einige Gedanken aus der Diskussion heraus. Dietrich Benner hat darauf verwiesen, dass Enttäuschungen, Irritationen und Überraschungen in der Regel negative Erfahrungen darstellen, »die anzeigen, dass ein anderer Mensch, unser eigener Organismus, die Gesellschaft oder die Natur sich anders verhalten, als wir dies erwartet haben oder bisher gewohnt waren«. 14 Diese Erfahrungen werden als störend empfunden, was den Zugang zu einer zweiten – positiven – Bedeutung negativer Erfahrungen erschwere, die besonders in pädagogischen Prozessen zum Tragen komme. Hier kämen negativen Erfahrungen bildende Wirkung zu. So formuliert Benner: »Bildende Wechselwirkun12
Vgl. Andreas Lischewski (Hrsg.): Negativität als Bildungsimpuls? Über die pädagogische Bedeutung von Krisen, Konflikten und Katastrophen. Paderborn 2016. 13 Vgl. Hans-Christoph Koller: Über die Notwendigkeit von Irritationen für den Bildungsprozess. Grundzüge einer transformatorischen Bildungstheorie, in: Andreas Lischewski (Hrsg.): Negativität als Bildungsimpuls? Über die pädagogische Bedeutung von Krisen, Konflikten und Katastrophen. Paderborn 2016, S. 213– 235. 14 Dietrich Benner: Einleitung. Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung« (Erfahrung), in: Dietrich Benner (Hrsg.): Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim 2005, S. 7.
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gen zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Welt sind nämlich über negative Erfahrungen vermittelt und können ohne diese weder gelingen noch gedacht werden«. 15 Auch Käte Meyer-Drawe verweist darauf, dass Krisen, Umbrüche und Veränderungen zum Lernen gehören. Lernen sei immer auch Umlernen. 16 In der Konfrontation mit einem neuen Verständnishorizont negiert der Lernende sein bislang leitendes Vorwissen. Dadurch werde ihm sein Vorwissen prekär: »Der Lernende wird hier nämlich mit sich als Erfahrendem konfrontiert. Sein bislang unthematisch leitendes Wissen, seine vertrauten Bezüge werden erschüttert, da er durch sie in eine aporetische Situation gerät, aus der ihm nur ein neues Verständnis der Sache, aber auch von sich selbst als Wissendem hilft«. 17 Mit Gadamer folgert Meyer-Drawe: »Die Negativität der Erfahrung hat also einen eigentümlich produktiven Sinn«. 18 Von einem existenzphilosophischen Hintergrund aus hat sich Otto Friedrich Bollnow mit den Diskontinuitäten und Brüchen im menschlichen Leben befasst. Er hat darauf verwiesen, dass das Leben kein kontinuierlicher Prozess ist, sondern sowohl stetige Verläufe als auch unstetige Einschnitte enthält. Die klassische Pädagogik habe sich aber immer nur mit den stetigen Vorgängen in der Erziehung befasst. Er möchte die in stetigen Kategorien denkende Pädagogik deshalb durch eine »Pädagogik unstetiger Vorgänge« 19 erweitern. Unstetige Formen der Erziehung sind für ihn die Krise, die Erweckung, die Ermahnung, die Beratung, die Begegnung sowie das Wagnis und Scheitern in der Erziehung. Klaus Prange hat hier allerdings mit Recht darauf verwiesen, dass Bollnows Beispiele bei genauerem Hinsehen zeigen, dass »das Merk15
Benner, Erfahrung, S. 7. Vgl. Käte Meyer-Drawe: Lernen als Umlernen. Zur Negativität des Lernprozesses (Umlernen), in: Wilfried Lippitz/Käte Meyer-Drawe (Hrsg.): Lernen und seine Horizonte. Phänomenologische Konzeptionen menschlichen Lernens – didaktische Konsequenzen. Königstein/Taunus 1982, S. 37. 17 Meyer-Drawe, Umlernen, S. 39. 18 Meyer-Drawe, Umlernen, S. 39. 19 Otto Friedrich Bollnow: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung (Existenzphilosophie). Stuttgart 1984, S. 19. 16
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mal der Unstetigkeit den im Leben plötzlich auftauchenden Problemen zukommt, auf die das Erziehen reagiert, und nicht ohne weiteres den Formen des Erziehens selber«. 20 Die Erziehung muss sich auf das Unstetige einstellen, aber sie ist deshalb nicht automatisch selbst »unstetig«. Das leuchtet ein: Um mit Veränderungen, Krisen oder Entwicklungsschüben usw. umzugehen, kann es gerade auch Sinn machen, Verhalten zu stabilisieren und Routinen zu entwickeln, d. h. mit steten Formen der Erziehung zu antworten. Was Bollnow über das Scheitern in der Erziehung schreibt, erinnert an Makarenkos Explosion: Den Lehrer oder Erzieher scheitern zu sehen, könne zu einer erschütternden, ehrfurchterweckenden Erfahrung und so zur Einsicht werden: »Das habe ich nicht gewollt, so weit habe ich den Scherz nicht treiben wollen«. 21 Es könne allerdings nur gelingen, wenn die Qualität der Erzieher vorher schon auf andere Weise deutlich geworden sei. Und man könne, so Bollnow, auf keinen Fall eine solche Erfahrung bewusst herbeiführen, da dies den Ernst des Vorgangs zu einem bloßen Schauspiel erniedrigen würde. 22 Das lässt sich als Kritik an Makarenkos Explosionsmethode lesen. Hier sind wir schon nahe an den Grenzen der Erziehung, wobei Siegfried Bernfelds berühmtes und umstrittenes Buch »Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung« 23 zu nennen ist. Neben der sozialen Struktur der Gesellschaft als äußerer Grenze sieht Bernfeld eine der inneren Grenzen der Erziehung in der Erziehbarkeit des Kindes, seiner Konstitution, seiner Veränderbarkeit. Man könnte erwarten, dass zwei Kinder, die man identischen Maßnahmen aussetzt, gleichartig reagieren. Da aber jedes Kind seine eigene Geschichte und Voraussetzungen hat, ist das in keiner Weise gewiss und macht auch die Prognose unsicher. Die Pädagogik »müsste wissen, welchen Einfluss eine bestimmte Maßnahme, 20
Klaus Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn 2005, S. 57. 21 Bollnow, Existenzphilosophie, S. 150. 22 Vgl. Bollnow, Existenzphilosophie, S. 150. 23 Siegfried Bernfeld: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (Sisyphos). Frankfurt a. M. 1981, S. 146.
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welchen spezifischen Erfolg sie haben wird.« 24 Aber genau das ist nicht möglich. Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr haben in ihrer Analyse des Erziehungssystems deshalb vom Technologiedefizit in der Erziehung gesprochen. Sie sehen darin ein strukturelles Problem: Es ist die unzureichende Isolierbarkeit kausaler Faktoren, die sich besonders krass in der Schulerziehung zeige. 25 Nicht nur die individuellen Köpfe der Schüler, sondern auch das Verhalten des Lehrers sind das Problem, weil sich pädagogisches Handeln nicht in eine Technik transferieren lasse. Unterrichtssituationen sind Situationen mit doppelter Kontingenz. Die Kontingenz ist beiden Seiten bewusst: »Beide wissen, dass beide wissen, dass man auch anders handeln kann.« 26 Das stellt grundsätzlich die Möglichkeit einer allgemeinen und transferierbaren Unterrichtstechnologie in Frage – wenn man dem individuellen Schüler gerecht werden will. Das Nichtberechenbare und Unerwartete ist sozusagen dem Pädagogischen immanent. In gewisser Weise spiegelt sich darin auch das Theorie-Praxis-Problem in der Erziehungswissenschaft wieder. Johann Friedrich Herbart beispielsweise hat vom Pädagogischen Takt gesprochen, den der Erzieher bzw. Lehrer ausbilden müsse. Dieser bildet das »Mittelglied« zwischen der Theorie und der konkreten Praxis, die man nie vollständig erfassen könne, da die Welt ja sonst vollständig determiniert sein müsste. 27 Zum anderen – davon haben wir schon gesprochen – hätten es, so Herbart, pädagogische Berufe immer mit Individualität zu tun, die sich nicht unter allgemeine Gesetze subsumieren lasse. 28 Der Pä24
Bernfeld, Sisyphos, S. 146. Vgl. Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr: Reflexionssysteme im Erziehungssystem (Reflexionssysteme). Stuttgart 1979, S. 120. 26 Luhmann/Schorr, Reflexionssysteme, S. 121. 27 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Rede bei Eröffnung der Vorlesungen über Pädagogik (1802), in: J. F. Herbart (Hrsg.): Umriss pädagogischer Vorlesungen – Rede bei Eröffnung der pädagogischen Vorlesungen –Aphorismen zur Pädagogik. Paderborn 1851/1957, S. 149. 28 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwir25
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dagogische Takt ist als eine Art Kompetenz im Sinne der Kant’schen Urteilskraft zu verstehen. Er ermöglicht, den Schülern Respekt und Wohlwollen zu zeigen und situativ das Gespür für das richtige Handeln aufzubringen. In der modernen Forschung zum Lehrerberuf geht der Expertiseansatz davon aus, wie das berufsbezogene Wissen und Können als Grundlage des professionellen Handelns fungiert. Es ist ein langjähriger Entwicklungsprozess, der zur Expertise führt. Aus dem Vergleich mit Berufsanfängern weiß man, dass sich Experten von Novizen bei der Bewältigung zentraler beruflicher Herausforderungen u. a. darin unterscheiden, dass • bei Experten gedankliche Begleitprozesse bei der Wahrnehmung von und Reaktion auf Störungen im Unterricht ablaufen, • entsprechende Denkprozesse bereits die Unterrichtsplanung begleiten und dass • Experten über Kognitionen verfügen, die schnelles Handeln ermöglichen. 29 So verfügen Expertenlehrer im Vergleich zu Berufsanfängern über automatisierte Routinen, gehen beim Unterrichten flexibler vor und zeigen Unterschiede in der kategorialen Wahrnehmung von Unterrichtssituationen. 30 Erfahrene Lehrer registrieren schwindende Aufmerksamkeit und Störungspotentiale und behalten den Überblick über die ganze Klasse. Sie verhalten sich wie Dirigenten eines Orchesters, indem sie einzelne Maßnahmen und Interventionen systematisch ineinandergreifen lassen. Novizen hingegen lassen sich ablenken und unterbrechen den Unterrichtsfluss häufig. 31 Erfahrene Lehrer haben die Kompetenz ausgebildet, auf Irritationen und unerwartete Situationen im Unterrichtsablauf
kung, in: Gerhard Müßener (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart. Didaktische Texte zu Unterricht und Erziehung in Wissenschaft und Schule. Wuppertal 1810/ 1991, S. 221 ff. 29 Vgl. zur Übersicht und für Literatur Petra Herzmann/Johannes König: Lehrerberuf und Lehrerbildung (Lehrerbildung). Bad Heilbrunn 2016, S. 82. 30 Vgl. Herzmann & König, Lehrerbildung, S. 82. 31 Vgl. Herzmann & König, Lehrerbildung, S. 8.
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flexibel, schnell und komplex zu reagieren und zeigen größeres Improvisationsgeschick als Novizen. 5.
Leibphänomenologische Deutung pädagogischer Irritation
Wie lässt sich die Bedeutung von Irritationen und Überraschungen im pädagogischen Geschehen von einer leibphänomenologischen Betrachtungsweise her deuten? 32 Max van Manen spricht von der pathischen Macht der phänomenologischen Reflexion. Pathisches Wissen zeige sich in der Sinnhaftigkeit und der Sensitivität unserer Handlungen, in den Begegnungen mit anderen und in der Weise, in der unser Leib auf die Dinge in unserer Welt, auf Situationen und Beziehungen, in denen wir uns finden, antwortet. Er verweist darauf, dass es viel einfacher sei, Konzepte und informatives Wissen zu lehren als pathisches Wissen zu vermitteln. Kognitive und messbare Aspekte unserer Welt ließen sich weitaus leichter beschreiben als die pathische Dimension unserer Erfahrung. 33 Genauso ist es auch mit der Leibdimension des Lernens. Für die Pädagogik und ihren Blick auf das Lernen gilt immer noch, dass die »pathischen Tatsachen« des Lernens und der Erziehung zugunsten der intellektuellen und kognitiven Faktoren, die sich messen und statistisch aufarbeiten lassen, vernachlässigt werden. So ist die Leibdimension des Lernens und Erziehens nach wie vor ein Randthema in der Pädagogik 34, obwohl die Leiblichkeit nicht 32
Vgl. Klaudia Schultheis/Petra Hiebl: Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele, Stuttgart 2016; Klaudia Schultheis: Leiblichkeit – Kultur – Erziehung. Zur Theorie der elementaren Erziehung (Leiblichkeit). Weinheim 1998. 33 Max van Manen: Phenomenology of Practice, in: Phenomenology + Practice 1 (1), 2007, S. 21. 34 Vgl. Käte Meyer-Drawe: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München 1984/ 2001; Klaudia Schultheis, Leiblichkeit; Klaudia Schultheis, Leiblichkeit als Dimension kindlicher Weltaneignung. Leibphänomenologische und erfahrungs-
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nur das Fundament kindlichen Lernens bildet, sondern für das Lernen in jedem Lebensalter von grundlegender Bedeutung ist. Wenn der Lehrer John Keating die Schüler in den Welton Honor Room führt, dann spricht der Raum durch seine Atmosphäre. Er atmet die Geschichte und Tradition der Schule. Die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird und die sich in seiner Gestaltung widerspiegelt, erschließt sich den Schülern sinnlich und spürbar. Das Ethos der Schule ist in diesem Raum leiblich erfahrbar. Doch auch Keatings pädagogisches Handeln ist durchdrungen von leiblich erfahrbaren Momenten. Er flüstert, hinter den Schülern stehend, die die alten Klassenfotos in der Vitrine betrachten, leise die Formel »Carpe Diem – seize the day – make your lives extraordinary« ins Ohr. Es entsteht der Eindruck, dass es die Ehemaligen auf den Klassenfotos sind, die die Schüler ansehen und eine Botschaft schicken. Klar wissen die zuhörenden Schüler, dass es ihr Lehrer ist, der flüstert. Aber dennoch entsteht eine eigenartig und fast magische Situation, die die Schüler in den Bann zieht. Es ist dabei, um in Hermann Schmitz’ Terminologie zu sprechen, ein Moment der Enge, das durch die Anspannung, Gerichtetheit und Konzentriertheit der Schüler auf die Fotos entsteht, dass sie aber auch gleichzeitig in die Vergangenheit hineinzieht, in der man sich verlieren könnte, weil sie die Gedanken, die Phantasie anregt. Auch in der Explosionsszene, die Makarenko im pädagogischen Poem berichtet, spitzt sich die Anspannung zu und erreicht einen Höhepunkt, nach dessen Überschreiten sie sich in der unkontrollierten Ohrfeige Makarenkos auflöst. Die Spannung der Situation, aber dann gerade auch die Irritation, das Unerwartete sind handgreiflich-leiblich spürbar – nicht nur für Sadarow, der die Ohrfeige abbekommt. War vorher kein Handlungsspielraum mehr für den Erzieher da, bewirkt die Ohrfeige eine Öffnung. Es theoretische Aspekte einer Anthropologie kindlichen Lernens, in: Ludwig Duncker, Annette Scheunpflug/Klaudia Schultheis (Hrsg.): Schulkindheit. Zur Anthropologie des Lernens im Schulalter. Stuttgart 2004, S. 93–171; Klaudia Schultheis/Petra Hiebl: Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele. Stuttgart 2016.
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kommt zur Verhaltensänderung Sadorows, die mit der Einsicht verbunden ist, sich in die Gruppe einbringen zu müssen. Plötzlich geht es weiter – es gibt wieder eine Perspektive. Wichtig ist, dass, wie Hermann Schmitz sagt, das eigenleibliche Spüren von Enge und Weite »dialogisch-kommunikativen Charakter« 35 hat. Diesen innerleiblichen Dialog übertragen wir auch auf unsere Beziehung zur Umwelt. Er ist sogar die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir mit unserer Umwelt leiblich kommunizieren können. Bedeutung kommt dabei dem Begriff der leiblichen Kommunikation 36 zu, wie ihn Hermann Schmitz geprägt hat. Wir können mit der Umwelt leiblich kommunizieren, weil das Atmen, der Blick oder unsere Bewegungen gerichtet sind. Sie führen aus der Enge des eigenen Leibes heraus und gerichtet auf die Umwelt zu. Umgekehrt können wir aber auch unsere Umwelt leiblich wahrnehmen, wenn sich etwas auf uns richtet. Das spüren wir als Engung oder Spannung, z. B. wenn sich ein Blick auf uns richtet, wenn Tanz- oder Marschmusik auf uns eindringt und uns beflügelt oder wenn man atemlos und fasziniert, sich selbst vergessend, der Darbietung von Seilakrobaten im Zirkus folgt. 37 Hier exteriorisiert sich sozusagen der innerleibliche Dialog von Engung und Weitung. 38 In der leiblichen Kommunikation mit der Umwelt hat das Wahrgenommene aber keinen objektiven Charakter, keine Distanz zum Wahrnehmenden: Es mutet an und ruft leibliches Betroffensein hervor. Wir spüren es intuitiv, holen es kognitiv oder reflexiv in dem Moment aber nicht ein. Schmitz spricht hier von »Einleibung«, d. h. wir leiben uns sozusagen in etwas ein, immer dann, wenn etwas auf uns zukommt, das unser eigenleibliches Spüren anspricht. Das Phänomen der Einleibung gehört
35
Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik (Leib). Paderborn 1992, S. 137. 36 Vgl. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 135 ff. 37 Vgl. Schmitz Leib, S. 188. 38 Vgl. Thomas Fuchs: Leib Raum Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart 2000, S. 77.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
zum Engepol der leiblichen Ökonomie. 39 Unsere Beispiele zeigen die dialogische Verfasstheit des Lernens. Die Irritation des Lernens durch das pädagogische Handeln verweist dabei auf den Engepol des eigenleiblichen Spürens. Lehrer Keating lässt die Schüler verbotener Weise Seiten aus dem Buch reißen. Etwas Verbotenes zu tun, erzeugt Spannung, Aufregung: Das darf man nicht, Bücher zerstört man nicht, alles spitzt sich auf die Entscheidung zu, ob man es tut oder nicht! Dann beginnt einer und die anderen folgen. Die Schüler lachen und johlen, das Herausreißen der Seiten hat symbolisch befreiende Bedeutung. Wenn man es wirklich tut, dann erfährt man leiblich, was es bedeutet, sich von den Restriktionen und Limitationen, den Regeln, wie man mit Literatur umzugehen hat, zu befreien. Es entsteht Weite und Öffnung, neue Möglichkeiten tun sich auf. Das ist befreiend und setzt positive und kreative Energie frei. Wenn die Schüler auf das Lehrerpult springen, dann erfahren sie am eigenen Leib, was es heißt, eine andere Perspektive einzunehmen. Den Sprung hinauf, den Aufstieg muss man wagen, dazu muss man erst den Mut aufbringen. Da ist ein Moment der Enge und Anspannung, das zu überwinden ist. Aber dafür ergibt sich etwas Neues: Die Schüler sehen mit eigenen Augen, dass es mehr als eine Sichtweise gibt und man seinen Standpunkt verändern kann. Die anfängliche Irritation hat Lernen initiiert. Sie zu bewältigen, hat zu einem Lernprozess geführt. Dieses dialogische Moment des Lernprozesses findet sich auch im Staunen über Phänomene, wie die Unterrichtsbeispiele Martin Wagenscheins zum Genetischen Lehren zeigen. Aus dem Staunen und der Spannung, dass man sich etwas nicht erklären kann und nicht sofort versteht, entstehen Fragen und die Motivation zum Forschen nach den Antworten. Die Irritation wird zum Auslöser des Lernens – das kann man auch an Platons Menon sehen. Nach vielen Definitionsversuchen des Begriffs Tugend ist Menon so verwirrt, dass er Sokrates mit einem Zitterrochen vergleicht, einem Fisch, der seine Opfer lähmt. Dennoch zeigt der Fortgang 39
Vgl. Schmitz, Leib, S. 152.
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des Dialogs, dass die Erkenntnis des Nichtwissens, das uns zunächst auf uns zurückwirft, weiterführt und den Weg freimacht, Antworten zu finden und Lösungen für Probleme zu erarbeiten. In der Erlebnispädagogik ist es der Appell der realen Situation, ihr Ernstcharakter, der irritiert und unerwartet ist und zur Improvisation im Moment auffordert. Die Herausforderung anzunehmen, schafft Weite und neue Möglichkeiten. Das hat Kurt Hahn mit seinem erlebnispädagogischen Ansatz gezeigt. 40 Beim TyphusProjekt ist es ein zunächst nicht erklärbares Problem, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht und das Interesse der Schüler weckt. Es setzt den Forschungs- und damit den Lernprozess in Gang, indem es leibliche Betroffenheit der Schüler hervorruft, die sich um die kranken Mitschüler sorgen. Die pädagogische Irritation konfrontiert mit Widersprüchen, offenen Fragen, Problemen. Aber genau das ermöglicht Anschlüsse und kann Lernen initiieren: Es entstehen der Raum, die Weite für neue Fragen, Gedanken, Hypothesen, Experimente, Irrwege, Suchprozesse und Kreativität. Wenn wir die Antworten dabei nicht vorgeben wollen, dann ist zu beachten, dass das pädagogische Handeln des Lehrenden diese Weite und den Freiraum auch zulassen muss, damit Kreativität und Eigenverantwortung im Lernen entstehen können. Das erfordert pädagogisches Können, pädagogischen Takt: dem Unerwarteten Raum geben und nicht jedes Detail einer Unterrichtsstunde vorzuplanen, flexibel reagieren zu können und – ganz wichtig: Zeit zu lassen. Unterrichtsplanung ist notwendig. Sie sollte aber auch die Chance zur Improvisation geben, wenn der Lehrende merkt, dass die vorab angestellten Überlegungen an der Unterrichtssituation und den Schülerinnen und Schülern vorbeigehen. Das erfordert ein flexibles Umgehen mit der Planung. Die Fragen der Schülerinnen und Schüler sind nicht immer vorhersehbar. Diese zuzulassen und sie spontan in den Unterricht einzubeziehen oder gar von den Fragen der Schülerinnen und Schüler auszugehen, das macht die Kunst des Lehrens aus. Natürlich kann nicht jedes 40
Vgl. Kurt Hahn: Erziehung zur Verantwortung. Stuttgart 1958.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
Unterrichtsthema von den Schülern selbst erarbeitet werden. Vieles braucht auch Wiederholung und Routine und muss geübt werden. Dennoch, wenn man einmal selbst erfahren hat, mit welcher Begeisterung Schüler Antworten auf ihre eigenen Fragen suchen, für welche vielfältigen Themen und Fragen sie sich interessieren und welche kreativen Lösungen und Antworten sie finden, der ist überzeugt davon, dass wir in unseren Schulen mehr davon brauchen. Wenn wir in der Erziehung mit unserem pädagogischen Handeln Irritation hervorrufen und mit Unerwartetem konfrontieren, nutzen wir damit die Leibdimension des Lernens. Wenn wir Lernprozesse initiieren und wenn wir selbstverantwortliche und kreative Menschen bilden wollen, dann sollten wir aber auch dem Lernen Zeit und Raum geben und im Sinne der dialogischen Verfasstheit des leiblichen Lernens Weite für Kreativität, Suchprozesse und Umwege schaffen. Literatur Benner, Dietrich: Einleitung. Über pädagogisch relevante und erziehungswissenschaftlich fruchtbare Aspekte der Negativität menschlicher Erfahrung, in: ders. (Hrsg.): Erziehung – Bildung – Negativität. Weinheim 2005, S. 7–21. Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a. M. 1981. Bollnow, Otto Friedrich: Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart 1984. Copei, Friedrich: Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess. Heidelberg 1950/ 1963. Dewey, John: Wie wir denken. Zürich 2002. Dewey, John/Kilpatrick, William: Der Projektplan. Grundlegung und Praxis. Weimar 1935. Fuchs, Thomas: Leib Raum Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart 2000. Günther-Schellheimer, Edgar: Makarenko heute? Vortrag vor dem Seniorenseminar der Technischen Fachhochschule Wildau, 2006, unter: http://www. makarenko.eu/4.html (Stand: 09. 01. 2018). Hahn, Kurt: Erziehung zur Verantwortung. Stuttgart 1958. Herbart, Johann Friedrich: Über Erziehung unter öffentlicher Mitwirkung, in: Müßener, Gerhard (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart. Didaktische Texte zu
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Klaudia Schultheis
Unterricht und Erziehung in Wissenschaft und Schule. Wuppertal 1810/1991, S. 221 ff. Herbart, Johann Friedrich: Rede bei Eröffnung der Vorlesungen über Pädagogik (1802), in: ders. (Hrsg.): Umriss pädagogischer Vorlesungen – Rede bei Eröffnung der pädagogischen Vorlesungen – Aphorismen zur Pädagogik. Paderborn 1851/1957, S. 149. Herzmann, Petra/König, Johannes: Lehrerberuf und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn 2016. Knoll, Michael: Dewey, Kilpatrick und die ›progressive‹ Erziehung. Kritische Studien zur Projektpädagogik. Bad Heilbrunn 2011. Koller, Hans-Christoph: Über die Notwendigkeit von Irritationen für den Bildungsprozess. Grundzüge einer transformatorischen Bildungstheorie, in: Lischewski, Andreas (Hrsg.): Negativität als Bildungsimpuls? Über die pädagogische Bedeutung von Krisen, Konflikten und Katastrophen. Paderborn 2016, S. 213–235. Lischewski, Andreas (Hrsg.): Negativität als Bildungsimpuls? Über die pädagogische Bedeutung von Krisen, Konflikten und Katastrophen. Paderborn 2016. Luhmann, Niklas/Schorr, Karl-Eberhard: Reflexionssysteme im Erziehungssystem. Stuttgart 1979. Makarenko, Anton Semjonowitsch: Der Weg ins Leben. Ein pädagogisches Poem. Berlin/Weimar 1967. Makarenko, Anton Semjonowitsch: Pädagogische Werke, Band 1. Berlin 1988. Manen, Max van: Phenomenology of Practice, in: Phenomenology + Practice, 1 (1), 2007, S. 11–30. Meyer-Drawe, Käte: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München 1984/2001. Meyer-Drawe, Käte (1982): Lernen als Umlernen. Zur Negativität des Lernprozesses. In: Lippitz, Wilfried/Meyer-Drawe, Käte (Hrsg.): Lernen und seine Horizonte. Phänomenologische Konzeptionen menschlichen Lernens – didaktische Konsequenzen. Königstein/Taunus 1982, S. 19–45. Online-Kurs: Service Learning – Soziales Lernen in Schule, Hochschule und Weiterbildung, unter: http://service.e-learning.imb-uni-augsburg.de/node/ 1690 (Stand: 09. 01. 2018). Prange, Klaus: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn 2005. Rüttenauer, Isabella: A. S. Makarenko. Ein Erzieher und Schriftsteller in der Sowjetgesellschaft. Freiburg u. a. 1965. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990. Schmitz, Hermann: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Paderborn 1992. Schultheis, Klaudia: Pädagogik als Lösungswissen. Eine biographische Analyse der pädagogischen Semantik Paul Oestreichs. Bad Heilbrunn 1991.
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Das Unerwartete als pädagogische Chance
Schultheis, Klaudia. Leiblichkeit – Kultur – Erziehung. Zur Theorie der elementaren Erziehung. Weinheim 1998. Schultheis, Klaudia: Leiblichkeit als Dimension kindlicher Weltaneignung. Leibphänomenologische und erfahrungstheoretische Aspekte einer Anthropologie kindlichen Lernens, in: Duncker, Ludwig/Scheunpflug, Annette/ Schultheis, Klaudia (Hrsg.): Schulkindheit. Zur Anthropologie des Lernens im Schulalter: Stuttgart 2004, S. 93–171. Schultheis, Klaudia/Hiebl, Petra: Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele. Stuttgart 2016. Wagenschein, Martin: Rettet die Phänomene! (Der Vorrang des Unmittelbaren), in: Der mathematische und naturwissenschaftliche Unterricht, 30(3), 1977, S. 10. Zimmermann, Verena: Die Umerziehung von schwererziehbaren und straffälligen Jugendlichen in der DDR (1945–1990). Köln u. a. 2004, S. 67.
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Barbara Wolf
Leibliche Dimensionen des pädagogischen Taktes. Vom Unwillkürlichen, Unverfügbaren und Unvorhersehbaren der pädagogischen Situation Abstract: Das Unverfügbare spielt in pädagogischen Alltagssituationen der Schule eine konstitutive Rolle. Im folgenden Text wird der erziehungswissenschaftliche Versuch aufgezeigt, die doppelte Kontingenz der Schüler-Lehrer-Beziehung zu bewältigen und Unterrichtssituationen planbar zu machen. Das Konzept des pädagogischen Taktes nach Johann Friedrich Herbart und Jakob Muth bildet dabei einen Zugang, mit dem Unvorhersehbaren konstruktiv umzugehen. Hermann Schmitz’ Situationsbegriff verdeutlicht die Komplexität der Situation Unterricht und die Unberechenbarkeit der Faktoren, welche die gemeinsame Situation beeinflussen. Mit Begriffen der leiblichen Kommunikation wird der Prozess der Auseinandersetzung in der pädagogischen Beziehung näher beschrieben. Diese ist bestimmt von Atmosphären, die gerade das Unwillkürliche ausmachen und denen mit pädagogischem Takt begegnet werden kann. Abschließend werden Chancen und Risiken des Unverfügbaren in einer handlungstheoretischen und leibphänomenologischen Reflexion abgewogen. Keywords: Pädagogischer Takt, gemeinsame Situation, kollektive Atmosphären
1.
Einleitung
In einem Soziologieseminar gab ich ein Impulsreferat zu Pierre Bourdieus Kapitalarten. Das aktualisierte Referat, das im letzten Jahr noch höchstes Interesse geweckt, Lacher ausgelöst, neugierige und kritische Fragen aufgeworfen hatte, erntete in diesem Jahr eher moderate Aufmerksamkeit. Phänomenologisch war folgendes wahrzunehmen: Die Augen der Studierenden wirkten müde 160 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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und die Fragen kamen gequält daher. Jeder Mensch, der einmal eine Unterrichtsstunde, eine Fortbildung oder ein Hochschulseminar gehalten hat, kennt das: Eine ausgereifte Lehr-Lerneinheit kommt bei der einen Gruppe hervorragend an, bei der nächsten stößt man auf Desinteresse, Gleichgültigkeit, ja sogar Unwillen. Obwohl alle didaktischen Planungsschritte in der Vorbereitung beachtet wurden: Alter und Herkunft der Zielgruppe, Vorbildung, Geschlechterverteilung etc., hat man die Lerngruppe nicht wirklich erreicht. Man kann nun versuchen, dies an bestimmten Kriterien festzumachen: Womöglich an der Tageszeit, zu der das Referat gehalten wurde, etwa nach dem Mittagessen, wenn die individuelle Aufmerksamkeit einen Tiefpunkt erreicht. Oder man trifft Annahmen über die Theoriefähigkeit der Gruppe, die womöglich aufgrund fehlender Vorerfahrung gering ausfällt. Schließlich ist auch die eigene Tagesform, etwa bedingt durch Schmerzen oder Müdigkeit eine Variable, die sich auf die »Resonanz« im Sinne Hartmut Rosas im Seminarraum auswirken kann. 1 Rückwirkend kann man solche Ursachen sicher analysieren. Dennoch wird man nie detailliert die Gründe dafür finden, warum fast derselbe Input in der einen Situation neugierig aufgenommen und in der anderen gelangweilt konsumiert wurde. Denn eine didaktische Einheit ist im Vorhinein einfach nicht bis ins Letzte planbar, da immer unvorhersehbare Ereignisse eintreten können, welche die Planung beeinträchtigen oder gar über den Haufen werfen können. Dieser pädagogischen Unverfügbarkeit kann man sich nun aus verschiedensten Blickwinkeln annähern. 2.
Das Unverfügbare des Unterrichts – theoretische Vorüberlegungen
Der Soziologe Niklas Luhmann beschreibt für Pädagogen, wie erzieherisches Handeln aus systemtheoretischer Sicht wirksam wird. Dabei erteilt er jeglicher direkten Einwirkung von Lehrenden auf 1
Hartmut Rosa: Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016, S. 285.
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Lernende eine Absage: das Nürnberger-Trichter-Modell ist unwirksam, und der Impuls, den ein Lehrer gibt, führt nicht in linearer Kausalität zu einem bestimmten Ergebnis beim Schüler. 2 Luhmann bringt dies in der konstruktivistischen Sprache Heinz von Foersters mit dem Vergleich zu einer »trivialen Maschine« zum Ausdruck. 3 Bei der trivialen Maschine erfolgt bei gleichem Input immer derselbe Output (Taschenrechner: 2 � 2 = 4). Der Schüler als »selbstreferentielle Maschine« hingegen operiert mithilfe einer »eingebauten Reflexionsschleife«, aus einer »jeweiligen Befindlichkeit« und einem »historischer Zustand« heraus am pädagogischen Kommunikationsprozess mit. 4 Hier wird schon deutlich, dass sich Lernende gerade nicht voraussetzungslos in ein pädagogisches Setting einfinden, sondern bereits durch ihre Sozialisation Vorannahmen über sich und die Umwelt gebildet haben und so spezifisches Wissen bzw. Nichtwissen in den Lernkontext einbringen. Die pädagogische Kommunikation wird erst dadurch Erziehung, dass Lehrende eine pädagogische Absicht einbringen, die sie an kulturell und historisch vorgeprägte Individuen richten, ansonsten handelt es sich lediglich um Sozialisation. 5 Dabei erfolgt erzieherisches Handeln als strukturelle Kopplung, einer Art Dauerirritation des lernenden Systems, die – wie gerade erläutert – nicht im Verhältnis eins zu eins beim Lernenden ankommt. Sie ist der Versuch, ein psychisches System durch Kommunikation so zu beeinflussen, dass sein Verhalten (Schüler) verändert wird. 6 Hier ist die gemeinsame Situation in einer Klasse zunächst von doppelter Kontingenz geprägt: Es besteht eine prinzipielle Unsicherheit, wie die jeweils andere Seite
2
Die männliche und weibliche Bezeichnung wird im folgenden Text abwechselnd verwendet und inkludiert die jeweils andere Geschlechterformen. 3 Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft (Erziehungssystem). Frankfurt a. M. 2002, S. 77. 4 Luhmann, Erziehungssystem, S. 77. 5 Niklas Luhmann: System und Absicht der Erziehung, in: Niklas Luhmann/ Karl Eberhardt Schorr (Hrsg.): Zwischen Absicht und Person: Fragen an die Pädagogik. Frankfurt a. M. 1992, S. 102–124. 6 Luhmann, Erziehungssystem, S. 52.
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agiert und reagiert. 7 Diese Unsicherheit wird jedoch durch die Verteilung sozialer Rollen – hier die Lehrerin mit ihrem Wissensvorsprung, dort der Schüler mit einem Wissensdefizit – soweit es möglich ist, minimiert. Diese Vorstellung der doppelten Kontingenz ist sehr hilfreich, um die Ursachen für das Unverfügbare und Unvorhersehbare im Unterricht zu verstehen. Denn man rechnet zwar damit, dass sich Schüler mit ihrer Schülerrolle abfinden und Lehrer die des Lehrenden einnehmen, aber es kommt doch immer wieder zu Überraschungen, die das Rollenkonzept sprengen und dann zu unvorhergesehenen Situationen führen. So kann ein Schüler mit einer kritischen Frage eine gesamte Theorie in Frage stellen, der die Klasse mühsam gefolgt ist. Oder eine Kleingruppe von Schülerinnen diskutiert ein privates Problem so lebhaft, dass die Lautstärke den Verlauf des Unterrichts stört. Hier hat der Lehrer womöglich seinen Unterricht nach allen didaktischen Erfordernissen vorbereitet, und dennoch droht ein Scheitern durch die unterschiedlichen Zwischenfälle – oder der Verlauf des Unterrichts nimmt eine interessante Wendung, die zu ganz neuen Erfahrungen und Erkenntnissen führen kann. Ruth Cohn stellt mit ihrem Konzept der themenzentrierten Interaktion das Postulat auf: »Störungen haben Vorrang«. 8 Sie betont darin geradezu die Bedeutung des Unvorhersehbaren in Kommunikationskontexten, da dieses die tatsächlichen Befindlichkeiten und Interessen der Interaktionspartner offenbart. Finden sie Beachtung, werden sich alle Beteiligten des tatsächlichen Bezugs zum gemeinsamen Thema bewusst oder der Aspekte, die den Zugang verbauen, und es kann effektiver gearbeitet werden. Dies ist sicher nicht in jedem Einzelfall möglich und nötig, weist aber schon auf die Bedeutung des Unplanbaren hin. In der Geschichte der Pädagogik wurden ausgereifte Konzepte von äußerlicher Disziplinierung und mechanischer Unterweisung entwickelt, um die Gefahr der doppelten Kontingenz einzudämmen und dem Lehrer eine sichere Beherrschung des Unterrichts 7
Luhmann, Erziehungssystem, S. 55. Ruth Cohn: Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion. Stuttgart 2004, S. 122.
8
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zu ermöglichen, verbunden mit einem asymmetrischen Machtgefälle, das politisch legitimiert wurde. 9 Pädagogische Reformpolitiker wie Wilhelm von Humboldt plädierten jedoch dafür, dass der Staat seine Wirksamkeit auf Erziehungsprozesse zu reduzieren habe und individuellere Bildungsformen etabliert werden sollten. 10 Daraus entwickelte man in Rekurs auf Rousseau den Begriff der Perfektibilität, welcher die grundlegende Fähigkeit des Menschen bezeichnet, Fähigkeiten zu entwickeln. 11 Hier wird eine Wende in der Funktion des Unterrichts von einem Prozess einseitiger Belehrung zum guten Staatsbürger hin zu einem interaktiven Diskurs zur Entwicklung individueller Ressourcen erkennbar, der eine weniger asymmetrische Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Johann Friedrich Herbart versuchte mit seinem erziehenden Unterricht die »Vielseitigkeit des Interesses« beim Zögling zu entwickeln, um ihm in der künftig funktional ausdifferenzierten Gesellschaft eine eigene Zielsetzung des Lebens zu ermöglichen. 12 Weiterhin wollte er die Erziehung als Kunst etablieren, die sich – gespeist durch pädagogische Theorie – in der konkreten Unterrichtssituation entfalten sollte. Statt starrer Methodik, wie sie der Frontalunterricht repräsentiert, sollte der pädagogische Takt als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis entwickelt werden, der u. a. durch folgende Merkmale zu charakterisieren ist: »eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht […] ewig gleichförmig verfährt aber auch nicht […] sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forderung des individuellen Falles ganz und gerade zu treffen«. 13 9
Dietrich Benner: Die Pädagogik Herbarts (Pädagogik). Weinheim 1993, S. 25. Wilhelm von Humboldt: Ideen zum Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Band I der von A. Flitner/K. Giel hrsg. Werkausgabe. Darmstadt 1960, S. 56–233, hier S. 105 ff. 11 Dietrich Benner/Herwart Kemper: Theorie und Geschichte der Reformpädagogik (Reformpädagogik), Band 1. Weinheim/Basel 2003, S. 21. 12 Jörg Ramseger: Was heißt »durch Unterricht erziehen«. Weinheim 1991, S. 38 ff. 13 Johann Friedrich Herbart: Pädagogische Schriften (Schriften), Band 1 (Hrsg. W. Asmus). Düsseldorf/München 1964, S. 126. 10
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Die Ausbildung von pädagogischem Takt dient somit dazu, die doppelte Kontingenz jenseits starrer didaktischer Formen zu überwinden und eine Art »persönlichen Stils« der pädagogischen Interaktion – ganz im Sinne Luhmanns – zu entwickeln. 14 Herbart erkannte also bereits die Notwendigkeit eines flexibleren Eingehens auf die aktuelle pädagogische Situation mit einem aus der Theorie entwickelten Gespür für die Gesamtlage. An dieser Stelle kann nun eine Brücke zur Leiblichkeit hergestellt werden, die so von Herbart zunächst nicht beabsichtigt war, der aber im Konzept von Jakob Muth zunehmend der Weg bereitet wird. So betont der Schüler Herbarts die Relevanz einer phänomenologischen Beschreibung der »pädagogischen Dimension der Nichtplanbarkeit«. 15 Er betrachtet den pädagogischen Takt ähnlich wie Herbart als eine Kompetenz, die sich ausgehend von einer fundierten theoretischen Vorbildung in der pädagogischen Praxis aus einer gewissen Haltung heraus entwickelt und sich eher intuitiv im Einfühlen in die gemeinsame Situation entfaltet. 3.
Der pädagogische Takt nach Jakob Muth
Das Konzept des pädagogischen Taktes wurde nicht ursprünglich theoretisch bestimmt, sondern entwickelte sich als Haltung aus der pädagogischen Praxis heraus und wurde dann phänomenologisch beschrieben. Bereits im 17. Jahrhundert erkannte Johannes Bruno die Notwendigkeit, dass ein Pädagoge sich in »die Personen, Zeit und Gelegenheit« einfühlt. 16 Das heißt, man entwickelt ein Bewusstsein über die gemeinsame Situation des Lehrens und Lernens. Hinzu kommt die Bedeutung unterschiedlicher Ebenen des Lernens, die Herbart in seinem vierten Theorie-PraxisModell in kritischer Auseinandersetzung mit Aristoteles als nichthierarchisches Verhältnis von Erfahrungslernen und wissenschaft14
Luhmann, Erziehungssystem, S. 122. Jakob Muth: Pädagogischer Takt (Takt). Heidelberg 1967, S. 11. 16 Johannes Bruno: Neues und also eingerichtetes ABC- und Lesebüchlein. Danzig 1650, S. 27. 15
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lichem Lernen beschreibt. 17 Dazu etabliert er – neben der theoretischen Ausbildung – den pädagogischen Takt als die Erfahrungen des angehenden Lehrers in pädagogischen Situationen, die auf einem Gefühl basieren und damit zunächst nicht exakt beschreibbar sind. Herbart erläutert dabei, wie sich der Pädagoge sowohl durch »Nachdenken, Nachforschung« und durch »Wissenschaft« auf den Unterricht vorbereitet, aber auch, indem er »[…] sein Gemüt, seinen Kopf und sein Herz zum richtigen Aufnehmen, Aufpassen, Empfinden und beurteilen der Erscheinungen, die seiner warten, und der Lage, in die er geraten wird« öffnet. 18 Er benötigt also einerseits wissenschaftliche Theorie als Hintergrundwissen und andererseits eine Offenheit für die Situation, um angemessen reagieren und handeln zu können. Jakob Muth greift diese Kompetenz des pädagogischen Taktes auch in Anlehnung an Elisabeth Blochmann auf, die besonders die Zurückhaltung des Erziehers betont, die als Hinweis auf die Relevanz des Unwillkürlichen in der Pädagogik zu verstehen ist. 19 Denn im Konzept des pädagogischen Taktes geht es gerade nicht um Erziehung als »einem bewußten Führen, einer willentlichen Beeinflussung und einem absichtlichen Einwirken«. 20 Im Vordergrund stehen nicht etwa planbare Fakten, sondern spezifisches Situationsgeschick, Intuition und ein Gefühl für die passende Aktion, Intervention oder Reaktion zum rechten Zeitpunkt im Unterricht. Takt kann man nicht vorbereiten, sondern lediglich in der gemeinsamen Situation mit ihren spezifischen Bedingungen entfalten. Um diesen Zusammengang genauer zu bestimmten, wird in Kapitel 4 näher auf den Situationsbegriff von Hermann Schmitz eingegangen. 21 Im Grunde ist der Takt auch Merkmal gelungener Umgangsformen, der fast selbstverständlich im Alltag vorkommt – oder auch nicht. Jakob Muth versucht, gewisse Charakteristika des Taktes zu benennen. 17
Benner, Pädagogik, S. 44. Benner, Pädagogik, S. 45. 19 Muth, Takt, S. 11. 20 Muth, Takt, S. 9. 21 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand (Gegenstand). Bonn 2007, S. 65. 18
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Ursprünglich kommt der Begriff Takt aus der Musik und gilt dort als Ordnungsprinzip bei mehrstimmigen Darbietungen. Als typisches Utensil zur Taktgestaltung diente ein Taktstock, der früher noch geräuschvoll auf den Boden gestampft wurde und erst später lediglich sanft rhythmisch geschwungen wurde. 22 Der Takt dient somit als ordnendes Prinzip, das eine gewisse Struktur, einen Gleichklang vorgibt, ohne in den Vordergrund zu treten. Daraus ergibt sich auch die Beschreibung als Zurückhaltung oder Feingefühl, durch die der Taktvolle die gemeinsame Situation einrahmt. Als Feingefühl bezeichnet Muth das »Gefühl für das Du, für den Mitmenschen, für die Eigenart und das Eigenrecht des anderen Menschen, […] ein Respekt vor der letzten Unnahbarkeit des anderen«. 23 Es entfaltet sich immer erst in der konkreten Situation auf der Basis einer inneren Ausrichtung oder Zuwendung zum anderen. Man drängt sich nicht auf, hilft, falls erforderlich, schont den anderen und verletzt ihn nicht. Feingefühl kann man sich lediglich erspürend aneignen und durch Erfahrung mit anderen Menschen schulen, es lässt sich nicht theoretisch erlernen. Die Zurückhaltung bedeutet eher ein »Unterlassen als ein Tun«, welches sich dennoch in Übereinstimmung mit dem anderen auf ihn richtet. 24 Sie überschreitet keine Grenzen und ist doch engagiert für den anderen. Auch die Zurückhaltung lässt sich nicht vorwegnehmen und als bloße Unterlassung zeigt sie sich nicht als taktvoll, da sie den anderen sich selbst überlässt. Pädagogischer Takt ist stets als soziales Phänomen zu betrachten, das ein in Kon-takt Kommen inkludiert. Taktvolles Verhalten verzichtet auf körperliche Berührung und ist dennoch dem anderen zugewandt, ohne dabei in allgemeinen Höflichkeitsformen aufzugehen. Im pädagogischen Alltag zeigt sich Taktgefühl etwa darin, dass man zwischen verschiedenen Aktivitäten galant überleitet, damit sich Kinder nicht plötzlich unterbrochen fühlen. Statt mit Befehlen wird mit Fragen gearbeitet. Auch die Namen der Kinder zu kennen, drückt Takt gegenüber den Schülern aus, da der Einzelne 22 23 24
Muth, Takt, S. 17. Muth, Takt, S. 20. Muth, Takt, S. 20.
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sich wahrgenommen fühlt. Ein taktvoller Lehrer übt sich bei seinen Ansprachen in Zurückhaltung und sorgt dafür, dass die Kinder mehr zu Wort kommen. Es sollte eine dialogische Spannung entstehen, die – um mit Begriffen der leiblichen Kommunikation zu arbeiten – zwischen empfundener Engung und Weitung hin und her schwingt. 25 Der Pädagoge kündigt etwas an, indem er in Engung vor die Klasse tritt und eine Erklärung abgibt. Die Schüler öffnen sich für diese Mitteilung in Weitung, um dann nach und nach selbst in Engung zu treten und passende oder konträre Antworten zu geben. So erfolgt ein Wechselprozess von Engung und Weitung, der im Hin- und Herschwingen der aufgebrachten Energie erfahrbar wird. 26 Diese interdependente Interaktion wird im 5. Kapitel weiter erörtert. Das richtige Gespür zu haben, wann man nun einen Impuls ins Gespräch eingibt und wann man sich zurückhält, bedeutet Taktgefühl zu haben. Dieses Geschick und die Fähigkeit, im passenden Moment schweigen zu können, gehört zum Unverfügbaren des Pädagogischen, da es erst in der Situation entfaltet werden kann. 27 Bei der Vermittlung eines Gedichtes etwa ist es entscheidend, dass Lernende sich davon berühren lassen dürfen. Wenn nach strenger Methodik nur Zeilen gezählt oder Versmaß ermittelt wird, gerät das Ganze zu einer technologischen Analyse. Beim Gedicht »Die hundert Sprachen des Kindes« von Loris Malaguzzi wäre es fatal, würde man mit einer offiziellen Interpretation den Empfindungen der Lernenden vorweggreifen. Dabei ist es wesentlich, dass der Lehrer sich selbst vom vermittelten Stoff und auch den Lernenden affizieren lässt, sich auf deren Äußerungen einlässt und nicht indifferent seinen Part abliefert. Jedoch kann die Perspektive der Lernenden nicht als einziger Maßstab für das Unterrichtsgeschehens gelten, sondern auch die Schüler müssen Zurückhaltung aufbringen, wenn es die Konzentration auf die Sache erfordert. Hier lernen die Schüler, Geduld zu 25
Schmitz, Gegenstand, S. 122. Barbara Wolf: Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit (Bildung). Freiburg/München 2012, S. 31. 27 Muth, Takt, S. 35. 26
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üben am Beispiel des Pädagogen. Eine taktvolle Lehrerin ist weiterhin bemüht, die Lernenden nicht zu verletzen. Dies bedeutet nicht nur, auf Beleidigen oder Bloßstellen zu verzichten. Auch Frontalunterricht kann verletzen, weil er nivelliert, von allen das gleiche Tempo, die gleiche Aufmerksamkeitsspane verlangt. 28 Hier sollten auch Methoden ergänzt werden, die einen individuelleren Lernprozess ermöglichen. Bei aller dialogischen Spannung bleibt trotz der Bezogenheit aufeinander eine gewisse pädagogische Distanz zu den Kindern erforderlich, aber auch gegenüber der Situation insgesamt. In dieser Distanz wird auch die Qualität der pädagogischen Beziehung deutlich. Denn der Bezug bleibt vom Grunde her asymmetrisch, auch wenn man um gegenseitigen Respekt bemüht ist. Der Lehrenden kommt die Bewertung der Lernenden zu und damit auch die Funktion der Selektion, die Schülern verschiedene Zugänge (Schulabschluss) und (berufliche) Positionen im hierarchisch gegliederten Gesellschaftssystem zuteilt und konstitutiv ist für das Lehrer-Schüler-Verhältnis. 29 Jakob Muth ist es ein Anliegen zu zeigen, dass Takt nichts mit Planlosigkeit zu tun hat, sondern der Bewältigung des Unverfügbaren dient. Er ermöglicht es der Lehrenden, Situationssicherheit zu entwickeln und strukturierend in das Geschehen einzugreifen. Auf dem Sockel einer fundierten Planung kann das Taktgefühl eine geschmeidige Situationsvarianz ermöglichen. Nach Herbart setzt der pädagogische Takt an den Stellen im pädagogischen Interaktionsprozess ein, welche die Theorie leer lässt. Muth fasst drei wesentliche Aspekte des pädagogischen Taktes zusammen: 30 • Der Takt schiebt sich zwischen Theorie und Praxis. • Der Takt äußert sich als schnelle Beurteilung und Entscheidung in der Praxis. • Der Takt als eine Handlungsweise, die vom Gefühl abhängig ist. Somit ermöglicht Taktgefühl innerhalb einer komplexen Situation Entscheidungen zu treffen, wie die Interaktion der Anwesen28 29 30
Muth, Takt, S. 50. Luhmann, Erziehungssystem, S. 63. Muth, Takt, S. 69.
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den durch Impulse oder Abstinenz von solchen in eine bestimmte Richtung gesteuert werden kann, die dem Gesamtgefüge dient. Dabei spielt interessanterweise das Gefühl für die Situation eine bedeutsame Rolle. Der Pädagoge muss dabei bewusst wahrnehmen, ob etwas Freundliches, Bedrohliches, Offenes, Gelangweiltes, Ängstliches die Atmosphäre bestimmt und entscheiden, ob er das zulässt, kommentiert oder beeinflusst und gleichzeitig reflektieren, in welcher Weise ihn das in seiner Rolle oder als Person betrifft. Diese Bedeutsamkeit des Gefühls erfordert eine Betrachtungsweise, welche den Zusammenhang zwischen affektivem Betroffensein und emanzipiertem Handeln erklärt. Doch zunächst sollen die Dimensionen der Situation im leibphänomenologischen Sinne erörtert werden, um dann den Prozess der leiblichen Kommunikation näher zu beschreiben. 4.
Die gemeinsame Situation im Unterricht
Umgangssprachlich wird der Begriff Situation häufig herangezogen, ohne dass man sich genauer damit beschäftigt, welcher Bedeutungshorizont hier mitschwingt. Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, hat diesen Terminus genauer definiert, um seine Relevanz für das menschliche Erleben klarer zu fassen. »Eine Situation ist, ganz abstrakt gesprochen, eine absolut oder relativ chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören«. 31 Das chaotisch Mannigfaltige dieser Ganzheit gestaltet sich diffus und kann allein durch eine Explikation von Einzelheiten nicht erschöpfend bestimmt werden. Dennoch ist die Situation zunächst von einer inneren Kohärenz geprägt, einer Verflochtenheit der unterschiedlichen Bestandteile, die sich abhebt von Aspekten außerhalb derselben. Sachverhalte können als Abhebungen von der Wirklichkeit objektiv festgestellt werden, da sie intersubjektiv nachvollziehbar sind, etwa die Sitzordnung in der Klasse, das Buch, der Stundenplan. Durch Programme erhält die Situation eine Dynamik, welche als 31
Schmitz, Gegenstand, S. 65.
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Normen oder Werte die Interaktion mitbestimmen, etwa wer etwas sagen möchte, meldet sich und wartet, bis er aufgerufen wird. Weiterhin ist die Situation aber auch durch emotionale Empfindungen der sie erlebenden Individuen aufgeladen, die sich als Wünsche, Sorgen oder Probleme darstellen, etwa die Sorge um eine bessere Mitarbeitsnote. Die chaotische Mannigfaltigkeit der Situation bedingt, dass zwar einzelne Sachverhalte, Programme und Probleme expliziert, nie jedoch die Gesamtheit der Situation erfasst werden kann. 32 Schmitz wagt sich an das Unbestimmbare, Unverfügbare der Situation heran. Er weist dabei auf die Strategie hin, mit welcher der emanzipierte Mensch diesen Nebel durchdringt, um das Erlebte wieder in den Griff zu bekommen. Geschickt spaltet der Beobachter nämlich die Situation mit ihren diffusen Eindrücken auf in verschiedene Einzelheiten, die er innerhalb des Mannigfaltigen identifizieren kann. Er gewinnt somit Konstellationen, mit deren Hilfe er die Diffusion der Situation rekonstruieren kann und damit beherrschbare Fakten, an die er sich halten kann. »Es kommt dabei darauf an, durch geschickte Auswahl der explizierten einzelnen Bedeutungen sich ein passendes Modell, ein Bild der Lage zu machen, das den Zugriff erlaubt, die Situation gleichsam in die Hand zu nehmen, mit ihr fertig zu werden«. 33 Unter Konstellationen kann man somit Abstraktionen, Konzepte und Modelle verstehen, die komplexe Zusammenhänge auf wesentliche Komponenten reduzieren und das Verständnis dadurch vereinfachen. Dies könnte ein Soziogramm ein, das in gewisser Weise Beziehungen zwischen Schülern abbildet, ohne diese Kontakte in ihrer Komplexität und Qualität erschöpfend darstellen zu können. An dieser Stelle wird nun deutlich, warum es eine Vielzahl an pädagogischen Konzepten, Beobachtungsprogrammen und Planungsrastern gibt, um pädagogische Situationen zu verstehen, ihre Komplexität zu ordnen und ihren Verlauf zu planen. Eine einzige Unterrichtsstunde ist durch eine unüberschaubare Vielfalt 32
Schmitz, Gegenstand, S. 66. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Freiburg/München 2005, S. 28.
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an Einzelaspekten geprägt, etwa von der Anzahl, dem Alter und dem Geschlecht der Kinder, ihrer kulturellen und sozialen Herkunft, ihrer Vorbildung und aktuellen Aufmerksamkeit, ihrer individuellen Stimmung, dem Zusammenwirken unterschiedlichster Charaktere, um nur wenige Variablen auf Schülerseite zu benennen. Hinzu kommt die aktuelle Verfassung der Lehrerin, ihre Sozialisationsbedingungen, ihr Bildungsweg, ihre familiäre Situation, ihr Interesse für das Unterrichtsfach, ihre gesundheitliche Verfassung, ihre Stellung in der Organisation Schule und vieles andere mehr. Ebenso können räumliche Faktoren einen Einfluss ausüben, wie die Möblierung, verwendete Materialien, Licht, Wärme, Gerüche, Temperatur, Bepflanzung, Fülle und Leere. Die Ganzheit der Situation ist sicher mehr als die Summe ihrer einzelnen Bestandteile, weil sie noch untereinander verschränkt sind und sich gegenseitig mehr oder weniger bedingen. Wenn nun eine Unterrichtsstunde geplant wird, ist es sicher vernünftig und sinnvoll, zunächst nach Maßgabe einer didaktischen Planung vorzugehen. Wie bereits in Kapitel 2 erwähnt, wurden in der Geschichte der Pädagogik zahlreiche Versuche unternommen, um durch eine umfassende Planung das Unvorhersehbare der Unterrichtssituation in den Griff zu bekommen. Die Universitätsbibliotheken sind angefüllt mit Literatur über Didaktik und Methodik des Unterrichts. 34 In den Schulen werden Frontalunterricht, Werkstattunterricht, Projektarbeit, Stationenlernen, Forschender Unterricht, Stillarbeit, Einzelarbeit, Gruppenarbeit usw. angeboten, um den Schülern unterschiedliche Zugänge zum Lernstoff zu ermöglichen und die Unterrichtszeit sinnvoll zu strukturieren. In Lernspiralen werden einzelne Lerneinheiten in einem Unterrichtsfach zu einem sinnvollen Ganzen verbunden. 35 Bei der
34
Siehe zum Beispiel Heinz Klippert/Frank Müller: Methoden in der Grundschule (Methoden). Weinheim/Basel 2010; Astrid Kaiser: Neue Einführung in die Didaktik des Sachunterrichts. Baltmannsweiler 2010; Christa Schenk: Lesen und Schreiben lernen und lehren. Baltmannsweiler 2007; Haim Ginott: Takt und Taktik im Klassenzimmer (Takt). Göttingen 1974. 35 Klippert/Müller, Methoden.
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Prüfung im Lehramtsstudium werden didaktische Landkarten diskutiert. Es scheint ein großer Bedarf daran zu bestehen, die pädagogische Situation vorweg zu nehmen und sie durch Konstellationen zu strukturieren. Dennoch ersparen all diese Werkzeuge dem Pädagogen nicht, sich der aktuellen pädagogischen Situation zu stellen und sich an das Geschehen in der Klasse heran zu tasten. In der gemeinsamen Situation Schulklasse können sehr unterschiedliche Faktoren die geplante Lerneinheit torpedieren. Ein üblicher Störfaktor sind organisatorische Fragen der Schüler, etwa nach der Sitzordnung in der Klasse. Diese Fragen haben sicher ihre Berechtigung, doch können sie bereits die gesamte Zeitplanung durcheinanderwerfen. Es erfordert viel Geschick, die Fragen der Schüler nicht völlig zu ignorieren, aber so darauf einzugehen, dass die Diskussion organisatorischer Einzelheiten nicht dermaßen ausufert, dass wesentliche Tagesziele scheitern. In dem Werk »Takt und Taktik« von Haim Ginott werden Alltagsbeispiele angeführt, die ebenfalls treffend das Unwillkürliche und Unverfügbare einer Klassensituation zeigen. Von der Tafel grinst der Lehrerin bei Betreten der Klasse ihre eigene Karikatur entgegen. Die Schüler warten geradezu auf ihre Reaktion. 36 Auch hier kommt es sehr auf das aktuelle Befinden der Lehrerin und das Gefühl für die Gesamtsituation ab, ob sie hier mit Zurückhaltung reagiert, indem sie das Ganze »cool« ignoriert, einen Witz darüber macht oder ob eine Diskussion über den Respekt vor der Lehrerin beginnt. Für die Pädagogin ist es wichtig, die Gesamtsituation im Auge zu haben, die sich aus den unterschiedlichen Persönlichkeiten und der eigenen Befindlichkeit zusammensetzt. Der Unterricht in einer Schule kann als gemeinsame Situation beschrieben werden, da mehrere Individuen daran beteiligt sind. Hermann Schmitz unterscheidet in seinem Situationskonzept zwischen persönlicher Situation und gemeinsamer Situation. Die persönliche Situation bezeichnet das, was man »sonst als Persönlichkeit, Eigentümlichkeit, Individualität pp. eines Menschen ausgibt und mithilfe solcher Ausdrücke doch nicht scharf und
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Ginott, Takt.
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schmiegsam an den Phänomenen zu fassen weiß«. 37 Die persönliche Situation ist, anders als bei soziologischen Modellen der Personalisation, in denen sich Rollen im Wechselspiel von Selbstbild und Fremdbild ausbilden, oder bei psychologischen Konzepten des Selbst, die eine eher schematische, stufenförmige Genese des Subjektes vorsehen, geprägt von sehr unterschiedlichen Aspekten, etwa eigenen Erinnerungen und prospektiven Erwartungen als zuständliche Situationen und aktuell sich bildende und verschwindende Eindrücke sehr diskreter Art, die kaum spürbar die eigene Person prägen. Dieser Persönlichkeitsbegriff setzt sich nicht nur aus der »Summe von Eigenschaften zusammen, die sich quasi im Laufe des Lebens als beständig und für die Person typisch herauskristallisieren, sondern aus dem dynamischen Ganzen der chaotischen Mannigfaltigkeit der persönlichen Situation«, aus der immer wieder einzelne Aspekte der Individualität herausragen. 38 Doch Schmitz vertritt keineswegs einen solipsistischen Persönlichkeitsbegriff, sondern er sieht die persönliche Situation stark in gemeinsame Situationen eingebettet, wie etwa die Familie, die Kindergartengruppe, die Klasse, die Peergruppe, etc. Das Kind ist zur Entfaltung seiner persönlichen Situation geradezu auf die gemeinsame Situation angewiesen. 39 Gemeinsame Situationen durchdringen mit bestimmender aber wechselseitig oszillierender »Prägungskraft die persönliche Situation so, dass dieser Einfluss die Ausbildung unvorhersehbar neuer Formen« ermöglicht, an denen das Subjekt »gestaltend und selbst Gestalt annehmend« mitwirkt. 40 Dies entspricht etwa dem dialektischen Sozialisationsprozess nach Peter Berger und Thomas Luckmann in der primären Sozialisation, in dem äußere Anregungen internalisiert und eigene Impulse externalisiert werden. 41 37
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person (Person). Bonn 1990, S. 287. 38 Wolf, Bildung, S. 287. 39 Barbara Wolf: Die persönliche Situation als Bildungsaufgabe (Situation). Rostock 2010, S. 19. 40 Schmitz, Gegenstand, S. 76. 41 Peter Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1980, S. 139.
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Leibliche Dimensionen des pädagogischen Taktes
Auch in einer Schulklasse wird also jeder einzelne – auch die Lehrperson – in seiner Entwicklung geprägt durch das Zusammenwirken der einzelnen persönlichen Situationen in der chaotischen Mannigfaltigkeit der gemeinsamen Situation. Dabei spielt die Lehrperson jedoch eine besondere Rolle, da sie in personaler Emanzipation das Geschehen reflektieren und bis zu einem gewissen Maß lenken kann. Dies geschieht auf der einen Seite durch die Methodik und Didaktik, aber vor allem auch in der pädagogischen Beziehung zum Einzelnen und zur Klasse. Die Ergebnisse der Hattie-Studie haben diese Bedeutsamkeit der Pädagogen nachdrücklich rehabilitiert. 42 Der pädagogische Takt bildet dabei das Bindeglied nicht nur zwischen Theorie und Praxis, sondern auch zwischen Lehrer und Klasse. Bedeutsam ist hier, dass es bei dieser Fähigkeit gerade auf das Gefühl ankommt, das in der Wissenschaft, auch in der Pädagogik, noch immer einen zweifelhaften Ruf besitzt. Doch mit Begriffen aus Hermann Schmitz’ Konzept der leiblichen Kommunikation, das viele Anknüpfungspunkte an Jakob Muths Idee des pädagogischen Taktes aufweist, kann beschrieben werden, warum affektives Betroffensein in gemeinsamen Situationen einen wesentlichen Stellenwert in der Pädagogik einnimmt. Personen agieren nämlich nicht nur als personal emanzipierte (aktiv handelnde) Akteure, sondern auch als durch Gefühle, Stimmungen und Atmosphären beeindruckte (passiv erleidende) Patheure, die immer wieder um eine Bewältigung der gemeinsamen Situation ringen müssen. Hier lässt sich nun der Zugang zum Unwillkürlichen, Unverfügbaren und Unvorhersehbaren dezidiert nachzeichnen und die Kunst seiner Gestaltung beschreiben.
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Zeit Online, 03. 01. 2013, S. 1.
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5.
Über die Bedeutung von Engung, Weitung und Einleibung im Unterricht
Der pädagogische Takt wird nach Herbart und seinem Schüler Muth aus einem Gefühl für die Situation entwickelt. Dieses Gefühl ist jedoch, im Gegensatz zur methodisch-didaktischen Planung, nicht im Vorhinein bestimmbar. Dennoch wird ihm im Konzept des pädagogischen Taktes eine hohe Bedeutung zugesprochen. Denn die Lehrperson begibt sich in die pädagogische Situation als fühlendes, spürendes Wesen, das affektiv berührt wird vom Sprechen, Agieren und Handeln der Schüler. Ein guter Lehrer sollte sich nach Jakob Muth auch berühren lassen von dem, was die Schüler an inneren Eindrücken zum Ausdruck bringen. »Dazu muss den Menschen die jeweilige Situation umgriffen haben, er darf nicht in sich selbst versponnen, isoliert und kühl distanziert sein, und das Sein des anderen Menschen muß ihn angerührt haben, er muss von anderen betroffen worden sein«. 43 Dies macht den Lehrer auf der einen Seite verletzlich, weil er sich nicht hinter seiner Rolle verstecken kann. Auf der anderen Seite ermöglicht diese Haltung einen lebendigen Austausch von Subjekten untereinander, mit ihren Gedanken, Phantasien und Gefühlen zum Thema. Die wechselseitige Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerin kann mit Schmitz’ Konzept der leiblichen Kommunikation annäherungsweise phänomenologisch beschrieben werden. Das Grundprinzip der leiblichen Kommunikation liegt in dem Wechselspiel von Engung und Weitung. Dabei meint der Begriff Leib das, was im Gegensatz zum Körper nicht messbar oder sichtbar, sondern vielmehr spürbar und dennoch etwa am gleichen Ort lokalisierbar ist. Der spürbare Leib hat keine flächige Grenze wie beim Körper die Haut, sondern er spürt darüber hinaus Qualitäten wie feuchte Kälte, wärmende Zuneigung oder schroffe Ablehnung. 44 Der Leib ist somit gerade nicht der vermessbare Körper, sondern das Vermögen, zu sehen, berührt zu werden und zu 43 44
Muth, Takt, S. 35. Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Paderborn 1992, S. 11.
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empfinden. 45 Merleau-Ponty betrachtet den Leib nicht als peripheren Teil der Person, sondern als faktische und personale Existenz des Ich, als Möglichkeit des Zugangs zum anderen. 46 Der gespürte Leib geht also über die Körpergrenzen hinaus und kann eine Verbindung zwischen Ich und Du herstellen. Personen erleben sich leiblich, was bedeutet, zwischen empfundener »Enge und Weite in der Mitte zu stehen und weder von dieser noch von jener ganz loszukommen […]«. 47 Enge wird etwa bei Angst, Schmerz und Konzentration empfunden und drückt sich durch eine angespannte Körperhaltung aus. Die Person ist ausgerichtet auf etwas Bestimmtes. Die Engung entspringt dem Ausgeliefertsein an das affektive Betroffensein im Plötzlichen als Ursprung von Hier, Jetzt, Wirklichkeit und Diesheit (Identität und Verschiedenheit), in dem sich die Subjektivität entfaltet. 48 Weite erlebt der Mensch in der Entspannung, Lust und Ekstase, die Muskulatur ist locker und die Wahrnehmung offen und ungerichtet. 49 Äußerste Weitung entspricht dem Verschmelzen mit der Welt. Engung und Weitung können als zwei Extreme betrachtet werden, zwischen denen ein Kontinuum an Erlebnisqualität möglich ist. Die Interaktion von Personen vollzieht sich in einem Wechselprozess von Engung und Weitung, den Schmitz als Einleibung bezeichnet. Dabei entspricht Weitung in der leiblichen Dynamik des Lehrerverhaltens eher Jakob Muths Prinzip der Zurückhaltung und Engung dem Durchsetzen von Forderungen. Einleibung ist die Ausweitung des innerleiblichen Dialogs von Engung und Weitung auf die Interaktion mit einem anderen. Schmitz schreibt: »Einleibung ist immer Konzentration auf ein Gegenüber«. 50 Dabei treten die Subjekte in eine umfassende Kooperation antagonistischer oder solidarischer Art. Bei der antagonistischen Einleibung wird die Hierarchie von Über- und Unter45
Thomas Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Stuttgart 2013, S. 99. Maurice Merleau-Ponty: Le Philosophe et son Ombre, in: ders.: Èloge de la Philosophie et autre Essais. Paris 1960, S. 287. 47 Schmitz, Gegenstand, S. 122. 48 Schmitz, Person, S. 3. 49 Wolf, Bildung, S. 316. 50 Schmitz, Gegenstand, S. 151. 46
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ordnung verhandelt, ein Vorgang, der in der leiblichen Disposition des Menschen zur Einschätzung der Situation verankert ist. Ein erstes Händeschütteln kann klarstellen, wer hier das Sagen hat, und ein Blickwechsel kann sich wie ein Ringkampf gestalten. »Blicke, die sich begegnen, sind wie Speere im Turnier; sie greifen tief in das leibliche Befinden beider Partner ein, die sich dadurch bedeutsame Signale geben, […] und entfalten sich im Drama des ›Augenblicks‹ zu einem vielfältigen Wechselspiel«. 51 Ebenso werden Worte aus der konzentrierten Engung heraus in die Interaktion geworfen und vom Gegenüber entweder in Weitung aufgefangen oder in Engung zurück geschleudert. Dieses Ineinandergreifen von Aktion und Reaktion bezeichnet Schmitz als eine Verschränkung von Engung und Weitung in wechselseitiger Einleibung, das einen gemeinsamen vitalen Antrieb erzeugt. 52 Der individuelle vitale Antrieb bildet die Achse leiblicher Dynamik und stellt die expansive sowie kontraktive Lebendigkeit der leiblichen Ökonomie dar. Dabei kann dieser die Grenzen des eigenen Leibes überschreiten und sich bei der Einleibung mit einem anderen zu einem gemeinsamen vitalen Antrieb verbinden. 53 Innerhalb dieses gemeinsamen vitalen Antriebs beziehen sich Lehrer und Schüler aktiv und reaktiv aufeinander. »Über die Stimme, den Blick und/oder Berührungen ist ihr leibliches Befinden wechselseitig antagonistisch miteinander verbunden.« 54 Idealerweise richtet sich der gemeinsame vitale Antrieb konzentriert auf den Gegenstand des Unterrichts. Anders als bei der antagonistischen Einleibung gestaltet sich die solidarische Einleibung eher symmetrisch, wie beispielsweise beim Rudern, Tanzen oder Musizieren. 55 Hier greifen die Bewegungen ineinander, man schwingt in einem gemeinsamen Rhythmus mit, wie bei 51
Schmitz, Gegenstand, S. 136. Hermann Schmitz: Der Leib (Leib). Berlin 2011, S. 32. 53 Hermann Schmitz: Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität. Freiburg 2015, S. 178. 54 Sabine Weishaupt: Subjektivierendes Arbeitshandeln in der Altenpflege – die Interaktion mit dem Körper (2006), zit. in: Fritz Böhle/Jürgen Glaser (Hrsg.): Arbeit in der Interaktion – Interaktion als Arbeit. Wiesbaden 2009, S. 18. 55 Schmitz, Gegenstand, S. 151. 52
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einem Fingerspiel, beim Singen im Chor oder bei der Choreographie eines Tanzes, ohne sich auf eine bestimmte Person zu konzentrieren. Häufig findet Einleibung auch ganz beiläufig statt, wenn sich etwa im Pausenhof Schülermassen begegnen und sich geschickt aneinander vorbei einen Weg durch die Menge bahnen. Im Dialog zwischen Lehrerin und Schülern kann die Einleibung leicht beobachtet werden. Die Lehrerin gibt Bewegungssuggestionen vor, etwa wenn sie zielstrebigen Schrittes in straffer Körperhaltung die Klasse betritt, ihre Tasche energisch auf dem Tisch ablegt und mit kräftiger Stimme die Klasse zum Beginn des Unterrichts animiert. Oder wenn sie langsam durch die Tür schlurft, sich fast unauffällig auf einem Stuhl niederlässt und irritiert in die Klasse schaut. Bewegungssuggestionen sind nach Schmitz »Vorzeichnungen einer Bewegung, die über das Maß der erfolgten Bewegung […] hinaus geht […]« und somit Reaktionen evozieren, die selbst zu Bewegungen führen. 56 Gerade Kinder lernen vor allem durch leibliche Wahrnehmung und Mitbewegung. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf Bewegungen, »weil sie davon in leiblicher Weise angesprochen werden«. 57 Das Eintreten des Lehrers wird somit ganz unterschiedliche Reaktionen bei den Schülerinnen auslösen. Mit Blicken wird ausgemessen, wer den Überblick hat, die Stimme fordert, wer das Sagen hat und die Position im Raum zeigt, wer diesen für sich einnimmt. Doch in diesem Fall ist es wieder schwer planbar, mit einem bestimmten Gestus zu erscheinen. Ein zurückhaltender Lehrer wirkt eher lächerlich, wenn er plötzlich Dominanzgebärden ausübt und eine lebhafte Lehrerin löst Irritation aus, wenn sie abwesend und schweigend die Klasse betritt. Auch hier spielt wieder das Unwillkürliche eine Rolle. Mit entsprechendem Feingefühl nimmt die Lehrerin beim Betreten der Klasse war, welche Grundstimmung hier gerade herrscht, ist es 56
Schmitz, Leib, S. 33. Klaudia Schultheis: Macht und Erziehung. Überlegungen zur pathisch-leiblichen Dimension pädagogischen Handelns, in: Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.): Zur Legitimierbarkeit von Macht. Freiburg/München 2008, S. 103.
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eher entspannte Müdigkeit, eine nervöse Gereiztheit oder neugierige Offenheit? Dies zeigt sich in Nuancen der Körperhaltung, der Mimik, Gestik und Sprechweise der Anwesenden, aber auch in der Reaktion auf ihr Eintreten. Das Gespür, nun genau mit dem treffenden Stichwort oder der passenden Geste zu reagieren, spricht von Taktgefühl. Dieses speist sich aus theoretischem Wissen über Gruppendynamik und aus zahlreichen einverleibten Erinnerungen ähnlicher Situationen, die dann innerhalb von Sekunden zu einem Handeln, einer Geste oder einer Aussage aktualisiert werden. Es wird deutlich, dass unvorhersehbare Dynamiken der Situation und die passende intuitive Reaktion darauf eine ebenso große Rolle spielen können wie die geplante methodische Abfolge einer Unterrichtseinheit. Einleibung mit einer Gruppe von 30 Schülern ist ein äußerst komplexes Geschehen, und eine gelingende Unterrichtsstunde kommt im Grunde einem Kunststück gleich. Denn es kann passieren, dass noch in den letzten zehn Minuten die Diskussion entgleist, die Klasse Kopf steht. Da Einleibung die Konzentration auf ein Gegenüber ist, bedeutet dies für die Lehrperson, in wacher Aufmerksamkeit verschiedenste Signale wahrzunehmen, zu verstehen, zu deuten und angemessen zu reagieren. All diese Faktoren bleiben letztlich unverfügbar und erfordern entsprechend Situationsgeschick und Wachheit, damit der gemeinsame vitale Antrieb nicht zusammenfällt. Um diese Aufmerksamkeit hervorzubringen, sei dies in antagonistischer Einleibung bei einem Rededuell oder in solidarischer Einleibung bei gymnastischen Übungen, erfordert es eine grundlegende Körperspannung, die als Engung durch die Schüler spürbar wird wie ein Ruder, welches das Schiff in die richtige Richtung lenkt. Je nach Konstitution der Schülerinnen muss diese Spannung stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Ganz ohne Spannung ist keine leibliche Kommunikation möglich, oder die Schüler erleben die Lehrperson in Ausleibung, einem völligen Loslassen der Situation, in dem die Klasse sich selbst überlassen ist. 58 Da jedoch die Verantwortung für die pädagogische Situation vor allem in der Hand der Lehrerin liegt, 58
Schmitz, Gegenstand, S. 152.
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die in personaler Emanzipation das Geschehen lenkt, bleibt eine gewisse Engung in Form von Spannung erforderlich. Dies erklärt auch, warum sich Pädagogen im Unterricht häufig wach und lebendig fühlen, danach aber zunehmend in sich zusammensinken und eine gewisse Erschöpfung spüren. Da Lehrpersonen selten eine einzelne Unterrichtsstunde absolvieren, sondern sich meist über einen längeren Zeitraum mit einer Klasse beschäftigen, entsteht aus einzelnen aktuellen Situationen allmählich eine gemeinsame Atmosphäre, die sich in einer bestimmten Weise einspielt. Ob sich diese fröhlich, angespannt, gelassen oder gereizt darstellt, hat nicht nur mit dem Gesamtklima der Schule zu tun, sondern auch mit den Eigenschaften und Fähigkeiten der Individuen in der Lerngruppe und mit der Kompetenz der Lehrenden, mit Taktgefühl auf die Situation einzugehen. Die Relevanz solcher Atmosphären als unverfügbare Momente pädagogischer Situationen soll nun im Folgenden erörtert werden. 6.
Atmosphären im pädagogischen Kontext
Die Bedeutung von Atmosphären findet in der Sozialisationsforschung noch wenig Beachtung, da man sich vor allem mit zähl- und messbaren Sozialisationsfaktoren wie Alter, Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit, Wohnraum, Freizeitgestaltung, Lebenssituation und doppelte Berufstätigkeit der Eltern beschäftigt hat. 59 Phänomenologisch orientierte Forscher wagen sich nun zunehmend auch an Atmosphären als sozialisierende Einflussgröße heran und charakterisieren diese nicht nur als aktuelle Wirkfaktoren, sondern auch als nachhaltige Lebensgefühle, die sich zu Atmosphären des Aufwachsens verdichten können. 60 Gerade auch 59
BSFSJ: 12. Kinder- und Jugendbericht. München 2005, S. 53 ff. Barbara Wolf: Atmosphären des Aufwachsens. Rostock 2015; Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Bochum 2015; Tonino Griffero: Who’s Afraid Off Atmospheres (And Of Their Authority)?, in: Lebenswelt. Aesthetics and philosophy of experience, S. 193–213, unter: http://riviste.unimi.it/index.php/ Lebenswelt/index (Stand: 3. 5. 2018)
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in Institutionen wie Schulen, in denen Kinder einen großen Teil ihrer Lebenszeit verbringen, können solche Atmosphären entstehen und auf das Befinden und die Entwicklung der Schüler einwirken. Bereits Herbart hatte festgestellt, dass sich Stimmungen im Unterricht auf Schüler und Lehrer auswirken und ihr Handeln beeinträchtigen können: »[…] diese Einwirkung [des Gefühls; B. W.] wird anders und anders ausfallen, je nachdem wir selbst anders oder anders gestimmt sind; auf diese Stimmung sollen und können wir durch Überlegung wirken; von der Richtigkeit und dem Gewicht dieser Überlegung, von dem Interesse der moralischen Willigkeit […] hängt es ab, ob und wie sie unsere Stimmung vor Antretung des Erziehungsgeschäfts, und folglich ob und wie sie unsere Empfindungsweise während der Ausübung dieses Geschäfts und mit dieser endlich jenen Takt ordnen und beherrschen werde, auf dem der Erfolg oder Nichterfolg unserer pädagogischen Bemühungen beruht«. 61 Bemerkenswert ist, welch große Bedeutung Herbart Gefühl und Stimmungen zuschreibt, die einerseits von Seiten der Schüler auf den Lehrer wirken und ihn andererseits vor die Entscheidung stellen, wie er darauf reagiert, wie er sich anstecken lässt oder aus Überlegung heraus die Situation ordnet. Takt wird hier als ordnende Kompetenz verstanden, die in dem Gewoge von Eindrücken, Vorhaben, Aktion und Reaktion seine Wirkung entfaltet. Herbart stellt an dieser Stelle bereits zwei wesentliche Aspekte von Atmosphären zur Diskussion: Das passive Erleiden von Atmosphären einerseits und das aktive Gestalten dieser andererseits. In diesem Zitat wird der Terminus Stimmung verwendet, der von Hermann Schmitz in seinem Werk »Atmosphären« häufig synonym verwendet wird, da Stimmungen bei ihm eine bestimmte Form von Gefühlen darstellen. 62 Er bezeichnet Gefühle als »räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte«. 63 Dies leuchtet ein, wenn man sich das Gefühl der Demütigung 61
Herbart, Schriften, S. 126 f. Hermann Schmitz: Atmosphären (Atmosphären). Freiburg/München 2014, S. 22. 63 Schmitz, Atmosphären, S. 30. 62
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beim Mobbing vorstellt, wenn eine Schülerin wie Luft behandelt wird und hinter dem Rücken abfällige Grimassen gezogen werden. 64 Eine solche Atmosphäre kann als räumliches Phänomen wahrgenommen werden, das gleichsam als »Hintergrund unseres leiblichen Befindens jeweils unwillkürlich mitgegeben ist«. 65 Dieses Befinden ist vom eigenleiblichen Spüren bestimmt, also der Art und Weise, wie man sich in der betreffenden Situation fühlt, etwa angespannt, wütend, hilflos, etc. Diese Gefühle als Atmosphären streben danach, den Raum des eigenen Leibes völlig auszufüllen, das Subjekt zu beherrschen. Dennoch können Gefühle, wie bei Herbart zu sehen, in zweierlei Weise erlebt werden: Man kann sie erstens lediglich wahrnehmen, wird allenfalls peripher tangiert, wie etwa durch eine alberne Stimmung einer Schulklasse, ohne sich davon anstecken zu lassen. Im zweiten Fall wird man affektiv betroffen von der Albernheit und gerät in Engung, weil der fehlende Respekt der Schüler Gefühle von Zorn, Angst oder Hilflosigkeit auslösen. Im affektiven Betroffensein wird das Subjekt vom Gefühl als Atmosphäre überwältigt, darin verstrickt und kann sich erst in Distanz wieder davon lösen. »Gefühle werden zu eigenen des sie fühlenden Menschen, indem sie ihn leiblich spürbar ergreifen«. 66 Die Ergriffenheit lässt sich meist an den Gebärden ablesen, etwa das wutentbrannte Stampfen mit dem Fuß eines trotzigen Kindes oder der Freudensprung mit hochgereckten Armen. Gefühle als Atmosphären transportieren somit bestimmte Bewegungssuggestionen, die sich in Form von Gebärden niederschlagen, welche kulturell unterschiedliche Ausdrucksformen hervorbringen. Schmitz geht von einem eher pathischen Verständnis von Atmosphären aus, die Person wird von der Atmosphäre eines Gefühls gepackt, geschüttelt und affektiv betroffen gemacht. Auch Gernot Böhme spricht in Anlehnung an Elisabeth Ströker von Atmosphären als »gestimmte Räume«, die »vom Men64
Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich (Kinder). Freiburg/München 2016, S. 196 ff. 65 Schmitz, Gegenstand, S. 292. 66 Schmitz, Atmosphären, S. 35.
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schen in seiner leiblichen Präsenz erfahren werden«. 67 Die Stimmung der Räume kann jedoch auch intentional gestaltet werden durch unterschiedliche Materialien, Farben und Formen, Temperatur, Gerüche, Geräusche, Lichtverhältnisse u. v. m. Weiterhin wirken menschliche Subjekte bei der Konstitution von Atmosphären unmittelbar mit. Nach Böhme können Personen eine Atmosphäre durchaus beeinflussen, etwa durch »ihr Verhalten, ihr Reden, Gestikulieren, durch die Aufmachung, durch ihre pure leibliche Anwesenheit, durch ihre Stimme und vieles mehr«. 68 Sicher ginge es zu weit zu behaupten, man könne eine Atmosphäre erzeugen, denn sie wird jeweils individuell über das Empfinden eines Subjektes erfahren und gedeutet. Man kann wohl spezifische Mittel einsetzen, die dann die Entstehung gewisser Stimmungen wahrscheinlich macht, wie etwa Filmmelodien Gefühle von Spannung, Ausgelassenheit oder Erhabenheit begünstigen können. Dieses unverfügbare Moment der Atmosphäre findet nun eine Entsprechung im Taktgefühl, mit welchem man im Unterricht diesen Einflüssen begegnen kann. Muth spricht davon, dass der Takt sich durch prinzipielle Nichtplanbarkeit und Unverfügbarkeit charakterisiert. 69 Dennoch wehrt er sich gegen ein naturalistisches Verständnis von Takt als einem reinen Instinkt, der einen im Moment ereilt. Der Takt tritt zwar situativ und zufällig auf, erschließt sich aber aus der durch Theorie gespeisten Erfahrung und schafft in seiner Zufälligkeit ordnenden Sinn. Ebenso wie Atmosphären eher unvorhersehbar entstehen und vergehen, reagiert auch der Pädagoge mit seinem Taktgefühl eher unwillkürlich auf diese Phänomene. Dennoch bedeutet Taktgefühl auch Situationssicherheit, Improvisationsgeschick und dramaturgisches Wagnis, das eine pädagogische Absicht aus der gemeinsamen Situation heraus entwickelt und damit nicht immer geplant, aber dennoch zielsicher vorgeht. Böhme geht zu67
Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre (Architektur). München 2013, S. 25; Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Frankfurt a. M. 1977, S. 22. 68 Böhme, Architektur, S. 38. 69 Muth, Takt, S. 105.
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mindest von der Möglichkeit aus, Atmosphären in einer gewissen Weise vorbereiten zu können, wie dies in der Architektur, in Film und Theater, im Verkauf und letztlich auch in der Pädagogik genutzt wird. Doch sowohl die Atmosphäre als auch der Takt als Reaktion darauf bleiben zu einem bestimmten Maße unverfügbar, ein Mangel, den der Pädagoge aushalten muss. In der Pädagogik wurde etwa bei Maria Montessori oder später der Reggio-Pädagogik der vorbereiteten Lernumgebung eine große Relevanz zugesprochen, und man erhob den Raum in den Rang eines dritten Erziehers. 70 Auch die persönliche Haltung der Pädagogen wurde ernst genommen, und daher ist davon auszugehen, dass die Lernatmosphäre nicht nur durch Raum oder Material beeinflusst wird, sondern auch durch die Personen, die in den Räumen wirken. Dabei entstehen kollektive Atmosphären, die im Zusammenwirken der unterschiedlichen Individuen in einer gegebenen räumlichen Umgebung entstehen. Kollektive Atmosphären sind nach Schmitz immer »Atmosphären in Situationen«, die durch eine chaotische Mannigfaltigkeit gekennzeichnet sind. 71 Diese entstehen durch Einleibung, innerhalb welcher eine gemeinsam geteilte Ergriffenheit entsteht, wie etwa eine Massenpanik bei einem Festival oder ekstatische Freude bei einem Fußballspiel. Auch hier schließt sich der vitale Antrieb einzelner Personen zu einem gemeinsamen vitalen Antrieb zusammen. 72 Ein Pädagoge mit Taktgefühl entwickelt ein besonderes Gespür für diese Atmosphären, die einerseits aktuell entstehen aber sich andererseits im Laufe der Zeit einstellen, einspielen und verfestigen können. In der aktuellen Situation hat er jeweils zu entscheiden, ob er auf solche Stimmungen reagiert, sich davon anstecken lässt oder aber, ob er sie an sich vorbeiziehen lässt und mit einem entsprechenden Impuls seinerseits die Atmosphäre zu beeinflussen sucht. Dies kann nicht allein ein Akt des Willens sein, denn selbst wenn sich eine Lehrerin auf einem hohen Niveau per70
Elisabeth Krieg: Lernen von Reggio. Lage 2002, S. 135 ff., oder Maria Montessori: Grundlagen meiner Pädagogik. Wiebelsheim 2009, S. 44 ff. 71 Schmitz, Atmosphären, S. 56. 72 Schmitz, Atmosphären, S. 57.
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sonaler Emanzipation befindet, lässt es sich kaum voraus berechnen, ob man durch die akute Stimmung in der Klasse betroffen sein wird, oder ob man sich distanziert darüber erheben kann. Nach Jakob Muth ist es noch nicht einmal wünschenswert, sich lediglich in kühler Distanz hinter seiner Rolle als Lehrer zu verschanzen, da man so die Klasse nicht erreicht mit seinen Anliegen. Daher erfordert es gerade das Gespür für die Situation, wie sehr man sich auf die Atmosphäre einlässt und wann man innerlich loslässt. Otto Friedrich Bollnow geht nicht spezifisch auf den pädagogischen Takt ein, aber er verweist auf die Bedeutung von Atmosphären für pädagogisches Handeln. Dabei steht die Haltung des Pädagogen als Person im Vordergrund. Einfluss auf die Atmosphäre nimmt der Pädagoge durch besondere Tugenden wie Geduld, Hoffnung und Heiterkeit. 73 Geduld kann gerade einer Atmosphäre von Konkurrenz und Leistungsdruck die Spitze nehmen und dem Lernenden das Gefühl vermitteln, seine individuelle Vorgehensweise und Geschwindigkeit findet Akzeptanz und Anerkennung. Gerade Kinder, die bereits Versagen z. B. durch eine schlechte Zensur erlebt haben, kann das Prinzip Hoffnung als die Erwartung »Du wirst den richtigen Weg finden, trotz aller Umwege« ermutigen. Die Fähigkeit zur Heiterkeit kann hingegen eine Atmosphäre begünstigen, die nicht nur Freude am gemeinsamen Tun vermittelt, sondern auch eine gewisse Leichtigkeit, trotz allem Ernstes, der bei der Bewältigung einer Aufgabe erforderlich ist. Solche Atmosphären scheinen zunächst sehr kurzfristig aufzuscheinen, können sich aber mit der Zeit zu einem bestimmten Klassenklima verdichten, das die Qualität des Aufwachsens beeinträchtigt und Atmosphären des Aufwachsens als Lebensgefühl erzeugt. 74 Für das pädagogische Handeln ist es wichtig zu erkennen, dass Atmosphären durch bestimmte Verhaltensweisen entstehen, verstärkt oder abgeschwächt werden kön73
Otto Friedrich Bollnow: Die pädagogische Atmosphäre. Heidelberg 1964, S. 56 ff. 74 Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik. Bern 1954, S. 350 ff.
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nen. Dies gilt für eine konstruktive Zusammenarbeit ebenso wie für Mobbing. Gerade dem entwertenden Prinzip des Mobbings kann durch eine wertschätzende Atmosphäre begegnet werden, die jedes Kind mit seinen Schwächen und Stärken annimmt und den Leistungsdruck nicht in den Vordergrund stellt. 75 Pädagogischer Takt bietet ein Potenzial, Lernatmosphären zu gestalten, ohne jemals eine umfassende Verfügbarkeit durch methodische Planung zu erreichen. Dabei bleiben aktive Intervention des Pädagogen ebenso relevant wie passive Zurückhaltung. 76 7.
Schlussbetrachtungen
Trotz didaktisch perfekter Planung gibt es resümierend keine Garantie, dass eine Lehr-Lernsituation erfolgreich endet. Das Unverfügbare ist für pädagogisches Handeln konstitutiv, kann durch Methoden, Arbeitsschritte und Formeln nicht dingfest gemacht werden und ist allein durch Konstellationen nicht in den Griff zu kriegen. Im Unterricht müssen curriculare Ziele in geplante Lehr-Lernaufgaben transformiert werden, die Schülern ermöglichen, »objektivierte Sachverhalte [zu] resubjektivieren und subjektive Erfahrungen und Meinungen [zu] verobjektivieren. 77 Diese abstrakten Prozesse vollziehen sich in phänomenologischer Perspektive auf der Ebene der Einleibung, die im Wechselspiel von Engung und Weitung das Gespür erfordern, welche Anknüpfungspunkte beim Lernenden aufzuschließen sind durch sein affektives Betroffensein und wie diesen taktvoll zu begegnen ist. Die ›gute Absicht‹ zu erziehen als kognitives Symbol der Zuordnung zum Erziehungssystem, spiegelt sich nach Luhmann in der pädagogischen Rollenasymmetrie wider, denn schließlich soll ja die Schülerin, nicht die Lehrerin erzogen werden. 78 Doch dieses Machtgefüge reicht nicht aus, um die doppelte Kontingenz und 75 76 77 78
Wolf, Kinder, S. 208. Muth, Takt, S. 47. Benner/Kemper, Reformpädagogik, S. 318. Luhmann, Erziehungssystem, S. 55.
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das Unwillkürliche pädagogischer Interaktionen erschöpfend zu regeln. Daher eröffnet der Situationsbegriff nach Hermann Schmitz einen wertvollen Zugang zur Komplexität des Unterrichtsgeschehens, der durch Jakob Muths Konzept des pädagogischen Taktes gewinnbringend zu ergänzen ist. Dem Unvorhersehbaren kollektiver Atmosphären, die in gemeinsamen pädagogischen Situationen entstehen, kann durch eine offene Haltung oder gar Zurückhaltung und durch ein Feingefühl für die aktuelle Stimmung begegnet werden. Die Entwicklung eines solchen Taktgefühls erfordert einerseits erziehungswissenschaftliches Fachwissen, das grundlegende Kenntnisse über die Lebenswelt von Kindern oder Jugendlichen ebenso vermittelt wie Wissen über Gruppendynamik, pädagogische Konzepte, Erziehungsstile und Erziehungsziele. Andererseits aber ist eine pädagogische Haltung erforderlich, die in einem authentischen Habitus verkörpert wird, der in der konkreten Situation durch Einleibung einen Bezug zu Schülerinnen herstellen kann, der sich nicht einseitig über die Lernenden stellt, sondern sich berühren lässt von den Fragen, Anliegen und Ausdrucksweisen der Kinder. Erst wenn sich durch wechselseitiges aufeinander Einschwingen ein gemeinsamer vitaler Antrieb bildet, kann eine Resonanz entstehen, die es ermöglicht, in einer Atmosphäre lockeren Austausches unterschiedliche Zugänge des Lernens zu finden. Hartmut Rosa beschreibt die Entstehung von Resonanz wie folgt: »Wenn es dem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit seiner Schüler so zu fesseln, das es im Klassenzimmer ›knistert‹, entstehen Momente des wechselseitigen geistigen Berührens und Berührtwerdens«. 79 Dieser Bereich des Pädagogischen bleibt unverfügbar und kann in der gemeinsamen Lehr-Lernsituation immer wieder neu erschlossen werden. Daher begleitet das Theorem des pädagogischen Taktes Lehrende lebenslang und verdient wissenschaftliche Beachtung.
79
Hartmut Rosa: Resonanzpädagogik- Wenn es im Klassenzimmer knistert. Weinheim 2016, S. 30.
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Sabine Dörpinghaus
Leibliche Gewissheit. Ermöglichung, Begrenzung und Bedingung bei Unbestimmtheiten im geburtshilflichen Kontext Abstract: In der geburtshilflichen Praxis treten Unbestimmtheiten spontan auf, und die Hebamme, Pflegekraft oder Mediziner_in* ist weder durch routiniertes Handeln noch durch formalisierte Verfahren, Standards oder Fachwissen vor ihrem Auftreten gefeit. Es sind all jene Situationen, mit ihren vielsagenden Eindrücken, in denen das Leben auch durch Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit bestimmt ist und diese Unwägbarkeiten sich nicht in Zahlen und Fakten übersetzen oder prognostisch vorhersehen lassen. Das, was hier gefasst wird, ist einerseits banal und andererseits hochkomplex. Fatal ist, dass die Personengruppen, die mit dem phänomenalen Paradoxieproblem beruflich betraut sind aufgrund einer Art Rechtspositivismus inkriminiert werden können. Keywords: Leibliches Verstehen, Unbestimmtheiten, Paradoxieproblem, Differenzerleben
1.
Hinführung
Kann es Irritationen und Improvisationen in Zeiten von kontrollgesteuerten Zugängen zum Menschen, wie beispielsweise dem Qualitätsmanagement, Hightech-Lösungen wie Monitoring im Kreißsaal 1 oder Quantified Self im Gesundheitswesen überhaupt noch geben? Ist es im Zuge des Optimierungswahns heutzutage noch von Bedeutung so etwas wie Unerwartetes im professionel1
Siehe http://www3.gehealthcare.de/de-de/produkte/kategorien/perinatale_ver sorgung/kreissaal (Stand: 20. 08. 2017).
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len Umgang in den Blick zu nehmen? Ist nicht gerade das Unerwartete ein Phänomen, das sich als etwas Unzeitgemäßes stellt? Unzeitgemäß, weil das Tagungsthema 2 sich mit den drei bösen Us beschäftigt: mit dem Unbestimmten, Ungewissen, Unsicheren. Beschwört die Auseinandersetzung mit den drei Us nicht zugleich hinter Rationalitätsstandards zurückzufallen? Gerade weil die Rationalität an das Mündigkeitspostulat geknüpft ist und Freiheit ermöglicht, will der Mensch sie nicht missen. Schlägt man die Begriffe in beruflicher Fachliteratur nach, wird man schnell feststellen, dass sich keiner dieser Begriffe dort findet. Wagt man einen Blick über Disziplingrenzen hinaus, wird die benannte Trias aus Widersprüchlichem, Nichteindeutigem und Paradoxalem bereits lange in den Blick genommen: beispielsweise mit Ulrich Oevermann strukturtheoretisch, Rudolf Stichweh systemtheoretisch, Fritz Schütze interaktionistisch und Ursula Rabe-Kleberg machttheoretisch. 3 Im Gesundheitswesen wird demgegenüber in Anlehnung an den kritischen Rationalismus mit einer Kultur des Zweifelns versucht über jeden vernünftigen Zweifel erhaben zu sein. In der Geburtsmedizin wird der weibliche Körper vor dem Hintergrund des medizinischen Risikokonzeptes oft biologistisch verhandelt – die lebensweltliche Situation jedoch negiert. Im Zentrum einer geburtshilflichen Versorgungsforschung steht heute ein gutes mütterliches und kindliches Outcome. 4 Als häufigste Outcomes lassen sich der Geburtsmodus sowie weitere mütterliche und kindliche Gesundheitsparameter identifizieren. 5 Seit vielen Jahren bieten Cochrane Reviews einen guten Über2
Der Beitrag wurde in geänderter Form im Rahmen der Tagung »Irritation und Improvisation – zum professionellen Umgang mit Unerwartetem am 14. 10. 2016 vorgetragen. 3 Vgl. Susanna Matt-Windel: Ungewisses, Unsicheres und Unbestimmtes (Ungewisses). Stuttgart 2014, Kapitel 4.1. 4 Mechthild Groß: Gebären als Prozess. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2001; Iain Chalmers et al.: A guide to effective care in pregnancy and childbirth. Oxford 1989. 5 Declan Devane et al.: Evaluating Maternity Care, in: Birth, 34(2), 2007, S. 164–172.
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blick über die Effektivität von Interventionen. Unbenommen davon weist die geburtshilfliche Praxis steigende Zahlen von Interventionen und operativen Geburten auf, allerdings ohne eine erkennbare Verbesserung des kindlichen Outcome. 6 Da Betreuung und Begleitung während des Gebärens 7 jedoch mehr als ergebnisdominiertes Handeln ist, gibt es bezugnehmend seit vielen Jahren auch Arbeiten, die den Prozess des Gebärens und die Entscheidungsfindung 8 sowie die Dynamik des Geburtsprozesses 9 beleuchten. Longitudinale Beobachtungsstudien zielen darauf ab, Entscheidungsprozesse während des Gebärens abzubilden sowie Prädikatoren für Handlungspfade zu finden. 10 Effektive Betreuung wird hier sowohl prozess- als auch ergebnisorientiert gedacht. Losgelöst von einer Interventionsdiskussion – und auch, wenn geschichtlich betrachtet Geburt sicherlich als im Wandel befindlich und die leibkörperliche Wahrnehmung nicht als gleichbleibend angesehen werden darf, 11 – stellt die Geburt in der 6
Petra Kolip/Urike Lutz: Die GEK-Kaiserschnittstudie (Kaiserschnitt). Bremen/ Schwäbisch Gmünd 2006, S. 20 f.; Christiaens, Wendy et al.: Trends in the Medicalisation of Childbirth in Flanders and the Netherlands, in: Midwifery, 29(1), 2013, S. 1–8; Katherine S. Laughon et al.: Changes in labor patterns over 50 years (Changes), in: American Journal of Obstetrics and Gynecology, 206(5), 2012, S. 1–9. 7 Sabine Dörpinghaus: Dem Gespür auf der Spur (Gespür). Freiburg/München, S. 162–163. 8 Silja Samerksi: Die Entscheidungsfalle. Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt. Darmstadt 2010; Hans-Peter Blossfeld et al.: Techniques of Event History Modeling. Hillsdale 2002. 9 Jun Zhang et al.: The natural history of the normal first stage of labor, in: American Journal of Obstetrics and Gynecology, 116(3), 2010, S. 772–773; Jeremy L. Neal et al.: »Active labor« duration and dilation rates among low-risk, nulliparous women with spontaneous labor onset, in: Journal of Midwifery & Women’s Health, 55(4), 2010, S. 308–318; Laughon, Changes, 2012. 10 Antje Petersen et al.: The timing of interventions during labour, in: Midwifery, 27(6), 2011, S. 267–273; Antje Petersen et al.: Women’s perception of the onset of labour and epidural analgesia, in: Midwifery, 29(4), 2013a, S. 284–293; Antje Petersen: The sequence of intrapartum interventions, in: Archives of Gynecology and Obstetrics, 288(2), 2013b, S. 245–254. 11 Allerdings ist an dieser Stelle zu betonen, dass in der präsozialen Leiblichkeit mit den Antagonisten von Enge und Weite die soziale Kommunikation bereits angelegt ist und der Leib immer schon auf Sozialität hinweist (vgl. Michael Uza-
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Spannbreite weiblicher Leiberfahrung die extremste eigenleibliche Nötigung dar. 12 In diesem Zusammenhang scheitert für den Bereich der Geburtshilfe die in der Medizin sonst so favorisierte Doktrin des physikalischen Festkörpermodells. Diese Betrachtung der Gebärenden als »Ding unter Dingen« und der Sammlung aus einer Flut an Daten und Fakten kennt keine Schranken 13 und das Wesen der Geburt scheint in bloßer Objektivität aufzugehen. Damit wird das, was nicht in Zahlen aufgeht, in Richtung Unwissenschaftlichkeit verwiesen. Darüber hinaus wird das Erleben der Betroffenen liquidiert und geht in wesensfremder Konformität, Immanenz und der Negierung des Inkommensurablen verloren. Betrachtet man das Wesen der Geburt, sind Unbestimmtheiten immer implizit und eine komplexe Geburtssituation nicht über einzelne Sinneswahrnehmungen zu erfassen. Sowohl der Geburtsprozess (Geburtssituation und -atmosphäre) als auch die Situation der Gebärenden muss in ihrer Vielfalt und zugleich Einzigartigkeit erfasst werden. Ein wesentlicher Teil des Geburtsgeschehens wird missverstanden, wenn bloß die gewonnenen medizinischen Parameter gedeutet werden. 14 Für die Berufsangehörigen stellt sich die Herausforderung, dass die geburtshilflichen Situationen ihre Konturen im Diffusen haben und das Merkmal der Unfassbarkeit aufweisen. Darüber hinaus lassen sie sich nur partiell explizieren. 15 Das heißt, dass eine Hebammennovizin bei einer Dienstübergabe ihren im Kreißsaal erlebten Eindruck vergeblich anhand von Details versuchen wird darzustellen. Die erfahrene Hebamme hat demgegenüber berewicz: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft (Grenzen). Stuttgart 2011, S. 181). 12 Siehe zur eigenleiblichen Nötigung bei Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen. Freiburg/München 2006, S. 498. 13 Siehe hierzu beispielsweise die Geburt im MRT, unter: http://www.aerzte zeitung.de/panorama/article/632931/erstmals-geburt-mrt-aufgenommen.html (Stand: 10. 01. 2018). 14 Dörpinghaus, Gespür, S. 27, 178. 15 Siehe zu den Merkmalen bei Steffen Kluck: Der Zeitgeist als Situation. Rostocker Phänomenologische Manuskripte. Rostock 2008, S. 30.
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reits mehrfach erleben dürfen, dass die Zuschreibung von Wirklichkeit 16 nur im Erleben stattfindet. 17 Aus einer philosophischanthropologischen Perspektive betrachtet fasst sie im leiblichen Verstehen Ein- und Ausdruck sowie Symptom und Phänomen zu einer epistemischen Einheit zusammen. 18 Um mich dem Phänomen des Unbestimmten zu nähern, werde ich folgende Leitfragen neophänomenologisch diskutieren: Warum tun wir uns mit Unbestimmtheiten so schwer? Was sind Unbestimmtheiten und welche Praxisrelevanz hat die Thematik? 2.
Was sind Unbestimmtheiten und warum tun wir uns mit ihnen so schwer?
Um zu verstehen was Unbestimmtheiten sind, gilt es zuerst einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in einem Zeitalter leben, indem der Mensch mit Hilfe medizinischer Sensationen restlos durchleuchtet und modellierbar erscheint. 19 Vom Reproduktionsstandpunkt aus sind die Fortpflanzungsorgane bis hinein in die Chromosomen glasklar und das designte Kind lässt sich wunschgemäß verändern. 16
Wenn in dem vorliegenden Beitrag von Wirklichkeit die Rede ist, so wird der Begriff in scharfer Abgrenzung zum umgangssprachlich häufig gleichgesetzten Begriff der Realität gebraucht. Die Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit geht auf den Lebensphilosophen Ludwig Klages zurück (Michael Hauskeller: Die Aura des Kunstwerks, in: Anna Blume (Hrsg.): Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung. Freiburg/München 2005, S. 69; Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999, S. 355; Gernot Böhme: Aisthetik. München 2001, S. 177). 17 Zur Zuschreibung von Wirklichkeit siehe bei Steffen Kluck: Pathologien der Wirklichkeit (Pathologien). Freiburg/München 2014, S. 44. 18 Sabine Dörpinghaus: Ich spüre was, was du nicht hörst (Hören), in: Maio, Giovanni (Hrsg.): Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin. Freiburg 2017, S. 239–268. 19 Siehe hierzu exemplarisch das mexikanische Baby mit drei genetischen Eltern, unter: http://www.fertstert.org/article/S0015-0282(16)62670-5/abstract?cc=y (Stand: 02. 10. 2016); http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2016-09/dreieltern-baby-gentechnik-befruchtung-mexiko-geburt-dna (Stand: 04. 10. 2016).
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Mit dem Selbstvermessungswahn werden der mechanistische Zugriff und die Ausschaltung aller Unwägbarkeiten offensichtlich, wenn Self-Tracker unentwegt mit Hilfe von Armbändern und Smartphones ihre Schritte zählen, ihren Kalorienverbrauch berechnen oder ihren Schlaf tracken. Mit diesen Zahlen und Kurven beabsichtigen sie zu einem gesünderen Leben zu gelangen. Das offizielle Motto von Quantified Self lautet »Selbsterkennen durch Zahlen« (self knowledge through numbers) und bezugnehmend konstituiert sich das Ich in diesem Optimierungswahn mittlerweile aus Daten. 20 Wir befinden und agieren aber auch in der existentiell bedeutsamen Geburtssituation mittlerweile auf einer Plattform, in der das kybernetische Steuerungsmodell vorherrschend ist und unreflektiert auf den Menschen übertragen wird. Infolge scheint alles möglich, ergründlich und erklärbar. Wer sich diesem Dogma widersetzt gilt als antiquiert, fatalistisch und unprofessionell. In einer technisch-naturwissenschaftlichen Lebenswelt scheinen Irritationen und Unbestimmtheiten nicht mehr in Erscheinung zu treten. Aufgrund meiner Seminarerfahrungen mit vielen Hebammen und Pflegenden möchte ich behaupten, dass Berufserfahrene dieser Auffassung vehement widersprechen würden. Auch mich persönlich lehrte schon meine erste Gebärende mit einer lebensbedrohlichen Gerinnungsstörung (disseminierte intravasale Koagulopathie) nach der Geburt: »Das beeinflussen wir hier nicht mehr.« Nicht in einer fatalistischen Grundhaltung. Keineswegs. Weit gefehlt, dass mir der Verlauf oder die Personen egal gewesen wären. Es ging mir nicht darum, mich der unabänderlichen Macht des Schicksals zu ergeben, sondern der Verlauf lehrte mich vielmehr, dass das Steuerbare Grenzen aufweist. Mich bewegte damals die Frage: Sind wirklich alle Ereignisse rund um Pflege und Hebammenkunde steuerbar, so wie ich es in der Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme vermittelt bekommen und gelernt hatte, immer nach dem Schema: wenn … dann. 20
Alina Schadwinkel: Quantified Self. Die 10.000 Fragezeichen, in: Zeit online vom 20. 04. 2015, unter: http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-04/quanti fied-self-fitness-gesundheit-wissenschaft/komplettansicht (Stand: 23. 08. 2017).
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In berufspädagogischen, berufspolitischen oder professionstheoretischen Betrachtungen wird das Phänomen des Unbestimmbaren im Gesundheitswesen kategorisch ausgeblendet und seine Singularisierung erschwert die Auseinandersetzung mit der Herausforderung. Um zu verstehen, warum wir uns mit Unbestimmtheiten schwer tun, ist ein historischer Rückblick hilfreich. Waren die 1970er Jahre noch von Technik dominiert, änderte sich dies in den 1980 Jahren hin zu einer biomedizinkritischen frauenorientierten Zugangsweise, die dann in den 90er Jahren von einer eher formalisierten und standardisierten Medizin abgelöst wurde und sich heute in einer qualitätsorientierten, ökonomistischen Geburtsmedizin bewegt. 21 Mit medizintechnischen Methoden wurde eine neue Grundlage für geburtshilfliche Entscheidungen geschaffen, 22 und der stetig wachsende Begründungs- und Handlungsdruck ging in der Medizin mit einem Subjektverlust einher. 23 Infolge dieser Entwicklungen erlebe ich heute in meinem Berufsstand eine neue Kultur der Angst. Nicht zuletzt auch durch Fortbildungen befeuert, denn was dem Berufsstand mantramäßig gepredigt wird sind: Standardisierung, Formalisierung, Qualitätsmanagement, Evidenzbasierung, Kausalzusammenhänge, Dokumentation. Die fluide Wesenhaftigkeit einer Geburt, die Subjektgebundenheit, all dies wird außen vor gelassen, da es sich der bewährten Zugangsweise des starr Mess- und Fassbaren entzieht. Dabei klärt bereits die Nichtformalisierbarkeitshypothese von Neuweg den gravierenden Unterschied zwischen menschlicher und maschineller Informationsverarbeitung. Die These geht davon aus, dass die Flexibilität einer Expertise nicht angemessen in Regeln zu fassen ist und daher auch nicht vollständig expliziert werden kann. 24
21
Marion Schumann: Vom Dienst an Mutter und Kind zum Dienst nach Plan (Dienst). Göttingen 2009. Kolip/Lutz, Kaiserschnitt, S. 18–19. 22 Kolip/Lutz, Kaiserschnitt, S. 19. 23 Vgl. Dörpinghaus, Gespür, S. 74. 24 Dörpinghaus, Gespür, S. 150–151. Siehe in diesem Zusammenhang die Bedeutung des nichtpropositionalen Wissens bei Dörpinghaus, Hören 2017.
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Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob das Wesen einer Geburt so abgebildet werden kann beziehungsweise was das Wesen einer Geburt, aber auch Sterbebegleitung oder Weaning (Beatmungsentwöhnung) ausmacht. In all diesen Beispielen sind die Berufsgruppen in meinem Verständnis mit dem Lebendigen betraut. Die spezifischen Wesensmerkmale einer Geburt 25 würde ich in diesem Kontext wie folgt fassen: 1. Da ist zum einen das Erfordernis der leiblichen Seinsweise, da die Gebärende sich bei der Geburt ihres Kindes nicht vertreten lassen kann. 2. Zudem stellt sich vor dem Hintergrund einer ontologischen und anthropologischen Auseinandersetzung die Unmöglichkeit einer Standardisierung im Geburtsgeschehen. 3. Neben diese Herausforderung tritt noch das Phänomen von auftretenden Unbestimmtheiten. Auch wenn die Geburtsmedizin hier meist noch um plausible Erklärungen bemüht ist, zeigt die lebendige Praxis, dass Unbestimmtheiten spontan auftreten können, und die Hebamme, Pflegekraft oder Mediziner_in* ist weder durch routiniertes Handeln noch durch formalisierte Verfahren, Standards oder Fachwissen vor ihrem Auftreten gefeit. Zu ihrem Wesen zählt, dass sie spontan auftreten, nicht prognostisch vorhersehbar sind und für die klinische Praxis aus einer explosiven Mischung aus Unbegreiflichkeit und Unverfügbarkeit bestimmt sind. Klammert die geburtshilflich Tätige die Unbestimmtheiten aus, kann der Gegenstand für sie kein erfahrbarer mehr sein, da das Lebendige sich nicht vermessen, ergründen oder algorithmisieren lässt, sondern unbestimmt bleibt. Wenn ich beispielsweise unter der Geburt von dem Paar gefragt werde, wie lange dauert es noch, kann ich diese Frage nicht beantworten. Genauso wie wir bei extremen Frühgeborenen nicht wissen, auch bei Maximaltherapie, ob sie und vor allem wie sie überleben. Die Geburt eines Kindes
25
Siehe hierzu Sabine Dörpinghaus: Leibliche Resonanz im Geburtsgeschehen (Resonanz), in: Hilge Landweer/Isabella Marcinski (Hrsg.): Dem Erleben auf der Spur. Bielefeld 2016, S. 75 f.
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ist kein mechanistischer Vorgang, wie in der holz- und metallverarbeitenden Industrie. Bringt man die derzeitige Krise auf eine Formel, so würde ich aus einem philosophisch-anthropologischen Blickwinkel von der Krise des Verstehens sprechen. Der Positivismus ist zwar um Erklärungen bemüht, jedoch ermöglicht nur das Verstehen in der Situation die genaue Betrachtung des Menschen in seinem Menschsein und damit einen Bezug zum Unbegreiflichen und Unverfügbaren. Da diese Existenz (im Sinne von Sartre und in Abgrenzung zur Essenz 26) sich dem Positivismus entzieht, ist der vermessende Zugang als alleinige Zugangsweise unzureichend. Wenn nun das Wesenhafte einer Beziehung zwischen Hebamme und Gebärender aufscheinen können soll, so muss die Hebamme sich der Andersartig- und Einzigartigkeit von Person und Situation öffnen, die Aufmerksamkeit auf das Gewahrwerden richten. Ziel wäre, Resonanz erklingen zu lassen (leibliche Kommunikation) und das bedeutet für die Praxis: Ein Gespräch zu führen unterscheidet sich deutlich davon, eine erklärbare Kommunikationstechnik anzuwenden. Das Verstehen (genaugenommen das leibliche Verstehen) ist ein konstitutives Element im Zusammenhang mit Unbestimmtheiten. Dies liegt darin begründet, dass die wichtigsten Dinge in der Beziehungsarbeit eben nicht die Dinge (Konstellationen) sind. Allerdings soll in einem naturwissenschaftlich-technischen Denkkonstrukt und damit einem positivistischen Wissenschaftsverständnis die menschliche Lebenswelt der idealen Welt untergeordnet und letztlich an ihr gemessen werden. Rationalität und Leiblichkeit werden hierbei für unvereinbar erklärt. Selbst bei einer Geburt rechnen wir stets mit einem endgültigen, für immer und ewig gesicherten Ergebnis (Apgar-und pH-Wert). Dabei findet das menschliche Leben selten unter Laborbedingungen statt. Vielmehr heißt zu leben, sich auf diese Welt einzulassen – mit Geheimnissen, Risiken und Chancen. Gerade geburtshilfliche Situationen enthalten ontologisch betrachtet das Bedeutungsvolle ebenso wie das Unerschöpfliche, Diffuse und 26
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übersetzt von Justus Strelle. Hamburg 1966.
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Unergründliche. Diesen Zustand gilt es für den Berufsstand auszuhalten. Mit der Leibtheorie gibt es einen Zugang zum Unbegreiflichen, dem Nicht-Abbildbaren, der Ambivalenz, Inkonsistenz, dem Widersprüchlichen, der für die Praxis von Gesundheitsfachberufen so dringend erforderlich ist. Auch wenn gesellschaftlich betrachtet das objektive Datenmaterial der bevorzugte Steuerungszugang ist, lässt sich eine Geburt nicht über »objektive Zahlenwerte und Zeitabläufe« definieren. Obwohl sich diese Aussage wissenschaftlich belegen lässt, findet sie sich als Anprangerung für eine verwerfliche Haltung in einer 436 Seiten starken Anklageschrift. 27 Bezugnehmend wird auch aus einem juristischen Blickwinkel von einer Eindeutigkeit ausgegangen, die sich in der geburtshilflichen Praxis so nicht finden lässt. Wir bewegen uns somit mit unseren Überlegungen in einem Fahrwasser, welches scheinbar Denkverbote auferlegt und in der die Jurisprudenz klare Wahrheitsvorstellungen vermittelt. Für den Auseinandersetzungsprozess kommt noch erschwerend hinzu, dass Widersprüchliches, Paradoxales in Pflege und Hebammenkunde gefürchtete Tabuthemen sind. Dabei zeigt doch gerade die berufliche Praxis, dass Kinder mit einer unerklärlichen Sauerstoffunterversorgung zur Welt kommen können – ohne dass sich dies in den erhobenen Parametern vorher abgezeichnet hätte und eine Person Schuld daran trägt; ein Neugeborenes trauriger Weise nicht weiterleben können wird und allen nur noch ein begleiteter Abschied bleibt. Auch mit Denkverboten ist nicht ausgeschlossen: Das Lebendige kann auch mit dem Unerwünschten einhergehen. Für die Praxis darf konstatiert werden, dass jeder professionelle Blick an eine Theorie gebunden ist, welche die Grenzen des Denkens und Handelns bestimmen. Auch für unser Rechtssystem vollzieht sich Handeln in komplexen sozialen, wissenschaftlichen und technischen Systemen. Das Verhältnis Schaden und Schuld darf nie ohne Kontext betrachtet werden. Allerdings ist darüber hinaus kritisch zu hinterfragen, welches Wissenschaftsverständnis 27
Barbara Duden/Kirsten Vogeler: Das richtige Maß?, in: Deutsche Hebammenzeitschrift, 68(9), 2016, S. 76–80.
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zugrunde liegt. Die nachfolgenden zwei Fallbeispiele sollen verdeutlichen, dass ein blindlings pragmatisiertes Denken die Beziehung zur Wahrheit verliert beziehungsweise die derzeit vorherrschende konstellationistische Datenflut metaphysische Fragen liquidiert. 28 Dabei wird es einer humanen Geburtskultur schwer fallen, die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem auszublenden. 3.
Fallbeispiele
Fall I Familienhebamme Die Situation von Familienhebammen führt vor Augen, was in der Praxis und auch vor Gericht so gut wie nie thematisiert wird. Ihre Aufgabe ist es, schwangere Frauen, Mütter und ihre Kinder, die besonderen gesundheitlichen, medizinisch-sozialen und psychosozialen Risiken ausgesetzt sind, zu betreuen: beispielsweise bei überforderten Eltern, aufgrund psychischer Erkrankung eines Elternteils, bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. Letztens berichtete eine Familienhebamme im Seminar über ein berufliches Erlebnis: Der Jugendamtsleiter hatte ihr erklärt, dass sie von der Betreuung einer Familie abgezogen werden solle, da die Personalsituation eng wäre und er in einer anderen Familie einen höheren Bedarf sehen würde. Sie war in dieser Familie eingesetzt worden, nachdem sich der Kindsvater der Kindsmutter gegenüber aggressiv verhalten hatte und sie in der Schwangerschaft die Treppe herunter getreten und gewürgt hatte. Zudem wies das Kind zahlreiche Verletzungen von Misshandlungen auf. Die Familienhebamme gab ihrem Vorgesetzten gegenüber zu verstehen, dass sie diese Entscheidung für falsch halte. Zwar gäbe es bisher während ihrer Betreuung keine Vorkommnisse und sie könne es auch nicht objektiv begründen, aber sie habe das dringende Bedürfnis weiter in diese Familie zu gehen, da sie ein 28
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1988, S. 3, 5.
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schlechtes Gefühl habe. Der Entscheid stand aufgrund eines engen Personalschlüssels nicht zur Diskussion und die Familienhebamme wurde abgezogen. Im Seminar nun berichtete die Betroffene von ihren Schuldgefühlen, da das Kind vier Wochen später mit einem schweren Schädelhirntrauma aufgrund von Gewalteinwirkung durch den Kindsvater in die Kinderklinik eingeliefert wurde und kurze Zeit später verstarb. Auf der ontologischen Basis des Situationsverständnisses der Neophänomenologie sind die vielsagenden Eindrücke, die sie in der Betreuung erhält, nicht in den üblichen Konstellationen zu fassen. Begleitet die Familienhebamme beispielsweise Kindseltern, bei denen, wie im vorliegenden Fall, anhand von Hausbesuchen und anonymen Meldungen aggressive Übergriffe des Kindsvaters bekannt wurden, drängt sich die praxisrelevante Frage auf, wie sie zu einer adäquaten Einschätzung kommen soll. Woran soll sie festmachen, ob die Mutter beziehungsweise das Neugeborene gefährdet ist? Eine Hilfestellung bieten hierbei zum einen Assessmentverfahren. Zum anderen bietet die leibphänomenologische Perspektive die ontologische Basis des Leibes. Er gilt als Resonanzboden, wo jedes Betroffensein des Menschen seinen Sitz hat. Natürlich wird die Familienhebamme sich an ihren Sinnen orientieren, zugleich ist jedes Sinnesdatum aber grundsätzlich mit Eindrücken beladen und ihr spezifisches Kriterium ist, dass sie, wie in einer Gefahrensituation, mitsamt ihrer binnendiffusen Bedeutsamkeit in einem Augenblick schlagartig zum Vorschein kommen. Der Eindruck ist da, noch bevor hierfür Gründe angegeben werden können. Für das Praxisbeispiel bedeutet dies, dass losgelöst von jeglichen Einschätzungsverfahren dem leiblich Betreffenden Bedeutung zukommt. Eine besorgniserregende, beunruhigende, düstere, beklemmende, bedrohliche, angsteinflößende oder aggressive Atmosphäre kann als ergriffene Tatsächlichkeit erkannt werden. Auf dem Fundament einer philosophisch-anthropologischen Sichtweise kann es keine Beweise für die atmosphärische Beschreibung der Hebamme geben, da eine Darstellung ihrer subjektiven Tatsachen des affektiven Betroffenseins in Konstellationen nicht möglich ist – auf der anderen Seite sind sie für die Einschätzung in 202 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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der Situation von unschätzbarem Wert, da der Leib nicht trügt. 29 Die Familienhebamme berichtet im Seminar von unhintergehbaren, impressiven Situationen. Dieses Erleben in der Situation ist nicht in eine andere Person zu überführen, wird dadurch aber auch nicht weniger tatsächlich. Das Dilemma liegt vielmehr darin, dass sie sich vor beispielsweise dem Jugendamt legitimieren muss, und dies geschieht für gewöhnlich nicht anhand von Schilderungen über wahrgenommene Atmosphären, sondern an bereits existierenden und damit sichtbaren psychischen wie körperlichen Anzeichen. Auch wenn das Schwere oder Unergründliche einer solchen Familiensituation kaum in Sprache zu fassen ist, weil es sich selbst nicht sprachlich darstellt und zudem flüchtig ist, hat es den großen Vorteil, dass es sich dennoch stellt. Die leibliche Orientierungsinstanz lässt sich zudem mit Sinneseindrücken (wie der hasserfüllten Intonation der Stimme, dem verächtlichen Blick, einer heftigen Bewegungssuggestion) stützen. Fall II Gerichtsprozess Der zweite Fall verdeutlicht, dass es im professionellen Kontext nicht alleine um die leibliche und situative Kompetenz im Umgang mit unwillkürlichen Regungen gehen kann und darum situativ zu improvisieren. In Gesundheitsfachberufen stößt erkenntnistheoretisches Interesse immer auch auf normative Rahmenbedingungen, welche eine erhebliche Einflussgröße darstellen. So wurde im Sommer das Urteil gegen die Hebamme und Ärztin Anna R-L rechtskräftig. Sie war nach einem geburtshilflichen Einsatz, bei dem das Neugeborene unmittelbar nach der Geburt verstarb, wegen Totschlags zu sechs Jahren und neun Monaten Haft ohne Bewährung, 50.000 Euro Geldstrafe und lebenslangem Berufsverbot als Hebamme sowie Entzug der Approbation als Ärztin verurteilt worden. Die große Strafkammer hatte zu klären, ob ein möglicherweise schuldhaftes Handeln der Angeklagten oder auch ein unter Umständen schicksalhafter Verlauf 29
Dörpinghaus, Gespür, S. 85; Uzarewicz, Grenzen, S. 181.
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für den Tod verantwortlich ist, und ob dieser hätte verhindert werden können. 30 Die fünf Richter_innen* (drei Berufsrichterund zwei ehrenamtliche Laienrichter_innen*) kamen zu dem Urteil, dass die heute 63-jährige den Tod des Neugeborenen billigend in Kauf genommen hatte und ihre »ideologieverbrämte Auffassung zu natürlichen Geburten« die Einstufung der Tat als Totschlag rechtfertige. Im Urteil findet sich 34mal das Wort Ideologie und es wird festgehalten, dass ihre Ideologie unter anderem vom »Schicksalsgedanken« getragen sei. 31 Ihre Auffassung, dass »[…] ein […] natürlich grundsätzlich unerwünschter – Tod eines Kindes im Rahmen eines Geburtsvorgangs vor dem Hintergrund [der, S. D.] Einstellung, dass Tod und neues Leben zusammen gehören, und auch Geburt und Tod zusammen fallen können, als tragischer Ausgang im Einzelfall und als schicksalhaftes Geschehen im Rahmen eines natürlichen Vorgangs zu akzeptieren sei« 32, wird ihr vor dem Denkkonstrukt der Geburtsmedizin zum Vorwurf gemacht. In dem vorliegenden Rahmenkonstrukt wird deutlich: Einer Geburtskultur, die noch von anderen Säulen als der Medizin getragen sein könnte, kommt keine Bedeutung zu. Im Urteil wird festgehalten, »[…] dass sie den mit Idealismus begonnenen Weg zugunsten einer medizinische und geburtshilfliche Erkenntnisse bewusst negierenden ideologischen Sichtweise verlassen […]« 33 habe. Es fällt auf, dass sich in dem 241Seiten starken Papier eine starke technisch-naturwissenschaftliche Denkstilbindung findet, das Phänomenale findet keine Beachtung. Eine ausgewogene Haltung in den Bewertungsmaßstäben wurde somit nicht gewahrt. So vertritt die Oberstaatsanwältin Ruland im Prozess die Auffassung, dass jede Person, welche die Möglichkeit des Todes erkennt und sich mit dieser Möglichkeit abfindet, bedingt vorsätzlich han-
30
Katja Baumgarten: Des Totschlags schuldig?, in: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 65(4), 2013, S. 59. 31 Vgl. Landgericht Dortmund: Urteil vom 01. 10. 2014 – 37 Ks 3/11 (Urteil), unter: beck-online. BeckRS 2016, 08348, S. 5 (Stand: 21. 03. 2017). 32 Landgericht Dortmund, Urteil, S. 5. 33 Landgericht Dortmund, Urteil, S. 219.
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Leibliche Gewissheit
delt. 34 Diese Lebensanschauung in Form von Aktionismus, alla emergency-room scheint grundsätzlich gut, richtig und legitimiert zu sein, dass sie in einer unbestimmten Praxis scheitern muss, weiß jede praktisch Tätige und muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Nimmt man darüber hinaus einen Perspektivwechsel vor und versteht Schicksal im Sinne von Maio 35 als das, was nicht sein dürfte aber ist, kommt man zu der Erkenntnis, dass die im Prozessverlauf entwertete Auffassung der Hebamme und Ärztin auch als sehr reflektiert betrachtet werden könnte. Die medizinische Disziplin betrachtet hingegen Schicksal leider oft verkürzt und aufgrund des exzessiven Machbarkeitsdenken als das, was nicht sein darf. 36 So werden auch Schmerzen, Sterben oder Siechtum, vormals Herausforderung für die einzelne Person, mit dem technisch-naturwissenschaftlichen Denkstil in ein technisches Problem umgewandelt. 37 In einer existentiellen Begegnung hat die Anerkennung des Phänomenalen jedoch nichts mit Vorsatz zu tun, sondern mit lebendiger Vernünftigkeit. 38 Die Jurisprudenz lehnt sich demgegenüber an den objektivistischen Wissenschaftsbegriff an, der ein logisches, rationales und widerspruchsfreies Vorgehen fordert und die Realität transzendent, objektiv und subjektunabhängig sieht. Dieses Verständnis ist aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive als einseitig zu bewerten und kritisch zu betrachten. 39 Vielmehr ist die Wirklichkeit, also das Erfahren eines konkreten Erlebens im Kreißsaal durch phänomenale Vielfalt gekennzeichnet. 40 In diesem Zusammenhang führen denkstilbehaftete Kategorienfehler, fehlende 34
Katja Baumgarten: Gerichtsreportage Teil 14: Mit bedingtem Vorsatz? In: Deutsche Hebammen Zeitschrift. 66(10), 2014, S. 84. 35 Giovanni Maio: Medizin in einer Gesellschaft, die kein Schicksal duldet« (Medizin), in: Zeitschrift für medizinische Ethik 57, 2011, S. 79–87. 36 Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin (Nemesis). München 1995; Maio, Medizin, S. 79–87. 37 Illich, Nemesis, S. 12 ff. 38 Ulrich Pothast: Lebendige Vernünftigkeit, Frankfurt a. M. 1998. 39 Kluck, Pathologien, S. 103. 40 Kluck, Pathologien, S. 103; ferner bei Dörpinghaus, Gespür, S. 34, 37 f., 41, 76.
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Dekonstruktionen und das sprachliche Unvermögen für das Hebammenwesen zu praxisrelevanten aber auch gerichtsmedizinischen Problemen. Das leibliche und damit vor-rationale Erleben der Hebamme wird hier allzu oft mit dem Ir-rationalen gleichgesetzt. Der erhobene Vorwurf des Irrationalen kann angesichts der Thematisierung des Nicht-Rationalen als alter Streit bestimmt werden. 41 Die Differenz zwischen den subjektiven und objektiven Tatsachen kann lebensweltlich nicht aufgehoben werden. 42 »Sie [die Differenz, S. D.] deutet auf einen Bruch hin, der eine Grenze der Zumutbarkeit markiert, an der das menschliche Erleben eine alle Dimensionen des eigenen Daseins durchdringende Aufklärung intuitiv verweigert.« 43 Eine Grundsatzfrage, die in der Praxis meiner Einschätzung nach dringend zu klären wäre lautet: Was gilt als letzte Quelle der Evidenz, das Vermessene oder die Lebenswelt in der Situation von Gebärender und geburtshilflich Tätigen? Losgelöst davon ist entscheidend, dass das Phänomenale nicht ohne den Einfluss von Rahmenbedingungen, wie dem Rechtssystem gedacht werden kann und es ist zu beklagen, dass für den geburtshilflichen Bereich derzeit eine Art Rechtspositivismus gelebt wird. Folgt man den Ausführungen von Hermann Schmitz zur Rechtsentstehung, bildet sich ein gemeinsames Recht in gemeinsamen (zuständlichen) Situationen aus, die ihre Wurzeln im Betroffensein von beispielsweise Zorn haben. 44 Dabei handelt es sich nicht um individuelle Gefühle, sondern um solche, wie sie in der Gemeinschaft geteilt werden. 45 Für die Entstehung von Recht und Unrecht reicht es nicht aus, dass jemand zürnt, vielmehr
41
Alexandra Manzei: Hirntod, Herztod, ganz tot? Frankfurt a. M. 1997, S. 36; Jürgen Hasse: Fundsachen der Sinne (Fundsachen). Freiburg/München 2005, S. 21. 42 Hasse, Fundsachen, S. 22. 43 Hasse, Fundsachen, S. 22 44 Hilge Landweer/Dirk Koppelberg: Recht und Emotion I (Recht). Freiburg/ München 2016, S. 19. 45 Landweer/Koppelberg, Recht, S. 19–20.
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muss in einer Population ein Maß des unerträglich Empörenden vorherrschen, so Schmitz. 46 Im rechtspositivistischen Standpunkt ist Recht deshalb in Geltung, weil es gesetzt ist und aus diesem Gesetztsein seine Autorität bezieht. 47 Wer einem Kind Schaden zufügt, hat mit Konsequenzen zu rechnen. Allerdings ist der Sachverhalt viel komplizierter als auf den ersten Blick angenommen. Was ist, wenn innerhalb meines Tätigwerdens es zu einem Schaden kommt, dem ich zwar aufgrund meines Tätigwerdens beigewohnt, diesen aber nicht verschuldet habe? Was ist, wenn jetzt medizintechnische Parameter mit einer geringen Spezifität und Sensitivität und das kollektive Selbstverständnis der Laien diesen Sachverhalt vermeintlich stützen, zumal die Spannbreite der unterschiedlichen Interpretationsleistungen dies zulassen würde? Neben einer rechtlichen und geburtshilflich praktischen Sachlage ist eine professionstheoretische Auseinandersetzung unabdingbar, um der komplexen Sachlage Rechnung zu tragen. Denn entscheidend ist, dass für die Praxis das Paradoxieproblem bleibt. Die lebendige Praxis fordert Hebammen und Pflegende zum paradoxalen Denken heraus und darum, das Widersprüchliche, Unbegreifliche, unlogisch Erscheinende in den Blick zu nehmen. Das Unmögliche als eine andere Möglichkeit des Möglichen. 48 4.
Paradoxieproblem
Für Hebammen stellt der Herztonwehenschreiber (Cardio-TokoGraphie; CTG) als Paradoxieproblem ein eindrucksvolles Beispiel dar: Dieses Gerät wird seit 1968 eingesetzt, um die Regelwidrigkeit der fetalen Herztöne aufzudecken und damit auf eine eventuelle fetale Unterversorgung aufmerksam zu machen. Diese technische Überwachungsform bietet zwar die Möglichkeit, regelwidrige Entwicklungen frühzeitig zu erkennen, sie birgt aber auch 46 47 48
Landweer/Koppelberg, Recht, S. 19–20. Landweer/Koppelberg, Recht, S. 17. Matt-Windel, Ungewisses, S. 105.
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die Gefahr, dass bereits geringe Normabweichungen der erhobenen Parameter pathologisiert werden und die Schwelle für Interventionen sinkt. 49 Das CTG hat eine hohe Sensitivität, das heißt, es ist sehr gut in der Lage eine fetale Zustandsverschlechterung anzuzeigen, gleichzeitig hat es aber eine geringe Spezifität (hohe Anzahl falsch positiver Befunde), und so gehen nur 15–20 % der als pathologisch gewerteten CTG-Befunde tatsächlich mit einer fetalen Geburtsazidose einher. Dieser Sachverhalt führt zu inflationär eingesetzten medizintechnischen Methoden, wie dem Kaiserschnitt (2015 lag die Quote bei über 31 %). Aber auch die Gewichtsschätzung des Ungeborenen per Ultraschall (US) am Geburtstermin führt nicht zu dem gewünschten Ergebnis, sondern produziert falsch-positive Ultraschalldiagnosen (unterstellte Makrosomie) und damit in Folge zu schwellenlosen und überflüssigen Kaiserschnitteingriffen aus Sicherheitsgründen. 50 Die geburtshilfliche Situation ist grundsätzlich durch einen hohen Grad an Nicht-Standardisierbarkeit und einer letztlich irreduziblen Unsicherheit gekennzeichnet. 51 CTG und US werden jedoch weiterhin unhinterfragt eingesetzt; betrachtet man die Diskussion zur Spezifität und Sensitivität gilt festzuhalten, dass ein unnötig durchgeführter Kaiserschnitt vor dem Schutzschild des Sicherheitspostulates nicht als Körperverletzung belangt wird! Trotz ihres Einsatzes ließen sich weder die geburtshilflichen Unbestimmtheiten beseitigen, noch konnte durch den Einsatz des Begreifbaren, wie Sauerstoffsonde, Herz-Ton-Wehenschreiber oder Mikroblutuntersuchung 52 das Unbegreifliche ausgemerzt werden. Hier wird in meiner Auffassung die Angst vor dem 49
Petra Kolip/Ulrike Lutz, Kaiserschnitt, S. 20–21; Enkin, Murray et al.: Effektive Betreuung während Schwangerschaft und Geburt. Ein evidenzbasiertes Handbuch für Hebammen und Geburtshelferinnen. 2. vollständig überarbeitete Auflage. Bern 2000, S. 244. 50 Kolip/Lutz, Kaiserschnitt, S. 20–21. 51 Hartmut Remmers: Pflegerisches Handeln. Wissenschafts- und Ethikdiskurse zur Konturierung der Pflegewissenschaft. Bern/Göttingen/Toronto/Seattle 2000, S. 12. 52 Siehe zur Entwicklung des medizin-technischen Einsatzes unter der Geburt bei Marion Schumann, Dienst, S. 170–174, 177.
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Nichtfassbaren offenkundig. Und wieder einmal wird auch in Wissenschaftskreisen erkennbar, dass Angst doch immer noch ein verlässlicher Indikator für das ist, was unser Vernunft- und Verstandesvermögen übersteigt. Die Versuchung ist groß, sich weiter an dem Abbildbaren festzuhalten und die innere Entzweiung sowie mangelnde Verlässlichkeit zu negieren. Mit einem medizinischen Denkstil werden diese Paradoxien als Scheinprobleme entproblematisiert, tabuisiert oder als falsches Denken deklariert. Das Negieren der Paradoxien bei gleichzeitiger Glorifizierung des Rationalistischen können als zentrale Grundzüge der westlichen Kultur identifiziert werden und die fehlenden wissenschaftlichen Evidenzen kommen selbst bei Gerichtsverhandlungen nicht zur Sprache. Losgelöst vom Paradoxieproblem wird hier die Frage aufgeworfen: Fasst der Schuldbegriff, wenn im Kontext von Unbestimmtheiten Menschen etwas zustößt? Gibt es Schuld ohne Vorwerfbarkeit? 53 Losgelöst von einem Rechtspositivismus lässt sich das Schuldphänomen in der Geburtsarbeit mit Unbestimmtheiten nicht einfach auf Vorwerfbarkeit reduzieren, auch wenn ein Nachjustieren eine vermeintliche Schuld anhand von objektiven Parametern schnell zu belegen scheint. So hat die Familienhebamme beispielsweise bemerkt, dass im häuslichen Umfeld weiterhin eine aggressive Atmosphäre vorherrschend war, Verletzungsmarken jedoch nicht gegeben waren. In diesen und ähnlichen Situationen kann ihr, insbesondere nach Sichtung und Neuinterpretation der bisherigen Aufzeichnungen, immer leicht der Vorwurf einer Fehleinschätzung gemacht werden. Noch dramatischer stellt sich die Situation, wenn das CTG eigentlich »Lappalien« aufzeichnet, die in keiner Geburtssituation ernsthafte Konsequenzen gehabt hätten, jedoch im Nachhinein eine vermeintliche Schuld bequem positivistisch untermauert. Ich möchte hier nicht die widersinnige These vertreten, es könne sinnvoll und berechtigt sein, Hebammen nicht die Verantwortung für ihr Handeln zu übertragen, doch scheint mir, dass die rechtssprechende Logik einer Reduktion entspringt und von 53
Landweer/Koppelberg, Recht, S. 23.
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einer grundsätzlichen Regelgeleitetheit ausgeht, die es in der geburtshilflichen Praxis so nicht gibt. Erst aus einer phänomenologischen Betrachtung werden die Schwierigkeiten und Inkohärenzen deutlich. Stirbt ein Kind bei der Geburt wird mit der Verurteilung dem Bedürfnis nach vielleicht Rache der Eltern Genüge getan, und ein vermeintliches Verbrechen erfährt durch ein Gerichtsurteil Sühne, vielleicht Reinigung und Heilung. Die Eltern erleben neben der Trauer um ihr Kind ein Ohnmachtsgefühl – leibphänomenologisch von Landweer beschrieben: ein Changieren zwischen massiver Engung (durch den Verlust des Kindes) und vergeblichem Weitungsversuch (die sich gegen das erlebte Unrecht richtet), wodurch die Enge noch verstärkt wird. 54 Kommt es zu einem nicht absehbaren Ereignis unter der Geburt, steht immer unweigerlich ein vermeintliches Fehlverhalten im Raum. Diese Betrachtung ist jedoch verkürzt, denn die geburtshilflich Tätigen sind in solchen Fällen nicht grundsätzlich Täter_innen*, sondern ihr Ohnmachtsgefühl ist dem der Mutter ähnlich. Beruflich handeln sie aufgrund ihrer Einschätzung und der Instrumente, die ihnen zur Verfügung stehen. Sie wissen um die Unbestimmtheit des geburtshilflichen Verlaufs – was sie (heutzutage durch die Angst vor hitzigen Wertungen) Enge erleben lässt und noch bitterer, ein Ohnmachtsgefühl, die geburtshilfliche Situation mit ihren vielsagenden Eindrücken nicht in Konstellationen fassen zu können: Denn tatsächlich kann von der (impressiven) Situation nur die Person berichten, wie sie sich ihr unhintergehbar gestellt hat. In meiner Dissertation 55 aus dem Jahr 2012 konnte belegt werden, dass Hebammen, die sich leiblich Einlassen, im und für 54
Landweer/Koppelberg, Recht, S. 108–109. Im Zuge einer phänomenologischen Revision des beruflichen Erlebens ging meine empirische Forschungsarbeit der Frage nach, welchen Beitrag eine Reflexion von leiblichen Eindrücken für eine erweiterte Hebammenkunde zu leisten vermag. In diesem Kontext wurden in einem Zeitraum von Januar bis Juli 2010 zwanzig leibphänomenologische Interviews durchgeführt. 20 Hebammen im Alter zwischen 27 und 57 Jahre wurden befragt; die Hebammen verfügten über Berufserfahrung zwischen zwei und 32 Jahren, sowohl im klinischen als auch im außerklinischen Setting. Vor dem Hintergrund, dass in einem neophänomenolo-
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den Geburtsverlauf einen epistemischen Akt in Form von unmittelbarer und höchster Gewissheit erleben. Es handelt sich um eine (bisher vernachlässigte) privilegierte epistemische Stellung, die in der semantischen Dimension erst expliziert werden muss. 56 Die leibliche Seinsweise der Hebamme ist in der Begleitung äußerst produktiv und hilfreich, ohne jedoch vor der Schablone eines naturwissenschaftlich-technischen Denkstils erfolgreich Kapital aus der erkenntnistheoretischen Sonderstellung ziehen zu können. Der Nachteil des epistemischen Aktes ist, sie entwickeln nicht selten Schuldgefühle. 57 Sie fragen sich im Nachklang der Situation (auch wenn sie von aller Schuld im interdisziplinären Team bis vor Gericht frei gesprochen wurden), ob sie neben bestimmten Maßnahmen nicht auch noch mit ihrem leiblichen Erleben hätten anders um- beziehungsweise nachgehen müssen. Trotz zahlreicher Bekundungen, dass sie für das Erlebte keine Schuld tragen, leiden die Betroffenen unter einem quälenden Gefühl der Verstörung und Schuld, was sich unter anderem in heftigsten Schlafstörungen zeigt. 58 Der erlebte leibliche Eindruck gepaart mit der leiblichen Gewissheit lässt nach dem Verlauf die Schuldfrage immer wieder neu aufleben. Zahlreiche Hebammen hadern genau damit, dass, auch wenn sich ihr Eindruck nirgendwo abzeichnete, sie es dennoch gespürt und damit gewusst haben – aber nichts gemacht haben.
gischen Verständnis eine Hebamme selbst Teil des Prozesses ist, untersuchte ich das Phänomen ihres Unruheerlebens im Geburtsgeschehen. Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung war das Schlüsselphänomen, dass leiblich gespürte Unruhe von den Hebammen selbst als verstörend erlebt wurde, weil die medizinischen Gerätschaften keinen Anlass dafür lieferten. Am Phänomen der Unruhe wird deutlich, wie unzureichend die Erklärungsmodelle und methodischen Ansätze des Positivismus sind und welchen Dilemmata sich der Stand der Hebammen hierdurch ausgesetzt sieht. Im Rahmen der Untersuchung wurde diese verdeckte Wirklichkeit erstmals leibphänomenologisch eingeholt und empirisch ausgewertet. Zur differenzierten Betrachtung des Forschungsvorgehens, einschließlich Analyseinstrument siehe Dörpinghaus, Gespür, S. 200 ff. 56 Dörpinghaus, Gespür, S. 124–125. 57 Dörpinghaus, Gespür, S. 20, 87, 209, 284, 351. 58 Vgl. Dörpinghaus, Gespür, S. 341–343.
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Sie erleben, dass sie von diesem zermürbenden Vorwurf keiner frei sprechen kann. Vor dem Hintergrund, dass das Erleben des leibhaftigen Ichs grundsätzlich in der Einzahl steht, wird deutlich, dass die Hebammen an diesem leiblichen Nachklang und dem Zustand des bloßen »Für-sich-seins« schwer tragen. Eine Interviewpartnerin äußerst sich dazu wie folgt: »Man kommt sich doof vor – es gibt an einem bestimmten Punkt keine Worte mehr und das ist schade, denn mit diesem Gefühl bleib ich zurück.« 59 Gerade die tiefe Gewissheit führt zu einem Schulderleben, dass sie das unbestimmte Ereignis nicht abwenden konnten. Für die Klärung der leiblich erlebten Irritation existiert weder ein interdisziplinärer Austausch, Supervision noch kollegiale Fallbesprechungen, und der Sachverhalt wird von den Betroffenen als dauerhaft pathisches Moment erlebt. 60 Hingegen stellt sich im Umfeld zumeist fast reflexartig Empörung, Wut und Trauer aufgrund des konkreten sichtbaren Ereignisses (beispielsweise Tod des Kindes) ein, und die geburtshilflich Tätige ist mit ihrer erlebenden Schuld meist alleine. Es gibt somit für den vorliegenden Praxiskontext ein Schulderleben, losgelöst von einer moralischen und rechtlichen Vorwerfbarkeit und auch losgelöst von einem reflexiven Tun und Lassen. Zudem haben wir es mit dem Sachverhalt zu tun, dass ein Schulderleben im beruflichen Kontext auftritt, welches nicht verursacht, sondern der bloßen Anwesenheit in der beruflichen Situation geschuldet ist und hier nicht an das Bewusstsein der Person sondern an den Leib gebunden ist. Dieses Phänomen ist nicht mit Selbstvorwürfen, bloßer Traurigkeit oder Entsetzen über den Vorfall zu verwechseln. Die geburtshilflich Tätige befindet sich in einer Berufsrolle, aus der es keine Flucht gibt und in der sie den Unbestimmtheiten ausgesetzt ist. Sie fühlt sich schuldig, obgleich kein Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorliegt.
59 60
Dörpinghaus, Gespür, S. 343. Vgl. Dörpinghaus, Gespür, S. 345.
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5.
Umgang mit Differenzerleben
Da die Geburtsmedizin im Rahmen von modellhaften Konstruktionen symptomorientiert operiert und sich so letztlich an der Realität orientiert, wird die leibliche Phänomenalität unterbelichtet. Wendet man sich jedoch von einer materiellen Sichtweise ab und dem Primat des Phänomenalen zu, erhalten die Schilderungen von Betroffenen über ihr Erleben in der Situation eine Aufwertung. Gerade dieser Zugang ermöglicht ein Differenzerleben 61 von beispielsweise Stimmungen im Kreißsaal. Für die Hebamme ist es gerade in verschiedensten geburtshilflichen Situationen das Differenzerleben, welches ihre Selbstsicherheit im positivistischen Zugang der Geburtsmedizin erschüttert. Indem sie die Grenzen der Gültigkeit der medizintechnischen Zugangsweise erlebt, gibt das Differenzerleben in der Praxis zugleich den Anstoß sich an dem leiblichen Erkenntnispotential zu orientieren. 62 Da die geburtsmedizinischen Erkenntnisse sich hingegen immer am Primat des Symptoms orientieren, wird bisher dieser Wissensfundus des leiblichen Erkenntnispotentials nicht nur vernachlässigt, sondern zudem mit Wahrheits- beziehungsweise Evidenzzweifeln sowie fehlender Begründetheit belegt. Interessanterweise wird hier u. a. von der Geburtsmedizin übersehen, dass das Evidenzpostulat auch Schwächen aufweist, da zwar ein Sachverhalt klar auf der Hand liegen kann, das Evidenzwissen aber immer nur eingeschränkt gegeben ist. 63 Losgelöst davon ist in der geburtsmedizinischen Praxis der mit Abstand sicherlich größere blinde Fleck die Unbestimmtheiten. Sie sind es, die einen Abgrund öffnen, der die professionell Handelnden auf die Begrenztheit des nicht Planund Steuerbaren in diesem Geschehen stößt. Eine bedeutsame praktische Komponente von geburtshilflichen Unbestimmtheiten und Leiblichkeit kommt da ins Spiel, 61
Zum Verständnis von Differenzerleben siehe die Ausführungen von Kluck, Pathologien, Kapitel 1.3 Wegweiser. 62 Zur Verwertung des leiblichen Erkenntnispotentials in der Geburtshilfe siehe bei Dörpinghaus, Gespür, S. 306 f. und Dörpinghaus, Resonanz, S. 84, 86. 63 Dörpinghaus, Gespür, S. 181–182.
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wo eine Hebamme eine Gebärende unter der Geburt begleitet, das leibliche Gespür der Hebamme in Kontrast zu den messbaren Parametern steht und ihr Probleme bereitet. Beispielsweise: Das CTG ist einwandfrei, die Hebamme ist jedoch bezogen auf den Geburtsverlauf unruhig und gibt im interdisziplinären Team zu bedenken: Hier stimmt etwas nicht. Nimmt man die praktischen Erlebnisphänomene ernst, gilt es zu erkennen, dass das Handeln in geburtshilflichen Situationen nicht alleine vom Logos geleitet wird, sondern auch dem phänomenal Betreffenden. Eine Frau zu betreuen bedeutet immer auch Einlassung auf den Gebärendenleib, die Situation mit ihren vielsagenden Eindrücken und die atmosphärischen Gegebenheiten. Nur so ist eine Hebamme in der Lage Nuancen, Befindlichkeiten und andere qualitative Aspekte zu registrieren, die nicht gegenständlich sind und sich einer Fixierung und vollständigen Explikation entziehen. Um medizinische Debatten in ihrer Tiefenstruktur zu begreifen, bedarf es einer philosophisch-anthropologischen Reflexion, die über das Pragmatische hinaus Grundfragen des Menschseins in den Fokus nimmt. 64 Ich lehne mich hier an den philosophischen Diskurs zur Dominanz des Rationalen und insbesondere der Kritik der abendländischen Metaphysik bei Heidegger an. Ich sehe aber auch, dass es problematisch ist, wenn die Rationalitätskritik in sich verhaftet bleibt, ohne zu einem anderen, einem Jenseits der Rationalität zu gelangen. 65 Mit dem neophänomenologischen Fundament nach Hermann Schmitz werden die unwillkürlichen Lebenserfahrungen ins Zentrum gerückt und affektives Betroffensein empirisch und begrifflich gefasst. Gerade für einen diskursfördernden Austausch aller interdisziplinär Beteiligten wäre es wünschenswert, wenn das Phänomen der Unbestimmtheiten in den Blick genommen werden dürfte und es aufgrund der unterschiedlichen und sicherlich auch manchmal konträren Zugangsweisen zu fruchtbaren Irritationen im Kontext von Geburtsbesprechungen kommen könnte. Um es auf den Punkt zu 64
Maio, Medizin, S. 79–87. Ingeborg Breuer et al.: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1996, S. 195.
65
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bringen: Es geht hier nicht um die Festigung einer bestimmten Perspektive auf Geburtshilfe, sondern vielmehr darum den epistemischen Gehalt verschiedener Herangehensweisen zu bergen, sodass wesentliche Aspekte der menschlichen Lebenswirklichkeit, die zu Unrecht übersehen werden, zu Tage treten dürfen. Mit einer neophänomenologischen Perspektive kann die irritierende Eigentümlichkeit bestimmter Geburtsverläufe Beachtung finden, bei der neben dem Seienden auch das Sein zur Sprache kommt. Durch das Situations- und Phänomenverständnis wird die Erlebenswelt ontologisch begründbar und im besten Falle wird die Reduktion dessen, was in einer Ontologie überhaupt vorhanden sein kann, vielversprechend aufgebrochen. 6.
Sind wir nun Unbestimmtheiten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert?
Nein, denn mit dem Gütekriterium dieses Zugangs kann es in leiblicher Kommunikation zu einem leiblichen Registrieren der Unbestimmtheiten kommen. Hierzu zwei Beispiele aus meiner Dissertation. Im ersten Interviewbeispiel geht es um eine erfahrene Hebamme, die Heiligabend vor der Assistenzärztin darauf besteht weit vor der Geburt einer Zweitgebärenden, den Oberarzt hinzu zu rufen – ohne erkennbaren Grund – nur aufgrund von leiblicher Unruhe und dem diffusen Empfinden von »hier stimmt etwas nicht«. Unter der Geburt entwickelt sich eine schwere Schulterdystokie, das heißt, nach der Geburt des Kindsköpfchens verkeilt sich die Schulter des Kindes im mütterlichen Becken und Oberarzt sowie Hebamme bemühen sich gemeinsam das Kind der Zweitgebärenden zu entwickeln. Leider vergeblich. Zitat aus einem Interview: Ich hab einen Oberarzt gerufen, der, der sollte das richten, er konnte es nicht richten, er hat mich in die erste Reihe geschubst. Und ich hab gemerkt, ja .. ich hab es richtig eingeschätzt: ich kann es nicht richten aber er kann es auch nicht richten. Auch zusammen, wir werden es nicht schaffen. .. So. Und dann bin ich ruhiger geworden. Weil ich irgendwie das Gefühl hatte, ja es 215 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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ist so. ... Nicht im Sinne von: ich bemüh mich nicht mehr. Aber ich hab irgendwie das Gefühl gehabt, es ist . . . . Ich war mir sicher, dass ich ... meinem Vordermann ins Heck fahr. Dass ich nicht mehr bremsen kann (leise). .. .. Nicht im Sinne von gleichgültig, weißt du, wie ich das meine? 66 Im Zusammenhang mit der oben benannten epistemischen Stellung ist wichtig zu benennen, dass es sich bei dem leiblichen Gespür der Hebamme nicht um ein prognostisches Geschehen handelt. Alle 20 Interviewpartnerinnen konnten nicht benennen WAS ist – hier also die Schulterdystokie. Im leiblich Erfahrbaren können sie keine geburtshilfliche Diagnose stellen. Stattdessen sind sie sich nur im leiblichen Registrieren einer Unbestimmtheit sicher. Ein weiteres Interviewzitat einer Hebamme bei einer Wassergeburt: I: … Können Sie die Unruhe sonst noch irgendwie beschreiben? M: … Na, ich wusste nur, dem Kind geht es nicht gut. Ich wusste es (Satz betonend). Ich habe es gespürt, ich habe es körperlich gespürt, dass es dem Kind nicht gut ging. 67 Ein Großteil der interviewten Hebammen erlebt in den geburtshilflichen Situationen eine privilegierte epistemische und zugleich pathische Stellung (denn sie werden massiv ergriffen) zu dem, was sich ereignet. Sie werden von einer tiefen Gewissheit erfasst. Dabei ist die Gewissheit nicht mit einer medizinischen Diagnose zu verwechseln, sondern die Hebammen sind in der Lage einer unbestimmten geburtshilflichen Situation leiblich eine intensivere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Und auch wenn der Akt des Bedeutens in geburtshilflichen Situationen zu spät kommt, belegen die Forschungsergebnisse die epistemische Dimension einer veränderten leiblichen Ökonomie.
66 67
Dörpinghaus, Gespür, S. 318. Dörpinghaus, Gespür, S. 318.
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7.
Conclusio und Ausblick
Auch wenn sich Unbestimmtheiten als etwas Unzeitgemäßes zu stellen scheinen, ist ein grundsätzlich gesellschaftlicher Diskurs von Nöten, dass das Lebendige mit dem Unbestimmten und Unerwünschten einhergehen kann. Im Kontext von Widersprüchlichem und Unbestimmtheiten stellt der naturwissenschaftlichmedizinische Blick für das Paradoxieproblem keinen Erklärungsansatz zur Verfügung. Vielmehr operiert die objektivierende Wissenschaft bei nicht quantifizierbaren Ergebnissen mit dem nicht berechtigten Verdacht des Irrationalen. Dabei gilt es für die methodenbegeisterte Geburtsmedizin zu erkennen, dass die Rationalität einer Methode und die Rationalität einer Sache nicht zusammenfallen müssen. Auch wenn der leiblichen Gewissheit im beruflichen Kontext der Stempel der Unwissenschaftlichkeit aufgedrückt wurde, kann dem gegenwärtigen Verdinglichungswahn die Erkenntnis entgegen gesetzt werden, dass Leiberfahrungen gerade in Beziehungsberufen einen unendlichen und unhintergehbaren Schatz bedeuten, da das leibliche Wissen erkenntnisleitendes Potential aufweist. In der Literatur wird bereits vermutet, dass gerade in Bereichen, wo die technisch gestützten Erkenntnisse am weitesten vorgedrungen sind, Wirklichkeit am wenigsten gegeben ist. 68 Blickt man auf die derzeit positivistisch geprägte Bildung im Bereich der Geburtsmedizin, würde es dem Gegenstand Geburt mehr entsprechen, vor dem Hintergrund einer ontologischen und anthropologischen Klärung den verstehenden Zugang stark zu machen. Die Dissertationsergebnisse zeigen für die Berufspraxis der geburtshilflich Tätigen gerade bezogen auf eine erkenntnistheoretische Ebene, dass der bloß instrumentelle Vollzug im Kreißsaal einen untauglichen reduktionistischen Zugang darstellt, der nicht nur die Erkenntnisweise des Leibes fatalerweise ausspart,
68
Gisela C. Fischer: Diagnostisches Denken in der Medizin, in: Dirk Schmoll/ Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Freiburg/München 2005, S. 33.
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sondern darüber hinaus auch den Moment der Reflektiertheit. 69 Will man einen angemessen erweiterten Zugang muss, in der geburtshilflichen Praxis das analytische Denken um die leiblichen Eindrücke erweitert werden, damit die professionelle Verantwortungsübernahme nicht ausschließlich auf medizinische Geräte abgeladen wird. 70 Losgelöst davon wird eine Vereinbarkeit zwischen vermessbarer Realität und leiblicher Wirklichkeit, zwischen Situation und Konstellation in der Praxis bereits gelebt, und die Hebamme ist in der Lage sich routiniert zwischen diesen Systemen zu bewegen, und für das in komplexen geburtshilflichen Situationen Angemessene verhilft der Hebamme, dank ihrer leiblichen Existenzweise das leibliche Verstehen 71 – wer es als Mystifizierung abtut, hat den anthropologischen Ansatz missverstanden. Aus einer professionstheoretischen Perspektive ist fatal, dass durch die Missachtung des Wesens von Geburt und der Denkschablone des Risikos die Ausrichtung von Begleitung und Betreuung 72 im Kreißsaal leider allzu oft an der Jurisprudenz und ihrem Rechtspositivismus erfolgt und nicht an der Kernkategorie von Professionen in Form der handlungslogischen Notwendigkeit. 73 Im Sinne der Betroffenen wäre es angemessener, wenn die Vertretung unter der Geburt nicht an einer Angst der Berufsangehörigen orientiert wäre, sondern der Freiraum da wäre, in anwaltschaftlicher Vertretung der handlungslogischen Notwendigkeit zu folgen. In diesem Sinne muss auch für eine rechtliche Perspektive die Bestimmung des Rechtsgefühls zum Ausgleich im Rechtsraum neu bedacht werden. Ein Ausgleich im Rechtsraum kann für den vorliegenden beruflichen Kontext nicht einfach grundsätzlich durch Strafe hergestellt werden, denn es kann nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass der Rechtsraum 69
Dörpinghaus, Gespür, S. 383, 387, 391, 404. Dörpinghaus, Gespür, S. 383. 71 Dörpinghaus, Hören, S. 239–268. 72 Zum Verständnis der Begleitung als Kernelement im geburtshilflichen Kontext siehe Dörpinghaus, Gespür, S. 161–163. 73 Ulrich Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt a. M. 1996, S. 70. 70
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durch ein Vergehen verletzt worden ist – vielmehr könnte ein differenzierter Blick offenbaren, dass eine Unbestimmtheit in einem lebendigen Ereignis eingetroffen ist. Im Kontext von Unbestimmtheiten klafft zwischen klinischem Entscheid und der Darlegungs- beziehungsweise Begründungspflicht eine Lücke, die sich unter Wahrung der Lebendigkeit nicht in Gänze schließen lässt. Für den beruflichen Kontext kommt diesem Sachverhalt in Abgrenzung zu einem einseitigen Wissenschaftsverständnis jedoch Beachtung zu, da die Berufsangehörigen ohne Aufarbeitung ihrer phänomenalen Eindrücke eine Privatisierung eben solcher Verläufe erleben. Auch wenn machtvolle Strömungen die Subjektivität für überflüssig halten, ist sie für die Einsicht, was die Hebamme im geburtshilflichen Kontext gelten lassen muss, unabdingbar. Aber auch, wenn die Subjektivität und Selbstreflexivität in die sozialwissenschaftliche Forschung Einzug gehalten und die Subjektgebundenheit menschlicher Erkenntnis nicht als Mangel gesehen wird, werden die vorrationalen Widerfahrnisse des leiblichen Befindens in Forschung und Lehre immer noch paradigmatisch ausgeklammert. Anerkannt ist, dass Subjektivität, wie Intersubjektivität weder zu kategorisieren noch zu objektivieren sind und die Intersubjektivität letztlich im Bereich des Unbestimmbaren liegt, 74 allein eine professionstheoretische und berufsrechtliche Aufarbeitung steht hier aus. Literatur Baumgarten, Katja: Gerichtsreportage Teil 1: Des Totschlags schuldig?, in: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 65(4), 2013, S. 58–61. Baumgarten, Katja: Gerichtsreportage Teil 14: Mit bedingtem Vorsatz? In: Deutsche Hebammen Zeitschrift, 66(10), 2014, S. 80–84. Blossfeld, Hans-Peter et al.: Techniques of Event History Modeling. Hillsdale 2 2002. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001.
74
Matt-Windel, Ungewisses, S. 67–68.
219 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Sabine Dörpinghaus
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Leibliche Gewissheit
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Die (Un-)Verfügbarkeit von Körper und Natur
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Gudula Linck
Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen Leben als Improvisation – à la Chinoise Abstract: Die chinesische Kampfkunst ist einer der Übungswege zur Philosophie als Lebenskunst und damit auch eine Möglichkeit, »leibliche und situative Kompetenz im Umgang mit unwillkürlichen bzw. irritierenden Phänomenen« einzuüben. Sie eignet sich dazu allerdings in besonderer Weise: erstens, weil die gemeinsame Situation an sich schon antagonistisch definiert ist; zweitens, weil die Geschwindigkeit des Agierens Spontaneität und Flexibilität verlangt. So gesehen fügt die Kampfkunst der aus der chinesischen Philosophie hergeleiteten Paradoxie von selbstloser Offenheit und Selbstbestimmung bzw. Selbstverwirklichung zwei weitere hinzu: die Paradoxie von Antagonismus und Gelassenheit (Ambiguitätstoleranz) sowie die Paradoxie von Mitte, Maß, Haltung auf der einen und Spontaneität auf der anderen Seite. Darüber hinaus umfasst die in der Kampfkunst geforderte Intelligenz ein Spektrum von – in langer Übung – einverleibten Bewegungen, die bei antizipierender Wahrnehmung über verschiedene Medien leiblicher Resonanz jederzeit einsatzbereit sind. Keywords: Antagonistischer Modus, Einleibung, Chinesische Kampfkunst, Lebenskraft Qi, Resonanz
1.
Einleitung
Schulen übergreifend gilt im alten China: Die Welt ist im Fluss, keine Situation gleicht der anderen. Alles ist ununterbrochen im Wandel. Dass zugleich alles miteinander »verknüpft, verliebt und verbandelt« (Nietzsche) ist, sorgt für eine atemberaubende Komplexität allen Geschehens. In einer so verstandenen Welt ist »Erwartung der falsche Flügelschlag« (Handke), Irritation die Regel und Improvisation an der Tagesordnung. Wie eine solche Sicht auf 225 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Gudula Linck
die Welt philosophisch begründet wird, davon soll im ersten Teil meines Beitrags 1 die Rede sein. Im zweiten Teil steht die chinesische Kampfkunst 2 zur Debatte: Urgestalt menschlicher Kommunikation und hervorragend geeignet, Improvisation als Verhaltensmuster durch Übung einzuverleiben, um diese in irritierenden zwischenmenschlichen Situationen spontan zu aktivieren. 2.
Die Aktualität der chinesischen Philosophie
Die Welt als ein in Wandel und Resonanz begriffener Kosmos ergibt sich folgerichtig aus dem Schlüsselbegriff der altchinesischen Philosophie: Qi 氣 – verstanden als gesamtkosmische Lebenskraft. Qi pendelt zwischen den Polen extremer Verdichtung und feinster Zerstreuung, zwischen Fülle und Leere, Engung und Weitung und treibt auf diese Weise die Dynamik der Welt, d. h. Werden und Vergehen der Wesen und Dinge, an und voran. Wandlungen des Qi: Verdichtung
Zerstreuung
Auch das Leben des Menschen ist Wandlung von Qi: »Sammelt sich Qi, nennt man das Leben; zerstreut sich Qi, ist das der Tod.« 3 Am Pol der Verdichtung herrscht Yin-Qi, am Pol der Zerstreuung Yang-Qi; dazwischen: alle Varianten des Übergangs, wobei das eine mit dem andern im Widerstreit liegt und schließlich das 1
Mit diesem Titel greife ich auf einen früheren Aufsatz von mir zurück: Auf Katzenpfoten gehen und das qi miteinander tauschen. Überlegungen einer China-Wissenschaftlerin zur transkulturellen Kommunikation und Kompetenz, in: Erwägen, Wissen, Ethik 14(1), 2003, S. 189–192. 2 Vgl. meinen ausführlicheren Beitrag: Echo oder Schatten. Chinesische Kampfkunst als Paradigma menschlicher Kommunikation, in: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge. Bielefeld 2016, S. 249–266. 3 Zhuangzi, Kap. 22.1 Zhibeiyou, in: Jinhong Huang (Hrsg.): Zhuangzi duben (Zhuangzi-Lektüre mit Erläuterung) (ZZDB). Taibei 1974, S. 253; vgl. Wolfgang Kubin (Übers.): Zhuangzi. Vom Nichtwissen (Zhuangzi). Freiburg 2013, S. 64.
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Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen
eine das andere überwindet. Das geschieht im rhythmischen Wechsel: ’Mal ist Yin im Übergewicht, ’mal Yang, so dass es aussieht, als folgten sie bloß aufeinander, um ein Ganzes zu sein; Motor des Geschehens aber ist der innere Widerstreit. Verbundenheit als Resonanz ergibt sich von selbst, da Qi als Lebenskraft alles durchdringt, in allem west und wirkt, in allem Sichtbaren und allem Unsichtbaren. Qi pulsiert durch die Welt im Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, strömt in Flüssen und Seen, verdichtet sich zum Berg, schwingt sich hinauf zum Flug des Kranichs am Himmel, verwurzelt den Baum in der Erde … Am Menschen pulsiert Qi im Atem wie im Blut, verdichtet sich zu Fleisch und Knochen, regt sich in seinem Wünschen und Wollen, seinen Emotionen und seinen mehr oder weniger bewussten Akten der Besinnung. Resonanz liegt in beiden Spielarten vor: als Konsonanz – dann schwingen die Wesen und Dinge harmonisch miteinander; als Dissonanz – dann liegen sie im Streit. In diesem ständig wechselnden Beziehungsgeflecht ist der Mensch aktiver Mitspieler. Sein Leben gelingt, wenn er situativ angemessen reagiert. Das ist nur möglich im leibhaft-spontanen Kontakt mit der Wirklichkeit. Will Konfuzius (5.–4. Jh.) »ausgehen vom Naheliegenden« 4, so möchte Zhuang Zhou, (4./ 3. Jh.), Autor der ersten sieben Kapitel des nach ihm benannten Zhuangzi, »inmitten der Dinge leben, ohne diese zu verletzen.« 5 Die in beiden Fällen resultierende Offenheit für die Wesen und Dinge und deren Lauf schließt die Fixierung auf unverrückbare Ziele ebenso aus wie übereiltes Handeln. Daraus folgt ein ganzes Spektrum an Verhaltensgeboten, die der altchinesischen Sicht auf Welt und Mensch eigen sind: 1. Flexibilität; 2. Vorsicht/ Umsicht/Achtsamkeit, was im Alltag Verlangsamung erfordert – Verlangsamung als Voraussetzung für 3. Gelassenheit, d. h. die Mitte jenseits extremer Gefühlszustände. Das Pendeln um die eigene Mitte schont die Lebenskraft und sorgt zugleich für eine 4
Lunyu 19.6; vgl. Wolfgang Kubin (Übers.): Konfuzius. Gespräche (Konfuzius). Freiburg 2011, S. 75; vgl. auch Lunyu 4.10, S. 189. 5 Zhuangzi 22.10, Huang ZZDB, S. 259; vgl. Kubin, Zhuangzi, S. 119–120.
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Gudula Linck
Haltung der Würde; 4. Ich-Zurücknahme zugunsten der Verbundenheit in der übergreifenden gemeinsamen Situation. Die »nah den Dingen« abverlangte »selbst-lose Offenheit« 6 schließt Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung nicht aus, im Gegenteil garantiert sie erst: Die Paradoxie von Weichheit/ Schwäche, in der zugleich die Stärke liegt – eine der zahlreichen Paradoxien aus dem alten China – hat das Daodejing 7 gleich zweifach versinnbildlicht: im »weichen Wasser«, 8 das den harten Stein besiegt, und im Säugling, 9 dem »es gelingt, sich trotz der noch ichlosen Offenheit in seinem Umfeld zu behaupten.« 10 Dass die Welt sich bei zunehmender Komplexität ununterbrochen ändert, hat der Westen, unabhängig von der Vorgabe ostasiatischen Denkens, spätestens im 20. Jahrhundert erkannt. Dass damit zwangsläufig Irritation einhergeht, hat unser Alltagsdenken und -handeln noch nicht erreicht. Im Gegenteil, das Gebot individueller Selbstbehauptung läuft dieser Einsicht und Praxis zuwider. Der Spiegel, den uns die altchinesische Philosophie vorhält, kann, so gesehen, Anregung sein, eine andere Weise der Selbstsorge zu bedenken und zu beherzigen. 3.
Chinesische Kampfkunst als Übung für Offenheit und Improvisation
Die mit dem Qi-Konzept verknüpften Dimensionen der altchinesischen Philosophie: Wandel/Dynamik und Verbundenheit/Resonanz liegen so selbstverständlich der chinesischen Kampfkunst 6
Philippe Brunozzi: Himmel – Erde – Mensch. Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie (Himmel). Freiburg 2011, S. 193 ff. 7 Das Daodejing ist neben dem Buch Zhuangzi der zweite große Klassiker des frühen philosophischen Daoismus. 8 Daodejing Vers 78; vgl. Rainald Simon (Übers.): Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung (Daodejing), Chinesisch/Deutsch. Stuttgart 2009, S. 234–235. 9 Daodejing Vers 55; vgl. Simon, Daodejing, S. 168–169. 10 Brunozzi, Himmel, S. 195.
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Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen
zugrunde, dass sich diese Bewegungskunst ausgezeichnet als Übungsfeld eignet für »leibliche und situative Kompetenz im Umgang mit unwillkürlichen Phänomenen«! Aus zweierlei Gründen scheint mir die Kampfkunst sogar ein Weg par excellence zu sein, um leibliche und situative Kompetenz einzuverleiben: 1. Als spezifische Form sozialer Interaktion unterscheidet sich Kampfkunst von der Alltagskommunikation in der Geschwindigkeit gespürter Aktion und Reaktion. Hier ist nicht Langsamkeit gefragt, umso mehr eingeübte Flexibilität in der Spontaneität, um das starre Festhalten an Positionen zu unterlaufen. 2. Kampfkunst ist ein Ko-Agieren im antagonistischen Modus und damit paradigmatisch für irritierende Situationen. Das schließt Fairness nicht aus. Mangel an Fairness gilt sogar als »Wegwerfen der Kunst« 11 und ist dem Zhuangzi zufolge ein Zeichen mangelnder Gelassenheit. Das in jahrelangem Training einverleibte Repertoire an Bewegungen mag überschaubar sein. Doch keine Situation gleicht der anderen. Die Skala der Kombinierbarkeit ist nicht unendlich, aber doch so groß, dass leibliche Intelligenz, um angemessen zu parieren, einer weiteren Komponente bedarf. Ich nenne sie »antizipierende Wahrnehmung.« Gemeint ist die Fähigkeit, den nächsten Bewegungsschritt des Gegenübers schon im Ansatz spürend wahrzunehmen, d. h. bevor die Bewegung Gestalt annimmt – erst recht vor jeder Reflexion. Die Frage, wie die noch unsichtbare Bewegung des Gegenübers eigenleiblich gespürt werden kann, fragt nach den Medien des Ko-Agierens. Im Folgenden sind drei für die Kampfkunst unverzichtbare Medien leiblicher Resonanz skizziert: der antagonistische Modus (3.1) – im Sprachgebrauch der Neuen Phänomenologie: »antagonistische Einleibung«; Kampfkunstgestik als Bewegungssuggestion (3.2) und der Ringkampf der Blicke (3.3).
11
Guliangzhuan, einer der drei Kommentare zu den Frühlings- und Herbstannalen aus der Epoche der ersten Zeitenwende, zit. in: Gudula Linck: Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst (Bewegungskunst). Freiburg 2015, S. 131.
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Gudula Linck
3.1 Antagonistischer Modus bzw. Einleibung Das eigenleibliche Geschehen beschreibt die Neue Phänomenologie als Antagonismus von Engung und Weitung. In sich dialogisch, verteilt sich das Leibgeschehen in der Kampfkunst auf die beiden Kontrahenten, die nunmehr die antagonistischen Tendenzen gegen einander richten. 12 Mit anderen Worten, der gemeinsame Antrieb spielt sich auf einander ein. Dabei spreizt sich der innerleibliche Dialog von Weitung und Engung auf in das Angriffs- und Rückzugsgeschehen der beiden Kontrahenten. So kann jeder – bei rhythmischer Verschiebung – die leiblichen Dispositionen Engung und Weitung abwechselnd als seinen Part übernehmen. Das ist »Zweifühlung« in gemeinsamer übergreifender Situation, präziser »Einleibung«, da die Beiden spontan, chin. zì-rán 自然 (von selbst), agieren wie ein einziger Leib. 13 Verdichtetes Qi, d. h. Fülle an Qi verlangt Weitung, führt zum Angriff. Zerstreutes Qi, d. h. Leere an Qi, zieht Engung nach sich, führt zum Rückzug. Eine Besonderheit liegt vor im Falle der sogenannten Finte, wo Leere/Engung/Rückzug nur scheinbar demonstriert wird, um den Gegner zum Angriff zu bewegen und ihm dann – aus der eigenen Fülle heraus, die zur Weitung führt – im Angriff zuvorzukommen. Die rhythmische Aufeinanderfolge von Fülle/Weitung/Angriff und Leere/Engung/Rückzug ist nichts anderes als der quasi naturgesetzmäßige Wechsel von Yang-Qi und Yin-Qi. Da beide, in der Kampfsituation, miteinander im Widerstreit liegen, bringt das Agieren sich wechselseitig hervor. Einleibung, nach Hermann Schmitz »Verschmelzung aufeinander sich einspielender Leiber« ist in einem kurzen chinesischen Text aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert gleich mit einer ganzen Reihe von lebhaften Bildern ausgedrückt: »Seine Bewegungen, weich und doch selbstbewusst, folgen den Bewegungen des Gegners, als sei er dessen […] Echo. So wie die 12
Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand (Gegenstand). Bonn 1990, S. 136. 13 Zur Einleibung als einem der Grundbegriffe der Neuen Phänomenologie siehe: Schmitz, Gegenstand, S. 135 ff.
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Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen
Wagenräder den Pferden gehorchen, so […] ähnelt sein Schatten dem Schatten des Gegners! Die beiden folgen aufeinander wie Trommelschlag auf Trommelschlag, Atemzug auf Atemzug […], sind nur Zikadenflügel voneinander entfernt […] so nah beieinander wie Wimpern und Augenbrauen.« 14 3.2 Kampfkunstgestik als Bewegungssuggestion Über das Einschwingen auf das rhythmische Wechselspiel von Leere und Fülle, Engung und Weitung, Rückzug und Angriff hinaus beruht leibliche Intelligenz im spürenden Verstehen gestischer Bedeutungen. Gebärden und Gesten von Hand und Fuß entfalten sich – wie jedweder Bewegungsimpuls – als Gestaltverläufe in bestimmte Richtungen hinein. Leibliche Richtung ist nie neutral, ist vielmehr suggestive Wirkkraft im gemeinsamen Raum. So gesehen sind Bewegungsrichtungen in ihrem Hin und Her und Auf und Ab, Vor und Zurück nichts Anderes als Stoßund Zugkräfte im Feld der geteilten Kampfsituation. Dann ist der Verlauf der jeweiligen Gebärde schon im Ansatz spürbar als kraftgesteuerte Bewegungssuggestion. 3.3 Der Ringkampf der Blicke Die Verschmelzung der sich aufeinander einspielenden Körper bzw. Leiber wiederholt sich im »Ringkampf der Blicke«. 15 Fokussiert das Auge Einzelnes, so ist der Blick nach Hermann Schmitz als »vorfühlender Blick« eher ein optisches Spüren bzw. ein »Sehen des vitalen Antriebs«. 16 Schon in der alltäglichen Begegnung können Blicke sein »wie Speere im Turnier; sie greifen tief in das leib14
Shuoyuan 15.12, anekdotische Geschichtsschreibung aus dem 2. Jh. v. Chr., zit. in: Linck, Bewegungskunst, S. 132. 15 Schmitz, Gegenstand, S. 136. 16 Hermann Schmitz, Spüren und Sehen als Zugänge zum Leib, in: Hans Belting u. a. (Hrsg.): Quel corps? München 2002, S. 429–438, hier S. 431.
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Gudula Linck
liche Befinden beider Partner ein, die sich dadurch bedeutsame Signale geben, sind schwer auszuhalten, werden demgemäß – aber nicht überall – gern vermieden.« 17 Umso mehr gilt in der chinesischen Kampfkunst der Einsatz »machtgebietender« Blicke: »Selbst wilde Tiere« so heißt es, »fürchten den stechenden Blick der Shaolin-Mönche.« 18 Der »Ringkampf der Blicke« dient zum ersten »dem Kräftemessen, dem Abtasten der gegnerischen Stärke« 19 – mit dem Ziel einer Einleibung der dominanten Art. 20 Auch erlaubt das Direkt-indie-Augen-Schauen antizipierende Wahrnehmung. Ein erfahrener Kampfkünstler wird dem Gegner aber nicht nur in die Augen schauen, sondern durch dessen Augen hindurch, um sich selbst auf diese Weise zwischen Himmel und Erde zu verwurzeln. Voraussetzung ist, um der kosmischen Gesamtsituation willen, sein Ich als Ego zurückzunehmen. In dieser energetisch übergreifenden Situation lässt sich die zurückgenommene Ich-Präsenz »weder fassen noch manipulieren, denn das Ich ist ein Teil vom Ganzen geworden.«21 Das ist gemeint, wenn im Daodejing Ichzurücknahme als Voraussetzung gilt für den Erfolg: »Wer (absichtsvoll) handelt, wird Niederlagen erleiden, wer etwas festhält, verliert es.« 22 Demnach schließen Selbst-losigkeit und Zielorientierung einander nicht aus. Die leibliche Befindlichkeit der Aufmerksamkeit – nach Hermann Schmitz »Zuwendung des vitalen Antriebs in Wartestellung« 23 – ist, altchinesisch gesehen, ein Zustand der Mitte. Die Mitte im bipolaren Geschehen ist aber nichts anderes als labiles 17
Schmitz, Gegenstand, S. 136. Gong Ding (17. Jh.) zit. in: Linck, Bewegungskunst, S. 136. 19 Ansgar Gerstner, Briefwechsel im April 2015. 20 Schmitz, Gegenstand, S. 139. 21 Gerstner, Briefwechsel. 22 Vers 29, Simon (Daodejing), S. 98–99. 23 Aufmerksamkeit nach Hermann Schmitz, Vortrag »Der Beitrag des Leibes« auf der Tagung der Gesellschaft für Neue Phänomenologie vom 10.–12. 4. 2015 in Rostock. Vgl. Hilge Landweer: Konzentration, Aufmerksamkeit und Ernst als leibliche Phänomene, in: Christoph Jamme (Hrsg.): Leiblichkeit und Personalität. Zum Gedenken an Anna Blume. Springe 2013, S. 49–61. 18
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Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen
Gleichgewicht der Kräfte und zugleich Gelassenheit als entspannte und doch kraftvolle Präsenz. Als Gelassenheit ist die Befindlichkeit der Mitte nicht nur kräfteschonend (Ökonomie der Mitte), sondern auch weitsichtiger im Umgang mit einem Konflikt als jedes Agieren aus einer aggressiven Grundhaltung heraus. Gefühlswallungen wie Frustration, Ungeduld, Zorn gehen bekanntlich mit Muskelverspannung einher. Muskelverspannung wiederum behindert freies Atmen ebenso wie flexiblen Umgang mit der gestischen Wirkkraft. Wird die Welt als ein komplexer, zudem ständig wechselnder Wirkzusammenhang begriffen, dann ist Irritation nur vermeidbar, wenn statt der Erwartung die Haltung der Offenheit gepflegt wird, um sich reibungslos, d. h. mit geringstem Kraftaufwand in das Geschehen einzufügen. Die im Titel genannte erste Verhaltensanweisung »Auf Katzenpfoten gehen« zielt auf eben diese Umsicht, Vorsicht, Achtsamkeit für das, was gerade geschieht. Die Aufforderung, »das Qi miteinander zu tauschen« wiederum impliziert – aus dem Gefühl der Verbundenheit heraus – eine zunächst wohlwollende Gelassenheit. Wenn das eigentliche Ziel dabei nicht verloren geht, gelingt die Paradoxie von Selbstzurücknahme/selbstloser Offenheit auf der einen und Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung auf der anderen Seite. Das erfordert lebenslanges Lernen, altchinesisch: lebenslange Selbstkultivierung, 24 die man sich täglich zur Übung macht. 4.
Fazit
Die chinesische Kampfkunst war im vormodernen China nur einer der Übungswege zu dieser Philosophie als Lebenskunst und damit auch nur eine der vielen Möglichkeiten, »leibliche und situative Kompetenz im Umgang mit unwillkürlichen bzw. irritie24
Vgl. dazu Marcus Schmücker/Fabian Heubel (Hrsg.): Dimensionen der Selbstkultivierung. Beiträge des Forums für Asiatische Philosophie. Freiburg 2013.
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Gudula Linck
renden Phänomenen« einzuüben. Sie eignet sich dazu allerdings in besonderer Weise: erstens, weil die gemeinsame Situation an sich schon antagonistisch definiert ist; zweitens, weil die Geschwindigkeit des Agierens Spontaneität und Flexibilität verlangt. So gesehen fügt die Kampfkunst der aus der chinesischen Philosophie hergeleiteten Paradoxie von selbstloser Offenheit und Selbstbestimmung/Selbstverwirklichung zwei weitere hinzu: die Paradoxie von Antagonismus und Gelassenheit (Ambiguitätstoleranz) und die Paradoxie von Mitte, Maß, Haltung auf der einen und Spontaneität auf der anderen Seite. Darüber hinaus erfordert die Kampfkunst zwei Weisen leiblicher Intelligenz: erstens ein breites Spektrum von – in langer Übung – einverleibten und damit spontan einsatzbereiten Positionen und Bewegungen; zweitens antizipierende Wahrnehmung über die von mir erläuterten Medien leiblicher Resonanz: Einleibung im antagonistischen Modus als Dialog von Angriff und Rückzug; Kampfkunstgestik als Bewegungssuggestion; Ringkampf der Blicke. Ohne Frage ist die chinesische Kampfkunst eine Form flexibler zwischenmenschlicher Kommunikation. Von Alltagsbegegnungen unterscheidet sie auf den ersten Blick die Geschwindigkeit und der ausgeprägt antagonistische Modus der Interaktion. Ersteres bedeutet, dass ein Repertoire an Reaktionen, in langer Übung einverleibt, jederzeit spontan abrufbar ist, insbesondere: hochkonzentrierte Aufmerksamkeit und Ich-Zurücknahme in der übergreifenden Situation. Da jede Irritation potentiell antagonistisch ist, erweist sich der geschulte Umgang mit Antagonismus als beste Voraussetzung für den Umgang mit Irritation. Das hat die Kampfkunst jeder ad-hoc-Improvisation voraus. Als Urgestalt zwischenmenschlicher Kommunikation ist das Kampfgeschehen Spüren par excellence; das zeigt schon der Einsatz von Qi als gespürter Atemkraft im Unterschied zur Muskelkraft. Darüber hinaus zeichnet sich leibliche Intelligenz in der Kampfkunst durch antizipierende Wahrnehmung aus: Bewegung im Ansatz schon am eigenen Leib zu spüren, ist deshalb möglich, weil beide Kontrahenten in der gemeinsamen Situation des Kampfes das eigenleibliche Resonanz- bzw. Dissonanzgeschehen 234 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Auf Katzenpfoten gehen. Das Qi mit einander tauschen
auf einer höheren, übergreifenden Ebene mit verteilten Rollen ausagieren. Was – neben subtilen Bewegungssuggestionen – den Verlauf bzw. die Wirkrichtung der nachfolgenden Bewegung für den »vorfühlenden Blick« (Schmitz) spürbar macht, ist der rhythmisch aufeinanderfolgende Widerstreit der Kräfte, chinesisch: Fülle vs. Leere, phänomenologisch: Engung vs. Weitung und in der Sprache der Kampfkunst: Angriff vs. Abwehr. Literatur Brunozzi, Philippe: Himmel – Erde – Mensch. Das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit in der antiken chinesischen Philosophie. Freiburg 2011. Huang, Jinhong (Hrsg.): Zhuangzi duben (Zhuangzi-Lektüre mit Erläuterung) (ZZDB) Taibei 1974. Kubin, Wolfgang (Übers.): Konfuzius. Gespräche. Freiburg 2011. Kubin, Wolfgang (Übers.): Zhuangzi. Vom Nichtwissen. Freiburg 2013. Landweer, Hilge: Konzentration, Aufmerksamkeit und Ernst als leibliche Phänomene, in: Jamme, Christoph (Hrsg.): Leiblichkeit und Personalität. Zum Gedenken an Anna Blume. Springe 2013, S. 49–61. Linck, Gudula: Auf Katzenpfoten gehen und das qi miteinander tauschen. Überlegungen einer China-Wissenschaftlerin zur transkulturellen Kommunikation und Kompetenz, in: Erwägen, Wissen, Ethik 14(1), 2003, S. 189–192. Dies.: Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst. Freiburg 2015. Dies.: Echo oder Schatten. Chinesische Kampfkunst als Paradigma menschlicher Kommunikation, in: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge. Bielefeld 2016, S. 249–266. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 1990. Ders.: Spüren und Sehen als Zugänge zum Leib, in: Hans Belting u. a. (Hrsg.): Quel corps? München 2002, S. 429–438. Schmücker, Marcus/Heubel, Fabian (Hrsg.): Dimensionen der Selbstkultivierung. Beiträge des Forums für Asiatische Philosophie. Freiburg 2013. Simon, Rainald (Übers.): Daodejing. Das Buch vom Weg und seiner Wirkung. Stuttgart 2009.
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Michael Uzarewicz
Das Irritierende brachialer Handlungen. Neue Phänomenologie der Gewalt
Abstract: Gewalt ist als physische, brachiale Handlung für moderne europäische Menschen eine Irritationsquelle erster Güte. Gewalt ist allgegenwärtig. Die Aversion gegen Gewalt ist hingegen ein Novum und versteht sich als das ganz Andere. Gleichwohl ist sie durch die Ambivalenz gekennzeichnet, verpönt und praktiziert zu werden. Ein Gutteil zehrt diese Ambivalenz von der Irritabilität der Lebewesen, insbesondere Personen, auch wo sie sich (vordergründig) gegen Sachen richtet. Gewalt lässt sich, mit Blick auf das Telos, als ein Dreistufenmodell beschreiben: gegen den Körper, gegen den Leib, gegen die Fassung der Person. Nur wenn eine Handlung an organischen oder anorganischen Körpern ansetzt, ist sie Gewalt. Andere Formen der Zudringlichkeit mögen ebenfalls verpönt sein und stärkste Irritationen hervorrufen, sind aber keine Gewalt. Keywords: Fassung, Fiktion, Körper, Leib, Person
1.
Einführung
Irritationen begleiten unser Leben; Gewalt begleitet unser Leben. Gewalt irritiert uns moralisch und affektiv – zumindest soweit wir in der westlichen Welt leben. Sosehr sie verpönt ist, ist sie ubiquitär. Trotzdem (ver)stört und verwirrt sie. Was ist nun aber das Irritierende an der Gewalt? Gewalt klingt nach Mord und Totschlag, Folter und Gefängnis, Messerstechereien, Schießereien, Prügeleien. Fokussiert man sich aber ausschließlich auf die Exzesse, auf die in unseren Breitengraden nicht für jedermann und jedefrau alltägliche Gewalt, so entgehen einem Verstehen zu viele gewöhnliche Gewaltphänomene. Der tote Igel auf der Straße, die eingeworfene 236 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Fensterscheibe, die umgeknickten Bäume, die Kratz-, Biss- und Schlagspuren der Kinder, die blauen Flecken der Sportler, das zu Schrott gefahrene Auto, das zertretene Blumenbeet, der Schubs in der U-Bahn, die Rangelei am Wühltisch, der Tritt auf den Fuß, ja selbst das Essen, 1 wir essen ja vom Lebendigen, das getötet wurde – das alles sind Phänomene von leichter oder schwerer Gewalt. Selbst der Säugling, der nur Milch trinkt, macht sich schon »schuldig«, wenn er in die Mamilla der Mutter beißt. Die Übergänge vom Klaps zum Schlag, von minderer zu schwerer Misshandlung, von leichter zu massiver, von massiver zu exzessiver Gewalt, sind fließend. Auch wenn der Weg von der Ohrfeige zum Massenmord sehr weit ist, sind die (schwere) Ohrfeige und der Massenmord Gewalttaten. Im Folgenden soll es also darum gehen, was Gewalt ist und was nicht Gewalt ist sowie, was moderne Mitteleuropäer daran so schrecklich finden. 2.
Europäische Gewaltaversion: Eine kurze Irritationsgeschichte
Über Jahrtausende war der Krieger der Heros und Gewalt nichts, was verdammenswert war – im Gegenteil. 2 Sie war so selbstverständlich und unproblematisch wie Atmen, Essen oder Defäzieren. Das waren die Zeiten, in denen sich die Kontrahenten fast immer Auge in Auge gegenüberstanden bzw. Körper mit Körper direkt konfrontiert waren. Nun könnte man vermuten, dass erst angesichts der Exzesse und Grausamkeiten des letzten Jahrhunderts, einem der gewalttätigsten in der auch ansonsten keineswegs friedlichen Geschichte des menschlichen Lebens, Gewalt verpönt ist; aber Gewalt war schon vorher geächtet, mindestens seit der
1
Das Essen ist eine Vorschule der Gewalt, so wie der Mund das Modell der Welt ist (Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980, S. 228–232 sowie 243–248). Das Stellen und Essen der Beute ist der primäre Gewaltakt. 2 Vgl. z. B. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1976, S. 266 f.
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Zeit von Montaigne (1533–1592), Bruno (1548–1600) und Hobbes (1588–1679). Warum ist das so? Die zunehmende Regulierung und Einhegung der Gewalt sagt noch nichts über Qualität und Quantität aus. Die höhere Irritabilität, die Veränderung des Affekthaushalts, die man den Modernen wohl attestieren darf, hat keineswegs zur (relativen und absoluten) Abnahme von Gewalt geführt; alles deutet daraufhin, dass das Gegenteil der Fall ist, auch wenn es wohl keine Möglichkeit gibt, das objektiv zu messen. Und selbst, wenn es so wäre, dass die Gewalt zurückgedrängt werden könnte, dann wäre das nur möglich auf Kosten zunehmender Macht auf Seiten des Staates und zunehmender Ohnmacht auf Seiten der ihm Unterworfenen. Trotzdem ist Gewalt – also das, was unter den Begriff im Allgemeinen subsummiert wird, nämlich die Attacke gegen den Körper – durch den Prozess der Aufwertung und Rehabilitierung des Sinnlichen, und mit ihm des Körperlichen, einem zunehmenden Legitimationsdruck ausgesetzt. »Die Epoche der Entdeckung des menschlichen Körpers fiel mit der Epoche der Entdeckung der Erde und der sie bewohnenden Völker weitgehend zusammen«, 3 also nur unwesentlich früher als die Lebenszeit und Zeitgenossenschaft von Montaigne, Bruno und Hobbes, und mit entsprechender Inkubationszeit der neuen Einstellung und des neuen Denkens. Auch wenn »Seele«, »Geist« und andere diesbezügliche Residualkategorien nichts von ihrer Dignität verloren haben, 4 so war die Aufwertung des Körperlichen und Materiellen in Europa, 5 wie ja überhaupt auch die Aufwertung des Menschen, 6 nicht mehr aufzuhalten – mit einem beispiellosen Höhepunkt im 3
Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (Aufklärung). Stuttgart 1986, S. 135. 4 Hier vermute ich auch die moderne Idee, das Ethische, das Seelische, das Psychische, das Symbolische, das Affektive usw. in den Gewaltdiskurs miteinzubeziehen. Der moderne Christ will auch (oder sogar vor allem?) die nicht-körperliche Attacke als Gewalt definiert sehen, da der Angriff auf die Seele dem Zentrum ihres Selbstverständnisses gilt. 5 Kondylis, Aufklärung, S. 210. 6 D. h. die Anthropologie gegenüber der Theologie; etwa für Montaigne; siehe Kondylis, Aufklärung, S. 137.
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20. Jahrhundert, schon um 1900 vorbereitet mit der Wandervogel- und Freikörperbewegung, weitergetrieben in der Weimarer Republik und dann durch die Nationalsozialisten, besonders aber durch das Herüberschwappen der körperbetonten Popularmusik aus den Vereinigten Staaten in den 50er Jahren. Noch immer gilt aber der wahre Mensch als der geistige und – zumindest in den monotheistischen Weltreligionen – seine Seele als dessen Proprium gegenüber anderen Lebewesen. »Angesichts der normativen Funktion des Geistes, die man sich in ihrem ganzen Umfang und in allen ihren Metamorphosen vergegenwärtigen soll, ist es weder Zufall noch Trivialität, wenn der Grundunterschied zwischen Menschen und den (anderen) Tieren in der ausschließlichen Anwesenheit des Geistes im ersteren erblickt wurde.« 7 Es bedurfte harter Auseinandersetzungen, um den Körper zu einem eigenen Recht zu verhelfen, da doch die Seele oder der Geist »allein Gottes Abbild ist«. 8 In diesem Zusammenhang muss man auch die sukzessive Abschaffung von Körperstrafen (Foucault) und Folter sehen, wie überhaupt die zunehmende Ablehnung von Übergriffen auf die Physis, bis hin zur Unantastbarkeit. 9 3.
Gewalt als das verfemte ganz Andere
Die eingangs formulierte Frage muss man offensichtlich etwas anders stellen: Was genau ist nun das Irritierende an brachialer Gewalt, die auch als solche wahrgenommen wird? Denn nur mehr oder weniger brachiale Handlungen werden als Gewalt registriert. Die beinahe ausschließliche Fokussierung auf den Exzess – zu dem ich z. B. Schläge, Tritte und Vergewaltigungen zähle, die auch in unserer vermeintlich so gewaltarmen Gesellschaft alltäglich und ubiquitär sind – erlaubt es dem Durchschnittsbürger und 7
Kondylis, Aufklärung, S. 16. Kondylis, Aufklärung, S. 70. 9 Interessanterweise ist der Kern der modernen Menschenwürde, so wie sie in der Präambel des deutschen Grundgesetzes formuliert wird, nicht die Seele oder der Geist des Menschen, sondern die Unantastbarkeit seines Körpers. 8
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der Durchschnittsbürgerin, sich von der Verantwortung (durchaus auch im nichtmoralischen Sinne als Verursacher eines Sachverhalts) für all die kleinen Nickeligkeiten, wie sie etwa der Rempler und Schubser, die kleinen Seitenhiebe und Zwickereien sind, zu dispensieren. Und ich spreche jetzt nur von den kleinen Gewalttätigkeiten der Menschen untereinander, nicht von denen der Menschen gegenüber anderen Tieren, Pflanzen, (künstlichen) Sachen und (natürlichen) Dingen. Dabei handelt es sich durchaus auch um rüde, d. h. brachiale Handlungen. Viele Menschen wollen es nicht wahrhaben, dass – auch die exzessiven – Gewalttäter (»ganz normale Männer« und Frauen und, ja auch, Kinder) so sind, wie wir, und dass Gewalttaten Handlungen sind, wie andere auch. Gewalt soll etwas Anderes, Exotisches, Monströses oder Krankhaftes sein. Aber dazu wollen sich die Gewalt und der Gewalttäter einfach nicht verstehen. Wer so denkt, der nimmt weder die Gewalt noch den Gewalttäter ernst, er verharmlost sie und nimmt sie gleichzeitig nicht für ›voll‹. Gewalt gilt als Teil einer Sonderwelt, die nicht zu uns gehört, der Gewalttäter ist das ganz Andere, das Fremde (in) unserer Alltagswelt. Er ist uns nicht ebenbürtig, nicht auf der Höhe unserer Zeit, ein unmündiger, ungebildeter Verrückter oder Wahnsinniger, ein Primitivling und Barbar oder gar nur ein »arme[r] Teufel«, 10 der für seine Taten »eigentlich« nicht zurechnungsfähig und verantwortlich ist und sogar eher noch als ›Opfer inhumaner gesellschaftlicher Verhältnisse‹ unser Mitleid und unsere fürsorgliche Zuwendung verdient, als denn Objekt von Strafe und Ausgrenzung zu werden. So besehen hat dann auch nicht mehr der Gewalttäter seine Tat zu verantworten, sondern die Gesellschaft, die ihn »hervorbringt«, hat sich dafür zu rechtfertigen, dass sie und wie sie gegen ihn vorgeht. Mit einer solchen – kryptomarxistischen – Erklärung beruhigt das soziologisch informierte moderne Subjekt seine Irritation – und genießt seine Position als neu-
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So der amerikanische Soziologe Jonathan Simon: Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt (KZfSS, Sonderheft 37). Köln 1997, S. 294.
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traler, blasierter Zuschauer und erlaubt es sich nicht mehr, seine Fassung zu verlieren. 4.
Reale und fiktive Gewalt
Auf eine wichtige Unterscheidung der Wahrnehmung, Rezeption und Irritabilität von und durch Gewalt hat Keppler hingewiesen: die von realer und fiktiver Gewalt. 11 Gewalt im Fernsehen oder im Videospiel ist etwas Anderes als real, d. h. körperlich am eigenen Leib erlebte oder als Zuschauer eines Straßenraubes oder eines sportlichen Boxkampfes beobachtete. Aus diesen Beispielen kann man sogleich zwei weitere Differenzierungen, die ebenfalls Keppler aufgreift, entnehmen: spontane und inszenierte Gewalt. Sehr häufig werden diese Formen in den Wissenschaften und der öffentlichen Wahrnehmung unbesehen vermischt, wie man unschwer an den Diskussionen über die zwar seltenen, aber wiederkehrenden »Amokläufe« in den USA und Westeuropa sehen kann. Noch häufiger werden hier recht schnell kausale Zusammenhänge, die in Sozialwissenschaften in dieser Form überhaupt nicht vorkommen sollten, z. B. zwischen dem Konsum von Videospielen oder Filmen und Ereignissen in der wirklichen Welt konstruiert. Das, was einem dort geschieht oder einen trifft, ist jeweils etwas Verschiedenes. Fiktive Gewalt ist gespielte Gewalt, bei der so getan wird als ob. Aus der neutralen, »objektiven« Beobachterperspektive ist nicht immer zu unterscheiden, ob es sich tatsächlich um ernste oder gespielte Gewalt handelt. 12 Das lässt sich in diesen Fällen definitiv nur aus der subjektiven Perspektive entscheiden.
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Angela Keppler: Über einige Formen der medialen Wahrnehmung von Gewalt, in: Trutz von Trotha (Hrsg.): Soziologie der Gewalt (KZfSS, Sonderheft 37). 1997, S. 382 f. 12 Ich verweise hier auf ein Beispiel aus jüngster Zeit. In dem Film »Der letzte Tango von Paris« wurde die Schauspielerin Maria Schneider von dem Schauspieler Marlon Brando nach ihrer eigenen Aussage, und mit Wissen des Regisseurs, tatsächlich und nicht nur gespielt vergewaltigt.
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Reale Gewalt ist in manchen Fällen, insbesondere wenn es sich um (dokumentarische oder gespielte) Darstellungen von Gewalt im Fernsehen handelt, ebenfalls nicht eindeutig von fiktiver zu unterscheiden. Unabhängig vom Realitätscharakter ist der Zuschauer hier aber, anders als etwa im Theater, nicht direkt und unmittelbar anwesend. Diesseits des Fernsehens, in der realen Welt, wird es aber zumeist recht schnell klar, ob es sich bei einer »Darstellung« um reale oder fiktive Gewalt handelt: Man spürt etwas von der Atmosphäre, man sieht, hört, riecht etwas davon, aufgrund der unmittelbaren körperlich-leiblichen Anwesenheit aller Beteiligten. Die ganze Situation, nicht nur diverse Einzelheiten, gibt Auskunft (Ausdruck) über ihren Charakter. Entscheidend ist dementsprechend der Eindruck, den man von der mit einer spezifischen Atmosphäre gesättigten Situation hat. Während fiktive Gewalt immer inszeniert und nicht »wirklich« spontan ist, kann reale Gewalt wiederum sowohl spontan als auch inszeniert sein. Spontane Gewalt ist für beide Kontrahenten – ganz gleich, wie einseitig die Konfrontation ist – ein Widerfahrnis, also gewissermaßen etwas Unverfügbares. Das gilt für eine inszenierte Darstellung selbstverständlich nicht, obwohl natürlich die Inszenierung wiederum eskalieren und zunehmend spontaner werden kann. Auf der Grenze zwischen Inszenierung und Spontaneität bewegen sich auf jeden Fall Sportarten wie Boxen 13 oder American Football, da sie zwar inszenierte, geregelte und geplante Wettkämpfe sind, aber gleichwohl ein gehöriges Maß an spontanen, Gegner und Zuschauer überraschende, Handlungen brauchen, da sonst der ganze Sinn des Spiels verloren ginge. Das gilt letztlich für jedes »game«, das im Gegensatz zum »play« immer Wettkampf ist. Solche Überraschungen sind gewollte Irritationen der Zuschauer, im Sinne von Staunen, Stutzen, Hingerissen- oder gar Überwältigt-sein und der oder des Kontrahenten im Sinne von Düpiert-sein bzw. Überrumpelt-werden. Beide Male geht es darum, die Zuschauer, natürlich auf andere Weise, und den oder die Gegner aus der Fassung zu bringen. Wer aus der Fassung ge-
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Vgl. Keppler, Formen, S. 383.
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bracht wird, der befindet sich – als Gegenspieler – schon auf der Verliererstraße; als Zuschauer ist man – je nach dem, mit welcher Seite man sich identifiziert – entweder enttäuscht oder beglückt. So verschieden die (Re)Präsentationen für die Zuschauer von Gewalt sind, so verschieden sind auch die Formen ihrer Rezeption. Literarisch dargestellte Gewalt wird anders rezipiert als filmisch dargestellte Gewalt; dokumentarfilmische anders als spielfilmische, inszenierte anders als spontane und reale wiederum anders als fiktive. Alle Formen der Gewalt irritieren wohl umso mehr, je »näher dran« sie an der realen sind, d. h. umso realistischer sie den Rezipienten (Konsumenten) erscheinen. Die Eindeutigkeit der (realen, realistischen, fiktiven) Darstellung entscheidet über das Maß und die Art der Irritation. 14 Der moderne Mensch kann Gewalt und deren Wirkungen nur in homöopathisch dosierter Form ertragen: Zuviel Blut, schwere Verletzungen, zerfetzte Körperteile, splitternde oder brechende Knochen, Gestank, »unmenschliche« Schreie, sind nur schwer- oder unerträglich. Man darf nicht zu viel sehen, hören, riechen … Nicht zu viel zeigen, das ist die Erotik der Gewalt, sonst gilt sie als Pornographie. Solche dosiert »ausgeübte Gewalt nehmen wir als unvermeidliche [sogar als faszinierende; M. U.] Tatsache hin. Wenn aber die Gewalt zur Darstellung kommt, reagieren wir äußerst empfindlich. Man nahm es als selbstverständlich hin, damals schon, daß zum Wohle der Menschheit unzählige Ochsen geschlachtet wurden. Aber Rembrandts geschlachteter Ochse war ein ungeheurer Skandal. Ähnlich heute: Verkehrsunfälle sind etwas Alltägliches, aber ein in der Kunst dargestellter Verkehrsunfall ist empörend.« 15 14
Auf keinen Fall kann man aber unbesehen aus dem Konsum (etwa späterer jugendlicher Amokläufer oder Serienkiller) oder der Produktion fiktiver Gewalt (z. B. von De Sade) auf die Umsetzung in reale Gewalt schließen. Es führt kein direkter Weg von De Sade oder »Counterstrike« zu Mord und Totschlag. Man könnte sogar vermuten, siehe unten den Hinweis von Karl Krauss auf einen möglichen »Phantasienotstand«, dass die Möglichkeit des Auslebens solcher Gewaltfantasien in Film, Spiel und Literatur, dazu beitragen kann, dass tatsächlich weniger brachiale Gewalt ausgeübt wird. 15 Elisabeth Lenk: Der schwarze Peter der Gewalt (Der schwarze Peter), in: Der
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Interessant und überraschend ist, dass man eigentlich vermuten würde, dass Gewalt, die uns unmittelbar auf den Leib rückt, d. h. direkt über den Körper auf den Leib, eher empört als die Gewalt, die man nur zu sehen bekommt. Elisabeth Lenk macht mit Bezug auf die künstlerische Imaginationskraft auf ein wichtiges Phänomen aufmerksam, dass mutatis mutandis auch für die philosophische und wissenschaftliche Interpretation gültig ist: »Weit entfernt, die Phantasie zur Komplizin einer brutalen Wirklichkeit zu erklären, war etwa Karl Kraus, Zeitgenosse Apollinaires, der Ansicht, daß die neue Qualität, die das Grauen im Ersten Weltkrieg annahm, letztlich einem durch die Allgegenwart der Presse geschaffenen Phantasienotstand zuzuschreiben war. Eine künstlerische Phantasie, die die in einer Gesellschaft vorhandenen destruktiven Tendenzen auskomponierte, noch ehe sie historisch wirksam würden, wäre demnach sogar lebenswichtig. Dies will jedoch die praktische Moral der Gesellschaft nicht wahrhaben. Kaum wird die Bestialität, die sie als latente, jederzeit kollektiv mobilisierbare Möglichkeit in sich trägt, ihr durch die Kunst vorgeführt, fühlt sie sich verletzt.« 16 Die Öffentlichkeit fühlt sich also nicht verletzt durch reale Taten, sondern durch deren Darstellung, um dann aber umso mehr über die echten Taten hinwegsehen zu können, nicht zuletzt über diejenigen, die jedermann und jedefrau beinah täglich begeht oder in dessen Namen sie begangen werden. »Die praktische Moral glaubt oder heuchelt; sie erkennt ihr eigenes Böses nicht; wenn aber die Kunst es ihr zeigt, meint sie, sie zeige ihr ein Böses außerhalb ihrer und ruft nach dem Verbot, nicht des eigenen Bösen, das sie nicht wiedererkannt hat, sondern das angeblich ihr selbst fremden Bösen des Künstlers. Dem Künstler wird unterstellt, er allein sei krank, pervers, faschistisch, anarchistisch, traurig, zynisch, hoffnungslos.« 17 Pfahl. Jahrbuch aus dem Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft I, München 1987, S. 39. Lenk hat hier wohl primär an Gemälde gedacht. 16 Lenk, Der schwarze Peter, S. 43. 17 Lenk, Der schwarze Peter, S. 43 f.
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Die Kunst, und manchmal auch die Philosophie und die Wissenschaft, hält der Gesellschaft einen Spiegel vor: Das bist Du! Das seid Ihr! Davon aber will die moderne Gesellschaft nichts wissen, zumindest nicht in ihren offiziellen und öffentlichen Reden. Sie hat längst umgeschaltet von »Erkenne Dich selbst!« zu »Erkenne den Anderen!«. Gleichwohl erkennt sie das Andere auch (und vor allem in ihrem antikolonialistischen, antifaschistischen, antiimperialistischen usw. Verve) in der eigenen Gesellschaft – und verfemt es. Folgerichtig verstehen die jeweiligen Gesellschaftssubjekte unter »Selbstkritik« längst nicht mehr eine Kritik des eigenen persönlichen oder kollektiven Verhaltens (vulgo: der eigenen Partei), sondern Kritik der Anderen (aktuell der sog. »Rechtspopulisten«, der »Faschos«, der »Nazis« usw.) in der eigenen Gesellschaft, damit sie sich nicht mit ihrem eigenem gewalttätigen Handeln und Verhalten auseinandersetzen müssen und von sich selbst irritiert werden. Diejenigen, die sowohl die exzessive als auch die banale, alltägliche Gewalt darstellen, verderben dieser modernen Doppelmoral, ein Erbe des Christentums, die selbstgefällige Ruhe. Aus diesem Grund wird den Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern, die auf die keineswegs aufgehobene und überholte Gewalt der Moderne insistieren, »das Terrain genommen, in das die Blitze der unbewußten Gewalt einschlagen können, ohne Wirkliches zu zerstören. Die Politiker hingegen spielen mit ganzen Bevölkerungen, als wären es Puppen.« 18 Was wiederum die Bevölkerungen selbst kaum zu irritieren und verunsichern scheint, sind sie doch längst so sehr an die Selbstverständlichkeit dieses gewalttätigen Spiels gewöhnt, dass sie es nicht nur hinnehmen, sondern sich gar nichts anderes mehr vorstellen können.
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Elisabeth Lenk, Eine erotische Groteske, in: Guillaume Apollinaire: Die elftausend Ruten. München 1985, S. XXXII.
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Die Ohrfeige 19
Als Beispiel für eine vor noch nicht allzu langer Zeit alltägliche, mittlerweile indiskutable Form von Gewalt, kann die Ohrfeige (auch Backpfeife, Maulschelle, Watschen, Fotzn 20) dienen. Die Ohrfeige galt als probates Mittel, Kinder zu züchtigen (seit 2000 in Deutschland verboten). Über sie als Erziehungsmittel hinaus, ist sie für erwachsene Personen eine Demütigung und gilt »als besonders ehrenrührig«, (Wikipedia ebd.) nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil der Geohrfeigte »wie ein Kind« behandelt wird. Die Ohrfeige zielt also als Züchtigungsmittel über Körper und Leib auf die (oftmals männliche) Person. Die von Wilhelm Busch präsentierte Karikatur, in der der Dichter Balduin Bählamm von Rieke Mistelfink eine gescheuert bekommt, dürfte allerdings primär eine aus der Empörung der jungen Dame über die Zudringlichkeit des Dichters im Affekt erfolgte Handlung sein. 21 »Und hier, begleitet von der Ziege, Kommt Rieke über eine Stiege; Und Bählamm, wie die Dichter sind, Will diesem anmuthsvollem Kind 19
»Schlag auf die Backe, Backpfeife (15. Jh.; der zweite Bestandteil ist der unter → Feige behandelte Name des Fruchtbaums; beachte dazu dt. mdal. Dachtel ›Ohrfeige‹, eigtl. ›Dattel‹, niederl. Muilpeer ›Ohrfeige‹, eigtl. ›Maulbirne‹)«. (Duden, Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Band 7. Mannheim/Wien/Zürich 1963, S. 477). Wikipedia definiert: »Die Ohrfeige ist ein tangential von der Seite geführter Schlag mit der flachen Hand in das Gesicht einer Person«, unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Ohrfeige (Stand: 2. 5. 2018). 20 Als Substantiv in der Bedeutung »Mund, Maul, Gosche[n], = Bàppen, *Schnauze, *Klappe« usw., als Verb »*ohrfeigen, = abfotzen; verdreschen« (Ludwig Zehetner: Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. Regensburg 2005, S. 130). 21 Darüber hinaus, das weiß jeder und jede, der bzw. die ein paar Geschichten von Wilhelm Busch kennt, geht er nur selten zimperlich mit seinen Protagonisten um. Wahrscheinlich werden sie heutzutage deshalb so wenig (vor)gelesen, und schon gar nicht Kindern empfohlen. Wer würde es noch riskieren, dass seine oder ihre Kinder in der Schule oder in der Kita zu erkennen geben, dass sie etwa das grausige Ende von Max und Moritz kennen oder über die explodierende Pfeife von Lehrer Lampe lachen?
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Als Huldigung mit Scherz und Necken Ein Sträußlein an den Busen stecken. Ein Prall – ein Schall – dicht am Gesicht – Verloren ist das Gleichgewicht. So thöricht ist der Mensch. – Er stutzt, Schaut dämisch drein und ist verdutzt, Anstatt sich erst mal solche Sachen In aller Ruhe klar zu machen. – Hier strotzt die Backe voller Saft; Da hängt die Hand gefüllt mit Kraft. Die Kraft, in Folge von Erregung, Verwandelt sich in Schwungbewegung. Bewegung, die in schnellem Blitze Zur Backe eilt, wird hier zu Hitze. Die Hitze aber, durch Entzündung Der Nerven, brennt als Schmerzempfindung Bis in den tiefsten Seelenkern, Und dies Gefühl hat Keiner gern. Ohrfeige heißt man diese Handlung; Der Forscher nennt es Kraftverwandlung.« 22
Wilhelm Busch erläutert uns, dass Schmerz tiefer geht als nur bis »zur Backe«, nämlich bis zum »Seelenkern«, der die »Kraft« zwar am Körper exekutiert, aber letztlich die Person aus dem »Gleichgewicht« gebracht wird. Bählamm »stutzt, Schaut dämisch drein und ist verdutzt«. Rieke hat ihn mit der Ohrfeige aus der Fassung gebracht. Zwar war der Schlag wohl, das kann man in den Bildern, die hier nicht abgedruckt sind, schön erkennen, offensichtlich von einiger Wucht, aber derer hätte es gar nicht bedurft und ist sicher der Erregung der jungen Dame vom Lande geschuldet. Zur Demütigung und demonstrativen Bestrafung des städtischen Galans wäre eine minderschwere Schelle, eine Backpfeife, sicher ausreichend gewesen. Gleichwohl hätte sie auch nicht zu milde ausfallen dürfen, um nicht den Eindruck von spielerischem Ge22
Wilhelm Busch: Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Band III: Spätwerk. Zweite, überarbeitete Auflage, Hannover 2007, S. 465 ff.
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ziere zu erwecken. Zweifellos würde diese Rustikalität jedermann nachhaltig zur Ermahnung in Erinnerung bleiben – nicht so dem Balduin Bählamm, wie sich im Folgenden dann zeigt; aber das gehört nicht mehr hierher. Das Irritierende einer Ohrfeige, auch je nachdem, mit welcher Intensität sie ausgeführt wird, kann also in vielerlei Hinsicht zum Tragen kommen. Zum einen und Unmittelbarstem irritiert sie bei stärkeren, sog. schallenden Ohrfeigen, die Haut im Gesicht, der damit zusammenhängende Schmerz irritiert die leibliche Ökonomie, 23 da er ein intensives, engendes, epikritisches Erlebnis ist, und schließlich die Person, weil sie ein peinliches, beschämendes und symbolisch aufgeladenes Widerfahrnis ist. Dieser protograusamen Situation kann sich der Geohrfeigte nur versuchen zu entziehen, indem er zum Gegenangriff übergeht. Er kann das Ganze auf die leichte Schulter nehmen und lachen, er kann zurückschlagen und er kann verbal reagieren (sich vielleicht rechtfertigen usw.). Prekär ist die unmittelbare Flucht aus der Situation, die augenscheinlich einer Niederlage gleichkommt, weil die Situation nicht bereinigt, sondern als beschämende nachhaltig und auf Dauer gestellt ist: Der (oder die) Geohrfeigte steht als Depp da. Ambivalenter sind sicher leichte Ohrfeigen, die zwar auch den Körper tangieren, aber nicht wirklich schmerzhaft sind und dementsprechend lediglich als spaßhaft oder den Normen oberflächlich gehorchend eingestuft werden können. Ohne im oben angeführten Sinn schon Gewalt zu sein, können sie gleichwohl über ihren symbolischen Gehalt demütigen oder belästigen, zumindest wenn sie – z. B. anhand des Gesichtsausdrucks – erkennbar ernsthaft gemeint sind. Wenn es sich tatsächlich nur um eine leichte Ohrfeige handelt, die mehr ein zaghafter Wischer, ein Stupser oder Streichler ist, ist sie in meinem Sinne keine körperliche Gewalt, sondern »nur« eine leibliche und gestische Zu- oder Aufdringlichkeit. 24 Eine solche – u. U. »unsittliche« – Berührung ist nicht hart, sondern zart. Wollte man jegliche gewollte oder unge23
Schmitz 1998, S. 121 ff. Gleiches gilt auch für das Anspucken, eine schwere Beleidigung und ein Eindringen in den Leibraum.
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wollte körperliche Berührung als Gewalt definieren, gäbe es auch keine Zärtlichkeiten mehr. Unbenommen davon ist eine nicht gewollte zarte Berührung natürlich eine Beleidigung, Belästigung oder Demütigung, Missachtung der Person, aber keine Körperverletzung. 25 6.
Das Irritationspotenzial durch »Gewalt«
Nachdem ich nun kurz etwas über die Probleme von Gewalt und ihrer Rezeption gesagt habe, wird es Zeit, eine Definition zu wagen: Gewaltförmig ist eine Handlung oder ein Sachverhalt, die oder der mittelbar oder unmittelbar zur Verletzung (Beschädigung, Deformierung) oder Zerstörung (Tod) eines Körpers führt oder diesen in seinem Befinden (z. B. Entreißen oder Entwenden eines Gegenstandes, Entziehung der Lebensgrundlagen oder Aussetzen in schädigende Situationen 26, Hindern am »Weg!« usw.) beeinträchtigt. Gewalt ist physische Steuerungsaktivität. Die von mir vorgeschlagene Definition schließt einige Handlungen und Verhaltensweisen aus, die von nicht wenigen als Gewalt (miss-)verstanden werden, dazu gehören das Sprechen (einschließlich ihrer performativen Formen), Ethiken, Moralen, Symbole, das Recht, sowie insbesondere Macht. All das sind nach meinem Verständnis keine Formen der Gewalt, weil sie zwar durchaus und in der Regel über den Leib auf die Fassung der Person zielen, aber eben nicht über oder auf den Körper. Zumeist ist aber die Attacke gegen den Körper (von Personen) nur ein Mittel zum Zweck (über den Leib auf die Fassung der Person). Zur Gewalt zähle ich nur solche Angriffe, die direkt oder 25
So sieht das übrigens auch das deutsche Strafrecht, im Unterschied beispielsweise zum schweizerischen: Nach § 223 StGB begeht eine Straftat, »wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt«. Das Strafrecht kennt eine Reihe von Abstufungen und Differenzierungen. 26 Den interessanten Grenzfall einer »kumulativen Vergiftung« im Hinblick darauf, was der Vergiftende tatsächlich tut und an welcher Stelle man vom »vergiften« sprechen kann, diskutiert G. E. M. Anscombe: Absicht. Frankfurt a. M. 2011, S. 62 ff.
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indirekt den Körper von personalen oder nicht-personalen Subjekten, von Pflanzen oder Sachen (be)schädigen. Für manche Kritiker mag das zu viel, für manche zu wenig sein. Die Prominenz, die ich dem Körper im Hinblick auf Gewalt zugestehe, resultiert daraus, dass er zwar sicher keine immer notwendige Quelle für die (nachhaltige) Zerstörung der Fassung von Personen ist, aber eine hinreichende sein kann. Darüber hinaus transformiert oder tangiert er die stoffliche Struktur von Lebewesen und Sachen aller Art. Gewalt irritiert wie exaltiertes Lachen oder Weinen, wie jeder »übertriebene« Gefühlsausbruch. Das mag daran liegen, dass sie die Kommunikation auf eine andere Schiene setzen. Sie haben gewissermaßen agonalen Charakter, dem sich die modernen Vernünftigen, außer im Sport und Spiel, entziehen wollen. 27 Jede Kommunikation – und auch Gewalt ist Kommunikation und nicht dessen Ende – beginnt mit einer Irritation (Inzipienz, Input, Reiz), auf die reagiert werden muss. Kurz gesagt: Sie macht Eindruck – buchstäblich. Ignoranz ist auch eine Reaktion, es sei denn, der Perzipient (Wahrnehmer, Bemerker) hat die »Aufforderung« gar nicht bemerkt, dann ist die Kommunikation beendet, bevor sie begonnen hat. Eine gewalttätige Irritation kann man als unmittelbar Betroffener, d. h. als direkter Partner in der sozialen Situation, nicht ignorieren und nicht nicht-wahrnehmen. Hier bleibt nur die Wahl, wenn man (noch) eine hat, sich zum Kampf stellen, weglaufen oder kapitulieren. Nur der mittelbar – nun muss man sagen: potentiell, eventuell – Betroffene (Dritte 28) hat 27
Dabei wird allerdings der häufig kriegerische Charakter der argumentativen Auseinandersetzung verkannt und übersehen. Vgl. George Lakoff/Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2014. 28 Auf die Figur des Dritten, die die Kommunikationssituation zur Triade erweitert, hat Jan Philipp Reemtsma in »Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne (Vertrauen). Hamburg 2008, S. 467 ff.« aufmerksam gemacht. Allerdings überzieht er hier für meinen Geschmack etwas, da er Kommunikation erst mit der Triade beginnen lässt, weil es seiner Meinung nach, »einen Dritten braucht, real oder imaginiert, und einen Akteur, der sich auf diesen Dritten, sei er real oder imaginiert, bezieht, damit eine Gewalttat kommunikativen Gehalt bekommt«. (Reemtsma, Vertrauen, S. 470) Aber, mal davon
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einen größeren Spielraum von Reaktionen. Er kann die Gewalt gegen einen Anderen (aus seiner Sicht: Dritten) ignorieren, sich empören, sich bedroht fühlen, gewarnt sehen, (für oder gegen den Dritten) intervenieren (mitmachen, unterbinden), bejubeln, unterstützen, genießen. Gewalttätige Irritationen fordern uns als brachiale kommunikative Ausdrucksform zu einer Antwort heraus. Derartige Irritationen tun aber noch mehr: Sie unterlaufen unsere »Konsensfiktionen« 29 und (wechselseitigen) Erwartungen der Friedfertigkeit. Sie unterscheiden sich in der Art und Weise (z. B. indem sie normativ als »gut«, als produktive Verunsicherung, oder »schlecht« als destruktive Verunsicherung, bewertet werden), sowie in der Intensität voneinander. 30 Luhmann weist darauf hin, 31 dass Irritation immer Selbstirritation eines Systems ist, d. h., dass zum einen ein System irritabel sein muss und zum anderen, dass es einer »Hinwendung« des Systems zum Anlass oder Anstoß eines Reizes bedarf, den das System aber immer nur intern verarbeiten kann. In der Sprache der Neuen Phänomenologie würde man sagen, dass
abgesehen, dass Reemtsma hier offensichtlich nur die Situation völliger Wehrlosigkeit des Opfers, er nennt die Folter, vorschwebt, was hier geschieht, ist nur eine andere Situation. Sie besteht darin, dass einmal – in der Dyade – mit dem Opfer bzw. Kontrahenten kommuniziert wird, ein andermal mittels des Opfers, wo er nur noch ein Werkzeug (eine Information, eine Botschaft) ist, wo mit einem (potentiellen oder manifesten) Anderen (Dritten) kommuniziert wird. Der Akteur hat zwei jeweils verschiedene Bezugspersonen, auf dessen Fassung er zielt. Damit bekommt die Handlung des Akteurs natürlich auch einen subjektiv gemeinten anderen Sinn. Die Interaktion zwischen Akteur und Patheur (Hasse) hat, möchte ich meinen, ausgesprochenen kommunikativen Gehalt, unabhängig davon, wie an den ersten Kommunikationsakt, und ob überhaupt, angeschlossen wird. Im ersten Fall tobt sich die autotelische Gewalt aus, im zweiten Fall handelt es sich um instrumentelle Gewalt (»Herrschaftsmittel«, Reemtsma, Vertrauen, S. 472), die Reemtsma ansonsten eher als Legitimationsrhetorik der Moderne versteht. 29 Stefan Kühl: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Frankfurt a. M. 2014, S. 102 ff. 30 Zum »Begriff der Irritation« siehe auch Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1998, S. 118 f. 31 Ebd.
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es, sofern es sich um Menschen oder andere Entitäten handelt, die des affektiven Betroffenseins fähig sind, eine »Zuwendung« des affektiv Betroffenen zum Reiz braucht, da es sich ansonsten bestenfalls um ein neutrales Bemerken und Registrieren handelt, dass ihn nichts weiter angeht. Der Begriff der »Zuwendung« insistiert darauf, dass eine solche Irritation bzw. ein affektives Betroffensein keine bloß passive Angelegenheit, sondern eine Aktivität des Betreffenden notwendig sein muss, kurz gesagt: sie muss zum »Thema« werden. 32 Ein Problem, das nicht als Problem wahrgenommen wird, ist keines; eine Irritation, die nicht als solche wahrgenommen wird, ist keine. In diesem Sinne muss man sich zur Gewalt verhalten, eine Haltung zu ihr einnehmen. Man kann also sagen: Eine Handlung oder Situation muss so irritierend sein, dass sie – wie z. B. der Rempler – den unmittelbar betroffenen Patheur wenigstens kurzzeitig aus der Fassung bringt; das reicht für einen nur mittelbar betroffenen Zuschauer zumeist nicht aus. Um ihn aus der Fassung zu bringen, muss man »größere Geschütze« auffahren. Ein Rempler oder auch nur starker Schubser nötigt vielleicht zur Empörung, aber normalerweise nicht, um als Beobachter die Fassung zu verlieren. Als Fernsehzuschauer oder Kinobesucher sind wir Härteres gewohnt. Ein unvermuteter Schlag ins Gesicht, ein Tritt gegen einen Liegenden, eine Vergewaltigung, Schändungen, Misshandlungen, Tötungen müssen es schon sein, um uns als Zuschauer »hinterm Ofen« hervor zu locken. Bleibt schließlich noch zu klären, was nun genau eine »Irritation« ist. Irritationen sind – je nach Wörterbuch – Verunsicherungen, Reize, Störungen, Erregungen, Verwirrungen (Perturbationen 33), Provokationen. Am Häufigsten werden sie mit Provokation, Verwirrung und Verunsicherung in Zusammenhang gebracht. An diesem Sprachgebrauch orientiere ich mich, ohne die anderen Nebenbedeutungen zu missachten.
32
Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Freiburg/München 2016, S. 236. 33 Luhmann, Gesellschaft, S. 118.
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Die Irritation von Begegnendem in der Welt vollzieht sich stufenweise: Organische und anorganische Körper werden durch Reize, Störungen und Anstöße irritiert. Hier setzt vornehmlich die »lozierende« Gewalt (aus dem Weg räumen, beseitigen, festhalten, verhaften) an. Anorganisches Leben kann nicht erregt werden, nur leiblich strukturierte Lebewesen können durch Erregung irritiert, nur sie können vergewaltigt, gequält, geschunden werden. Hier agiert die »raptive« Gewalt. Und schließlich können nur Personen, die der Reflexion fähig sind, verwirrend, verunsichernd, provokativ irritiert werden. Hieraus bezieht die »autotelische« Gewalt ihren Mehrwert. 34 Wie man leicht sehen kann, ist Irritation als solche – anders als »admiratio«, in deren Begriff Luhmann »Verwunderung und Bewunderung zusammengefaßt« findet 35 – in der Welt selbstverständlich, nicht jedoch die jeweilige Form der Irritabilität. Zwar kommt der Anlass immer von wo anders her, von außen, in der Sprache Luhmanns wird das System mittels struktureller Kopplung »angestoßen«, aber jedes System irritiert sich auf je unterschiedliche Weise selbst. Es gibt also kein unmittelbares UrsacheWirkungsverhältnis, im Sinne von Reiz und Reaktion, sondern die »Reaktion« ist Folge 36 von selbstbezüglicher Reflexion und Interpretation: »Umwelteinwirkungen auf das System, die es selbstverständlich in jedem Augenblick in riesigen Ausmaßen gibt, können das System nicht determinieren, weil jede Determination des Systems nur im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen (hier also: nur durch Kommunikation) erzeugt werden kann und in diesem Zusammenhang an die systemeigenen Strukturen gebunden bleibt, die solche Rekursionen und entsprechende opera-
34
Zu den »drei Formen physischer Gewalt« siehe Reemtsma, Vertrauen, S. 16 ff. Luhmann, Gesellschaft, S. 789 f. Während sicher schon Amöben und Einzeller irritabel sind, werden sie sich wohl noch nicht über etwas wundern. 36 Das muss man nicht unbedingt zeitlich verstehen, denn die »Reaktion« kann durchaus – wie beim Kampf zwischen Kobra und Mungo (vgl. Michael Uzarewicz: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen. Stuttgart 2011, S. 104; 351) – synchron und instantan, in nicht messbarer Zeit, verlaufen. 35
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tive Sequenzen ermöglichen (Strukturdetermination). Irritation ist danach ein Systemzustand, der zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems anregt, dabei aber, als bloße Irritation, zunächst offen läßt, ob dazu Strukturen verändert werden müssen oder nicht; ob also über weitere Irritationen Lernprozesse eingeleitet werden oder ob das System sich darauf verläßt, daß die Irritation mit der Zeit von selbst verschwinden werde, weil sie nur ein einmaliges Ereignis war.« 37 Luhmann beschreibt hier allerdings nur harmlose Irritationsformen, bei denen die Möglichkeit von Reflexion besteht. Handelt es sich jedoch um unmittelbar überwältigende Ereignisse, die durch ihre Plötzlichkeit erschrecken, hat der Betreffende überhaupt keine Zeit, die Situation zu interpretieren, er wird von der Situation »überfahren«. Dementsprechend, ich will das nur kurz anführen, ist natürlich eine differenzierte Betrachtung der Irritationsstufen und -formen notwendig. So stark sich die Intensitäten der Gewalt unterscheiden, so auch die der Irritationen. In rezenten oder historischen Gesellschaften, in denen ein Rempler so normal ist, das man ihn zwar als solchen registriert, aber ansonsten keine weitere Beachtung schenkt, ist er zwar auch eine Irritation, so dass man vielleicht lernt oder gelernt hat, ihn zu vermeiden, aber die Irritabilität der Autochthonen ist so niederschwellig, dass er zwar leiblich durchaus als gewalttätig wahrgenommen, aber nicht normativ als solches bewertet wird und – wenigstens vordergründig – ohne Konsequenzen bleibt. Was mehr oder weniger ständige kleinere Rempeleien hintergründig, also etwa im Leibgedächtnis und kollektiven, wie individuellen Dispositionen, eventuell »anrichten« können, ist dabei eine andere Frage. Sicher wird es kaum zu Traumatisierungen führen, aber es kann u. U. Folgen haben für Toleranzen, Schäden, Sensibilitäten, Idiosynkrasien, Selbstwertgefühle, Selbstbewusstsein u. v. m.
37
Luhmann, Gesellschaft, S. 790.
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7.
Irritationsstufen 38 und Intensität
»Entsetzlich«, »schrecklich«, »unfassbar«, »grauenhaft«, »monströs«, »viehisch«, »bestialisch«, »barbarisch«, »verstörend«, »schockierend«, lauten die Vokabeln, mit denen spektakuläre und »unerklärliche« Gewalt beschrieben wird, eine Gewalt, die den modernen Europäer hilflos zurücklässt und aus der Fassung bringt. Es gibt aber natürlich auch leichtere Formen der Irritation: »anregend«, »erregend«, »anstößig«, »erstaunend«, die trotz ihrer Plötzlichkeit (mit und ohne Körperkontakt) nicht als Gewalt verstanden werden. Ein Mensch, der grundsätzlich oder partiell nicht irritierbar, d. h. unbetreffbar, ist, gilt als kalt, unerschütterlich, amoralisch, ignorant oder dogmatisch. Das dürfte – sachlich gesehen – eine seltene Pathologie sein. Mit der hier gemeinten Irritabilität ist nicht das bloße neutrale (technische) Registrieren von Störungen gemeint, sondern das affektive Betroffensein von etwas. Das unterscheidet meines Wissens ein technisches Gerät, wie etwa einen Thermostat, das auch auf seine eigenen Zustände reagiert, von einem biologischen Organismus, der z. B. Schmerzen spürt. 39 In der Realität wird es kaum einen Menschen geben, der sich durch nichts betreffen lässt. Allerdings ist die Irritabilität auch immer, und das ist ein sehr entscheidender Aspekt, eine Frage der Intensität – Intensität der Gewalt und Intensität der Irritation, und auf welche Weise sie (eventuell) korrespondieren. Die Gewalt ist ein (gewollter oder ungewollter) Angriff auf die Fassung (bei Personen) und/oder auf die stoffliche Form (bei Lebewesen und Dingen). Hier kommt auch die doppelte Bedeutung des Wortes »Eindruck« einen klaren Ausdruck: einmal als leiblich-personale 38
Nicht zu verwechseln mit sog. »Schmerzskalen« in Medizin und Gesundheitswissenschaften. 39 Ich gehe davon aus, dass zu den durch eigenleibliches Spüren irritierbaren Entitäten zumindest Pflanzen und Tiere, einschließlich des Menschen, gehören. Sie sind auf andere Art von Gewalt betroffen als Sachen und Dinge. Deshalb kann man gegen Sachen und Dinge zwar gewalttätig, aber nicht grausam sein. Man kann sie nicht in die Enge treiben und quälen, und sie können nicht die Fassung verlieren.
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Derangierung, einmal als dingliche/sachliche Beschädigung. Damit wird die Frage nach der Irritation auch eine nach den Irritationsstufen. Die zarte Wahrnehmung eines nicht erwarteten kühlen Lufthauches ist etwas anderes als der maßlose Schrecken, die nur sanft merkliche Veränderung einer Atmosphäre oder Situation etwas anderes als der Einbruch des Plötzlichen. Es ist dieser Einbruch des Plötzlichen, der Abbruch der dahingleitenden Dauer, der Schreck, der Schock eines starken Schmerzes, die überwältigende Angst, es sind letztlich die brachialen, engenden Widerfahrnisse, die das principium individuationis ausmachen. Darin ist eine der eminenten Bedeutungen der widerfahrenden Gewalt zu sehen. Hier diffundiert der Betroffene nicht »entspannt« in die Weite, sondern zuckt, zieht sich zusammen auf einen Punkt, auf den absoluten Ort der Enge des Leibes. Wie ein Ruck geht es durch ihn hindurch, wie ein elektrischer Schlag, der ja auch tatsächlich von ebensolcher Gewalt ist. Was passiert in Situationen rasender Gewalt aber mit dem Gewalttäter, etwa dem Berserker? Individuiert er sich? Wohl eher nicht, weil er nicht ganz bei sich, sondern, wie in der rasenden Wut, im Zorn, außer sich ist, aber im Banne des Opfers. Das Opfer hat sozusagen »Macht« über den Täter, aber in der Regel, ohne etwas damit anfangen zu können. Es ist der Täter, der in Situationen autotelischer Gewalt vom Opfer besessen und fasziniert ist. Auch er kann die Fassung verlieren. Er hat keine Macht mehr, er steuert die Situation mittels Gewalt. Vielleicht müsste man sogar eher sagen, dass die Gewalt die Situation steuert, weil der Täter nicht mehr Herr seiner selbst ist, sich nicht mehr im Griff hat: Die Pferde gehen mit ihm durch. Täter und Opfer sind Beteiligte in einer sie beide umfassenden Situation. Sinnvoll scheint es mir nun, sich etwas freizumachen von der Charakterisierung autotelischer Gewalt. Die Reemtsma’sche Dreiteilung 40 ist sehr sinnvoll, aber nicht für jede Situation ausreichend. Ich meine Situationen spielerischer Gewalt (die 40
Jan Philipp Reemtsma: Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 15. Jahrgang, Oktober/November 2006, S. 13 ff.
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keineswegs des Ernstes entbehren müssen). Der Wettkampf zwischen einzelnen oder kollektiven Konkurrenten kann sowohl raptiver, (dis)lozierender oder autotelischer Art sein. Das Ziel des Wettkampfes ist aber nicht der Andere selbst, sondern seine Überwältigung oder Besiegung, nicht dessen Zerstörung oder Verletzung. D. h. solche spielerische Gewalt, im Unterschied zum Krieg, hat sportiven Charakter. Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass sportive, spielerische Gewalt zu autotelischer wird: Situationen können »kippen«. Aber spielerische Gewalt gehorcht (impliziten oder expliziten) Regeln, speziellen Nomoi, die verhindern sollen, dass die Gewalt eskaliert. Eskalationen kommen vor, sind aber die Ausnahme (etwa zwischen ringenden Kindern oder wenn ein Eishockeyspiel in eine wilde Prügelei ausartet). Die Regeln gehorchende spielerische Gewalt endet, wiederum von Ausnahmen abgesehen, etwa dem Hahnen- oder Hundekampf, gewöhnlich nicht mit der Vernichtung des Gegners, das ist nicht das Ziel. Das Spiel ist aus, wenn der Gegner überwunden ist, grausame, autotelische Gewalt jedoch beginnt hier erst. 8.
Irritation und Fassung
Die Klammer, die die Phänomene »Gewalt« und »Irritation« zusammenhält, ist die Fassung. Beide zielen darauf, uns »aus der Fassung« zu bringen. Wer die Fassung verloren hat, dessen Personalität ist – zeitweilig oder dauerhaft – destabilisiert. Dem dient schon der Schrecken, den jemand verbreitet; man denke nur an die Wikinger oder Hunnen. In diesem Sinne ist Gewalt ein kommunikativer Akt, der darauf aus ist, schon potenzielle Opfer aus der Fassung zu bringen. Auch in dieser Hinsicht ist das 20. Jahrhundert keine Ausnahme. Gewalt ist – unter Lebewesen – Interaktion (wechselseitige Einleibung), in der die betreffenden wechselseitig aneinander körperlich und leiblich partizipieren; grausame Gewalt ist einseitige Aktion, in der nur Einer am Leiden des Anderen partizipiert und (über sich hinaus) wächst. Dieser Eine fühlt mit dem Anderen mit, aber ohne Mitgefühl, eher ein – ästhetisches – mimetisches 257 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Mitgehen als ein – normatives – Mitleiden. Er nimmt wahr, dass der Andere Schmerzen hat, aber nicht die Schmerzen des Anderen. Die Schmerzen des Anderen bejahend, nicht lindernd, labt er sich am Schreien, Sich-Winden, den Zuckungen, dem gequälten, in extremo, dem brechenden Blick eines nur noch impulsiven Reaktionsbündels. Dieser Eine ist der Parasit des Anderen, der nicht mehr handeln kann, sondern nur noch zu kreatürlichen Gebärden fähig ist. Diese Gebärden wie auch die Schmerzensschreie sind nicht Ausdruck des Leidens, sie sind das Leiden. Nur, weil wir uns – als (menschliche) Tiere – leiblich erfassen lassen, erfasst werden können, nur darum können wir auch die Fassung verlieren. Die Fassung besteht aus der »inneren Haltung; diese ist gleichsam die Geste, mit der die Person allen Zumutungen, die an sie herankommen, entgegentritt. Hauptaufgabe ist die Stabilisierung der Person […]. Die Fassung ist im Kern unwillkürlich, an der dann meist leicht durchschaubaren Oberfläche aber oft willkürlich inszeniert, jedenfalls aber der Person unentbehrlich.« 41 Grausame Gewalt gegen Personen zielt auf die Fassung, die sie zusammenhält. Ich kann die Fassung verlieren, wenn mich jemand auf mehr oder weniger harmlose Weise ärgert, wenn ich mit Naivität oder Dummheit konfrontiert werde, wenn ich von jemanden verlassen werde, wenn ich hintergangen werde usw. Auch hier kann das Plötzliche mit Wucht die dahingleitende Dauer der alltäglichen Normalität abreißen – aber davon geht (zumeist) die Welt nicht unter. Das Aus-der-Fassung-geraten ist gewöhnlich von kurzer Dauer und relativ. Im Unterschied dazu ist die den modernen Menschen oftmals in absolute Fassungslosigkeit stürzende Gewalt von erschütternder Qualität, die die Welt aus den Fugen geraten lässt. Für den brachiale Gewalt Erleidenden, das missbrauchte Kind, die vergewaltigte Frau, der gefolterte Mann, bricht seine Welt zusammen, in der er bisher heimisch war. Alle Fundamente seiner oder ihrer sozialen Lebenswelt erweisen sich als auf Sand gebaut: Sicherheit, Zu- und Vertrauen, Glauben, Gewissheiten, 41
Zuletzt in Hermann Schmitz: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017, S. 29 f.
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Zuneigung sind illusionär. Das Gesagte gilt wohlgemerkt nur für solche Menschen, die es vorher anders kannten, die in relativer – wenn auch nur in scheinbarer, ihnen nicht durchschaubarer – Sicherheit, Gewissheit, in gutem Glauben, in Zuneigung gegenüber Anderen und in ihnen entgegengebrachter Zuneigung und (relativer) Gewaltlosigkeit gelebt haben. Man kann nur aus den Wolken fallen, wenn man vorher darauf gelebt hat. Wer in gewalttätigeren soziokulturellen Situationen (Sozietäten) aufgewachsen ist, für den sind Gewalttätigkeiten in der Regel von weniger oder gar nicht erschütterndem Einbruch des Plötzlichen. Auch an Gewalt kann man sich (in Grenzen) gewöhnen, wie ja auch unsere moderne Welt zeigt. Literatur Anscombe, G. E. M.: Absicht. Frankfurt a. M. 2011. Busch, Wilhelm: Die Bildergeschichten. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Band III: Spätwerk. Zweite, überarbeitete Auflage. Hannover 2007. Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M. 1980. Clastres, Pierre: Archäologie der Gewalt. Zürich/Berlin 2008. Grimm, Jakob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, unter: http:// woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernet zung&hitlist=&patternlist=&bookref=6,4910,7 (Stand: 2. 5. 2018). Duden: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Band 7. Mannheim/Wien/Zürich 1963. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Band 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M. 1976. Hasse, Jürgen: Was Räume mit uns machen und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Freiburg/München 2014. Jensen, Derrick: Endgame. Zivilisation als Problem. München 2008. Jensen, Derrick: Das Öko-Manifest. Wie nur 50 Menschen das System zu Fallbringen und unsere Welt retten können. Endgame II. München 2009. Keppler, Angela: Über einige Formen der medialen Wahrnehmung von Gewalt, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt (KZfSS, Sonderheft 37). 1997, S. 380–400. Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1986. Kühl, Stefan: Ganz normale Organisationen. Frankfurt a. M. 2014.
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Michael Uzarewicz
Lakoff, George/Johnson, Mark: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg 2014. Lenk, Elisabeth: Eine erotische Groteske, in: Guillaume Apollinaire: Die elftausend Ruten. München 1985, S. VII–XXXIV. Lenk, Elisabeth: Der Schwarze Peter der Gewalt, in: Der Pfahl. Niemandsland zwischen Kunst und Wissenschaft I, München 1987, S. 37–44. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bände. Frankfurt a. M. 1998. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1921. Reemtsma, Jan Philipp: Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 15. Jahrgang, Oktober/November 2006, S. 2–25. Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg 2008. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Band II.1: Der Leib. Bonn 1998. Schmitz, Hermann: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Freiburg/ München 2016. Schmitz, Hermann: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017. Simon, Jonathan: Gewalt, Rache und Risiko. Die Todesstrafe im neoliberalen Staat, in: Trotha, Trutz von (Hrsg.): Soziologie der Gewalt (KZfSS, Sonderheft 37). 1997, S. 279–301. Taleb, Nassim Nicholas: Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München 2010. Uzarewicz, Michael: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen. Stuttgart 2011. Zehetner, Ludwig: Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern. Regensburg 2005.
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Jürgen Hasse
Irritation im Natur-Erleben. Zur Option des Wach-Werdens auf dem Grat Erster und Zweiter Natur Abstract: Der Beitrag setzt sich mit zivilisationshistorisch begründeten Spannungen zwischen Erster und Zweiter Natur auseinander und geht dabei der Frage nach, unter welchen Bedingungen Irritationen ein Wachwerden in entfremdeten Natur-Verhältnissen vermitteln können. An Beispielen des Wind- und Sturmerlebens sowie des Essens und Trinkens werden infra-gewöhnliche Situationen des Mensch-NaturMetabolismus darauf hin diskutiert, wo sich in ihnen Schnittstellen einer Bewusstwerdung verbergen, die über das leibliche Spüren das ethische Denken evozieren könnten. Dabei wird vorausgesetzt, dass das »Wachwerden« in selbstverständlichen Natur-Beziehungen sich auf einer ›Schwelle‹ der Irritation ereignet und sodann das Zur-SpracheKommen des Subjekts zu bewirken vermag. Die An- und Aussprache gilt als Voraussetzung einer Forcierung kritischer (und nicht affirmativer) politischer Diskurse. Keywords: Winderleben, Ernährung, Erste und Zweite Natur
Die Menschen spätmoderner, postindustrieller Gesellschaften leben in ambivalenten Natur-Beziehungen – in einem mythischen Spannungsfeld zwischen klimabedingten Weltuntergangsszenarien zum einen und romantizistischen Naturverklärungen zum anderen. Zivilisationshistorisch ist die erste Natur zu einer zweiten geworden und damit zu einer Sache rationaler Beherrschung wie hochtechnologischer Verfügung. Neben einem komplexen System von symbolischen Ordnungen zeigt sie sich – qua Anwendung von Wissenschaft und Technik – in einem ›zweiten‹ Gesicht von Landschaften, in deren Ästhetik Natur und Kultur auf unauflösliche Weise in- und übereinander liegen. Zweite Natur ist dem Menschen durch sein Zur-Welt-Kommen in ihr zu einer vermeintlich ersten geworden, an die allein er gewohnt ist. Wenn er 261 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Jürgen Hasse
schließlich den ›schönen‹ Garten sowie das ›gute‹ Haustier als Natur nicht nur ästhetisch betrachtet, sondern vor allem romantizistisch verklärt, so kommen darin lebensweltliche Deutungsformate zur Erscheinung, in denen sich etwas von der Macht der Verdrängung enttäuschter Wünsche und Sehnsüchte zeigt. Das Selbsterleben des Menschen ereignet sich indes zwischen erster und zweiter Natur, zwischen organischen wie biochemischen Natur-Prozessen zum einem und dem leiblichen Spüren des eigenen Selbst, einer Natur, die man selbst ist, zum anderen. Der (moderne) Mensch steht irreversibel zwischen erster und zweiter Natur; was er rein materiell ist und als lebendes Wesen sein kann, verdankt er oft technischen Implantaten. Was er als ›seine‹ Natur von sich zu spüren bekommt, ist somit zivilisatorisch gefiltert; oft genug sogar durch immersive pharmakologische Stoffe oder (auto-)suggestive Kulturtechniken erst hervorgerufen. Schon lange ist der Mensch in seiner materiellen Körperlichkeit – in dem, was ihn als äußere Natur ausmacht – zu einem Objekt der individuellen wie kollektiv-gesellschaftlichen Verfügung geworden, und damit zugleich zum dispositiven Medium biopolitischer Transformation. 1.
Spannungsreiche Naturverhältnisse
Die Menschen stehen in spätmodernen High-Tech-Gesellschaften in einem mehrfachen Spannungsverhältnis zur Natur – zum einen zwischen erster und zweiter und zum anderen zwischen einer äußeren Natur und einer, die sie am eigenen Leib als etwas von sich selbst erleben. Indem der Mensch anthropologisch zur Entfremdung von seiner eigenen sowie der ihn umgebenden äußeren Natur bestimmt ist, es also zu seiner Naturhaftigkeit gehört, sich als Natur gestaltendes Wesen zur Welt zu stellen, befindet er sich in einer widersprüchlichen Situation, und zwar in Relation zur natura naturata (der gestalteten Natur der Berge, Täler, Meere, Tiere und Pflanzen etc.) sowie der natura naturans (der gestaltenden Natur der Kräfte, Ströme, Energieflüsse und sich entfaltenden Entwicklungspotentiale). Die zur ersten Natur des Menschen gehörende Fähigkeit zur Kultur ermächtigt ihn (rein 262 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation im Natur-Erleben
praktisch und vor jeder ethischen Legitimationspflicht) zur Transformation und damit zur Kreation von Strukturen zweiter Natur (von der Gestalt gesellschaftlicher Institutionen bis zur Schaffung technischer Artefakte). Es ist Ausdruck der Beziehung des Menschen zu sich selbst, dass ihm das, was er zivilisationshistorisch aus seiner ihn umgebenden ersten Natur wie aus sich selbst gemacht hat, im Fokus der Lebenswelt oft nicht als etwas Gemachtes bewusst ist. Es ist Ziel dieses Beitrages, das Selbstbewusstsein des Menschen in der Natur zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Dazu muss zwischen erster und zweiter sowie zwischen äußerer Natur und der, die der Mensch selbst ist, unterschieden werden. Erste Natur Erste Natur hat zunächst kosmologischen Charakter. Sie drückt sich im Spektrum dessen aus, was evolutionäre Prozesse von sich aus hervorgebracht haben und dank ihrer Potentialität fortan hervorbringen werden – Himmel und Erde, Meere und Gebirge, Tiere und Pflanzen. Arnold Gehlen spricht auch von einer rohen, unbelebten Natur »erster Hand«. 1 Das ist die Natur der Wolken und Winde, der aufbrechenden und feuerspeienden Böden. Der Mensch ist nach Gehlen von Natur aus gleichsam gezwungen, zu sich wie zu seiner Welt Stellung zu nehmen. Dabei macht es einen allein sekundären Unterschied, ob er sich »als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen«. 2 Als zoologisches Sonderwesen hebt sich der Mensch als der »erste Freigelassene der Schöpfung« 3 von den (anderen) Tieren ab. Indem er aber Produkt der ersten
1
Vgl. Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (zuerst 1957). Frankfurt a. M. 2007, S. 22. 2 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (zuerst 1940). Wiesbaden 1986, S. 9. 3 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Band 1, Hrsg. von Heinz Stolpe). Berlin und Weimar 1965, S. 143.
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Jürgen Hasse
Natur ist, bleibt diese in der Spannung zur zweiten fortan in ihm lebendig. Zweite Natur Solange der Mensch auf der Erde wirkt, unterwirft er sie seinem Wollen und Tun – und schafft auf diese Weise zweite Natur. Zweite Natur gründet mit Gehlen in den Institutionen, mit denen der Mensch (seine) archaische Natur zivilisiert und beherrscht. Sie umfasst aber auch das qua Technik aus Natur Hervorgebrachte (vom einfachen Beton, den schon die Römer kannten, bis zum High-Tech-Atommeiler des 21. Jahrhunderts). Zweite Natur wird der Mensch aber auch selbst, indem er sein zivilisatorisches Programm aus der kreativen (und zerstörerischen) Umgestaltung erster Natur kulturell erfüllt, also nicht in den Fesseln erster Natur agiert wie ein Tier. Zweite Natur drückt sich schon in der Kleidung aus, die ihn gegenüber den ›Zumutungen‹ von Klima und Wetter schützt. Sie kommt nicht erst in der gewaltsamen Zurichtung zoologischer Arten zu nahrungsmittelindustriellen Rohstoffen oder – als Folge eines nicht-intendierten Nebeneffekts im Gebrauch gasemittierender Maschinen – in der Veränderung des Erdklimas zur Geltung. Kraft seiner naturgegebenen Vermögen sprengt der Mensch die deterministischen Fesseln, die das Leben von Tier und Pflanze auf nicht wählbare Entwicklungspfade noch fixieren. Was er zum Gegenstand seiner (technischen) Intervention macht, verbleibt jedoch auf einem Grat zwischen erster und zweiter Natur; Genmais wird nie ganz etwas Synthetisches, das Masthuhn nie nur nahrungsmittelindustrieller Rohstoff. Hybridisierungen werfen ästhetische wie ethische Schatten auf das gesellschaftlich organisierte Verhältnis des Menschen zu dem, was er mit Natur gemacht hat. Es entstehen Bilder – im Sinne verschwommener Wasserzeichen –, in denen das Utopische mit dem Dystopischen im Widerstreit liegt. Zur zweiten Natur gehören auf dem Niveau emotionaler wie symbolischer Bewältigung seiner Entfremdung von den Gesetzen erster Natur all jene romantizistisch wie ökologistisch 264 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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verklärenden Wunschbilder einer ›guten‹ Natur, die unerwünschte Stoff- wie Prozesszustände von Natur kulturell kompensiert. Religion, Politik, Kunst und Massenmedien sind die Produzenten bzw. Lieferanten imaginativer Bausteine, die zweierlei leisten: erstens bahnen sie praktische Wege der Revision problematisch erscheinender Naturverhältnisse, und zweitens kommen sie der Konstruktion ideologischer Blasen ›rettender‹ Phantasiewelten entgegen. Der Begriff der zweiten Natur ist eine Schablone der Kritik, in deren Licht jeder naive Regress auf eine erste Natur ins Leere läuft und jede romantische Illusion verpufft. »Der Fortgang der Reflexion auf zweite Natur scheint einen ahistorischen Begriff von ›erster Natur‹ ebenso zu verbieten wie einen Begriff von Subjektivität bzw. Kultur, der die naturhaften Momente in Subjekt und Gesellschaft vergißt.« 4 Äußere Natur Äußere Natur umfasst auf der Seite der natura naturata die Körper-Dinge und Gestalten der Berge und Meere, Täler und Wiesen, Tiere und Pflanzen und auf der Seite der natura naturans die physikalischen Stoff- und Energieumsätze. Äußere Natur ist aus der Perspektive gesellschaftlicher Interessen jene tendenziell unermessliche Vielfalt konkreter Dinge und Stoffe wie abstrakter Ressourcen, die die Nutzung des Menschen im Rahmen der von ihm geschaffenen ›Gestelle‹ im Sinne von Heidegger immer wieder herausfordern. Daher gehört auch der Mensch in seiner materiellen und organischen Körperlichkeit zur äußeren Natur. In ihr überlagern sich erste und zweite Natur, weil es sie in kosmologischer und vom Menschen nicht transformierter Form (Sonnenenergie, Vulkanismus, Wind etc.) ebenso gibt wie in Gestalt technischer Erfindungen zur Aneignung von Stoffen wie Kräften der Natur. 4
Norbert Rath: Natur, zweite, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6, Sp. 484–494, hier 493. Basel/Stuttgart 1984.
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Natur, die der Mensch selbst ist Wenn in der Unterscheidung zur äußeren Natur auch der Begriff einer ›inneren‹ Natur naheliegend ist, so suggeriert dieser ein räumliches Innen, das es jedoch im engeren Sinne nur in einem körperlichen, also voluminösen Gegenstand und nicht als ein befindliches ›Innen‹ gibt, von dem hier die Rede sein soll. Auch Gernot Böhme spricht nicht von ›innerer‹ Natur, sondern von einer Natur des eigenen Selbst-Seins als die »Weise, wie ich mich befinde« und in der ich mir bewusst werde, »in welcher Umgebung ich mich befinde.« 5 Dieses Bewusstsein eines sich spürenden Selbst ist infolge der faktischen wie eindrücklichen Macht äußerer Natur »unsicher geworden«. So taumelt der Mensch »zwischen Hybris und dem Gefühl der Ohnmacht und driftet in den pragmatischen Lösungen einer Natur- und Umweltpolitik einem unbekannten Ziel zu.« 6 Normativ argumentiert Böhme deshalb: »Die Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur wird nur dadurch zu beantworten sein, daß der Mensch wieder Stand gewinnt und damit zugleich entscheidet, was er ist und sein will.« 7 Damit stellt sich die Aufgabe der Selbstgewahrwerdung einer Natur, die der Mensch selbst ist, die man an sich »selbst erfahren und kennen« 8 kann. Natur, die der Mensch in seinem So-Sein erleben kann (im leiblichen Schmerz wie im körperlichen Anstehen gegen einen starken Wind) vermittelt ein Bewusstsein des gesellschaftlich organisierten Wechselspiels zwischen erster und zweiter Natur; im Schmerz drückt sich erste Natur aus, in der Verwendung schmerzlindernder Pharmazeutika zweite, ein wehender Wind (und mehr noch die Böe eines Orkans) steht für erste Natur, der Mantel sowie die windschützende Architektur für zweite. Nach dem Prinzip 5
Gernot Böhme: Natürlich Natur. Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1991, S. 84. 6 Gernot Böhme: Die Stellung des Menschen in der Natur (Stellung), in: Günter Altner/Gernot Böhme/Heinrich Ott (Hrsg.): Natur erkennen und anerkennen. Kusterdingen 2000, S. 11–29, hier S. 22. 7 Böhme, Stellung, S. 23. 8 Böhme, Stellung, S. 25.
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des Prometheus eignet sich der Mensch Natur an. Nach dem Prinzip des Dionysos lebt sie unter anderem in ihm fort; er kann die Natur, die er selbst ist, nie ganz unter die Kontrolle und Herrschaft äußerer Setzungen und Ordnungen fügen. Deshalb ist die leiblich spürbare Natur, die der Mensch selbst ist, auch weder etwas ›Gutes‹ noch etwas Unverfügbares oder rein Ursprüngliches, das im Prozess der Zivilisation unverstellt beharrt hätte. Menschliche Naturhaftigkeit ist nichts »fraglos Gegebenes […]. Ihr Begriff ist hier lediglich die Anzeige für ein Problem, also ein Fragezeichen, das Zeichen für eine Frage, die in das offene Geschehen des menschlichen In-der-Welt-seins hineinfragt.« 9 Ihre Bewusstmachung evoziert die Arbeit an jener von Böhme aufgeworfenen Aufgabe, zu bedenken und schließlich zu entscheiden, was und wie der Mensch sein will. Die sich im spätmodernen Zivilisationsprozess verschärfenden Spannungen innerhalb pluraler Naturverhältnisse führen angesichts global kenternder Ökosysteme und einer sich strukturell verschärfenden Apathie und Anästhesie gegenüber sinnlich erscheinender Natur zu einer doppelten Natur-Entfremdung. Unter deren Einfluss verliert sich auch das leibliche Bedrohungspotential eines Sturmes in einem ›Gestell‹ Sicherheit suggerierender Besorgungen; so manche Naturekstase rückt affektiv auf Distanz, weil das Bedrohliche an ihr zivilisatorisch ins Abstrakte transformiert wurde. Die Technikgeschichte illustriert die qualitativen Veränderungen in den Beziehungen der Menschen zur Natur anschaulich. Die Erfindung des Blitzableiters Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt, dass das Gewitter infolge einer technischen Erfindung gleichsam schlagartig nicht nur sein Grauen verloren hat, sondern sogar zu einem ästhetisch-erhabenen Milieu des Genusses werden konnte. Bereits der Begriff des ›Blitzableitzers‹ trägt die Signatur einer Naturentfremdung, abstrahiert der ›Blitz‹-Begriff doch schon von der Situation eines eigenartigen Wetters, dessen aufzuckende Gewitterblitze in der christlichen Mythologie noch als Ausdruck des 9
Ute Guzzoni: Über Natur. Freiburg/München 1995, S. 240 f.
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Zornes Gottes gedeutet wurden und in der griechischen Mythologie als warnende Gesten des Zeus oder des Jupiter galten. Zu den untergegangenen Wörtern gehört deshalb auch das des ›Wetterableiters‹. 10 Im Unterschied zum später gebräuchlichen Terminus ›Blitzableiter‹ gab der alte Begriff noch zu erkennen, dass der Blitz nicht als etwas Einzelnes bzw. Vereinzeltes, sondern als Ausdruck der Ganzheitlichkeit eines Wetters empfunden wurde. Wenn uns Natur in der Gegenwart auch entmythologisiert und sachlich nüchtern erscheinen mag und es zumindest in der postmodernen (sogenannt post-) industriegesellschaftlichen Welt vor-technifizierte Natur-Verhältnisse nicht mehr zu geben scheint, die die über viele Jahrhunderte gewachsenen Fortschritte in der Gestaltung des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens nicht preisgeben würden, so stellt sich auf dem aktuellen Stand der Zivilisationsgeschichte die Frage nach dem möglichen Nutzen einer Resensibilisierung und Realphabetisierung der menschlichen Wahrnehmung von Situationen erscheinender Natur. Anhand von zwei Beispielen sollen grundlegende Spannungen zwischen erster und zweiter Natur illustriert werden, die sich in besonderer Weise im spätmodernen urbanen Leben zeigen – in den Zentren der Abstraktion, der Beschleunigung sowie der Isolation gegenüber den leiblichen Kontaktzonen des Erlebens erster Natur –, dem Wehen von Wind und Sturm sowie den Praktiken des tagtäglichen Essens und Trinkens. 2.
Selbstgewahrwerdung in der Natur
Insbesondere in den urbanen Agglomerationen spitzen sich die Paradoxien im Mensch-Natur-Verhältnis zu. Vor dem Hintergrund einer Welt technisch reproduzierter Artefakte erweist sich das industriell Gemachte als erster Stoff der Bildung gesellschaftlich tragender Bedeutsamkeit. Dabei erscheint die Beheimatung im Milieu einer zweiten Natur nicht als (sozialpathologischer) 10
Nabil Osman: Kleines Lexikon untergegangener Wörter. München 1971, S. 231.
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Ausdruck zivilisationshistorisch bedingter Entfremdung, sondern als Wunsch erster Wahl. Während diskursive Praktiken fortan abstrakte Natur-Begriffe für den politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und philosophischen Gebrauch produzieren, variieren und verdichten, verschärft sich die Herausforderung der Selbstgewahrwerdung der Menschen in ihrer ersten Natur. Dabei versteht es sich von selbst, dass damit kein ›unschuldiges‹ Wachwerden in einer ›guten Natur‹ einhergeht; der Schatten der Zivilisations- und Technikgeschichte lässt sich nicht einfach abstreifen. Vielmehr stellt sich die Aufgabe einer schrittweisen Resensibilisierung eines bewussten Wahrnehmen-Könnens durch die leibliche Berührung von Naturprozessen einer äußeren wie inneren Natur – oder konkret: eines bewussten Vernehmen-Könnens von Wind und Sturm als einer das eigene Selbst ergreifenden Macht bzw. als Resonanzmedium des Selbst- und Welterlebens. Resensibilisierung impliziert das Programm einer Realphabetisierung, denn nur wo das Erlebte auch expressis verbis expliziert werden kann, erweitert es Möglichkeiten einer Kritik des MenschNatur-Metabolismus und kann die Reflexion über bewusst gewollte Beziehungen zur ersten und zweiten zum einen wie zur äußeren und leiblich erfahrbaren eigenen Natur zum anderen vermitteln. Vorausgesetzt ist dabei, dass ein erhöhtes Maß an Bewusstsein einer an Kontaktzonen erscheinenden Natur zur Erhöhung des Niveaus möglicher Kritik historisch entwickelter Natur-Beziehungen führt. Wer mehr empfinden kann, vermag auch mehr (noch in einem mehrdimensionalen Sinne) zu denken und durch dieses die (politischen) Diskurse zu bereichern. Eine Schärfung des Bewusstseins (im pathischen wie im gnostischen Sinne) kann sich aber nicht im Fluss des lebensweltlich Gewohnten ereignen; sie setzt vielmehr die (plötzliche) Eindrucksmacht der Irritation voraus. Die in den folgenden beiden Kapiteln umrissenen Schnittstellen zwischen situativem Erscheinen von Natur und deren leiblichem Erleben zeigen beispielhaft Spielräume einer Erweiterung des über Mensch-Natur-Verhältnisse Denkbaren auf.
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2.1 Das Wehen von Wind und Sturm Wetter-Situationen des wehenden Windes sind allgegenwärtig. In ihrer Infra-Normalität schirmen sie sich im Allgemeinen jedoch gegenüber einer Thematisierung pathischer Momente des Winderlebens ab. Zu einem (›sachlichen‹) Thema werden Wind und Sturm, wenn sie ›auffällig‹ werden und ökonomische Interessen oder Ansprüche ›guten‹ Lebens beeinträchtigen: wenn die vom Dach fallenden Pfannen den Versicherungsfall begründen, der Sturz der Sonnenschirme dem Aufenthalt im sommerlichen Biergarten ein Ende setzt oder das Schiff auf hoher See zu scheitern droht und mit ihm die schon verkaufte Ladung die eigentliche Not einer nahenden ›Katastrophe‹ symbolisiert. 11 All diese Anlässe fordern das rationale Handeln heraus. Aber wir empfinden den Wind – sein laues und schwaches Wehen anders als sein schneidend kaltes und stürmisches Reißen – auch sinnlich und bekommen ihn leiblich zu spüren. Indes stellen sich in spätmodernen, wissenschaftlich ›aufgeklärten‹ Zeiten im Allgemeinen schon deshalb keine Aufgaben leiblich bewussten Erlebens von Atmosphären des Windes, weil diese in zeitgemäßen Wettervorhersagen nach abstrakten Kategorien technisch genormter Geschwindigkeitsangaben (km/h) zum Verschwinden gebracht worden sind. Solche Normierungen verdanken sich der Übertragung naturwissenschaftlicher Messgrößen auf das tägliche Leben. 12 Eine Brücke zum (pathischen) Verstehen spürbaren Windes leisten normierte Beschreibungen indes nicht. Bestenfalls in einem abstrakten Sinne assoziieren wir mit der Ansage einer Windgeschwindigkeit von 140 km/h katastrophische Ereignisse, weil wir gelernt haben, dass so bezeichnete Orkane oft ein schlimmes Ende nehmen. Diesem aktuellen System waren die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Sir Francis Beaufort entwickelten Windgeschwin-
11
Vgl. Jürgen Hasse: Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert. Freiburg/München 2016. 12 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III.5: Die Wahrnehmung (Wahrnehmung). Bonn 1989, S. 104.
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digkeits-Skalen weit überlegen. Sie strebten in ihren differenzierten Varianten leiblich nachvollziehbare Beschreibungen der Intensivität des Windes an. Dabei war stets vorausgesetzt, dass man den Wind nicht selbst, sondern nur am Erscheinen von ›etwas‹ beschreiben konnte. Während die moderne km/h-Taxonomie auf nichts als ein ›technisches‹ Tempo verweist, war die BeaufortSkala nach phänomenologischen Kriterien aufgebaut und kam so dem nach-fühlenden Verstehen entgegen. 13 Auch die Windstille bezeichnete man einst nicht mit 0 km/h, sondern als eine aktuelle Situation des Wetters, »in der kein Blättchen an den Bäumen sich bewegte«. Und man wusste – oder ahnte – aus Erfahrung: »je länger die Windstille dauert, je stärker wütet der auf sie folgende Sturm« 14. Das Wissen um den plötzlichen Einbruch der Gefahr und damit die existenzielle Bedrohung eines leiblich und körperlich angreifenden Wetters besorgte in gewisser Weise diese so akribische Benennung von Zeichen, welche einem bedrohlichen Ereignis vorausgingen. Der phänomenologische Blick auf den wehenden Wind lässt dessen Lebendigkeit plastisch hervortreten – eine Lebendigkeit, wie man sie sonst nur bei lebenden Naturwesen kennt. 15 Die Metaphern, Synästhesien und Allegorien lassen erkennen, wie der Mensch in seinem sinnlichen Erleben mit der Dynamik der äußeren Natur verbunden ist. Bei der Unberechenbarkeit der Winde war es kein Wunder, dass die Seeleute in ihnen etwas Geisterhaftes sahen, so dass die Windstille im Sinne einer beseelten Vorstellung
13
Die Skalen machten einen Unterschied zwischen Wind-Situationen auf See und an Land. Danach war ein stürmischer Wind der Stärke 8 auf See an »ziemlich hohen Wellenbergen« zu erkennen, »deren Köpfe verweht werden« und die »überall Schaumstreifen« haben. An Land werden bei derselben Geschwindigkeit »große Bäume […] bewegt, Fensterläden […] geöffnet, Zweige brechen von Bäumen« und beim Gehen müssen erhebliche Behinderungen erwartet werden; N.N.: Beaufortskala, unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Beaufortskala (Stand: 26. 07. 2017). 14 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Band 30 (Wörterbuch). München 1991, Sp. 326. 15 Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 232. So wurde der Wind als »belebtes, handelndes Wesen« empfunden.
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als eine Beratung der Winde verstanden wurde. 16 Insgesamt verdichteten sich bei den Seefahrern in der metaphorischen Rede die allegorischen Bezüge zum Wetter, hing ihr Leben doch oft genug vom Ausgang einer Ekstase des Wetters ab. Wütender Sturm und völlige Windstille verstand man so auch als Annäherungen an den Tod; deshalb mussten solche Wetter auch als leiblich spürbare Not erfahrbar gemacht werden. In der Rede von den ›herrschenden‹ Winden schwingt zum Beispiel die Idee eines Windherrschers mit, 17 der als vogelartiges Luftwesen sogar Flügel hatte. 18 Auch in alten Märchen ›lebte‹ der Wind – etwa als ›himmlisches Kind‹. In der Malerei muss das Wetter in gestaltreichen Bildern als Spiegel göttlicher Emotionen 19 gedeutet werden, aber auch – ganz gottlos – als Ergebnis der Unwetterkocherei von Hexen. 20 Das Wetter bietet sich in allen seinen Ekstasen – von gähnender Ruhe bis zur katastrophischen Umwälzung der Elemente – als allegorisches Milieu moralphilosophischer Begriffe 21 an. Diese und viele andere synästhetischen und metaphorischen Bedeutungen des Windes zeigen noch im täglichen Erleben der Gegenwart eine gewisse Berechtigung. Wie die Luft, so ist auch der Wind unsichtbar. Indem er aber spürbar ist, kann er auch am eigenen Selbst – als leibliche ›Ansprache‹ – empfunden werden. Vor allem deshalb hat er sich für die metaphorisierende Rede und die Bildung von Synästhesien und Allegorien angeboten. Der Wind umgreift und umfließt in einem umhüllenden Sinne den eigenen Körper. Im Sturm verändert sich die leibliche Präsenz bewegter Luft, indem sie als eine mächtige, unsichtbare Kraft ergreift und angreift. Trifft sie von vorne auf den eigenen Körper, so vermag sich dieser dem andrängenden Druck entgegenzustellen. Kommt er von hinten, ist die leibliche Kommunikation in weit größerem Maße gefordert, muss das Gewicht des Körpers – im 16
Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 233. Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 235. 18 Vgl. Grimm/Grimm, Wörterbuch, Sp. 235. 19 Christina Storch: Wetter, Wolken und Affekte. Die Atmosphäre in der Malerei der frühen Neuzeit (Wetter). Berlin 2015, S. 149. 20 Storch, Wetter, S. 147. 21 Storch, Wetter, S. 208. 17
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Bewusstsein erhöhten Sturzrisikos – doch nun rückwärts ›in‹ eine imaginäre Kraft gleichsam ›hineinfallen‹. Dabei darf der aufgebotene Druck der sich widersetzenden Energie des Sturms nur genau so viel Eigen-Gewicht entgegensetzen, wie erforderlich ist, um das fragile Gleichgewicht zu sichern. Dies ist aber in jedem Moment bedroht, denn zur wehenden Natur des Windes gehört seine unvorhersehbare Dynamik und Rhythmik, wonach der Druck in einem Moment noch stärker wird, im nächsten aber schon wieder abflaut. Das Gleichgewicht zwischen andrängender Kraft des Sturmes und aufgebrachtem Gegengewicht durch Schrägstellung des eigenen Körpers muss immer wieder neu austariert werden. Wenn ein Sturm dagegen von der Seite andrängt, ist der leiblich spürende Ausgleich schwerer zu vollziehen. Eine Stellungskorrektur zu den Seiten führt in aller Regel dazu, dass die Balance prekär wird. Kaum deutlicher könnte die Lebendigkeit des Windes in wechselnden Gesichtern der natura naturans am eigenen Selbst spürbar werden – in der Mitte einer artifiziellen urbanen Welt, einem Milieu der Abstraktionen, das in den Städten viel wirkmächtiger ist als in zentrumsfernen ländlichen Gegenden. Die peitschende Dynamik stürmisch-turbulenten Wehens überträgt sich auf das leibliche Befinden. Schon darin wird das aktuelle wie zuständliche Mit-Sein in der Natur als etwas Irritierendes im Medium des Plötzlichen denkwürdig – jedoch nur dem, der sich dem Reißen eines Sturmes leiblich und körperlich tatsächlich auch aussetzt und nicht die kommode Aussicht aus sturmfesten und beheizten Räumen vorzieht, um sich aus sicherer Distanz im Genuss des Erhabenen am Spektakel der Ekstase zu laben. Die Windnatur galt Hildegard von Bingen wegen ihrer Lebendigkeit als Metapher für die Dynamik der Welt. 22 Seit der Antike sind die Weltwinde »die kosmischen Kräfte und dynamischen Antriebe der Natur«. 23 Bei Plinius ist der Wind der »Atem, der das
22
Vgl. Gernot Böhme/Hartmut Böhme: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente (Feuer). München 1996, S. 217. 23 Böhme/Böhme, Feuer, S. 224 f.
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Universum hervorbringt«. 24 Er ist ein fundamental schöpferisches, aber auch zerstörerisches Element, »bösartig oder sogar dämonisch«. 25 Die stählernen Windkämme, die der spanisch-baskische Bildhauer Eduardo Chillida an der Küste von San Sebastian mit den Felsen fest verbunden hat, sind ›Hörmale‹ des Windes. Sie verdichten sein Rauschen, bringen es zu Gehör, 26 und ›konnotieren‹ in gewisser Weise das Gefühl des Umweht-Werdens. Indem der Künstler mit der Eindrucksmacht der irritierenden Verwirrung der Sinne spielt, transformiert er ein spürbares Wehen ins klanglich Hörbare. Das personhafte Erleben des Windes (seine ›Anthropomorphisierung‹) steht im Vordergrund einer Windbeschreibung von Paul Volz aus dem Jahre 1910: »Auch die Luft ist eine Art Zusammenfassung der unsinnlichen Sphäre; ihrem Wesen nach ist sie vor allem Element, Fluidum; sie tritt aber zuweilen ganz personhaft auf, der Wind kann klagen, heulen, brüllen, säuseln, oder er ist ein Kraftwesen, das stößt, trägt, aufregt, niederdrückt. Er wirkt stürmisch, explosiv, stoßweise eintretend, plötzlich aufhörend, immer vorhanden und immer wirkend, auch wenn man sein Wirken nicht spürt. Er ist das Geheimnis, denn man erfährt seinen Einfluß und sieht ihn doch nicht, weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht.« 27 Den Wind erleben wir nicht am eigenen Körper, sondern in einem leiblichen Sinne an Eindrücken, die sich vom Körper, der vom Wind getroffen oder berührt wird, auf das gefühlsmäßige Empfinden übertragen. Schmitz merkt dazu an: »Der Kampf mit Wind […] ist selbst eine intensive und rhythmische Konkurrenz von Spannung und Schwellung, engender und weitender Tendenz; bald ist die expansive, um Durchbrechen 24
Böhme/Böhme, Feuer, S. 236. Alessandro Nova: Das Buch des Windes. Das Unsichtbare sichtbar machen (Wind). München/Berlin 2007, S. 63. In einer Ästhetik des Erhabenen drückte sich diese Ambivalenz in den Seestücken aus, die seit dem 16./17. Jahrhundert in der Malerei auf das Meeres- und Wettergeschehen bezogen war. Darin spielte der Schiffbruch eine zentrale Rolle; vgl. Nova, Wind, S. 126 f. 26 Vgl. Nova, Wind, S. 157 ff. 27 Zitiert bei Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III.2: Der Gefühlsraum (Gefühlsraum). Bonn 1981, S. 272. 25
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bemühte, bald die hemmende, aufhaltende, sich gegen den Durchbruch behauptende Rolle auf der Seite des Betroffenen und dann wieder auf der Gegenseite der als energischer Angriff ihm begegnenden Macht.« 28 Vor dem Hintergrund sinnlich wahrnehmbar wie leiblich spürbar irritierender Wind- und Sturmberührungen weitet sich der Horizont des Denkbaren. Zum Nutzen der Phänomenologie in der Übung genauen Bemerkens, was um uns herum ist und geschieht, merkt Hermann Schmitz an: »Der Fortschritt besteht darin, immer genau zu merken, was merklich ist. Phänomenologie ist ein Lernprozess der Verfeinerung der Aufmerksamkeit und Verbreiterung des Horizonts für mögliche Annahmen.« 29 Vorausgesetzt ist hier, dass das Bewusst-Werden des spürenden Verwickelt-Seins in mitweltliches Geschehen der Reflexion erst noch bedarf. Als dessen Basis ist die Explikation von Atmosphären des Windes eine hilfreiche Lektion, denn: »Pure Unmittelbarkeit reicht zur ästhetischen Erfahrung nicht aus. Sie bedarf neben dem Unwillkürlichen auch Willkür, Konzentration des Bewußtseins; der Widerspruch ist nicht fortzuschaffen.« 30 Wenn Schmitz und Adorno auch wissenschaftstheoretische Antipoden sein mögen, so zeigt sich das Unbestreitbare doch gerade in dem, was beide Positionen verbindet: der Dringlichkeit der nachdenkenden Reflexion dessen, was sinnlich angreift. 2.2 Das tagtägliche Essen und Trinken Neben dem Winderleben hält das tagtägliche Essen und Trinken Potentiale der Irritation bereit – wenn auch nicht auf den ersten Blick. Der kulinarische Genuss repräsentiert geradezu das Andere dessen, was sich der Kritik aufdrängt; er dürfte sogar als ein vom 28
Schmitz, Wahrnehmung, S. 106. Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/ München 2009, S. 14. 30 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7. Frankfurt a. M., S. 109. 29
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kritischen Denken am weitesten entfernter Punkt angesehen werden. Wer es sich schmecken lässt, geht ganz im Milieu der Sinne und nicht der Intelligibilität des Geistes auf. So verbindet sich mit dem Essen und Trinken meistens sogar eine gewisse (temporär begrenzte) Selbstanästhesie des Denkens – dies aber nur so lange, wie nicht irritiert, was und wie wir essen. Und so stellt sich die Aufgabe der Reflexion als Bedenken der Bedingungen des ZurWelt-Kommens des Menschen in seiner Zeit im Medium eines mit Bedeutungen geladenen Spürens. Angesichts einer immens expandierenden Massentierhaltungsindustrie stellt sich die Beziehung zum Tier als großes existenzielles Thema dar; dies weniger in abstrakter, anonymer und systemischer Weise, denn in Gestalt persönlicher, höchst individuell gelebter Beziehungen zum Tier als Lebens- und Sterbensgefährten. Allgemeiner gesagt: Aus der Praxis der beinahe restlosen Unterwerfung des ökonomisch verwertbar gemachten Tieres unter die menschlichen Begehrnisse reklamiert sich die Problematisierung einer ethisch bedenklichen Schnittstelle im Mensch-Natur-Metabolismus. Die einfache und zugleich radikale Frage lautet, was der Mensch in seinem So-Leben den Tieren als Lebensgefährten schuldet. Auch in der Reflexion dieser Frage klärt sich, wie der Mensch in und mit der Natur leben will. Schon in ihrer ethischen Dimension ist die Frage in einem vielschichtigen Sinne politisch. Dieses Potential steigert sich noch einmal angesichts der Abhängigkeit der alltäglichen (individuellen) Ernährung von den Lagerbeständen einer globalen Tierverwertungs-Ökonomie, die eher zum Schein als in der Sache nachhaltig reguliert ist. Praktisch ist das konsumierbar gemachte Tier nichts als eine Ware und ein produktionstechnischer Rohstoff. Ihrer ethisch ungebremsten Genießbarkeit wegen müssen Rinder, Schweine und Geflügel um ihren Leib gebracht werden, bevor sie ihr Leben verlieren. Erst nach ihrer ethischen Transformation können sie auf ihre fleischerne Stofflichkeit reduziert werden. Im Wege der Reflexion alltäglicher Praktiken des Essens und Trinkens werden die kulinarischen Schattenseiten auf irritierende, alle Gewohnheiten aporetisch zerbrechende Weise bewusst. In der Ernährung werden Körper und Leib, äußere Natur und die, die der Mensch selbst ist, auf der 276 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation im Natur-Erleben
Schnittstelle verschiedener Naturen und Naturverhältnisse denkwürdig. Als Prophylaxe gegen den Ekel vor den industriellen Praktiken im Umgang mit dem Tier muss die Rolle des Hautieres gesehen werden, fungiert es doch als romantizistischer Filter gegen das mögliche Begreifen ästhetisierender wie anästhesierender Sichtund Denkblenden. In der Vereitelung systembedrohender Irritationen ist es ein unverzichtbares Medium des kollektiven Selbstbetrugs und erweist sich als Sedativum emotionaler Selbstanästhesie. Hund und Katze können die Verwerfungen aber nur symbolisch glätten, die von der Maßlosigkeit der gewaltsamen Aneignung der Tiere durch den Menschen ausgehen. Zu einem lebensphilosophischen Thema der Kulturkritik werden dabei nicht allein Politik und Industrie in ihren gemeinsamen Methoden der Produktion des Essbaren wie der Duldung des Widerwärtigsten im Umgang mit dem Tier. In besonderer Weise thematisiert sich die Kolonisierung unserer Affekte und Wahrnehmungen, die dafür sorgt, dass wir zwischen uns und den Tieren eine bemerkenswerte Grenze ziehen, welche ihrerseits als Irritations-Prophylaxe verstanden werden kann. Dazu gehört ein ausgefeiltes System der Emotionalisierung vor allem frei lebender Wildtiere – vom ›hegenden‹ Schutz der Jäger einmal abgesehen. Maulwurf, Fuchs und Wolf spielen gerade in der Ambivalenz ihrer Bedeutungen eine paradigmatische Rolle der Entsorgung. Was wir nicht essen (aus welchen Gründen auch immer), bietet sich in idealer Weise für die Abwälzung von Schuldgefühlen, aber auch für die Legitimation von ›Selbsterhaltungs‹-Interessen an. Vielleicht ist der Wal allein deshalb (phänomenologisch) als ›Fisch‹ vergessen und als Säugetier und emotionaler StreichelPartner ent-deckt worden. Wie sich der Mensch in seinem kulturellen Verhältnis zum Tier (national wie regional aber auch soziokulturell) situiert, markiert letztlich eine Grenzsituation im Sinne von Karl Jaspers. 31 31
Vgl. zum Thema auch Jürgen Hasse: Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung. Für eine Alphabetisierung sinnlicher Wahrnehmung und eine Kritik der Ökonomie, in: Irene Antoni-Komar et al. (Hrsg.): Ernährung, Kultur, Lebens-
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Jürgen Hasse
Die Art und Weise ihrer Bewältigung ist auch Ausdruck einer Kultur im Umgang mit dem eigenen Selbst. Dazu gehört die Frage, in welcher Weise sich die Menschen noch davon erschrecken lassen, was sie tun und wie sie sind. 3.
Zur irritierenden Eindrucksmacht des Schrecks
Allen Eindrücken, die sich durch ein tendenziell plötzliches Aufmerken vom reibungslosen und erwartungsgemäßen Wahrnehmen abheben, eignet ein Moment der Unterbrechung. Solche Unterbrechungen stimmen die Aufmerksamkeit nach je eigenen Graden der Intensität. Im Unterschied zum Schreck, der wie ein Blitz in die Ordnung selbstverständlichen Verstehens – des Windes wie des tagtäglichen Essens – hineinfährt, werden weniger irritierende Eindrücke von einem Erstaunen oder Stutzen begleitet. Der Schreck führt zunächst nicht zu einer Schärfung der Aufmerksamkeit, eher zu einer Verwirrung von Bezugspunkten der Orientierung. Diese müssen in der Folge Schritt für Schritt rekoordiniert werden. Die meisten in ihrem Charakter ›aufweckenden‹ Eindrücke erscheinen in einem Gesicht des Plötzlichen. Dieses hat darin seine erkenntnistheoretische Funktion, dass es die Irritation vermittelt, welche – zumindest kurzfristig – das ordnende Nachdenken verlangt. Der Schreck gibt schon in seiner Urform (im biologischen und nicht erst anthropologischen Sinne) eine ›alarmierende‹ Warnung zu spüren, wenn er in ein Erstarrt- oder Gebannt-Sein mündet. Auch das Stutzen kommuniziert – wie das Erstaunen – ein Gebot der Steigerung der Aufmerksamkeit. Die so verschiedenen erkenntnistheoretischen Irritationsanzeiger folgen mit je situationsangepasster Intensität einer hinweisenden Logik: Hier stimmt etwas nicht! Dies ist immer dann der Fall, wenn sich die Routinen der Wahrnehmung verlangsamen und das Gewohnte nicht mehr als etwas schon Gewusstes, sondern als ein erst Klärungsbedürftiqualität (= Wirtschaftswissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung, Band 3). Marburg 2008, S. 239–262.
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Irritation im Natur-Erleben
ges erscheint. Was geschieht, wenn irritierende Eindrücke die Aufmerksamkeit verwirren? Oft sind es fremde oder exotische Eindrücke, die Fragen evozieren und damit die Neuorientierung mentaler Ordnungssysteme herausfordern. Die Notwendigkeit der Neuausrichtung der Orientierung betrifft dann nicht nur kognitive, sondern ebenso emotionale Wahrnehmungs- und Erwartungs-Muster. So sind es auch nicht in erster Linie kognitive ›Gedanken‹, die uns irritieren, wenn wir etwas spontan nicht mehr in gewohnter Weise verstehen können; vielmehr ergreifen in einem leiblichen Sinne affektiv fundierte Aufmerksamkeiten, die ein Nach-denken erst herausfordern. Gefühle – vor allem durch plötzliche Eindrücke vermittelte – lassen stutzen und zwingen zu einem Bedenken dessen, was sich in einer aktuellen Situation des Verstehens als brüchig erweist. In zahllos herausfordernden Eindrücken ist es aber nicht der Schreck, der die Irritation vermittelt, sondern ein erstauntes Stutzen. Das Erstaunen ist – weit über eine gewisse pädagogische Bedeutsamkeit hinaus – von erkenntnistheoretisch grundlegender Relevanz. Nach Heidegger durchherrscht es sogar »jeden Schritt der Philosophie« 32. Das sich in seinem Medium vermittelnde Denken verdankt sich in seiner Initiierung einer ambivalenten Stimmung von Abstandnahme und gleichzeitiger Anziehung: »Im Erstaunen halten wir uns an (être en arrêt). Wir treten gleichsam zurück vor dem Seienden – davor, daß es ist und so und nicht anders ist. Auch erschöpft sich das Erstaunen nicht in diesem Zurücktreten vor dem Sein des Seienden, sondern es ist, als dieses Zurücktreten und Ansichhalten, zugleich hingerissen zu dem und gleichsam gefesselt durch das, wovor es zurücktritt.« 33 Heidegger macht sogar den historischen Beginn der Philosophie bei den Griechen an der Grundstimmung des Ersten Anfangs fest, also am Moment des Erstaunens. 34 Das Erstaunen vermittelt sich 32
Martin Heidegger: Was ist das – Die Philosophie? (Philosophie). Pfullingen 1956, S. 39. 33 Heidegger, Philosophie, S. 40. 34 Vgl. Asuku Suehsia: Die Grundstimmung Japans. Ein Versuch mit Martin Heideggers Stimmungsphänomenologie (= Neue Studien zur Phänomenologie, Band 6) (Japan). Frankfurt a. M. et al. 2010, S. 118.
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Jürgen Hasse
schon deshalb durch die Eindrucksmacht des Plötzlichen, weil es »in die reine Anerkenntnis der Ungewöhnlichkeit des Gewöhnlichen« 35 mündet. Die aufmerkende Zuspitzung der Wahrnehmung angesichts der Not unzureichenden Wissens um das, was gerade ›ist‹, bezieht ihre Energie aus der Eindrucksmacht des Plötzlichen, das in einer milden Form schon im Sich-Wundern keimt. Während im Bewundern der Gegenstand des Bewunderns noch eine relativ distanzierte Sache der Aufmerksamkeit ist, wendet sich das Blatt im Staunen und Bestaunen, so dass das Subjekt ganz von der Ausstrahlungsmacht eines Erscheinenden gefangen wird. »Genau in diesem Sinne kann man von einem sich Unterstellen des Menschen im Staunen und Bestaunen sprechen«. 36 Im Unterschied zur ›nur‹ interessierten Hinwendung des Sich-Wundernden an einen Gegenstand des Wunderns konstituiert sich im Staunen eine Macht des Plötzlichen, die das Subjekt von einem Erscheinenden gebannt sein lässt. Der Schreck entfaltet, »indem er [] leiblich spürbar in die Glieder fährt und die orientierten Lebensbezüge augenblicklich abreißt« 37, im Medium des Plötzlichen seine ganze Intensität und lässt den Betroffenen zusammenfahren. Die beinahe im wörtlichen Sinne zu verstehende umwälzende Macht des Schrecks wird oft durch das Stutzen eingeleitet, tritt aber ebenso allein auf. Im Stutzen sieht Hermann Schmitz »eine dem Schreck zugeordnete Vorform des elementar-leiblichen Betroffenseins«, 38 das sich in einem mehr oder weniger angreifenden Gefühl leiblicher Engung ausdrückt. 39 »Schreck ist privative Engung des Leibes, die das Band intensiver und rhythmischer Konkurrenz leiblicher Engung und Weitung nach der Seite der Engung überdehnt, so daß die Spannung [] plötzlich aussetzt und die Enge des Leibes ruckartig abgespalten wird«. 40 Im privativen 35
Heidegger, zit. bei Suehsia, Japan, S. 122. Suehsia, Japan, S. 126. 37 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie (Erkenntnistheorie). Bonn 1994, S. 97. 38 Schmitz, Erkenntnistheorie, S. 99. 39 Vgl. Schmitz, Erkenntnistheorie, S. 121. 40 Schmitz, Wahrnehmung, S. 80. 36
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Irritation im Natur-Erleben
Charakter der Engung drückt sich in der eigenen spürbaren Gestalt leiblichen Empfindens jene von Heidegger angesprochene Abstandnahme aus, die zugleich durch eine Macht der Anziehung an ihren Gegenstand zurückgehalten wird. Indem in einem solchen Gefühl der Engung etwas Trennendes abgespalten wird, entsteht eine festhaltende Beziehung zum Getrennten. Es ist die Macht eines weg- und zugleich hinstrebenden Impulses, die die Aufmerksamkeit beim Gegenstand hält. Würde sie diesen indes verlieren, die Spaltung also radikal werden, verlöre der Schreck in seiner Engung seinen produktiven Einfluss auf die Sammlung aller Kräfte zur Differenzierung der Wahrnehmung wie des strukturierten Denkens. Er würde in gewisser Weise nutzlos. Die Neuausrichtung der Wahrnehmung für die Erfassung des noch nicht Vertrauten reklamiert zunächst ein zeitlich hinreichendes Maß der Dauer, um sich für die Rekonstitution der Bezugspunkte der Orientierung zu sammeln. Daher betont Hermann Schmitz: »Im Schreck ist vielmehr die Dauer ›weg‹, in der etwas lang oder kurz sein kann. Das Plötzliche, die primitive Gegenwart, offenbart auf diese Weise im Schreck besonders deutlich seinen verzehrenden, das Kontinuum (hier die gleitende Dauer) annullierenden Charakter.« 41 In der Dauer dieses Abrisses der Zeit öffnet sich ein Fenster aktueller und situativer Selbstbildung. Damit reklamiert sich keine ›Bildung‹ im bildungstheoretischen Sinne, sondern die (Heraus-)Bildung erkenntnistheoretischer Strukturen, die bei der Reetablierung eines sicheren Gefühls für die Ordnung der Dinge helfen können. In zahllosen neuen Eindrücken bildet die Irritation eine Brücke zur Anbahnung der Rückgewinnung lebensweltlicher Gewissheiten und damit der produktiven Ausfüllung von Leerstellen aktuellen Verstehens, mag es sich dabei um die Bewusstwerdung des eigenen Gleichgewichts im Wind handeln oder eine plötzlich spürbar werdende Distanz zum Gegessenen – nachdem dies etwa durch ein erinnertes Wissen in ein ethisches Zwielicht geraten ist.
41
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person (zuerst 1980). Bonn 1990, S. 284.
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Jürgen Hasse
Irritation wird in einem psychologischen Sinne als Ergebnis einer erhöhten Reizbarkeit (Irritabilität) durch Einwirkungen aus der Außenwelt verstanden. 42 Johann Friedrich Blumenbach 43 betrachtete Irritabilität noch in einem physiologischen Sinne als Bildungskraft und Moment der Lebenskraft. Erst bei Kant wurden ›organische Kräfte‹ in einem weiteren Verständnis aufgefasst, 44 in ihrer Bedeutung aber erst auf dem Hintergrund eines weniger biologistischen Menschenbildes zugunsten eines produktiven und kreativen Verständnisses der Menschwerdung geöffnet. Momente der Irritation kommen auch der Entfaltung kultureller Kräfte der Selbst-Bildung zugute. Vor allem das IrritiertWerden gelangt als Prozessphase der eigenen Selbst-Bildung in den Blick. Irritationen haben daher einen produktiven Einfluss auf den Verlauf von Wegen der Selbstkonstitution situativ bedrohter Selbstgewissheit. Es genügt aber nicht, sie allein aus der pathischen Perspektive leiblichen Bewegt-Werdens zu betrachten; auch das im Erscheinen von Etwas eindrücklich Werdende, das zur Irritation führt bzw. sie auslöst, verdient Beachtung. Seine Reflexion gibt erst darüber Auskunft, in welcher spezifischen Weise eine Person zu ihrem Herum in Beziehung steht, wenn die selbstverständliche Ordnung der Dinge – zumindest vorübergehend – brüchig wird. Irritation verdankt sich der Qualität einer Schnittstelle, auf der die Beziehung eines Individuums zu seinem Herum problematisch wird. Während der Problem-Begriff alltagsprachlich eher negativ besetzt ist, findet er im Rahmen der Neuen Phänomenologie in einem produktiv-konstruktiven Verständnis Beachtung. Was zu einem Problem im erkenntnistheoretischen Sinne wird, büßt seine Griffigkeit ein und wird als Gegenüber eines sich reklamie42
Vgl. Friedrich Kirchner/Carl Michaëlis (Begr.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1998, S. 562. 43 Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) war Begründer der empirischen Anthropologie; vgl. Dieter Hoffmann/Hubert Laitko/Steffan Müller-Wille (Hrsg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Band 1. Heidelberg/ Berlin 2003, S. 190 ff. 44 Vgl. Eve-Marie Engels: Lebenskraft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5 (hrsg. von Joachim Ritter). Basel/Stuttgart 1980, Sp. 124.
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Irritation im Natur-Erleben
renden Begreifens spröde und brüchig. Irritation zeigt sich als eine Form asymmetrischer Begegnung von der Qualität aufgefrischter Aufmerksamkeit. 4.
Wachwerden im Naturverhältnis
Die Macht der Irritation setzt ordnende Potentiale frei. Sie zwingt in gewisser Weise in die Reorganisation des Denkbaren. Aber diese ist nie alleinige Sache des Geistes, noch nicht einmal dann, wenn das Irritierende in einer rationalen Erkenntnis bzw. in einem Ertrag stillen Denkens wurzelt. Irritation wird schlagartig – im Medium des Plötzlichen – als Gefühl der Beengung spürbar. Es ist dies ein Gefühl, aus dem man schnellstmöglich wieder heraus will. Keine Enge – noch nicht einmal die behagender Erlebnisqualität kleiner Räume – will auf Dauer hingenommen werden. Die Be-engung ist mit Situationen der Enge daher auch nicht vergleichbar. Sie steht einem epikritischen Gefühl der Einschnürung nahe, die behagende Enge dagegen dem eines Bergenden im Nahen. Auf den ersten Blick bietet es sich an, Irritation als das kognitive ›Störfeuer‹ eines aus seinen Ordnungen geratenen Denkens zu deuten. Tatsächlich ist sie aber eher eine gelebte Synthese, geweckt von einer verwirrten Aufmerksamkeit, um sodann das Programm der Rekonstruktion von Orientierung und achtsamer Wahrnehmung in Gang zu setzen. Vertrautheit des Wahrnehmens setzt immer zweierlei voraus – vertrautes Begreifen im Rahmen gefühlter Sicherheiten des So-Denkens zum einen und ein Erfahrungswissen um die Tragfähigkeit von Wahrnehmungsroutinen wie der sie tragenden Begriffe, Konzepte und Modelle der Welterkenntnis zum anderen. So vermittelt die Irritation ein Moment der Lebensbewegung, das die Menschen erst hinreichend dynamisiert, um zwischen dem Vertrauten und dem Neuen in zukunftsfähiger Weise manövrieren zu können. Deshalb sieht Guardini auch im Gefühl der Sicherheit des Wissens eine letztlich existenziell bedrohliche Gefahr: »Auch das Stehen in sich selbst ist Grenzfall, und die Näherung daran Todesgefahr für das Leben. Lebendig möglich ist es 283 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Jürgen Hasse
nur als Durchgang.« 45 Dies heißt aber auch, dass die produktive Kraft der Irritation nicht im Extrem liegt, sondern in den Falten des Infra-Gewöhnlichen. Deshalb implizieren schon Situationen eines lau wehenden Windes oder eines nur fade schmeckenden Menus produktive Ressourcen der Irritation. In der Folge vermitteln sie das Nachdenken tradierter Verhältnisse zur ersten und zweiten wie zur äußeren Natur und schließlich jener, die man selber ist – dies mit dem übergreifenden Ziel, eine Zuwachs an Klarheit anzustreben, wie man in und mit der Natur leben will. Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Band 7. Frankfurt a. M. 1970. Böhme, Gernot: Natürlich Natur. Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1991. Böhme, Gernot: Die Stellung des Menschen in der Natur, in: Altner, Günter/ Böhme, Gernot/Ott, Heinrich (Hrsg.): Natur erkennen und anerkennen. Kusterdingen 2000, S. 11–29. Böhme, Gernot/Böhme, Hartmut: Feuer, Wasser, Erde, Luft. Eine Kulturgeschichte der Elemente. München 1996. Bollnow, Otto Friedrich: Das Wesen der Stimmungen (zuerst 1956). Frankfurt a. M. 1995. Engels, Eve-Marie: Lebenskraft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5 (hrsg. von Joachim Ritter). Basel/Stuttgart 1980, Sp. 122–128. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (zuerst 1940). Wiesbaden 1986. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (zuerst 1957). Frankfurt a. M. 2007. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Band 30. München 1991. Guardini, Romano: Der Gegensatz. Versuche einer Philosophie des lebendig Konkreten (zuerst 1925). Mainz 1955. Guzzoni, Ute: Über Natur. Freiburg/München 1995. Hasse, Jürgen: Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert. Freiburg/München 2016.
45
Romano Guardini: Der Gegensatz. Versuche einer Philosophie des lebendig Konkreten. Mainz 1955, S. 159 f.
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Irritation im Natur-Erleben
Hasse, Jürgen: Ernährung als Dimension sinnlicher Erfahrung. Für eine Alphabetisierung sinnlicher Wahrnehmung und eine Kritik der Ökonomie, in: Antoni-Komar, Irene et al. (Hrsg.): Ernährung, Kultur, Lebensqualität. (= Wirtschaftswissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung, Band 3). Marburg 2008, S. 239–262. Heidegger, Martin: Was ist das – Die Philosophie? Pfullingen 1956. Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Band 1, hrsg. von Heinz Stolpe. Berlin/Weimar 1965. Hoffmann, Dieter/Laitko, Hubert/Müller-Wille, Steffan (Hrsg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler. Heidelberg/Berlin 2003. Kirchner, Friedrich/Michaëlis, Carl (Begr.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1998. N.N.: Beaufortskala, unter https://de.wikipedia.org/wiki/Beaufortskala (Stand: 26. 07. 2017). Nova, Alessandro: Das Buch des Windes. Das Unsichtbare sichtbar machen. München/Berlin 2007. Osman, Nabil: Kleines Lexikon untergegangener Wörter. München 1971. Rath, Norbert: Natur, zweite, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 6. Basel/Stuttgart 1984, Sp. 484–494. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band III.2: Der Gefühlsraum (zuerst 1969). Bonn 1981. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band III.5: Die Wahrnehmung (zuerst 1978). Bonn 1989. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band IV: Die Person (zuerst 1980). Bonn 1990. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994. Schmitz, Hermann: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg/ München 2009. Storch, Christina: Wetter, Wolken und Affekte. Die Atmosphäre in der Malerei der frühen Neuzeit. Berlin 2015. Suehsia, Asuku: Die Grundstimmung Japans. Ein Versuch mit Martin Heideggers Stimmungsphänomenologie. Neue Studien zur Phänomenologie, Band 6. Frankfurt a. M. et al. 2010.
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Irritationen in der Praxis: Werkstattberichte
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Heinz Becker
Vitalisierung von Organisationen. Ohne Irritationen keine Zukunftsfähigkeit
Abstract: Um eine erfolgreiche Zukunft zu erlangen, versuchen Unternehmen gewöhnlich, Visionen zu kreieren und mit Projekten deren Verwirklichung anzustreben. Da die Zukunft aber offen ist, insbesondere wegen des Innovationstempos auf allen Feldern der Technik, plädiert Heinz Becker dafür, die Zeichen der Zeit in den Irritationen der Gegenwart zu suchen. Die großen Niedergänge unserer Zeit (Nokia, Kodak, RWE, Schlecker …) sind nämlich in einem Mangel an Empfänglichkeit für irritierende Reize der jeweiligen Gegenwart begründet. Dazu beschreibt der Aufsatz drei Beobachtungsfelder, die eine Unternehmensführung im Auge behalten sollte: das Umfeld des Unternehmens, seine internen Gegebenheiten und den Informationstransport im Hause. Ein zukunftsträchtiges vitales Unternehmen besitzt Empfänglichkeit für die irritierenden Zeichen der Zeit, hat die Fähigkeit, diese Signale zielgerichtet zu transportieren, um sie als Handlungsaufforderung zu begreifen und zu nutzen. So funktioniert der erfolgreiche Anpassungsprozess eines Unternehmens an die je vorgefundene Gegenwart und damit die Zukunftsfähigkeit der Unternehmung. Keywords: Informationslogistik, Reizempfänglichkeit, Unternehmen, Vitalität, Zukunftsfähigkeit
1.
Einleitung
Im Jahre 2006 fand in Deutschland die Fußballweltmeisterschaft statt. Der damalige Bundestrainer Jürgen Klinsmann erneuerte die Mannschaft radikal und erzeugte eine landesweite Fußballbegeisterung mit Volksfestcharakter. Die Deutschen zeigten erstmalig nach dem Krieg schamfrei wieder die Farben schwarz-rotgold und schmückten ihre Autos mit Fähnchen in den deutschen 289 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Heinz Becker
Nationalfarben. Die Stimmung im Lande war fröhlich. Public Viewing. Die Sonne schien. Das ist noch nicht so lange her. Können Sie sich erinnern, was in jenem Jahr die meistverkaufte App war? Oder können Sie es erraten? Waren es die Fußballergebnisse? Die Wetterprognose? Oder war es doch Spiegel Online? Nichts von alldem: Es gab 2006 noch keine Apps. So kurzlebig ist unsere Zeit! Erst im folgenden Jahr 2007 kam das iPhone auf den Markt. Die strahlende Welt-Marke Nokia beherrschte noch das Handy-Geschäft weltweit. Nokia-Chef Ollila lästerte über die Anfangserfolge des iPhone. Schließlich machte er im selben Jahr 7,2 Milliarden Euro Gewinn. Sieben Jahre später waren es 350 Millionen Euro Verlust. Ollila hatte die Möglichkeiten des Touch Screens verpasst. Nokia, damals die Weltmarke Nr. 1 unter Jugendlichen, erlebte einen grausamen Niedergang in die Bedeutungslosigkeit. Nokia hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt – ähnlich ging es Kodak, RWE, Schlecker und vielen anderen mehr. 2.
Über die Empfänglichkeit von irritierenden Reizen
Die Zeichen der Zeit sind immer Irritationen. Sie haben den Charakter der Störung, sind Kritik an der gängigen Praxis. Irritationen zu beachten bringt Unbequemlichkeit mit sich. Die Zeichen der Zeit sind selten verborgen, sie bleiben eher unbeachtet. Doch ohne Bereitschaft zum stutzenden Innehalten kann es keine angemessene Antwort auf die Erfordernisse der Gegenwart geben und keine neue Geschäftsidee. Diese Bereitschaft zum Stutzen muss beim Einzelnen genauso vorhanden sein wie im ganzen Unternehmen. Das klingt eigentlich banal, ist aber für Unternehmen eine überlebensnotwendige Bedingung. Die großen Pleiten und Niedergänge sind in einem Mangel an Empfänglichkeit für irritierende Reize begründet. Aus einem anderen Unternehmen, der Andechser Molkerei, berichtet das Handelsblatt im Dezember 2012 folgende Geschichte: Julia, 12 Jahre alt, erzählt ihrem Vater, immer wenn die Sonne scheine und die Sommerhitze herrsche, dann sei der Trink290 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Vitalisierung von Organisationen
joghurt im Supermarkt ausverkauft. Man könne sich ganz darauf verlassen. Ihr Vater arbeitet bei der Andechser Molkerei in der Butterei und erzählt dies seiner Chefin. Sie ihrerseits gibt diese Geschichte an die Marketingchefin weiter, die wiederum Julias Gedanken in der Geschäftsführung vorträgt. Das Managementteam diskutierte Julias Klage und sann auf Abhilfe: Man müsse die Auslieferung von Trinkjoghurt in Abhängigkeit vom Wetterbericht flexibel organisieren. Gesagt, getan. Soweit das Handelsblatt. In einem Unternehmen muss also eine ganze Kommunikationskette die Irritation ohne Unterbrechung bis ins entscheidende Gremium transportieren. Und dieses Gremium muss prüfen ob, und wenn ja, wie es auf diese Irritation reagieren will. Die Vitalität eines Unternehmens ist demnach die Fähigkeit, Reize zur Kenntnis zu nehmen, intern zielgerichtet zu transportieren, zu bewerten und ggf. als Handlungsaufforderung zu nutzen. Daraus leiten sich drei Beobachtungsfelder ab, die eine Unternehmensführung im Auge behalten sollte, damit aus den Irritationen Innovationen werden: 1. Das Beobachtungsfeld der unternehmensexternen Reize 2. Das Beobachtungsfeld der unternehmensinternen Reize 3. Das Beobachtungsfeld der Informationslogistik im Hause 2.1 Unternehmensexterne Reize Die wichtigste externe Reizquelle eines Unternehmens ist sicher die Kundschaft und da ganz besonders der unzufriedene Kunde. Denken Sie an die Klage der 12-jährigen Julia. Heutzutage werden Kunden mit zahlreichen Zufriedenheitsanalysen behelligt, aber eine Zufriedenheitsanalyse liefert nur Informationen, nach denen man fragt. Julias Klage wäre damit nicht erfasst. Der Vater musste ihr schon zuhören. Richtig verstandene Kundenkritik führt oft zu einträglichen Produktverbesserungen. Dann gibt es Manöver der Konkurrenz: Eine überraschende neue Idee aus Fernost gefährdet die eigene Stellung im heimischen Markt, denken Sie an den Wettbewerb um Leistungsmerkmale und Design bei Smartphones oder an elektronische Bedienungs291 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Heinz Becker
hilfen bei Autos. Plötzlich taucht ein Wettbewerber mit verbesserten Serviceleistungen auf, neue Vertriebswege wie beim CarSharing oder einer Sortimentserweiterung wie beim Kaffeehändler Tschibo, oder ganz aktuell aus München: O2-Banking, einem Girokonto im Smartphone. In immer schnellerer Folge erleben wir technologische Umbrüche wie beispielsweise die Digitalisierung von Informationen, die heutzutage fast jede Branche umkrempelt, die – um nur ein Beispiel zu nennen – in unmittelbarer Zukunft Bankfilialen weitgehend überflüssig machen wird. Eine Bank, die sich diesen neuen Verhältnissen nicht anpasst, wird nicht überleben. Zu beachten sind auch politische Veränderungen, wie es beispielsweise das Ende der Atomkraftwerke in Deutschland zeigt: Erst durch Fukushima wurde dieses Ende plötzlich unausweichlich. Die Gefahren, die von dieser riskanten Technik und deren Entsorgung ausgingen, waren eigentlich seit Jahrzehnten bekannt. Sie wurden von den Energieerzeugern allerdings beharrlich wegdiskutiert und ignoriert. Fukushima lehrt uns zusätzlich, dass »auffällige Ereignisse« jedweder Art Signale für längst notwendigen Wandel sein können. Vergessen wir auch nicht die leise daherkommenden, gleichwohl sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Veränderungen, die beispielsweise von den jungen Leuten angestoßen sind: kein Interesse mehr an Fernsehen in seiner jetzt angebotenen Zeitstruktur; keine Angeberei mit tollen Autos, sondern mit Klamotten und elektronischer Ausrüstung. Darüber hinaus dürfen die sich wandelnden Interessen von Gesellschaftern und Banken nicht außer Acht gelassen werden. Irritationen über Irritationen! Es ist offenbar überlebenswichtig, sich irritieren zu lassen. 2.2 Unternehmensinterne Irritationen Als Unternehmensberater gilt es, für die Atmosphäre innerhalb eines Unternehmens sensibel zu sein: Herrscht überall ein Geist gegenseitiger Unterstützung? Widmen sich die Menschen freudig-aggressiv oder eher lethargisch ihren Aufgaben? Wenn hier et292 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Vitalisierung von Organisationen
was nicht stimmt, besteht Interventionsbedarf. Oder herrscht gar ein Klima der Angst 1, in dem die Mitarbeiter in den Gremien nicht mehr zu sagen wagen, was sie wirklich denken? Der Volkswagen-Betrug in Bezug auf die Dieselmotoren wurde nur möglich, weil in diesem autokratisch geführten Konzern ein Klima der Angst herrschte, das Widerspruch und Kritik erstickte. Erst das kollektive »Nicht-wagen-es-auszusprechen« und Wegschauen so vieler Beteiligter machte den Weg frei für diesen Skandal. Weitere Affären dieser Art ließen sich unschwer anfügen. 2 Ferner müssen auch die Arbeitsabläufe genau betrachtet werden: Funktionieren diese reibungslos innerhalb der Arbeitsgruppen, und wie störungsfrei klappt es an deren Schnittstellen? Werden Mängel an diesen Stellen nicht beseitigt, arbeitet die Organisation schon bald im Krisenmodus und in hektischer Eile. Die Fehlerquote steigt und mit ihr die Wahrscheinlichkeit schlimmster Fehlleistungen bei der Belieferung wichtiger Kunden; bei Dienstleistungen in Kliniken kann so etwas überlebenswichtig werden. Auch die Frage nach dem wertschätzenden Umgang mit neuen Ideen ist ein zentrales Thema: Gehört der Träger einer Idee im Unternehmen zu einer Gruppierung »mit der man nicht spricht«, den Schmuddelkindern? Sind kompetente Mitarbeiter isoliert? Pflegen ganze Bereiche eines Unternehmens einen kollektiven Tunnelblick? Oder übertriebenen Egoismus? Erlaubt der Alltag noch genug Kontemplation, so dass Platz ist für ungewöhnliche Ideen? Gestörte Beziehungen zwischen Menschen machen deren Zusammenarbeit oft unerträglich, ja unmöglich. In der Management-Literatur kommt das Thema »Klärung von Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen« aber kaum vor. Entsprechend hilflos sind Führungskräfte, wenn in ihrem Team Zwie1
Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Bochum 2015. Julmi betreibt als Wirtschaftswissenschaftler leibphänomenologische Grundlagenforschung und promovierte mit dieser beeindruckenden Untersuchung situativer Entwicklungsdynamiken und Erscheinungsweisen von Atmosphären in Organisationen. 2 Heinz Becker: Unternehmen brauchen Streitkultur. München 2017.
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Heinz Becker
tracht aufkommt. Dauern diese Zustände an, ziehen sich die Betroffenen zurück, stumpfen ab, verfallen in den eigenen Trott und stehen als Ansprechpartner für Anregungen nicht mehr zur Verfügung. Das Unternehmen nimmt zwangsläufig Schaden. Wer diese Fragen stellt, stößt auf mögliche Störungen der gedeihlichen Zusammenarbeit innerhalb einer Organisation und kann für Abhilfe sorgen. Die Fragen zeigen auf, warum ins Beobachtungsfeld der internen Reize zu schauen ist. Erheblicher Schaden entsteht, wenn derartige Irritationen nicht beachtet werden. Irritationen sind dazu da, dass die Beteiligten sich als Betroffene fühlen und auf eine Verbesserung der Umstände hinwirken. 3 2.3 Informationslogistik Die Geschichte der 12-jährigen Julia und der Andechser Molkerei zeigt, dass eine Irritation zuweilen einen langen Weg zurücklegen muss, bis sie endlich das zuständige Gremium erreicht. Welche Gefahren lauern auf diesem Weg? Ich nenne vier häufig anzutreffende Stolpersteine: 2.3.1 Erfolg Erfolg kann eine Droge sein. Berauscht vom Stolz und der Illusion von Unerschütterlichkeit nimmt die Empfänglichkeit für Kritik und störende Ideen leicht Schaden. Philips hatte die CD erfunden und gründete in Wetzlar ein Unternehmen, das CDLaufwerke für den mobilen Einsatz, also vor allem für Autos, entwickelte, herstellte und verkaufte. Dieser Erfolg bescherte ihnen Fabriken und den Vertrieb rund um den Globus; sie waren Weltmarktführer ohne Konkurrenz und unterschätzten die neuen Ent3
Gerhard Risch: Über den vitalen Antrieb eines Unternehmens, in: Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 110–128. Gerhard Risch beschreibt in seinem Beitrag ›Über den vitalen Antrieb eines Unternehmens‹ detailliert die Vitalität einer Organisation und das Zusammenspiel von Reizempfänglichkeit und vitalem Antrieb.
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Vitalisierung von Organisationen
wicklungen, die sich am Horizont abzeichneten: andere Formen der Speicherung und Verteilung von Daten, Sticks, Herunterladen, Streaming begannen die CD an den Rand zu drängen. Das Unternehmen geriet in Schwierigkeiten. Im Gespräch mit einem Mitglied der Geschäftsführung fragte ich, ob das Managementteam darüber spreche, was man machen wolle, wenn die Zeit der CD zu Ende ginge? Nein, darüber habe man nie gesprochen. Kaum zu glauben, aber der Ernst der Lage war noch nicht bis in die Geschäftsführung durchgedrungen. Wie nicht anders zu erwarten war, nahm die Geschichte einen bedrückenden Verlauf. Erfolg kann die Reizempfänglichkeit so weit herabsetzen, dass der vitale Antrieb erschlafft. 2.3.2 Stolperstein: Die Lehmschicht Die Lehmschicht ist eine Unterbrechung der vertikalen Kommunikation im Unternehmen: Unten weiß nicht, worauf Oben, die Führung, hinaus will. Und Oben weiß nicht, was Unten geschieht und gedacht wird. Ein krasses Beispiel erlebte ich in einem internationalen Konzern für Telekommunikation Mitte der 90er Jahre. Der Konzern lebte von den Erträgen aus dem Festnetzgeschäft. Und er lebte gut. Durch ein Hearing mit Führungskräften der untersten Ebene erfuhr ich von der Angst der Mitarbeiter vor der Bedrohung der eigenen Festnetztechnik durch den Mobilfunk und das Internet. Unten ahnte man bereits, was die Stunde geschlagen hatte, während der Chef dieses Unternehmensbereichs noch 340 Millionen DM Gewinn ablieferte und glaubte, alles liefe bestens. Die Lehmschicht befand sich auf den Ebenen Abteilungsleiter und Hauptabteilungsleiter. Sie verhinderte den Transport der Information von den besorgten Mitarbeitern bis hinein ins Top-Gremium, das infolgedessen nichts unternahm. 2.3.3 Stolperstein: Stigmatisierungen In den späten 80er Jahren begann man mit der Einführung von Qualitäts-Management in Unternehmen. Man beauftragte Spezialisten für die Qualitätsüberwachung der Produktionsprozesse 295 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Heinz Becker
und Dienstleistungen hinsichtlich Fehlerhaftigkeit, Zeitbedarf und Kosten. Diese Spezialisten erhielten eine gesonderte Ausbildung und Zertifizierung in eigens dafür geschaffenen Instituten. Dort lernten sie u. a. eine spezielle Sprache mit bisher nicht gebräuchlichen Begriffen. Mit dieser Sprache lösten sie unter den normalen Mitarbeitern Befremden aus und infolgedessen Widerstand gegen ihre »Besserwisserei«. Der Einfluss der Qualitätsexperten blieb marginal. Ihre Anregungen waren selten erfolgreich. Sie waren halt die »Qualitäts-Fuzzies« oder – schlimmer noch – die »Qualitöter«. Sie wurden nicht ernst genommen. Dabei wären sie eigentlich prädestiniert für das Beobachtungsfeld der internen Reize. Ähnlich geht es in vielen Unternehmen den Außendienstmitarbeitern des Vertriebes. Findet im Stammhaus ein VerkäuferTreffen statt, dann verbreiten die Außendienstmitarbeiter mit ihrem aufmerksamkeitsheischenden geschäftigen Auftritt Unruhe und Abwehr zugleich. Ihre Neigung zu Prahlerei und Übertreibungen bei der Diskussion von Sachverhalten haftet ihnen wie ein Stigma an und schadet ihrer Glaubwürdigkeit. Deswegen wird alles was sie sagen durch einen engmaschigen Filter der Skepsis betrachtet, der den Fluss der Informationen unterbricht. Ein beträchtlicher Schaden entsteht, sind es doch gerade die Verkäufer des Unternehmens, die dem Kunden am nächsten stehen und am ehesten helfen könnten, die externen Reize aus dem Markt aufzunehmen und ins Unternehmen zu tragen. Hier bleibt so manche alarmierende Irritation oder gute Idee früh auf der Strecke. 2.3.4 Taktische Kommunikation Ein Vorstandsvorsitzender schilderte mir sein wichtigstes Problem: Er bespreche mit einem Unternehmensbereichsleiter oder einem Hauptabteilungsleiter, also mit einer hochrangigen Person, ein kontroverses Thema und er merke genau, wann sein Gesprächspartner die Kontroverse beende, ohne dass es dafür inhaltliche Gründe gebe. Sein Gesprächspartner knicke dann regelrecht ein und passe sich seinem, also des Vorstandsvorsitzenden Standpunkt an. Er klagte, die weiteren Worte seien nur noch ein 296 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Vitalisierung von Organisationen
»Als-ob-Gespräch« ohne wirklichen Kontakt. Eine tiefere Analyse des strittigen Sachverhalts sei damit unmöglich, er habe trotzdem zu entscheiden, aber der sachkundige Fachmann lasse ihn im Stich. Durch sein hohes Amt fühle er sich oft aus der Gattung Mensch ausgegliedert. Je höher wir auf der Leiter der Hierarchie klettern, desto häufiger treffen wir auf das Phänomen »taktische Kommunikation«: Was will er/sie hören? Womit kann ich glänzen? Wie verberge ich meine Schwachpunkte? Wie kann ich für Wohlwollen und gute Laune sorgen? Diese Fragen werden allemal wichtiger genommen, als die Sache, die zur Debatte steht. Und das Erschreckende daran ist die Tatsache, dass wir diese Mängel bei der Informationsweitergabe umso häufiger antreffen, je höher es in der Hierarchie hinauf geht, je wichtiger die anstehenden Entscheidungen sind. Wer ganz oben sitzt, muss wissen, dass er nicht gut informiert ist, dass man nicht freimütig mit ihm redet, dass man ihm nur scheinbar auf gleicher Augenhöhe begegnet, dass die Höhe des Ranges, den er selbst natürlich längst nicht mehr spürt, bei anderen Angst und Schrecken auslöst. Ermunterung zur freien Meinungsäußerung, Vorsicht mit Kritik und sich immer wieder unters Volk mischen – das könnte helfen. Der Schlüssel zum Erfolg der westlichen Kultur ist die freie Diskussion mit ihrer kritischen Prüfung aller Ideen, Meinungen und Interessen. 4 3.
Ausblick
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Betrachtungen unternehmerischer Problemsituationen? Wie kann umsichtige Unternehmensführung die Zukunftsfähigkeit einer Organisation sichern? Das gelingt offensichtlich nicht durch ungewisses Spekulieren auf die »Sahnetorte« in einer spektakulären Zukunft, sondern – geradezu im Gegenteil – durch die Fähigkeit, den gegenwärtigen Erfordernissen gerecht zu werden und das »Schwarz4
Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Freiburg/München 2016, S. 313–364.
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Heinz Becker
brot« der aktuellen Problemstellungen zu sich zu nehmen. Alles hängt ab von der Reizempfänglichkeit des Unternehmens und seiner Akteure. Denn am Anfang steht immer ein irritierender Reiz. Wird dieser Reiz wahrgenommen, dann springt der vitale Antrieb an. Der vitale Antrieb initiiert in den zuständigen Gremien einen Prozess der Absichtsbildung: Wollen wir reagieren und wenn ja, wie? Das braucht Streitkultur. Am Ende dieser Absichtsbildung steht die Besiegelung eines Entschlusses. Dieser Entschluss führt in der anschließenden Umsetzung zunächst zur Bildung einer Konstellation, einem verlegenen und oft linkischen Ausprobieren des Neuen, das sich möglicherweise schließlich zu einer Situation auswächst, in der alles wie am Schnürchen klappt und den Akteuren routiniert und virtuos von der Hand geht. Und dann ist da wieder ein irritierender Reiz … und so fort … So funktioniert der erfolgreiche Anpassungsprozess eines Unternehmens an die je vorgefundene Gegenwart und damit die Zukunftsfähigkeit der Unternehmung. Literatur Becker, Heinz: Unternehmen brauchen Streitkultur. München 2017. Julmi, Christian: Atmosphären in Organisationen. Bochum u. a. 2015. Risch, Gerhard: Über den vitalen Antrieb eines Unternehmens, in: Becker, Heinz (Hrsg.): Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 110–128. Schmitz, Hermann: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Freiburg/München 2016, S. 313–364.
298 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
Abstract: Prenzlkomm Berlin entwickelte in den vergangenen 25 Jahren aus den phänomenologischen Entdeckungen von Richard Bandler (Submodalitäten-NLP), Lucas Derks (Soziales Panorama-Modell) und Hermann Schmitz (Neue Phänomenologie) die Prosopiatrie – eine phänomenologisch fundierte und praktisch wirksame Behandlungsmethode, die auch schon bei bisher für aussichtslos gehaltenen psychiatrischen Fällen funktionierte. Auch beim prosopiatrischen Behandeln drohen den Therapeuten Irritationen im Umgang mit schwierigen Patienten. Ein virtuoses Improvisationsvermögen im Zusammenspiel mit regelmäßiger Supervision schützt dabei ihre eigene Gesundheit. Die geplante schonende Irritation der Patienten gehört notwendigerweise immer dann zur Behandlung, wenn es direkt um die Veränderung einer für ein gesundes Leben nicht ausreichenden Fassung der Person geht. Keywords: Prosopiatrie, Schizophrenie, Fassung
1.
Die Entstehung der Prosopiatrie
Seit den 1970er Jahren entstand, von der Universität Santa Cruz in Kalifornien ausgehend, ein Wissensgebiet mit dem Label »NLP« oder »Neuro-linguistisches Programmieren«. Befreit man dieses Wissen von seiner mythologischen Ausrichtung auf die Hirnfunktion und von der unangenehm marktschreierischen Attitüde vieler Autoren, bleibt ein Inventar an wirksamen Handlungsmodellen, gewonnen aus der Beobachtung exzellenter Könner und der Modellierung ihres Vorgehens. Da zu den ersten untersuchten Experten überdurchschnittlich erfolgreiche Therapeuten gehörten, finden sich im Wissensfundus des NLP viele 299 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
therapeutisch sehr gut wirksame Handlungsmodelle. Richard Bandler entdeckte beim Modellieren des Denkens, Entscheidens und Handelns von Experten die ungeheure Wirksamkeit der Veränderung formaler Eigenschaften dessen, was Menschen subjektiv wahrnehmen, während sie sich auf etwas besinnen – das Submodalitäten-NLP. 1 Im Jahr 1991 erschien es uns lohnenswert, dieses Wissen in einem konkreten Projekt in die bis heute therapeutisch wenig erfolgreiche Psychiatrie einzuführen. Wäre es möglich, die Ergebnisse der in einem Berliner Stadtbezirk neu entwickelten komplementären psychiatrischen Versorgung mit dem Wissensfundus des NLP so zu verbessern, dass sie die Ergebnisse der bisher normalen psychiatrischen Behandlung übertreffen würde? Ab dem Jahr 2000 beflügelten uns die Erkenntnisse des niederländischen NLP-Forschers Lucas Derks zum Sozialen Panorama zusätzlich. Er lieferte starke Indizien dafür, dass die Menschen etwas in ihrer Umgebung und nicht in ihrem Inneren wahrnehmen, wenn sie sich auf die Tatsache besinnen, dass sie bestimmte Personen kennen. 2 Ab 2007 bezogen wir ein intensives Studium der Neuen Phänomenologie des Kieler Philosophen Hermann Schmitz in diese Arbeit ein. 3 Seine umfangreichen und radikalen anthropologischen Überlegungen trugen wesentlich zum Gelingen unserer Forschungs- und Entwicklungsarbeit bei. Heute, 25 Jahre nach dem Projektstart, schauen wir stolz auf die Ergebnisse unserer Unternehmung: Wir verfügen über lehrbare, sehr wirksame Behandlungsmethoden, die sich auch noch elegant in die Betreuungsprozesse sehr empfindlicher Patienten eines ambulanten psychiatrischen Verbundes einfügen lassen und arbeiten an einer von der Neuen Phänomenologie inspirierten anthropologischen Theorie. Wir haben zehn erfahrene Spezialisten, die das auch tatsächlich alles können, zehn weitere Kollegen, die das in absehbarer Zeit ebenfalls können werden, sowie eine zuverlässig funktionierende gemeinnützige Institution, in der Betreu1
Richard Bandler: Veränderung des subjektiven Erlebens. Paderborn 1987. Lucas Derks: Das Spiel sozialer Beziehungen. Stuttgart 2000. 3 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person. Bonn 1980, S. 1–414. 2
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Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
ung und Behandlung, Forschung und Lehre miteinander verbunden sind. Bei uns sind insgesamt 80 Mitarbeiter tätig. Wir behandeln und betreuen ungefähr 250 schwer psychisch kranke Patienten unterschiedlichsten Lebensalters. Fast immer entwickeln sich unsere Patienten weiter, als sie selbst und ihre Angehörigen es vorher erwartet haben. Die psychiatrischen Diagnosen unserer Patienten heißen Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, meist vom Borderline-Typ, chronische Depression und verworrene langjährige Psychiatriekarrieren mit Sammlungen von Diagnosen, ohne jeden therapeutischen Erfolg. Im Jahr 2016 schlossen wir beispielsweise 37 Behandlungen ab, von denen uns 17 Patienten gesund verließen. Sie galten vorher als psychiatrisch ausbehandelt. Unter ihnen auch ein Patient mit der psychiatrischen Diagnose Schizophrenie. 2.
Grundlagen der prosopiatrischen Behandlung
Was unterscheidet uns grundsätzlich von anderen psychiatrischen Einrichtungen? Hauptsächlich das »Material« mit dem wir arbeiten. Was ist damit gemeint? Heutzutage herrscht weitestgehend Konsens darüber, dass Krankenbehandlungen über Eingriffe in Körperstrukturen oder -funktionen erfolgen. Genügt das nicht, behandelt man ein in einer persönlichen Innenwelt des Menschen gedachtes Konstrukt, die Psyche. Gelingt auch das nicht, ist man therapeutisch am Ende. So auch bei sehr vielen der Fälle, für die die Psychiatrie einst erfunden wurde. Im jahrelangen Umgang mit unserer schwierigen Klientel schliffen wir praktische Behandlungsmethoden des NLP bis auf ihre grundlegenden Wirkmechanismen ab, verbanden sie gedanklich mit der anthropologischen Theorie der Neuen Phänomenologie, füllten Theorielücken mit eigener phänomenologischer Arbeit und designten aus diesem Wissen höchst einfach zu erlernende und durchzuführende Behandlungsmethoden. Die Mitwirkung der Patienten an diesen Behandlungen ist dermaßen schonend und einfach, dass auch sehr empfindliche Patienten eine Chance haben, in ihren Genuss zu kommen. Das theoretische und praktische Ergebnis dieses For301 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
schungs- und Entwicklungsprozesses nennen wir »Prosopiatrie«, die Heilbehandlung des Menschen, der Person ist; Person in einer persönlichen Welt, so wie sie Hermann Schmitz in der Neuen Phänomenologie konzipierte. Der Begriff besteht aus den altgriechischen Wörtern »Prosopon« für Person und »Iatros« für Arzt. In der Prosopiatrie behandeln wir die persönliche Welt kranker Menschen. Die persönliche Welt enthält alles, wovon jemand spürbar betroffen ist. Die persönliche Welt ist nicht als eine private Innenwelt von einer gemeinsam verfügbaren Außenwelt abgegrenzt. Und doch kann nicht jeder von allem in gleicher Weise wie andere betroffen sein. Der Unterschied dabei liegt jedoch nicht in einem Innen und Außen, sondern im Gehalt an subjektiver Tatsächlichkeit. Je subjektiver die Bedeutungen, desto weniger teilt man sie mit anderen. Man kann in einer Weise von Bedeutungen spürbar betroffen sein, dass man davon krank wird und eventuell auch bleibt. Dieses gespürte Betroffensein kranker Menschen von subjektiven Bedeutungen, die Aspekte ihrer persönlichen Welt sind, ist weder Gegenstand der Körpermedizin, noch der Psychotherapie in irgendeiner ihrer Formen. Wir behandeln sie direkt. Für die Behandlungsplanung diagnostizieren wir als erstes, ob das, was am Erleben, Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln eines Patienten krank erscheint, Ergebnis des Betroffenseins von einer machtvoll agierenden kränkenden Umgebung ist. Diese Einflüsse müssen dann modifiziert oder gar ausgeschaltet werden. Es gibt Fälle, in denen Patienten allein aus diesem Teil einer Behandlung gesund hervorgehen. Genügt es nicht, die soziale und kulturelle Umgebung eines Patienten zu verändern, behandeln wir die individuelle Konfiguration der persönlichen Welt des Patienten. Wir diagnostizieren, wovon er spürend so betroffen wird, dass er nun krank leben muss. Entscheidend dabei ist nicht, ob der Patient das auch weiß oder ob er es denken kann. Entscheidend ist das gespürte Betroffensein, wobei wir Zugang zu den betreffenden Phänomenen bekommen, indem wir die Patienten auffordern, sich auf Aspekte ihrer persönlichen Welt zu besinnen. Das, was die Patienten dabei subjektiv wahrnehmen (spüren, sehen, hören, riechen, schme302 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
cken), ist das »Material«, mit dem wir arbeiten. Dieses »Material« hat sachverhaltliche Eigenschaften (was es ist) und formale Eigenschaften (wie es ist). Ein Beispiel: »Haben Sie eine Mutter?« »Ja.« »Was nehmen sie hier und jetzt wahr, wenn Sie sich darauf besinnen, dass Sie eine Mutter haben?« »Bitte?« »Spüren Sie etwas?« »Ja, ich spüre etwas hier an der Brust.« Der Proband zeigt genau, was er meint. »Es ist am ehesten etwas drückend.« »Sehen Sie auch etwas vor Ihrem ›geistigen Auge‹ ?« »Ja.« »Vor Ihnen oder hinter Ihnen?« »Hier vor mir.« Der Proband zeigt genau, wo sich das ›Bild‹ befindet, dass er sieht. Er zeigt, wie groß es ist und könnte auch noch wesentlich mehr Angaben zu den formalen Eigenschaften dessen machen, was er sieht. Wir behandeln vor allem, indem wir die Patienten anleiten, nicht die sachverhaltlichen, sondern die formalen Eigenschaften der Aspekte ihrer persönlichen Welt zu verändern. So können sie beispielsweise den Abstand, die Richtung, die Größe oder Farbe des vom ›geistigen Auge‹ gesehenen Bildes verändern, oder Richtung, Tonhöhe und Klangeigenschaften von subjektiv gehörten Tönen. Diese Veränderungen bewirken eine Veränderung des gespürten Betroffenseins von diesem Aspekt ihrer persönlichen Welt. Bewirken die Veränderungen keine neuen Probleme, bleiben sie erhalten, mitunter lebenslang. Am Ende einer vollständigen erfolgreichen Behandlung werden die Patienten dann in einer Weise spürend so von der Gesamtheit der Aspekte ihrer persönlichen Welt betroffen, dass ein gesundes Leben geschehen kann und dann auch geschieht. Wir begleiten die Patienten solange, bis wir sicher sind, dass sie künftig ohne uns gesund in ihrer Umgebung leben werden. Unsere hauptsächlich eingesetzte Behandlungsmethode ist das Aspektepanorama. 4 Sie ist das Ergebnis einer Optimierung therapeutisch anwendbarer NLP-Methoden. Mit einfachen Mitteln steuern wir hochkomplexe Prozesse in der persönlichen Welt der Patienten präzise und detailliert über die Kreation wirksamer 4
Robby Jacob: Psychiatrie ohne Psyche, in: Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 152–176.
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Robby Jacob
Attraktoren. Die Methode ist effektiv, dabei sehr schonend, für die Behandler leicht zu erlernen und für die Patienten unglaublich einfach mitzumachen. Eigentlich sieht es so aus, als ob zwei Menschen mit Bauklötzchen spielen: Wir unterteilen einen einigermaßen großen Raum (60–100 qm) in zwei Felder und eine Zone an der Seite. Im ersten Feld besinnt sich der Proband auf alle Aspekte, die in seiner gegenwärtigen Lebenssituation eine Rolle spielen und legt intuitiv für jeden Aspekt einen Gegenstand auf dem Boden ab. Er muss sich nicht extra merken, was er wo abgelegt hat. Das fällt ihm bei Bedarf wie von selbst wieder ein. Die jeweiligen Gegenstände sind dann für den Probanden mit Aspekten seiner Lebenssituation verbunden. Er kann mit diesen Gegenständen die Aspekte räumlich verschieben. Die Art und Weise der dafür genutzten Gegenstände spielt dabei keine Rolle. Hat der Proband alles abgelegt, was ihn in der gegenwärtigen Lebenssituation betrifft, ist er in der Lage, diese Situation zu verlassen. Er wechselt dann in die Coaching Zone. Dort versetzen wir ihn in einen guten Zustand außerhalb seines realen Lebens, in einen gegenwärtigen Arbeitszustand ohne Vergangenheit und Zukunft unter unseren geschützten Laborbedingungen. Von diesem Zustand aus kreieren wir im zweiten Feld mit dem Probanden eine hochattraktive, dabei aber real erreichbare gewünschte Lebenssituation. Auch sie wird mit kleinen Gegenständen markiert. Diese Lebenssituation enthält alles, was es erfordert, gesund leben zu können, auch den Glauben daran, dass es tatsächlich so werden wird. Betritt der Proband diese räumlich kreierte Situation, wird er von ihr gefasst. Er gerät wie von selbst in eine für diese gewünschte Situation geeignete Fassung 5. In einem dritten Schritt legt der Proband fünf bis zehn Mal einen Weg im Raum von seiner Position in der abgelegten gegenwärtigen Lebenssituation hin zu seiner Position in der ausgesprochen attraktiven gewünschten und gesunden Lebenssituation zurück. Beobachten wir dabei Hinweise, dass es günstig wäre, an den Entwürfen noch etwas zu ändern, lassen wir den Probanden 5
Hermann Schmitz: Fassung (Fassung). Vortrag im Rahmen der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, Hamburg 2015.
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Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
dieses tun. Anschließend ist diese Situation fest als Programm in seiner persönlichen Welt verankert und der Patient verlässt die Sitzung in der für diese gewünschte Situation geeigneten Fassung. Als Attraktor zieht die in der persönlichen Welt verankerte gewünschte Lebenssituation den Probanden in der gewünschten Zeit in sich hinein. Das tut sie auch dann, wenn sich der Proband nie wieder an die Einzelheiten dieser Behandlung erinnert oder irgendwie an sie denkt. Überprüft man die dann gegenwärtige Lebenssituation zum gewünschten Zeitpunkt erneut, staunt man, was alles geschehen ist. Geschah die therapeutische Arbeit kunstvoll mit der nötigen Erfahrung und dem notwendigen Können, ist der Patient dann meist im alltäglichen Leben tatsächlich gesund. Die ihm zur Verfügung stehende Fassung stimmt mit den zukunftsweisenden Aspekten der persönlichen Welt überein. Gab es zuvor Einwände gegen diese Wünsche, bestimmen diese auch das Resultat. Unheilbare körperliche Erkrankungen beschränken den Erfolg in Form unabweisbarer Einwände. Für die Behandlung von Drogensüchten ist das Aspektepanorama in dieser Form leider nicht geeignet, da sich in den zukunftsweisenden Anteilen der persönlichen Welt keine attraktiveren Wünsche finden lassen, als es der Wunsch nach der Droge bereits ist. Während die meisten Probleme »normaler« Menschen mit dem Aspektepanorama in einer oder wenigen Sitzungen gelöst werden können, sind speziell unsere Patienten meist so empfindlich oder so schwierig im persönlichen Umgang, dass unsere Arbeit zusätzliche kommunikative Kunstfertigkeit, aber auch zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen zum Schutze unserer Mitarbeiter erfordert. In diesen Fällen kann das Aspektepanorama als Serie durchgeführt werden, wobei sich die gegenwärtige Lebenssituation von Sitzung zu Sitzung in kleinen Schritten verbessert. Oder aber das Format dient als Plan einer kleinteiligen Gesamtbehandlung unter Nutzung aller Möglichkeiten, irgendwie mit dem Patienten zu kooperieren und aller Möglichkeiten, die programmatischen Eigenschaften bestimmter Aspekte seiner persönlichen Welt zu verändern. Eine solche Behandlung kann Monate, in ganz schwierigen Fällen auch Jahre in Anspruch nehmen. Am Ende fügt sich aber alles zusammen. Bei Behandlungen ohne das 305 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
Aspektepanorama in einer oder anderer Form wurde auch bei uns noch niemand gesund. 3.
Irritierte Therapeuten
Unerwartetes im Umgang mit unseren Patienten erschüttert uns mitunter in unserer professionellen Fassung. Wir können sie auch ganz verlieren. In solch einem Zustand können wir weniger gut auf unsere professionellen Ressourcen zugreifen, arbeiten also mit minderer Qualität. Dem wirken wir mit einer präzisen Behandlungsplanung, gegenseitiger Supervision und mit regelmäßigem Training der professionellen Fähigkeiten entgegen. Trotzdem lässt sich die Irritation von Therapeuten in der Behandlung schwer kranker psychiatrischer Patienten insgesamt nicht vermeiden. Zum Zwecke der Diagnostik und für die praktische Durchführung der Behandlung müssen sie sich mit den Patienten in eine gemeinsame Situation begeben. Je sicherer sich der Patient dabei mit dem Behandler fühlt und je besser er dem Behandler vertrauen kann, desto engagierter wird auch er sich in diese gemeinsame Situation einlassen. Dann ist aber leider nicht mehr sicher zu steuern, wessen Programme, die des Behandlers oder die des Patienten, gerade zu Betroffensein, Themenwahl und Entscheidungen führen. Da sich unsere Patienten sehr viel weniger an logische Regeln halten als wir, haben sie es sehr viel leichter, den Behandler zu verwirren, als umgekehrt. Man hat keine Chance, sich allein vor den zahlreichen unbemerkten kommunikativen Kunststücken, mit denen die Patienten in der gemeinsamen Situation die Führung des Geschehens übernehmen, zu schützen. Psychiatrische Patienten sind da in der Regel absolute Könner. Die Frage ist nur, wo führen sie das Geschehen hin? Da auch sie in einer gemeinsamen Situation mit einem Behandler meist ihr Bestes geben, führen sie dorthin, wohin sie am besten führen können: In Verrücktheit und Leid. Das spüren unsere Kollegen. Wir beobachten, dass sie in einer gemeinsamen Situation mit Patienten meist nur für eine sehr kurze Zeit optimal professionell handlungsfähig sind und das selbst gar nicht bemerken. Daher gehört es zu unserer 306 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
professionellen Kultur, sich von Kollegen überprüfen zu lassen. Am höchsten angesehen sind nicht die Behandler, die immer wieder den Anschein erwecken wollen, alles selbst zu können, sondern die Kollegen, die in der Lage sind, einen anderen Kollegen darum zu bitten, einmal zu überprüfen, ob sie selbst noch im Vollbesitz ihrer professionellen Ressourcen, d. h. in einem guten arbeitsfähigen Zustand sind. Lassen sich alle Kollegen jeden Tag auf zahlreiche gemeinsame Situationen mit Patienten ein, geraten sie immer mehr aus ihrem professionellen Optimalzustand heraus. Leider kann es auch passieren, dass man in einen lang anhaltenden leidvollen Zustand gerät und dann auch gar nicht mehr auf die Idee kommt, dass man sich retten müsste, geschweige denn, das auch noch selbst zu können. Es ist sehr wichtig, in solchen Berufen genau auf einander zu achten. Eine regelmäßige, auf die Arbeitsfähigkeit fokussierte Supervision hilft wesentlich besser als nur Pausen mit Abstandnahme. Am Ende einer klärenden Supervisionssitzung sind die Kollegen regelmäßig wieder von den für sie und ihre Arbeit schädlichen Programmen befreit, die die Patienten (oder auch sie selbst) in die gemeinsame Situation einbrachten. 4.
Irritation und Improvisation als wichtige therapeutische Elemente
Psychiatriepatienten sind nicht selten bereits lange krank und bereits lange in Behandlungen, die nicht funktionieren, ohne dass dies jemand der beteiligten Profis zugibt. Dabei entstehen Fassungen, die eine erneute Behandlung sehr erschweren. Diese Fassungen können sehr stabil sein. Es kommt dann darauf an, ungünstige stabile Fassungen aufzulösen und durch geeignete Fassungen zu ersetzen. Wie kann man vorgehen, ohne sie dabei einem zu großen Risiko auszusetzen? In jedem Fall ist es wichtig, ohne die bestehende Fassung bereits aufzulösen, die Situation vorzubereiten, die dann mit einer neuen Fassung gefasst werden soll. Tut man dies nicht, führt ein herbeigeführter Fassungsverlust oft nicht zu einer neuen, sondern erneut zur gleichen Fassung oder gar zu 307 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
einer noch regredierteren Situation mit noch engerer Fassung als zuvor. Man behandelt also erstmal das Betroffensein von Aspekten der persönlichen Welt der Patienten, wohl wissend, dass sich die Ergebnisse dieser Veränderung nicht sofort von selbst im Lebensgeschehen zeigen werden, da die bestehende Fassung dies verhindert. Hat man die persönliche Situation des Patienten auf solche Art angereichert, bringt man den Patienten geplant dazu, die Fassung zu verlieren. Das kann man auf vielfältige Art tun. Mitunter genügt eine kleine Provokation oder eine gezielt herbeigeführte Überforderung. Sehr wirksam sind kleine Verletzungen der beruflichen Spielregeln, deren Einhaltung unsere Patienten von uns erwarten. Auch haben wir mit unseren Patienten Zugang zu einer Pferdeherde vor den Toren Berlins. Hier bieten sich auf einfache Art zahllose Möglichkeiten, ungünstige Fassungen problematischer Großstädter zu erschüttern. Pferde sind groß und stark, sie werden deshalb als gefährlich erlebt. Wir hingegen wissen, dass sie nur Gras fressen und es fällt uns überhaupt nicht schwer, während des Aufenthalts in der Herde für die Sicherheit der Patienten zu sorgen. Es gibt allerdings auch Methoden, den therapeutisch notwendigen kurzzeitigen Verlust einer für ein gesundes Leben ungünstigen Fassung auf angenehme Art zu gestalten. Ein Beispiel: Man begibt sich mit dem Probanden in einen nicht zu kleinen Raum. Dort teilt man eine Ecke, am besten mit Fenster, ab. Dann begibt man sich mit dem Probanden in diese abgeteilte Ecke, nennt sie irgendwie, z. B. »Hier ist der Ort, an dem wir die Arbeit unterbrechen, kurz nachdenken, beratschlagen oder einfach mal Pause machen können. Dieser Ort hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Wir besprechen hier Themen wie ›Was haben Sie vor drei Tagen zum Mittag gegessen?‹ oder ›Wieviel ist 27 � 12 hoch 4 … – 18? – Wieviel ist es?‹ Denken Sie nach!«. Man kann auch gemeinsam aus dem Fenster schauen und den Anteil der gelbfarbenen Autos am Straßenverkehr ermitteln. Während man so etwas tut, ist der Proband in einer Situation mit starkem Gegenwarts- und schwachem Vergangenheits- oder Zukunftsbezug. Jetzt schauen wir aus unserer Ecke in den großen Raum. Ich drücke dem Probanden ein paar kleine Gegenstände in die Hand 308 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
und fordere ihn auf, sich intuitiv irgendwo in den Raum zu stellen. »Sind Sie klug?« »Ja, manchmal.« »Ist das der richtige Ort dafür?« Er gleitet ein wenig nach links zur Seite und bleibt dort stehen. »Lassen Sie bitte einmal in Ihrer Aufmerksamkeit alles auftauchen, was damit zu tun hat, dass Sie manchmal klug sind!« Er tut es. Dabei verändert er sich in einen für die Aussage ›Manchmal bin ich klug‹ markanten Zustand hinein. Das kann man sehen und von anderen markanten Zuständen unterscheiden. »Legen Sie sich bitte einen der kleinen Gegenstände zwischen die Füße, so dass wir diesen Ort später wiederfinden!« »Manchmal sind Sie aber auch ganz schön doof, oder?« Er nickt. »Gehen Sie bitte an den Ort, der am besten dazu passt!« Er bewegt sich im Raum an einen anderen Ort. »Jetzt lassen Sie in Ihrer Aufmerksamkeit bitte alles auftauchen, was damit zu tun hat!« Er verändert sich in einen anderen markanten Zustand hinein. »Legen Sie bitte wieder einen Gegenstand zwischen Ihren Füßen ab!« »Jetzt stellen Sie sich bitte noch einmal an den Ort von eben!« Er stellt sich dorthin, mit dem dort abgelegten Gegenstand vor den Füßen. Er sieht nicht so aus, wie er dort vorher ausgesehen hatte. »Stellen Sie sich bitte so hin, dass der Gegenstand wieder genau zwischen Ihren Füßen liegt, jetzt liegt er noch vor den Füßen!« Er rutscht etwas nach vorn. Als der Gegenstand wieder exakt zwischen seinen Füßen liegt, verändert sich sein Aussehen schlagartig. Er gerät wieder in den markanten Zustand ›Manchmal bin ich klug‹. »Woran denken Sie gerade?« »Ich erinnere mich an eine Szene aus der Grundschule.« »Gut, danke.« »Sind Sie ein Mann?« … das Prozedere von eben wird wiederholt. »Einiges an Ihnen könnte man aber auch einer Frau zuschreiben, oder?« Er bejaht. Gleiches Prozedere. Wir platzieren sieben weitere Teilcharakteristiken und ihr Gegenteil im Raum. Dabei beginnt mich zu nerven, dass er immer nachdenklicher und langsamer wird. Auf diese Art und Weise würde die Methode Stunden dauern! »Mitunter sind Sie nachdenklich und eher langsam, stimmt’s?« »Ja, das stimmt.« »Wo ist hier im Raum der beste Ort dafür?« Er findet und markiert ihn. »Sie können aber auch spontan und 309 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Robby Jacob
spritzig sein?« »Genau, das ist hier!« Zack, markiert er einen Ort. Auf die gleiche Art markieren wir etwa 30 Orte im Raum. Ich achte darauf, dass alles, was den Probanden seiner Meinung nach ausmacht, dabei ist, überschreite mit meinen Vorschlägen charmant aber frech die Grenzen seiner eigenen Meinung und suche auch immer gleich nach dem Gegenteil des Gefundenen. Auf diese Art und Weise mobilisiere ich, ohne dass er dabei die Fassung verliert, Aspekte seiner persönlichen Situation, die bisher nicht von seiner habituellen Fassung mit gefasst wurden. Dann bitte ich ihn zu mir in die Besinnungsecke. Hole ihn mit Bemerkungen, Fragen oder Aufgaben in die Gegenwart und lasse ihn auch aus dem Fenster schauen und Schneeflocken zählen, es könnte ja gerade Winter sein. »Als nächstes bitte ich Sie, wieder in den Raum hinein zu treten und dann mit den Füßen alle markierten Orte in intuitiver Reihenfolge mehrfach miteinander zu verbinden.« Er beginnt zu gehen. Ich achte darauf, dass er alle Orte mit einbezieht und später auch noch alle möglichen, vorher nicht markierten Orte. Während dessen geht der Proband immer flotter und flüssiger, irgendwann lockert sich seine Fassung und er dreht sich und nimmt schwungvolle Kurven, er verliert die Fassung und beginnt zu tanzen. Ich unterstütze ihn, eine Weile selbstvergessen weiter zu tanzen. »Irgendwann werden Sie bemerken, dass sich alles langsam beginnt, etwas zu beruhigen, folgen Sie diesen Impulsen solange, bis Sie irgendwo zur Ruhe kommen und einfach von selbst stehen bleiben!« Er bewegt sich immer langsamer, bleibt irgendwo stehen, spürt noch einen Bewegungsimpuls, folgt ihm, bewegt sich noch ein paar Schritte, dreht vielleicht auch noch ein paar Runden, irgendwann bleibt er stehen. »Wie geht es Ihnen?« Er atmet deutlich und stark aus. Schaut mich an und lächelt glücklich. Die neue Fassung ist komplett. »Ab wann wird das, was Sie heute hier alles erlebt haben, in Ihrem wirklichen Leben eine Rolle spielen?« Er besinnt sich ernst, beginnt zu lächeln, die neue Fassung etabliert sich an einer Stelle seines wirklichen Lebens. »Möchten Sie ein Souvenir mitnehmen?« Er strahlt über das ganze Gesicht: »Ja! Ich weiß auch schon, welches.« Er wählt einen der abgelegten Gegenstände und steckt ihn in die Hosentasche. »Behalten Sie ihn ruhig eine Weile in der Hosentasche und 310 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation und Improvisation in der prosopiatrischen Behandlung
finden ihn dort manchmal mit der Hand.« Er strahlt. Wir verabreden die nächsten Behandlungsschritte. 5.
Ausblick
Entgegen der Erwartung vieler Interessierter erwiesen sich die bisher von Hermann Schmitz aus der Neuen Phänomenologie hergeleiteten therapeutischen Überlegungen 6 als wenig praktikabel und wirksam. Das NLP wiederum schreckt viele wissenschaftlich gebildete Menschen mit seinen abenteuerlichen theoretischen Ableitungen, seiner rücksichtslos erscheinenden Erfolgsorientierung und seiner Einbettung in ein psycho-esoterisches Marktgeschehen ab. Nimmt man jedoch die von Richard Bandler mit dem Submodalitäten-NLP gemachten Entdeckungen phänomenologisch ernst, könnten die Phänomene, die man wahrnimmt, wenn man sich auf Aspekte seiner persönlichen Welt besinnt sowie die ungeheure therapeutische Wirksamkeit der Veränderung formaler Eigenschaften dieser Phänomene, das fehlende Bindeglied zwischen neuphänomenologischer Theorie und NLP-Praktik sein. Unter diesen Umständen wäre eine phänomenologisch kluge anthropologische Theorie mit nahtlos dazu passender therapeutischer Praktik denkbar: die Heilkunde vom Menschen als Person in seiner persönlichen Welt, die Prosopiatrie. Eine individuelle persönliche Innenwelt und darin eine Psyche oder auch eine Seele wären dann phänomenologisch obsolet. Der bisherige therapeutische Erfolg bei der Behandlung schwer kranker psychiatrischer Patienten stimmt uns optimistisch. Literatur Bandler, Richard: Veränderung des subjektiven Erlebens. Paderborn 1987. Derks, Lucas: Das Spiel sozialer Beziehungen. Stuttgart 2000.
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Schmitz: Fassung.
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Robby Jacob
Jacob, Robby: Psychiatrie ohne Psyche, in: Becker, Heinz (Hrsg.): Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 152–176. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band IV: Die Person. Bonn 1980, S. 1–414. Schmitz, Hermann: Fassung. Vortrag im Rahmen der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, Hamburg 2015. Schmitz, Hermann: Psychiatrie der Subjektivität ohne Seele, in: ders.: Selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg/München 2015, S. 73–104.
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Thomas Latka
Die Rolle der Haltung im Umgang mit Irritation und Improvisation. Agile Softwareentwicklung und provokative Psychotherapie als Praxisfeld Abstract: Wie wirkungsvoll und zieldienlich Irritation und Improvisation sein können, hängt wesentlich von der persönlichen Haltung ab. Ob ein Phänomen als Irritation wirkt und zur Improvisation einlädt, ist relativ zur Person und zu einer bestimmen Situation. Wesentlichen Einfluss hat dabei die jeweils aktuelle Haltung zum Phänomen, die in der Neuen Phänomenologie als Gesinnung die aktive Seite des affektiven Betroffenseins bildet. Am Beispiel der agilen Softwareentwicklung sowie der provokativen Psychotherapie wird erläutert, welche Formen des Umgangs mit Unerwartetem sich etabliert haben und welche Haltungen diesbezüglich von entscheidender Wirkung sind. Keywords: agile Softwareentwicklung, provokative Psychotherapie, Haltung, Gesinnung
In meiner beruflichen Laufbahn ist mir der kreative Umgang mit Unerwartetem bislang in zwei völlig verschiedenen Praxisfedern begegnet: einmal in der agilen Softwareentwicklung und ein anderes Mal in der provokativen Psychotherapie. Ich möchte darüber berichten, wie bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit die innere Haltung eine entscheidende Rolle spielt, wie man zu Unerwartetem und Improvisation steht. 1.
Agile Software-Entwicklung
Im Laufe von beinahe 20 Jahren Berufserfahrung in der Softwarebranche habe ich sehr unterschiedliche Positionen durchlaufen: von einem Softwareentwickler und -Trainer, Produktmanager, 313 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Thomas Latka
Geschäftsführer bis hin zum Unternehmensberater und Coach, als der ich jetzt tätig bin. Dabei hatte ich es Dutzende Male mit Softwareprojekten zu tun, die durch Irritationen unterschiedlicher Art zur Improvisation herausforderten. Entweder waren die Anforderungen doch komplexer als gedacht, die Technologie unüberschaubar, die Mitarbeiter nicht ausreichend informiert, die Zeit wie immer zu knapp, oder der Kunde wusste nicht, was er wollte – meist aber war alles gleichzeitig der Fall. Folglich sollte es nicht wundernehmen, dass mehr als 60 % aller Software-Großprojekte scheitern, das heißt, sie werden nicht in der veranschlagten Zeit, mit dem geplanten Budget sowie in der erwarteten Qualität beendet. Woran das liegt? In der Terminologie der Neuen Phänomenologie: Man versucht, die Ausgangssituation auf eine Konstellation von messbaren Faktoren zu reduzieren, orientiert sich stets ausschließlich an dieser Konstellation und wundert sich dann, wenn sich schlussendlich keine erfolgreiche Situation einstellt, die das Problem löst. Oder etwas technischer formuliert: Man unterschätzt die Komplexität von Veränderungen und Abhängigkeiten und orientiert sich zu sehr am ursprünglichen Projektplan. Ja, schlimmer: Die langfristige Orientierung am Plan erweist sich genau als das Problem, wenn die Situation, auf dessen Grundlage der Plan erstellt wurde, sich ändert. Als Reaktion auf die große Zahl an gescheiteren Softwareprojekten haben im Jahre 2001 einige sehr erfahrene Softwareentwickler die Initiative ergriffen und nach generellen Lösungen für das Problem des Scheiterns gesucht. Ihre richtungsweisende Antwort formulierten sie im sogenannten »agilen Manifest«: »Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt: Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge, Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation, Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung, Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.
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Die Rolle der Haltung im Umgang mit Irritation und Improvisation
Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden, schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.« 1
Die agile Grundhaltung, die in diesem Manifest zum Ausdruck kommt, hat in der Praxis dazu geführt, dass sich verschiedene agile Methoden und Prozesse entwickelt haben, die für die meisten Softwareprojekte nachgewiesenermaßen erfolgreicher sind als die herkömmlichen Methoden der Projektplanung. Diesbezüglich möchte ich mit »Scrum« kurz den erfolgreichsten und weitverbreitetsten agilen Prozess vorstellen und diesen anschließend aus neophänomenologischer Sicht interpretieren. 1.1 Agiles Vorgehen in Scrum Scrum (aus dem Englischen: »scrum«, das Gedränge) ist das bekannteste Vorgehensmodell der agilen Softwareentwicklung und lässt sich wie folgt kurz beschreiben: Ein Scrum-Team besteht aus vier bis acht Softwareentwicklern, die gemeinsam mit einem agilen Coach (dem »Scrum-Master«) und einem Produktverantwortlichen (dem »Product-Owner«) für längere Zeit zusammenarbeiten, um ein Softwareprodukt zu entwickeln, das stets funktionsfähig an die Kunden ausgeliefert werden kann. 2 Die Kooperation gliedert sich in mehrere aufeinanderfolgende Arbeitsphasen, die sogenannten Sprints, die meist ein bis drei Wochen dauern. In und zwischen den Sprints gibt es inhaltlich und zeitlich festgelegte Arbeitstreffen, die der Scrum-Master als agiler Coach moderiert. Zu Beginn eines Sprints findet das Planungstreffen (»Sprint-Planning«) statt, im Rahmen dessen der Produktverantwortliche seine priorisierte Anforderungsliste (das »Product-Backlog«) beschreibt, welche die Entwickler dann hinsichtlich des Aufwands beurteilen und im Team besprechen, bis zu welchem Punkt in der Liste sie im nächsten Sprint kommen können. Das Team einigt sich auf ein Sprintziel, welches sich nach 1
http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html (Stand 21. 08. 2017) Als Kurzeinführung in Scrum empfiehlt sich: http://scrumprimer.org/scrum primer20.pdf (Stand 21. 08. 2017)
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eigener Einschätzung am Ende des Sprints realistisch erreichen lässt. Das Team plant somit stets nur den nächsten Sprint von maximal drei Wochen, nicht mehr. Nach diesen festgelegten Meetings zu Beginn eines Sprints beginnt am nächsten Tag die eigentliche Entwicklungsarbeit des Teams. Während dieser Arbeitsphase im Sprint trifft sich das Team jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit und führt maximal 15 Minuten lang das sogenannte »Daily Scrum« durch, wobei ein strukturierter Informationsaustausch stattfindet und folgende Fragen im Vordergrund stehen: »Was habe ich gestern gemacht? Was werde ich heute tun? Was könnte mich heute von meiner Arbeit abhalten?« Aufgabe des agilen Coaches ist es, die berichteten Hindernisse aus dem Weg zu räumen und die Teamarbeit immer wieder auf das Sprintziel auszurichten. Am Ende eines Sprints erfolgt ein Treffen (das »Sprint-Review«) mit dem Kunden, bei dem das Team seine Ergebnisse präsentiert und alle Beteiligten klären, ob das zu Sprintbeginn gesteckte Ziel erreicht wurde. Anschließend trifft sich das Entwicklerteam mit dem agilen Coach zu einer Retrospektive (»Sprint-Retro«) und reflektiert über den gesamten Prozess in der Arbeitsphase und was man daran verbessern könnte, um gemeinsam aus Fehlern zu lernen. Erst danach beginnt der nächste Sprint direkt wieder mit den Planungstreffen, wie oben beschrieben, in das die Ergebnisse aus den gemeinsamen Lernprozessen einfließen, um den Fortschritt im nächsten Sprint zu optimieren. Folglich ist jede Sprintphase mit festgelegten Ereignissen strukturiert, die eine klare Struktur für alle Beteiligten bieten und fixe Arbeitsund Besinnungsphasen vorsehen. 1.2 Iterativer Wechsel von Konstellation und Situation Was lässt sich nun aus neophänomenologischer Sicht zu diesem Wechsel hin zu agilen Prozessen wie bei Scrum sagen? Herkömmliche Projektpläne stellten den Versuch dar, eine unsichere Ausgangssituation auf eine beherrschbare Konstellation zu reduzieren, um Handlungsorientierung zu erhalten. Dies ist vor allem dann erfolgreich, wenn das nutzbringende Ergebnis sowie die 316 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Kontextfaktoren von vorneherein feststehen. Ist das nutzbringende Ergebnis in der Zukunft aber von vielen verschiedenen Faktoren abhängig, wie den beteiligten Menschen, Märkten, Kunden, Ideen und Technologien, und damit nicht sicher prognostizierbar, dann hat sich dieses Planungsmodell auf längere Sicht offensichtlich nicht als geeignet erwiesen. Vielmehr bewährt es sich, wenn man es sich erlaubt, aus der gegenwärtigen Situation heraus gemeinsam mit allen Beteiligten nach situativen Lösungen zu suchen, und sich nur temporär für die Länge einer ein- bis dreiwöchigen Arbeitsphase auf Konstellationen in Form von Sprintzielen verlässt. Inwiefern lassen sich hier die Begriffe von Situation und Konstellation aus der Neuen Phänomenologie anwenden, und welche Rolle spielt dabei die Haltung? Die Neue Phänomenologie definiert Situationen als die »Grundgegebenheiten des In-der-Welt-Seins« 3, welche ganzheitlich, bedeutsam und binnendiffus sind. Situationen lassen sich nicht vollständiges auf Einzelnes reduzieren, ohne das etwas verloren geht. Je nach der augenblicklichen Gegebenheit oder dem zeitlichen Verlauf lassen sich so unterschiedliche Situationen wie Gefahrensituationen, Gespräche, Sprachen oder der Eindruck eines Menschen als Situation verstehen. Der Mensch lebt in und mit diesen Situationen und versucht diese durch Explikation von Einzelnem, z. B. durch Reden und Messen, zu bewältigen. Durch Explikation entstehen Konstellationen von einzelnen Elementen, sei es Dingen, Werten oder digitalen Zuständen. Gemäß dem agilen Manifest findet in Scrum ein geregelter und regelmäßiger Übergang von einer Situation zu einer Konstellation statt. Es beginnt bei dem Refinement-Meeting, bei dem der Produktverantwortliche und das Team aus der aktuellen noch offenen Situation heraus einzelne Produktanforderungen expliziert, d. h. sie versuchen ein gemeinsames Verständnis über neue Produktanforderungen zu entwickeln, diese zu vereinzeln und dann deren Komplexität auf eine Zahl zu bringen. Der Startpunkt ist meist eine diffuse Situation, in der für das Team noch recht viele Unklarheiten hinsichtlich der Anforderungen bestehen. Durch 3
Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus. Freiburg 2010, S. 42.
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die Explikation von einzelnen Anforderungen aus dieser Situation heraus verschwindet deren Binnendiffusion, und es entstehen einzelne Backlog-Items mit einer eindeutigen Nummer und einem eindeutigen numerischen Komplexitätswert. Zudem sind in dem Backlog-Item die Anforderungen als einzelne Akzeptanzkriterien aufgelistet und durchnummeriert, was den Eindruck verstärkt, dass hier eine möglichst vollständige Vereinzelung der Situation in Richtung einer Konstellation stattgefunden hat. Dabei spielt Irritation eine nicht unwesentliche Rolle: Die Abschätzung der Komplexität im Team geschieht meist durch ein Planning-PokerSpiel, bei dem alle Teammitglieder gleichzeitig ihre Schätzungen offenlegen und die Irritation über die gegenseitigen Abweichungen genutzt wird, um eine inspirierende Diskussion über die Abweichungen entstehen zu lassen, die in der Regel immer mit einer gemeinsamen Einschätzung aller Teammitglieder endet. Zu Beginn eines Sprints liegt also eine Konstellation aus vereinzelten Anforderungen vor, von welchem das Team gemeinsam überzeugt ist, es in dem festen Sprint-Zeitraum schaffen zu können. Während der Sprint-Arbeitsphase ist diese Konstellation fix, was es dem Team gestattet, sich völlig darauf zu fokussieren und gemeinsam in einen Team-Flow zu gelangen, der für eine hohe Produktivität und Zufriedenheit sorgt. Der agile Coach sorgt im Sprint dafür, dass Irritationen von außen möglichst vermieden werden, sodass der vitale Antrieb des Teams nicht in alle Richtungen diffundiert, sondern sich auf die vereinbarten Sprintziele fokussiert. Das gemeinsame Arbeiten am Sprintziel erzeugt eine Team-Situation, die sich auch als ganzheitlich, bedeutsam und binnendiffus beschreiben lässt. Es gibt ein bedeutsames SprintZiel, auf das sich die Teammitglieder hin ausrichten und die durch Job-Rotation mittels Pair- oder Mob-Programming eine diffuse Zuständigkeit pflegen, die für eine ganzheitliche und gemeinschaftliche Lernatmosphäre nötig ist. Das Gegenmodell zu diesem agilen Modell wäre die Fließbandarbeit, wo jeder Mitarbeiter nur wenige, aber immer wieder dieselben fest vorgegebenen Handgriffe ausführt. Am Ende des Sprints tauchen alle Beteiligten während der Ergebnis-Präsentation in die neue Situation ein und prüfen gemein318 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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sam, ob sie mit der zu Sprintbeginn beschlossenen Konstellation kompatibel ist. Auch erhält das Team in der Retrospektive die Chance, seine gemeinsame Arbeits- und Lernsituation im Sprint zu explizieren, um dabei konkrete Verbesserungen zu finden, die im nächsten Sprint Umsetzung finden können. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bei jedem Sprintwechsel die Chance besteht, sich neu auf die gegenwärtige Situation einzulassen sowie bisherige Konstellationen aufzugeben, ohne dass dies als Schwäche gewertet wird. Das Reagieren auf situative Veränderungen wird gemäß dem agilen Manifest dem Befolgen eines Planes sogar übergeordnet, und die aus der Situation schöpfende Zusammenarbeit sämtlicher Beteiligten wird höher geschätzt als die früher vereinbarten Punkte einer vertraglich abgesicherten Konstellation. So sehr Scrum als Vorgehensmodell hilfreich ist, um auf die immer schneller werdenden Veränderungen bei Kunden, im Markt oder der Technologie eingehen zu können und diese als Irritation nutzbar machen kann, so sehr besteht genau in der festgelegten Methode wieder eine Gefahr, wenn die Haltung zu kurz kommt, aus der sie geboren wurde. So lassen sich derzeit einige Firmen beobachten, die zwar agile Vorgehensmodelle einführen, aber deren agile Transformation letztlich daran scheitert, dass man sich mehr an diesen Vorgehensmodellen statt an der agilen Haltung orientiert. Gerade der Anspruch, etwas genau richtig machen zu wollen, verhindert häufig die Umsetzung einer agilen Haltung, wie sie im agilen Manifest beschrieben ist. Es geht bei der agilen Transformation also im Kern nicht um die Einführung von neuen Methoden und Verhaltensregeln, sondern um den Wandel einer Grundhaltung. Weg von einem angstgetriebenen Richtig-Falsch-Denken hin zu einer mutigen Haltung, etwas auszuprobieren und neue Wege zu gehen. Dieser Wandel in der Haltung ist der Kern einer agilen Transformation, die es nicht nur erlaubt, Fehler zu machen, sondern sogar dazu ermutigt: »Fail fast!« »Mach schnell Fehler!« »Lass dich möglichst früh irritieren!« Anders als wir es in Schule oder Ausbildung gewöhnlich gelernt haben, geht es bei der agilen Transformation nicht darum, viel zu lernen, um Fehler zu vermeiden, sondern darum, eine Atmosphä319 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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re zu schaffen, in der möglichst früh Irritationen zugelassen werden, um lernförderliche Improvisationen zu erlauben. Nur so lässt sich augenscheinlich in der heutigen VUCA 4-Welt bestehen, in der Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit dominieren. 2.
Provokative Psychotherapie
2.1 Inkongruenz von Sagen und Meinen Moderne Psychotherapeuten haben gelernt, möglichst wertschätzend und ressourcenorientiert mit ihren Klienten zu sprechen und ihnen zu signalisieren, dass sie alle Kompetenzen schon in sich tragen, die sie benötigen, um wieder völlig gesund zu werden. Die Erfahrung zeigt aber, dass sich auch hier ›gut gemeint‹ manchmal als das Gegenteil von ›gut‹ erweisen kann. Der Schuss kann nämlich auch nach hinten losgehen. Denn fast jeder kennt das Phänomen, dass man prinzipiell skeptisch gegenüber Aussagen ist, die andere über einen tätigen. Häufig nimmt man zu einer Kompetenzbehauptung von außen automatisch eine Gegenposition ein, als ob man ausgleichend signalisieren möchte, dass es so einfach nun auch wieder nicht sein kann. Das Bild von der eigenen Persönlichkeit scheint erst dann komplett zu sein, wenn auf- und abwertende Stimmen zu Wort kommen. Erst wenn sowohl das Für als auch das Wider einer Veränderungsabsicht geäußert wurden, fühlt es sich stimmig an, und die verschiedenen Seiten einer Persönlichkeit fühlen sich ausreichend gewürdigt. Um es mit einer Metapher zu erklären: Wenn der Stuhl der aufwertenden Stimme bereits vom Therapeuten belegt ist, dann bleibt dem Klienten nur der Stuhl für den inneren Bedenkenträger, den inneren Kritiker, der genügend Gründe kennt, weshalb eine Lösung nicht so einfach sein kann. Damit ist aber leider niemandem in der Situation geholfen: Je mehr der 4
VUCA steht für: volatility, uncertainty, complexity und ambiguity. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/VUCA
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Therapeut versucht, den Klienten in Richtung einer Lösungssituation zu bewegen, desto mehr stemmt sich der Klient ausgleichend dagegen und fühlt sich nicht ausreichend in seiner Problemsituation verstanden. Häufig wird diese Gegenbewegung des Klienten vom hilflosen Therapeuten als Widerstand interpretiert und mündet in eine Abwertung des Klienten oder auch in eine Selbstabwertung des Therapeuten. In harmloseren Fällen herrscht lediglich Stillstand in einer angespannten Atmosphäre, die niemandem hilfreich ist. Um diesem therapeutischen Dilemma zu entkommen, bieten sich mehrere Strategien an. Eine davon ist die von Frank Farelly begründete Provokative Therapie 5. Ziel ist es, den Klienten auf wertschätzende und humorvolle Weise herauszufordern, selbst über seine Stolpersteine zu lachen und damit eine andere Haltung zum Problem einnehmen zu können. Erreicht wird dies, indem der Therapeut dem Klienten auf eine wertschätzende und humorvolle Weise begegnet, aber auf der Tonspur offenbar genau das Gegenteil kommuniziert: z. B. einem Klienten zuzutrauen, dass er seine Angststörung aus eigener Kraft überwinden kann, aber verbal zu signalisieren, dass bei anderen zwar schon, aber bei ihm leider überhaupt keine Aussicht auf Besserung besteht. Und so könnte man ihm viele Vorteile und Gründe dafür aufzählen, was gegen eine Lösung aus eigener Kraft spricht, solange man – und das ist zentral – selbst als Therapeut nicht im Mindesten daran glaubt. Als provokativer Therapeut darf man also ausschließlich das sagen, was man selbst nicht glaubt. Diese Inkongruenz von Sagen und Meinen ist zu Beginn auch für viele Therapeuten irritierend, da es unter Psychotherapeuten häufig als unausgeprochenes Dogma gilt, dass man stets kongruent kommunizieren sollte. Sowohl für Therapeuten als auch Klienten stellt die provokative Therapie daher selber eine Provokation dar und irritiert vorhandene Glaubens- und Denkmuster. Mit diesem – zugegebenermaßen etwas ungewöhnlichen – provokativen Stil werden gleich mehrere Irritationen beim Klien5
Lesenswerte Einführung: Noni Höfner: Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! Heidelberg 2016.
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ten ausgelöst, die bei wertschätzender Grundhaltung eine therapeutische Wirkung erzielen können. Zunächst ist der Klient irritiert darüber, dass der Therapeut offensichtlich das Gegenteil von dem sagt, was er von einem gewöhnlichen Therapeuten eigentlich erwartet, nämlich tröstenden Zuspruch, Zuversicht und Kompetenzbekundungen etc. Indem der Therapeut die Veränderung als unwahrscheinlich oder sogar aussichtslos bezeichnet, rührt sich bei konsequenter Stellungnahme jedoch früher oder später bei jedem Klienten ein innerer Widerstand, und die vakante Rolle des veränderungsbereiten Persönlichkeitsanteils wird automatisch und für viele überraschend zum ersten Mal überhaupt vom Klienten selbst übernommen. Für viele Klienten – einschließlich mich – ist es eine sehr einprägsame Erfahrung, wenn man förmlich auf dem falschen Fuß erwischt wird und Kräfte mobilisiert, an die man bisher selbst nicht geglaubt hat, weil man derart mit dem Problem assoziiert war. Zudem ist der Klient irritiert, da das Gesagte nicht mit der nonverbal empfangenen wohlwollenden Haltung des Therapeuten übereinstimmt. Durch diese Irritation wird im Fühlen und Denken des Klienten einiges durcheinandergewirbelt, sodass dieser sich völlig neu besinnen muss, wer er eigentlich ist und wo er sich gerade befindet. Er wird förmlich dazu gezwungen, eine andere Haltung zu seinem Problem einzunehmen als bisher, und genötigt, dem Therapeuten zu erklären, wieso er das Problem doch selbst lösen kann. Währenddessen insistiert der Therapeut zumindest augenscheinlich immer standhafter darauf, dass dies doch gar nicht gelingen kann. Verkehrte Rollen lassen eine Situation entstehen, die wirksam irritierend sein kann. 2.2 Provozieren des vitalen Antriebes Neophänomenologisch betrachtet intendiert die provokative Therapie eine Stärkung der Persönlichkeit durch das Provozieren des »vitalen Antriebes« 6 der leiblichen Dynamik gleichsam von 6
Definition des »vitalen Antriebes« von Schmitz: »Die Hauptachse der leibli-
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unten herauf: »durch Festigung und Formung der Möglichkeiten, leiblich zu sein« 7. Damit unterscheidet sie sich entscheidend von den meisten anderen Therapieverfahren, die analog zur Psychoanalyse vom erhöhten emanzipierenden Ich herab auf die unwillkürliche Kraft des triebhaften Es-Antriebes blicken, um dieses im Zaum zu halten zu versuchen. Dem provokativen Stil geht es dabei eben nicht um die »Eindeichung des Es-Meeres zwecks Landgewinnung für das Ich« 8 wie in der Psychoanalyse. Der Therapeut selbst lässt sich stattdessen aktiv auf das Schwimmen im Es-Meer sowie das improvisierende Spiel mit unwillkürlichen Regungen ein, um humorvoll »durch einen zusätzlichen Reiz dem blockierten Antrieb den nötigen Schwung zu geben, der die Person auf ein höheres Niveau personaler Emanzipation erhebt, auf dem sie sich aus der Verstrickung befreien kann.« 9 Auf diesem Weg versucht der Therapeut, eine womöglich aussichtslos erscheinende Verstiegenheit in problematische Konstellationen aufzulösen und im Klienten eigenständige Such- und Findeprozesse innerhalb seiner persönlichen Situation anzuregen, bei dem dieser für sich eine neue »Fassung« 10 finden kann. Die Situation, in der sich der Klient unverhofft neu besinnen muss, wird zu kreativen Chance, alte Konstellationen zu verlassen und neue Lösungsversuche zu finden, bei denen sein vitaler Antrieb einhakt und es zum spürbaren Wollen kommt. Die Fähigkeit zu diesem eigenständigen Such- und Findeprozess wird dem Klienten stets zugetraut. Dieses chen Dynamik ist der vitale Antrieb, in dem die gegenläufigen Tendenzen der Engung und Weitung als Spannung und Schwellung in wechselndem Gewichtsverhältnis sowohl simultan als auch mit rhythmischem Schwanken des Übergewichts verbunden sind, aus dem sie sich aber auch teilweise als privative Engung bzw. privative Weitung abspalten können.« Vgl. Hermann Schmitz: Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999, S. 111. 7 Hermann Schmitz: Leib und Gefühl (Leib Gefühl). Paderborn 1992, S. 99. 8 Vgl. Schmitz, Leib Gefühl, S. 99. 9 Hermann Schmitz: Zur Epigenese der Person (Epigenese). Freiburg/München 2017, S. 118 f. 10 Definition der »Fassung« bei Schmitz: »Die Person legt sich eine Fassung zu, indem sie sich spielerisch (aber deswegen nicht schon verspielt) mit etwas identifiziert, das eindeutiger ist als sie selbst, wie sich daran zeigt, dass sie diese Fassung verlieren und je nach der Umgebung wechseln kann.« (Schmitz, Epigenese, S. 29)
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Zutrauen wirkt völlig unwillkürlich und nonverbal als tiefe Tranceinduktion bei völligem Wachbewusstsein. 11 Ziel der provokativen Therapie ist es, den Klienten in einer wertschätzenden humorvollen Art und Weise neu in Kontakt mit seinem unwillkürlichen vitalen Antrieb zu bringen. Das lässt sich nicht planen, und deshalb ist der Vorgang, dorthin zu kommen, selbst nur möglich, wenn auch der Therapeut sich auf das Spiel der unwillkürlichen Regungen einlässt. Diese improvisierende Haltung sowohl des Therapeuten als auch des Klienten widerspricht jedoch dem wissenschaftlichen Anspruch hinsichtlich manualgetreuen und standardisierten Psychotherapieverfahren, die messbare Ergebnisse auf planbarem und reproduzierbarem Wege versprechen. Die humorvolle und wertschätzende Erheiterung der Atmosphäre bei gleichzeitiger Würdigung des Leids lässt sich nicht auf einen fixen Ablaufplan festlegen, der sich als eine Konstellation festschreiben lässt. Deshalb bietet es sich an, die provokative Therapie weniger als standardisiertes Verfahren, vielmehr als Haltung oder Stil zu betrachten, der wertschätzend und humorvoll herausfordernd zugleich ist. Erst diese Haltung ermöglicht es, in der therapeutischen Situation eine aktivierende Atmosphäre zu schaffen, die den Anstoß zu einer besinnenden und aktivierenden Veränderung geben kann. Glaubt man den Ergebnissen der psychotherapeutischen Wirkungsforschung, existiert sowieso kein Behandlungseffekt, der auf das methodische Therapieverfahren zurückzuführen ist, sondern nur ein Therapeuteneffekt, der von der Haltung des Therapeuten abhängt. Daher wird deutlich, dass die Haltung des Therapeuten wohl der entscheidende Faktor in Bezug auf die Wirkung von Psychotherapie darstellt. Die Haltung wirkt jedoch nur, wenn sie als subjektive Tatsache beim Gegenüber ankommt, d. h. durch das individuelle Eingehen sowohl auf die persönliche Situation des anderen wie auch auf die gemeinsame Situation der therapeutischen Sitzung. Ergo: Haltung und Beziehung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind nur zusammen wirksam und auf11
Dem Hypnotherapeuten Jeffrey Zeig wird folgendes Zitat nachgesagt: »Die Haltung des Therapeuten ist eine tiefe Tranceinduktion.«
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einander angewiesen, damit eine einladende Atmosphäre mit Wirksamkeitszuversicht entsteht. Die Wirksamkeit der provokativen Therapie könnte man neophänomenologisch auf zwei Weisen beschreiben: Zum einen wird der Klient auf humorvolle Art und Weise so herausgefordert, dass ganz unwillkürlich sein vitaler Antrieb anspringt und sich sein Lebenswillen in der Gegenwart entfaltet. Zum anderen geschieht diese Aktivierung aus einer wertschätzenden Haltung heraus, bei der der Therapeut davon überzeugt ist, dass der Klient nach einer humorvoll eingeleiteten »personalen Regression« 12 auch eigenständig eine hilfreichere Fassung etablieren kann. 3.
Phänomenologische Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Wie unterscheiden sich nun die beiden Praxisbeispiele im direkten Vergleich? Irritation: Beim agilen Projektvorgehen schafft man Gelegenheiten, sich im Projektverlauf relativ früh und auch regelmäßig von den realen Gegebenheiten und den aktuellen Kundenwünschen irritieren zu lassen. In der provokativen Therapie gelangt die Irritation gezielt zum Einsatz, um den Klienten aus der Reserve zu locken und ihn humorvoll und wertschätzend herauszufordern, sich bei der Lösungssuche auf seinen unwillkürlichen vitalen Antrieb zu verlassen. Im Vergleich lässt sich festhalten, dass die provokative Therapie aktive Irritationen hervorruft, während in den agilen Methoden lediglich Raum für mögliche Irritationen gelassen wird, die sich eher situativ meist aufgrund von äußeren Faktoren, wie geänderten Kundenerwartungen und technischen Innovationen oder Problemen, ergeben. Improvisation: Im agilen Projektvorgehen gibt es mehrere Momente, bei denen Improvisation wichtig ist. Zum einen ist das 12
Ausdruck von Schmitz: »In Prozessen der personalen Emanzipation und personaler Regression bildet und entwickelt sich die persönliche Situation oder Persönlichkeit einer Person.« Vgl. Hermann Schmitz, Der Leib. Berlin/Boston 2011, S. 77.
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gesamte Vorgehen im Vergleich zu den üblichen Wasserfallplanungen als iterative Improvisation zu verstehen, das heißt, das Team folgt nicht einem Plan, sondern improvisiert von Sprint zu Sprint. Auch improvisiert der Produktverantwortliche beim Sprint-Planning, wenn er durch ein verändertes Priorisieren die Entwicklung neu an den Kundenanforderungen ausrichtet, ohne damit einem zuvor festgelegten Plan zu folgen. Zum anderen improvisiert das Entwicklungsteam im Sprint insbesondere beim Mob-Programming, wenn mehrere Entwickler gemeinsam an einem Computer ein Problem lösen. Die provokative Therapie weist eine große Nähe zum Improvisationstheater auf, weil völlig unklar ist, welches Anliegen diesmal im Mittelpunkt steht, und auch der Therapeut keine Ahnung hat, welche Themen er mit seinem Vorgehen provoziert und wie sich für den Klienten daraus eine hilfreiche Veränderung ergeben kann. Es herrscht somit ein großes Vertrauen in die Kraft der Improvisation und der Selbstregulierung. Die Improvisationsleistung in der provokativen Therapie ist schwer mit jener im agilen Vorgehen zu vergleichen, da es sich im therapeutischen Setting meist um eine kurzzeitige 1 : 1-Situation handelt. Im Rahmen des agilen Vorgehens arbeitet ein Team mehrere Wochen lang gemeinsam, weswegen es hier auch terminlich einer Struktur bedarf, wann es Improvisationsphasen gibt und wann diese beendet sind. Ein größerer Raum für einen improvisierenden Kurswechsel besteht grundsätzlich nur zwischen den Sprints alle zwei bis drei Wochen. Währen des Sprints herrscht im Team dennoch eine improvisationsfreundliche Haltung, da stets die Lösung des Problems im Vordergrund steht und keine Hierarchien oder starren Prozessabläufe. Kongruenz von Haltung und Verhalten: In der provokativen Therapie wird bewusst mit dem Unterschied von Haltung und Verhalten gespielt. Der Therapeut darf alles sagen, solange er nicht selbst daran glaubt. Er bietet dem Klienten ein inkongruentes Bild, das ihn verwirrt und ihn damit auf sich selbst und seinen vitalen Antrieb zurückwirft. Beim agilen Vorgehen wird hingegen viel Wert auf Kongruenz gelegt, gerade weil bekannt ist, dass sich viele Firmen im zur Schau gestellten Verhalten oft zur Agilität 326 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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bekennen, während das Mindset ein völlig anderes ist. Deshalb geht es bei der agilen Transformation eines gesamten Unternehmens im Wesentlichen darum, die Haltung gegenüber Fehlern und Improvisation zu ändern, um Raum für situative Adaptionen in kreativen Prozessen zu schaffen. Umgang mit Zielen: Im provokativen Vorgehen nimmt der Therapeut das offenkundige Ziel des Klienten bewusst nicht ernst und versucht, dem Klienten völlig andere und häufig abwegige Ziele anzubieten, die sich aus dem Gesprächsverlauf ergeben. Das angebotene Ziel des Klienten stellt folglich nur den Startpunkt im provokativen Vorgehen dar. Ähnlich ist es beim agilen Vorgehen, bei dem die Funktion des Ziels darin besteht, in Bewegung zu kommen, nicht aber es exakt zu erreichen. Auch wenn eine langfristige Produktvision besteht, können doch die Ziele zu jedem Sprintwechsel frei angepasst werden, wenn es in der aktuellen Situation einen höheren Kundennutzen verspricht. Im Vergleich erweist sich der Umgang mit Zielen als ähnlich pragmatisch und so variabel, dass sich wirkungsvollere Ziele im Prozess neu ergeben dürfen und es eher ungewöhnlich ist, wenn die anfänglichen Ziele Bestand haben. Vitaler Stolz & vitaler Antrieb: Beim agilen Vorgehen wird Wert daraufgelegt, dass das Team gemeinsam die Sprintziele bestimmt und versucht, diese durch gegenseitige Unterstützung auch zu erreichen. Im Unterschied zum klassischen Projektvorgehensmodell, wo die Aufgaben delegiert werden, identifiziert sich das Team beim agilen Vorgehen sehr stark mit den selbst gesetzten Zielen. Das Team ist deshalb motiviert, aus eigenem vitalem Antrieb heraus das Ziel zu erreichen und entsprechend stolz, wenn es dies am Ende des Sprints auch präsentieren kann. Jedes Teammitglied wird somit zu »vitalem Stolz« ermutigt: »Der Mensch soll lernen, den Kopf hoch zu tragen und die Gelegenheit, leiblich zu leben und zu gestalten, mit klarer, ruhiger und nicht von Scham verkümmerter Unbefangenheit zu ergreifen.« 13 Im provokativen Stil wird auf humorvolle und auflockernde Weise versucht, dem blockierten Antrieb des Klienten den nöti13
Schmitz, Leib Gefühl, S. 99.
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gen Schwung zu geben, damit dieser sich den selbstgesteckten Absichten zuwenden und es zu einem Wollen kommen kann. Wird dem Klienten verbal die Lösung seines Problems nicht zugetraut, motiviert das im Gegenzug den vitalen Antrieb des Klienten, der sich auf seine Lösungskompetenz besinnt und mit vitalem Stolz dem Therapeuten das Gegenteil beweisen will. Gemeinsam ist beiden Ansätzen somit, dass der vitale Antrieb und Stolz genutzt wird, etwas aus eigener Kraft heraus erreicht zu haben. Verankerung des Lebenswillens in der Gegenwart: Im agilen Vorgehen wird durch die kurzen Sprintzyklen darauf Wert gelegt, aus der gegenwärtigen Situation heraus zu handeln und sich weder an zukünftigen noch an vergangenen Möglichkeiten zu orientieren. Ebenso wird in der provokativen Therapie das Wofür in der lebendigen und humorvoll gestaltbaren Gegenwart gesehen und nicht in einem lang anhaltenden therapeutischen Prozess, wo erst allerlei durchgearbeitet werden muss, bevor Erleichterung eintreten kann. Stetiger Wechsel von Situation und Konstellation: In der agilen Welt stellt die Konstellation eine priorisierte Liste von Produktanforderungen dar. Dies ermöglicht es, dass in dem neuen Sprint ein gemeinschaftlicher Lernprozess in Gang kommt, dessen Nebenprodukt das Software-Artefakt ist. Am Ende jeden Sprints wird auf Grundlage des Ergebnisses die Situation neu bewertet und eine neue Konstellation für den nächsten Sprint erstellt. Auf diese Art wechseln sich Konstellation und Situation mit jedem Sprint iterativ ab, und die Gefahr, sich zu lange an einer vergangenen Konstellation zu orientieren, wird gebannt. Bei der provokativen Methode wird das gesamte Weltbild des Klienten überzeichnet und karikiert, so dass er selbst über seine Situation lachen kann, und sich danach auf ein höheres Niveau der personalen Emanzipation begeben kann. So gelingt es ihm, durch eine andere Haltung eine neue Beschreibung und Bewertung des Problems vorzunehmen, und eine hilfreichere Konstellation zu finden, die sich im Handeln positiv auswirkt. Im Vergleich: Der Wechsel von Situation und Konstellation läuft beim agilen Vorgehen strukturiert und gewissermaßen nach Plan ab, während beim provokativen Stil darauf vertraut wird, dass sich ein hilfreicher Wechsel ganz von alleine einstellt. 328 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Verankerung in der Situation: Beim agilen Vorgehen wird sich vor allem beim Sprintwechsel auf die jeweils aktuelle Situation eingelassen und darauf basierend eine neue Konstellation erstellt. Im provokativen Stil besteht hingegen während des gesamten Prozesses die Aufgabe für den Therapeuten, im therapeutischen Gespräch eine gemeinsame Situation mit dem Klienten aufzubauen und den guten Draht nicht zu verlieren. Neben der permanenten wertschätzenden Haltung zählt das situative Einfühlungsvermögen deshalb zu der größten Anforderung an den provokativ agierenden Therapeuten. Fassung: Bei beiden Praktiken wird versucht, die Fassung zu verlieren, um wirksame Veränderung einzuleiten. Im provokativen Stil wird das gemeinsame Lachen über das Weltbild des Klienten provoziert, um sich damit auf die Ebene der affektiven Betroffenheit zu begeben, indem sich der vitale Antrieb gegen die Hindernisse mobilisieren lässt. Beim agilen Vorgehen könnte man davon sprechen, dass die Fassung des Teams alle zwei Wochen im Sprint-Review herausgefordert wird, bisherige Annahmen fallen zu lassen und sich über Feedback auf die affektive Befindlichkeit des Kunden und der Stakeholder einzulassen, wodurch eine neue Fassung im Form eines neuen Sprint-Zieles entstehen kann. Humor: Beim provokativen Vorgehen wird der Humor bewusst eingesetzt, um leidvolle personale Fassungen in hilfreicher Weise zu irritieren. Beim agilen Vorgehen wird durch das wachsende Vertrauen in den konstanten Teams der Humor gewöhnlich sehr gepflegt, auch, um Fehler sportlich nehmen zu können. Humor findet aber nicht primär als Stilelement Einsatz, um Irritationen zu fördern. 4.
Die Rolle der Haltung in der Neuen Phänomenologie
4.1 Gesinnung als innere Haltung Die beiden Beispiele aus Business und Therapie sollten praktisch verdeutlichen, wie sehr sich eine wohlwollende Haltung gegenüber Irritationen und Improvisation als hilfreich erweisen kann, 329 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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um praktische Ziele zu erreichen. In beiden Fällen wird die Irritation zum Zwecke der Zielerreichung nicht vermieden, sondern aktiv gesucht und eingesetzt. Die Irritation fordert dazu heraus, eine bestehende, in der Vergangenheit konstruierte Konstellation zu verlassen, sich neu auf die aktuelle, meist als diffus erlebte Situation zu besinnen und daraus hervorgehend kreativ zu improvisieren. Diese wohlwollende Haltung gegenüber Irritation und Improvisation befindet sich überall dort auf dem Vormarsch, wo man erkannt hat, dass die bisher dominanten strategischen Planungs- und Interventionsmodelle im gelebten Leben nicht (mehr?) so wirkungsvoll sind, wie es im Lehrbuch steht. Man ist auf der Suche nach einer Philosophie, die erklärt, weshalb man trotz sorgfältig explizierten Konstellationen an den zugrundeliegenden Situationen nicht vorbeikommt und was eine wohlwollende Haltung gegenüber Irritation und Improvisation genau ausmacht. Hier kann die Neue Phänomenologie offensichtlich helfen. Zum einen unterscheidet sie klar und prägnant zwischen Situation und Konstellation und weist auf die Gefahr hin, bei aller sorgsamen Explikation die Situation zu vergessen. Zum anderen betont sie die aktive Rolle der Gesinnung im affektiven Betroffensein sowie die kreativen Chancen, die damit verknüpft sind. Auf diesen letzten Punkt möchte ich im Folgenden genauer eingehen. Häufig wird der Neuen Phänomenologie vorgeworfen, sie betone zu einseitig das Passive, Pathische, das Widerfahrende im Unterschied zum Aktiven, Konstruktiven und Tätigen, auf die sich notgedrungen die Aufmerksamkeit der Praktiker richtet. Es sei ja vielleicht phänomenologisch korrekt, wenn man z. B. Gefühle als Atmosphären beschreibt, in die man unfreiwillig hineingerät und denen man erlegen ist, aber für den Praktiker handhabbarer werden sie dadurch nicht, so die Kritiker. Zwar könnte man Schmitz in der Tat so verstehen, als würde er gegen die Machbarkeit von Gefühlen und Atmosphären Stellung beziehen, jedoch benennt er ebenfalls sehr klar, dass affektives Betroffensein nicht nur Geschehen oder Geschehenlassen bedeutet, sondern ebenso Stellungnahme, eigener Einsatz sowie Eingehen auf Etwas. Diesen eigenen Einsatz im Betroffensein nennt er Ge330 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Die Rolle der Haltung im Umgang mit Irritation und Improvisation
sinnung: »Die aktive Seite des affektiven Betroffenseins […] bezeichne ich als die Gesinnung.« 14 Die Gesinnung ist laut Schmitz »die Stifterin oder konstitutive Grundlage der Subjektivität« 15, bzw. »innerster Kern der persönlichen Situation« 16, ja sogar »das Intimste in mir, das, was am meisten ich ist und ich bleibt, auch wenn sie sich ändert.« 17 Analog zur Gesinnung spricht er auch von innerer Haltung als dem Hauptanteil der persönlichen Fassung, »mit der die Person alle Herausforderungen und Zumutungen, die an sie herantreten, aufnimmt, indem sie ihnen z. B. liebenswürdig oder behäbig, misstrauisch, jovial, sanft oder derb begegnet« 18. Er lehnt sich dabei an die Definition der »inneren Haltung« von Jürg Zutt an, für den jede Handlung von einer Haltung begleitet wird, die man aktiv einnimmt: »Jede Handlung setzt voraus, dass wir eine bestimmte innere Haltung einnehmen.« 19 Die eigene Haltung bestimmt wesentlich über die Wirkung des affektiven Betroffenseins im leiblichen Erleben. Dementsprechend ist affektives Betroffensein nicht nur passiv, sondern auch über die einzunehmende Haltung bzw. Gesinnung aktiv gestaltbar, natürlich immer nur innerhalb bestimmter Grenzen. Somit kann ich eine herannahende Gewehrkugel sicher nicht durch meine Gesinnung beeinflussen, aber welche Wirkungen Pollen auf den menschlichen Organismus haben, offensichtlich schon, wie hypnotherapeutische Erfahrungen zeigen. Die eigene Haltung entscheidet darüber, ob ich etwas als Irritation erlebe oder nicht. Nicht das Phänomen bestimmt die Wirkung im Erleben, sondern die Haltung zum Phänomen. Dazu gehört, wie ich das Phänomen benenne, beschreibe und erkläre. Auch wenn die Haltung und Gesinnung zum Kern der Person 14
Hermann Schmitz: Freiheit (Freiheit). Freiburg/München 2007, S. 69. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 2007, S. 375. 16 Hermann Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 191. 17 Schmitz, Freiheit, S. 72. 18 Schmitz, Epigenese, S. 115. 19 Jürg Zutt: Auf dem Wege zur einer anthropologischen Psychiatrie. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 19. 15
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Thomas Latka
gehören, sind sie veränderbar, das zeigen erfolgreiche Beispiele in Therapie und Beratung. Diese praktische Veränderungsarbeit neophänomenologisch zu begleiten, sehe ich als große Chance, weil deutlich werden kann, was tatsächlich wirkt. 4.2 Bewertung von Improvisation und Irritation »Ein Phänomen ist also doppelt relativ, auf einen Menschen und für eine Frist.« 20 Gleiches lässt sich für Irritationen sagen. Es gibt offensichtlich keine Irritationen an sich, eine Irritation ist als subjektive Tatsache also relativ zu einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt. Irritationen nötigen uns häufig ab, eine Konstellation z. B. in Form eines zurechtgelegten Planes zu verlassen und ohne Plan aus der Situation spontan heraus zu improvisieren. Improvisation ist somit eine mögliche Reaktion auf ein als irritierend erlebtes Phänomen. Häufig versuchen wir jedoch, Irritationen und Spontanität zu vermeiden, und suchen nach Bestätigung für unsere bekannten Gedanken, Erwartungen und Gefühle. In einer leistungsorientierten Welt, in der planbare und prognostizierbare Ergebnisse erwartet und belohnt werden, ist es nur allzu verständlich, dass Menschen sich häufig eine negative Haltung gegenüber Irritationen und Improvisationen zulegen. Irritationen, die Pläne zerstören und zu Improvisation nötigen, passen nicht in ein System des vorhersagbaren Funktionierens und werden deshalb häufig gemieden und verschwiegen, solange dies möglich ist. Irritationen erfordern eine Reaktion, in der man Geplantes aufgeben und sich auf die gegenwärtige Situation besinnen muss. Irritation nötigen zum Staunen und sind damit auch Quelle der Philosophie, dem »Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung« 21. Diese Besinnung und eine daraus 20
Hermann Schmitz: Was ist ein Phänomen?, in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Freiburg/München 2005, S. 27. 21 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band I: Die Gegenwart. Bonn 2005, S. 15.
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Die Rolle der Haltung im Umgang mit Irritation und Improvisation
entstehende Handlungsorientierung erfordern Energie, die nicht immer aufgebracht werden kann. Sicher werden Neurowissenschaftler schon längst festgestellt haben, wieso genau unser Gehirn lediglich eine beschränkte Menge an Irritationen verkraftet und wir bei Irritation häufig mit den evolutionär erprobten Notprogrammen wie Angriff, Flucht oder Totstellreflex reagieren. Ein Zuviel an Irritation ohne Besinnungsphasen führt zur Überlastung und schlussendlich körperlicher Überforderung und zum Burn-Out. Ein gesunder Umgang mit Irritationen erfordert daher den Wechsel von Arbeits- und Besinnungsphasen, um sich vor Überlastung zu schützen. Die Beispiele aus Business und Therapie können zeigen, dass mit einer wohlwollenden Haltung Irritationen zieldienlich utilisiert werden können, sofern nach der Irritation genügend Zeit bleibt, aus der Situation heraus improvisieren zu können. Das Vertrauen darauf, dass alles auch schiefgehen kann, dass man sogar Lust am Scheitern haben darf, ist Ausdruck einer offenen Haltung, mit der Improvisation und Irritation erfolgreich zum Einsatz kommen kann. Hier kann man viel vom Improvisationstheater lernen, wo es im Kern darum geht, ohne Plan jedes noch so irritierende Angebot zu nutzen und daraus einen neuen Handlungsstrang entstehen zu lassen. Der Reiz besteht gerade darin, dass alle nicht wissen, was sich ereignen wird, aber darauf vertrauen, dass sich im Spielraum der Gegenwart etwas Unterhaltsames zeigen wird. Ich fände es reizvoll, die Neue Phänomenologie zu einer praktischen Phänomenologie weiterzuentwickeln, in der aktuelle Erfahrungen aus völlig verschiedenen Phänomenbereichen, wie der Softwareentwicklung und der Psychotherapie, aufgenommen werden und auch auf Gemeinsamkeiten hin untersucht werden können. Denn offensichtlich bestehen wichtige Parallelen darin, wie wirkungsvoll Irritation und Improvisation auch professionell eingesetzt werden können. Diesbezüglich scheint die Gesinnung einer Person als deren Haltung eine besondere Rolle zu spielen, die den Kern einer Person ausmacht und den Lebenswillen in der Gegenwart verankern kann. 333 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Thomas Latka
Literatur Höfner, Noni: Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! Heidelberg 2016. Schmitz, Hermann: Leib und Gefühl. Paderborn 1992. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994. Schmitz, Hermann: Spielraum der Gegenwart. Bonn 1999. Schmitz, Hermann: Was ist ein Phänomen?, in: Schmoll, Dirk/Kuhlmann, Andreas (Hrsg.): Symptom und Phänomen. Freiburg/München 2005. S. 16–28. Schmitz, Hermann: System der Philosophie, Band I: Die Gegenwart. Bonn 2005. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 2007. Schmitz, Hermann: Freiheit. Freiburg/München 2007. Schmitz, Hermann: Jenseits des Naturalismus. Freiburg 2010. Schmitz, Hermann, Der Leib. Berlin/Boston 2011. Schmitz, Hermann: Zur Epigenese der Person. Freiburg/München 2017. Zutt, Jürg: Auf dem Wege zur einer anthropologischen Psychiatrie. Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963.
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Henning Hintze
Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
Abstract: Innovation ist zum Schlüsselwort für die Lösung zentraler Problemstellungen der Wirtschaft geworden. Die Wissenschaft soll der Innovationsförderung und damit der Sicherung des Wirtschaftsstandortes dienen. Innovation, vielfach beschworen, findet sich indes so selten, dass sie wie ein Arbeitsprozess gemanagt werden soll. Ziel der Arbeit ist, Innovation zu charakterisieren und herauszuarbeiten, warum die geförderte und erwartete mit der wirkungsmächtigen eigentlichen Innovation so selten zusammenfallen kann. Mit Hilfe von Hermann Schmitz’ Unterscheidung von Situationen und Konstellationen lässt sich zeigen, dass Situationen Raum für weit mehr als eine Konstellation zu ihrer Erfassung geben und dass bereits erarbeitete Konstellationen selbst nicht vollständig in allen Einzelheiten verfügbar sind, daher ihrerseits situative Züge tragen und offen für innovative Wendungen bleiben. Der in Wissenschaft oder Wirtschaft vorgesehene und geförderte Weg zur eigenen Weiterentwicklung ist bei weitem nicht der einzige und oft nicht der ergiebigste. Irritation ist in Wissenschaft und Wirtschaft ein natürlicher Wegweiser auf dem Weg zu Innovationsfeldern, ihre Bearbeitung führt ganz natürlich wieder zu Irritation, diesmal bei den Vertretern der etablierten Konstellationen. Unterscheidet man kreative Innovation, die Brüche mit Vorgaben und Tradition beinhalten, sowie echte Neuanfänge von eingeschränkten Innovationen als Lösung von beauftragten bloßen Problemlösungen, so wird deutlich, dass von den ersteren zwar oft die Rede ist, sie aber wenig Unterstützung oder gewogene Aufnahme finden. Keywords: Situation, Konstellation, Innovation, Kreativität, Irritation
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Henning Hintze
1.
Einleitung
Innovation ist spätestens seit der ersten Online- und E-BusinessWelle um die Jahrtausendwende die Forderung, das Bekenntnis und das Schlüsselwort für die Lösung der zentralen Problemstellungen unserer Wirtschaft. Die Wissenschaft soll im öffentlichen Verständnis primär der Innovationsförderung dienen, Forschungsausgaben werden mit der Sicherung des Wirtschaftsstandortes durch Innovation gerechtfertigt. In scharfem Kontrast zu diesem Bekenntnis zur Innovation steht ein erkennbarer Mangel an derselben, der im Bereich der Wirtschaft zu objektivieren ist: Der Schwerpunkt wirtschaftlicher Tätigkeit liegt klar in klassischen Industrien, im DAX findet sich mit Infineon ein Chip-Hersteller, mit SAP eine E-Business-Firma und keine einzige InternetFirma unter den ersten 30 börsennotierten Firmen. In der Wirtschaft ist Innovation zur strategischen Zukunftssicherung sehr wichtig, kurzfristig aber ist die bloße Verkündung von als innovationsfreudig dargestellten Strategien besser geeignet, den Unternehmenswert, im Fall einer Aktiengesellschaft im Kursverlauf dokumentiert, zu steigern. Da der Unternehmenswert über die abgezinste Summe der künftig zu erwartenden Cashflows berechnet wird, ist ersichtlich, dass es von Vorteil ist, vielversprechende Innovationen glaubwürdig anzukündigen. Zur Pflege von Innovation gibt es Abteilungen, Prozesse und sogar ein übergeordnetes Innovationsmanagement. Aufmerksamkeitsaffine kulturelle Disziplinen wie Kunst oder Musik erleben ohnehin eine innovative Revolution in Permanenz oder Permanenzerklärung der Anarchie, wie sie Theodor Mommsen dem Volkstribunat 1 zuschrieb – zumindest gängiger Selbsteinschätzung gemäß. Ist die propagierte und geförderte Innovation vielleicht ganz artverschieden von den revolutionären Neuschöpfungen, auf die sich berufen wird? Nützt der Lärm um Innovation und Kreativität ihrer Entstehung oder schadet er? Warum fallen Neuschöpfungen 1
Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Band I, 6. Auflage. München 1874, S. 281.
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Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
den wenigen kreativ veranlagten Menschen oft so schwer, weshalb leiden sie nicht selten quälend unter dem Ausbleiben ihrer kreativen Phasen? Thomas Mann thematisiert diese ihm vermutlich auch aus eigener Erfahrung bekannten Leiden für Künstler in der Erzählung »Die schwere Stunde«, aber auch als Leiden der Meerjungfrau in seinem Roman »Doktor Faustus«. Wenn schöpferisch veranlagten Menschen die eigene Kreativität eher Rätsel als verfügbar ist, wie können dann Manager meinen, Innovationsprozesse überblicken, einleiten, steuern oder managen zu können? Exemplarisch wird im Folgenden der Bereich kreativer Entwicklung von wissenschaftlichen Theorien, etablierten wirtschaftlichen Modellen und explizit formulierten wirtschaftlichen Strategien untersucht. Unter Rückgriff auf Hermann Schmitz’ Unterscheidung von Situationen und Konstellationen werden die uns vorsprachlich, quasi natürlich gegebenen Situationen von den zu ihrem Verständnis und zu ihrer Steuerung entwickelten Konstellationen unterschieden. Exemplarisch für Konstellationen wären Theorien, Modelle oder Strategien zu nennen. Die Untersuchung fokussiert sich auf solche Innovationen, die neue Konstellationen schaffen oder vorhandene einschneidend verändern. Ausgangspunkt solcher Innovation ist oft eine Irritation, die als normale Problemstellung in der Entwicklung einer Konstellation vorgesehen ist, aber als tiefgreifende Irritation im Gefüge der Konstellation auftreten oder gar die Konstellation insgesamt als unpassend für die vorliegende Situation in Frage stellen kann. Letztere Fälle tragen weiterreichendes Innovationspotential, führen aber auch gewöhnlich zu neuen Irritationen, in der Gestalt von Abwehrverhalten auf Seiten der Verfechter der hinterfragten Konstellation. Es soll erstens verdeutlicht werden, dass Situationen grundsätzlich, aus ihrer Verfasstheit heraus reiches Potential für tiefgreifende Innovationen auch an fest etablierten Konstellationen bergen, und damit zu innovativem Denken ermuntern. Zweitens wird die These vertreten, dass Konstellationen – seien sie ausformulierte Theorien oder nur präzisierte Vorgehensweisen oder schablonenhafte Modelle in der Wirtschaft – in ihrer praktischen Handhabung wiederum situative Charakteristika aufweisen. Sie 337 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Henning Hintze
sind in ihrer praktischen Anwendung zumeist nicht in allen Einzelheiten präsent und übersichtlich. Ihre Anwender bewegen sich in ihnen vielmehr mit sicherem, eher leiblichem Geschick. Unter der praktischen Anwendung einer Konstellation verstehe ich den alltäglichen Wissenschaftsprozess, die Tätigkeit in Forschung und Lehre, den Alltag des Managements. Leitende Forschungsergebnisse oder Strategiepapiere sind präsent und von Bedeutung, sie schöpfen die Situationen, in denen Wissenschaft oder Wirtschaft praktiziert werden, aber nicht aus, sondern bilden eher einen Hintergrund oder geben Orientierung. Wenn man eine solche Konstellation als Theorie oder Strategie formalisieren oder etwa gar zu Teilen auf einem Computer programmieren will, wird ihre situative Verwendung im Ausmaß der Lücken und der fehlenden Explikation der scheinbar präzise vorliegenden Konstellation rasch deutlich. Wenn man dieser Überlegung folgt, schließen sich die Begriffe »Situation« und »Konstellation« nicht wechselseitig aus, sondern der bei Schmitz ontologisch grundlegendere Begriff der Situation könnte auf einem anderen Zuschreibungsniveau auch Konstellationen, nämlich in ihrer praktisch-situativen Erfassung und Verwendung durch Menschen, unter sich fassen. Wenn diese These zutrifft, ist es nicht überraschend, dass die Konstellationen selbst weit anfälliger für tiefgreifende Innovationen sind, als es in den in ihnen enthaltenen Entwicklungsprogrammen vorgesehen ist. Die durch die Prädikatenlogik und die Modelltheorie geprägte Wissenschaftstheorie neigt dazu, Wissenschaften als logisch vollständig durchdrungen und in allen Teilen expliziert zu idealisieren. Die geforderte und geförderte Kreativität ist zumeist diejenige, die in bestimmte Konstellationen als ihr Innovationsprogramm oder geplantes Fortschreiten eingebunden ist. Die irritiert irritierende Innovation wird sich niemals umfänglich einschätzen, planen oder organisieren lassen. Sie wagt den Bruch mit der Konstellation und schöpft wieder aus der Situation oder untersucht situativ als selbstverständlich genommene Bestandteile einer Konstellation von neuem.
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Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
2.
Grade der Innovation und Kreativität
Unter Innovationen verstehe ich kreative Ideen, die tatsächlich zu Änderungen in Erklärungsmustern und Methoden, in der wirtschaftlichen Praxis zu einer sogenannten Implementierung oder Umsetzung führen. Für verwirklichte Innovation ist in der Regel ein komplexer Kommunikations- und Werbeprozess erforderlich, der Überzeugungskraft, politisches Geschick und Beharrlichkeit erfordert und nicht selten den eigentlichen Kreator der Idee in den Hintergrund treten lässt. In gefestigten Strukturen in Wissenschaft und Wirtschaft erlangen neue Ideen entsprechend oft ohne durchsetzungsstarke Unterstützer erst gar keine Beachtung. Das Thema der Umsetzung und Kommunikation soll im Folgenden außer Betrachtung bleiben und kreative Ideen als mögliche Innovationen aufgefasst werden. Kreationen und Innovationen lassen sich für den Zweck dieser Untersuchung vorläufig und versuchsweise, nicht einmal scharf abgegrenzt, in vier Typen einteilen. 2.1 Gestalterische und künstlerische Kreativität Kreativität zeigt sich in vorsprachlichen oder nicht notwendig versprachlichten Feldern wie der harmonischen Gestaltung von Gegenständen oder im gestalterischen Ausdruck von Gefühlen. Dies kann in der Kunst hoch kultivierte und reflektierte Formen einnehmen, ohne aber in der Gestaltung eines Beschreibungs-, Verstehens- oder gar Erklärungsversuches aufzugehen. Dieser sehr wichtige Typ Kreativität, der auch an Kindern häufig bewundert wird, kann hier nur zur Abgrenzung gestreift werden, da die Betrachtung sich auf kreative Entwicklung von Konstellationen fokussieren wird.
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Henning Hintze
2.2 Innovative Problemlösungen Ein Feld wissenschaftlicher Betrachtung sei als abgesteckt angenommen, eine wirtschaftliche Praxis als etabliert, das methodische Vorgehen als überprüfbar. Erklärungen oder Anleitungen und Analysen sind dann mit einem Fundus geteilter Überzeugungen bereits erarbeitet. Das interessante Feld junger Wissenschaften oder ökonomischer Neuanfänge, in denen dies alles noch zu etablieren ist, muss hier um der Kürze und der Klarheit der Darstellung wegen leider außer Betracht gelassen werden. Hier kann der normale Forschungsfortschritt bereits revolutionäre Züge tragen, wie am Beispiel der frühen Quantenphysik ersichtlich ist. Nun soll ein vorgegebenes Problem gelöst werden. Es gibt eine Theorie, ein Erklärungsmodell, das eine Erweiterung benötigt oder an einer Stelle in der Anwendung oder an der Verständlichkeit leidet. Die leitende Irritation ist systemimmanent. Der eingeübten Methode gemäß wird eine Lösung benötigt, die in das gängige Muster passt. Es besteht eine Irritation im normalen methodischen Fortgang der Wissenschaft oder einer wirtschaftlichen Entwicklung oder eines Vorgehens. In der bekannten Terminologie von Thomas S. Kuhn 2 wäre dies eine Weiterentwicklung innerhalb eines Paradigmas. Solches kann in der Wirtschaft relativ schlicht ausfallen, wenn eine neue Werbekampagne, eine neue Version eines Produktes, beispielsweise die nächste Generation des VW Golf-Modells, in Auftrag gegeben wird. Sehr anspruchsvoll kann es werden, wenn über Jahrhunderte der Beweis des so verblüffend einfach zu formulierenden Großen Satzes von Fermat 3 gesucht worden ist und vor Andrew Wiles 4 etliche hochkreative Mathematiker daran gescheitert waren. Der Weg zur Lösung dieses so einfach zu stellenden Problems war so weit, dass er sogar über zwei terminologische 2
Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolution. Chicago 1963. Er besagt: Ist n eine natürliche Zahl größer als 2, so kann die n-te Potenz jeder natürlichen Zahl ungleich null nicht in die Summe zweier n-ter Potenzen natürlicher Zahlen ungleich null zerlegt werden. 4 Beweis durch A. Wiles und Richard Taylor 1994. 3
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Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
Neuanfänge bei David Hilbert und bei Alexander Grothendieck 5 führte. Wird ein Problem konventionell gestellt, sagt dies nichts über den Innovationsgrad seiner Lösung(en) aus. 2.3 Brüche mit tragenden Elementen einer Konstellation, eines Modells oder gängiger Methodik Im Fortgang der Wissenschaft oder auch in der Entwicklung von Wirtschaftsprozessen kommt es immer wieder zu Spannungen im Erklärungsmodell, zuweilen auch zur Infragestellung von Methoden. Dann liegt eine ernsthafte Störung, keine bloße Irritation vor. In der Wirtschaft erleben wir aktuell eine Infragestellung des Dieselantriebs. Über Jahrzehnte war an seiner Verbesserung gearbeitet worden, die Verfehlung von Abgasreinigungszielen irritierte zunächst lediglich. Wenige Monate später wird nun sogar von einigen Vorständen deutscher Automobilhersteller die Zukunft dieser Technik oder gar noch grundsätzlicher die des Verbrennungsmotors insgesamt in Frage gestellt. Wer jetzt als innovativ gelten will, sollte andere Antriebstechnologien entwickeln. Wer einen besseren Dieselmotor entwickeln will, arbeitet in der Einschätzung der Öffentlichkeit nunmehr an einer Wurzelbehandlung, wie Thomas Mann seine Romanfigur Adrian Leverkühn im Doktor Faustus dessen eigene raffiniert innovative, aber noch in erweiterter Tonalität gefangene Komposition »Meeresrauschen« abwertet. Als Beispiel aus der Wissenschaft für einen klaren Bruch könnte die Entwicklung der speziellen Relativitätstheorie durch Albert Einstein fungieren. Kommt es aber zu so fundamentalen Änderungen wie bei der Einführung der Quantentheorie, dann muss 5
David Hilbert prägt Gestalt, Selbstverständnis und auch die Problemstellungen (Hilbert-Probleme) der Mathematik des 20. Jahrhunderts. Alexander Grothendieck stößt mit seinem Verständnis der Algebraischen Geometrie die Arbeit des Bourbaki-Kreises an, welcher der Darstellung der theoretischen Mathematik ein neues Abstraktions-Niveau gab. Die vielleicht bekannteste Darstellung der neuen algebraischen Geometrie findet sich in Robin Hartshorne: Algebraic Geometry. Graduate Texts in Mathematics. New York 1977.
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Henning Hintze
man von echten Neuanfängen sprechen. Im schlichten Auto-Beispiel wäre das ein Übergang auf Sharing-Modelle mit solargetriebenen Vehikeln. 2.4 Echte Neuanfänge In der Wissenschaft ist hier das frühe 20. Jahrhundert die ergiebigste Quelle von Beispielen, da gerade die vermeintlich für immer stabilen Grundlagenwissenschaften betroffen waren, auf die andere reduziert werden sollten. In der Logik fällt der naive Mengenbegriff, Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit werden sichtbar und der Anspruch auf einen Widerspruchsfreiheitsbeweis für die Mathematik muss fallen gelassen werden, gerade weil Frege die formale Logik entwickelt und Hilbert die Methodik der Mathematik grundlegend gewandelt hat. Ebenso radikal wird die Auffassung der Physik in der Quantentheorie im Verständnis von Messbarkeit (Unschärferelation) und dem Charakter ihrer grundlegenden Theoreme (Wahrscheinlichkeitsaussagen statt der gewohnten nicht probabilistischen Differentialgleichungen) verändert. Die Irritation geht so tief, dass Physiker und Mathematiker in dieser Zeit philosophisch orientierte Schriften verfassen, radikal ihre Grundlagen hinterfragen und Freude daran entwickeln, ihre Wissenschaften ganz neu aufzusetzen. Derzeit würde ein ähnliches Unterfangen an den meisten Lehrstühlen vermutlich Kopfschütteln auslösen. In der Wirtschaft ist mit dieser Phase die Einführung der maschinellen Produktionsweise im Gefolge der Erfindung der Dampfmaschine vergleichbar sowie aktuell der Wechsel auf die Internet-Ökonomie mit ihren Charakteristika: Neue Leitideen überwinden etablierte, kapitalkräftige Unternehmen (Amazon und Barnes & Nobles), sehr schnelle Internationalisierung und Monopolbildung (Google, Facebook) sowie extreme Fokussierung auf Wachstum (alle). Wenn in der Wirtschaft auch immer wieder Zwischenlösungen eindrucksvolle Größe erreichen, wird doch zunehmend klar, dass die Veränderung in der Geschwindigkeit weiter zunimmt und die betroffenen Lebens- und Wirtschaftsbereiche nicht mehr einzugrenzen sind. 342 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
2.5 Vorläufige Schlüsse Diese Typisierung erweist sich für die ersten Fragestellungen direkt als nützlich, wenn man vor dem Einsatz philosophischer Terminologie bereits erkennen kann, dass Problemlösungen, die sich nicht zu Brüchen oder Neuanfängen ausweiten, begrüßt werden und ihren kreativen Urhebern relativ wenig Konflikte bereiten. Der Bruch mit Methoden oder zentralen Annahmen oder kuhnschen Paradigmen zieht dagegen auch einen Bruch mit Personen und leitenden Gruppen nach sich. Die inhaltliche Irritation führt zu einer gesellschaftlichen. Dass die Einführung von Onlinebanking einen Filialvertrieb herausfordert, dass die Entwicklung des Smartphones Computerhersteller, aber auch scheinbar weit abgelegene Wirtschaftszweige wie die Autoindustrie durch selbstfahrende Autos oder shared economy in Frage stellt und dort dann nicht einhellig begrüßt wird, kann nicht überraschen. Die Folge ist, dass sich in der Wirtschaft Innovationsgruppen sogar regional abschotten, wie an prominentester Stelle das Silicon Valley, eben weil sie sich in klassischen Firmenstrukturen eingeschränkt oder bekämpft sehen. Will man nun verstehen, wie man wirklich kreativ wird und Brüche oder Neuanfänge initiiert, hilft ein Rückgriff auf eine Unterscheidung aus Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie. 3.
Situationen und Konstellationen
Hermann Schmitz hat erst spät in der Entwicklung seiner Neuen Phänomenologie, einem radikalen Neuansatz in der Phänomenologie, der die Form eines Systems der Philosophie 6 gefunden hat und in zahlreichen Monographien zu systematischen und historischen Fragestellungen vertieft und weiterentwickelt worden ist, die Unterscheidung von Situationen und Konstellationen eingeführt. 7 6
Hermann Schmitz: System der Philosophie. Bonn 1964–1980. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen (Situation). Freiburg/ München 2005.
7
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Henning Hintze
Situationen sind für Schmitz die grundlegenden Entitäten, in denen wir uns finden, die uns vor aller sprachbedingten Vereinzelung umfangen. In ihnen bewegen sich auch (noch) nicht sprachfähige Säuglinge oder Tiere. »Eine Situation […] ist charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme und Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.« 8 Eine Situation kann das Stillen eines Säuglings für diesen als präpersonale, aber auch für seine Mutter als personale sein. Als Beispiel für eine Situation im personalen Erleben, sofern der Schreck über dieselbe nicht zu heftig ausfällt, bietet Schmitz gleich im Anschluss an das Zitat das Ausweichen eines Autofahrers auf regennasser Straße zur Vermeidung eines drohenden Unfalls an. Die Situation wird schlagartig ganzheitlich erfasst, ohne vielleicht Sachverhalte wie denjenigen, dass die Marke des entgegenkommenden Autos VW ist oder dass die Form eines Verkehrsschildes in der Nähe eine bestimmte oder die Anzahl der Büsche am Straßenrand drei ist, explizit und je einzeln als Sachverhalte aufzunehmen. Für Schmitz’ ontologische Auffassung ist wesentlich zu verstehen, dass nicht Einzeldinge primär gegeben sind, sondern Situationen. Fragt man, was einfach ohne jede Beziehung auf Programme oder Probleme da ist, so blieben dafür Sachverhalte, die als solche für Schmitz aber noch subjektiver oder neutralisierter, das heißt vereinfacht, objektiver Art sein können. Das heißt, Situationen sind ganzheitlich und bedeutsam, beinhalten aber neben Sachverhalten auch Programme und Probleme, die nicht sachverhaltlich sind. Die sachverhaltliche Komponente ist bei Schmitz zudem primär subjektiv. Schmitz fasst seinen Grundbegriff der Situation von vornherein nicht extensional auf, auch nicht die Komponenten ihrer Bedeutsamkeit. Einzelheit definiert Schmitz dadurch, dass etwas genau dann einzeln sei, wenn es Ele8
Hermann Schmitz, Situation, S. 22, Hervorhebungen wie im Text.
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Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
ment einer Menge sein könne oder die Anzahl der Elemente einer endlichen Menge durch seine Aufnahme in dieselbe um eins erhöhe. 9 Will man jetzt kriminaltechnisch einen Unfall mit Todesfolge, der sich in dieser Situation ereignet haben könnte, erfassen, werden viele Sachverhalte, aber auch Programme wie der Wunsch, bei Regen zu überholen, vereinzelt, präzise beschrieben, als Sachverhalte möglichst messbar dargestellt, als Programme operationalisiert und dann durch Messung oder Datenabgleiche überprüft. Probleme wie die Absicherung einer Ladung bei ungeeigneten Vorkehrungen können festgestellt werden und in ihrer Auswirkung z. B. durch Experimente ausgewertet werden. Am Ende steht eine Konstellation, die dem Anspruch genügen soll, den Vorfall auf der Basis der theoretischen Mechanik zu rekonstruieren und in dieser Form zu erklären, ihn aber auch straf- oder zivilrechtlich einzuordnen. Schmitz charakterisiert die eigentlich von ihrer Natur her klarer anmutenden Konstellationen nur in kritischer Absicht: 10 »Konstellationen sind Vernetzungen einzelner Faktoren«. Während Situationen schon durch die Einbeziehung von Programmen und Problemen nicht durchgängig objektiviert oder neutralisiert sein können, sind Konstellationen als solche durchgängig objektiviert. Auch wenn es um die Feststellung geht, dass der Fahrer verängstigt war, so ist dies eine objektive, öffentlich überprüfbare Aussage und nicht Ausdruck des situativen Angstempfindens des Fahrers, der sich dies eingestehen oder durch Seufzen zum Ausdruck bringen kann. Eine Konstellation wird aus einzelnen Sachverhalten oder diese Sachverhalte sogar aus einzelnen Gegenständen wie dem Fahrer oder dem Auto, das er gefahren hat, konstituiert. Ein Sachverhalt besteht dann darin, dass er das Auto gefahren hat. Eine Konstellation ist für Schmitz stets Konstrukt und nicht primär real wie eine Situation, deren Realität sich für ihn aufprägt als leiblich-affektiv ergreifend und damit als nicht ernsthaft abzuleugnend evident. Die Realität der Situationen 9 10
Schmitz, Situation, S. 38. Schmitz, Situation, S. 11, 27.
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Henning Hintze
drängt sich durch subjektive Tatsachen der Betroffenheit und Evidenz auf. Realität ist für ihn nicht eine vorsprachlich gegebene Welt von Einzeldingen, die benannt und dann mit abstrahierten Begriffen geordnet werden. Es ist hier nicht der richtige Platz, die Tragweite dieser ontologischen Wende, die Schmitz vollführt, zu diskutieren. Stattdessen soll als Konstellation jede wissenschaftliche Erklärung, Theorie, Methode, aber auch jede Anleitung zum richtigen Wirtschaften, Strategie, Analyse in Wirtschaftskontexten sowie medizinische oder psychologische Verfahren und ihre Erklärungsweisen verstanden werden. Selbst wenn Philosophie diesen Gegensatz ausleuchtet und für die Situationen Partei ergreift als primär und ontologisch fundierend sowie als für das Leben reichhaltiger als alle Konstellationen, wie Schmitz dies auch lange vor der begrifflichen Unterscheidung im zitierten Buch praktiziert hat, so bietet die Philosophie selbst lediglich Konstellationen zur Erklärung oder Erhellung des hochkomplexen Verhältnisses von Mensch, Subjekt, Sprache und Welt. Sie bleibt selbst nicht der Situation verhaftet, auch wenn sie für diese streitet. Wollte sie nicht Konstellationen bieten, so hätte sie sich dichterischer Rede bedienen müssen, welche nach Schmitz »der Zersetzung von Situationen entgegenwirkt, indem sie diese dank geschickter Sparsamkeit der Explikation aus binnendiffuser Bedeutsamkeit in unversehrter Ganzheit durchscheinen lässt.« 11 Im Folgenden wird nur die Kreativität in den Typen 2–4 betrachtet, weil ihr das Interesse des Autors gilt und sein Erfahrungsschatz aus diesen Feldern stammt. 4.
Der Weg in die Innovation
4.1 Fehlende Vermittlung von Kreativität Angesichts der hohen Aufmerksamkeit und der intensiven Anpreisung kreativer oder innovativer Leistungen ist auffällig, wie 11
Schmitz, Situation, S. 32.
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Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
wenig Anleitung für Innovation und Kreation zu finden ist. Der Bereich, in dem Kreativität vielleicht am wenigsten eitelkeitsbesetzt erscheint, jedoch von wirklich tragender Funktion ist, dürfte wohl die theoretische Mathematik sein. Bereits ihr Studium besteht überwiegend aus der versuchsweisen Schöpfung eigener Beweisideen. Als Wissenschaft geht sie in der Suche danach auf, Kreativität wird gefeiert, Reproduktion und Redundanz dagegen klar als »trivial« abgewertet. Bessere Professoren entwickeln vor ihren Studenten in der Vorlesung schwierige Beweise aus dem Kopf, schaffen sie quasi neu und reißen begabte Studenten mit sich im Gedankengang fort. Das ist kreativ weit mehr als in anderen Fächern geleistet wird, in denen meist Skripte vergleichsweise leblos vorgetragen werden. Aber, wie man es anstellt, auf Neues zu kommen – seien es neue Sätze oder neue Beweise –, wird fast nie Thema. Diese subjektive Komponente tritt hinter der Darstellung des Faches als Sammlung objektiver Sachverhalte zurück. In allen anderen mir vertrauten Feldern wie Philosophie, internationale strategische Unternehmensberatung, Produktentwicklung, Medienentwicklung oder Start-up-Geschäft wird Kreativität eher reklamiert, propagiert, manchmal auch fingiert, aber nicht durchgängig im Fortgang der Disziplin praktiziert unter Ausgrenzung repetitiver Komponenten. Allen Disziplinen gemein ist, dass die Schöpfer kreativer Beiträge seltsam wortkarg hinsichtlich der Genese derselben bleiben und wenig von derselben, sondern nur von ihren Resultaten lehren. Das Dilemma ist: Eine Anleitung zur Kreativität führt in jedem konkreten Fall, als ein zu befolgendes Verfahren verstanden, immer nur so weit, wie man eben gerade ohne Innovation, ohne wirklich kreative Idee kommt. Wie kommt es zu echten Innovationen und kreativen Ansätzen, die über eine beauftragte Problemlösung hinausweisen? Was lässt sich angesichts des Dilemmas darüber sagen?
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4.2 Situative Aspekte von Konstellationen, Raum für Innovation Wenn man erarbeitete Konstellationen bloßer alltäglicher Praxis in Wissenschaft und Wirtschaft gegenüberstellt oder tieferblickend wie Hermann Schmitz mit Situationen kontrastiert, darf man nicht übersehen, dass Konstellationen selbst in der Regel nicht vollständig und in allen Einzelheiten verfügbar sind und damit wiederum auch Situationscharakter für ihren Verwender entwickeln können. Für die Beherrschung der Muttersprache, prima facie als Grammatik-System eher Konstellation, hebt Schmitz dies mehrfach hervor 12. Eine Firmenstrategie ist, wenn überhaupt, dann nur in sehr verkürzter Form wie »Wachsen um jeden Preis« in der täglichen Arbeit präsent. Aber auch Wissenschaftler arbeiten nicht an den formalisierten Fassungen ihrer Disziplin, sondern haben eher einen situativen Hintergrund von Verfahren und Formulierungen, die geteilt sind. Präzise wird man an bestimmten Aufgabenstellungen. Sogar die wohl am klarsten erarbeitete formale Wissenschaft, die theoretische Mathematik, hat große Bereiche, die als Bestandteile von wissenschaftlichen Aufsätzen als klar oder trivial übersehen werden, aber keinesfalls beweistechnisch ausführlich erarbeitet worden sind. Hier erweist sich aber im Wissenschaftsalltag – zur Beruhigung der Fachfremden – nur selten etwas als revisionsbedürftig. Dies ist in einem breiter angelegten, aber dennoch zumindest einer quantitativ experimentellen Methodik verpflichteten Fach wie der Medizin bereits signifikant abweichend: Immer wieder erweisen sich Untersuchungen als methodisch falsch oder sogar experimentell verfälscht. Würden die umfangreichen Konstellationen medizinischer Forschung komplett aktuell in allen ihren Einzelheiten prüfend übersehen, wäre dieses Problem weit überraschender. Vielmehr sind es Inseln in fachlicher und in zeitlicher Hinsicht, die präsent sind, anderes wird geglaubt, überliefert oder schlicht so praktiziert. Wegen des Umfangs und der Verästelung empirischer Forschung sowie der Einschränkungen menschlicher 12
Schmitz, Situation, S. 26.
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Auffassung ist dies kaum vermeidlich. Niemand wird sich mit der inhaltlichen Aufarbeitung der Vielzahl medizinischer Dissertationen oder mathematischer Diplomarbeiten ohne besondere und sehr eingegrenzte Fragestellung befassen. Dies würde keine wissenschaftliche Karriere begründen und wohl nur selten zu weiterführenden Resultaten führen. Gleichwohl gehören solche Arbeiten den jeweiligen Wissenschaften an, beinhalten Experimente oder neue Sätze und Beweise. Außerhalb der Mathematik umfassend von logischer oder gar von terminologischer Konsistenz über Zeiträume und Schulen hinweg auszugehen, ist sehr optimistisch. Ein Feld wie eine Wissenschaft oder einen Wirtschaftszweig als Situation zu verstehen, in ihnen Programme, Probleme und Sachverhalte zu unterscheiden, dürfte der Wissenschafts- und Wirtschaftspraxis in diesen Feldern weit näher kommen als eine idealisierende Fixierung auf ein formalisiertes System von Sätzen. Er wäre interessant, Thomas Kuhns seinerzeit revolutionäre Ergebnisse zum Paradigmenwechsel einmal unter dem Situationsbegriff zu reflektieren. Dieser Hinweis soll verdienstvolle Fächer wie die Medizin nicht unberufen kritisieren, sondern Mut geben, wenn man irritiert ist von logischen Unstimmigkeiten, begrifflichen Unschärfen wie mehrdeutiger Verwendung von fachlicher Terminologie, sich dann nicht daran zu gewöhnen, sondern die Schwachstellen auszuleuchten. Vermeintlicher Zeitdruck und das Beispiel im Kollegenkreis, neue Theorien rasch zu adaptieren, neue Termini bedenkenlos zu verwenden und gleich auf neue Kontexte anzuwenden, sind oft irreführende Wegweiser ab vom Pfad zu Innovation. Will man – oder ehrlicher – muss man sich dem aussetzen, findet man seine Freude darin, so fällt auf, dass die beauftragten Problemlösungen in der Architektur von Erklärungsmodellen meist in hohen Stockwerken angesiedelt sind, die relativ reich mit Forschern oder in der Wirtschaft z. B. Produktentwicklern bevölkert sind, während die unteren Stockwerke, die höheres Potential für tiefgreifende Innovationen bergen, seltsam unbewohnt bleiben. Gerade durch die fehlende Pflege ist ihre Fundierung aktuell schwach oder verblasst, wie genau sie auch zu früheren Zeiten er349 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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arbeitet worden sein mögen. Gewöhnt man sich daran, dort nachzufragen, fällt auf, wie gering die Qualität der Fundamente, wie schwach und oft mythenhaft die Dokumentation der Überlegungen ist. Im Bereich der Logik, einem der wenigen Bereiche der Philosophie, die zweifelsfrei Konstellationsstatus erreichen, wäre auf langjährige Selbstverständlichkeiten beispielhaft zu verweisen wie die Zweiwertigkeit der Logik, die zweiteilige Gestalt des Elementarsatzes p(x), die weithin geteilte Erwartung einer nachweislichen Widerspruchsfreiheit der Logik oder der Mengenlehre, die späte Explikation des Auswahlaxioms und die Einsicht in seine logische Unabhängigkeit, historisch die scholastische Auffassung, dass die Annahme einer aktualen Unendlichkeit einen Widerspruch berge. Dies alles ließ sich bezweifeln und mit Alternativen konfrontieren, vieles davon wird aber in entsprechenden Kontexten nach wie vor als gesichert unhinterfragt verwendet. Wem solche Irritation nicht geläufig ist, sollte bei Erschließung neuer Theorien dieselben modellieren, in eigenen Termini neu fassen und dabei auf möglichst wenige Thesen verdichten, dann die Perspektive auf den Gegenstand wechseln. Dafür ist zunächst die Theorie von ihrem Gegenstand zu trennen, werden diese bei unpräzisen Erklärungsmustern doch häufig verwischt. Hier kann es helfen, den Gegenstand einer Theorie einmal situativ zu beschreiben und ihn nicht nur als Korrelat einer Konstellation zu erfassen. Echte Experimente oder Gedankenexperimente, die Frage, wie man die Theorie bestätigen, wie man sie widerlegen sollte oder dürfte, helfen, Konstellationen zu schärfen, sie explizit verfügbar und damit wandelbar zu machen. In den entscheidenden Bereichen sollten die verfügbaren Erklärungen übergenau, wie mit einer Lupe, untersucht werden. Oft ermöglichen Details an der entscheidenden Stelle oder die Entfernung von Überflüssigem erst eine Innovation. Wenn dann etwas fraglich wird und dann geändert werden kann, sollte der weitere Weg nicht aufwärts in Anwendungen oder Spezialfälle führen, sondern abwärts in die Fundamente. Welche Annahmen, welche methodischen Schritte haben denn zu dieser Frage geführt? Welche werden dadurch fragwürdig? Sind es Quellen, Begrifflichkeiten, Schlüsse? Wieviel zu350 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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mindest partiell unklar ist, wird auch aus der dauerhaften Präsenz theoretischer Philosophie deutlich, die selbst in den Fundamenten der Mathematik und Naturwissenschaft ergiebige Fragen als ihr Feld behauptet, die in den Disziplinen nicht zufrieden stellend beantwortet werden können. Jeder dieser Schritte abwärts lässt Spielraum für Änderungen, Neuansätze, zumindest überraschende Einblicke in die Architektur von Konstellationen. In der Disziplin, irritierbar zu bleiben und weiter zu fragen, können auch Philosophen durch ihre Fragerichtung zu kreativen Beiträgen anregen, ohne von redlicher wissenschaftlicher Tätigkeit ablenken zu wollen. In der oft aus Ignoranz verpönten mittelalterlichen Scholastik war es zumindest gefordert, in Quaestiones vor der eigenen Antwort mehrere, meist drei Argumente jeweils pro und contra anzuführen. Im heutigen öffentlichen Raum und in vielen Unternehmen werden Gegenpositionen, je tiefer man in Begründungen gräbt, immer weniger überhaupt formuliert und schon gar nicht deren Begründungen registriert oder die Argumente, mit denen sie dann verworfen worden sind. Dabei ist es eigentlich unverzichtbar, wenn man Konstellationen gründlich verstehen will, diese auf Alternativen zu überprüfen, ihre Anwendung zu betrachten, auf Grenzen zu prüfen, Gegenbeispiele ernst zu nehmen. Eigene Erfahrungen und Beobachtungen, Rückgänge in und Rückbesinnungen auf die zugrundeliegenden Situationen können immer wieder helfen, sich von dem Gang der Erklärung nicht fortreißen zu lassen und Spielraum zu finden für Änderungen und Neuanfänge. Ein guter Test ist, in wie vielen Fragen der alltäglichen beruflichen Praxis in Wissenschaft, Wirtschaft oder anderen Disziplinen man mit der (schweigenden) Mehrheit übereinstimmt. Wenn einem solche Fragen nicht einmal explizit gewärtig sind, steht man vermutlich bei 100 %. Je mehr solcher Fragen oder Alternativen explizit vertraut sind, desto häufiger wird die Übereinstimmung fehlen und damit Platz für eigene Beiträge entstehen.
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4.3 Kreative Ansätze Wenn der Freiraum für Kreativität geschaffen und immer wieder neu erkämpft ist, ist er noch nicht gefüllt. Kreative Ideen sind häufig weniger Produkt intensiven Denkens als vielmehr ein leibliches Gespür für das Passende, Verwandte oder eine anschaulich geometrische Suche nach einem passenden Puzzle-Stück. Daher entsteht auch das augenblickshafte Glücksmoment der Evidenz, das häufig den richtigen Einfall begleitet und nur selten fehlgeht. Das kritische Auflösen vertrauter Konstellationen ist weniger von Glücksgefühlen als von Bestürzung begleitet. Es öffnen sich Abgründe vor den Füßen, die bislang übersehen worden sind. Die Kreation dagegen ist von diesen Glücksmomenten begleitet, die leichtes Suchtpotential bieten. Das streckenweise Ausbleiben ist in vielen Fällen von depressionsartigen Selbstzweifeln begleitet. In der philosophischen Disziplin sind die beiden bekanntesten Fälle Nietzsche und Wittgenstein. Letzter ging zwischen seinen beiden philosophisch kreativen Phasen so weit, seine Zukunft als Volksschullehrer in Kirchberg am Wechsel zu suchen. Dieses Ertasten und Aufspüren des Neuen lässt sich offensichtlich nicht wie ein Arbeitsprozess zerlegen oder zeitlich planen. An dieser Stelle sei der Hinweis auf Hermann Schmitz’ leider zu wenig rezipierte Phänomenologie der Zeit 13 gestattet, in dem verschiedene Zeitschichten wohlbegründet unterschieden werden. Kreative Prozesse in ihrer leiblichen Strukturiertheit werden sicher nicht adäquat erfasst, wenn sie in messbar lagezeitliche Projektplanungen eingebunden werden sollen. Wem kreative Projekte aus eigener Erfahrung vertraut sind, wird wissen, wie sinnlos Projektplanungen oder die Frage sind, wieviel Prozent von dem ungelösten Problem oder der noch nicht vorhandenen Kreation abgearbeitet sind. Die Entwicklung einer Innovation ist sicherlich 13
Hermann Schmitz: Phänomenologie der Zeit. Freiburg/München 2014. Schmitz unterscheidet verschiedene Schichten der Zeit. U. a. stellt er einer gerichteten Modalzeit, welcher ein ontologischer Primat zukommt, die ungerichtete und messbare Lagezeit der Naturwissenschaft gegenüber, die als Konstellation, die zeitlichen Phänomene teils nicht ausschöpft und teils verzeichnet.
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ein zeitlich gerichteter Prozess, der in zeitlicher Umkehrung jeden Sinn einbüßen würde. Wenn eine Neuschöpfung als Kreation des vierten Typs möglich wird, so ist der Ausgangpunkt in den relevanten vortheoretischen Situationen zu suchen, die schrittweise von den verdeckenden vertrauten Konstellationen befreit werden müssen. Was wollte man eigentlich, was lag vor, bevor erste Bahnen für eine Konstellation zur Erklärung oder Regelung gelegt worden waren? In der Werbung fragte man, ob man möglichst viele Menschen mit einer allgemeinen Botschaft erreichen wolle oder genau einen jeden mit der für ihn passenden? Diese Frage führte zum Neuansatz mit Persönlichkeitsprofilen und individualisierter Werbung, der derzeit weltweit die Medienwirtschaft aus den Angeln hebt. Goethes phänomenologisch orientierte Forschung zum Verständnis des Lichts versuchte, Newtons mathematisch geprägten Ansatz mittels eines grundlegend veränderten Verständnisses von Experiment und Beobachtung zurückzunehmen, der wieder auf die unverstellte Beobachtungssituation zurückweisen sollte. Kann etwas grundlegend verkehrt kategorisiert worden sein? Ist die Eindeutigkeit einer Parallele zu einer Geraden durch einen Punkt, scheinbar evident, eigentlich kein Satz, sondern ein Axiom? Ist die mathematische Existenz eines Konstruktionsverfahrens für die Quadratur des Kreises nicht nur kein Satz und auch kein mögliches Axiom, sondern unmöglich, und was heißt das genau und wie kann man es dann beweisen? 14 Bereits in Platons Werk lässt sich die Auflösung überkommener Konstellationen etwa in Gestalt sophistischer Lehren und Lehrprogramme zur Erlangung der Arete in den frühen Dialogen, die im Bekenntnis münden, nicht zu wissen, sehr klar von der Entwicklung eigener Theorien wie der Ideenlehre in der mittleren Periode trennen. Platons Fall ist besonders interessant, weil die 14
Im Gegensatz zum Volksmund, der die Quadratur des Kreises für unmöglich hält, weil ein Kreis kein Quadrat ist, handelt es sich bei der Frage darum, ob ein inhaltsgleiches Quadrat aus einem Kreis mit Zirkel und Lineal zu konstruieren ist. Dieser Unmöglichkeitsbeweis bedurfte einer sehr innovativen Theorieentwicklung in der Algebra, der sogenannten Galoistheorie.
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Phase der Innovation so klar von der Phase der Ablösung etablierter Konstellationen zu trennen ist und er diese Konstellationen im Gespräch von den Gesprächspartnern unter den Fragen seiner Sokrates-Figur explizieren lässt, woraufhin dieser sie dann logisch ad absurdum führt. Zudem wird der Wert des Dialogs bei der Infragestellung von Konstellationen deutlich. Für Kreativität, die auf innovative Brüche innerhalb einer Konstellation abzielt, sind Partner- und Dialogkonstellationen hilfreich, da schon im Gespräch eine bereichernde neue Perspektive entgegentritt. Radikalen Neuanfängen hingegen gehen nicht selten auch lange einsame Phasen voraus, die wie bei Kant bei der Verfassung der Kritik der reinen Vernunft fast als Verpuppung wirken können. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass zwei Personen großer Eigenwilligkeit parallel ein so umfassendes Projekt in Angriff nehmen. So sind auch zehn Jahre einsamen Schaffens wie bei der Verfertigung des Freskos im Dach der Sixtinischen Kapelle oder beim Verfassen der Kritik der reinen Vernunft oder mehre Jahrzehnte bei Freges Entwicklung der modernen formalen Logik im Alleingang so selten oder gar seltsam nicht. Bei solchen Alleingängen besteht immer das Risiko, dass eben doch nichts oder Gewöhnliches aus ihnen entsteht, da ein Korrektiv fehlt. In Freges Fall hätte mit der Russell’schen Antinomie auch sein ganzer Neuansatz eines Systems der Prädikatenlogik verworfen werden können. Wenn man sich vor Augen führt, wie offen Situationen, die uns umgeben, für neue Auslegungen sind, und wie situativ auch dominante Konstellationen bleiben, so erscheint der Vorrat an Ansatzpunkten für Kreativität und tiefgreifende Innovation unbeschränkt und viel versprechend. 5.
Anwendungsbeispiel: Die Entwicklung des Retail-Bankings in Deutschland
Im Folgenden soll die Überlegung über Innovation an einem Beispiel, das niemand interessiert, aber fast jedem vertraut ist, dem Retail-Banking, dem Bankgeschäft für normale Kunden, illus354 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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triert werden. Nach langer Recherche für die HypoVereinsbank, die nach einem Anknüpfungspunkt für ihre Werbung suchte, ermittelte die beauftragte Agentur, was die Kunden an Retail-Banking interessiert: Nichts. Diese Einsicht wurde kreativ umgesetzt in dem bekannten Claim »Leben Sie. Wir kümmern uns um die Details«. Vermutlich kennt jeder Leser dieses Feld aus der Kundenperspektive, ohne sich zu viele Erklärungsmuster für die Entwicklung wegen des geringen Interesses erschlossen zu haben. Eine ernsthafte Betrachtung von Kreativität in der Wissenschaft kann im Rahmen eines Aufsatzes dagegen nicht geleistet werden und wäre zudem auf historisch interessierte Fachleute beschränkt, da sie bei seriöser Darstellung zu weit in die Inhalte des Faches führen müsste. 5.1 Die Ausgangslage Die Banken haben vor langer Zeit, um Kosten zu sparen und um die Risiken von Banküberfällen zu verringern, die Bargeldversorgung auf Geldautomaten außerhalb der Schalterräume verlagert. Für den Kunden hatte es zumindest den Nutzen, außerhalb der immer kürzer werdenden Öffnungszeiten an Geld zu gelangen. Dies ist eine typische Problemlösung der Frage, wie man bei geringer Phantasie im Ertragsmodell durch Kostensenkung im Ergebnis vorankommen kann. Die leitende Konstellation erfordert verlässliche Ergebnissteigerung zur Mehrung des Aktienkurses. Dies verspricht ein Sparprogramm mit planbarer Sicherheit. Sparen als primäres Geschäftsmodell wird in vielen etablierten Industrien meist mit größerer Ernsthaftigkeit als jede Wachstumsinitiative praktiziert. Da nun kaum noch Kunden kamen, denen etwas verkauft werden konnte, stieg der Kostendruck mangels Umsatzperspektive. Die Filialnetze wurden nach und nach so weit gekappt, dass letztlich nur noch die Sparkassen und die Gruppe der Volksbanken, Raiffeisenbanken in der Fläche vertreten sind. Es führte dazu, dass die Akzeptanz von Direktbanken stieg, die Kostenvorteile in den Konditionen spiegelten und keinen entscheidenden 355 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Nachteil mehr aufwiesen. Die klassischen Banken verfolgten ihren Sparkurs strikt weiter, begannen aber, ihre Filialen, deren Mitarbeiter sich mehr als Berater denn als Verkäufer verstanden, mit Konzepten aus dem klassischen Produktmarketing und -vertrieb zu überziehen, um sie verkaufsaggressiver werden zu lassen. Sie sprachen erstmals von Produkten, die vermarktet und verkauft werden sollten. Wie bei dem Sparprogramm wird eine bewährte Konstellation aus einem anderen Bereich übertragen, diesmal zur Umsatzsteigerung. Heute erklären sich deutsche Bankvorstände das Problem so, dass sie die Kunden an die Internetbanken und Internetunternehmen im Rahmen der tatsächlich weit später einsetzenden zweiten Online-Welle verloren haben. Dies ist wiederum ein Erklärungsmuster, das viele Verlierer der New Economy vorbringen. In keiner der drei gekennzeichneten Konstellationen prägt sich die besondere Situation der Banken aus. Das ist auffällig. Die Not der Banken wird in Europa durch die Nullzinspolitik der EZB angeheizt, weil das tragende Erlösmodell aus der Zinskonditionsmarge entfällt. Wie wird man nun in einem solchen Feld kreativ oder innovativ? 5.2 Ablösung brüchiger Erklärungsmuster Wertvoll ist zunächst die Erkenntnis, dass man selbst die Kunden durch Geldautomaten und Überweisungsgeräte aus der Filiale vertrieben hat. Diese Erkenntnis war des Verfassers eigener Erfahrung nach mehrfach ein Überraschungsmoment in Gesprächen mit Vorständen deutscher Banken und Großbanken. Die Analyse wurde aber geteilt. Bei der Deutschen Bank entstand etwa um 1999 die Idee, Retail-Kunden bis hin zu kleinen Millionenvermögen zwangsweise in die neu gegründete Direktbank »Bank 24« zu versetzen, um auch hier Kosten zu sparen und alle Aufmerksamkeit auf wenige Kunden mit größeren Vermögen zu richten. Dies verärgerte viele Stammkunden, führte zu einer Kündigungswelle in Richtung auf günstige Direktbanken oder direkte Wettbewerber, welche den 356 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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Kunden den Status als Privatkunden in der Filiale zu bewahren versprachen. Wie konnte es so weit kommen? Es war aus Überlegungen entschieden worden, die nicht die Kundenwünsche und -emotionen einbezogen haben. Eine verengte Bilanz- und Kostenkonstellation verdeckte die vertraute Situation im Kundengeschäft. Die ausgeklammerten Emotionen haben dann zu Reaktionen geführt, deren Tragweite nicht erkannt wurde, da sie seitens der Entscheidungsträger ausgeblendet blieben. Das sinkende Arbeitsaufkommen pro Kunde wurde lange als Erfolg gewertet. Aufgeben wollte man aber das Filialgeschäft nicht. Dessen Zweck sollte weiter im Produktverkauf liegen, der nun aber noch weniger den Erwartungen entsprach, weil das vertriebsschwache, eher fachlich qualifizierte Personal die Kunden nicht mehr zwanglos ansprechen konnte. Dann übernahm man als neue Konstellation zur Regelung des Geschäftes Marketing- und Vertriebskonzepte zur Optimierung aus dem wunschorientierten Produktverkauf des Konsumgütermarketings, das auch in viele Branchen wie etwa in die Folgeunternehmen der Deutschen Post Einzug hielt. Dies sieht nach einem kreativen Methodentransfer aus einer erfolgreicheren Branche aus. Es hätte aber bei genauer Betrachtung der neuen Vermarktungsansätze irritieren sollen, dass die Bankprodukte aus der vertrauten Situation der eigenen Branche fast gar nicht in die Terminologie des Konsumgütermarketings passen und dass es zudem zumindest zwei grundverschiedene Typen Bankprodukte und Kunden gibt, die aber gleichartig erfasst wurden. Wenn man die Produktlogik einer Bank kurz betrachtet, erkennt man, dass die klassischen Bankprodukte (ohne Provisionsprodukte wie Fonds und Versicherungen) in die zwei Bilanzseiten einer Bank zerfallen: die Geldanlageprodukte auf der Passivseite der Bankenbilanz und die Kreditprodukte auf der Aktivseite der Bilanz. Die Passivprodukte weisen in der Emotionalität der »Kauf«entscheidung keinerlei Ähnlichkeit mit den gängigen beworbenen Produkten (Nahrungsmittel, Kleidung, Möbel, Autos, Unterhaltungselektronik) auf: Diese will man haben und bezahlt sie. Die Bankprodukte werden dagegen erworben oder im Fall von Konten durch Sparen aufgefüllt – gerade durch den Verzicht 357 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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auf Konsum. Verstanden werden sollen sie aber nach dem Leitbild eines Produktkaufes und konsumorientiert beworben und verkauft werden. Zugespitzt sollte der Kunde motiviert werden, ein Produkt zu konsumieren, das im Verzicht auf Konsum besteht. Bei den Aktivprodukten, Krediten aller Art, ist es eher so, dass Produktkäufe ermöglicht werden können. Der eigentliche Wunsch richtet sich auf das Produkt, der Bankkredit ist eher ein lästiges Übel wie Kofferpacken vor dem Urlaub. Wenn man wieder genauer die Struktur betrachtet, ist die Versorgung mit klassischen Ratenkrediten ohne Produktbezug wie Auto, der oft vor Ort erfolgt, für die meisten Kunden eine Rettung aus heiklen, angstbesetzten Situationen und nicht ein lästiger Umweg zur Wunscherfüllung. Dies lässt sich direkt durch Teilnahme an der Situation des Verkaufsgespräches erkennen: Man gibt dem Kunden zur Begrüßung die Hand und greift oft in ein Eisfach. Diese Temperatur entsteht nicht aus Freude auf den Kauf des beworbenen Kredites, sondern daran, dass der Kunde klamm ist, wie der Volksmund so treffend formuliert. 5.3 Mögliche Brüche mit dem bewährten Vorgehen Wenn man beginnt, den gesamten wunschorientierten Marketing-Ansatz in Frage zu stellen, kann man erkennen, dass beide Kundentypen, Anlageorientierte wie auch Kreditbedürftige, nicht primär wunsch-, sondern angstmotiviert sind. Dies erklärt nebenher auch, warum sich keiner für Bankprodukte interessiert. Die Ratenkreditkunden stecken in der Klemme, werden aber in eine eindrucksvolle Filiale eingeladen und eher in ihren Ängsten bestärkt. Man errichtet Hemmschwellen für diese tatsächlich profitabelsten Retail-Kunden. Anlageorientierte Kunden werden in ihrer Angst, Geld oder Rendite zu verlieren, nicht verstanden. Man will ihnen aber etwas verkaufen. Über Bankprodukte und ihre Kunden kann man fast nichts aus dem wunschorientierten Produktmarketing lernen, das eine verstellende und verdeckende Konstellation darstellt. Jetzt kann man kreativ werden. Man könnte auf die Filiale ver358 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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zichten oder einen neuen Typ Bank entwickeln, der Hemmschwellen aufhebt. Commerzbank und Deutsche Bank haben das Filialnetz weiter ausgedünnt und parallel dazu Direktbanken gegründet. Sie stehen alle bis heute im Schatten des niederländischen Spezialisten ING Diba. Will man die Filialbank retten, so sollte man prüfen, wie man die Kunden mit Themen oder Partnern in die Filiale leiten kann. Wenn Ängste die Verkaufsentscheidung dominieren, sollte man auf sie eingehen. Wenn Ratenkreditkunden unter Angst vor Einengung in den Handlungsmöglichkeiten und Blamagen leiden, könnte eine Werbekommunikation, welche die Bank locker, nicht statussensibel und offen erscheinen lässt, helfen. Aber eine derartige Ansprache passt gar nicht zur anlageorientierten Kundengruppe, die Angst hat, Geld zu verlieren oder nicht hinreichend von der Anlage zu profitieren und sich damit zu disqualifizieren. Hier sind Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit der Bank gefragt. Es kann wegen der Verschiedenartigkeit der leitenden Ängste der Kunden keinen gemeinsamen werblichen und vertrieblichen Auftritt für Aktiv- und Passivkunden und wohl auch keine verbindende Marke geben. Aus Sicht der Banken wäre der Einsatz von Verkäuferpersönlichkeiten aus anderen Branchen interessant wie auch die Überprüfung der Öffnungszeiten, die innerhalb der Arbeitszeit ihrer Anlage-Kunden liegt. 5.4 Mögliche Neuansätze Denkt man radikaler, so fällt auf, dass eine attraktive und wirklich sicher funktionierende Absicherung von Internet-Käufen bis heute nicht etabliert ist und die Kunden zähneknirschend auf das teure und wenig nützliche PayPal setzen. Obwohl bereits in der ersten Internetwelle um 2000 an solchen Produkten wie auch an einer Sicherung gegen Identitätsbetrug gearbeitet worden ist, ist bis heute keine umfassende und akzeptierte Lösung etabliert. Der Kauf mit dem Smartphone wird von Apple, Google und anderen Internet-Riesen etabliert werden. Dies öffnet die Tür zur schrittweisen Integration des gesamten Retail-Banking-Geschäf359 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
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tes. Die Banken hätten hier Erfahrung und Vertrauen auf ihrer Seite. Technisch mögliche Innovationen wie das automatische Einlesen von Rechnungen mit automatischer Überweisung werden in sogenannten Fin-Techs, spezialisierten Start-up-Unternehmen, entwickelt. Allein die Commerzbank hat sich an der Entwicklung über die Gründung eines sogenannten Incubators (Main Incubator) mit Investments und Kompetenzen beteiligt. Eine Lösung, sein Anlagevermögen ruhigen Gewissens einer Bank zu übergeben, wie man seine Steuererklärung einem Steuerberater überlässt, vielleicht technisch unterstützt mit geeigneten Apps, ist mir nicht bekannt, obwohl der Kunde so sehr danach dürstet. »Leben Sie. Wir kümmern uns um die Details« ließe sich mit einem adäquaten Leistungsangebot hinterlegen. 6.
Fazit
Irritationen ergeben sich häufig, sie werden nur nicht oft genug genutzt, um Konstellationen tiefgreifend zu modifizieren oder zu ersetzen. Es ist erstaunlich, wie der Geldautomat als eine Ursache der Kundenflucht übersehen werden kann, weil das Kostensenkungsschema nicht verlassen wird. Die unpassende Erklärung fehlender Vermarktungserfolge durch wunschorientiertes Produktmarketing für zwei heterogene, durch gegensätzliche Ängste und eben nicht durch Wünsche motivierte Produktkategorien ist ein Beispiel für eine Konstellation, welche die vertraute Situation komplett verstellt. Eine Rückbesinnung auf die Situation des Kunden findet zu wenig statt, obwohl sich aus ihr eine Kette von Innovationsansätzen schöpfen ließe. Dass die Unterscheidung von Situationen und Konstellationen hilfreich ist, erkennt man gerade an der Dauerhaftigkeit der Probleme. Die etablierten Innovationsprogramme im Retailbanking verstellten gerade die Situation des Kunden. Die Konstellation wie Produktmarketing wurden eingeübt und geläufig praktiziert. Es fehlte an Irritation, Sinn für die offenbaren Fehlstellungen, und der Bereitschaft, sich zu Brüchen oder Neuanfängen leiten zu lassen. 360 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Irritation als Ausgangspunkt von Innovation
Es sollte außer Zweifel stehen, dass Banken und ihre Vorstände ihr Geschäft und dessen Ergebnisse mit Intensität und Konsequenz verfolgen, wofür sie öffentlich oft überzogen gerügt werden. Sie sind aber stark in Abläufe, Kommunikationswege an die Märkte, die Kunden und die Mitarbeiter eingebunden und folgen ihren Konstellationen situativ. Dass dies sogar für das gesamte Bankengeschäft in der grundlegenden Risikothematik gilt, wurde in sogenannten »Subprime«-Krise 2008 weltweit deutlich. Es spricht demnach in Wissenschaft und Wirtschaft viel dafür, vorgegebene Konstellationen nicht zu verabsolutieren, ihre eingebauten Entwicklungsprogramme nicht mit Fortschritt zu identifizieren, Irritationen zu erwarten und sich auf diese einzulassen und auf ihrer Basis Konstellationen in Frage zu stellen, um sie zu verändern oder Alternativen zu erarbeiten. Es spricht viel dagegen, Konstellationen mit den zugrundeliegenden Situationen zu verwechseln oder sie als alternativlos, neutrale Beschreibung der Fakten zu idealisieren wie ein Schüler, der meint, Begründungen, deren Fehlen ihn irritiert, noch nachgeliefert zu bekommen. Dass gravierende Innovation gewöhnlich nicht in eine Konstellation als Programm eingeplant werden kann, verwundert aus dieser Perspektive nicht mehr – wie auch ihre relative Seltenheit. Wer bereit ist, Neuanfänge zu suchen, sollte am wenigsten schonend mit den eigenen Auffassungen und Werken umzugehen versuchen. Literatur Frege, Gottlob: Grundgesetze der Arithmetik. Hildesheim 1966. Frege, Gottlob: Begriffsschrift und andere Aufsätze. Darmstadt 1977. Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolution. Chicago 1963. Schmitz, Hermann: System der Philosophie. Bonn 1964–1980. Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Freiburg/München 2005. Schmitz, Hermann: Phänomenologie der Zeit. Freiburg/München 2014.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Heinz Becker, Dipl.-Psych. Ingenieur, Psychologe und Psychotherapeut, arbeitet als Managementberater und Autor in Hamburg. www.heinz-becker.com Wichtigste Publikationen: Unternehmen brauchen Streitkultur. München 2017. Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern, hrsg. Freiburg/München 2013. Walter Burger, Prof. Dr. med. Studium der Humanmedizin (1970–1976), Promotion (1978), Habilitation im Fach Pädiatrie (1992), Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit der Subspezialität pädiatrische Diabetologie, ehem. Leiter des Diabeteszentrums für Kinder und Jugendliche an den DRK Kliniken Berlin/Westend (2006–2015) Wichtigste Publikationen zum Thema: Unterschiede in der Gesprächsführung bei Patienten mit chronischen und akuten gesundheitlichen Problemen, in: T. Langer/ M. W. Schnell (Hrsg.): Das Arzt-Patient-/Patient-Arzt-Gespräch. München 2009, S. 109–120. Der Beitrag der Neuen Phänomenologie zum Verständnis chronischer Krankheit – Überlegungen und Erfahrungen am Beispiel des Diabetes mellitus. Rostocker Phänomenologische Manuskripte Heft 15, Rostock 2012. Die neue Phänomenologie in der Kinder- und Jugenddiabetologie, in: H. Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 73–99. 363 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Sabine M. Dörpinghaus, Prof. Dr. rer. cur. Klinikhebamme und freiberuflich tätige Hebamme Studium der Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft in Köln und Vallendar (2001–2007), Promotion 2012. Professur für Hebammenkunde an der Katholischen Hochschule in Köln (seit 2013), Gründungsstudiengangsleitung, Gründungsmitglied des Kölner Kreises für humane Geburtskultur. Wichtigste Publikationen: Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe. Freiburg/München 2013. Leibliche Resonanz im Geburtsgeschehen, in: H. Landweer/ I. Marcinski (Hrsg.): Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes, Bielefeld 2016, S. 69–89. Ich spüre was, was du nicht hörst. Zur Bedeutung leiblichen Verstehens im geburtshilflichen Kontext, in: G. Maio (Hrsg.): Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin. Freiburg 2017, S. 239–268. Robert Gugutzer, Prof. Dr. phil. Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft in Tübingen und an der LMU München, Promotion 2001 in Halle/S. (DFG-Stipendium für das Graduiertenkolleg »Identitätsforschung«), Habilitation 2011 in Augsburg, seit 2009 Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften des Sports am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Wichtigste Publikationen: Handbuch Körpersoziologie (2 Bde.), hrsg. mit G. Klein und M. Meuser. Wiesbaden 2017. Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie, in: Zeitschrift für Soziologie 3/2017, S. 147–166. Soziologie des Körpers (5. Aufl.). Bielefeld 2015. Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld 2012. body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld 2006. 364 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Jürgen Hasse, Univ.-Prof. (em.) Dr. rer. nat. habil. Studium u. a. der Geographie an der Universität Oldenburg, Promotion 1978, Habilitation 1988, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Oldenburg, Hochschulassistent für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg, von 1993 bis 2014 Lehrstuhl für Humangeographie und Didaktik der Geographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Wichtigste Publikationen: Atmosphären der Stadt. JOVIS Verlag 2012. Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Freiburg/München 2014. Der Leib der Stadt. Freibrug/München 2015. Versunkene Seelen. Begräbnisplätze ertrunkener Seeleute im 19. Jahrhundert. Freiburg 2016. Mikrologien räumlichen Erlebens, Band 1, Freiburg 2017, Band 2, 2018, Band 3, 2019. http://jhasse.com Henning Hintze, Dr. phil., Dipl. Math. Studium der Philosophie, Mathematik, Psychologie, ComputerLinguistik in Bonn, Erlangen, München. Diplom in theoretischer Mathematik, Promotion 1995 in Philosophie in Erlangen. Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Ab 1997 Tätigkeit als Strategie-Berater bei Boston Consulting und McKinsey & Co. Ab 2002 Manager in der Bank-Produktentwicklung und Marketing bei Deutscher Bank und Norisbank; ab 2006 Geschäftsführer und CEO in Mediaagenturen: Publicis Services Deutschland und MagnaGlobalMediaplus, Hamburg und München. Wichtigste Publikation: Nominalismus, der Primat der ersten Substanz versus Ontologie der Prädikation. Freiburg 1997.
365 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Robby Jacob, Dr. med. Arzt und Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Verbunds Prenzlkomm Berlin, Direktor des Prenzlkomm-Instituts für Prosopiatrie. www.prenzlkomm.de Institut für Prosopiatrie Prenzlkomm gGmbH, Schönhauser Allee 161a; 10435 Berlin Wichtigste Publikation: Psychiatrie ohne Psyche, in: Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen – Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern. Freiburg/München 2013, S. 152–176. Robert Josef Kozljanič, Dr. phil., M.A. Studium der Philosophie, Psychologie, Ethnologie, Volkskunde, Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2003 Promotion in Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt bei Prof. Dr. Gernot Böhme. Dozent, Kursleiter, Autor und Verleger (www.albunea.de). Mitarbeiter am Pädagogischen Institut der Stadt München und Hauptherausgeber des »Jahrbuchs für Lebensphilosophie«. Wichtigste Publikationen: Gelebter, erfahrener und erinnerter Raum, hrsg. v. J. Hasse u. R. J. Kozljanič (Jahrbuch für Lebensphilosophie 5, 2010–2011). Lebensphilosophie – Eine Einführung, Stuttgart 2004. Kritik und Therapie wissenschaftlicher Unvernunft. Hans Peter Duerr und Paul K. Feyerabend gewidmet, hrsg. v. J. Hasse u. R. J. Kozljanič (Jahrbuch für Lebensphilosophie 8, 2016–2017). Thomas Latka, Dr. phil. Studium der Philosophie, Soziologie und Psychologie in Frankfurt, München und Kyoto (Japan). Promotion 2002. Seitdem tätig als IT-Experte, Unternehmensberater, agiler Coach und Dozent für systemische Therapie und Philosophie an Hochschulen und Lehrinstituten. www.tomlatka.de
366 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Agile & digitale Transformation, Japanische Philosophie, Therapeutische Wirkungsforschung, Topologie. Wichtigste Publikation: Topisches Sozialsystem. Heidelberg 2003. Gudula Linck, Prof. em. Dr. Diplomübersetzerin (1968) in Französisch und Spanisch, Promotion in Sinologie, Ethnologie, Japanologie (München 1979), Habilitation für Sinologie (Freiburg 1984), Privatdozentin (Freiburg), Heisenberg-Stipendiatin (1985–1990), Professorin für Sinologie (Kiel 1990–2008). Auslandsaufenthalte: Paris, Salamanca, Taibei/Taiwan, Osaka/Japan, Berkeley/USA. Forschungsschwerpunkte: Gesellschaft, Familie, Altersstufen, Gender, Philosophie und Praxis von Körper und Leib. Yoga-Ausbildung am Mahindra-Institut, Birstein (1999) und Qigong-Ausbildung an der Universität Oldenburg (2005). Wichtigste Publikationen: Frau und Familie in China, München 1988. Leib oder Körper. Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie. Freiburg/München 2. Aufl. 2015. Ruhe in der Bewegung. Chinesische Philosophie und Bewegungskunst. Freiburg/München 2013/2015. Yin und Yang. Die Suche nach Ganzheit im Chinesischen Denken. Freiburg/München 2001/2017. Hermann Schmitz, Prof. Dr. phil. Promoviert 1955, habilitiert für Philosophie 1958; 1971 bis 1993 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Begründer der Neuen Phänomenologie. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze. Wichtigste Publikationen: Zuletzt im Verlag Karl Alber (Freiburg) erschienen: Gibt es die Welt? (2014). Atmosphären (2014). selbst sein (2015). 367 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Ausgrabungen zum wirklichen Leben (2016). Zur Epigenese der Person (2017). Wozu Philosophieren? (2018). Klaudia Schultheis, Prof. Dr. Promotion 1990, Habilitation 1997, seit 1998 Inhaberin des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Wichtigste Publikation: Pädagogische Kinderforschung. Grundlagen, Methoden, Beispiele, hrsg. mit Petra Hiebl, Stuttgart 2016. Ausführliche Informationen unter: http://www.klaudia-schultheis.de. Viola Straubenmüller, MA, BA Studium der Pflegewissenschaft und Pflegepädagogik, Gesundheits- und Krankenpflegerin am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart, derzeit Lehrerin in der Altenhilfe; Publikations- und Rezensionstätigkeit. Wichtigste Publikationen: Systematische Metaphernanalyse in der Pflegeforschung einsetzen – Erfahrungen und Herausforderungen, unter: http://www. forschungswelten.info/fw_2016_vorabprogramm.pdf, (Stand: 12. 03. 2016). Dem Undenkbaren Raum geben. Zukunftswerkstätten als kritisch-kreative Arbeitsprozesse in der Pflegebildung, in: PADUA 10, 2015a, S. 306–310. Pflege(n) ist ästhetisch! Begründungszusammenhänge Ästhetischer Bildung aus Sicht der Pflege, in: PADUA 10, 2015b, S. 19–23. Charlotte Uzarewicz, Prof. Dr. disc. pol. Studium der Ethnologie, Soziologie und Medizingeschichte in Göttingen (M.A.), Promotion 1997, seit 1998 Professorin für Pflegewissenschaft (Berlin und München), seit 2008 Honorarprofessorin für Kultur und Ästhetik in der Pflege an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. 368 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtigste Publikationen: Kopfkissenperspektiven. Fragmente zum Raumerleben in Krankenhäusern und Heimen. Freiburg/München 2016. Die Bedeutung der leiblichen Kommunikation im Kontext transkultureller Pflege, in: A. Uschok (Hrsg.): Körperbild und Körperbildstörungen. Handbuch für Pflege und Gesundheitsberufe. Bern 2016, S. 137–152. Fremde(s) in der Pflege und transkulturelle Kompetenz – Ein Schulungskonzept, in: A. E. Kurz (Hrsg.): Erfahren-Lernen-Wissen. Ergebnisse und Erfahrungen aus Projekten zur transkulturellen Kompetenzentwicklung, zu Coaching und Kollegialer Beratung für Pflegende. München 2014, S. 12–112. www.raumerleben.net Michael Uzarewicz, Dr. disc. pol. Studium der Soziologie, Politikwissenschaften und Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen (M.A.), Stipendiat der Heinrich Böll Stiftung, Promotion 1997, seit 1999 freiberuflicher Dozent u. a. an der Fernhochschule Hamburg und seit 2016 an der Technischen Hochschule Deggendorf. Arbeitsschwerpunkte: theoretische Soziologie, neophänomenologische Soziologie, Phänomenologie der Gewalt. Wichtigste Publikation: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen. Stuttgart 2011. Barbara Wolf, Prof. Dr. phil. Studium der Diplom-Erziehungswissenschaften 2007, Promotion in Soziologie und Erziehungswissenschaften 2012, ab 2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Koblenz, 2012/2013 Schulleitung Fachschule für ErzieherInnen in Koblenz, 2013 Koblenzer Hochschulpreis, seit 10/2013 Professur für Kindheitspädagogik an der SRH Hochschule Heidelberg, seit 2017 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Neue Phänomenologie.
369 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Wichtigste Publikationen: Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit. Freiburg 2012. Atmosphären des Aufwachsens. Rostocker Phänomenologische Manuskripte 2015. Kinder lernen leiblich. Freiburg 2016.
370 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie
Das Interesse der Neuen Phänomenologie gilt den Phänomenen selbst. Sie eicht ihre Begriffe an der unwillkürlichen Lebenserfahrung. Dadurch gibt sie Gelegenheit zu neuen Einsichten, die über übliche Perspektiven hinausgehen. Insbesondere Themenbereiche wie Leib, Gefühl und Subjektivität können so in neuer Weise der Erkenntnis zugänglich gemacht werden. Zugleich öffnet die Neue Phänomenologie den Blick auf andere Kulturen. Mit der Reihe, in der Monographien und Textsammlungen erscheinen, wird diesem Anliegen Raum zur Diskussion gegeben. Band 1 Hermann Schmitz Situationen und Konstellationen Wider die Ideologie totaler Vernetzung 304 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48146-2 Band 2 Anna Blume (Hg.) Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung 176 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48147-9 Band 3 Dirk Schmoll / Andreas Kuhlmann (Hg.) Symptom und Phänomen Phänomenologische Zugänge zum kranken Menschen 332 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48148-6
371 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Band 4 Jürgen Hasse Fundsachen der Sinne Eine phänomenologische Revision alltäglichen Erlebens 436 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48130-1 Band 5 Jan-Peters Janssen (Hg.) Wie ist Psychologie möglich? 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48189-9 Band 6 Sven Sellmer Formen der Subjektivität Studien zur indischen und griechischen Philosophie 380 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48179-0 Band 7 Ute Gahlings Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen Erweiterte Neuausgabe 720 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48802-7 Band 8 Stefan Volke Sprachphysiognomik Grundlagen einer leibphänomenologischen Beschreibung der Lautwahrnehmung 280 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48209-4 Band 9 Anna Blume (Hg.) Was bleibt von Gott? Beiträge zur Phänomenologie des Heiligen und der Religion 224 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48231-5
372 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Band 10 Hermann Schmitz Freiheit 168 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48297-1 Band 11 Hans Jürgen Wendel / Steffen Kluck (Hg.) Zur Legitimierbarkeit von Macht 184 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48330-5 Band 12 Jürgen Hasse (Hg.) Die Stadt als Wohnraum 212 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48334-3 Band 13 Michael Großheim / Stefan Volke (Hg.) Gefühl, Geste, Gesicht Zur Phänomenologie des Ausdrucks 292 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48412-8 Band 14 Hermann Schmitz Jenseits des Naturalismus 392 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48381-7 Band 15 Michael Großheim / Steffen Kluck (Hg.) Phänomenologie und Kulturkritik Über die Grenzen der Quantifizierung 256 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48427-2 Band 16 Gudula Linck Leib oder Körper Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie 360 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48451-7 373 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Band 17 Barbara Wolf Bildung, Erziehung und Sozialisation in der frühen Kindheit Eine qualitative Studie unter Einbeziehung von Richard Sennetts Flexibilitätskonzept und Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie 444 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48536-1 Band 18 Steffen Kluck / Stefan Volke (Hg.) Näher dran? Zur Phänomenologie des Wahrnehmens 404 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48537-8 Band 19 Steffen Kammler Die Seele im Spiegel des Leibes Der Mensch zwischen Leib, Seele und Körper bei Platon und in der Neuen Phänomenologie 200 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48563-7 Band 20 Sabine Dörpinghaus Dem Gespür auf der Spur Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe 440 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48605-4 Band 21 Lenz Prütting Homo ridens Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens Erweiterte Neuausgabe 2028 Seiten. Gebunden mit Leseband. ISBN 978-3-495-48829-4
374 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Band 22 Michael Großheim / Anja Kathrin Hild / Corinna Lagemann / Nina Trcka (Hg.) Leib, Ort, Gefühl Perspektiven der räumlichen Erfahrung 416 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48643-6 Band 23 Steffen Kluck Pathologien der Wirklichkeit Ein phänomenologischer Beitrag zu Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt 384 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48592-7 Band 24 Henning Nörenberg Der Absolutismus des Anderen Politische Theologien der Moderne 312 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48694-8 Band 25 Isabella Marcinski Anorexie – Phänomenologische Betrachtung einer Essstörung 132 Seiten. Kartoniert. ISBN 978-3-495-48683-2 Band 26 Hilge Landweer / Dirk Koppelberg (Hg.) Recht und Emotion I Verkannte Zusammenhänge 456 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48817-1 Band 27 Stefan Volke / Steffen Kluck (Hg.) Körperskandale Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit 256 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48857-7 375 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .
Band 28 Hilge Landweer / Fabian Bernhardt (Hg.) Recht und Emotion II Sphären der Verletzlichkeit 376 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-48880-5 Band 29 Robert Gugutzer / Charlotte Uzarewicz / Thomas Latka / Michael Uzarewicz (Hg.) Irritation und Improvisation Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem 376 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-49027-3 Band 30 Jürgen Hasse (Hg.) Das Eigene und das Fremde Heimat in Zeiten der Mobilität 256 Seiten. Gebunden. ISBN 978-3-495-49029-7
376 https://doi.org/10.5771/9783495817612 .