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German Pages 303 [290] Year 2007
Wolf-Dietrich Bukow · Claudia Nikodem · Erika Schulze Erol Yildiz (Hrsg.) Was heißt hier Parallelgesellschaft?
Interkulturelle Studien Band 19 Herausgegeben von Georg Auernheimer Wolf-Dietrich Bukow Christoph Butterwegge Hans-Joachim Roth Erol Yildiz
Wolf-Dietrich Bukow Claudia Nikodem · Erika Schulze Erol Yildiz (Hrsg.)
Was heißt hier Parallelgesellschaft? Zum Umgang mit Differenzen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage September 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15485-5
Inhalt
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Inhalt Inhalt
Einleitung Wolf-Dietrich Bukow/Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz Was heißt hier Parallelgesellschaft? Zum Umgang mit Differenzen .................. 11
Minderheiten auf dem Weg in die Veralltäglichung Wolf-Dietrich Bukow Die Rede von Parallelgesellschaften. Zusammenleben im Zeitalter einer metropolitanan Differenzgesellschaft ......... 29 Thomas Krämer-Badoni Assimilierte Differenz oder differenzierte Assimilation? Riskante Integrationsmuster in eine desintegrierte Welt..................................... 53 Christoph Butterwegge Normalisierung der Differenz oder Ethnisierung der sozialen Beziehungen? .... 65
Minderheiten im Kontext urbaner Inszenierungen Ingrid Breckner Minderheiten in der Stadtentwicklung ................................................................ 83 Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt..................................... 93 Michael Krummacher Zum Umgang mit „Minderheitenghettos“ – Differenzen in der „Sozialen Stadt“ .................................................................. 109
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Inhalt
Beate Binder Urbanität und Diversität. Zur Verhandlung von Fremdheit in der Berliner Stadtentwicklungspolitik...... 121 Andreas Feldtkeller Stadtumbau als Chance...................................................................................... 133 Herbert Schubert Zur Differenz kultureller Regelsysteme im Sozialraum.................................... 143
Zwischen institutioneller Ordnung und Selbstbehauptung Hans-Joachim Roth Multilingualität und Monolingualität ................................................................ 159 Volker Hinnenkamp Vom Nutzen einer hybriden Sprache................................................................. 175 Frank-Olaf Radtke Segregation im deutschen Schulsystem............................................................. 201 Erika Schulze Zwischen Ausgrenzung und Unterstützung. Bildungsbiographien von Jugendlichen mit Migrationshintergrund........................................................... 213 Andreas Deimann/Markus Ottersbach Chancen und Barrieren eines beruflichen Arrangements.................................. 229
Positionierungen durch Geschlecht und Herkunft Christine Riegel Migrante Positionierungen: Dynamische Mehrfachverortungen und die Orientierung am Lokalen ............................................................................. 247 Susanne Spindler Rassismus, Männlichkeit und „andere“ Körper ................................................ 257
Inhalt
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Christoph Liell Die Skandalisierung von Differenzen. Das Beispiel ethnisierter Jugendgewalt............................................................. 269 Ugur Tekin Der Weg ins Gefängnis...................................................................................... 287 Kurzprofile der Autor(inn)en......................................................................... 297
Einleitung
Einleitung Einleitung
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Wolf-Dietrich Bukow/Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz Die Rede von der Parallelgesellschaft speist sich aus zwei sehr unterschiedlichen Quellen, nämlich einerseits aus der Stadtforschung und andererseits aus einem migrationspolitischen Alarmismus der Medien. Allerdings geben beide Quellen einzeln nicht viel her, nur verknüpft scheint daraus überhaupt eine Debatte entstanden zu sein. Dennoch bleibt es erstaunlich, dass sie sich entfalten konnte und seit nunmehr gut acht Jahren sogar eine beträchtliche Wirkung zeigt. Bis heute gibt es fast keine systematische Auseinandersetzung mit Parallelgesellschaften und so etwas ist wohl auch kaum zu erwarten, weil institutionell geschlossene Gesellschaften in einer globalisierten Weltgesellschaft kaum vorstellbar sind. Doch gehen wir lieber langsam vor und kreisen die Thematik schrittweise ein. Dann wird auch deutlich, an welcher Stelle die Beiträge dieses Sammelbandes einhaken.
Aus welchen Quellen wird hier geschöpft? Wie oben erwähnt kann man zunächst einmal zwei Quellen ausmachen, die einzeln kaum ertragreich genug sind, aber zusammen synergetische Effekte hervorbringen. Zunächst gilt es einen Blick auf eine für Migrationsvorgänge sensibilisierte Stadtforschung zu werfen. Diese notiert seit langem in allen klassischen Einwanderungsländern die Erfahrung, dass Einwander(innen) zunächst häufig auf die Unterstützung von Familie und Bekannten vertrauen und sich dort niederlassen, wo sie Menschen gleicher Sprache und Herkunft treffen. In der Regel verlassen sie diese Quartiere aber mit der Zeit wieder und machen auf diese Weise für Neuankömmlinge Platz. Das hat dazu geführt, dass sich überall dort, wo Einwander(innen) ins Land kommen, so etwas wie ethnische Kolonien gebildet haben, die als solche zwar stabil erscheinen, aber im Blick auf den Einzelnen stets nur ein erstes Arrangement ermöglichen.
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Dieses schon seit gut hundert Jahren bekannte und sehr sorgfältig untersuchte Phänomen hat immer wieder auch zu öffentlichen Debatten geführt. So auch in der Zeit der großen Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren, wo sich die Migration in den ethnischen Kolonien gewissermaßen staute, weil die Wirtschaftskrise als eine Art Mobilitätsbarriere wirkte. Neben Wirtschaftskrisen, die Mobilität verhindern, gibt es in vielen Ländern einen weiteren Grund dafür, dass die Einwander(innen) langfristig in solchen Quartieren verbleiben: strukturelle Bedingungen, die Mobilität beschränken, genauer, Aufstiegsbarrieren errichten und Migration kanalisieren. Gemeint ist damit, dass Zuwander(innen) nur am unteren Rand der Gesellschaft Platz finden, zum Beispiel als Illegale, als Billiglohnarbeiter(innen), als Dienstmädchen oder als Sexarbeiter(innen) akzeptiert werden. Auf diese Weise entsteht ein „ethnisches Proletariat“, das in prekären Stadtquartieren verbleiben muss und damit langfristig marginalisiert wird. Auch dieses Phänomen ist aus den klassischen Einwanderungsländern wie z.B. den USA – vor allem aus den Südstaaten – vertraut. Es findet sich in Europa wieder, wo man den Zuwander(innen) den Weg in die Gesellschaft über politische, ökonomische oder rassistische Barrieren versperrt. Die in Deutschland seit den 1960er Jahren praktizierte „Ausländerpolitik“ hat genau auf eine solche Unterschichtung abgezielt und erwartungsgemäß entsprechende Effekte ausgelöst (Heckmann 1992). Dieser Mechanismus ist bis heute wirksam, wie beispielsweise Untersuchungen über Zuwanderinnen aus den ehemaligen GUS-Staaten, die als Akademikerinnen ankommen und als Dienstmädchen verbleiben, zeigen. Verdeckt wird diese Entwicklung häufig dadurch, dass nicht immer alle, sondern eben nur bestimmte Einwanderergruppen dieser Unterschichtung und den damit verbundenen politischen, ökonomischen und gegebenenfalls rassistisch organisierten Maßnahmen unterworfen werden. Hier wird eine bio-politische Komponente deutlich: in den klassischen Einwanderungsländern an der Differenz zwischen dem typischen WASP (White AngloSaxon Protestant) und den asiatischen Einwander(innen) (Ong 2005:130), in Europa an den Differenzen zwischen Kerneuropa und dem „Orient“, vor allem den türkischen und arabischen Minderheiten. Aus dieser Perspektive ist also die Tatsache, dass sich Menschen mit vergleichbarem Migrationshintergrund durchaus auch längerfristig zusammenfinden, kein wirklich politisches Problem, sondern eher eine der gesellschaftlichen Entwicklung oder gouvernementalen Maßnahmen geschuldete Erscheinung. Damit handelt es sich auch um keine migrantenspezifische „Fehlentwicklung“, sondern um eine Reaktion auf gegebene Bedingungen. Ebenso wenig findet sich hier automatisch eine stadtplanerische Herausforderung, sondern eine „normale“ Entwicklung, die oft genug gewollt ist und nur dann Debatten herauf beschwört, wenn man aus dritten Gründen Zuwanderung skandalisiert.
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Zum Zweiten soll ein Blick auf den migrationspolitischen Alarmismus der Medien geworfen werden. Betrachtet man die einschlägigen „Ausländer“-Debatten der letzten fünfzig Jahre, so ist es doch erstaunlich, wie lange man in dieser breit gefächerten und von unendlich vielen Vorurteilen geprägten Diskussion gebraucht hat, um auf das zu stoßen, was in den klassischen Einwanderungsländern die ethnischen Kolonien darstellen. Das hat vor allem zwei Gründe: a.
b.
Zum einen brauchte es in Deutschland (anders als z.B. in den Niederlanden) eine lange Zeit, bis sich überhaupt hinreichend viele Einwander(innen) gleicher Herkunft zusammenfinden und in der öffentlichen Wahrnehmung als Gruppe erkennbar werden konnten. Das liegt einerseits an der anfangs breit gefächerten Anwerbepolitik der 1960er Jahre, andererseits an der ungewöhnlich hohen Fluktuation innerhalb der Migration. Zudem führte die Entwicklung der EU, in deren Rahmen große Gruppen von Einwander(innen) gleich gestellt werden mussten, dazu, dass ihre Skandalisierung problematisch wurde. Zum anderen musste sich der migrationspolitische Alarmismus erst ausreichend nationalstaatlich alimentieren. Hierzu bedurfte es eines Wiedererstarkens nationalstaatlichen Denkens. Und dies hat sich erst in den 1990er Jahren wieder an die Öffentlichkeit gewagt und mit der Wiedervereinigung den notwendigen Schub erhalten (Bukow 1993: 98). Damit wird deutlich, dass das, was in einer Einwanderungsgesellschaft biopolitisch durchaus gewollt sein mag – nämlich ethnische Koloniebildungen – in einem Nationalstaat alsbald zu einem Ärgernis wird (Meyer 2002), wenn dieser gemäß kontinentaleuropäischer Tradition auf nationale Homogenität setzt. In diesem Fall geht es nicht mehr um „ethnische Kolonien“, sondern um die „Segregation von Ausländerinnen und Ausländern“, also um Parallelgesellschaften, letztlich um Brückenköpfe des Fremden im eigenen Land.
Und wie fügt sich das in unsere Erfahrungen ein? Der Verdacht liegt nahe, dass mit dem Begriff Parallelgesellschaft auf Vorstellungen verwiesen wird, die wenig mit dem zu tun haben, was moderne Gesellschaften ausmacht. Der Begriff impliziert die Existenz institutionell geschlossener und wohl abgegrenzter, nebeneinander existierender Gesellschaften. Und diese Vorstellung passt nicht zu den heute üblichen Formen urbanen Zusammenlebens, ebenso wenig zu der zunehmenden, unterdessen schon beträchtlichen Mobilität, zu den immer umfassender vernetzten Infrastruktur-, Wirtschafts-,
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Bildungs-, Verwaltungs- und Kommunikationssystemen, zu einer längst globalisierten Kultur und Ökonomie (Albrow 1998: 245). Wenn etwa in einem Stadtteil das Angebot an internationaler Gastronomie besonders hoch ist, käme wahrscheinlich noch niemand auf die Idee, dies als Indikator für eine Parallelgesellschaft anzusehen. Gut, aber wenn man registriert, dass in einer Wohngegend ungewöhnlich viele Leute in einer „fremden“ Sprache miteinander reden? Reicht es aus, wenn an der Mehrzahl der Geschäfte mehrsprachige Beschriftungen sind? Auch das reicht für eine Parallelgesellschaft kaum aus, weil dann Rothenburg/Tauber oder die Heidelberger Altstadt klassische Prototypen für Parallelgesellschaften wären. Aber wenn sich allenthalben kleine Milieus, sozusagen „private Kleingesellschaften“ ausbilden? Hier ist zu berücksichtigen, dass wir doch alle ständig mit der operativen Neugestaltung unterschiedlichster kleinerer wie größerer „Kleingesellschaften“, nämlich unserer individuellen Lebensform befasst sind (Nassehi 2002: 226). Der Alltag ist ungeheuer divers geworden, womit sich zugleich – zeitlich-räumlich betrachtet – alle dauerhaften Strukturen verabschiedet bzw. ineinander verschachtelt haben (Marcuse/van Kempen 2000: 247f). So entstehen heute zwar laufend neue und miteinander konkurrierende Welten, doch diese haben längst ihren institutionell geschlossenen Charakter verloren und durchziehen kreuz und quer das Alltagsleben. Sie ermöglichen es dem Einzelnen sogar, gleichzeitig an mehreren solcher kleinen Milieus oder Diskurswelten teilzunehmen. All das erscheint längst so trivial, dass man es kaum noch registriert. Es ist so selbstverständlich, dass man sich darüber kaum noch Rechenschaft ablegt, sondern solche „kleingesellschaftlichen“ Wirklichkeiten „taken-forgranted“ hinnimmt. Man registriert sie einfach nicht mehr und pickt sich gewohnheitsmäßig das heraus, was man in der Situation und im Augenblick benötigt, das, was gerade relevant ist, bzw. was zum eigenen Lebensstil passt. Alles andere wird ausgeblendet. Der Rest ist egal und wird mehr oder weniger wohlwollend distanziert betrachtet und ignoriert, wie das schon Erving Goffman (1974: 224) beschreibt. Doch was ist mit den Quartieren, die sogar symbolisch durch Zäune und Tore abgeschlossen sind? Dann wären die China- oder Greek-Towns in den großen Städten in den USA oder in Kanada, in Australien oder in Neuseeland allesamt Fälle von Parallelgesellschaften. So wird das dort freilich nicht gesehen, selbst wenn dann in diesen Quartieren eigene Schulen entstehen, eigene Zeitungen und ein eigener Rundfunksender, eigene religiöse Gemeinschaften und sich die Bevölkerung überhaupt nicht mehr aus dem Quartier heraus begeben muss, um ihren Alltag zu organisieren. All dies reicht in den klassischen Einwanderungsländern nicht aus, um diese Quartiere als Parallelgesellschaften zu kennzeichnen. Im Gegenteil bewirbt man solche Quartiere und erklärt sie zu Aushän-
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geschildern urbaner Toleranz. In Deutschland hingegen braucht es viel weniger, da reicht schon eine „fremde Beschriftung“ oder der Bau einer Moschee aus, und es wird die Parallelgesellschaft beschworen. Ironischer Weise wird aus sozialwissenschaftlicher Sicht dann eine Parallelgesellschaft am wahrscheinlichsten, wenn die betroffenen Bewohner(innen) über Macht und Geld verfügen. Nicht die Zuwanderer oder die Minderheiten, die Reichen und Mächtigen sind diejenigen, die gated communities gründen. Wir kennen sie seit gut zwanzig Jahren aus den urbanen „Speckgürteln“. Sie breiten sich an den Peripherien der Megastädte aus und erfreuen sich in allen reichen Industriegesellschaften zunehmender Beliebtheit. Aber selbst in solchen Fällen sind das nicht wirklich Parallelgesellschaften, sondern letztlich doch bloß Refugien von Menschen, die ansonsten extrem eng, nämlich ökonomisch, politisch und kulturell mit der „restlichen“ Gesellschaft verknüpft sind und oft genug nicht nur über viel Macht verfügen, sondern sogar an den Schalthebeln der Macht sitzen und Politik betreiben. Wer komplexe und in sich tatsächlich weitgehend strukturell geschlossene Parallelgesellschaften sucht, der wird historisch im Rahmen des Kolonialismus, der religiös-sozialen Bewegungen des 18. Jahrhunderts und heute im Kontext des Militärs fündig. Das z.B. von den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Patrick-Henry-Village in Heidelberg wäre so ein klassisches Beispiel: eigenes Geld, eigene Verwaltung, eigene Schulen, eigene Arbeitsplätze, Straßen und Versorgungssysteme, eigener Flugplatz, eigene Geschäfte, Sprache, Kultur und Kirchen. Mit anderen Worten, so einfach finden, beobachten und identifizieren lassen sich Parallelgesellschaften nicht. Man kann sie – ausgestattet mit den politischen Leitwerten des Nationalstaates (vgl. Schroer 2005: 340) – eigentlich nur „fühlen“. Es ist eben nichts Paralleles daran, wenn man sich mit seinesgleichen zusammen schließt und sich gemeinsam innerhalb der metropolitanen Stadtgesellschaft etabliert. Was dabei entsteht, sind kleinere oder größere Wir-Gruppen, eine Lebensstilorientierung, ein Milieu. Jeder sucht hier seine Wir-Gruppe, die sich in einen alle gemeinsam überwölbenden Alltag einfügt.
„Gefühlte Parallelgesellschaft“ So betrachtet ist die Debatte um die Parallelgesellschaft Folklore, bestenfalls eine Debatte von gestern. Die gesellschaftliche Entwicklung gibt für solche Erscheinungen nichts her, speziell die Stadtentwicklung zielt seit jeher in eine andere Richtung. Sie zielt auf Veralltäglichung von Zuwanderung und Integration von Minderheiten („self-elimination by success“). Insoweit lässt sich schnell
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erkennen, dass weder die Stadtentwicklung noch die kommunalpolitische Diskussion aus sich heraus die Diskussion über Parallelgesellschaften nahe legen. Von hier aus gibt es keinen Anlass für eine solche zum Teil sehr scharf und polemisch geführte Diskussion. Der Grund für die Schärfe erschließt sich jedoch, wenn man berücksichtigt, dass wir es mit einer Debatte auf der Ebene gesellschaftlicher Vorstellungen, Bilder, Entwürfe, auf der Ebene eines nationalstaatlichen Diskurses zu tun haben. Es geht um die diskursive Beschwörung der Abgrenzung des alteingesessenen Bürgertums gegenüber dem Rest der Welt, politisch gesagt gewissermaßen um das letzte Gefecht des Nationalstaats, kulturell formuliert um die Bewahrung traditionsmächtiger Legitimationsmuster, also die Verteidigung der Ressource „Christliches Abendland“ für die eigenen Privilegien, sozial formuliert um die Limitierung der Erwerbs- und Sozialstaatsansprüche für die eigene Klientel und psychologisch gesehen um die Stabilisierung von Identitäten in einer sich radikal wandelnden Weltgesellschaft. In der Regel geschieht dies jedoch nicht deshalb, weil sich der einzelne fürchtet, sondern weil man die gesellschaftliche Ordnung, in der man sich solange behauptet hat, überfordert sieht (Sökefeld 2004: 28). Es geht um eine „korrekte“ Beteiligung an der gesellschaftlichen Macht, die hier weder zivilgesellschaftlich noch rechtlich, sondern gefühlsmäßig unterfüttert wird. Die Debatte um die Parallelgesellschaft findet in einer virtuellen, vormodernen Welt der gefühlsmäßigen Orientierung an überkommenen gemeinschaftsgesättigten, gesamtgesellschaftlich angelegten Deutungsmustern statt. Diese Arena ist sehr alt und zählebig und scheint in Zeiten rapiden Wandels immer wieder virulent zu werden. Sie speist sich aus einem Unbehagen an der Moderne und aus der Angst um den Verlust sicher geglaubter Privilegien. Eine in diesem Kontext formulierte „gefühlte“ Parallelgesellschaft bleibt gegenüber Erfahrungen und Informationen immun. Das macht sie als Folklore stabil, attraktiv und legitimationsträchtig. Längst erweist sich die Rede von der Parallelgesellschaft als Teil eines heute an vielen Orten gegenwärtigen fundamentalistischen Diskurses und verstellt den Blick für eine adäquate Beobachtung dessen, was in der globalisierten Weltgesellschaft geschieht. Mit diesem gefühlten Weltbild wird eine Logik vorgegaukelt, die zwar keine adäquaten Beschreibungen liefert, wohl aber Szenerien und Drehbücher bereitstellt, also Deutungsmuster, um Konfliktlagen „auf den Begriff zu bringen“ und Motive liefert, um „wohllegitimiert“ handeln zu können. Bilder sind eben mehr als nur Bilder (BeckGernsheim 2006: 36ff). Den „Ausländer“ der 1970er Jahre konnte man noch rechtlich bekämpfen, ihm das Wahlrecht vorenthalten, ihn bei der Arbeit und in der Bildung benachteiligen. Den „Fremden“ der neunziger Jahre musste man schon persönlicher angehen und intrinsische, unentrinnbare Fremdheit unterstellen. Man musste ihn in die innere Emigration treiben, wenn er schon nicht ins
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Land der Väter zurückkehrt. Wie kann man diesen Diskus noch steigern? Man erklärt den Anderen zum Angehörigen einer schlechthin anderen Welt. Wenn man heute von der Parallelgesellschaft redet, dann meint man letztlich eine virtuelle Welt, die zwar niemand sehen kann, die aber eine in ihren angestammten Privilegien verunsicherte Bevölkerung wunderbar fühlen kann. Wir haben es mit einem virtuellen Konstrukt zu tun. Die Debatte erweist sich als zweifach gefährlich: erstens, weil sie den Blick für die Risiken der Moderne verstellt, und zweitens, weil sie zu Handlungen motiviert, deren Resultate völlig unkalkulierbar sind und deshalb in der Regel destruktiv wirken. Man darf sich also nicht täuschen. Dass es sich um die Beschwörung einer folkloristischen Größe handelt, bedeutet nicht, dass die ganze Sache folgenlos wäre. Sie schafft Kulturrassismus, produziert Zonen negativer Integration, adcribiert Minderwertigkeit, diskreditiert den anderen und legitimiert No-go-areas. In der grellen Beleuchtung dieser Debatte erscheinen Dinge plötzlich „normal“, die man seit der Aufklärung und der Erfindung der Zivilgesellschaft für überholt gehalten hat (Schiffauer 1997: 157).
Zu den Beiträgen im ersten Teil In den Beiträgen des ersten Kapitels werden die verschiedenen Facetten dieses alltagspolitischen Diskurses beleuchtet und jeweils in einen größeren Zusammenhang der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung gestellt. Wolf-Dietrich Bukow macht zunächst den alltagspolitischen Diskurs um die Parallelgesellschaft in Verbindung mit einem gouvernementalen Diskurs, einen “exklusiven Nationalismus” klar. Dabei zeigt er auf, wie aus diesen Diskursen rassistische Barrieren innerhalb der Gesellschaft entstehen. Gleichzeitig betont er aber immer wieder ein nach wie vor erfolgreiches Miteinander in den Stadtquartieren “unterhalb” jenes ausgrenzenden Diskurses. Thomas Krämer-Badoni diskutiert in seinem Aufsatz die praktizierte assimilierte Differenz oder bi-nationale Integration. Er analysiert, dass es in einer globalisierten Weltgesellschaft immer schwieriger wird, diese Formen der biopolitischen Grenzziehung, die nichts anderes als eine Exklusion symbolisiert, beizubehalten. Dieser Ausschluss funktioniert nur durch das Bild des „vonNatur-aus“ Fremden. Christoph Butterwegge schließlich fokussiert in seinem Aufsatz die Bedeutung der Standortdebatte beziehungsweise des Standortnationalismus im Kontext von Migration. Der Standortnationalismus erfährt durch den Diskurs um die Parallelgesellschaft nochmals eine spezielle Fütterung – und umgekehrt. Es kommt zu einer Wechselwirkung beider Diskussionsstränge.
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Zu den Beiträgen im zweiten Teil Die Rede von der Parallelgesellschaft skandalisiert Migration und Diversität und knüpft damit zugleich an den skizzierten nostalgischen nationalen Mythos von der Welt urbaner Homogenität an. Es wird eben häufig übersehen, dass Diversität schon immer ein Hauptcharakteristikum des Städtischen war, weil das urbane Leben Differenz und damit auch differente Perspektiven in unterschiedlichen Kontexten regelrecht erzwingt. Städte ermöglichten seit jeher die Koexistenz von Differentem, führten unterschiedliche Biographien, Milieus, Lebensformen und Lebensstile an einem Ort zusammen. Auf diese Weise werden Städte zu einem Erfahrungsraum, der alle Provinzialität hinter sich lässt, dem eine Vielfalt von Perspektiven, Lebensstilen und Milieus innewohnt, der Unterschiedlichkeit nicht nur zulässt, sondern auch fördert. Die Gleichzeitigkeit von Alt und Neu, von Stabilität und Transformation, Kontinuitäten und Diskontinuitäten machen den Charakter des Urbanen aus. Damit rückt das Mannigfaltige, das Unterschiedliche und das Gegensätzliche in der Stadt nahe zusammen, wird von den Bewohnern miteinander in Beziehung gesetzt, wobei neue Kompetenzen entwickelt werden (vgl. Nassehi 2002: 212). Daher fungierten Städte stets als Laboratorien der Modernisierung, als Generatoren diverser Lebens-, Denk-, Kunst- und Konsumstile, als Orte, an denen sich Funktionssysteme wie Ökonomie, Politik, Bildung, Recht etc. entwickeln konnten, an denen urbane Lebenswelten, Lebensstile und Milieus zur Entfaltung kamen und je nach Situation politische Öffentlichkeiten begründet wurden. Gerade die Konfrontation diverser Individualitäten, urbaner Lebenswelten und Praktiken bringt verschiedene Perspektiven hervor und schafft ein Gefühl der Indifferenz. Es ist daher im praktischen Alltagsleben gar nicht möglich und auch nicht nötig, alles, was tagtäglich in den Städten passiert, wahrzunehmen. Unsere Wahrnehmungswelt hängt mit den Kontexten zusammen, in denen wir uns bewegen und in denen wir unsere Biographien entwerfen. Anders als in vormodernen Gesellschaften vollzieht sich der Großteil der sozialen Kommunikation nicht zwischen miteinander bekannten und vertrauten Menschen, sondern in den Bereichen Arbeit, Freizeit, Konsum etc. zwischen einander „fremden“ Menschen. Es ist meist nicht sinnvoll, Kontakte durch persönliche Beziehungen zu stabilisieren, weil dafür sowohl Zeit als auch Motivation fehlen. Heute muss eine Kommunikation „unter Fremden“ in der Lage sein, soziale Beziehungen auch ohne „Menschenkenntnis“, ohne Nähe, Sympathien usw. herzustellen und erfolgreich zu bewältigen. Diese Art von Begegnungen gehören zur täglichen Herausforderung. Sie sind Chance, Risiko und Zumutung zugleich, etwas, dem sich jeder Stadtbewohner ausgesetzt sieht (vgl. Yildiz 1999: 54ff). In urbanen Kontexten finden auch der Außenseiter, der Einzelgänger und der Exzentriker
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noch ein Milieu, das ihnen ermöglicht, ihre Anliegen, Neigungen und Talente zu entfalten. „Ein paar Schritte von meiner Wohnung gab es jedes Abenteuer der Welt, und eine Meile weiter dünkte ich mich in jedem fremden Land“, so beschreibt John Reed die Faszination, welche die urbane Diversität New Yorks im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert auf ihn ausübte. Städte waren immer auch Knotenpunkte von Migrationsbewegungen, durch die sie wesentlich geprägt wurden. Erst mit der Zuwanderung ist beispielsweise das Ruhrgebiet zur größten Industrieregion Europas geworden und sind Großstädte wie Berlin, Hamburg oder Köln zu deutschen Metropolen aufgestiegen. Großstädte sind ohne Migration nicht denkbar. Migrationsbedingte Differenz ist somit ein wesentliches Element des Alltäglichen. Phänomene, die wir heute als einheitlich oder national wahrnehmen, waren schon immer hybrid und grenzüberschreitend. Im rasanten Prozess der Globalisierung werden wir in Zukunft sogar mit einer extensiven kulturellen und historischen Diversität konfrontiert sein – einer Diversität, die sich gängigen Erklärungen entzieht. Die Debatten im zweiten Teil greifen die markierte Problematik auf. Sie zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven, wie die gegenwärtige Rede von der „Parallelgesellschaft“ eine homogene Stadt unterstellt, die städtische Wirklichkeiten vernachlässigt, die Einwanderungssituation auf „Kultur“ bzw. „Leitkultur“ reduziert und die konstitutive Relevanz von Diversität für das urbane Leben ignoriert (vgl. Krämer-Badoni 2002: 74). Diese eher hysterische statt historische Diskussion der Migration blendet aus, dass das Alltagsleben vielmehr einer undramatischen sozialen Grammatik folgt, die sich stärker an konkreten Prozessen und Erfahrungskontexten orientiert als es die allzu einfachen kulturellen Zuschreibungen suggerieren (vgl. Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2001). Besonders deutlich wird das bei Ingrid Breckner, wenn sie die ideologische Instrumentalisierung des Begriffs „Parallelgesellschaften“ kritisiert. Sie zeigt, dass Parallelgesellschaften aus strukturellen Gründen in den Städten kaum lebbar sind, weil einerseits das urbane Leben durch Mobilität geprägt ist und sich andererseits die Stadtteilbewohner(innen) in unterschiedlichen Kontexten bewegen (müssen), wodurch unterschiedliche soziale Kontakte unvermeidlich sind. Dass die Rede von der Parallelgesellschaft darüber hinaus erfolgreiche urbane Praktiken und unterschiedliche Wahrnehmungswelten ignoriert, ist u.a. das Thema von Claudia Nikodem, Erika Schulze und Erol Yildiz. Sie beschreiben in ihrem Beitrag einerseits, wie die Stadt unterschiedlich angeeignet wird und wie es zu metropolitanen Routinen und Selbstverständlichkeiten in der differenzgeprägten Gesellschaft kommt. Andererseits zeigen sie auch, wie der Zugang zu gesellschaftlichen Funktionssystemen bei Flüchtlingen verhindert und wie Differenz skandalisiert wird.
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Bei Michael Krummacher steht der Umgang mit migrationsbedingter Differenz in der Stadt im Mittelpunkt. Er kritisiert die generalisierende Debatte über die „gescheiterte Integration“ und hebt die Potentiale von Migrant(inn)en zur Stabilisierung multiethnischer Stadtteile hervor. Auch bei Beate Binder geht es um Urbanität und Diversität. Sie diskutiert die Verhandlung von Fremdheit in der Berliner Stadtpolitik und kritisiert in diesem Zusammenhang die Reduktion von Diversität auf Ethnizität und die Kulturalisierung von Differenz. Andreas Feldkeller beschreibt in diesem Zusammenhang die Relevanz der Einbeziehung städtebaulicher Fragestellungen für das urbane Leben und vertritt die These, dass das Funktionieren der Städte maßgeblich von der stadträumlichen Struktur abhängig ist. Bei Herbert Schubert geht es abschließend um die Inszenierung von Öffentlichkeiten in einem marginalisierten Quartier in Duisburg. Im Mittelpunkt stehen die Aneignungsprozesse städtischer Räume von autochthonen und allochthonen Bewohner(inne)n und daraus entstehende Konflikte, die oft vorschnell als migrationsbedingte Kulturkonflikte wahrgenommen werden. Schubert warnt vor solchen kulturalistischen Deutungen angesichts der Tatsache, dass solche Konflikte nicht auf den Migrantenstatus, sondern in erster Linie auf soziale Benachteiligung und Exklusionsprozesse der Betroffenen zurückzuführen sind. Er zeigt zudem, wie allochthone Jugendliche aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen Gegenstrategien entwickeln. Zu den Beiträgen im dritten Teil Die Folgen des gesellschaftlichen Umgangs mit Differenz, mit Mobilität und Migration, der auch im Diskurs um „Parallelgesellschaften“ zum Ausdruck kommt, liegen in der Marginalisierung und im Ausschluss des als „anders“ Gebrandmarkten. Dies wird im Bildungs- und Ausbildungswesen in eklatanter Weise sichtbar. Nicht nur die PISA-Studie führte uns vor Augen, wie offensichtlich das hiesige Schulsystem versagt, wenn es darum geht einer heterogenen Schülerschaft auch nur annähernd gerecht zu werden. Neben der hohen Korrelation von sozialer Herkunft und Bildungserfolg wird dies vor allem an der problematischen Bildungssituation vieler Kinder und Jugendlicher mit Migrationshintergrund augenscheinlich. Nicht Chancengleichheit, sondern vielmehr die Reproduktion bestehender Positionierungen scheinen hier das Leitmotiv zu bilden. Trotz einer gesellschaftlichen Realität, die durch einen stetigen Zuwachs von Heterogenität gekennzeichnet ist, hält das Bildungssystem an seinen überkommenen Strukturen fest, die sich an der Vorstellung von Homogenität orientieren. Das mehrgliedrige Schulsystem sortiert die Schüler(innen) frühzeitig in
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möglichst homogene Lerngruppen. Ausgestaltung und Organisation der Bildungsprozesse machen sichtbar, dass nicht Differenzen ihren Ausgangspunkt bilden. Vielmehr ist das hiesige Schulsystem hauptsächlich auf die autochthonen, einsprachig geprägten Mittelschichtsschüler(innen) ausgerichtet und bedient nur sie. Die Vielfalt der Schülerschaft – im Hinblick auf ihre lebensweltlichen Hintergründe, ihre Erfahrungen, ihre individuellen Bildungsvoraussetzungen, ihre sprachliche Herkunft etc. – dient dem Schulsystem nicht etwa als lebendiger Ausgangspunkt, sondern gilt als Störfaktor, den es zu eliminieren gilt. Entsprechend werden die heterogenen Kompetenzen der Schüler(innen) nicht als solche anerkannt, sondern sie werden – wie am Beispiel Sprache besonders eindringlich deutlich wird – als Defizite denunziert. In einem solchen System stehen Gewinner(innen) und Verlierer(innen) frühzeitig fest. Der schulischen Positionierung in einem hoch segregierenden System folgt dann die entsprechende Positionierung auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Dabei verweist der seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich sinkende Anteil migrantischer Jugendlicher im Ausbildungssystem nicht nur auf Defizite des Bildungssystems, sondern auch auf Mechanismen direkter Diskriminierung. War nämlich zunächst noch trotz allem eine zunehmende Qualifizierung im Rahmen der nachschulischen berufsbezogenen Ausbildung zu konstatieren, so verringerten sich die Chancen dieser Jugendlichen mit der Verengung des Ausbildungsmarktes wieder – ein Vorgang, der auf Schließungsprozesse und Ressourcensicherung auf Seiten der autochthonen Bevölkerung verweist. Doch so eindeutig die gesellschaftlichen Systeme die Bildungsmisere herbeiführen, so eindeutig werden die Schuldigen an anderer Stelle ausgemacht: Die Migrant(inn)en selbst seien verantwortlich, ziehen sie sich doch in Parallelgesellschaften zurück, haben keine Bildungsaspirationen und vermitteln ihren Kindern die falsche Sprache und die falschen Werte. Dieses fast schon als Reflex zu bezeichnende Argumentationsmuster zeigte sich zuletzt in der Diskussion um die Berliner Rütli-Schule. Die Probleme, die in dieser Schule auftraten und mit dem Brief des Lehrkörpers an die breite Öffentlichkeit gerieten, verwiesen auf Systemprobleme, genauer auf ein dreigliedriges Bildungssystem, in dem eine Hauptschule ihre Schüler(innen) mit ihrem Bildungszertifikat nur in die Arbeitslosigkeit entlassen kann und auf eine Gesellschaft, die von wachsender ökonomischer Ungleichheit geprägt ist und sich weiterhin nur marginal als Einwanderungsgesellschaft versteht. Nicht wenige der Jugendlichen, um die sich die Diskussion hier drehte, kommen aus Familien, die über Jahre bzw. Jahrzehnte ohne einen gesicherten Aufenthaltstitel leben mussten. Neben der damit einhergehenden existentiellen Unsicherheit der gesamten Familie sowie der Verweigerung einer Arbeitserlaubnis bedeutete dies in Berlin bis in die 1990er Jahre hinein, dass die Kinder keiner Schulpflicht unterlagen (Seidel 2006).
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Die Beiträge dieses Kapitels beleuchten aus unterschiedlichen Perspektiven das Thema Bildung und berufliche Positionierung, widmen sich dabei den strukturellen Bedingungen ebenso wie den individuellen Positionierungsprozessen und Handlungsstrategien von Allochthonen – seien es Jugendliche oder Erwachsene. Hans-Joachim Roth beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit der aktuellen Diskussion um die Mehrsprachigkeit und fokussiert dabei im Besonderen die deutsche Sprachenpolitik. Dabei nimmt er zunächst eine historische Perspektive ein und kann auf diese Weise die Wurzeln und die Kontinuität der aktuellen Sprachenpolitik eindringlich veranschaulichen. Das Thema Sprache wird auch von Volker Hinnenkamp bearbeitet. Der Autor nimmt hierbei eine Perspektivenumkehr vor und zeigt entgegen ihrer Etikettierung als „doppelte Halbsprachigkeit“ welcher Nutzen und welche Funktion der Mehrsprachigkeit im Alltag zukommt. An zahlreichen Beispielen veranschaulicht er dabei virtuose Sprachfertigkeiten mehrsprachiger Jugendlicher und zeigt, wie selbstverständlich sie mit beiden Sprachen jonglieren. Frank-Olaf Radtke beleuchtet in seinem Artikel anschließend einen spezifischen Aspekt des Bildungssystems, indem er die Gründe aber auch die Konsequenzen für eine „ethnische Entmischung“ von Schulen analysiert. Entgegen dem öffentlichen Diskurs, der diese Entmischung zumeist als Konsequenz aus der Bildung von „Ghettos“ und „Parallelgesellschaften“ versteht, verdeutlicht Radtke diesen Prozess als Folge struktureller Entscheidungen ebenso wie als Ergebnis von Handlungsstrategien autochthoner Mittelschichteltern. Gegenüber der strukturellen Perspektive stehen in dem Beitrag von Erika Schulze die allochthonen Schüler(innen) im Mittelpunkt. Auf der Basis narrativer Interviews werden von der Autorin unterschiedliche begrenzende und unterstützende Faktoren in deren Bildungslaufbahn herausgearbeitet. Berücksichtigt werden dabei vor allem Ausgrenzungserfahrungen im institutionellen Kontext auf der einen sowie familiäre Ressourcen auf der anderen Seite. Eine weitere biographische Perspektive nehmen Andreas Deimann und Markus Ottersbach ein, wobei im Zentrum ihrer Analyse die berufliche Platzierung von Migrant(inn)en steht. Am Beispiel der IT-Branche untersuchen Deimann und Ottersbach Positionierungsprozesse und fokussieren dabei vor allem das Spannungsfeld von individuellen Unsicherheitserfahrungen und Sicherheitskonstruktionen.
Zu den Beiträgen im vierten Teil Bezeichnender Weise hat sich die Diskussion um die Parallelgesellschaft zunächst nur an den zwei Differenzlinien festgemacht, einerseits an der vermuteten
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Religiosität und andererseits an den zugeschriebenen Geschlechterverhältnissen. Der Islam wird in diesem Diskurs als eine patriarchal strukturierte Religion gesehen, in der Frauen eine untergeordnete Rolle einnehmen. Im religiös ausgerichteten Diskurs wird alsbald ein militanter islamischer Fundamentalismus in das Blickfeld gerückt. Dies wird schon in der Studie von Wilhelm Heitmeyer, Joachim Müller und Helmut Schröder plastisch (Heitmeyer u.a. 1997: 192). Hier geht es um eine Bevölkerungsgruppe, die sich vermeintlich islamischen Überlegenheitsansprüchen zuwendet, mithin um militante islamistisch-fundamenta– listische Brückenköpfe im eigenen Land. Seit diesen Studien aus den 1990er Jahren hat die Thematik unerhört an Brisanz gewonnen, wobei diese Brisanz nicht aus einer wie auch immer gearteten inneren Dynamik der jeweiligen so genannten Parallelgesellschaften resultiert, sondern aus einer externen Entwicklung, nämlich dem 11. September, den Ereignissen in den Niederlanden um die Ermordung von Theo van Gogh und weiteren Vorkommnissen im Kontext des zweiten Golf-Krieges. Im letzten Jahr hat die öffentliche Diskussion um den Islam und das dort geglaubte Geschlechterverhältnis eine neue Brisanz gewonnen. Ausgelöst durch den Mord an einer jungen Frau türkischer Herkunft in Berlin durch Familienangehörige werden Muslime wie auch der Islam permanent mit „Zwangsheiraten“ und „Ehren-Morden“ in einen Zusammenhang gebracht. In der Ehrenmorddebatte wird ein rigider Ehrenkodex konstatiert, der zusammen mit Zwangsheirat, Gewalt gegen Frauen usw. zu einem spezifischen Lebensstil der allochthonen Bevölkerungsgruppen erklärt und primär in den Parallelgesellschaften lokalisiert wird. Es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich, wie erfolgreich hier die allochthone Bevölkerungsgruppe sexualisiert wird. Dies funktioniert deshalb so gut, weil erstens auf bereits seit langem bestehende Vorstellungen über den „Orient“ rekurriert wird und zweitens eine vorhandene religiöse Orientierung sexualisiert und damit zu einer unentrinnbaren Einheit verschmolzen wird: Die islamische Religion wird sexualisiert. Zwar ist die sexistische Attributierung einer Religion aus dem klassischen Antisemitismus nur zu vertraut. Doch hier werden Religion und Sexualität in einer für eine Zivilgesellschaft ungewöhnlichen Offenheit (so bei Kelek 2006) sexistisch verknüpft und auf diese Weise besonders rassistisch aufgeladen und genutzt, um „feindliche“ Brückenköpfe im „eigenen“ Land zu brandmarken. Die so modellierte Parallelgesellschaft fügt sich gut in ein militantes Szenario ein, steht sie doch für den Kampf der Kulturen (Leiprecht/Lutz 2006) und für die Rückeroberung eines von allochthonen Minderheiten „besetzten“ Raumes. Diese Diskussionen über Religion, Patriarchat und Geschlechterverhältnisse, wie sie im Rahmen der Parallelgesellschaftsdiskussion geführt werden, beeinflussen indirekt, zuweilen auch direkt, die biografischen Arrangements von
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Migrant(inn)en. Sie erfahren täglich aufs Neue, dass die ihnen zugeschriebene Identität auf eine vermutete ethnische Zugehörigkeit reduziert wird. Diese ethnische Fremdzuschreibung – so wird es in allen vier Beiträgen sichtbar – wird durch Vorstellungen über die Bedeutung von Geschlecht ergänzt. Die Differenzlinie „Geschlecht“ sowie der Mythos „Ethnie“ sind zwei der markantesten, wenn auch nicht einzigen Ausgrenzungsmarkierungen in unserer Gesellschaft. In den Aufsätzen dieses Kapitels wird der Blick nicht nur auf Frauen gerichtet, sondern auch auf die Konstruktion von Männlichkeit im Kontext von Migration. Auch in Bezug auf männliche Migranten gibt es seit geraumer Zeit einen verstärkten medialen Diskurs, in dem vor allem Männer mit türkischem Hintergrund in den Mittelpunkt gerückt werden. Entsprechend diesem Diskurs werden die Jungen und Männer mit Konstruktionen des gewalttätigen, patriarchalen Machos in Verbindung gebracht, wobei die Kriminalisierung von männlichen Jugendlichen eine besondere Betonung erfährt. Dass diese Konstruktionen des „Anderen“ nicht mit den so gekennzeichneten Personen übereinstimmen, ihr Leben dennoch bestimmen, zeigen alle vier Autor(innen), die sich mit den biografischen Arrangements auseinander setzen. Christine Riegel setzt mit ihrem Aufsatz direkt an dieser Stelle an. Riegel ist der Fragestellung nachgegangen, wie sich junge Frauen mit Migrationshintergrund im Stadtteil verorten und zwar mit Blick auf sozialstrukturelle, lebensweltliche und biografische Aspekte. Basis ihrer Untersuchung sind dabei biografische Interviews, die sie mit jungen Mädchen in einer süddeutschen Stadt geführt hat. Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht und Rasse bilden einen wesentlichen Aspekt in Susanne Spindlers Beitrag zu „Rassismus, Männlichkeiten und >andere< Körper“. Die Autorin beschäftigt sich mit einem im Diskurs um die Parallelgesellschaft immer wieder auftretenden Szenario, dem der „gewalttätigen jungen Männer“, die scheinbar aufgrund ihrer vermuteten patriarchalischen Gesellschaftsvorstellungen mit der „westlichen“ Gesellschaft in einen Konflikt geraten. Christoph Liell bearbeitet das Thema der Skandalisierung von Differenzen anhand ethnisierter Jugendgewalt. Entgegen der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jugendlichem Gewalthandeln, der Liell vorwirft, dass sie das Gewalthandeln durch Jugendliche ausblendet, plädiert er dafür, dass genau das in das Forschungsinteresse gerückt werden muss. Dieser Frage geht er mit Hilfe von unterschiedlichen qualitativen Forschungsmethoden nach. Ugur Tekin verweist ebenso wie Liell auf die kulturalistische und ethnische Fixierung im Kontext von Migration. Dabei konzentriert er sich auf die spezifische Form der Integration von zumeist männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die bis zu einer totalen Exklusion reicht und im Gefängnis endet. Diesen Prozess verdeutlicht der Autor sowohl theoretisch als auch unter Hinzunahme eigener Forschungsergebnisse.
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Zum Schluss möchten sich die Herausgeber(innen) bei den Autor(inn)en für ihre Mitarbeit bedanken, durch die ein hoffentlich spannender und perspektivenreicher Sammelband entstanden ist. Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle auch an Melanie Ebenfeld und Melanie Behrens für ihre Sorgfalt und ihr Engagement bei der redaktionellen Arbeit an diesem Buch.
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Minderheiten auf dem Weg in die Veralltäglichung Minderheiten auf dem Weg in die Veralltäglichung
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Die Rede von Parallelgesellschaften
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Die Rede von Parallelgesellschaften Zusammenleben im Zeitalter einer metropolitanen Differenzgesellschaft
Wolf-Dietrich Bukow Der Diskurs über Zuwanderung, Asylmissbrauch, Parallelgesellschaft und Kulturkonflikte belegt einen fundamentalen cultural lag. Er dokumentiert, dass weniger die Menschen, zumal die transnationalen Migrant(inn)en und Einwander(inn)en, als viel mehr die für die deutsche Öffentlichkeit so kennzeichnenden „Ausländer-Diskurse“ immer noch nicht in der globalen Wirklichkeit, genauer formuliert in der metropolitanen Differenzgesellschaft, angekommen sind.
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Die „Ausländerdiskussion“ erweist sich zunehmend als eine Falle
In Deutschland leistet man sich seit fast fünfzig Jahren eine schier uferlose „Ausländer“-Diskussion. Kein anderes Thema hat so lange, so breit und so nachhaltig den öffentlichen Diskurs geprägt. Und kein anderes Thema wurde von der Politik so häufig beschworen, so ubiquitär instrumentalisiert und von den Verwaltungen so kreativ gouvernementalisiert wie dieses.1 Das Thema wurde zu einem Dauerbrenner und einer Universalwaffe und fast jede(r) fühlt sich berufen, Stellung zu beziehen. Der/die Ausländer(in) wird eingesetzt, um so unterschiedliche Problemkonstellationen wie Kriminalität und Drogen, Arbeitslosigkeit und Desintegration, Kulturkonflikt und Fundamentalismus, soziale Brennpunkte und urbaner Verfall, Ethnizität und Paternalismus zu bearbeiten. Dies hat im Verlauf der Zeit nicht nur dazu geführt, dass man eine feste, kompakte und erfahrungsresistente Vorstellung vom Nicht-Deutschen gewonnen hat, bei der der Rest der Welt gewissermaßen zu einer kompakten Ethnizität geronnen ist, sondern vor allem auch dazu, dass aktuelle gesellschaftliche Themen kaum noch in dem ihnen eigenen Sachzusammenhang diskutiert werden. Sie werden vielmehr sofort mit der „Ausländerfrage“ verbunden. Auch wenn sich in dieser Hinsicht schließ1
Die Probleme, die sich mit dieser Diskussion verbinden, habe ich bereits an anderer Stelle dargestellt; vgl. Bukow (2005). Siehe aber auch: Marianne Krüger-Potratz (2005).
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lich doch ein gewisser Realismus durchgesetzt hat und man den „Ausländer“ nach fast drei Generationen als Einwanderer erkannt hat, bleibt doch die Frage, ob Deutschland damit auch schon zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zwar haben wir seit dem 1.1.2005 sogar ein Zuwanderungsgesetz. Doch hat dieses Gesetz hier keinen Schlussstrich gezogen – im Gegenteil, als Zuwanderungsgesetz lässt es die entscheidenden Fragen der Einwanderung und des Umgangs mit Einwanderung letzten Endes weiter offen, obgleich in Deutschland heute ca. 20% der Bevölkerung nicht im Land geboren sind. Also diskutiert man weiter, nur nicht mehr pauschal über den „Ausländer“ und die Migration, sondern um die genaueren Modalitäten der Zuwanderung, insbesondere um die Einwanderungsfähigkeit entsprechender Bevölkerungsgruppen. Und diese Diskussion zielt selbstverständlich nicht auf Zuwanderinnen und Zuwanderer aus dem Westen, sondern in Richtung türkischer bzw. russischer Zuwanderung. In diesem auf den „Ausländer“ reduzierten Diskurs wird letztlich immer wieder die gleiche Grundmelodie angeschlagen, die man so zusammen fassen könnte: Weil gesellschaftliche Probleme in der Regel aus Zuwanderung resultieren, muss man die Zuwanderung restriktiv handhaben, was heißt, dass man darauf achten muss, dass, wenn jemand einwandern will, er unser gesellschaftliches Gleichgewicht nicht stört. Das bedeutet dann auch, dass die Zuwanderin/der Zuwanderer sich anpassungswillig zeigen und in der Lage sein muss, unseren einschlägigen Erwartungen zu genügen. Selbst wenn sich die Erwartungen gewandelt haben und man heute nicht mehr „Gastarbeiter(innen)“, sondern ein Zuwandererverhalten erwartet, die Brisanz dieser erkennbaren Grundeinstellung hat etwas ausgeprägt Selbstherrliches. Man könnte es mit „exklusivem Nationalismus“ bezeichnen. Dieser „exklusive Nationalismus“ verhindert einen sachadäquaten Umgang mit Einwanderung und wirkt sogar kontraproduktiv, nämlich desintegrativ (Hormel/Scherr 2003: 47ff.). Er erzeugt eine mobilitätsfeindliche Stimmung, verstärkt rassistische Tendenzen in der Mitte der Bevölkerung und verhindert eine problemorientierte Diskussion aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen – eben vor allem besonders solcher Herausforderungen, die im Kern nichts mit Migration, allenfalls etwas mit Globalisierung, oft aber auch mit ganz anderen Prozessen wie der Etablierung neuer Medien, der mangelhaften Ausstattung formaler Systeme, der Bildungsbenachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen usw. zu tun haben. Diese „exklusiv-nationalistische“ Grundeinstellung steht bezeichnender Weise in einem diametralen Gegensatz zu dem gesellschaftlichen Selbstverständnis anderer Länder mit vergleichbarer Migration. In den entsprechenden alten wie neuen Einwanderungsgesellschaften argumentiert man häufig schon deshalb ganz anders, weil man seine Grundeinstellung völlig unabhängig von der Migrationsfrage definiert und nur sekundär auf die Einwanderungssituation an-
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wendet. Man setzt an einem zivilgesellschaftlichen Gesellschaftsverständnis an und fragt von dort her, wie mit Migration umzugehen ist. Dementsprechend geht man davon aus, dass sich die Einwanderinnen und Einwanderer mit der Einwanderung bewusst für die neue Gesellschaft entschieden haben, entsprechend motiviert und orientiert sind, so dass jetzt alles darauf ankommt, sie mit ihren Vorstellungen und Fertigkeiten für die Realisierung der citizenship zu unterstützen. Vergleicht man solche Einstellungen, so wird deutlich: Während z.B. bei uns Integration als der krönende Abschluss eines Migrationsprozesses erwartet wird, die dann gnadenhalber auch honoriert werden mag, ansonsten aber eine negative Integration bzw. Abschiebung droht, wird in anderen Ländern eine ausreichende Anpassungsbereitschaft wie selbstverständlich vorausgesetzt und dem Einwanderer/der Einwanderin deshalb nach erfolgter Einwanderung die Mitgliedschaft in der Gesellschaft alsbald wie selbstverständlich als Recht zugestanden (vgl. Joppke 2004: 85ff.). Es ist logisch, dass Integration in beiden Fällen dann etwas gänzlich Verschiedenes bedeutet. Eine vorausgesetzte Integration zielt auf die Bereitschaft, sich mit seinen Besonderheiten für die Gesellschaft einzusetzen. Eine im Nachhinein attestierte Integration zielt faktisch auf das Gegenteil, nämlich auf ein Aufgehen in der „Aufnahme“-Gesellschaft. Man verfügt eben in Deutschland bis heute über kein eigenständiges, unabhängiges und historisch gesättigtes Verständnis von Zivilgesellschaft und scheitert folglich immer wieder, will man Migration oder Mobilität souverän diskutieren. Der „Ausländerdiskurs“ ist jedoch als eine Ressource für einen zivilgesellschaftlichen Diskurs ungeeignet, weil das dazu führt, sich ausschließlich negativ zu definieren. Und genau das ist in den letzten vierzig Jahren immer wieder geschehen.2 Man sollte meinen, dass sich der „Ausländerdiskurs“ allmählich normalisiert, also seine Aufladung verliert und in einer Diskussion über die Gestaltung von Mobilität in einer Zivilgesellschaft aufgeht. Doch auch die jüngst angezettelte Diskussion über die Parallelgesellschaft trägt nicht gerade zur Überwindung der Hindernisse bei, im Gegenteil. Sie wirkt aus dieser Perspektive wie ein weiterer Versuch, den Weg in die Postmoderne noch im Nachhinein zu verhindern. Wäre es nur noch ein letzter Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, könnte man ihn abwarten. Leider ist jedoch gerade der moderne bundesdeutsche Populismus ausgerechnet in dieser Hinsicht extrem kreativ. Schon wird eine neue Front eröffnet, neben dem Türkenproblem jetzt auch noch ein aus dem Osten drohendes Schleuserproblem. Die in Deutschland eingeschlagene und seit fünfzig Jahren kultivierte und bis zum gegenwärtigen Diskurs über die Parallelgesellschaft3 gepflegte Grundeinstellung ist mehr als nur eine populistisch plat2 3
Nur so lässt sich verstehen, dass konservative Parteien anlässlich eines „drohenden“ EUBeitritts der Türkei in der EU-Verfassung einen Gottesverweis fordern. Siehe dazu die abschließende Diskussion in diesem Beitrag.
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zierte und gouvernemental exekutierte Form des Umgangs mit dem fremden Anderen. Sie spiegelt erneut ein seit langer Zeit überholtes Gesellschaftsbild wider und ist von dort her nicht nur problematisch, sondern auch noch anachronistisch.4 So erweist sich der „Ausländerdiskurs“ auch hier als Falle. Die Diskussion über die Parallelgesellschaft bestätigt dann auch erneut: Erstens geht es um eine unsachgemäße Thematisierung von Mobilität und zweitens um die Reduktion der modernen gesellschaftlichen Entwicklung auf Migrationseffekte. Meine These ist: Wenn man heute sachgemäß über das Zusammenleben sprechen will, dann muss man sich vom „Ausländerdiskurs“, genauso wie von der in diesem Zusammenhang entwickelten exklusiv-nationalistischen Grundeinstellung verabschieden und eine andere Sicht der Dinge im Blick auf Mobilität und generell im Blick auf das, was eine moderne Gesellschaft ausmacht, entwickeln – eine Sicht, die die modernen Prozesse, wie sie durch Globalisierung, Mobilität und neue Medien evoziert werden, in den Mittelpunkt rückt. Es ist erforderlich, von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung auszugehen. Auf den ersten Blick zumindest erstaunlich ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung in den Stadtquartieren dies tatsächlich längst begriffen hat und intuitiv ebenfalls einer anderen Philosophie folgt, sowohl was die Mobilität als auch was das Zusammenleben in der Postmoderne überhaupt betrifft. Diesen Punkt zur Kenntnis zu nehmen ist nicht nur gesellschaftswissenschaftlich, sondern vor allem auch gesellschaftspolitisch wichtig, weil dies zeigt, dass im Alltagsleben „unterhalb“ des exklusiv-nationalistischen Diskurses durchaus Alternativen entstanden sind, die ernst genommen werden sollten. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann auch die Diskussion über die Parallelgesellschaft klar dekonstruieren und deren Problematik noch einmal in aller Deutlichkeit als Beispiel für einen eklatanten cultural lag aufzeigen.
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Zuwanderung ist ein spezifischer Aspekt von Mobilität, die sich wiederum nur im Kontext der modernen metropolitanen Gesellschaft verstehen lässt
Mit einer schon sehr ungewöhnlichen Beharrlichkeit wird immer wieder gesagt, wenn schon unbedingt jemand einwandern will, muss sie/er beweisen, dass sie/er auch hinreichend anpassungsfähig ist und den Normal-Erwartungen auch wirklich genügen kann. Wenn man diesen Satz kritisch betrachtet, so wird schnell deutlich, dass hinter dieser Position weniger eine tiefere Einsicht als vielmehr ein 4
Michael Bodemann, ein kanadischer Soziologe, beobachtet diese Entwicklung mit großer Sorge. Er fürchtet, dass sich der alte Antisemitismus und der neue Kulturrassismus langfristig zusammenfinden und sich in der Mitte der Gesellschaft verankern. (Süd. Zeitung vom 20/21.11.2004).
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verletztes Gefühl steht, das auf ein enttäuschtes selbstherrliches, nationalistisches Anspruchsdenken zurückgeht und in eine „exklusiv nationalistische“ Trotzreaktion einmündet. Wenn man schon zugeben muss, dass wir heute in einer Einwanderungsgesellschaft leben, dann sollte man auch so realistisch sein zuzugeben, dass es dabei massive Probleme gibt, vor allem, dass es mit der Integrationsbereitschaft dieser Menschen hapert, wie man erst neuerdings wieder an der heimlich behaltenen zweiten Staatsangehörigkeit bei den türkischen Einwanderern/Einwanderinnen erkennen kann. Hinter dieser deutlich beleidigten Grundeinstellung verbirgt sich ein so klares wie unzeitgemäßes Gesellschaftsbild: Da wird so getan, als ob Deutschland bis eben noch eine geschlossene und wohlintegrierte Gesellschaft gewesen sei. Erst jetzt wird dieses Bild durch Einwanderung in Frage gestellt. Fremde Menschen mit fremden Kulturen dringen in unseren Kulturraum ein; und dann wollen sie auch noch ihre Eigenheiten, ihre Sprache und ihre Religion, ihre Identität bewahren und sind nicht bereit, sich in die Gesellschaft wirklich nachhaltig zu integrieren. Fremde religiöse Orientierungen, ja Ghettos und Parallelgesellschaften sind allenthalben die sichtbare Folge, das Zusammenleben wird zunehmend schwierig bis unmöglich. Spätestens wenn das Kopftuch oder „geschlossene“ türkische Straßen in den Blick geraten, wird es dramatisch. Schnell werden Schreckgespenster an die Wand gemalt und in der Öffentlichkeit, in den Medien genauso wie in der Politik, aber auch unter Expert(inn)en verbreitet. Das Ärgerliche an dieser immer wieder beschworenen Szenerie ist vor allem, dass sie die gesellschaftliche Wirklichkeit gleich mehrfach auf den Kopf stellt und wenig mit der konkreten gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung zu tun hat, statt dessen aber genau das hervorruft, wovor sie warnt: Konflikt und Hass. Und man schaltet sich gekonnt in einen global inszenierten Kampf der Kulturen ein und damit in die Globalisierung des Hasses5. Erstens: Statt sich nüchtern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren reichlich vorhandenen Problemen zu stellen, orientiert man sich am Bild der heilen Familie und projiziert dieses Bild, das ja schon im privaten Zusammenleben nicht funktioniert, gewissermaßen ersatzweise auf die Gesellschaft, wobei die Dinge nicht besser werden: Aus dieser familistischen Konstruktion heraus werden die „Ausländer(innen)“ zu Fremden und zu Eindringlingen, die nur dann akzeptiert werden, wenn sie gewissermaßen in die Gesellschaft einheiraten und deren intimste Werte und Orientierungen verinnerlichen. Sind sie dazu nicht in der Lage, dann mögen sie noch – wieder ganz familistisch betrachtet – als Putzfrau, Koch oder zur Pflege taugen. Das hier verwendete Bild
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Ulrich Beck spricht sehr deutlich von einer Globalisierung des Hasses; vgl.: Beck/Grande 2004.
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von der heilen Familie erweist sich nach innen patriarchalisch und nach außen gewendet autokratisch-nationalistisch. Zweitens: Das hier verwendete Bild stimmt aber auch mit den eigenen Erfahrungen nicht überein. Man mag ja jenes Bild von der heilen Familie im Kopf haben, aber gelebt wird es so nur im Familienroman. Im praktischen Zusammenleben findet sich die traditionelle Familie nur selten. Zusammenleben bedeutet mehr denn je, sich miteinander zu arrangieren. Die Bilder und die Wirklichkeit treten weit auseinander. Wird es schwierig, hilft das Bild im Kopf nicht nur wenig, es erscheint sogar gefährlich, weil es falsche Einschätzungen produziert, irrige Problemzuweisungen ermöglicht und zu Lösungen führt, die sich alsbald als absurd erweisen. Die Dinge, wie man sie sich auf diese Weise im Kopf so zurechtlegt, passen mit dem Alltag und den modernen Fragen eines selbst bestimmten emanzipatorischen Zusammenlebens nicht zusammen. Verabschiedet man sich nicht rechtzeitig von diesem Bild, dann bleiben erst die Kinder, dann die Beziehungen und schließlich die ganze Existenz auf der Strecke. Und projiziert man dieses Familienmodell dann auf die Gesellschaft, dann wird es auch nicht besser, sondern eher schlimmer. Auf der einen Seite spekuliert man über eine heile und geschlossene Gesellschaft, in der man seine Privilegien ungestört genießen kann, und auf der anderen Seite versucht man sich im urbanen Alltag praktisch mit dem Anderen zu arrangieren. Die Bilder im Kopf und die gesellschaftliche Wirklichkeit treten extrem auseinander. Auch die Gesellschaft, die sich wie die Familie um eine Leitvorstellung gruppiert, hat es niemals gegeben, und sie ist im Angesicht moderner Mobilitätsströme und Migrationsbewegungen, dem zunehmenden Bevölkerungsaustausch zwischen den Regionen, den Ländern und den Kontinenten auch niemals zu erwarten. Und eine Gesellschaft, in der der Gast wie in der Familie nur dann willkommen ist, wenn er sich assimiliert und sich einfügt, mag es vielleicht in fest gefügten Ethnien vor dem Aufkommen erster wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Beziehungen irgendwo gegeben haben. Heute ist ein solches Gesellschaftsbild angesichts der globalen Vernetzungen von Wirtschaft und Kultur, Politik und Religion, Wissen und Technik jenseits jeder rechtlichen Diskussion auch so schon eine einigermaßen absurde Vorstellung. Wird es nun in der Wirtschaftsentwicklung enger, werden die öffentlichen Mittel und Leistungen in den harten gesellschaftlichen Kernbereichen wie Arbeit, Bildung und Sozialleistungen verknappt, dann weiß man nicht mehr weiter, weil die Dinge, wie man sie sich im Kopf so zurechtlegt, mit den modernen Herausforderungen urbanen Zusammenlebens nicht zusammen passen. Erst bleibt die Fairness auf der Strecke, dann rettet man sich in einen Radikalegoismus, der natürlich je nach sozialer und ökonomischer Stellung anders aussieht. Sündenböcke werden gesucht, an denen man seine Probleme abarbeiten kann.
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Für eine(n) nachdenkliche(n) Beobachter(in) muss diese Konstellation widersprüchlich erscheinen. Die in der Öffentlichkeit gepflegten und in der Alltagspraxis praktizierten Vorstellungen passen nicht zusammen. Das Ärgerlichste an der Sache ist, dass auf diese Weise alltagspraktische Fertigkeiten, die im urbanen Miteinander über die Jahrhunderte entwickelt worden sind und oft genug lebensnäher sind als der öffentliche Diskurs, ignoriert werden. Zusätzlich prekär wird diese paradoxe Situation, wenn tatsächlich einmal praktische Schwierigkeiten auftreten, und Reflexion, ein neues Arrangement oder auch nur verbesserte Konzepte des Zusammenlebens gefragt sind. Dann kommt uns ein solches Denken nicht etwa zu Hilfe, sondern auch noch in die Quere. Zurück zur generellen Problematik: Wie sich im Kleinen „unterhalb“ der heilen Familie längst alternative Praktiken eines Zusammenlebens in Vielfalt ausbilden, so ist es auch im Großen: Die europäische Stadt hat sich in nur zwei Jahrhunderten zu einer riesigen „Integrationsmaschine“ entwickelt und dabei Erfahrungen aufgenommen, ausgebaut und fortgeschrieben, die sich die Menschen über Jahrhunderte miteinander in zunehmend anonymen Situationen mühsam erarbeitet haben. Man hat mühsam gelernt, Arbeit und Kommunikation zu teilen, in Stadtquartieren mit wildfremden Nachbar(inne)n auszukommen und sich dennoch für sie bei Bedarf zu engagieren, obwohl – oder gerade weil – längst jeder jedem fremd ist, also Vielfalt zu organisieren. Was der Soziologe Simmel vor über hundert Jahren formuliert hat, gilt heute erst recht angesichts zunehmender Mobilität, kultureller Verschiedenheit und transnationaler Migration in ihrer extremen Individualisierung und globalen Orientierung. Zur Bewältigung der Vielfalt hat sich in den urbanen Zentren eine soziale Grammatik des Zusammenlebens eingespielt – wir haben das in verschiedenen Forschungsprojekten belegen können (vgl. Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2001) und können uns auch auf ganz unverdächtige Zeitzeugen wie Heinrich Böll beziehen. Diese Grammatik ermöglicht es, mit dem Anderen auszukommen, ohne auf gemeinsame Leitwerte zu bestehen, ja überhaupt, ohne ihn mehr als pragmatisch verstehen zu müssen (vgl. Bukow i. E.)6, dass wir uns mit Freund(inn)en und Bekannten in kleinen vertrauten Wir-Gruppen zusammenfinden können, dass wir sogar „in der Fremde“ kleine communities aufbauen können, in denen wir uns weiterhin zu Hause fühlen dürfen (vgl. Hormel/Scherr 2003). Sie lässt es auch zu, dass Bildung für alle möglich wird, weil formale Bildungssysteme allen eine Chance geben können. Sie lässt es zu, dass wir heute schon gar nicht mehr registrieren, was uns gestern noch völlig unbekannt, fremd und absurd erschien. Wer weiß denn, dass über 75% unserer Lebensmittel uns noch vor 50 Jahren unbekannt waren? Wer weiß noch, dass die Fahrt nach Tunesien, Spanien oder die 6
Vgl. Bukow (2001: 25ff.). Ulrich Beck (2004: 20 ff.) spricht hier von kosmopolitischer Gesellschaft.
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Türkei vor hundert Jahren eine Weltreise war? Und in welchem kollektiven Gedächtnis erinnert man sich noch, dass in Berlin oder Ludwigsburg im 18. Jahrhundert große Teile der Bevölkerung nur französisch sprachen? Wir leben heute in einer von Städten und ihren doch differenten Kulturen geprägten Weltgesellschaft. Eine solche Entwicklung fordert jeden mehr denn je heraus. Das Zusammenleben fällt einem nicht mehr in den Schoß. Arbeit, Bildung und Engagement müssen immer wieder neu durchbuchstabiert werden. Wer hier in verquerer Logik vor dem Fremden warnt, wer Menschen zwischen Kulturen zerrieben wähnt, wer von „Ausländerkriminalität“ schwadroniert, der hat die gesellschaftliche Entwicklung, wie sie sich seit langem vollzieht und im Augenblick sogar noch beschleunigt, immer noch nicht im Blick. Sie/er trauert nur überkommenen Privilegien nach und scheut noch nicht einmal davor zurück, ihren/seinen Egoismus rassistisch zu unterfüttern. Was hier angeblich beobachtet wird, das liegt schlicht daneben. In einer Welt, in der wir alle, wie das Michael Bommes einmal so plastisch formuliert hat, längst zum Migranten geworden sind – wer ist schon dort geboren, wo er gerade wohnt, wer hat sich nicht längst seine private, individuelle Sub-Gesellschaft geschaffen, wer hat nicht die Erfahrung gemacht, dass nicht einmal mehr die Kinder die Hobbys mit einem teilen – in einer solchen Welt bedarf es schon eines anderen gesellschaftlichen Blicks. Hier sind Öffentlichkeit und Politik, aber auch die Wissenschaft gefordert, sich sensibel mit der metropolitanen Entwicklung zu befassen. Und dies ist keineswegs aussichtslos, würde man sich nur an die Kompetenzen erinnern, die wir selbst als mehr oder weniger mobile Menschen längst entwickelt haben. Man müsste sie nur wirklich ernst nehmen, statt sie entweder zu ignorieren oder sich ihnen sogar entgegen zu stellen und allenfalls zynisch zu würdigen7. Auch die so genannten „Ausländer“, die besonders reichlich Mobilitätserfahrungen haben, könnten hier ihre Kompetenzen mit einbringen. Ein schlichtes Beispiel: Könnte man nicht die Tatsache, dass zunehmend mehr Menschen mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen, als einen Hinweis darauf betrachten, wie obsolet solche „Heimatpässe“ in einer globalisierten Welt geworden sind?
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Es gibt also gute Gründe dafür, sich noch einmal genauer mit der gegenwärtigen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu befassen. Was geboten erscheint, ist tatsächlich ein realistischerer Blick – ein Blick, der das, was wir tagtäglich praktisch tun, angemessen erfasst und uns damit auch in ungewohnten, neuen, vielleicht auch schwierigen Situationen angemessene Optionen eröffnet. Für mich ist das ein klassisches Beispiel dafür, wie Hartmut Häußermann neue Milieus einschätzt. Sie sind für ihn offenbar so etwas wie pubertäre Ausrutscher, die man hinnehmen muss, weil sie sich alleine irgendwann biographisch erledigen. Vgl. Häußermann (2001).
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Ich vermute, dass sich dann auch sehr schnell erweisen wird, dass wir es bei dem Thema Zuwanderung überhaupt nicht mit einer eigenständigen Thematik zu tun haben, sondern schlicht mit einem Nebenaspekt einer fortgeschrittenen Globalisierung und bloß mit den Auswirkungen zunehmender Mobilität. Dann müssen die aktuellen Fragestellungen nicht nur in ein entsprechend formuliertes Gesellschaftskonzept eingebettet, sondern auch anders, nämlich von dort aus, neu fokussiert werden. Weder Familismus noch Kulturalismus helfen weiter. Diese auf den verschiedensten Ebenen und in den unterschiedlichsten Kontexten kennzeichnende Diversity stellt vielmehr längst eine ubiquitäre Herausforderung dar. Um hier weiter zu kommen, muss man also die Perspektive umkehren. Nur so kann man der skizzierten Argumentationsfalle entkommen.
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Die Europäische Stadt hat sich zum Kern einer metropolitanen Differenzgesellschaft entwickelt
Mir war es wichtig, zunächst noch einmal deutlich zu machen, dass weniger die Menschen, zumal die transnationalen Migrant(inn)en und Einwander(innen), als vielmehr die öffentlichen Diskurse in Deutschland immer noch nicht in der globalen Wirklichkeit, genauer formuliert in der metropolitanen Differenzgesellschaft angekommen sind. Es gilt, endlich die Perspektive umzukehren und bei der gesellschaftlichen Entwicklung bzw. bei der für sie zunehmend typischen Stadtgesellschaft anzusetzen, bei der „metropolitanen Differenzgesellschaft“ und von dort her Migration, Einwanderung und Minderheiten zu diskutieren. Anders als im öffentlichen Diskurs hat man in der Alltagspraxis wie im einschlägigen gesellschaftswissenschaftlichen Diskurs früh entdeckt, dass sich die europäische Stadt im Kontext einer sich zunehmend als Weltgesellschaft verstehenden Szenerie immer schneller verändert und die überkommenen Beschreibungen nicht mehr greifen. Vor allem wissenschaftliche Beobachter(innen) sprachen bald von einer fortschreitenden Undurchsichtigkeit, dann erkannte man die eminenten, teils unbeabsichtigten, teils auch nur ignorierten Veränderungspotenziale der technologischen Entwicklung. Sie haben einerseits neue Formen der Kommunikation und anderseits die Ausdifferenzierung zentraler gesellschaftlicher Systeme, zumal der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft möglich gemacht. Dies wurde schließlich unter dem Label der Postmoderne recht treffend resümiert. Endlich wurde auch deutlich, dass sich in diesem Prozess nicht nur viele alte soziale, kulturelle und ökonomische Muster abschleifen, sondern sich auch eine ganz neue Dynamik durchsetzt.
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Diese Dynamik hat ein doppeltes Gesicht, was mit dem Begriff der Postmoderne8 angedeutet erscheint. Einerseits definiert die Postmoderne die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung im Anschluss an die Moderne – an ein Konzept, das die Industriegesellschaften über gut zweihundert Jahre begleitet hat. Andererseits markiert sie einen neuen Abschnitt in der gesellschaftlichen Entwicklung, der nicht mehr von dem überkommenen, auf ewig in eine Zukunft gerichteten Modernisierungsprozess ausgeht, sondern dieses Projekt als ein im Grunde unvollendet gebliebenes Projekt ad acta legt. Die Postmoderne formuliert also eine Situation, in der sich die großen alten Visionen als letzten Endes obsolet, oder doch zu linear erreichbar gedacht erwiesen haben. Man richtet den Blick statt auf die großen nun lieber auf kleine Zusammenhänge, mithin auf den konkreten Alltag. Das impliziert vor allem, dass sich die alten Horizonte, vor allem was die Definitionsmacht des Nationalstaates angeht, minimieren. Der Blick, die Aufmerksamkeit und die Lebenstätigkeit konzentrieren sich auf das Heute und Jetzt, der Blick der Beobachter(innen) ist „situativ“. Der Blick hat aber auch eine neue Ausweitung erfahren. An die Stelle des vertikal-linearen Blicks über die Generationen und Zeiten, an die Stelle einer evolutionären Zeitachse ist nämlich alsbald ein horizontaler Blick getreten. Nach dem Ende der großen Theorien, Erzählungen und Entwicklungsmodelle entdeckte man die Bedeutung einer Vielzahl neuer, aber zeitgenössischer globaler Kontexte. Natürlich sind die neu entdeckten globalen Kontexte nicht gänzlich neu. Schon seit dem Kolonialismus ist diese Dimension wichtig geworden. Aber jetzt rücken diese Zusammenhänge in den Vordergrund. Droht jetzt statt des Historismus eine Art „Globalismus“? Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass die neu entdeckten Zusammenhänge trotz aller Befürchtungen zumindest im Prinzip anders gelagert sind.9 Bis in die Moderne hinein konzeptionalisierte man Gesellschaft als evolutionäre Geschichte. Die neuen horizontalen Zusammenhänge erscheinen dagegen plural und zirkulär. Jene schon früh empfundene „Neue Undurchsichtigkeit“ resultiert aus dieser zunächst ungewohnten Neukonzeptionalisierung von Gesellschaft als polykontextueller, zirkulär verschränkter und damit komplex vernetzter Weltgesellschaft. Das erste Mal wurde die Ablösung der übermächtigen Weltgeschichte durch die zeitgenössische Weltgesellschaft an einzelnen Beispielen von Ulrich Beck in seiner Arbeit über die Risikogesellschaft durchbuchstabiert (vgl. Beck 1986).
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Ich beziehe mich hier auf die Postmoderne-Diskussion, wie sie vor allem von Jean-Francois Lyotard „angezettelt“ wurde und folge hier den Überlegungen von Wolfgang Welsch (2002). Die mit der Globalisierung auftretenden Probleme haben nichts mit der Ausweitung des Horizontes, sondern mit deren einst kolonialen und heute neoliberalen Ausgestaltung zu tun. Mit Recht wird vor einer Westernisation der Weltgesellschaft gewarnt.
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Die für diese Weltgesellschaft konstituierende zirkuläre und polykontextuelle komplexe Vernetzung lässt sich unterdessen recht genau beschreiben.10 Es geht nicht einfach um eine unprofilierte horizontale Vernetzung, sondern um Vernetzungen in einem dynamisierten Kontext: 1.
2.
Es handelt sich um die eigentlich längst vertrauten, allerdings nicht länger bloß interaktionszentrierten, machtgeleiteten, sondern jetzt interaktionsfundierten und systemisch, netzförmig bzw. diskursiv ausgestalteten und miteinander nur noch strategisch verkoppelten Kontexte entsprechender systemischer, politischer bzw. kultureller Provenienz. Vereinfacht formuliert: Es geht nun um dynamische Systeme, individuelle Netzwerke und übergreifende Diskurse. Die industriellen Akteure kann man exemplarisch für systemische Kontexte nehmen. Die kulturellen oder religiösen Deutungsströme können als individuelle Netzwerke für sozio-kulturelle Kontexte stehen. Und globale zivilgesellschaftliche Akteure wie Amnesty International sind gute Beispiele für Diskurse im politischen Kontext. Sie alle transzendieren ihre bisherigen intaktionsfundierten Aktivitäten in globale Systeme, individuelle Netzwerke und zivilgesellschaftliche Diskurse, bringen sich dabei weltweit ins Spiel und nutzen weltweit die lokalen Ressourcen für die Optimierung ihrer Handlungsziele.
In diesen dynamischen Kontexten schwinden die hierarchischen Strukturen und die Verbindlichkeit überkommener Erfahrungs- und Bewertungsmuster. Sie werden transzendiert und zeigen je nach Kontext neue Formen, die keineswegs gerechter, demokratischer oder sozialer sein müssen, aber eben anders ausgerichtet. Sie sind zunächst einmal offen und unbestimmt/kontingent und treten allenfalls strukturell gekoppelt nebeneinander. Allerdings haben sich entgegen den ersten Beobachtungen schnell neue Gewichtungen ergeben. In den polyzentrischen globalen Systemen, individuellen Netzwerken und zivilgesellschaftlichen Diskursen bilden sich ökonomisch-subpolitische, kulturelle bzw. hegemoniale Schwerpunkte. Allerdings müssen sich diese neuen Zentrierungen in die Netze und netzförmigen Systeme, die sich immer wieder globalisieren, also noch nicht an endgültige Grenzen gestoßen sind, einfügen. Dies wurde bald erkannt und zunächst mit „Glokalisierung“ bezeichnet. 3.
Im Grunde geht es aber um ein Nebeneinander von zentrifugaler Globalisierung, d.h. einer polyzentrischen Ausweitung der Systeme, Netzwerke
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Zu verweisen ist hier auf die Befunde aus einer Stadtteilstudie: Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2001.
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und Diskurse. Andererseits geht es um ein Nebeneinander von zentripetaler Individualisierung, also einer lokalen Spezialisierung bzw. Situierung der Systeme, Netzwerke und Diskurse. Die Systeme, Netzwerke und Diskurse weiten sich aus und beziehen immer neue Kontexte mit ein, erhalten sich aber eine Kernstruktur. Die in der Ablösung von der Geschichte entstandene Dominanz der aktuellen Situation bleibt im Rahmen der Entwicklung der Postmoderne erhalten und differenziert sich zum Ausgangspunkt neuer Systeme, Netze und Diskurse aus. Die dezentrierte rhizomartige Gesellschaft basiert also auf einer partiellen Zentrierung. Das Heute und Jetzt erweist sich trotz aller neo-liberaler bzw. subpolitischer Indienstnahme der Globalisierung als nachhaltiger und überraschend dauerhafter Ausgangspunkt. Deshalb wird es möglich, die Postmoderne in ihrer komplexen Vernetzung dennoch als lokale, ja individuelle Konstruktion zu deuten, in der die verschiedenen Kontexte wie Zitate zu einem individuellen Stil zusammengefügt werden. So kommt der/die Einzelne als Regisseur(in) seiner/ihrer Selbst zum Zuge, selbst wenn er/sie von Kontexten systemischer, politischer bzw. kultureller Provenienz abhängig ist und sich oft genug in diesen Kontexten, genauer hier von den unterschiedlichen ökonomischen Akteur(inn)en und medialen Steuerungsversuchen immer wieder in Dienst genommen sieht. Damit kommt das in den Blick, was Vielfalt („Diversity“) ausmacht und was für den Einzelnen längst zu einer unentrinnbaren Realität geworden ist.11 Die kleinräumig situative Orientierung an lokalen Zusammenhängen und Formulierungen öffnet den Blick für zeitgenössische globale Kontexte.
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So erscheint die Gesellschaft das erste Mal nicht mehr historisch, sondern situativ situiert, nicht mehr vertikal geschichtsmächtig, sondern horizontal weltgesellschaftlich eingebunden. Es bilden sich zirkuläre bzw. komplexe Kontexte systemischer, netzwerkspezifischer und diskursi-ver Form aus, die zuneh-mend polyzentral und nur noch miteinander strukturell gekoppelt er-scheinen. Die aktuelle Situation wird zunehmend durch eine zentrifugale Globalisierung (oft genug offen-siv durch Neoliberalis-mus und Westernisation dienstbar gemacht) und durch eine zentripetale Individualisierung (oft genug defensiv durch Ethnozentrismus und Nationalismus gefährdet) dynamisiert.
Ulrich Beck a.a.O. (2004: 89) spricht sehr plastisch davon, dass die Folgen dieser nicht zuletzt von Mobilität und Migration hervorgebrachten Vielfalt eine Zumutung sei, die sich in der Zivilgesellschaft jedermann gefallen lassen müsse.
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Es erscheint längst sinnvoll, die metropolitane Gesellschaft in ihrer komplexen Vernetzung und zugleich in ihrer individuellen Konstruktion zu deuten, wobei die verschiedenen Kontexte es erlauben, globales Material zu Zitaten zu verarbeiten und zu einem je individuellen Format zusammen zu fügen. Auf diese Weise avanciert die Einzelne/der Einzelne zur/zum Regisseur(in) ihrer/seiner Selbst. Damit kommt das in den Blick, was die heutige Vielfalt („Diversity“) ausmacht.
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In der metropolitanen Differenzgesellschaft wird das Zusammenleben neu geordnet
Wie orientiert man sich unter diesen Bedingungen? Wie kann dann noch ein Zusammenleben gelingen? Die Basis für die Orientierung, für einen angemessenen gesellschaftlichen Blick und damit für die Einschätzung des heutigen Zusammenlebens speist sich aus der Erfahrung einer generellen Neuorientierung des Alltagslebens, weg von einer als nicht mehr konsistent und tragfähig eingeschätzten Geschichte und hin zum zeitgenössischen globalen Kontext. Der Ertrag dieser Neuorientierung ist schließlich ein neues Verständnis von dem, was eine Gesellschaft ausmacht. Man stellt sich um, sieht sich nicht durch Nationen, Klassen und die soziale Schichtzugehörigkeit integriert, sondern durch Biographien im Kontext formaler, sozialer, rechtlicher, ökonomischer und bildungsspezifischer Systeme, durch spezifische Lebensstile und kleinräumige Kulturen bzw. Milieus im Kontext wertorientierter individueller Vernetzungen und durch bestimmte politische Vorstellungen im Kontext der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit.
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All das passt überhaupt nicht zu dem, was man sich lange – wie gezeigt – unter einem erfolgreichen Zusammenleben vorgestellt hat. Da ziehen Menschen ins Grüne, um sich mit ihrer Familie in der Natur und im dörflichen Idyll einzurichten und müssen schließlich registrieren, dass sie doch nur in einer urbanen Schlafstadt gelandet sind, die von Kulturlandschaft, Agrarfabriken und einer noch dazu nur lückenhaften urbanen Infrastruktur bestimmt wird. Das heißt, die von einem romantischen Bild geprägte Wohnungssuche gerät zu einem Arrangement im urbanen Kontext. Da stellt die Pädagogin im Unterricht fest, dass ihre Schüler(innen) die Hausaufgaben aus dem Internet übernommen haben und erfährt endlich, dass die Englischaufgaben von einer Internetbekanntschaft, nämlich einem gleichaltrigen native speaker aus den USA erledigt wurden. Jetzt hat sie verschiedene Optionen, nämlich den Täuschungsversuch zu sanktionieren, weil dieses Verhalten den überkommenen Standards von Korrektheit widerspricht oder die Geschicklichkeit zu bewerten, mit der die Schüler(innen) ihre Aufgaben medial angegangen sind und bewältigt haben. Da diskutiert man darüber, dass sich der Islam in Deutschland endlich kirchlich organisieren muss, damit er die erforderliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft erhalten kann, übersieht aber, dass dies einer überholten Vorstellung geschuldet ist. Längst sind die „real existierenden Religionsgemeinschaften“ von Auflösung und Veralltäglichung betroffen. Sie sind gegenwärtig dabei, sich zu dem zurück zu verwandeln, was der Islam immer geblieben ist: zu einem Deutungsangebot. Unter modernen Bedingungen ist das als veralltäglichte Bürgerreligion zu beschreiben. Diese drei Beispiele können deutlich machen, wie schwierig eine neue Orientierung zwischen „zentrifugal globalisierend“ und „zentripetal individualisierend“ ist und dass ein nostalgischer Blick durchaus ein gewisses Verführungspotenzial aufweist. Die allmählich wahrgenommenen und im praktischen Verhalten mehr oder weniger erfolgreich berücksichtigten gesellschaftlichen Veränderungen lösen nicht nur deshalb Irritationen aus, weil sie zu einer radikalen Umstellung nötigen. Sie irritieren auch, weil die individuelle Akkommodation deutlich zu langsam von statten geht. Einerseits vollzieht sich der Wandel im Augenblick sehr schnell und tiefgreifend. Andererseits gibt es, wie ich oben kurz angedeutet hatte, wenig Unterstützung bei der Neueinstellung auf die veränderten Bedingungen. Im Gegenteil, es werden in der Politik und in der Öffentlichkeit immer wieder angeblich altbewährte Konzepte reproduziert. Diese mit großräumigen Zusammenhängen rechnenden Modelle, die großen Vorstellungen und Theorien werden zwar von einer Welt kleiner Zusammenhänge und konkreter Formulierungen und Deutungen ad absurdum geführt. Aber die neuen kleinen Zusammenhänge und Formulierungen entwickeln sich situativ und ohne den Anspruch, mehr als die Situation zu meinen. Die Beobachtungen, die die Irritationen ausgelöst haben,
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verweisen also auf den aktuellen Augenblick, die konkrete Situation, nehmen sie erstmals voll wahr und gestehen ihr das Recht zu, eine eigenständige Aussage hervorzubringen. Man muss erst noch begreifen, dass uns diese neu hervorgebrochenen situativen Deutungen, Beschreibungen zu Alltagsformaten führen, die eben nicht mehr als funktionale Äquivalente zu den überkommenen Konzepten dienen. Sie leisten eben keine Weltdeutung mehr. Funktional äquivalent mögen sie nur insoweit sein, als sie den eigenen Standort tatsächlich ebenfalls kontextualisieren. Was hier letztlich massiv irritiert, ist das Verschwinden einer gesellschaftlich garantierten, tatsächlich zuvor jedoch auch nur den besitzenden Bürgern und Beamten zugestandene Verankerung und damit eine Verflüssigung der durch eine derartige Verankerung garantiert geglaubten Rechte, Privilegien und vielfältigen Erbmassen. Diese „Garantielosigkeit“ irritiert, zwingt zu mehr Engagement und provoziert neue Machtstrukturen. Zunächst erleben wir Irritationen: Die gesellschaftliche Einbindung wird auf eine neue polykontextuelle Zuordnung ausgerichtet und damit in eine globale Dynamik gerückt. Der/die Einzelne agiert nicht mehr als Standesangehörige(r), aber auch nicht mehr als stationäre(r) Bürger(in), sondern erstens als virtuelles Subjekt und zweitens unter Bezügen zu gleich mehreren Kontexten. Er/sie hat sich an einem Ort innerhalb formaler Systeme, einem Ort innerhalb bestimmter Wir-Gruppen oder Milieus und wiederum einem Ort als Citoyen zu arrangieren. Und er/sie hat all diese Orte nicht ein für allemal, sondern in Relation zu einem unterschiedlich ausgestatteten und unterschiedlich ausgeprägten Welthorizont. Diese situationszentrierte Neuorientierung wird zur Quelle einer geradezu explosiven Vielfalt. Die urbane Situation hält keine eindeutigen Orte mehr vor. Es sind nur noch „Teilorte“, die zur Verfügung stehen und die man sich dann auch noch mühsam aneignen muss. Dementsprechend kommt der/die Einzelne auch immer nur als Teilsubjekt vor und ist genötigt, nicht nur seine/ihre Orte, sondern auch seine/ihre Ortsidentitäten zu verknüpfen, um sich überhaupt noch als ein konsistentes Subjekt begreifen zu können. Das bedeutet aber auch, dass wir aktiv werden müssen: Ist das nicht eine Situation, in der alles beliebig wird und es keine „geborene“ Sicherheit mehr gibt, sondern nur noch die, die gesellschaftlich von formalen Systemen wie dem Markt, dem Sozialsystem und den Dienstleistungseinrichtungen bereitgestellt wird? Und ist das nicht eine Situation, in der von Integration und Zusammenleben nicht mehr wirklich die Rede sein kann? Hier ein Zitat aus einer überregionalen Zeitung die Situation Berlins im Jahre 2004 betreffend: „(Diese)... Entfremdung spart unendlich viel Lebenszeit für Wichtigeres als Dachdecken, sie bedeutet greifbare Freiheit. So möchte man in die aktuelle, hektisch fiebernde Debatte einen zweiten stillen Satz murmeln (mit der Gewissheit, von den Worten „Leitkultur“ und „Integration“ überschrieen zu werden): „Die Parallelgesell-
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Wolf-Dietrich Bukow schaft, das ist am Ende die Freiheit – wenn nicht der Frieden. Wer den Berliner Stadtteil Neukölln nicht nur aus „Frontal“-Sendungen kennt, sondern aus eigener Anschauung, weiß: Es wäre gar nicht gut, gäbe es dort keine Parallelgesellschaften. Man stelle sich vor, die türkischen Männer hätten dort nicht ihre Cafés, wo sie hinter Milchglasscheiben an Holztischen unter Neonlicht ihren übersüßten Tee trinken und dazu Karten spielen; sondern diese türkischen Männer würden sich an den Ecktresen der schummrigen, von Bier- und Bratendünsten wabernden Altberliner Kneipen neben alkoholisierten deutschen Geschlechtsgenossen drängen oder sie würden im Zeichen der Verbrüderung zu einem Herrengedeck (Pils und Korn) nach dem anderen genötigt! Die Folge wäre nicht friedliches Nebeneinander, sondern ein endloses Geprügel, am Ende Straßenschlachten. Und wahrscheinlich dankt manche türkische Frau allabendlich Allah, dass sie ihren Mann für ein paar Stunden an dieses Café abtreten kann, damit sich die vulkanische Stimmung zu Hause beruhigt. Gibt es unter den Metropolen dieser Welt eine friedlichere als unsere Hauptstadt? Wohl kaum. Jedenfalls schwärmen Ausländer regelmäßig von der durch allgemeine Unfreundlichkeit solide fundamentierten Gemächlichkeit und Sicherheit in Berlin. Und doch ist Berlin ein Kosmos von Parallelgesellschaften teils wüster Art, die eben deshalb so friedlich koexistieren, weil die einen von den anderen nicht allzu viel wissen wollen.12“
Die europäische Stadt hat eine metropolitane Gestalt gefunden. Es ist eine Situation, in der es nach wie vor keine „geborene“ Sicherheit gibt, aber nach wie vor Sicherheit organisiert wird, nur nicht mehr über Gehorsam gegenüber dem Souverän und über Disziplin gegenüber familialen Ordnungen, sondern durch eigens entwickelte und der politischen Pflege bedürftige formale Systemen. Es ist eine Situation, in der Integration und Zusammenleben formal bestimmt werden, so dass individueller Spielraum entsteht. Das Zitat spiegelt diesen letzten Aspekt besonders deutlich wieder. Ethnographische Recherchen in Frankfurt haben das vielleicht noch deutlicher belegt, weil sie ausdrücklich die formalen Systeme wie den Markt mit einbeziehen.13 Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich ein Formationswandel. Aber es werden damit auch neue Machtstrukturen provoziert: War bislang die aktuelle Situation die abhängige Variable, so ist es jetzt der Kontext. Die aktuelle Situation gewinnt an Bedeutung, ja wird zum Kern der Kommunikations- und Interaktionsmedien, die zunehmende Mobilität und die wachsende Fokussierung auf die Einzelsituation erzeugen einen Individualisierungssog, in dem das Heute und Jetzt an Macht und Definitionsmacht gewinnt. Deshalb kann man von einer polyzentrischen Einbettung der aktuellen Situation sprechen. Sie wird zum Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, 12 13
Gustav Seiet in der Süddeutschen Zeitung vom 23.11.2004. Siehe dazu auch Hintze/Mann/Schüler (2003).
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sie definiert, was Sache ist. Allerdings geschieht dies keineswegs aus sich heraus, sondern nach wie vor unter Berücksichtigung eines jeweils für relevant erachteten Kontextes. Nur dass eben nicht mehr der Kontext, sondern die Situation die Definitionsmacht übernimmt und der Kontext nur noch kontingent erscheint. Er hält eine Vielzahl von alten wie neuen Deutungsmustern – auch von Deutungsmustern, die aus ganz anderen Situationen und auch ganz anderen Lokalitäten stammen: Globalisierte Kontingenz. Dies bedeutet: Sicherheit durch strukturierende Kontexte. Das ist eine „Chance“ für alle, die die metropolitane Entwicklung für ihre Zwecke nutzen wollen. So breiten sich neue politische, nämlich subpolitische Zentren in den Verwaltungen, in der Wirtschaft und vor allem im Kontext der Kapitalmärkte (Finanzregime) aus. Damit entstehen jedoch auch neue Einfalltore für jenen heute besonders von den Verwaltungen exekutierten exklusiven Nationalismus. Dieser Aspekt kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Er erklärt jedoch, warum der gouvernementalen Subpolitik heute so viel Bedeutung zukommt und die dort inszenierte Biopolitik so weitgreifende Folgen aufweist (vgl. Bukow 2005).
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Der Alltag zeigt ein verändertes Gesicht
Ein letzter Schritt bleibt noch zu tun. Es ging ja nicht nur darum, das Zusammenleben im Zeitalter einer metropolitanen Differenzgesellschaft näher zu bestimmen, sondern auch darum, von dort aus einen neuen Blick auf die Migration, die Einwanderung und Minderheiten zu werfen. Und insbesondere geht es darum, von hier aus die Rede von Parallelgesellschaften zu dekonstruieren. Es gibt einige Aspekte zur urbanen Situation, die hier noch weiter präzisiert werden müssen. Zunächst einmal ist klar, dass sich aufgrund der neuen interaktionsfundierten und systemisch, netzförmig bzw. diskursiv ausgestalteten und miteinander nur noch strategisch verkoppelten Kontexte entsprechender Provenienz eine Vielzahl kleinräumiger urbaner Alltagsformate ausgebildet haben. Die damit noch einmal angedeutete soziale Grammatik des urbanen Zusammenlebens klingt ebenfalls schon im Zitat oben durch, wo sie vielleicht begrifflich nicht ganz exakt, aber ja auch politisch gemeint mit „Kosmos von Parallelgesellschaften teils wüster Art“ bezeichnet wird. Gemeint sind Alltagsformate, „die eben deshalb so friedlich koexistieren, weil die einen von den anderen nicht allzu viel wissen wollen“. In dieser knappen Bemerkung sind schon drei für die weitere Diskussion wichtige Aspekte für die Ordnung des Alltags in der metropolitanen Differenzgesellschaft angedeutet: ein hoher Differenzierungsgrad, eine durch enge Vernetzung gegebene neue Abhängigkeit und die Notwendigkeit für neue Formen sozialer Kompetenz.
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Die Alltagsformate sind hoch different. Sie werden gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen der Gesellschaft und dem Subjekt realisiert und fallen trotz entsprechender Kontextualisierungen sehr unterschiedlich aus. Es gibt Formate, die sehr deutlich systemisch eingebunden sind und entsprechend eindeutig definiert sind, wenn man an Situationen im Kontext von Handel und Gewerbe oder in Bildungssystemen denkt. Es gibt Situationen, die im privaten Raum, in der Familie oder im Freundeskreis inszeniert werden und sehr viel mehr Optionen offen lassen. Klar ist, dass in formalen oder systemischen Kontexten die Formate wenig variieren und häufig sogar durch eine Vielzahl von Regeln und Verfahren begrenzt werden, dass aber entsprechende Formate im lebensweltlichen Kontext ganz anders praktiziert werden können. Schaut man sich diese Formate an, bekommt man einen plastischen Eindruck von der Vielfalt der urbanen Wirklichkeit und man erkennt auch schnell, dass sie in Richtung auf das Subjekt eher zunehmen. Mit anderen Worten, je persönlicher die Situation, umso vielfältiger die Formate. Im individuellen Nahbereich ist die Welt hoch different. Jeder arrangiert sich hier anders, ja man kann sich sogar innerhalb des Tageslaufs unterschiedlich arrangieren. So kann man noch einmal im Blick auf die Entwicklung zur Postmoderne formulieren, dass hier die traditionelle persönliche Identität, die Wir-Gruppen spezifische Ethnizität und die auf Staaten bezogene nationale Identität gegenstandslos geworden sind. An ihre Stelle sind biographische Entwürfe, Wir-Gruppen-Erwartungen und globales Wissen getreten. Die Alltagsformate sind durch ihre Verschränkung auf neue Weise abhängig. Die einzelnen Formate bilden zwar jeweils durchaus handlungsleitende Situationen, aber sie konstituieren keinen auch nur die wichtigsten Lebenstätigkeiten umfassenden Mikrokosmos und sind auch nicht als kleinste gesellschaftliche Einheit zu verstehen. Die Alltagsformate konstituieren ein soziales Handeln, das aus sich heraus niemals lebensfähig wäre, sie situieren alltägliche Deutungsund Handlungssituationen, die ohne den grammatischen Hintergrund einer Stadtgesellschaft funktions- und bedeutungslos und damit erfolg- und sinnlos wären. In der hochkomplexen Postmoderne ist schon lange kein Platz mehr für irgendwelche noch so fragmentierten Formen einer „Subsistenzwirtschaft“. Man ist heute auf eine Vielzahl von Anschlüssen und einen damit verbundenen umfassenden Einsatz von Leistungen, Waren und Informationen angewiesen. Um sich überhaupt auf eine Situation erfolgreich einlassen zu können, bedarf es einer Vielzahl von über die Situation hinausweisenden Anschlüssen – eine strukturelle Koppelung mit zahlreichen Systembereichen, weiteren lebensweltlichen Inszenierungen und dem Rekurs auf die unterschiedlichsten Deutungsdiskurse. Es bedarf einer aufwendigen Verankerung in der urbanen Grammatik. Die Situationsformate sind notwendig, um eine strukturelle Koppelung mit Kontexten zu erreichen, deren Breite und Tiefe und Verwurzelung man nicht nur
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nicht zu wissen braucht, ja auch gar nicht wissen kann, weil sie letztlich alle immer neue Kontingenz eröffnen. Aus der schon für die Moderne typischen Arbeitsteilung entwickelt sich in der Postmoderne eine hoch situierte überordnende Vielfalt. Dabei wird die Befreiung von alten Abhängigkeiten mit neuen Abhängigkeiten erkauft. In der Zeit der Arbeitsteilung hat der/die Bürger(in) noch auf den Staat hoffen können, dass er/sie die Dinge in Ordnung hält und konnte der Staat auf den/die Bürger(in) setzen, dass er/sie Disziplin bewahrt. So sah die Abhängigkeit früher aus. Im Zeitalter der Postmoderne helfen diese von Durkheim stammenden Überlegungen nicht mehr weiter. Abgesehen davon – es funktioniert erst hinreichend, wenn man auch über einen Ort innerhalb der urbanen Grammatik verfügt. Erst eine ausreichende Inklusion ist hinreichend. Die jeweils relevanten Systeme müssen auch einen Anschluss gewährleisten. Und sie gewährleisten den Anschluss nur, wenn eine Zivilgesellschaft dieses sicherstellt. Heute ist man von der Leistungsfähigkeit der Kontexte und damit insbesondere der modernen Systeme abhängig und damit letztlich von der Qualität der Zivilgesellschaft, weil nur diese dem einzelnen Bewohner seine „citizenship“ garantieren und negative Integration, wie sie für viele Menschen mit Migrationshintergrund typisch ist, verhindern kann. Die Alltagsformate verlangen neuartige soziale Kompetenzen. War bis in die Moderne hinein Institutionskonformität gefragt, über die intrinsische Disziplin und methodische Lebensführung sicher gestellt wurden und eine geordnete Abwicklung des Alltags durch eine regelkonforme Formatepraxis gesichert wurde, so helfen heute eher solche Kompetenzen weiter, die Variation und Vielfalt unterstützen, ein breites Wissen, gestalterische Fertigkeiten und vor allem eine umfassende Findigkeit im Aufbau und in der Sicherung von Anschlüssen. Nicht mehr Konformität und Handlungstreue, sondern Beweglichkeit und Variabilität werden zum Garanten der neuen Formate. Auf diese Weise wandelt sich der Alltag ganz massiv. Man kann das an dem erkennen, was man heute als selbstverständlich hinnimmt und genauso an dem, was man nun als störend empfindet. Hier kehren sich die Einschätzungen geradezu um. Dies kann man in einigen Beobachtungen festmachen – Beobachtungen, die aus verschiedenen Analysen urbaner Quartiere gewonnen wurden: „Nicht deshalb wird etwas für alltäglich oder gewohnheitsmäßig gehalten, weil es für eine Stadt angeblich seit Jahrzehnten typisch oder weil es für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe kennzeichnend ist, und nicht deshalb wird etwas für ungewöhnlich oder vielleicht auch störend und fremd gehalten, weil es von meinem persönlichen Lebensstil abweicht oder Konflikte enthält oder was auch immer ... sondern deshalb wird etwas als alltäglich oder gewohnheitsmäßig hingenommen, weil es sich mitsamt allen seinen Besonderheiten, Kontrasten und Differenzen in die Alltagsroutine einfügt, und deshalb wird etwas abgelehnt und als ungewöhnlich emp-
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Wolf-Dietrich Bukow funden, weil es sich mit den „normalen“ Störungen, mit den „normalen“ Besonderheiten oder den „normalen“ Konflikten, dem ganz normalen Chaos aus bestimmten Gründen nicht verträgt.“ (Bukow/Nikodem/Schulze/Yildiz 2002: 453).
Wie eine solche urbane Situation dann aussieht, kann man selbst beobachten. Man muss sich nur den hier skizzierten Blick aneignen. Eine ganze Reihe von Studien hat diesen komplexen, auf den Gesamtzusammenhang ausgerichteten Blick erprobt. Hier genügt ein Hinweis auf solche Arbeiten wie die über den Kölner Stadtteil Ehrenfeld oder auf die von Sven Bergman und Regina Römhild herausgegebene Studie über Frankfurt. Sie beschreiben unter dem Titel „global heimat“ die unterschiedlichsten Alltagsformate in verschiedenen Kontexten und machen deutlich, wie Vielfalt unter den Bedingungen einer Weltstadt arbeitet. Andere Studien greifen bereits aktiv auf die Grammatik urbanen Zusammenlebens zurück, um die gesellschaftliche Integration aktiv auf Vielfalt umzustellen.14
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Wer von einer Parallelgesellschaft redet, ist noch nicht in der Postmoderne angekommen
Die konkreten Formate, aus denen das urbane Zusammenleben besteht, erscheinen hoch different, abhängig von einer erfolgreichen Platzierung innerhalb der sozialen Grammatik des urbanen Zusammenlebens und erfordern neuartige Kompetenzen, wie zum Beispiel die Arbeit in einer gewissen Unschärfe. Wendet man von hier aus den Blick auf jene so genannten Parallelgesellschaften15, so liegen sofort zwei diametral entgegen gesetzte Thesen nahe, die aber im Kern der gleichen Logik folgen. Man könnte mit Werner Schiffauer sagen, wir leben alle längst in Parallelgesellschaften. Sie sind bereits zu einem Normalzustand in der Gesellschaft geworden und haben sich innerhalb der urbanen Grammatik verankert, sich an die formalen Systeme angedockt, pflegen ihre individuellen Netze und beteiligen sich, soweit es irgend geht, an der Zivilgesellschaft. Das Problem sind nicht die Parallelgesellschaften, sondern dass ein exklusiver Nationalismus diese Gruppierungen nicht als einen ganz konventionellen Teil des urbanen Zusammenlebens anerkennt, aber dafür heraus drängen will. Man kann aber auch genau anders herum postulieren, dass in einer Situation globalgesellschaftlicher Differenzen, wo selbst so historisch gesättigte Konstruktionen wie Nationalstaaten kaum noch eine echte Überlebenschance haben, auf der Alltagsebene erst recht keine komplexen Kleingesellschaften eine Chance 14 15
Vgl. Sven Bergmanns und Regina Römhilds herausgegebene Studie über Frankfurt (2004). Eine knappe, aber instruktive Übersicht über die Diskussion geben Dirk Halm und Martina Sauer in einem Beitrag im Auftrag des Zentrums für Türkeistudien (2004).
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haben. Tatsächlich haben Sozialforscher(innen) immer wieder versucht, solche Kleingesellschaften zu identifizieren. „Es muss darauf hingewiesen werden, dass unsere Daten die Entwicklung der ökonomischen Segregation, das zunehmende Auseinanderdriften der Mehrheitsgesellschaft und der Zuwanderer bezüglich wirtschaftlicher und sozialer Faktoren und die Zunahme von Armut unter den Migranten nicht aufzeigen konnten. Solche Tendenzen wären für die eventuelle Entwicklung zu einer Parallelgesellschaft von beträchtlicher Bedeutung, da die wirtschaftlichen und sozialen Umstände der Lebenssituation die mentale Disposition stärker beeinflussen als beispielsweise Freizeitkontakte.“ (vgl. Meyer 2002).
Immer wieder wird festgestellt, dass auch Straßen, die nur von einer sozialen Schicht oder einer Einwanderungsgruppe bewohnt werden, noch lange keine Parallelgesellschaften darstellen, weil sie keine „Doppelstrukturen“ aufweisen. Tatsächlich sind sie fest und unumkehrbar in der urbanen Grammatik verankert. Man ist quasi automatisch mit den verschiedenen sozialen, ökonomischen und kommunalen Systemen verzahnt. Und man pflegt, wie andere auch, seinen besonderen Lebensstil, den man einerseits lokal und andererseits transnational verankert. Das türkische Milieu ist hier im Prinzip durchaus ähnlich organisiert wie zum Beispiel ein Skateboard-Milieu – freilich mit dem feinen Unterschied, dass das eine Milieu anerkannt und das andere skandalisiert wird. Dies zwingt dazu, sich um die Öffentlichkeit zu bemühen, die zivilgesellschaftliche Einbindung einzuklagen, Clubs aufzumachen, für das Wahlrecht zu kämpfen und dort, wo es, und soweit es geht, in den Gewerkschaften und Parteien mit zu arbeiten. In der Diskussion wird vor allem auf sprachliche, soziale, religiöse und politische Abschottung abgehoben. Tatsächlich sind es genau die Punkte, auf die man einst schon bei den „Gastarbeiter(inne)n“ gesetzt hat. Man hat versucht, die Migrant(inn)en sprachlich und religiös durch „muttersprachlichen Unterricht“ zu isolieren, man hat sie auf billigen Wohnraum in sozial schwierigen Quartieren verwiesen und hat ihnen das Kommunalwahlrecht und das allgemeine Wahlrecht vorenthalten. Es wird hier, bezieht man die Tatsache eines fast fünfzig Jahre verhinderten fairen Umgangs mit Migration ein, schon ein bemerkenswerter Zynismus deutlich, der dann auch noch manche Vertreter(innen) in der Öffentlichkeit dazu verleitet, vom Scheitern der Einwanderung zu sprechen. Freilich, die gesellschaftliche Entwicklung ist über diesen Zynismus zu einem guten Teil hinweggegangen. Tatsächlich hat man zwar immer wieder versucht, die Einwanderung zu stoppen und zu revidieren. Das Problem ist also nicht, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund nicht in der urbanen Grammatik verankert ist. Das Problem ist, dass diese zeitgenössische Form der Verankerung nicht realisiert wird (vgl. Werber 2005). Statt dessen führt man Integrationserwartungen
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heran, die überhaupt nichts mit der heutigen Situation zu tun haben, sondern auf jenem exklusiven Nationalismus basieren, bei dem eben keine formale, sondern eine gesinnungsmäßige Integration gefordert wurde. Es ist, wie gezeigt, nicht die allochthone Bevölkerung, es sind Vertreter(innen) der autochthonen Bevölkerung, die in der Postmoderne immer noch nicht angekommen sind. Dennoch, man war und ist mit dieser Strategie der negativen Integration trotz aller gouvernementalen Bemühungen nur begrenzt „erfolgreich“. Angesichts dieser bis heute andauernden Bemühungen, Einwanderung zu verhindern, ist es schon erstaunlich, wie gelassen die autochthone Bevölkerung insgesamt betrachtet in ihrer Alltagspraxis die Folgen der globalen Mobilität hinnimmt und wie erfolgreich sich die allochthone Bevölkerung über die Generationen hinweg lokal verankert hat. Dies ist umso erstaunlicher, als ja die öffentlich inszenierten Stimmungen nicht spurlos an den Menschen vorbeigegangen sind. Tatsächlich beobachtet man, wie sich die Bevölkerung lebenspraktisch in der urbanen Grammatik einrichtet, sie aber auf Befragen durchaus rassistische Einschätzungen kundgibt. Der Kampf der Kulturen hat sich bis in die Köpfe der Bevölkerung vorgearbeitet, aber er versandet angesichts der Alltagspraxis, wo die türkische (!) Pizzeria, die amerikanische Müllabfuhr und der türkische Schwiegersohn Alltagspraxis geworden sind. Er versandet, wo der emanzipierte Haushalt auf die illegal beschäftigte Polin zurückgreift, die dann nicht nur den Haushalt führt, sondern auch das Kind erzieht. Hier wird noch einmal explizit deutlich, dass es nicht um eine Parallelgesellschaft geht, sondern um den Schutz eigener Privilegien. Die Menschen mit Migrationshintergrund werden zu einem Problem, weil sie sich als ganz normale Bürger(innen) erweisen. Die Rede von der Parallelgesellschaft ist ein funktionales Äquivalent zum alten Gastarbeiterbegriff. Sie soll negative Integration stabilisieren, Gräben aufwerfen und Grenzen ziehen. So ist es auch kein Wunder, dass die Ausstattung der Rede von der Parallelgesellschaft an die erinnert, mit der man früher den Antisemitismus ausgestattet hat. Zugleich gaukelt sie einem selbst noch einmal eine heile Welt nationalstaatlicher Homogenität vor.
Literatur Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main. Beck, Ulrich/Grande, Edgar (2004): Das kosmopolitische Europa. Frankfurt am Main. Bergmann, Sven/Römhild, Regina (2004): global heimat. Ethnografische Recherchen im transnationalen Frankfurt. Frankfurt am Main. Bukow, Wolf-Dietrich/Nikodem, Claudia/Schulze, Erika/Yildiz, Erol (2001): Die multikulturelle Stadt. Von der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag. Opladen.
Die Rede von Parallelgesellschaften
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Riskante Integrationsmuster in eine desintegrierte Welt
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Assimilierte Differenz oder differenzierte Assimilation? Riskante Integrationsmuster in eine desintegrierte Welt Riskante Integrationsmuster in eine desintegrierte Welt
Thomas Krämer-Badoni Es ist nun schon das zweite Mal, dass ich von der Forschungsstelle für interkulturelle Studien gebeten werde, mich zu Fragen der Migrationsfolgen und der Integrationsmuster zu äußern. Das finde ich zuvorkommend, zumal Migration und die Integration von Migrantinnen und Migranten nicht die Themen sind, die ich selber seit Jahren beforsche, sondern eher solche Themen, die sich mir im Zuge des Nachdenkens über unsere aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit erschlossen haben. Was ich Ihnen also hier vorzustellen die Ehre und das Vergnügen habe, sind Überlegungen, die auf meinem soziologischen Wissen, der Empirie anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie der Beobachtung unserer gesellschaftlichen Praxis beruhen. Ich versuche, Ihnen nicht einfach meine politischen Überzeugungen zu präsentieren, sondern eben Überlegungen, die uns alle dazu anhalten könnten, nicht zu schnell unsere eigenen Überzeugungen für der Weisheit letzten Schluss zu halten. Ich möchte zunächst 1. mit einer Bemerkung über die kommunalen Vorstellungen zur Migrationsproblematik beginnen, wie sie sich mir im Rahmen des Städtewettbewerbs „Stadt 2030“ dargestellt haben. Dieser Ideenwettbewerb wurde vom BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) ausgeschrieben und unter der Federführung des Deutschen Institutes für Urbanistik (DIfU) durchgeführt. Er wurde 2003 abgeschlossen. Sodann möchte ich 2. mit Hilfe einer Untersuchung von Wilhelm Hinrichs vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialwissenschaften einen empirischen Blick auf die Integrationswirklichkeit in der Bundesrepublik werfen, um daran dann schließlich 3. einige Überlegungen zum Verhältnis von Migration und Integration, von Assimilation und Differenz anzuschließen. In diesem dritten Teil profitiere ich von einer von mir mitbetreuten Habilitationsschrift von Rosemarie Sackmann an der Universität Bremen sowie von einigen Diplomarbeiten, die bei mir geschrieben wurden. Auch wenn ich die in diesem Arbeiten vertretenen Positionen nicht unbedingt zu meinen machen möchte, haben sie mich doch zu meinen eigenen Überlegungen angeregt. Für meine Überlegungen bin ich natürlich nur selbst verantwortlich.
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Stadt 2030
Der Ideenwettbewerb „Stadt 2030“ bezog sich auf vier als grundlegend betrachtete Themenbereiche, zu denen jeweils neue Kommunikationsformen und Problemlösungswege gesucht werden sollten: Wie geht man mit dem Phänomen des Schrumpfens von Städten um? Welche neuen Formen von Regionalisierung sind denk- und wünschbar? Wie kann die Identität von Kommunen gestärkt werden? Und schließlich: Wie lässt sich angesichts zunehmender Segregation und Ausgrenzung Integration befördern? Die Ausarbeitungen zum Thema Integration zeigen sehr vielfältige Vorstellungen. Vielfältig einerseits, andererseits aber eben doch weitgehend nur Vorstellungen, die den Wunsch nach einer harmonischen Gesellschaft in die Zukunft projizieren. Projektionen aus der Sicht der Benachteiligten, wie Albrecht Göschel – Leiter der projektbegleitenden Abteilung beim DIfU – es in „Der Städtetag“ formuliert hat. Integration wird in den meisten Fällen – und so sind ja auch die aktuellen Diskussionen zur Integration weitgehend ausgerichtet – als eine Leistung der Aufnahmegesellschaft und vor allem der Städte der Aufnahmegesellschaft verstanden. Bearbeitet wurde dieses Integrationsbedürfnis in der Regel am Beispiel bestimmter Stadtquartiere, bei den Bearbeitungsverfahren handelte es sich primär um moderierte Kommunikationsverfahren zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Resultate solcher Bearbeitungsprozesse sind im Wesentlichen Projektionen der heute wahrgenommenen Problemkonstellationen, Verlängerungen heutiger Sichtweisen und Defiziterfahrungen. Das muss kein Schaden sein, denn entscheidend ist ja nicht, ob eine Vision zutrifft, sondern ob der Kommunikationsprozess die Realisierung von Visionen strukturiert, ob er also gesellschaftliche Wirklichkeit herzustellen in der Lage ist. Zukunft trifft nicht einfach ein, sie wird gemacht. Halten wir also zunächst fest: Das Herstellen von Integrationsbedingungen ist ein politischer, ein kommunikativer Prozess. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Zukunft wird nicht einfach gemacht, sie trifft auch ein! Beides gilt, und beides gilt es zu berücksichtigen. Die Stadt der Zukunft, davon gingen alle Städte aus, die das Integrationsthema zu dem ihren gemacht hatten, werde eine segregierte, hochdifferenzierte Stadt sein. Und – so die meisten Städte – es werde darauf ankommen, Segregation zu minimieren und Integration herzustellen. In einigen Projekten hatte sich allerdings auch eine andere Sichtweise der Integrationsproblematik entwickelt: Die zukünftige Stadt sei als eine stärker segregierte und differenzierte Stadt zu akzeptieren, Segregation und Differenzierung seien Bestandteile der Stadt, und es müsse gefragt werden, was aus diesem Zustand für die Stadt gewonnen werden könne. Wenn die Prognose einer zunehmenden Segregation und Differenzie-
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rung in den Städten (der Aufnahmegesellschaft) zutreffe, dann komme man mit einem gut gemeinten Integrationswillen nicht weiter, weil diese Integrationsvorstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht entspreche. Man könnte also sagen, dass es zwei gegensätzliche Zielvorstellungen gab: 1. die Vorstellung, man müsse und könne Segregation und Ausgrenzung verhindern und abbauen, und 2. die gegenteilige Vorstellung, dass dieses nicht möglich sei, man deshalb aber zu prüfen habe, welchen Gewinn die Stadt aus einer zunehmenden Differenzierung ziehen könne. Dieser zweiten Strategie könnte man den Titel „Differenz als Prinzip“ zuordnen, während die erste Strategie eher dem Prinzip der Vermeidung von Differenz zu folgen scheint. Dazu ist zunächst zu sagen: Beide Strategien können Erfolg haben oder scheitern, es wird auf die Kommunikationsprozesse ankommen, darauf, welche Wirklichkeit diese Kommunikationsprozesse jeweils herzustellen in der Lage sein werden. Weder Differenz als Prinzip noch die Vermeidung von Differenz sind für sich alleine schon Garanten für einen erfolgreich verlaufenden Integrationsprozess.
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Ausländerintegration in der Bundesrepublik
Im August 2003 erschien auf der Homepage des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) eine Untersuchung zur Integration von Ausländerinnen und Ausländern in der Bundesrepublik. Es handelt sich um einen Text von Wilhelm Hinrichs „Ausländische Bevölkerungsgruppen in Deutschland – Integrationschancen 1985 und 2000“. Hinrichs führt einen empirischen Vergleich der Integrationsentwicklung der ausländischen Bevölkerungsgruppen in der Bundesrepublik durch und tut dies auf der Basis eines Integrationsbegriffs, der – anders als die Begriffe der Integration durch Assimilation oder durch Konflikt – an universalistischen Werten und Zielen orientiert ist. Damit – so Hinrichs – werde es möglich, nicht nur nach dem „wie“ der Integration zu fragen, sondern auch danach, „worauf“ soziale Integration sich beziehe. Die Dimensionen der sozialen Integration sind dann: Materielle Lebensbedingungen (Bildung und berufliche Bildung, Erwerbstätigkeit, Wohnen), soziale Interaktion (Kontakte und Partizipation in der Freizeit, im Beruf und in der Politik), Werte und Orientierungen (Familienstrukturen und Heiratsverhalten, familiale Orientierung). Die Untersuchung der Integrationsentwicklung in allen diesen Dimensionen zeigt, dass sich – ungeachtet aller fortbestehenden Ungleichheiten und aller Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausländerpopulationen und deren rechtlich unterschiedlicher Behandlung – zwischen 1985 und 2000 die Integration in allen Bereichen verbessert hat. Ich kann die Details hier nicht ausbreiten, möchte aber auf wenige grundlegende
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Konstellationen verweisen: So zeigt es sich z.B. im Bereich der Erwerbstätigkeit, dass bei gleicher Bildung und gleichem Alter Ausländerinnen und Ausländer im gleichen Maße wieder Zugang zum Arbeitsmarkt finden wie Deutsche. Staatsangehörigkeit spielt hier also keine Rolle, wohl aber Bildung und berufliche Ausbildung. Im Bereich der Bildung und beruflichen Bildung haben sich die Abstände zwischen Ausländerinnen und Ausländern und Deutschen verringert, auch wenn die Abstände weiterhin beachtlich bleiben. Je höher der Abschluss, desto deutlicher die Abstände. Und dennoch hat sich auch im Bildungsbereich die Situation verbessert. Erreichten im Schuljahrgang 1986/87 23,7% der ausländischen Schülerinnen und Schüler (gegenüber 37,4% der deutschen Schülerinnen und Schüler) einen Realschulabschluss, waren es 2000/01 etwa 29% zu 41,7%. Die Differenz in Prozentpunkten sank also von 13,7 auf 12,7. Bei der allgemeinen Hochschulreife waren es 1986/87 6,2% der ausländischen Schülerinnen und Schüler zu 25% der deutschen Schülerinnen und Schüler, im Jahre 2000/01 dagegen schon 9,2% zu 24,3%. In Prozentpunkten eine Reduktion der Differenz von 18,8 auf 15,2. Dennoch bleibt die Bildung der zentrale Ansatzpunkt für den Zugang der migrierten Populationen zum Arbeitsmarkt. Dies gilt selbstverständlich auch für die einheimische Bevölkerung, aber bei den Migrantinnen und Migranten fällt der Nachholbedarf ins Gewicht. Bei der Analyse der Position von Ausländerinnen und Ausländern auf dem Wohnungsmarkt kommt Hinrichs zu dem Ergebnis: „Insgesamt kann von systematischen Ausgrenzungsprozessen auf dem Wohnungsmarkt nicht die Rede sein.“ (Hinrichs 2003: 35), woran auch die relative Bevorzugung von Ausländerinnen und Ausländern auf dem Sektor des sozialen Wohnungsmarktes durch Übererfüllung der üblichen Belegungsquoten durchaus beteiligt sein dürfte. Auch in den anderen Integrationsdimensionen lassen sich ähnliche Veränderungen zeigen, so dass Hinrichs zu dem abschließenden Ergebnis kommt: „Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich die Lebensverhältnisse der ausländischen Bevölkerung in eine integrative Richtung entwickelt haben.“ (ebd.: 48)
Zwar sei dies von der allgemeinen ökonomischen Entwicklung abhängig, eine Verschlechterung derselben treffe aber Deutsche und Ausländer in gleicher Weise, und zwar insbesondere Kinder, Frauen und Arbeitslose. Auf die Aussagen zur räumlichen Segregation gehe ich weiter unten noch ein. Wenn diese empirischen Ergebnisse stimmen, und ich habe weder einen Anlass, an den von Hinrichs präsentierten Daten zu zweifeln, noch habe ich methodische Einwände am Untersuchungsdesign zu erheben – ganz im Gegenteil, diese vergleichende Untersuchung schlägt alle bereichsspezifischen Momentaufnahmen – wenn diese empirischen Ergebnisse also stimmen, dann fragt
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es sich doch, weshalb sich die Integration von Ausländerinnen und Ausländern als eines der Schwerpunktthemen im Rahmen des Programms Stadt 2030 herausgebildet hat. Umfassender formuliert: Warum ist das Integrationsthema politisch und wissenschaftlich so umstritten, so ideologiebelastet, so wenig nüchtern zu behandeln? Vieles spricht dafür, dass die Angst vor der weltweiten und bundesdeutschen ökonomischen Krise hierin ihren Ausdruck ebenso findet wie das Bild eines unsympathischen Deutschlands, das durch spektakuläre fremdenfeindliche Akte immer aufs Neue geprägt und von manchen Nachbarinnen und Nachbarn sehr gerne medial vervielfältigt wird (als Mensch italienischer Abstammung weiß ich, wovon ich rede). Und nicht zuletzt dürfte dafür auch die unverstandene Prosperitätsphase der 60er Jahre verantwortlich sein, aus der heraus wir fälschlicher Weise die normativen Maßstäbe für die zukünftige Entwicklung zu ziehen geneigt sind1 Aus dieser kurzen Prosperitätsphase lassen sich aber keine normativen Erwartungen an zukünftige Entwicklungen ableiten. Burkart Lutz hat in seiner berühmten Schrift „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) deutlich gemacht, dass der Wachstumsprozess der Bundesrepublik unter absoluten Ausnahmebedingungen stattgefunden hat, die so nicht wieder herstellbar sind, dieser Wachstumsprozess somit also auch nicht zur Norm eines normalen Wachstumsprozesses erklärt werden kann. Dieses außergewöhnlich starke Wachstum war eine Kriegsfolge und basierte unter Anderem auf der Unterstützung der Bundesrepublik durch die USA im Hinblick auf die Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus. In dieser Systemkonkurrenz waren die BRD und die DDR die Frontstaaten. Obgleich sich also die Integration in den oben genannten Dimensionen als durchaus erfolgreich erwiesen hat, lässt sich ein Defizit erkennen: Es ist ein staatliches Defizit und besteht in der Hauptsache darin, dass Deutschland den Status des Einwanderungslandes nahezu wortwörtlich bis gestern abgelehnt und sich damit der Steuerungsmöglichkeiten beraubt hat, die ein solcher Status ermöglichen würde. Dies beruhte und beruht auf primär ideologisch ausgetragenen gesellschaftlichen Kontroversen und hatte erhebliche Folgen in den verschiedenen Phasen der Migration nach Deutschland. Vor allem fehlte es an einer kontinuierlichen und verlässlichen Orientierung sowohl für die deutsche Bevölkerung als auch für die Migrantinnen und Migranten. Im pointierten Überblick: Für die ursprünglich ausschließlich als Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten definierten Zuwanderinnen und Zuwanderer reichte die Arbeitsmarktintegration, später – bei dem systemisch nicht vorgesehenen Nachzug der Familienangehörigen – kamen die Wohnungsmarktintegration (sozialer Wohnungsbau, Wohngeld) sowie die Bereitstellung von Transferleistungen in Form von Arbeitslosengeld, 1
Vgl. hierzu meine Ausführungen in Krämer-Badoni 2002: 69ff.
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Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hinzu, die später durch die Rückkehrhilfe sowohl ergänzt als auch konterkariert wurde. Die verschiedenen Vorstellungen von Multikulturalismus sowie schließlich die Einbürgerungsmöglichkeit und – last not least – der jahrelange Streit um das Zuwanderungsgesetz vervollständigten das Bild politischer Inkonsistenz und Kontinuitätslosigkeit. Alle diese Strategien verfehlten eine zentrale gesellschaftliche Voraussetzung, die erst jetzt durch das Zuwanderungsgesetz (zumindest teilweise) politisch akzeptiert zu werden scheint: Wer als Zuwanderin oder Zuwanderer in einem Zuwanderungsland Erfolg haben will, muss die Erfolgsbedingungen der modernen (nationalen) Gesellschaft akzeptieren. Und diese sind – der OECD-Bericht vom September 2003 zur Bildungssituation hat dies nochmals verdeutlicht – Bildung, berufliche Ausbildung, Sprachkompetenzen und nochmals Bildung. Diese Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen, deren Wahrnehmung bei den Migrantinnen und Migranten aber auch einzufordern, das wäre eine kluge Integrationspolitik, die Integration als Leistung sowohl der Aufnahmegesellschaft als auch der Migrantinnen und Migranten begreift und umsetzt. Ob das Zuwanderungsgesetz diese Politik letztlich erfolgreich wird umsetzen können, das bleibt zu beobachten. Mit dem Zuwanderungsgesetz wird aber immerhin erstmals in der Bundesrepublik ein Orientierungsrahmen geschaffen, der den Kommunen eine aktive Integrationspolitik ermöglichen soll. Zumindest gibt es jetzt eine relativ transparente Rechtssicherheit, die der Orientierung dienlich ist.
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Assimilierung der Differenz oder differenzierte Assimilation?
Lassen Sie mich an dieser Stelle einige vorläufige und ungeordnete Gedanken ausbreiten. Geht es um die Assimilierung von Differentem oder um differenzierte Formen der Integration und Assimilation? Und erlauben Sie mir hier auch, den Assimilationsbegriff von dem Odium zu befreien, er fordere die Angleichung an die Gesellschaft so, dass nur der Migrant sich verändere. Das ist eine ebenso abstrakte wie absurde Vorstellung: Die Gesellschaft verändert sich mit jedem Migranten, auch dann, wenn die Gesellschaft Assimilation erwartet. Was eine wohlverstandene Assimilation sein kann, darauf gehe ich gleich noch ein. Vorweg aber schon mal soviel: Cuius regio, eius religio ist nicht das Grundprinzip der Assimilation, sondern der Hinweis auf eine bedrückende Vergangenheit.
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3.1 Soziale Mobilität Blickt man auf die Integrationspolitik, auf den Verlauf von Integration in der Bundesrepublik und die diesen begleitenden Diskussionen zurück, so muss auf jeden Fall noch den Prozessen des sozialen Aufstieges Beachtung geschenkt werden. Der soziale Aufstieg in einer Gesellschaft kann als Prozess der Integration in diese Gesellschaft beschrieben werden. Sozialer Aufstieg ist ein langwieriger Prozess, der in der Regel die Lebenszeit mehrerer Generationen umfasst. Indikator für die soziale Mobilität einer Gesellschaft ist nicht ein Vergleich des sozialen und beruflichen Status der Kinder mit dem der Eltern, sondern der Enkel mit dem der Großeltern. In den Vereinigten Staaten galt ein Integrationsprozess dann als erfolgreich abgeschlossen, wenn die Kindeskinder der Ersteinwanderer die Sprache des Herkunftslandes nicht mehr wirklich beherrschten. Hieran mag sich inzwischen einiges geändert haben, obgleich es auch für die USA immer noch stimmen dürfte, dass Zuwanderinnen und Zuwanderer die Erfolgsbedingungen des Einwanderungslandes akzeptieren. Dass in der Bundesrepublik die dritte Generation der türkischen Migrantinnen und Migranten in ihrer Bildung und in ihrer Sprachkompetenz schlechter dasteht als die zweite Generation, zeigt, dass hier etwas schief gelaufen ist. Die Bundesrepublik ist für viele der Migrantinnen und Migranten keine neue Heimat geworden, sondern ein Territorium mit Sozialleistungen und einer Gesundheitsversorgung, die im Heimatland nicht zu finden sind. Wer keine Integration fordert und fördert, sondern lediglich Multikulturalismus predigt, Distanz praktiziert und mit Sozialleistungen paart, wird keine Integration erhalten. An der Langwierigkeit dieser Prozesse lässt sich aber auch noch etwas anderes, grundlegendes ablesen: Integration, wie auch immer sie verstanden wird, ist ein langsam voranschreitender Prozess. Integration braucht Zeit, und das heißt: sowohl die Migrantinnen und Migranten als auch die Aufnahmegesellschaft müssen sich Zeit lassen, müssen Geduld aufbringen. Auf einer Tagung des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung im September diesen Jahres in Bielefeld zum Thema „Wie gefährlich ist Segregation in Städten?“ hat Hartmut Häußermann Zeit als einen der wichtigen Faktoren für gelingende Integration charakterisiert, und es war schon beeindruckend, das ungläubige Erstaunen des nach Tätigkeit lechzenden wissenschaftlichen Publikums zu erleben. Übrigens gab es keine einzige Migrantin und keinen einzigen Migranten unter den referierenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Halten wir also fest: Sozialer Aufstieg braucht Zeit, und bei Migrantinnen und Migranten braucht er vermutlich mehr Zeit. Und auf Seiten der Aufnahmegesellschaft drückt sich „Zeit“ in Form von „Geduld“ und „Gelassenheit“ aus.
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3.2 Integration durch Segregation Soziale Mobilität setzt ein gesellschaftliches Unten und ein gesellschaftliches Oben voraus. Integration erfolgt durch sozialen Aufstieg, und dieser wird sich in Zukunft vermutlich mehr als bisher auch räumlich ausdrücken, wie dies in den USA seit langem der Fall ist. Die Stadt mag in Zukunft eine hochgradig segregierte und differenzierte Stadt sein, aber solange Prozesse der sozialen Mobilität möglich sind, von den Migrantinnen und Migranten gewollt und von der Aufnahmegesellschaft nicht verhindert werden, solange steht Segregation der Integration nicht im Wege. Unsere Gesellschaft basiert auf sozialer Mobilität, auf sozialem Aufstieg und Abstieg, nicht auf gleich verteiltem Wohlstand für alle. Soziale Mobilität ist das Kennzeichen einer dynamischen urbanen Gesellschaft. Man muss es vielleicht noch deutlicher sagen: soziale Ungleichheit ist der Garant der gesellschaftlichen Dynamik. Auch Hinrichs verweist – allerdings ganz anders argumentierend als ich selber – darauf, dass Segregation kein Integrationshindernis ist. Hierzu fehle allerdings ein zureichendes empirisches Wissen, weshalb er sein kurzes Kapitel zur Segregation auch einen normativen Exkurs nennt (Hinrichs 2003: 45ff.). Hinrichs geht es zunächst um die Frage, ob das isolierte Wohnen unter den Personen der Aufnahmegesellschaft nicht viel eher zur Isolation des Zuwanderers führt als das Wohnen in einer ethnischen Kolonie. Dies mag sein, aber es wird ja auch niemand verlangen, dass die Erstmigrantinnen und Erstmigranten sich unter die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft mischen. Für die nächsten Generationen könnte dies dann schon anders aussehen. Für wichtiger halte ich allerdings ein weiteres Argument, das Hinrichs etwa so formuliert: Folge man der unter Stadtsoziologen üblichen Annahme, dass räumliche Segregation unmittelbarer Reflex sozioökonomischer Ungleichheit sei, dann liege es nahe, Segregation als Ausdruck sozialer Segmentierung und Desintegration zu verstehen. Dem hält Hinrichs einerseits entgegen, dass es neben dem sozioökonomischen Status und der Rationalität des Wohnungsmarktes eine ganze Reihe anderer Faktoren gebe, die auf die Wohnungswahl einwirkten: familiäre, ethnische, kulturelle und Lebensstilgründe seien hier als die wichtigsten genannt. Zum anderen aber sieht Hinrichs in der Vorstellung, dass ethnische Kolonien kurzfristig gut weil integrationsfördernd, langfristig schlecht weil integrationshinderlich seien, einen – wenn auch zeitlich gestreckten – Ausdruck des Assimilationsmodells. Diese Beobachtung scheint mir richtig zu sein, letztlich halten damit trotz einzelner Unterschiede fast alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Assimilationsmodell fest, auch wenn sie sich verbal davon abzugrenzen suchen. Gerade aber an den Türkinnen und Türken – der einzigen Bevölkerungsgruppe, an der sich explizit räumliche Segregation tatsächlich aufweisen lasse – zeige sich, dass
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nicht das Assimilationsmodell, sondern eher eine bi-nationale Integration dominiere – das so genannte „Sowohl-als-auch-Modell“. Eine sowohl im Herkunftsland als auch in der Bundesrepublik fundierte Identität, die sich dem Assimilationsmodell nicht füge. Dieser Befund wird durch eine international vergleichende Studie bestätigt, die Rosemarie Sackmann an der Universität Bremen durchgeführt hat. Es scheint sich tatsächlich ein Modell zu entwickeln, das zugleich Bezüge zum Herkunftsland und zum Zuwanderungsland aufweist. Die Folgen sind allerdings noch nicht ganz klar, weder theoretisch noch empirisch. So ist zum Beispiel völlig offen, welche langfristigen Auswirkungen von der so genannten Pendelmigration zu erwarten sind. Lassen Sie mich, bevor ich zu meiner abschließenden Überlegung komme, als Zwischenergebnis Folgendes festhalten:
Wenn Migrantinnen und Migranten sozial aufsteigen, ist dies ein Indikator für gelingende Integration. Sozialer Aufstieg ist ein langsamer Prozess, der in der Regel mehrere Generationen beanspruchen kann. Wenn diese beiden Beobachtungen stimmen, dann ist auch der Prozess der Integration ein langsamer und zeitraubender Prozess. Wenn in der Aufnahmegesellschaft sozialer Aufstieg stattfindet, dann ist diese Form der Integration immer auch eine Form von Assimilation, zumindest dann, wenn man Assimilation als die Aneignung der Voraussetzungen für einen Aufstieg in der Aufnahmegesellschaft versteht.
Bliebe als zu klären, welches die Voraussetzungen für einen sozialen Aufstieg in der Aufnahmegesellschaft sind und in welchem Verhältnis diese Voraussetzungen zur Differenz stehen.
3.3 Sozialer Aufstieg und Differenz. Um welche Differenz geht es eigentlich? Betrachten wir die Frage des Gegensatzes von Differenz und Angleichung unter Berücksichtigung der bisherigen Ausführungen, vor allem unter Wahrnehmung der langen Dauer von Integrations- und Aufstiegsprozessen, so zeigt es sich, dass dieser Gegensatz im Laufe einer langen Zeit eine erhebliche Transformation erfährt. In den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts waren uns die europäischen Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten fremd, sie wurden als anders, als different wahrgenommen und gewissermaßen kaserniert. Heute käme doch niemand mehr auf die Idee, diese west- und südeuropäischen Nachbarinnen und Nachbarn als fremd, als different wahrzunehmen und zu deren Schutz das Recht
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auf Differenz einzuklagen. Warum nicht? Nicht nur, weil wir als Reiseweltmeister der Wirtschaftswunderzeit die jeweiligen Bevölkerungen nach dem 2. Weltkrieg überhaupt erst kennen gelernt haben, sondern vor allem, weil bei aller Differenz in der Alltagskultur sich über die Zeit die Vorstellungen vom Staatswesen, von politischen Parteien und Opposition, von argumentativer Auseinandersetzung und Gewaltfreiheit, von der Familie, von der Gleichberechtigung der Frauen, von der Würde des Menschen, vom Leben in einer säkularisierten Gesellschaft und von anderen grundlegenden Vorstellungen zum menschlichen Zusammenleben weitgehend angenähert haben. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass auch in den westlichen Demokratien die Privatwohnung der gefährlichste Ort, die Familie die gewaltträchtigste soziale Organisation ist, dass sich die säkularisierte Gesellschaft mit religiösen Fundamentalismen paart (man denke nur an die Abtreibungsdebatte), dass auch hier Frauen unterdrückt und geschlagen sowie beruflich benachteiligt werden, dass die Würde des Menschen in der Kinderpornographie ihre absolute Negation findet, dass uns also – um es in einem Satz zu sagen – mit unseren west- und südeuropäischen Nachbarinnen und Nachbarn zwar ähnliche normative Vorstellungen verbinden, die gelebte Wirklichkeit in unserem eigenen Lande diesen normativen Vorstellungen aber keineswegs vollständig entspricht. Wenn also heute das Recht auf Differenz oder im Gegensatz dazu die unbedingte Integration eingeklagt werden, sind die Migrantenpopulationen gemeint, die quantitativ ins Gewicht fallen, deren Migrationsgeschichte aber noch viel zu kurz ist, als dass Zeit bisher die Chance gehabt hätte, Differenz und Integration in einen Gleichklang zu bringen. In der Bundesrepublik die Türkinnen und Türken, in den Niederlanden die Marokkanerinnen und Marokkaner usw., man muss das nicht alles durchbuchstabieren. Es sind jene Migrantinnen und Migranten gemeint, die uns auf Grund ihrer Sprache, ihrer Religion, ihrer Kleidung und ihres kulturellen Hintergrundes wegen als fremd erscheinen. Um deren Differenz geht es also beim Recht auf Differenz. Ich sage bewusst: als fremd erscheinen, weil uns viele von ihnen keineswegs fremd sind, und weil im Verlaufe der Zeit hier mit Sicherheit Änderungen eintreten werden. Differenzen werden sich einebnen, aber auch ganz selbstverständlich erhalten bleiben, wie sie ja auch bei anderen Migrantinnen und Migranten nicht einfach verschwunden sind. Allerdings vermute ich, dass es eine Eingrenzung der möglichen Differenzen wird geben müssen: Jene universalistischen Vorstellungen, die in unserer Gesellschaft das normative Gefüge bilden, stehen nicht zur Disposition, können nicht zur Disposition stehen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Vorstellungen zur Rechtsordnung, zur Demokratie, zur Menschenwürde, zur körperlichen Integrität und zum staatlichen Gewaltmonopol. Zu diesen Vorstellungen müssen wir nach
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Innen und nach Außen stehen, sonst werden wir von keiner Migrantenpopulation wirklich ernst genommen. Der Kontext, innerhalb dessen ich diesen Vortrag ausgearbeitet habe (die Ermordung Theo van Goghs und die Reaktionen darauf), hat mich etwas ratlos zurückgelassen. Und die Argumentation von Rosemarie Sackmann und anderen zur bi-nationalen Identität hat mich zwar nicht vollständig überzeugt, aber doch sehr nachdenklich gemacht. Zwar neige ich eher einem Integrationsmodell zu, das dazu tendiert, die Differenzen eher einzuebnen als sie zu profilieren: Den Verzicht auf ein solches Modell habe ich immer für eine konstitutive Schwäche der deutschen Identität gesehen, die es in den meisten anderen europäischen Ländern in dieser Form nicht gibt. Andererseits sehe ich auch, dass die moderne Gesellschaft irreversibel und zunehmend auf Differenz beruht, ja aus Differenz besteht. Daraus könnte dann vielleicht tatsächlich so etwas wie Transnationalität entstehen, vielleicht entspricht diese der modernen Gesellschaft viel mehr als Integrationsvorstellungen, die den Nationalstaat bzw. nationalstaatliche verfasste Gesellschaften zugrunde legen müssen. Hierüber ein begründetes Urteil zu fällen ist im Augenblick unmöglich. Nicht nur wegen des Pulverdampfes, der wie ein Nebel über dem Schlachtfeld der Integrationspolitik liegt, sondern auch deshalb, weil wir nicht wissen können, ob und wenn ja in welcher Form die westlichen individualistischen Gesellschaften überleben. Wer Ernest Gellners Buch „Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen“ gelesen hat, weiß, wovon ich rede. Im Augenblick dominieren bei mir die Zweifel, Zweifel daran, ob sich in der bi-nationalen Identität tatsächlich Transnationalität ausdrückt, auch Zweifel daran, dass es sich dabei tatsächlich um eine Identität handelt. Wenn ich in den Diplomarbeiten, die türkische Studierende bei mir geschrieben haben, lese, dass die Pendelmigration älterer Türkinnen sich einerseits auf den deutschen Wohnort der erwachsenen Kinder, zum anderen aber der Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik verdankt, so spricht dies nicht per se für die Entwicklung neuer Identitäten. Und schließlich habe ich Zweifel daran, dass Transnationalität tatsächlich auf universalistischen Werten beruht. Wenn Sie sich heute umschauen, werden Sie wenig von universalistischen Werten sehen, aber viele Nationalismen und Pan-Nationalismen, die mit Universalismus wenig am Hut haben. Theoretisch mag deshalb das Pochen auf universalistischen Werten durchaus auf hehren Motiven beruhen. In der Praxis scheint mir die Einforderung einer von den Migrantinnen und Migranten zu erbringenden Integrationsleistung – sofern es seitens der Aufnahmegesellschaft hierzu auch tatsächlich ein Angebot gibt – eine handhabbarere Lösung zu sein, die beide Seiten in die Pflicht nimmt. Zu wirklicher Transnationalität, die auf der weltweiten Geltung universeller Werte beruht, ist es noch ein zu weiter Weg, als dass diese Vorstellung heute bereits zur Richt-
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schnur einer Integrationspolitik werden könnte. Und es sind Zweifel angebracht, ob ein solcher Weg jemals zu Ende gegangen werden kann. Aber bekanntlich soll man niemals „nie“ sagen.
Literatur Gellners, Ernest (1995): Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen. Stuttgart. Hinrichs, Wilhelm (2003): Ausländische Bevölkerungsgruppen in Deutschland – Integrationschancen 1985 und 2000. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Internetveröffentlichung: www.wz-berlin.de Krämer-Badoni, Thomas (2002): Urbanität, Migration und gesellschaftliche Integration. In: Löw, Martina (Hrsg.): Differenzierungen des Städtischen. Opladen, S.69-86. Lutz, Burkart (1984): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt am Main. Sackmann, Rosemarie (2004): Zuwanderung und Integration. Theorien und empirische Befunde aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland. Wiesbaden.
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Normalisierung der Differenz oder Ethnisierung der sozialen Beziehungen?
Christoph Butterwegge Mit der neoliberalen Modernisierung, die meist als „Globalisierung“ bezeichnet wird, bzw. davon ausgelösten Wanderungsbewegungen geht eine Stigmatisierung von Migration, Integration und Multikulturalität einher (vgl. Butterwegge 2004). Aufgrund des nationalstaatliche Grenzen überschreitenden und der Tendenz nach überwindenden Prozesses ökonomischer Globalisierung könnte soziokulturelle Differenz zur Normalität werden. Dass sich eher der umgekehrte Trend, verbunden mit Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien und Exzessen rassistischer Gewalt, durchzusetzen scheint, muss erklärt werden, will man ihm angemessen begegnen. Deshalb sollen die Rahmenbedingungen für Ausgrenzung, soziale Exklusion und Aggression genauer untersucht werden.
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Migration und die Krise des Sozialen im Zeichen der Globalisierung
Obwohl es so lange Migration gibt, wie Menschen auf der Erde leben, nimmt sie im Zeichen der Globalisierung neue Züge an (vgl. hierzu: Butterwegge/Hentges 2006). Dass sich die Chancen für eine nachhaltige Integration von Personen unterschiedlicher Herkunft eher verringern, hängt jedoch nicht mit deren Verhalten, sondern mit dem Modernisierungskonzept zusammen, das Ausgrenzung an die Stelle sozialen Ausgleichs setzt. Migration und Integration leiden unter einer massiven Entwertung bzw. einer tiefen Sinnkrise des Sozialen, die innerhalb der Aufnahmegesellschaft zum neoliberalen Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates beiträgt (vgl. Butterwegge 2005), die Existenzbedingungen für Zuwanderinnen und Zuwanderer damit verschlechtert und aus vier Teilprozessen besteht, die im Folgenden genauer analysiert werden sollen. Erstens fällt die Tendenz zur Ökonomisierung des Sozialen ins Auge. Fast alle Lebensbereiche, etwa Kultur, (Hoch-)Schule, Freizeit und auch die soziale Infrastruktur, werden nach dem Muster des Marktes restrukturiert. Sozial zu sein bedeutet fortan nicht mehr, sich gemäß humanistischer Grundüberzeugungen oder christlicher Nächstenliebe um arme, benachteiligte Menschen oder Men-
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schen mit Behinderungen und ihre Probleme zu kümmern bzw. moralischen Verpflichtungen und ethischen Normen nachzukommen. Vielmehr wird auch das Soziale zunehmend vom neoliberalen Zeitgeist durchdrungen und von der Konkurrenz, dem Gewinnstreben und betriebswirtschaftlicher Effizienz bestimmt. Zweitens findet eine Kulturalisierung des Sozialen statt. Seit geraumer Zeit stehen nicht mehr materielle Interessen bzw. Interessengegensätze im Blickfeld, wenn man über die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft spricht, sondern die kulturelle Identität. Die Kulturalisierung des Sozialen bedeutet, dass die Zugehörigkeit zur Gesellschaft nicht mehr über die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zu einer bestimmten Klasse, Schicht oder Gruppe definiert wird, die gemeinsame Interessen haben (und daher ein hohes Maß an Solidarität realisieren können, falls sie sich dessen bewusst werden), sondern dass stärker nach kulturellen Übereinstimmungen, also gemeinsamer Sprache, Religion und Tradition, gefragt wird. Das ist der Grund, weshalb sich Widerstand gegen diese Entwicklung nur schwer artikulieren und organisieren kann. Drittens ist eine Ethnisierung des Sozialen festzustellen. Je mehr die ökonomische Konkurrenz im Rahmen der „Standortsicherung“ verschärft wird, umso leichter lässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft aufladen und als Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerber(inne)n um soziale Transferleistungen instrumentalisieren. Ein „nationaler Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch), der kein herkömmlicher Wohlfahrtsstaat mehr sein möchte, bereitet Ethnisierungsprozessen den Boden. Diese haben zwei Seiten: Neben einer Stigmatisierung „der Anderen“ bewirken sie eine stärkere Konturierung „des Eigenen“ bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. „Volksgemeinschaft“, mit der viel weiter reichende Ziele verfolgt werden. „Deutsche(s) zuerst!“ lautet ein Slogan, der solche Vorstellungen genauso wie „Ausländer raus!“ - Parolen im Massenbewusstsein verankert. Viertens zeichnet sich deutlich eine Biologisierung des Sozialen ab. Gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen werden heute immer häufiger an den Genen festgemacht. Dabei spielt der Demografie-Diskurs, d.h. die Art und Weise, wie über die (Alters-)Struktur der Gesellschaft gesprochen und geschrieben wird, eine Schlüsselrolle. Mit dem demografischen Wandel rückt die Humanbiologie ins Zentrum der Gesellschaftspolitik und entscheidet quasi naturwüchsig, wie ein naturgesetzlicher Sachzwang, über Rentenhöhen und darüber, wie Sozialleistungen zu bemessen sind. Wer die meist Katastrophenszenarien gleichenden Bevölkerungsprognosen betrachtet, deren Häufung in den Medien auffällt, stellt fest, dass die Urangst von Neonazis und Rechtsextremisten, „das deutsche Volk“ könne „aussterben“, in die Mitte der Gesellschaft wandert.
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Ökonomisierung, Privatisierung und Kommerzialisierung (fast) aller Lebensbereiche
Für den Neoliberalismus, eine Wirtschaftstheorie, die Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA zum Regierungsprogramm erhoben, bevor daraus eine umfassende Gesellschaftsphilosophie und eine Art politischer Zivilreligion wurde, die alle hoch entwickelten Industriegesellschaften erfasste, gefährdet das Soziale die Rentabilität der Volkswirtschaft. Früher hätten staatliche Aktivitäten zum Wirtschaftswachstum beigetragen, die konjunkturelle Entwicklung gefördert und die Produktion des gesellschaftlichen Reichtums gemehrt, konzedieren Neoliberale: „Der Sozialstaat war so lange ein Standortvorteil, wie der allgemeine Wohlstand niedrig war und die Kapital- und Versicherungsmärkte noch wenig entwickelt waren.“ (Berthold 1997: 10)
Durch die Globalisierung sei Sozialstaatlichkeit jedoch zu einem gravierenden Standortnachteil geworden, der die internationale Konkurrenzfähigkeit des Kontinents gefährde: „Wenn Europa im 21. Jahrhundert als erfolgreicher Industriestandort überleben und den Weg zurück zur hohen und stabilen Beschäftigung finden soll, muß die optimale Wirtschaftsleistung Vorrang vor der maximalen Sozialleistung haben.“ (Zänker 1994: 57)
Daher ist der moderne Wohlfahrtsstaat für neoliberale Ökonomen bestenfalls ein notwendiges Übel. Seit der Weltwirtschaftskrise 1974/76 wird er von Politiker(inne)n und Mainstream-Medien systematisch in Misskredit gebracht. Außerdem wird soziale Gerechtigkeit, die nicht vorstellbar ist ohne mehr Gleichheit, heute in einem merkwürdig reaktiv anmutenden und die Regierungspolitik legitimierenden Diskurs auf „Chancengerechtigkeit“ oder „Startgleichheit“ reduziert. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der Geld nicht nur für ein „gutes Leben“ wichtiger denn je, sondern auch ungleichmäßiger denn je auf die einzelnen Klassen, Schichten und Gruppen verteilt ist, wird so getan, als dominierten nichtmaterielle Faktoren (Beteiligung an Bildungsprozessen und Arbeitsmarktinklusion statt der Verteilung von Einkommen und Vermögen), wenn es darum geht, sich in der Gesellschaft zu behaupten. „Standortsicherung“ kehrt das Verhältnis von Ökonomie, Staat und Politik, die zu abhängigen Variablen der Volkswirtschaft degradiert wird, um. In den Mittelpunkt staatlichen Handelns rückt die (angeblich) bedrohte Konkurrenzfähigkeit des „eigenen“ Wirtschaftsstandortes. An die Stelle des Wohlfahrtsstaates,
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wie er sich in Westdeutschland nach 1945 herausbildete, sollen staatliche Fürsorge und Privatwohltätigkeit, Eigenvorsorge und Selbstverantwortung der Bürger(innen) treten. Dadurch würde sich nach neoliberaler Überzeugung die Sozialleistungs- bzw. Staatsquote senken sowie die Erwerbslosigkeit verringern lassen. Der wirtschafts- bzw. sozialpolitische Dreiklang neoliberaler Modernisierer(innen) lautet: Entstaatlichung, Entsicherung und Entrechtung jener Menschen, die unfähig oder unwillig sind, auf dem (Arbeits-)Markt ein ihre Existenz sicherndes Einkommen zu erzielen. Durch die Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung beinahe aller Gesellschaftsbereiche, die fast völlige Liberalisierung der Güter-, Geld- und Kapitalmärkte, die weitgehende Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen bzw. -zeiten, die Deregulierung des Sozial- und Umweltschutzrechts sowie die (Re-)Privatisierung von Unternehmen, öffentlichen Dienstleistungen und sozialen Risiken soll die bestehende Industrie- zur „unternehmerischen Wissensgesellschaft“ umstrukturiert, eine neue, aber nachhaltige Wachstumsdynamik der Wirtschaft erreicht und die freie Entfaltung der Bürgerinnen und Bürger an die Stelle des Handelns staatlicher Bürokratien gesetzt werden. Wenn es nach Neoliberalen und Lobbyisten geht, muss der Wohlfahrtsstaat „weltmarkttauglich“, aber auch jeder Mensch „arbeitsmarkttauglich“ bzw. „beschäftigungsfähig“ sein oder gemacht werden. Hans J. Pongratz und G. Günter Voß (2004) kritisieren, dass Arbeitnehmer(innen) unter den Bedingungen der New Economy und anderer „entgrenzter“ Formen der Beschäftigung zu modernen „Arbeitskraftunternehmer(inne)n“ avancieren, verbunden mit dem Zwang, sich selbst erfolgreich zu vermarkten, wie auch entsprechenden Existenzrisiken. Ein solches Konzept verdinglicht die Betroffenen und passt sie ohne Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten den Marktgegebenheiten an, statt die Wirtschaft den menschlichen Arbeits- und Lebensbedürfnissen gemäß umzugestalten. Zwischen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und der Globalisierung besteht kein Widerspruch. Vielmehr bedingen sich beide, sofern man Globalisierung nicht auf neoliberale Modernisierung verkürzt. Selbst im Rahmen der Standortlogik ist eine Expansion der Wohlfahrt sinnvoll, die soziale Exklusion ausschließt und Verwertungsinteressen keineswegs zuwiderläuft. „Eine erfolgreiche Teilnahme an Globalisierungsprozessen setzt nicht weniger Sozialstaat voraus, sondern starke Institutionen, die ökonomische Schocks und soziale Konflikte auffangen können. Gesellschaftliche Ordnung bedarf eines übergreifenden Horizonts von Normen und Werten, die nicht in Marktinteressen aufgehen.“ (Müller 2002: 55)
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Samuel P. Huntingtons These vom „Zusammenprall der Zivilisationen“ – ein Beispiel für die Kulturalisierung des Sozialen
Die (zuerst in „Foreign Affairs“ formulierte) These des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington, dass die Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr von ideologischen, politischen oder wirtschaftlichen Konflikten, sondern primär von einem „Zusammenstoß der Zivilisationen“ bzw. einem „Kampf der Kulturen“ bestimmt werde, hat große Resonanz gefunden, aber auch heftige Kontroversen ausgelöst (vgl. Metzinger 2000). Gemeint ist eine Herausforderung des Westens (USA, Europa) durch andere Mächtegruppen: „Der Westen verliert an relativem Einfluß; asiatische Kulturen verstärken ihre wirtschaftliche, militärische und politische Macht; der Islam erlebt eine Bevölkerungsexplosion mit destabilisierenden Folgen für muslimische Länder und ihre Nachbarn; und nichtwestliche Kulturen bekräftigen selbstbewußt den Wert ihrer eigenen Grundsätze.“ (Huntington 1996: 19)
Huntingtons „Kulturkreise“ decken sich im Wesentlichen mit den Kernregionen der Weltreligionen bzw. ihrer Hauptrichtungen. Eine fortschreitende Säkularisierung lässt religiös motivierte Konflikte aber eher überholt erscheinen. Zu fragen wäre zudem, ob sich die Menschheit noch in das von Leo Frobenius und Arnold Toynbee begründete Schema pressen lässt. Obwohl die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien vielen Menschen zunächst Angst macht, erlaubt sie ihnen, kontinentale und Ländergrenzen in Sekundenbruchteilen zu überwinden, was soziokulturelle Schranken relativieren dürfte. „Kultur“ – Huntingtons Schlüsselkategorie – bezeichnet keine Größe, die sich auf eine fest umrissene Gruppe von Menschen beschränkt, sondern bezieht sich auf einen für andere Einflüsse offenen Prozess. Dass sich (Sub-)Kulturen überlappen, durchdringen und wechselseitig befruchten, unterschlägt Huntington. Hier zeigen sich die Defizite seines statischen Kulturbegriffs, der im Kontext der Abgrenzung von Menschen zueinander steht. Huntingtons Überbetonung kultureller Differenzen lenkt von entscheidenden Konfliktlinien und Problemfeldern ab. Zu klären wäre, ob sich Interessengegensätze nicht nur deshalb als Kulturdifferenzen darstellen, weil die überkommenen Denksysteme und Ideologien zur Begründung von Gewaltakten kaum noch taugen. Verbergen sich hinter vielen „Kulturkämpfen“ unserer Zeit nicht andere Konfliktformationen, zum Beispiel imperialistische Herrschaftsansprüche, neokolonialistische und Weltmachtambitionen? Statt der Kulturdifferenz obsiegt die globale „Standortkonkurrenz“ zwischen den Nationalstaaten, Metropolen und Regionen:
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Christoph Butterwegge „Den Mittelpunkt allen Geschehens bildet der Weltmarkt. Er gründet auf der Ungleichheit und erneuert diese. Er sorgt für ein weltweites Angebot an Gütern ebenso wie dafür, daß negative soziale und ökonomische Effekte weltweit spürbar werden. Er bestimmt Höhe und Verteilung des Wohlstands zwischen und in den Nationen. Er fordert die Nationalstaaten heraus, die zusammen mit ihm zur universellen politischen Größe geworden sind, seiner Globalität zu entsprechen, obwohl sie territorial beschränkt sind.“ (Narr/Schubert 1994: 14f.)
Huntington verwechselt Ursache und Wirkung, wenn er „kulturelle Gegensätze“ zu Konfliktauslösern erklärt. Dass die Kultur keine Quelle, sondern Austragungsort tiefer liegender Konflikte ist, belegt der Zeitpunkt, zu dem solche Differenzen akzentuiert werden. Häufig gewinnen religiöse und „Kulturschranken“ erst an Bedeutung, wenn ökonomische und politische Interessen berührt sind, wie Peter Pawelka (1995: 81) am Beispiel des Nahen Ostens illustriert: „Arbeiten die autoritären Regime des Vorderen Orients mit den Industriestaaten Hand in Hand, so bleibt die Kritik an ihren Normen und Verhaltensweisen gedämpft, ja auf einige Menschenrechtspositionen beschränkt. Brechen jedoch politische oder wirtschaftliche Interessengegensätze auf, so wird der kulturelle Antagonismus zum Thema der westlichen Massenmedien.“
Kulturen/Religionen sind nicht aus sich selbst heraus, vielmehr nur vor dem Hintergrund politischer, ökonomischer und sozialer Entwicklungsprozesse verständlich. Auch islamischer Fundamentalismus, auf den Huntington sein Hauptaugenmerk richtet, fällt nicht vom Himmel, sondern hat historische Wurzeln und gründet in gesellschaftlichen Verhältnissen, wie etwa den Spätfolgen kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung, patriarchalischen Traditionen, zunehmender Verelendung und Perspektivlosigkeit, ohne die eine nostalgische Verklärung der Geschichte gar nicht möglich wäre (vgl. Kepel 1995). Modernisierungsschübe und Individualisierungsprozesse sorgen für einen Zerfall gesellschaftlicher Beziehungen, die das geregelte Zusammenleben der Menschen ermöglichten. Der massenhafte Rückzug auf die eigene Kultur, Religion und Tradition scheint Ausdruck einer kollektiven Sinnsuche zu sein. Kulturkonflikte wiederum sind nur eine Chiffre für die wachsende Sehnsucht nach Gemeinschaftlichkeit und bilden die Kulisse für das Hervorbrechen anderer Konfliktpotenziale (vgl. Siegelberg 1994: 40). Auch finden die sozioökonomischen Grundlagen, aus denen fundamentalistische Strömungen erwachsen und erstarken, bei Huntington keine Berücksichtigung, müssten aber in die Untersuchung einbezogen werden. „So sehr Gewalt und Terror dessen, was wir islamischen Fundamentalismus getauft haben, auch die demokratische Entfaltung der eigenen Gesellschaften verhindert und
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den friedlichen Verkehr zwischen den Völkern beeinträchtigt, sie erklären sich nicht durch die Religion, sondern finden ihre Quellen in der perspektivlosen Armut, der Unterdrückung oder Fremdherrschaft, aus deren Ausweglosigkeit man sich in der gewaltsamen Aktion zu befreien versucht.“ (Paech 1994: 314)
Kulturelle Unterschiede, die sich durch Übereinstimmungen in anderen Bereichen relativieren, werden hypostasiert. Das prekäre Verhältnis des „christlichen Abendlandes“ zum Islam schreibt Huntington fort und stilisiert es zur Erbfeindschaft hoch. Was sich bereits im Vorfeld des Zweiten Golfkrieges 1990/91 angebahnt hatte, setzte Huntington auf subtilere Art fort: die Tendenz, durch Skandalisierung bzw. Dramatisierung realer wie fiktiver Unterschiede zwischen Christentum und Islam den Letzteren zu stigmatisieren und als politisches Feindbild zu präsentieren, das den Sowjetkommunismus ersetzt (vgl. Hippler/Lueg 2002). Huntingtons Kernthese basiert auf Ressentiments gegenüber dem Islam und zementiert Vorurteile, Klischees und Stereotype, ohne die Ursachen für prognostizierte Kulturkonflikte zu analysieren und Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Islam, Islamismus und Fundamentalismus werden gleichgesetzt, Orient und Okzident als gegensätzliche Pole hingestellt, die weder miteinander vereinbar noch zu versöhnen sind. Huntingtons Publikationen hatten besonders nach dem 11. September 2001 Hochkonjunktur, obwohl er sich hütete, die Terroranschläge von New York und Washington D.C. in sein Schema eines „Kampfes der Kulturen“ zu zwängen. Die militärischen Metaphern (Kampflinien, Krieg, Frontverlauf usw.) seiner martialischen Sprache verstärken den Eindruck, zwischen den Kulturen bahne sich eine Entscheidungsschlacht von apokalyptischer Tragweite an. Konflikte wird es weniger zwischen kulturell voneinander abgrenzbaren Regionen als innerhalb geografischer Großräume geben. Wie Richard Herzinger und Hannes Stein (1995: 228) betonen, verlaufen die zentralen Konfliktlinien nicht zwischen Zivilisationen, sondern quer durch sie hindurch und entlang ökonomischer Grenzmarkierungen. Europa ist von den Problemen, die Huntington abhandelt, in doppelter Weise betroffen: Sie tangieren seine Außen- und Sicherheitspolitik wie das Verhältnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft und nationalen, ethnischen und/oder religiösen Minderheiten. Beispiele für die Kulturalisierung sozialer Beziehungen mehren sich auch innerhalb Europas, das zu einem Fluchtziel für Millionen Menschen aus der sogenannten Dritten Welt und längst zum „Einwanderungskontinent“ geworden ist.
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Massenmedien als Katalysatoren der Ethnisierung sozioökonomischer Konflikte
Wenn sich gesellschaftliche Verteilungskonflikte verschärfen, fungieren (ethnische) Minderheiten häufig als Sündenböcke. Frustrationserfahrungen, Hassgefühle und Feindbilder lassen sich auf Zugewanderte projizieren, während Einheimische zu „Herrenmenschen“ avancieren, die Privilegien beanspruchen können. Da sich die kulturelle Identität nach der ethnischen Herkunft bestimmt, konstruiert man einen Innen-Außen-Gegensatz zwischen Einheimischen und Zugewanderten, statt den Gegensatz zwischen Oben und Unten, also jenen, die über Kapitaleigentum verfügen, und jenen, die darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, zu thematisieren. „Ethnisierung“ ist ein sozialer Exklusionsmechanismus, der Minderheiten schafft, diese (fast immer negativ) etikettiert und Privilegien einer dominanten Mehrheit zementiert (vgl. Bukow 1996). Sie bildet nicht zuletzt eine Reaktion auf die Globalisierung, welche national(staatlich)e Entscheidungsspielräume scheinbar beschneidet. Je mehr die Konkurrenz etwa durch die „Standortdebatte“ ins Zentrum zwischenstaatlicher und -menschlicher Beziehungen rückt, desto leichter lässt sich die ethnische bzw. Kulturdifferenz politisch aufladen. Wenn ethnische Differenzierung als Voraussetzung der Diskriminierung und Mechanismus einer sozialen Schließung gegenüber Migrant(inn)en charakterisiert werden kann, treiben die Medien den Ausgrenzungsprozess voran, indem sie als Motoren und Multiplikatoren der Ethnisierung wirken (vgl. hierzu: Butterwegge 2006: 188f.). Massenmedien fungieren dabei als Bindeglieder zwischen institutionellem (strukturellem/staatlichem), intellektuellem (pseudowissenschaftlichem) und individuellem bzw. Alltagsrassismus. Sondergesetze für und behördliche Willkürmaßnahmen gegen Migrant(inn)en, die man „institutionellen Rassismus“ nennen kann, kennen deutsche „Normalbürger(innen)“ hauptsächlich aus den Massenmedien. Sie bestätigen meist ihre Klischeevorstellungen über Ausländer(innen). Umgekehrt benutzt der Staat durch Medien verbreitete Ressentiments gegenüber „den Ausländern“, um diese strukturell benachteiligen zu können. Im Rahmen der 1991/92 kampagnenartig zugespitzten Asyldebatte rechtfertigten Politiker(innen) die Änderung des Artikels 16 Grundgesetz mit der „Volksmeinung“. Rechtsextremismus und Rassismus erhalten durch Medien ein öffentliches Forum, was ihre Massenwirksamkeit mit erklärt (vgl. Butterwegge 1997). Massenmedien filtern für die Meinungsbildung wichtige Informationen und beeinflussen auf diese Weise das Bewusstsein der Menschen, für die sich die gesellschaftliche Realität zunehmend über die Rezeption von Medien erschließt. Während die Berichterstattung über Fluchtursachen und deren Hintergründe (von der ungerechten Weltwirtschaftsordnung und den Ausbeutungspraktiken industriel-
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ler Großkonzerne über den Ökokolonialismus bis zu den Waffenexporten „unserer“ Rüstungsindustrie) mehr als defizitär zu nennen ist, behandeln Reportagen aus der sogenannten Dritten Welt überwiegend Kriege und Bürgerkriege, Natur- und Technokatastrophen, Militärputsche und Palastrevolutionen, wodurch das verbreitete Vorurteil genährt wird, „die Afrikaner(innen)“, „die Asiat(inn)en“, „die Südamerikaner(innen)“ und auch die „Osteuropäer(innen)“ seien Nutznießer(innen) der westlichen Zivilisation und Technologien, zu eigener und rationaler Daseinsgestaltung bzw. demokratischer Selbstverwaltung aber im Grunde unfähig. Jede Identifikation und Negativklassifikation „des Fremden“ dient nicht zuletzt dem Zweck, die („nationale“) Identität des eigenen Kollektivs schärfer hervortreten zu lassen. Das für die politische Machtentfaltung nach außen unverzichtbare Selbstbewusstsein einer „Volks-“ bzw. „Standortgemeinschaft“ kann nur geschaffen oder gefestigt werden, wenn sich „die Anderen“ klar und deutlich davon abheben. Bei dem Versuch einer Reorganisation der „nationalen Identität“ im vereinten Deutschland spielten die Medien eine Schlüsselrolle. Nora Räthzel (1993; 1997) hat gezeigt, wie die Asyldebatte in Zeitungen und Zeitschriften benutzt wurde, um ein homogenes deutsches Volk (als Opfer permanenter „Überfremdung“, Ausbeutung bzw. Ausplünderung durch „die Anderen“) zu konstruieren. Aus den Zeitungen und anderen Medien erfährt man selten Positives über Ausländer(innen). In einem Überblick zum gegenwärtigen Forschungsstand bilanziert Daniel Müller (2005: 112) vielmehr, dass man Migrant(inn)en überwiegend negativ darstellt: „Sie kommen tendenziell selten vor; und wenn, dann häufig in negativ besetzten Zusammenhängen, insbesondere als Kriminelle und überhaupt als Personen, die Geld kosten und/oder gefährlich sind, kurz: als Belastung für die Gesellschaft.“
Mord und Totschlag, Diebstahl, Raub und (Asyl-)Betrug sind Delikte, über die im Zusammenhang mit ethnischen Minderheiten häufig berichtet wird. Dadurch werden die Ausbreitung des Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft und die Zunahme desintegrativer Tendenzen bei den ethnischen Minderheiten gleichermaßen gefördert (vgl. Ruhrmann/Demren 2000: 73). Häufig spielt die Bedrohung deutscher Ressourcen durch ethnische Minderheiten, vor allem jedoch durch „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „Asylbetrüger(innen)“, eine Rolle. Teun A. van Dijk (1993: 125f.) gelangt zu dem Schluss, dass Rassismus durch den Mediendiskurs induziert bzw. verstärkt wird, wobei er die Presse selbst als Teil des Problems identifiziert: „Die Strategien, Strukturen und Verfahren der Nachrichtenbeschaffung, die Themenauswahl, der Blickwinkel, die Wiedergabe von Meinungen, Stil und Rhetorik
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Christoph Butterwegge richten sich alle darauf, ‚uns‘ positiv und ‚sie‘ negativ darzustellen. Minderheiten haben zudem einen relativ schwierigen Zugang zur Presse; sie werden als weniger glaubwürdig angesehen; ihre Sache gilt nur dann als berichtenswert, wenn sie Probleme verursachen, in Kriminalität oder Gewalt verstrickt sind oder wenn sie als Bedrohung der weißen Vorherrschaft dargestellt werden können.“
Seit der emotional aufgeladenen Asyldiskussion zu Beginn der 1990er-Jahre wird die Kriminalitätsfurcht der Mehrheitsgesellschaft auf die ethnischen Minderheiten projiziert. Für Margret Jäger, Gabriele Cleve, Ina Ruth und Siegfried Jäger (1998: 13) weist schon der Begriff „Ausländerkriminalität“ auf die rassistische Struktur des hiesigen Einwanderungs- und Kriminalitätsdiskurses hin: „Dieser Terminus legt den Schluß nahe, daß Kriminalität, wenn sie von Ausländern begangen wird, ursächlich mit ihrem Status als Ausländer zu tun habe.“
Der „kriminelle Ausländer“ repräsentiert für Rainer Geißler (1999: 35) denn auch die grellste Facette des medialen Bedrohungsszenarios im Hinblick auf Migration: „Es knüpft an bestehende Vorurteile gegenüber ethnischen Minderheiten an, verstärkt diese gleichzeitig und bereitet damit sozialpsychologisch den Boden für Aktionen gegen ethnische Minderheiten – im harmloseren Fall für politische Beschränkungen, im schlimmeren Fall für Fremdenhaß und brutale Gewaltausbrüche gegen ethnische Minderheiten.“
Flüchtlinge wurden zu „Betrüger(inne)n“, „Sozialschmarotzer(inne)n“ und „Störenfrieden“ gestempelt, die durch ihr Hiersein oder ihr Verhalten den Wohlstand und das friedliche Zusammenleben in der Bundesrepublik gefährden. Dabei gab es „Dramatisierungen, Skandalisierungen, Exotisierungen, Sensationierungen, Verzerrungen und Falschmeldungen“, die Bernd Scheffer (1997: 33) als „Manipulationen“ bezeichnet. Für Claudius Rosenthal (2000: 196) hat die mediale Darstellung von Migrationsprozessen und -problemen dazu beigetragen, „daß das Bild eines von ‚Ausländern‘ bedrohten Deutschlands in den Köpfen der bundesrepublikanischen Gesellschaft entstehen konnte. Die Printmedien haben eine Bedrohungssituation konstruiert!“
Auch in den Medien, die auf eine gezielte Beeinflussung und absichtliche Desinformation ihrer Nutzer(innen) verzichteten, dominierten fast durchgängig negative Assoziationsketten bzw. pejorative Konnotationen. Im sog. Bremer Kurdenskandal wurden zu Beginn des Jahres 2000 ca. 500 angeblich aus der Türkei stammende Asylbewerber(innen) von der Polizei und
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der Lokalpresse bezichtigt, sich in betrügerischer Absicht als staatenlose Libanes(inn)en ausgegeben sowie Aufenthaltsrechte und Sozialleistungen erschlichen zu haben (vgl. Butterwegge/Hentges 2004: 84ff.). Statt sich auch mit dem geschichtlichen Hintergrund und den besonderen Umständen der Migration bzw. Flucht von Kurd(inn)en zu beschäftigen, übernahmen fast alle Printmedien die Anschuldigungen des Innensenators der Freien Hansestadt. Missbrauchsvorwürfe, die sich aus rassistischen Klischees speisen, geben diesen neue Nahrung, sodass man durchaus von einem Teufelskreis sprechen kann, den zu durchbrechen selbst linksliberalen Journalist(inn)en nicht leicht fällt. 5
Sterben die Deutschen aus? – Zur Biologisierung sozialer Beziehungen im Demografie-Diskurs
Über die Demografie und damit verbundene Probleme wie den Geburtenrückgang, abnehmende Fertilitätsraten oder den Bevölkerungsschwund wurde in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie ähnlich rege diskutiert wie gegenwärtig. Zuletzt beschäftigte sich die Öffentlichkeit damit intensiv gegen Ende der Weimarer Republik, als über nationalsozialistische und deutschnationale Kreise hinaus Befürchtungen laut wurden, das eigene Volk sei vom „Aussterben“ bedroht, wenn die zweite Welle des Geburtenrückgangs (nach jener um die Jahrhundertwende) länger anhalte. Einerseits dreht sich die Debatte um Folgen des demografischen Wandels (Destabilisierung der sozialen Sicherungssysteme durch die „Vergreisung“ der Gesellschaft). Hierzu sind mehrere Studien erschienen, die nachweisen, dass die Demografie von Wirtschaftskreisen, etablierten Parteien und Medien oft als Mittel sozialpolitischer Demagogie bzw. als Legitimationsmuster für den neoliberalen Um- bzw. Abbau des Wohlfahrtsstaates benutzt wird (vgl. Butterwegge/Klundt 2003). In diesem Kontext spielt das Schlagwort „Generationengerechtigkeit“ eine Schlüsselrolle, welches von der (eher wachsenden) sozialen Ungleichheit innerhalb jeder Generation ablenkt und verschleiert, dass die entscheidende Trennlinie zwischen Arm und Reich, nicht zwischen Alt und Jung verläuft. Andererseits stehen – von den Kritiker(inne)n bisher weniger beachtet – die Ursachen des Geburtenrückgangs und ihre Beseitigung durch eine pronatalistische (die Gebärfreudigkeit fördernde) Bevölkerungspolitik zur Diskussion. Dabei geht es nicht nur um scheinbar objektive Daten und Fakten, sondern vor allem um deren Einschätzung. Strittig ist die künftige demografische Entwicklung selbst, aber auch, wie man sie zu bewerten und wie der Staat darauf zu reagieren hat. Beides hängt vom Blickwinkel der Betrachterin/des Betrachters ab: Was – wie die steigende Lebenserwartung – aus der Sicht einer/eines Betroffenen positiv sein mag, stellt aus der Sicht eines neoliberalen Ökonomen viel-
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leicht eine negative Tendenz dar, nämlich eine Belastung des heimischen Wirtschaftsstandortes. Meine letzte These lautet, dass durch die Art, wie Politik, Wissenschaft und (Fach-)Publizistik heute über Hintergründe des Bevölkerungsrückgangs verhandeln, nicht nur Rechtsextremisten und Neonazis, die sich seit jeher Sorgen um den Fortbestand des deutschen Volkes machen und rigide Gegenmaßnahmen befürworten, Auftrieb erhalten, vielmehr auch eine Biologisierung des Sozialen stattfindet, die der Entpolitisierung und Entdemokratisierung zwangsläufig Vorschub leistet. In solchen Krisen und gesellschaftlichen Umbruchphasen wie der heutigen wird den Menschen häufig auf sehr subtile Weise, aber systematisch Angst eingeflößt, die sie gefügig und wehrlos gegenüber als „natürlich“, wenn nicht naturgesetzlich erscheinenden Veränderungen macht. Dazu dienen Horrorvisionen, düstere Prognosen und Kassandrarufe hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung. Da sie die Weltgeltung eines Landes mit seiner Bevölkerungszahl in Verbindung bringen und eine „Überfremdung“ durch Migrant(inn)en fürchten, treibt Neonazis und Rechtsextremisten seit jeher die Sorge um, die Deutschen könnten zu wenig Kinder zeugen. In rechtsextremen bzw. neurechten Publikationsorganen findet sich eine Fülle meist mit hysterischem Unterton geschriebener Artikel, die vor einer „demographischen Apokalypse“ warnen (vgl. Butterwegge 2002). Das schon in der NS-Propaganda bemühte Schreckensbild eines „sterbenden Volkes“ war im ultrarechten Diskurs eigentlich ständig präsent. Indem man formuliert, das deutsche Volk sei vom „Aussterben“ bedroht, wird ganz bewusst der Eindruck erweckt, es handle sich hierbei um eine besondere Spezies, deren Existenz genauso auf dem Spiel stehe wie die seltener Pflanzen- oder Tierarten. Für die Demograf(inn)en ist der Mensch primär ein zoologisches Gattungswesen. So klagt der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg (2001: 12) mit folgender Begründung über die Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit und der Politik gegenüber demografischen Problemen: „Daß auch der Mensch eine natürliche Spezies ist, deren abnehmende Zahl in Deutschland und in anderen Industrieländern nicht weniger alarmierend ist als die der zurückgehenden Populationen einiger Tier- und Pflanzenarten, scheint niemanden wirklich zu kümmern.“
In dem Katastrophenszenario, das die Bevölkerungswissenschaft zeichnet, fehlt auch der „Untergang des Abendlandes“ nicht, wie man folgender Bemerkung eines weiteren führenden Vertreters entnehmen kann: „So wie der abendländische Geist an die Populationen gebunden bleibt, die ihn hervorgebracht haben, könnte die Aufzehrung ihrer demographischen Substanz auch sein Ende bedeuten.“ (Schmid 1999: 22)
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Meinhard Miegel bezeichnet die Bundesrepublik nicht zuletzt deshalb als „deformierte Gesellschaft“, weil sich ihre Bevölkerung im Niedergang befinde. Deutschland sei in eine bevölkerungspolitische Sackgasse geraten, weil auf Zuwanderung angewiesen: „Es ist biologisch ausgetrocknet.“ (Miegel 2002: 52) Roland und Andrea Tichy (2001: 269) sprechen von einer „Altersfalle“ der Wirtschaft, aus der sie nur einen Ausweg sehen: „Deutschland wird nicht mehr darum herumkommen, über eine aktive Bevölkerungspolitik nachzudenken.” Hans-Werner Sinn (2003: 369f.), Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, erwartet von der Bevölkerungspolitik die Lösung sämtlicher Probleme: „Wenn es gelänge, die Geburtenraten auf ein Niveau anzuheben, wie es eine stationäre Bevölkerung kennzeichnet, dann ließe sich die Bevölkerung allmählich wieder verjüngen. Das Rentenproblem würde sich lösen, der Arbeitsmarkt würde stabilisiert, und unser Land würde wieder zu der Dynamik bei der Wirtschaft und Wissenschaft zurückkehren, die es einmal besaß.“
Um dieses Ziel zu erreichen, möchte Sinn die Fertilitätsrate mittels finanzieller Anreize für Familien, aber auch mittels gezielter Sanktionen für Kinderlose steigern. Sinn empfiehlt die Staffelung von Altersrenten (und Pensionen) nach der Kinderzahl und eine Rentenkürzung für Kinderlose auf die Hälfte der „normalen“ Höhe: „Wer keine Kinder hat und insofern zu wenig tut, um seine eigene Rente im Umlagesystem zu sichern, muss die Konsequenzen tragen und selbst auf dem Wege der Ersparnis für Ersatz sorgen.“ (ebd.: 393)
Sinns Konzeption beruht auf einer „biologischen Produktionstheorie“, die so tut, als sei die menschliche Fortpflanzung der Ursprung eines wachsenden gesellschaftlichen Reichtums, aus dem steigende Altersrenten letztlich stammen, was mit den Verhältnissen einer modernen, auf Kapital- und Wissensakkumulation basierenden Volkswirtschaft jedoch kaum in Einklang steht: „Offensichtlich orientiert sich die ‚biologische Produktionstheorie‘ am Muster der archaischen vorindustriellen Subsistenzwirtschaft, ganz so, als wäre die Familie noch immer auch Produktionsbetrieb und Trägerin der sozialen Sicherung.“ (Ebert 2003: 103)
Auch der über weite Strecken pseudoaufklärerische, weil gängige Klischees und Stereotype des Demografie-Diskurses eher zementierende als zerstörende Bestseller „Das Methusalem-Komplott“ des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrma-
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cher strotzt vor Biologismen. Da ist beispielsweise von älteren Menschen die Rede, „die ihr biologisches Programm nicht erfüllt haben oder nicht erfüllen konnten.“ (Schirrmacher 2004: 64) „Hass auf das Alter und die Angst vor ihm“ werden als „Urgewalten“ bezeichnet, „die uns beherrschen, wie einst die absolutistischen Tyrannen unsere Ahnen beherrschten“ (ebd.: 63). Seit geraumer Zeit häufen sich Indizien dafür, dass der ultrarechte DemografieDiskurs die Mitte erreicht hat. Boulevardzeitungen, aber auch seriöse Massenmedien, etablierte Politiker(innen) und renommierte Publizist(inn)en sorgen sich um den Fortbestand des „deutschen Volkes“ und machen sich Gedanken, wie einer solchen Gefahr zu begegnen ist. Das demografische Trauma, die Deutschen könnten „aussterben“, treibt außer rechten Agitatoren, Neonazis und „Ewiggestrigen“ auch etablierte Kreise um. Schlagzeilen wie „Die demografische Zeitbombe tickt“, „Land ohne (Kinder-)Lachen“ oder „Land ohne Leute“ häufen sich. Teilweise klagen Massenmedien, die noch während der Asyldiskussion zu Beginn der 1990er-Jahre „Das Boot ist voll!“ gerufen haben, dass Deutschland bald menschenleer sei. So wählte der SPIEGEL am 23. Oktober 2000 „Raum ohne Volk“ als Überschrift, die eine Nazi-Parole zynisch ins Gegenteil verkehrt. Am 5. Januar 2004 erschien der SPIEGEL mit einem Baby in schwarz-rotgoldenen Windeln auf der Titelseite, das eine Hantel voller älterer Menschen stemmt, unter der Überschrift: „Der letzte Deutsche. Auf dem Weg zur Greisenrepublik“. Und der STERN legte am 30. Juni 2005 mit einem Titelbild nach, das unter der Überschrift „Land ohne Kinder“ einen Storch zeigt, dem der Schnabel mit einer schwarz-rot-goldenen Schärpe verschnürt ist.
Literatur Berthold, Norbert (1997): Sozialstaat und marktwirtschaftliche Ordnung – Ökonomische Theorie des Sozialstaates. In: Hartwig, Karl-Hans (Hrsg.): Alternativen der sozialen Sicherung – Umbau des Sozialstaates. Baden-Baden/Hamburg, S. 10-41. Birg, Herwig (2001): Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München. Bukow, Wolf-Dietrich (1996): Feindbild: Minderheit. Ethnisierung und ihre Ziele. Opladen. Butterwegge, Christoph (1997): Ethnisierungsprozesse, Mediendiskurse und politische Rechtstendenzen. In: Ders. (Hrsg.): NS-Vergangenheit, Antisemitismus und Nationalismus in Deutschland. Beiträge zur politischen Kultur der Bundesrepublik und zur politischen Bildung. Mit einem Vorwort von Ignatz Bubis. Baden-Baden, S. 172-216. Butterwegge, Christoph (2002): Stirbt „das deutsche Volk” aus? Wie die politische Mitte im Demografie-Diskurs nach rechts rückt. In: Ders. u.a.: Themen der Rechten – Themen der Mitte. Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein. Opladen, S. 167-214.
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Minderheiten im Kontext urbaner Inszenierungen
Minderheiten im Kontext urbaner Inszenierungen Minderheiten im Kontext urbaner Inszenierungen
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Minderheiten in der Stadtentwicklung
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Minderheiten in der Stadtentwicklung
Ingrid Breckner Ausgehend von empirischen Befunden und Felderfahrungen in Forschungsprojekten zu unterschiedlich strukturierten Hamburger Stadträumen seit Ende der 90er Jahre (vgl. Breckner 1999 a/b; 2000; 2003; Breckner/González/Herrmann 2002; Breckner/González 2005 oder Lang 2000) lassen sich Lebensverhältnisse und Bedeutungen von Minderheiten in der Stadtentwicklung aus wechselnden Perspektiven analysieren. Wer tritt als Minderheit in welchen räumlichen Kontexten in Erscheinung oder wird als solche etikettiert? Inwiefern und wie wird Minderheiten im Mainstream stadtpolitischer und stadtplanerischer Praxis Rechnung getragen? Wie leben Minderheiten in unterschiedlichen städtischen Kontexten, und welche Perspektiven sehen sie für ihre mittel- und langfristige Zukunft? Zu all diesen Fragen entstehen Antworten eher beiläufig als systematisch. Direkte Artikulationen von Minderheiten finden wir allenfalls in gravierenden, meist existenziellen Konfliktsituationen. Minderheiten bleiben in den Flüssen städtischer Entwicklungen selbst an solchen Orten in der Regel fremd, in denen sie gemeinsam eine Mehrheit darstellen würden. Wahrnehmungen von und Verhaltens- bzw. Handlungspraktiken gegenüber Minderheiten in der Stadtentwicklung verweisen auf Kompetenzen von Bürger(inne)n, Besucher(inne)n und Fachleuten im Umgang mit Differenz. So gesehen zielt diese Thematik auf einen wesentlichen Kern europäischer Urbanität, die seit der Aufklärung mit den Idealen von Vielfalt, Dichte und Freiheit für alle Stadtbürger(innen) verknüpft wird. Seit der beginnenden gesellschaftlichen Demokratisierung stehen diese Ideale in der europäischen Stadtentwicklung – wenn auch in sehr unterschiedlichen Varianten – auf der staatlichen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Tagesordnung der Stadtpolitik. Dass wir uns heute immer noch mit dem Thema der ‚Minderheiten in der Stadtentwicklung‘ – diesmal im Kontext der Fragestellung: „Was heißt hier Parallelgesellschaft?“ beschäftigen, zeigt, dass das grundlegende Vorhaben eines demokratischen Umgangs mit Differenz noch keineswegs als erledigt in der Schatulle gesellschaftlicher Erfolgsgeschichten abgelegt werden kann. Der vorliegende Beitrag gibt nach kurzen begrifflichen Einführungen einen Einblick in Hamburger Praktiken der Artikulation von und des Umgangs mit Minderheiten und skizziert abschließend Handlungsperspektiven, in denen Min-
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derheiten weniger ein Problem als eine Ressource zukunftsfähiger europäischer Stadtentwicklung darstellen.
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Was sind Minderheiten in der Stadtentwicklung?
Minderheiten stehen in der Stadtentwicklung – wie in allen anderen gesellschaftlichen Kontexten – stets in Relation zu Mehrheiten. Minderheit ist somit wie Mehrheit ein relativer Begriff, dessen Bezug offen gelegt werden muss, wenn er für analytische oder gestaltende Zwecke sinnvoll genutzt werden soll. Dies bedeutet zu fragen: Minderheit bzw. Mehrheit in Bezug auf was? Bezüge zur Bestimmung von Minderheiten oder von Mehrheiten sind in der Stadtentwicklung auf sachlicher Ebene üblicherweise zunächst einzelne Kategorien der Sozialstruktur wie z. B. Alter, Geschlecht, Haushaltsgröße, Nationalität, Einkommen etc. oder Verbindungen derselben in quantitativer oder qualitativer Ausprägung. D.h., wir sprechen von Mehrheiten oder Minderheiten von Männern oder Frauen, Haushalten mit Kindern oder ohne, Alleinerziehenden, Menschen mit dieser oder jener Staatsangehörigkeit, reichen oder armen städtischen Bürger(inne)n oder Stadtbesucher(inne)n. Wir richten unsere Blicke aber auch auf arme alte Frauen, jugendliche Ausländer(innen), allein stehende Männer etc. und verbinden bei solchen Betrachtungen von Mehrheiten und Minderheiten mehrere Kategorien der Sozialstruktur entsprechend unserer wissenschaftlichen oder praktischen gesellschaftlichen Interessen. Während einige Kategorien der Sozialstruktur eindeutig definierbar sind, bedürfen andere, wie z.B. Armut und Reichtum oder Ausländer(in) einer Präzisierung. Im ersten Fall wären Art und Höhe des Einkommens geeignete Bestimmungen, während sich das Ausländische durch die Staatsangehörigkeit oder den Geburtsort im Ausland näher eingrenzen ließen. An dieser einfachsten sachlichen Differenzierung von Mehrheiten oder Minderheiten wird bereits deutlich, wie schnell dieser Gegenstand bei oberflächlichen Gedanken und ungenauer sprachlicher Behandlung strittig und – was noch schlimmer ist – ideologisch instrumentalisierbar ist. Letzteres geschieht leicht in interessengeleiteten Diskursen, in denen eine Mehrheit Legitimation auf Kosten einer Minderheit anstrebt oder eine Minderheit versucht, sich gegenüber einer Mehrheit machtvoll durchzusetzen. Die sachlichen Bezüge von Mehrheiten oder Minderheiten werden überlagert durch räumliche und zeitliche Strukturen: Wir betrachten und erfahren Mehrheiten oder Minderheiten – ob bewusst oder unbewusst – stets in besonderen gesellschaftlichen Räumen zu bestimmten Zeiten: Nachbarschaften, Quartiere, Stadtteile, Bezirke, Städte, Dörfer, Stadtregionen oder Bundesländer im Inund Ausland bilden zu jeweils spezifischen Zeiten in Gegenwart und/oder Ver-
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gangenheit den raum-zeitlichen Bezugspunkt unseres Denkens und Handelns über Mehrheiten und Minderheiten. Gleichzeitig liefern sie den ,Stoff‘ für mehr oder minder begründete Spekulationen über Entwicklungen solcher Phänomene in näherer oder fernerer Zukunft. Dabei wird offenkundig, dass sich die Bestimmung der Bezüge für Mehrheiten oder Minderheiten nach Ort und Zeit unterscheiden kann: Selbst in Europa verwenden längst nicht alle Staaten dieselbe Definition für Ausländer(innen), Arme und Reiche oder die ältere Generation. Zudem verändern sich solche Definitionen im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklungen. Bei Langzeitvergleichen von Mehrheiten oder Minderheiten ist deshalb zunächst eine oft mühsame Vereinheitlichung der räumlichen Bezüge (z.B. bei Städten und Gemeinden in Fällen von Eingemeindungen) sowie der zeitlichen Bestimmungen sozialstruktureller Merkmale erforderlich. Die zeitliche und räumliche Relativität von Mehrheiten und Minderheit bietet ebenfalls ein weites Spielfeld für Verzerrungen, Verschleierungen oder Vertuschungen im Interesse bestimmter Machtpositionen, die es stets sachlich zu hinterfragen gilt, bevor man sich vorschnell normativen Urteilen über Mehrheiten oder Minderheiten anschließt.1 Dieser zunächst banal erscheinende Ausflug in das kleine 1x1 der Sozialstrukturanalyse erscheint mir beim Thema Minderheiten in der Stadtentwicklung gerade im Kontext der Fragestellung: „Was heißt hier Parallelgesellschaft?“ unabdingbar. Denn der Diskurs über Parallelgesell-schaften, der mit den religiös motivierten Gewaltakten seit Beginn des 21. Jahrhunderts neue Nahrung erhielt, ist durchwoben mit solch banalen Ungenauigkeiten, die zu Ideologisierungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten und zur Erzeugung von Angst und Panik genutzt werden. Da ist dann die Rede von problematischen ausländischen Mehrheiten in Stadtquartieren, die so genannte Einheimische ‚überfluten‘, oder es wird eine gesellschaftliche Selbstabgrenzung des Fremden unterstellt, bevor man sich um existierende Kontakte und Netzwerke in den Lebensräumen von Menschen mit unterschiedlichen raum-zeitlichen Herkunftskontexten kümmert. Vor diesem Hintergrund dominieren im wellenförmig durch aktuelle Ereignisse beflügelten öffentlichen Diskurs über Parallelgesellschaften von Mehrheiten und Minderheiten medial befruchtete Vorurteile anstatt sorgfältig erarbeiteten Wissens, Verste-
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Ein plastisches Beispiel hierfür stellt die aktuelle Diskussion über Ergebnisse der Pisa-Studie dar, in der Bundesländer unabhängig von ihrer strukturellen Differenz verglichen werden. Dass die Stadtstaaten als Großstädte mit spezifischen großstädtischen Sozialstrukturen (mehr arme Menschen, höhere Anteile von Menschen mit Migrationshintergrund, höhere Lebenshaltungskosten etc.) dabei allenfalls mit den Metropolen der Flächenländer verglichen werden können, fällt Journalist(inn)en und selbst Fachleuten eher selten auf. So verfestigt sich in der Öffentlichkeit das Bild eines besseren Bildungswesens in Süddeutschland als Ergebnis eines ‚Äpfel-undBirnen-Vergleichs‘, ohne dessen räumliche und sachliche Wirklichkeit zu hinterfragen.
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hens und reflektierten Erlebens von sachlichen raum-zeitlichen Zusammenhängen der Entstehung und Veränderung solcher Phänomene. Auswege aus Verstrickungen in Vorurteile in Bezug auf Minderheiten und Mehrheiten bietet die Auseinandersetzung wohnender, besuchender und fachlich gestaltender Städterinnen und Städter mit eigener Besonderheit und ihrer Anschlussfähigkeit an unterschiedlich strukturierte soziale Kreise im städtischen Gewebe. Dabei zeigt sich sehr schnell eine emotionale Sehnsucht nach Verständnis, Anerkennung und Vertrauen, die zunächst in homogenen Kontexten leichter zu verwirklichen ist. Homogene Kontexte werden nach gewisser Zeit aber auch langweilig, begünstigen soziale Konkurrenz und Kontrolle und verlieren dadurch die Kraft, über längere Zeit attraktiv zu bleiben. Städte bieten ja gerade die Chance der Entwicklung und Verknüpfung von vertrauten Strukturen, die sich aus unterschiedlichen homogenen Mosaikfeldern zusammensetzen lassen. Gleichzeitig konfrontieren sie etablierte soziale Kreise mit Heterogenität und ermöglichen ihnen so Blicke über selbst gesetzte Grenzen sowie reflexive Vergewisserung und Veränderung als Basis einer für alle Menschen unverzichtbaren Wahrnehmung und Anerkennung durch ‚Distinktion im sozialen Kreis‘. Der Soziologe Georg Simmel hat schon vor gut hundert Jahren in seinen frühen Studien über Differenzierung, modernes Leben und Individualität in der Gesellschaft begonnen, die Chancen und Risiken eines urbanen Alltags in einer bis heute unübertroffenen Weise systematisch zu analysieren (vgl. Dahme/Ramm-stedt 1983). Was uns heute zu schaffen macht, ist das wirkliche Leben mit diesen Erkenntnissen in einer nicht nur sozial zunehmend komplexer strukturierten städtischen Welt. Solche Schwierigkeiten stellen weniger das Wissen von Simmel und anderen Stadtforscher(inne)n in Frage, sondern unsere Kompetenz zu seiner Umsetzung, die Konsequenz, sich den angenehmen wie den unbequemen Herausforderungen glokaler Urbanität zu stellen und dabei einen jeweils besonderen Weg der Freiheit in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Lebensphasen zu entwickeln und zu verwirklichen. Die Bewältigung dieser urbanen Herausforderung ist umso schwieriger, je mühsamer das Verstehen und die Verständigung mit unterschiedlichen sozialen Kreisen ist. Solche Schwierigkeiten beschränken sich aber keineswegs auf die Kommunikation zwischen einheimischen Mehrheiten und fremden Minderheiten. Fremdheit grassiert schon zwischen Geschlechtern und Generationen manchmal auf engstem familiärem Raum. Anstatt sich der Aufgabe der Bewältigung jeweils eigener Fremdheiten zu stellen, erfolgt eine Projektion von Konflikten auf andere Fremdheiten, in der Hoffnung, dadurch eigenen Dilemmata entfliehen zu können. Die so genannten ‚Parallelgesellschaften‘ bieten sich dabei als geeignete Projektionsflächen an. Die Verschiebung von Schwierigkeiten des Umgangs mit Differenz auf andere Menschen oder Gruppen führen jedoch nicht weiter. Sie lösen keine realen Kon-
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flikte, sondern erzeugen eher Ängste und Feindbilder, die die Lebensqualität des Alltags – wie gegenwärtig vielerorts in den USA erfahrbar – erheblich einschränken können. Viel interessanter, lehrreicher und fruchtbarer ist eine offene Auseinandersetzung mit positiven wie negativen Differenzerfahrungen als erster Schritt ihrer Bewältigung bzw. konstruktiven Nutzung für einen vielfältigen urbanen Alltag. Ermutigung hierzu bietet die Gewissheit, dass wir alle – ob im Urlaub, an mehr oder weniger erwünschten Arbeitsplätzen jenseits regionaler oder nationalstaatlicher Grenzen, in öffentlichen Räumen oder in bestimmten institutionellen Kontexten als Kinder, Alte und Kranke, Lehrende und Lernende, Chefs und Mitarbeiter(innen) oder Gefangene und Ordnungshüter(innen) – auf je besondere Weise Fremdheit und das Gefühl von Minderheit erleben und auf einen kompetenten Umgang mit Differenz existenziell angewiesen sind. Ob und wie mit solchen Fragen in Hamburger Stadtentwicklungsprozessen umgegangen wird, steht im folgenden Abschnitt im analytischen Blickfeld.
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Minderheiten in Hamburger Stadtentwicklungsprozessen
Hafenstädte verfügen temporär über vielschichtige Kontakte zu Fremdheiten. Sie ziehen Minderheiten an, weil die berechtigte Vermutung besteht, dass man hier als Fremde(r) nicht allein ist. Sie bilden intern im Umfeld des Hafens räumliche Sammelbecken für fremde Minderheiten aus, die im Verlauf der Zeit – mit zunehmender urbaner Kompetenz der Zugezogenen – in die Stadtregion diffundieren. Ein Blick auf die Landkarte ethnischer Differenzierung der Bevölkerung in der Stadtregion Hamburg lässt kulturelle Spuren von Portugies(inn)en am Hafenrand erkennen. Die portugiesische Färbung dieses Ortes reicht zurück in die beginnende Neuzeit, als verfolgte sephardische Juden von der iberischen Halbinsel im liberalen religiösen Umfeld der damals dänischen Stadt Altona Zuflucht fanden. Auf den Elbinseln, in St. Pauli und im elbnahen Ottensen konzentrieren sich unterschiedlich viele türkischstämmige Stadtbewohner(innen) mit deutschem oder türkischem Pass, deren älterer männlicher Anteil vielfach als erste Generation von ‚Gastarbeitern‘ für Arbeit im hafennahen Gewerbe angeworben wurde. Aus Italien stammende Bewohner(innen) Hamburgs verteilen sich im gesamten Stadtgebiet ohne nennenswerte räumliche Konzentrationen und üben sehr unterschiedliche Berufe aus. In den noch vorhandenen Beständen des Sozialen Wohnungsbaus leben aufgrund von staatlichen Belegungspraktiken viele russische, ukrainische, kasachische oder andere osteuropäische Aussiedler(innen), die als Minderheiten nicht statistisch auffallen, weil sie meist deutsche Staatsbürger(innen) sind, dafür aber in den kleinräumigen Lebenswelten durch Verhaltensweisen von Jugendlichen, sprachliche Probleme und Alltags-
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gewohnheiten öfter zur xenophoben Projektionsfläche werden. Seit der Öffnung der Grenzen nach Osteuropa wird verstärkt auch polnische, lettische, estnische und litauische sowie eine starke ostdeutsche Zuwanderung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt spürbar, die in den vergangenen Jahren wesentlich zum Bevölkerungswachstum Hamburgs beigetragen hat. Die mehr oder minder markante Geographie ethnischer Minderheiten mit ihrer je besonderen Geschichte hat in Hamburg die Entstehung spezifischer migrantischer Milieus begünstigt. Sie dienen als vertraute Begegnungsräume in der Fremde, schaffen sich notwendige Infrastruktur (Läden, religiöse Orte, Gaststätten oder Freiräume) sowie soziale Netzwerke und nähren mehr oder minder mythische Hoffnungen auf ein besseres Leben in der Fremde. Die Stadt begegnet diesen Milieus so lange mit einer liberalen Toleranz, so lange ihre eigenen Abläufe dadurch nicht gestört erscheinen. Entstehen hingegen Probleme in öffentlichen Räumen, Schulen, Kleingärten oder beruflichen Ausbildungskontexten, wird die grundlegend liberale Haltung der Bevölkerung – deutlich angeheizt durch die mediale Berichterstattung – leicht brüchig. Oberflächliche normative Akzeptanz bedeutet weder materielle und ideelle Integration noch wirkliche Toleranz segregierter alltagskultureller Nischen. In urbanen Konfliktsituationen zeigen sich die faulen Kompromisse des Umgangs mit Andersartigkeit: Sie legen offen, wo keine Auseinandersetzung mit den Wirklichkeiten von Minderheiten stattgefunden hat, wo einfachstes Wissen darüber fehlt und dadurch auch häufig das Verständnis und der gute Rat für notwendige Problemlösungen. Kurzsichtige Panik leitet dann das Handeln staatlicher und privatwirtschaftlicher wie zivilgesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure, in denen sich die Vorurteile frei entfalten können, die Bildungslücken, Halbbildung oder ideologische Hetze hinterlassen haben. Die Abschaffung des Amtes eines Ausländer(innen)beauftragten durch den amtierenden CDU-Senat hat das Informationsdefizit über Menschen mit Migrationshintergrund in Hamburg deutlich erhöht und zur Dethematisierung von Migrationsfragen in allen stadtpolitischen Handlungsfeldern beigetragen. Was bleibt, sind die Konflikte, die sich nur schwer zuverlässig von den Lebenswelten der Mehrheitsgesellschaft fernhalten lassen. Anstatt sie sachlich und raum-zeitlich zu analysieren und zu bearbeiten, werden sie zur Dämonisierung stets wechselnder Minderheiten genutzt und damit für politische Zwecke instrumentalisiert. In den eingangs erwähnten Forschungsprojekten haben wir immer wieder festgestellt, dass Probleme mit ethnischen Minderheiten überall dort auftreten, wo einzelne Gruppen von ihnen aus unterschiedlichen Gründen von der Teilhabe an den gesellschaftlichen Prozessen ausgeschlossen bleiben. Jugendliche mit Migrationshintergrund erreichen häufig nicht die notwendigen schulischen Abschlüsse, weil die notwendige Förderung fehlt und scheitern dadurch öfter beim
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Übergang in eine erfolgreiche berufliche Zukunft. Sprachliche Kompetenzen erfordern auch tatkräftige familiäre Unterstützung im Bildungsprozess, die überall dort allenfalls in moralischen Ansprüchen stecken bleibt, wo Eltern selbst nicht deutsch Lesen und Schreiben können, manchmal sogar in ihrer Muttersprache Analphabet(inn)en sind. Hinzu kommen religiös bedingte Konflikte (z. B. in Bezug auf Kleidung oder Kopfbedeckung, Essen bei Klassenfahrten sowie gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht in Schulen), für deren Bearbeitung in den Schulen die notwendigen interkulturellen Kompetenzen und Vermittlungsebenen fehlen. Junge osteuropäische oder ehemals sowjetische Aussiedler(innen) rebellieren oftmals gegen die von ihren Eltern erzwungene Migration mit der Folge des Verlustes ihrer Freunde im Herkunftsland durch Schulverweigerung, Bandenbildung und aggressives Verhalten in der Stadtteilöffentlichkeit und verängstigen dadurch vor allem ältere Menschen und deutsche Mitschüler(innen). Migrant(innen) der ersten Generation, die sich zu einem Verbleib in der Bundesrepublik entschieden haben, erkennen, dass familiäre Verantwortlichkeiten längst nicht mehr so verlässlich sind, wie sie es in ihrer Kultur gewohnt waren. Sie sind wie deutsche ältere Menschen auf institutionelle Unterstützung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit angewiesen, finden in diesen Einrichtungen aber längst nicht die Bedingungen vor, die ihren kulturellen Normen und Werten entsprechen, manchmal nicht einmal rudimentäres Verständnis für ihren besonderen kulturellen Kontext. Angesichts solcher Konflikte wird auch in Hamburg häufig übersehen, dass sich die Mehrheit von Migrant(inn)en sichtbar oder unsichtbar mit sehr viel Energie und Kreativität in die Stadtgesellschaft integriert hat: Sie bestreiten autonom und zuverlässig ihren Lebensunterhalt, sorgen für eine erfolgreiche Sozialisation des Nachwuchses, gründen erfolgreiche Unternehmen und bieten darin Beschäftigung oder verwirklichen ihre sozialen und kulturellen Bedürfnisse in einer Weise, die den städtischen Alltag vieler Mitmenschen in unterschiedlicher Hinsicht bereichert. Seit kürzerer oder längerer Zeit ‚Einheimischen‘ eröffnen sie so vor Ort einen lebensweltlichen Zugang zu attraktiven (z. B. kulinarischen) Fremdheiten, deren Erfahrung eine Auseinandersetzung mit Andersartigkeit im Alltag fördern kann. In der Stadtentwicklung beschränkt sich die Aufmerksamkeit für ethnische und andere Minderheiten häufig auf das, was die Statistik abbildet. Es werden messbare sozialstrukturelle Mehrheiten und Minderheiten gezählt, ohne qualitative Dimensionen solcher Differenzen näher zu betrachten. Maßzahlen dienen dann der Definition von Zielgruppen der Stadtpolitik oder von Indikatoren zur Messung von Entwicklungsfortschritten. Die Statistik der staatsbürgerlich definierten ethnischen Minderheiten liefert z. B. Zahlen über fremde Menschen in der Stadt, die nichts über deren gesellschaftliche Integration und Alltagspraxis aussagen. In Konfliktfällen dienen solche Zahlen unreflektiert zur Legitimation
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vorherrschender Vorurteile und verstellen damit oftmals den notwendigen Blick auf dahinter verborgene Wirklichkeiten. Indikatoren erfassen nur denjenigen Teil der Wirklichkeit, den sie qua ihrer Definition messen sollen und blenden andere, oftmals wichtige qualitative Aspekte von Sachverhalten aus. Solch ausgeblendete, unbekannt bleibende Tatsachen erscheinen dann häufig zu komplex, überfordernd oder gar bedrohlich. Sie bleiben folglich aus pragmatischen oder finanziellen Gründen bei Betrachtungen von Stadtentwicklungsprozessen im Dunkeln, unabhängig davon, ob sie für die Klärung interessierender raum-zeitlicher Sachlagen von Minderheiten relevant sind. Entsprechend unrealistisch und unkreativ werden dann auch die Lösungsvorschläge für Probleme in Verbindung mit Minderheiten und begünstigen längerfristig eine Verfestigung oder eine Wiederholung von Konfliktsituationen. Wenn man sich heute über so genannte Parallelgesellschaften in Großstädten erzürnt, erschreckt oder wundert, wäre in einem ersten Schritt zu fragen, wer was aus welchem Grund mit diesem Begriff bezeichnet und wie die Wirklichkeiten entstanden sind, die sich hinter solchen Vorstellungen verbergen. Dann würde sich sehr schnell zeigen, dass isolierte Parallelgesellschaften schon aus strukturellen Gründen in Städten nur schwer lebbar sind. Denn großstädtische Strukturen bringen Stadtbewohner(innen) auf unterschiedliche Weise in Kontakt: Man begegnet sich in Bussen und Bahnen, erfährt Mitmenschen im dichten Straßenverkehr, durchquert öfters auch unbekannte Lebensräume, nimmt bezahlbare Dienstleistungen in Anspruch, genießt Lebensmittel und Gerichte aus ‚aller Herren Länder‘ und stellt immer wieder fest, dass die Mitmenschen im engeren oder weiteren Umfeld nur in den seltensten Fällen seit Generationen ihr Leben an ein und demselben Ort verbracht haben. Geistige, räumliche und soziale Mobilität ist eine Grunderfahrung der Moderne und prägt Großstädte seit der Industrialisierung in beschleunigtem Tempo und wachsender Komplexität. Wer also behauptet, es hätten sich in Städten so genannte Parallelgesellschaften unbemerkt etabliert und stünden nun der Mehrheitsgesellschaft als Gefahr gegenüber, ignoriert die langjährige Integrationskompetenz von Stadtgesellschaften und verschleiert die Tatsache des eigenen Versagens in der Wahrnehmung und Analyse der Entwicklung von Andersartigkeiten. Denn zumindest in Großstädten sind sie sichtbar, hörbar, riechbar, tastbar und schmeckbar und damit auch dem Verstand als dem sechsten Sinn des Menschen zugänglich. Verstehen, Denken und konsequentes Handeln sind Fähigkeiten, die es in der Stadtpolitik wie im urbanen Alltagshandeln aller Menschen zu aktivieren gilt, wenn städtische Minderheiten sich in Zukunft nicht zu Schreckgespenstern von Mehrheiten entwickeln sollen, sondern in ihren ergänzenden und bereichernden Potenzialen erlebbar und fruchtbar werden sollen.
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Minderheiten als Ressource zukunftsfähiger Stadtentwicklung in Europa und anderswo
Die demographischen Veränderungen westeuropäischer Gesellschaften, die Gleichzeitigkeiten von Wachstum und Schrumpfung der Wirtschaft auf nationalstaatlicher, regionaler wie städtischer Ebene sowie die zunehmend auch lebensweltlich erfahrbare Internationalisierung erzeugen in Köpfen und Herzen allmählich die Gewissheit, dass wir uns in Stadt und Land längerfristig auf strukturelle Veränderungen einstellen müssen. Mobilität zwischen Lebensräumen und sozialen Milieus wird dadurch für immer breitere gesellschaftliche Gruppierungen zur freiwilligen oder erzwungenen Erfahrung. In solchen Veränderungen verschieben sich auch die Relationen von Mehrheiten und Minderheiten immer schneller. Was heute noch mehrheitsfähig war, kann morgen zu einer Wirklichkeit von Minderheiten werden. Vor diesem Hintergrund bietet es sich allemal in Großstädten, die beschleunigtem Veränderungsdruck unterliegen, an, Handlungskompetenz im Umgang mit dem Minderheitenstatus zu entwickeln. Von Georg Simmel können wir dabei lernen, dass Differenzierung ihre konstruktiven Potenziale erst entfaltet, wenn es gelingt, ein Höchstmaß an Besonderheit mit einer Vielfalt von individuellen und kollektiven Handlungsmöglichkeiten zu verknüpfen. Der individuelle Autist wäre somit ein Beleg für das Scheitern der Ansprüche der Moderne. Es geht um anschlussfähige Differenzen, um Kombinationsmöglichkeiten von Unterschiedlichkeit, die in Kooperation den Reichtum städtischer und ländlicher Zukunft ausmachen werden. Die Umsetzung solcher Herausforderungen erfolgt nicht mehr allein in homogenen und massenhaften Klassen und Schichten, sondern auch in ausdifferenzierten sozial-räumlichen Milieus (vgl. Breckner 2004). Deren Akteurinnen und Akteure können sich dabei gleichzeitig oder abwechselnd in unterschiedlichen Milieus bewegen. Sie erlernen so den Perspektivenwechsel zwischen Minderheit und Mehrheit, leben unterschiedliche Besonderheiten aus und bereichern auf diese Weise ihren Alltag in allen Lebensphasen, an verschiedenen Orten und in wechselnden sozialen Konstellationen. Die dichotomische und statische Konstruktion von Mehrheiten und Minderheiten löst sich in diesem Modell auf. Städte werden mehr denn je in ihrem ökonomischen, politischen und sozialen Überleben von ihrer Fähigkeit abhängig sein, Lebensmöglichkeiten für unterschiedliche Milieus anzubieten. Denn sie befruchten, ergänzen und unterstützen sich im Idealfall gegenseitig und kompensieren so möglicherweise das, was der aufgrund öffentlicher Armut erodierende Wohlfahrtsstaat nicht mehr leisten kann. Für städtische Milieus beinhaltet diese Trendwende einen Wandel von einer abgegrenzten egomanischen sozial-kulturellen Spielwiese der Inszenierung von Konsumstilen und starren Lebensformen hin zu einem fließenden, offenen Stadtraum, dessen Sein und Wandel von verantwortli-
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cher Aufmerksamkeit, Reflexion und umsichtiger Handlungskompetenz im breit gefächerten städtischen Gewebe abhängt. Leben und Leben lassen sowie Gabe und Gegengabe könnten normative und materielle Regulative für ein friedvolles und demokratisches Miteinander in einer wachsenden Differenz von Stadtgesellschaften darstellen. Voraussetzung für deren Verwirklichung ist die Vergegenwärtigung des potenziellen Minderheitenstatus eines jeden Stadtbewohners und seiner Angewiesenheit auf Mehrheiten, die nicht mehr aus Homogenität, sondern aus einem gemeinsamen Nenner der Anerkennung von Unterschiedlichkeit zu gewinnen sind.
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Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt
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Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt
Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz In den Städten passiert etwas. Auf den Straßen, in den Geschäften und Büros, in Bars und Restaurants, hinter den Fassaden der vielen Häuser, dicht gedrängt. Menschen, anonym und doch jeden Tag dieselben Stimmen, dieselben Kneipen, dieselben Nachbarn. Nein, nicht ganz B denn die Rhythmen der Stadt sind nicht langsam und gleichmäßig wie etwa das Rauschen der Meere draußen, sie sind laut und verwirrend, mal schnell, mal langsam, und manchmal geraten sie auch aus dem Takt. Und zwischen all diesen Rhythmen entstehen tagtäglich die Geschichten der Menschen in den Städten, wie Melodien mit unterschiedlichen Tönen. (Ulrike Ostermeyer)
Ein Blick in die Zeitdiagnosen der Stadt lässt erkennen, dass es diverse, zum Teil widersprüchliche Beobachterstandpunkte gibt. Je nach Blickwinkel leben wir in einer kompakten Stadt, Medienstadt, Bankenstadt, globalen Stadt, metropolitanen oder multikulturellen Stadt. Und je nach Beobachterfokus werden bestimmte Aspekte als relevant für das urbane Leben erachtet und andere treten als belanglos in den Hintergrund. Der Erkenntnisgewinn aus dieser Multiperspektivität erscheint zunächst einmal, dass das Phänomen „Stadt“ einen vielfältigen diskursiven Entwurf darstellt. Andererseits demonstrieren die verschiedenen Perspektiven, wie unterschiedlich und disparat die Stadtsoziologie sich ihrem Gegenstand nähert bzw. ihren Gegenstand erst konstruiert. Auch wenn sich die Stadtsoziologie von der Monoperspektive verabschiedet hat und unterschiedliche Ansätze existieren, wird die Stadtforschung jedoch seit nunmehr Jahrzehnten durch eine stark normativ orientierte, pessimistische Perspektive dominiert (vgl. dazu Schroer 2005). Es drängt sich der Eindruck auf, dass normative Vorentscheidungen immer noch einen wesentlichen Einfluss auf die Stadtforschung nehmen (vgl. Krämer-Badoni 2002). Es ist Mode geworden, von der Krise der Stadt zu reden (vgl. Heitmeyer et. al. 1998) und die Polarisierung, Dualisierung oder Fragmentierung der Städte zu konstatieren. Man spricht – bedingt durch Globalisierung – von ortloser Existenz und konstatiert den Verlust des Öffentlichen. Solche Diagnosen gehen von der Stadt als einer imaginierten Einheit aus und orientieren sich dabei an den Mythen des 19. Jahrhunderts – Mythen, welche die gegenwärtige Stadtsoziologie immer noch wesentlich prägen
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(vgl. Berking/Löw 2005: 13). Diese nostalgische Grundmelodie, dass es nur früher „wirkliche“ Orte gab, an denen Menschen real miteinander kommuniziert und sich wohl gefühlt hätten, dominiert die Urbanitätsforschung. Sonst wäre es nicht nachvollziehbar, warum man die Unwirtlichkeit der heutigen Städte beschwört, auf Entfremdungsprozesse verweist, für eine radikale Begrenzung der Einwanderung plädiert und die Übernahme der Infrastruktur durch eingewanderte Minderheiten kritisiert. Diese Form „reaktionärer Nostalgie“ scheint heutzutage weit verbreitet zu sein (Morley 2001: 67)1 und in der Bundesrepublik Deutschland eine gewisse Tradition zu haben. Hans Paul Bahrdt ist in diesem Kontext zuzustimmen, wenn er diese Großstadtkritik als Zivilisationskritik interpretiert, „die insbesondere die Grundierung des politischen Weltbildes pseudokonservativer Gruppen aller Art darstellt“ (1961: 12): „Die ideologische Funktion der Großstadtkritik im Rahmen eines romantischen Konservatismus hat die Kritiker daran gehindert, die veränderte Wirklichkeit zu erkennen. Das ist der Grund, weshalb die Argumente gegen die Großstadt sich seit 100 Jahren nicht geändert haben und deshalb den Anschein erwecken, sie seien nicht zu widerlegen.“ (Bahrdt 1961: 16)
Ein Blick in die Alltagspraxis zeigt jedoch, dass sich die Schreckensszenarien nicht erfüllt haben. Vor einigen Jahren hieß es noch, die Stadt als Integrationsmaschine funktioniere nicht mehr und die Datenströme des digitalen Zeitalters würden die Stadt fortspülen, dank neuer Kommunikationstechnologien wie beispielsweise Internet werde alles überall möglich sein und der reale Ort ganz und gar unbedeutend. Heute sieht es so aus, als bräuchte gerade der weltweit vernetzte Mensch ebenjene Stadt, also die alltägliche, metropolitane Praxis. Wenn man sich jedoch von abstrakten Kategorien verabschiedet, die Stadtbewohner(innen) als Expert(inn)en ihres Alltags ins Blickfeld rückt und die lokalen Praxisformen in den Blick nimmt, dann erscheint das urbane Leben in einem anderen Licht. Wir erfahren durch teilnehmende Beobachtung, dass man sich in der Stadt, in der man lebt, eigentlich gut eingerichtet, vertraute Strukturen und Routinen entwickelt hat und sich zum größten Teil wohl fühlt. Man kauft in einem italienischen Tante-Emma-Laden ein, isst in einem türkischen Restaurant, geht in eine französische Bar, lässt sich von einem iranischen Arzt behandeln. Weiter beobachten 1
Auch die Stadtplanung folgt einem wenig lebensweltlichen, sondern abstrahierend-distanzierten Blick auf die Stadt. Diese Perspektive von außen wirkt oft kontraproduktiv. Für die zu entwickelnden Konzepte sind Perspektiven „von innen“ unerlässlich. „Aus diesem Grunde bleibt die Abstraktion städtischer Räume sowie die Normativität der städtischen Leitbilder (...) fragwürdig. Leitbilder wie die ‚Stadt der kurzen Wege‘ oder die ‚soziale Stadt‘ sind zunächst einmal idealistisch-normative Setzungen, die in der Regel aus theoretischen Überlegungen der Planer (...) resultieren“ (Lang 2000: 65).
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wir in der Alltagspraxis verschiedene Aneignungsprozesse, sehen uns mit diversen biographischen Entwürfen und persönlichen Netzwerken konfrontiert. Auf der einen Seite beobachten wir, welche Möglichkeiten die städtischen Quartiere den Einzelnen bieten und wie diese Möglichkeiten von ihnen angeeignet und genutzt werden. Wir entdecken formale Strukturen, kulturelle Zusammenhänge und unterschiedliche Verständigungsprozesse. Auf der anderen Seite werden zunehmend auch Verwerfungen sichtbar (vgl. Bauman 2005)2, die mit (globalen) Wandlungen einhergehen, neue politische Bearbeitungsformen erforderlich machen und uns zur Neuerfindung der Urbanität nötigen (vgl. Läpple 2005). Es stellt sich also die Frage, was die Stadtforschung dennoch dazu veranlasst, das urbane Leben überwiegend mit einem besorgten Blick zu betrachten und ein pauschales Bild zu entwerfen. Uns scheint dieses pauschale Bild einer zerfallenden europäischen Stadt ein Mythos und das Ergebnis „ideologiegeleiteter Recherche“ (Krämer-Badoni 2002: 53) zu sein. In der kritischen Sozialwissenschaft werden offensichtlich hinter jeder Veränderung krisenhafte Momente vermutet. Wer nach krisenhaften Entwicklungen Ausschau hält, findet sie auch. Wenn man allerdings umgekehrt nach „erfolgreichen“ urbanen Praktiken fragen würde, würde man solche Formen ebenso finden können (vgl. Expertise für die Enquetekommission 2003). Wie wir sehen, spielt die Beobachterperspektive und damit die Fragerichtung eine wesentliche Rolle. Wenn man mit abstrakten Kategorien operiert und nach Katastrophen sucht, geraten die realen Praxisformen notwendigerweise aus dem Blick und das lokale Wissen der Stadtbewohner(innen) bleibt außen vor.
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Der Mythos der Parallelgesellschaft
Ein weiterer Aspekt ist, dass dieses Katastrophenszenario oft im Zusammenhang mit der Einwanderungsfrage diskutiert wird. Wenn es um die Beschreibung der Einwanderungssituation in den Städten geht, taucht die Ghettometaphorik sowohl in den Medien und der Politik als auch in der Wissenschaft immer wieder auf. „Türkenghetto“, „Türkenschule“, „Begrenzung des Zuzugs von Einwanderern“ in bestimmten Stadtteilen. Damit verbunden die Klage, die einheimische Bevölkerung fühle sich durch die Einwanderinnen und Einwanderer überfordert. „Ghetto im Kopf“, so wurde ein Artikel im August 2003 in der Wochenzeitung Die Zeit betitelt. In diesem Artikel steht die Integrationsthematik im Vordergrund:
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Zygmunt Bauman zeigt in seinem aktuellen Buch, dass mit der Modernisierung und Globalisierung auch Exklusionsprozesse einhergehen
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Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz „Integration? In Katernberg scheint sie im Großen und Ganzen gescheitert zu sein. Hier hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten eine Parallelgesellschaft entwickelt, in der Türken Türken bleiben und die Deutschen Deutsche sein lassen (...).“
Es wird ein Sozialarbeiter zitiert, der beklagt, dass ein Teil der türkischen Bevölkerung auf dem Rückzug in die eigene Ethnie sei. „Immer mehr Männer suchen sich Ehefrauen in ihren türkischen Heimatorten, nicht selten aus der Verwandtschaft“. Der Verfasser des Artikels und der zitierte Sozialarbeiter kommen zu dem Schluss: „Integration? Sie ist hier ein fernes Ziel. Das Ende der Isolation solcher Familien wäre schon ein gewaltiger Schritt“. „Rückzug in die eigene Kulturkolonie“ hieß ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 2./3. März 2002. Darin wird von „verfallenden Werten“, „irritierender Entwicklung“ und „paralleler Lebenswelt“ gesprochen. Was die Integration betrifft kommt die Schulamtdirektorin in Recklinghausen zu Wort: „Hier müssen viele zusammenwirken: die Schulen, die städtische Sozialarbeit, die Wohlfahrtsverbände, aber auch die Wohnungsbaugesellschaften, die nicht mehr zulassen dürfen, dass Wohnghettos entstehen.“
Weiter wird argumentiert: „Im Duisburger Stadtteil Bruckhausen fühlen sich die deutschen Bewohner schon wie ‚Zaungäste‘ des muslimischen Alltags“. „Die Rückseite der Republik“, so hieß der Titel eines Berichtes im Nachrichtenmagazin Der Spiegel 10/2002: „Das wahltaktische Gezerre um das neue Zuwanderungsgesetz verdeckt das wahre Problem: Mitten in Deutschland leben Millionen von Immigranten in blickdichten Parallelwelten nach eigenen Regeln von Recht und Ordnung B Folge eines jahrzehntelangen Versagens der Politik.“
Diese öffentliche Debatte zeigt, dass die Frage des urbanen Zusammenlebens aus der Perspektive der Verträglichkeit der privilegierten Bevölkerungsgruppen diskutiert wird. Polemisch formuliert geht es darum, wie viel „Zerfall“ die Städte vertragen. Diese Diskussion diente und dient als Grundlage für die immer wieder hörbare Forderung nach einer Quotierung der Stadtteile und neuerlich wieder der Schulen. Um dies zu legitimieren, spricht beispielsweise Ingrid Krau, die Direktorin des Instituts für Städtebau und Wohnungswesen in München, von einem Kulturverständnis zahlreicher Einwanderergruppen, das mit dem hiesigen nicht kompatibel sei. Nur eine breite Verteilung sozialer Gruppen über alle Stadtteile bewahre einzelne Gebiete vor Überlastung (vgl. Krau 2000: 31). Wenn Migrant(inn)en sich niederlassen, die Infrastruktur in Städten zum Teil übernehmen und neue Lebensformen entwickeln, dann gelten sie als Bedrohung
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angestammter Privilegien, die auf dem Mythos eines „indigenen Ursprungs“ beruhen (Morley 2001: 69). Das Beängstigende am Migranten scheint also die Tatsache zu sein, dass er mobil ist, zu den prototypischen Bewohnern der Weltgesellschaft gehört, das Phänomen der Sesshaftigkeit als Mythos entlarvt und die angestammten historischen Privilegien in Frage stellt (vgl. Augé 1995: 119). Der Gebrauch der Begriffe „Ghetto“ und „Parallelgesellschaft“ verdankt sich nicht zuletzt einer Tendenz zur Dramatisierung und Skandalisierung, die auch die stadtsoziologische Forschung erfasst hat. Insofern hat die Beschreibung der Stadtteile mit hohem Migrant(inn)enanteil mehr Schaden angerichtet als Erhellung gebracht. Heute gehört es fast zur Normalität, einwanderungsgeprägte Stadtquartiere als Ghettos zu definieren. „Durch die unreflektierte Übernahme solcher Bilder und Begriffe werden nämlich die Zustände, die sie abzubilden behaupten, überhaupt erst diskursiv hergestellt“ (Lindner 2004: 196).
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Von der Mythologie zur Alltagspraxis
Städte waren immer schon Orte, an denen die Konfrontation mit Differenz zum normalen Alltag gehörte. Sie sind Orte des Mannigfaltigen und Differenten, an denen sich Funktionssysteme räumlich manifestieren, unterschiedliche Lebensstile, Lebensformen und Milieus entstehen, und an denen immer wieder neue öffentliche Umgangsweisen erfunden und ausprobiert werden und mithin urbane Kompetenzen entwickelt werden. In den Städten treffen unterschiedliche Perspektiven in räumlich konzentrierter Form aufeinander, werden aufeinander bezogen, verdichten sich zu vertrauten Strukturen und Routinen, die für die Einzelnen biographisch relevant werden können. Deshalb haben Städte für die Gestaltung des Zusammenlebens eine konstitutive Bedeutung. Wir gehen in der folgenden Arbeit kleinräumig vor und fokussieren unseren Blick auf ein Kölner Quartier. Wenn man die urbanen Praxisformen zum Ausgangspunkt macht, eröffnen sich neue Beobachtungshorizonte. Wir stoßen dabei auf lokale Wissensformen und sehen uns mit Kontingenzen, Ambivalenzen und „Mehrfachkodierungen“ (Nassehi 2005) konfrontiert. Aus diesem Praxisblick erscheinen Phänomene wie beispielsweise „Polarisierung“, „Gentrifizierung“, „Globalisierung“ oder „Unwirtlichkeit der Städte“ in einem anderen Licht. Für unsere Studie haben wir uns B sozusagen in ethnomethodologischer Manier B in ein ausgewähltes Kölner Stadtquartier begeben und uns einmal angeschaut, wie die Menschen dort miteinander umgehen, unter welchen Bedingungen sie leben, welche Differenzen sichtbar werden, welche unsichtbar bleiben, wie sie sich die Stadt aneignen, wie sie vertraute Strukturen und Routinen entwickeln. Bei näherer Betrachtung wird sichtbar, dass sich der Stadtteil, der im
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öffentlichen Bewusstsein zunächst nur als ein zerfallendes Quartier existierte, als ein Stadtquartier im „Umbruch“ erwies, welches im gesamtgesellschaftlichen und weltweiten Zusammenhang diskutiert und interpretiert werden musste. Was sich zunächst als Folie zur Beschreibung von „Ausländerproblemen“ eignete, erwies sich bei näherer Betrachtung als Beispiel für ganz gewöhnliches urbanes Leben. Es ging vor allem um die Frage, wie man mit der Umbruchsituation umgehen kann, wie man Arbeit bekommen und sichern kann, wie man die Infrastruktur erreichen und nutzen, an Bildungsprozessen teilnehmen und Erfolg haben kann. Es ging also um die Dinge des Alltags (vgl. Bukow u.a. 2001). Diese Mikrosituationen werden nicht auf abstrakte Kategorien zurückgeführt oder darauf reduziert, sondern sie werden in ihrem alltäglichen Kontext, in ihren konkreten Besonderheiten betrachtet und rekonstruiert: „Die Aufgabe besteht darin, diese nicht expliziten Bedeutungen zugänglich zu machen, ihre Undurchdringlichkeit aufzulösen, indem man sie ‚in den Kontext ihrer eigenen Alltäglichkeiten‘ stellt.“ (Morley 1999: 302)
Es zeigt sich, dass die konkreten Orte und Räume keinesfalls verschwinden, auch wenn im Globalisierungsdiskurs dieser Eindruck vermittelt wird, sondern immer noch lokale Bezugspunkte für die Stadtteilbewohner(innen) bleiben und für deren Aneignungsprozesse weiterhin eine wesentliche Rolle spielen. Wir wechselten also die Perspektive und nahmen das „Wissen der Quartierbewohner(innen)“ zum Ausgangspunkt, ein „lokales Wissen“, das den abstrakten und hegemonialen Kategorien entgegensteht. Um diese lokalen Wissensformen sichtbar zu machen, beobachteten wir das Leben im Stadtteil, nahmen an Ereignissen teil und führten Interviews mit Bewohner(inne)n des Quartiers. In methodischer Hinsicht ging es uns dabei nicht um einen privilegierten Zugang zum Gegenstand oder um die Eruierung einer authentischen Wahrnehmung oder einer unverfälschten Subjektivität. Vielmehr war dieses in der Interviewsituation entstandene lokale Wissen das Ergebnis eines Vermittlungsprozesses zwischen Forscher(in) und Befragten, in den unsere eigenen Erfahrungen und Interpretationen einflossen. Die Interviewsituation erzeugt selbst eine Gegenwart, in der deutlich wird, wie sich Stadtteilbewohner(innen) in einer hoffnungslos mehrfach codierten metropolitanen Stadt gleichzeitig in unterschiedlichen Situationen bewegen und Kontingenzen wegarbeiten müssen (vgl. Nassehi/Saake 2002). Dadurch wird deutlich, dass es keine authentischen Praxisformen gibt, die man durch „korrekte“ Methoden sichtbar machen konnte. Durch den anderen Blick wird erkennbar, dass sich die Gesellschaft nur in konkreten Alltagspraxen reproduziert (Nassehi 2005: 107).
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Stadtteil Ehrenfeld
Zwei Gründe machten Ehrenfeld für die Studie besonders interessant: Zum einen ist Ehrenfeld aus historischer Sicht ein klassisches Arbeiter- und Einwanderungsviertel, das ständig mit Mobilität im weitesten Sinne konfrontiert war, was auch im Zuge neuer globaler Öffnungsprozesse weiterhin der Fall sein wird. Aus historischer Perspektive hat Mobilität in Form von Migration das Leben im Stadtteil weitgehend geprägt. Menschen unterschiedlicher Hintergründe, Biographien, Weltanschauungen usw. haben immer in Ehrenfeld gelebt, sich von Fall zu Fall arrangiert und immer wieder neue Vernetzungen und soziale und persönliche Bindungen unterschiedlicher Art hervorgebracht. Sie haben B trotz privater Differenzen B gemeinsame öffentliche Umgangsformen und urbane Kompetenzen entwickelt, die heute für das Leben im Quartier, ja sogar für den Zusammenhalt der Gesellschaft allgemein, unverzichtbar sind. Es wird deutlich, dass Mobilität in Form von Migration seit Anbeginn für die Dynamik des Quartiers eine wesentliche Rolle gespielt hat. Man könnte sogar sagen, dass der Stadtteil seine Entwicklung der Zuwanderung zu verdanken hat. Ehrenfeld wurde systematisch als Industriestandort konzipiert, es kamen viele Menschen, um dort zu arbeiten und zu leben. Demnach ist Ehrenfeld nicht nur als ein altes Arbeiterviertel, sondern vor allem auch als Einwanderungsviertel zu charakterisieren. Wenn es auch heute gern negiert wird, hat radikale Differenz doch das Gesicht des Viertels schon immer geprägt, ja Pluralität war seit jeher ein Fundament der Stadtteilentwicklung. Zum anderen erlebten im Zuge der wachsenden Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft der 90er Jahre die innenstadtnahen Bezirke der Städte B so auch Ehrenfeld B eine Umwandlung, die vor allem auf die gesamtgesellschaftlichen und weltweiten Transformationsprozesse zurückgeht, auch wenn in der lokalen Öffentlichkeit zunehmend von der Gentrifizierung des Stadtteils die Rede ist. So befindet sich Ehrenfeld seit einigen Jahren in einem neuen Transformationsprozess. Der Spruch „Ehrenfeld wird Edelfeld“, der im Quartier immer gebräuchlicher wird, markiert diese Veränderung. In den letzten Jahren entstanden durch Zuzug ständig neue Milieus (Student(inn)en, Künstler(innen) usw.), die die Infrastruktur zum Teil umorganisieren und das Leben zunehmend mitprägen. Dies macht sich an den neuen alternativ orientierten Cafés und Kneipen bemerkbar, die in den letzten Jahren eröffnet wurden. Es gibt einige neue Galerien; ein großes Kinoprojekt wurde realisiert. Verschiedene Theatergruppen ziehen ins Quartier. Aus dieser Perspektive bietet der Stadtteil ein buntes und lebendiges Kulturleben und macht das Viertel für viele interessant. Verbunden mit diesen Veränderungen ist eine deutlich erkennbare Heterogenität der Stadtteilbevölkerung und darüber hinaus ein freundlich wirkendes, buntes Stadtbild entstanden.
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Diese „Umbruchstimmung“ in Ehrenfeld ist vor allem auf die Umstrukturierungsprozesse in den letzten Jahren zurückzuführen. Einige interpretieren diese „Umbruchssituation“ als spannend und von anderen wiederum wird sie als „Gentrifikation“ beklagt (vgl. Padberg 1995)3. Entindustrialisierung, Wohnbausanierung, Bahnerweiterung, Aufwertung des Stadtteils, Eröffnung von großen Einkaufszentren usw. markieren diese Veränderungsprozesse, die wiederum in verschiedenen Zusammenhängen zum lokalen Politikum wurden und zur diskursiven Auseinandersetzung bis hin zur Formierung neuer Initiativen führten. Aus dieser Perspektive sind im Quartier neue diskursive Vernetzungen entstanden, die den Stadtteil alltagspolitisch mit prägen (vgl. Bukow u.a. 2001). Im Gegensatz zu marginalisierten Stadtquartieren4, hat Ehrenfeld – insgesamt betrachtet – eine intakte Infrastruktur und weist eine hohe systemische Einbindung der Mehrheit der Bevölkerung auf, die die Aneignung des Quartiers für die Stadtteilbewohner(innen) erleichtert.
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Metropolitane Routine
Im Folgenden möchten wir anhand einiger Beispiele zeigen, wie die Stadtteilbewohner(innen) das Quartier wahrnehmen, aneignen, mit zunehmender Differenz umgehen, das Quartier handhabbar machen und vertraute Strukturen entwickeln, also wie es zur „metropolitanen Routine“ im Zeichen globaler Öffnungsprozesse kommt, aber auch wie die „soziale Grammatik des urbanen Lebens“ (vgl. Nikodem u.a. 2001) in bestimmten Kontexten Risse zeigt bzw. unterminiert wird. Dabei steht zunächst die individuelle bzw. lebensweltliche Seite im Vordergrund. Was passiert also, wenn man in ein Quartier wie Köln-Ehrenfeld einzieht, das vorerst „fremd“, also unvertraut ist. Man sucht eine Wohnung und beginnt sich einzurichten; durch die Aneignung des Stadtteils wird schrittweise die städtische Anonymität und Fremdheit überwunden. Im Laufe der Zeit entwickelt man eigene vertraute Strukturen, die für den persönlichen Alltag bedeutsam werden. 3
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Dass an der neu entstehenden Infrastruktur in Ehrenfeld tatsächlich Bevölkerungsgruppen beteiligt waren und sind, die in dem ökonomisch orientierten Gentrifizierungsdiskurs als „verdrängte Bevölkerungsgruppen“ beschrieben werden, wie beispielsweise die Migrant(inn)en, wird dabei übersehen. Heute werden in Ehrenfeld viele Restaurants, Cafés und andere Geschäfte nämlich von Migrant(inn)en betrieben. Darüber hinaus sind aus den ehemaligen Student(inn)en Architekt(inn)en, Galerist(inn)en oder Kneipenbesitzer(innen) geworden, die immer noch in Ehrenfeld wohnen und die Infrastruktur wesentlich mitprägen. Die marginalisierten Stadtteile haben im Normalfall eine desolate Infrastruktur und sind mit territorialer Stigmatisierung konfrontiert, die die Möglichkeiten der Gestaltung der Lebenswelt von Betroffenen limitieren.
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Die Mobilität hat das Leben in Ehrenfeld wesentlich geprägt und wird es im Zeichen weltweiter Öffnungsprozesse in Zukunft weiter prägen. Heute sehen wir uns im Stadtteil mit einer heterogenen Bevölkerungs- und Infrastruktur konfrontiert, die insbesondere auf diese geographische Mobilität zurückzuführen ist. Damit werden die Bedingungen umrissen, die den Individuen das Einrichten je nach ihren individuellen Bedürfnissen ermöglichen. Betrachtet man nun die Wege des Einrichtens, so werden drei Momente sichtbar, die hier idealtypisch getrennt werden, doch miteinander verknüpft sind und sich überschneiden.
Aneignung der Infrastruktur: Ein sich wiederholendes Muster bei der Einrichtung im Quartier bildet die Aneignung der Infrastruktur. Die Befragten berichten von den Geschäften, in denen sie regelmäßig einkaufen, Lieblingsständen auf dem Wochenmarkt, Stammkneipen etc. An diesen Orten wird oftmals die Anonymität überwunden, man kennt die Menschen dort, grüßt sich, hält manchmal einen kurzen Schwatz etc. Einbindung in lebensstilorientierte Netze und Orte: Die Einzelnen suchen Anbindung bezüglich ihrer Lebensstilorientierung im weitesten Sinne, d.h. sie suchen Orte und Zusammenhänge auf, die ihren Orientierungen entsprechen. Das können religiöse Orientierungen sein, Anbindungen an eine spezifische Szene und ihre Orte B ebenso wie diese Netze ethnisch geprägt sein können. Bekanntschaften, Freundschaften und Nachbarschaftsbeziehungen: Diese Einbindungen sind immer geknüpft an Beziehungsnetze; man lernt vielleicht die Nachbarn kennen; es entwickeln sich Hausgemeinschaften, Freundschaften oder Bekanntschaften werden geknüpft oder vertieft. Man kennt Leute, die einem auf der Straße begegnen und wenn man sich nur grüßt oder ein paar Worte wechselt (manche Interviewpartner(innen) heben in diesem Kontext den „dörflichen“ Charakter des Quartiers hervor).
Dies möchten wir anhand einiger Beispiele veranschaulichen, Beispiele, die zugleich auf die normale Mobilität im Quartier verweisen: Cristina Lanfranchi ist zum Zeitpunkt des Interviews 38 Jahre alt. Sie wurde in Süditalien geboren und die Familie migrierte Anfang der 60er Jahre in die Bundesrepublik Deutschland. Damals war Cristina Lanfranchi zwei Jahre alt. Sie wuchs bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr in Ehrenfeld auf, dann ging sie zur Fortführung ihrer Schulausbildung nach Italien zurück. Hier absolvierte sie das Abitur und immatrikulierte sich an der Universität in Neapel. Aufgrund der Arbeitslosigkeit ihres Vaters und damit verbundenen finanziellen Engpässen muss sie mit zwanzig Jahren jedoch nach Köln zurückkehren und absolviert an der hiesigen Fachhochschule ein Studium als Dolmetscherin. Cristina Lanfranchi
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zieht zu ihrer Familie nach Ehrenfeld, zum Zeitpunkt des Gesprächs bewohnt sie eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Mutter. Nach der langen Abwesenheit muss sie sich trotz „Rückkehr“ die Stadt und das Quartier wieder neu aneignen; die Kontakte zu den alten Schulfreund(inn)en waren nach sechs Jahren abgerissen. Ansatzpunkte dieser Einbettung bildet einerseits ihre strukturelle Einbindung in ihr Studium (stadtteilübergreifend), andererseits die italienische Community, vor allem auch im Quartier. Cristina Lanfranchi nimmt Kontakt zur katholisch-italienischen Gemeinde auf, übernimmt eine Katechismus-Gruppe. Ihr dortiges Engagement, das sie kontinuierlich bis in die Gegenwart fortsetzt, wird von ihr nach Abschluss des Studiums noch intensiviert B zu dem Zeitpunkt, als viele ihrer Freundinnen und Freunde wegziehen oder heiraten. Nicht zuletzt aufgrund dieser Einbettung kennt Cristina Lanfranchi inzwischen viele Menschen im Quartier, was sich im alltäglichen Lebenskontext manifestiert und einen bedeutsamen Anteil daran hat, dass sie Ehrenfeld als ihre Heimat beschreibt (bei parallelen Überlegungen wieder nach Italien zu gehen): „Mir gefällt es so sehr. Wenn ich rausgehe, auf der Venloerstraße während der Woche B am Wochenende weniger, weil da gehe ich lieber in die Stadt, wenn ich ausgehe B ist es sehr schön, spazieren ... also spazieren ist nicht, ich schaue mir die Geschäfte, um da einkaufen zu gehen, und man trifft Hernn Soundso: Ah, Buongiorno! und so weiter und so weiter und man plaudert. Dann trifft man Frau so. Ich treffe immer eine Menge Leute.“
Primär rückblickend hingegen schildert Sven Dettmer seine Erfahrungen in Köln-Ehrenfeld. Er ist zum Interviewzeitpunkt 44 Jahre alt. Er wurde in der Nähe von Köln-Porz geboren, verbrachte seine Schulzeit in einem rechtsrheinischen Stadtteil, wo er im Anschluss an das Abitur eine Buchhändlerlehre machte. Anschließend lebte er für vier Jahre in verschiedenen Städten in Italien, wo er als Krankenwagenfahrer jobbte und studierte. Auch seine berufliche Laufbahn zeugt von Mobilität: Er arbeitete als Buchhändler, als Fotograph, unterhielt zeitweise eine Sprachschule, seit mehreren Jahren arbeitet er im Verlagswesen, bei wechselnden Arbeitgebern. Seine gegenwärtige Arbeit bringt es mit sich, dass er häufig für mehrere Tage auswärts unterwegs ist. Nach seiner Rückkehr aus Italien lebte er kurzzeitig in Klettenberg und zog 1987 nach Ehrenfeld um. Hier wohnte er bis 2004, bis er aus privaten Gründen B eine Woche vor dem Interview B in ein angrenzendes Quartier umzog. Sven Dettmer beschreibt rückblickend die Selbstverständlichkeit der angeeigneten Strukturen in Ehrenfeld, die er sich nun, in dem neuen Quartier erst „erarbeiten“ muss und weist dabei genau auf den Weg der Aneignung, der vor ihm liegt:
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„Also die Wohnung ist der Punkt, an dem man ganz privat ist, das Haus ist sozusagen der erweiterte Kreis, und die Straßen drumherum, der Kiosk, wo man seine Zigaretten kauft oder eine Flasche Wasser, oder von mir aus auch mal eine Flasche Wein, wenn man eine braucht und der bis eins aufhat oder bis zwei, die Bank an der Ecke, der Gemüseladen auf der Ecke ist der nächste Kreis und die Kneipen drumherum, die Anlaufstellen, wo man, wenn man abends das Gefühl hat, man will nochmal raus, sich einfach Räume sucht, wo man hingehen kann und wo man sich nicht fremd fühlt.“
Für ihn bildet die Stammkneipe, das hebt er zu einem späteren Zeitpunkt hervor, einen ganz wichtigen Ort, der ihm die Möglichkeit einer gewissen Unverbindlichkeit bietet. Er besucht die Kneipe nicht nur, um Leute zu treffen, sondern ebenso um Zeitungen oder ein Buch zu lesen, jedoch auch, „weil sie mir einfach die Möglichkeit gibt; Leute zu treffen, ohne dass ich mich vorher verabreden muss und ohne dass ich weiß, was dann eigentlich passiert.“ Auch in unserem dritten Beispiel findet eine Aneignung des Stadtteils statt, wenn auch wiederum vor dem Hintergrund eines anderen Lebensstils, anderer Wertigkeiten. Marlene Thelen ist zum Zeitpunkt des Gespräches 81 Jahre alt. Sie wuchs an der Wolga auf, wurde 1941 mit Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach Sibirien „umgesiedelt“, wo sie bis zu ihrer Emigration in die Bundesrepublik Deutschland 1993 lebte. Gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn kommt sie nach Köln-Ehrenfeld, zunächst in eine Übergangswohnung, später bezieht die Familie, ebenfalls im Quartier, eine eigene Wohnung. Kernpunkt ihres Lebens bildet der familiäre Zusammenhang, doch sucht sie auch darüber hinaus eine Anbindung an ihren Lebensort. Sie berichtet von aktiven Nachbarschaftskontakten – im Übergangswohnheim wie auch in der neuen Wohnung – ist aktiv in einem Kreis älterer russlanddeutscher Frauen, der über eine lokale Initiative ins Leben gerufen wurde und ist eingebunden in die kirchliche Gemeinde. Da die täglichen Reproduktionsarbeiten weitgehend durch ihre Tochter übernommen werden, spielt der oben erwähnte Aspekt der genutzten Infrastruktur (Geschäfte, Markt) eine untergeordnete Rolle. In ihren Erzählungen wird deutlich, wie sie sich nach ihrer Ankunft auf die Suche nach einer passenden Gemeinde macht, dabei verschiedene Gemeinden und Gottesdienste „testet“ und letztendlich eine Verankerung findet. Trotz ihrer vorrangigen Anbindung an eine neuapostolische Gemeinde, die auch von zahlreichen anderen russlanddeutschen Immigrant(inn)en besucht wird, nutzt sie weiterhin die Angebote anderer Kirchengemeinden. Es wird sichtbar, dass die Kirche für sie vor allem ein Ort sozialer Kontakte und Ereignisse darstellt: „In der katholischen Kirche waren wir auch. Wie heißt sie denn, grad über den Weg rüber. Hier in der R-Straße, in die waren wir auch erst. Oder hier ist eine Kirch, auch eine katholische, waren wir auch gegangen. Da hat es uns auch nicht gefallen.“
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An diesen Beispielen sollte einerseits die Bedeutung der systemischen Einbindung (mit Einschränkung der biographischen Verortung von Frau Marlene Thelen) und andererseits die Ausgestaltung der Wege des Einrichtens im Stadtteil sichtbar geworden sein, eine Ausgestaltung, die sich in Hinblick auf die vorangestellte Typisierung ähnelt, jedoch individuell, je nach Lebensstil und Vorstellungen variieren kann: Cristina Lanfranchi beschreibt die tagtäglichen Auswirkungen ihrer Bindung an die katholisch-italienische Community, Sven Dettmer das HeimischWerden in der alltäglichen Infrastruktur, in ihrer „unverbindlichen Nähe“ und Frau Thelen schildert ihre Suche nach der passenden Kirchengemeinde, der sie sich anschließen will. Sichtbar wurde dabei auch, dass die jeweiligen Orte und Strukturen, die im Quartier für den Einzelnen biographisch bedeutsam sind, je nach individueller Lebenssituation wie auch individuellen Bedürfnissen differieren. Dies bildet die „metropolitane Routine“ von der individuellen Seite, die selbstverständliche Möglichkeit einer Anbindung an vorhandene Strukturen, die je nach individuellen Bedürfnissen in Anspruch genommen und ausgestaltet werden können. Eine zentrale Bedingung hierbei ist das Vorhandensein eben dieser Strukturen und Netze, d.h. je größer die Diversität des Quartiers, desto größer die Möglichkeiten und Selbstverständlichkeiten. Darüber hinaus lässt sich aber noch eine zweite Bedeutung der „metropolitanen Routine“ kennzeichnen, die sich auf das Ineinander- oder auch Nebeneinanderspiel dieser subjektiven Wege bezieht. Martin Albrow verwendet den Begriff der „Soziosphären“ (1997: 288ff.), um zu kennzeichnen, dass sich die Einzelnen je individuelle Landkarten des Stadtteils erschaffen. Diese individuellen Soziosphären, die sich auch bei den obigen Gesprächspartner(inne)n nachzeichnen ließen, berühren oder überschneiden sich B oder auch nicht. Ihr Ensemble konstituiert den Stadtteil. Die metropolitane Routine stellt hierbei die Selbstverständlichkeit des Neben- und Miteinanders dieser subjektiven Welten dar. Dennoch, und dies ist der letzte Aspekt, den wir hier aufgreifen möchten, korrespondiert die Möglichkeit der selbstverständlichen Aneignung des Stadtteils mit den strukturellen Bedingungen. Dies verweist auch auf die Probleme und Verwerfungen, die diskutiert werden müssen, wenn es um die Frage der „multikulturellen Stadt“ geht. Insbesondere zwei Aspekte sind für das urbane Leben von höchster Bedeutung, nämlich erstens die strukturelle Einbindung des Einzelnen (systemische Inklusion) und zweitens die Anerkennung der Orientierungen und Lebensformen, denn diese bewegen sich immer in einem machtvollen, hierarchischen Raum. Dies wollen wir an der folgenden Biographie einer Flüchtlingsfrau zeigen, die in die lokale Struktur kaum eingebunden ist.
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Die Störung metropolitaner Routine
Frau Tijana Radovic kam 1997 aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Köln, ihr ältester Sohn war damals sieben Monate alt. Als Romni flüchtete sie aus dem Kosovo über Albanien und Italien nach Deutschland. In Köln stellte sie einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wurde, gegenwärtig verfügt sie über eine Duldung, die für jeweils vier Monate verlängert wird. Eine Arbeitserlaubnis erhält sie aufgrund der Duldung nicht und ihr ist eine Residenzpflicht auferlegt. In Köln wohnte sie zunächst für einige Monate in einem Flüchtlingswohnheim in Zollstock, dann wurde sie nach Köln-Ehrenfeld verlegt. Hier bewohnt sie mit ihren drei Kindern (sechs, vier und ein Jahr alt) und ihrem Lebensgefährten zwei Zimmer. Die Küche wird gemeinsam mit anderen Bewohner(inne)n des Hauses genutzt, ebenso die sanitären Anlagen. Frau Radovic ist froh um den Umzug nach Ehrenfeld B vor allem, da sie in Zollstock zentral verpflegt wurde. Ihr gefällt Ehrenfeld, dabei hebt sie einerseits die Venloer Straße und die vorhandene ökonomische Infrastruktur hervor, andererseits den hohen Anteil allochthoner Bevölkerung. Frau Radovic unternimmt im Stadtteil jedoch nicht viel. Sie gehe einkaufen, manchmal spazieren (die Venloer Straße entlang) und sei meist zu Hause. Auch ihre persönlichen Kontakte sind weitgehend auf das Haus beschränkt. Die nachbarschaftlichen Kontakte gestalteten sich häufig schwierig. Oft kämen Beschwerden von den Nachbar(inne)n wegen zu großen Lärms, vor allem, wenn die Kinder draußen spielen. Dann würden die Kinder reingeholt und die Tür geschlossen. Das Interview mit Frau Radovic ist durch drei große Themen geprägt:
ihre aufenthaltsrechtliche Situation, d.h. die drohende Abschiebung die daran geknüpfte Verweigerung einer Arbeitserlaubnis und ihre beengte Wohnsituation
Die systemische/strukturelle Einbindung über die Faktoren Aufenthalt, Arbeit und Wohnung bilden einen unverzichtbaren Hintergrund für das Einrichten im Stadtviertel. Eine Aneignung des Stadtteils wird Frau Radovic über diese Bedingungen erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. An diesem Beispiel wird deutlich, welche weitreichenden Folgen die Verweigerung der strukturellen Rahmenbedingungen und der Respektierung von Mobilität und Individualität des Einzelnen für den konkreten Lebenszusammenhang der betroffenen Menschen hat. Es wird weiter deutlich, dass Mobilität im Migrationskontext skandalisiert wird, was dazu führt, dass Frau Tijana Radovic unter beschränkten strukturellen Bedingungen ihren Alltag im Quartier organisieren muss. Ihre (rechtliche) Situa-
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tion unterminiert die Aneignung des Quartiers und wirkt auf ihre lebensweltlichen Gestaltungsmöglichkeiten limitierend. Frau Radovic ist in einem Flüchtlingswohnheim untergebracht, was dazu führt, dass sie kaum die Möglichkeit hat, in dem Quartier, im dem sie wohnt, vertraute Strukturen zu bilden, weil sie kaum in die kommunale Struktur eingebunden ist. In dieser Situation scheint es unmöglich, eine Identifikation mit dem Quartier zu entwickeln. Stattdessen wird Frau Radovic von Beginn an mit Polizei, Behörden und Sozialarbeiter(inne)n, also mit Disziplinierungsmaßnahmen und rechtlichen Hindernissen konfrontiert. Eine Einbindung in die lokale Struktur, die für die Gestaltung der Lebenswelt und Entwicklung individueller Strategien in einer metropolitanen Stadt unerlässlich sind, kann sich unter diesen Umständen kaum vollziehen.
6
Resümee
Vergleicht man dies nun mit den vorab skizzierten Erfahrungen, so werden Differenzen sichtbar. Für Frau Lanfranchi, Frau Thelen und Herrn Dettmer unterliegt ihre Anwesenheit im Quartier ihrer individuellen Entscheidung, auch ihr Aufenthalt ist sicher. Zugleich ist eine systemische Einbindung über den Arbeitsmarkt gewährleistet B ausgenommen Frau Thelen, die als Rentnerin aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden ist. Alle drei haben sich ihre Wohnung selbst ausgesucht und leben unter räumlich ausreichenden Wohnbedingungen. Sie treffen auf vorhandene lebensweltliche Strukturen, an die sie sich ankoppeln können. Diese Lebensbedingungen geben den Raum dafür frei, sich im Quartier einzubinden, dort heimisch zu werden. Sind also einerseits die infrastrukturellen Bedingungen im Quartier bedeutsam, die die „metropolitane Routine“ individuell, aber auch im Zusammenspiel ermöglichen, wird es andererseits dann schwierig, wenn die strukturelle Einbindung für den Einzelnen nicht gegeben ist und politische Interventionsmöglichkeiten rechtlich verhindert werden. Unsere Studie über das urbane Leben in Ehrenfeld zeigt, dass Ehrenfeld keine Einheit darstellt und dass es in der modernen Stadt keine normative Integration geben kann. Im lokalen Alltag existieren verschiedene Inklusionsformen mit unterschiedlicher Gewichtung und Reichweite. Es wird deutlich, dass für das Funktionieren der sozialen Grammatik des urbanen Lebens primär die Einbindung des Einzelnen in die ökonomischen, rechtlichen oder politischen Strukturen konstitutiv ist. Wie die dargestellten Biographien zeigen, ermöglicht erst die adäquate strukturelle Eingebundenheit notwendige Freiräume für individuelle Entfaltung und biographische Entwürfe.
Routine in der differenzgeprägten metropolitanen Stadt
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Es ist kein Defizit, sondern ein wesentlicher Vorteil, dass für das Funktionieren des urbanen Zusammenlebens keine gemeinsamen Wertebekenntnisse als Bezugsrahmen notwendig sind, weil der Zusammenhalt des Stadtteils nicht primär durch eine gemeinsame Überzeugung, sondern durch systemische Inklusion garantiert werden kann, die durch Verständigungsprozesse immer wieder reorganisiert und in Fluss gehalten wird bzw. werden muss.
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Claudia Nikodem/Erika Schulze/Erol Yildiz
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Zum Umgang mit „Minderheitenghettos“
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Zum Umgang mit „Minderheitenghettos“ – Differenzen in der „Sozialen Stadt“ Zum Umgang mit „Minderheitenghettos“
Michael Krummacher Ausgehend von den Herausforderungen der Migration für eine nachhaltige Stadt(teil)entwicklung erörtert der Beitrag die Unterschiede zwischen sozialer und ethnischer Segregation sowie die Probleme und Ressourcen des Zusammenlebens in multiethnischen Stadtteilen. Am Beispiel der Bund-LänderProgramme „Soziale Stadt“ werden sodann Zwischenbilanzen zum Umgang mit Migration in der Programmumsetzung vorgestellt. Der Beitrag endet mit einigen Schlussfolgerungen zur Normalität der multiethnischen Stadtteile, deren Probleme und Ressourcen sachlich wahrgenommen und zum Ausgangspunkt für eine sozialintegrative Gestaltung interkulturellen Zusammenlebens in den Städten begriffen werden sollte.
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Zur multikulturellen Ausgangssituation in den Großstädten
Inzwischen ist weitgehend anerkannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass die westdeutschen Großstädte multikulturelle Stadtgesellschaften sind und auch künftig auf Zuwanderung angewiesen sind. Zur Normalität von Einwanderungsgesellschaften gehört, dass Zuwanderung neue Potenziale erbringt, aber auch Integrationsprobleme schafft und häufig interkulturelle Konflikte auslöst. Die historische und aktuelle Entwicklung aller Einwanderungsgesellschaften zeigt auch, dass gelingende Integration mit den Zielen annähernder Gleichberechtigung und Chancengleichheit und eines friedlichen interkulturellen Zusammenlebens von Zugewanderten und Alteingesessenen langfristige Prozesse auf Gegenseitigkeit sind, die Anstrengungen von den Migrant(inn)en, den Bürger(inne)n und Institutionen der Aufnahmegesellschaft und eine aktive Förderung auf allen staatlichen Ebenen erfordert. Letzteres gilt besonders für die kommunale Ebene, weil sich – abgesehen von rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen – gelingende oder misslingende Integration wesentlich „vor Ort“ in Betrieben, Schulen, Wohnquartieren und Nachbarschaften entscheidet. Die Gestaltung von Integration und
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Michael Krummacher
interkulturellem Zusammenleben bildet daher eine Querschnittsaufgabe und eine der wichtigen Herausforderungen nachhaltiger Stadtentwicklung. Die Studien und Sozialberichte zur (Groß-)Stadtentwicklung zeigen: Ihre Bevölkerung wird mittelfristig „weniger“ (Bevölkerungsabnahme), „älter“ (weniger Junge, mehr Ältere), „bunter“ (Migration und Vielfalt der Lebensstile) und „sozial ungleicher“ (sozioökonomische Ungleichheit und Sozialraumspaltung). Mit Blick auf die Sozialraumspaltung zeigen die Studien: Die Haushalte mit hohen, oft kumulativen Armutsrisiken – d.h. Langzeitarbeitslose, Kinder und Jugendliche, Frauen, insbes. Alleinerziehende, Kinderreiche und Migrant(inn)en – konzentrieren sich sozialräumlich in benachteiligten Wohnquartieren bzw. den „Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“ (soziale Segregation) und, fast alle dieser Stadtteile in Westdeutschland sind aufgrund hoher und steigender Migrant(inn)enanteile als multiethnische Quartiere zu charakterisieren (ethnische Segregation). Als benachteiligt bezeichne ich Stadtteile, in denen sich baulichräumliche und infrastrukturelle Defizite mit selektiven Abwanderungen mittelständischer Bewohner(innen) und der Konzentration, ggf. auch Zuwanderung verarmter Haushalte überlagern. In vierzig Jahren Einwanderungsrealität haben sich die sozioökonomischen und soziokulturellen Lebenslagen von Migrant(inn)enhaushalten in unseren Städten stark verändert und ausdifferenziert; allerdings ist eine anhaltende Unterschichtung erheblicher Teile nachweisbar. Die Migrant(inn)enhaushalte teilen sich in
Mehrheiten mit langer Aufenthaltsdauer und Bleibeabsichten (Einwanderinnen und Einwanderer) und Minderheiten mit begrenzter Verweildauer (Flüchtlinge, Pendelmigrant(inn)en, „Illegale“) mit meist prekären Lebenslagen; erhebliche Teile mit sozioökonomischer Unterschichtung (Arbeit, Einkommen, Wohnen, Bildung) und z.T. schlechter werdenden Bedingungen (Migrationsverlierer(innen)) und wachsende Minderheiten mit sozialer Aufstiegsmobilität (Migrationsgewinner(innen)); Mehrheiten mit geringen oder fehlenden politischen Partizipationsmöglichkeiten (Nicht-Unionsbürger(innen)) und wachsende Minderheiten mit gleichen Bürgerrechten (Eingebürgerte); große Teile mit erfolgreicher Integration in Bezug auf Sprache, Bildung, kulturelle Handlungsmuster und soziale Kontakte, Teile, die in dieser Hinsicht in ungeklärten Zwischenpositionen leben und Minderheiten mit deutlicher Betonung des Rückzuges in die eigene ethnische Gruppe.
Mit Blick auf die Wohnverhältnisse von Migrant(inn)enhaushalten gilt: Ihre Wohnverhältnisse haben sich nach Wohnungsgröße und -ausstattung in den
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vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert, die Wohneigentümeranteile steigen. Trotzdem sind sie sehr viel häufiger Mieter(innen) als Deutsche, leben in größeren Wohngebäuden, haben kleinere Wohnungen, zahlen häufig höhere Mieten und haben höhere Mietbelastungsquoten. Unter anderen hat das Statistische Bundesamt nachgewiesen, dass es „... einen eigenständigen Ausländereinfluss gibt, der bewirkt, dass Ausländer auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt sind“ (vgl. u. a. Integrationsbeauftragte Bund 2002: 322f.). Mit Blick auf die Integrationsleistungen und -erfolge der Migrant(inn)en ist es also falsch und unredlich, generalisierend von „gescheiterter Integration“ zu sprechen. Gleichwohl sind sozioökonomische und soziokulturelle Integrationsdefizite unübersehbar. Diese sind wesentlich auf soziale und rechtliche Benachteiligungen sowie auf eine unzureichende Integrationsförderung zurückzuführen.
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Zur Segregation in multiethnischen Stadtteilen
Der Diskurs zur Konzentration von Migrant(inn)en in multiethnischen Stadtteilen wird mit dem Tenor, sie sei Ausdruck mangelnder Integrationsbereitschaft und führe zu „Parallelgesellschaften“, oft populistisch geführt. Sachgerecht muss zwischen sozialer und ethnischer Segregation unterschieden werden (vgl. Häußermann/Siebel 2004: 153-195). Territoriale Segregationen bzw. sozialräumliche Konzentrationen von Bevölkerungsgruppen gab es in der Geschichte der Städte immer. Zu unterscheiden sind v. a. drei Formen: Soziale Segregation nach dem sozialen Status, ethnische Segregation nach der Herkunft und demografische Segregation nach Alter bzw. Lebenszyklusphasen. In den multiethnischen Stadtteilen überlagern sich oft alle drei Formen. Zudem müssen in demokratisch-pluralistischen Gesellschaften freiwillige und erzwungene Segregationen unterschieden werden. Freiwillige werden aktiv angestrebt, beruhen auf Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt und autonomen Entscheidungen der Haushalte. Die Motive sind unterschiedlich: Wohnungs-, Wohnumfeldpräferenzen, Lebensstil-, Nachbarschaftspräferenzen, Arbeitsplatznähe u.a.m. Erzwungene Segregationen beruhen auf fehlenden Wahlmöglichkeiten, müssen passiv hingenommen werden. Sie sind entweder status- und wohnungsmarktbedingt, gründen sich auf mangelnde Zahlungsfähigkeit und Diskriminierungsbarrieren des Wohnungsmarktes und/oder, sie werden administrativ, z.T. rechtlich erzeugt (Wohnungszuweisung durch Behörden, Platzierung von Unterkünften für Obdachlose und Flüchtlinge). Die soziale Segregation von wohlhabenden Haushalten ist fast immer freiwillig und wird auch nie als Problem wahrgenommen. Die Segregation von armen Haushalten ist oft erzwungen und bei der typischen Kombination aus sozialer
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Michael Krummacher
Segregation von (heterogenen) Armutsgruppen mit Raum- und Infrastrukturdefiziten in benachteiligten Stadtteilen drohen kumulative Effekte, die in sich selbst verstärkende Abwärtsspiralen individueller und kollektiver Benachteiligung münden, die nur sehr schwer umkehrbar sind. Demgegenüber hat die ethnische Segregation von Migrant(inn)enhaushalten für diese sowohl positive wie negative Effekte und wird von ihnen dementsprechend z. T. als freiwillige, z. T. als erzwungene wahrgenommen (s. Übersicht). „Unsinnig ... und zugleich diskriminierend ist es, wenn – wie in einer Vielzahl von Untersuchungen zur Stadtsanierung oder bei der Beantragung von Mitteln im Programm „Soziale Stadt“ – der Ausländeranteil eines Wohnquartiers als Indikator für einen sozialen Brennpunkt genommen wird.“ (Häußermann/ Siebel 2004: 188)
Tabelle 1: Positive und negative Aspekte von ethnischer Segregation Positiv
Negativ
Voraussetzung für die Integration von Migrant(inn)en durch die Ausbildung von ethnischen Infrastrukturen, Netzwerken als Integrationsund Lebenshilfen
Bei hohem Segregationsgrad und Überlagerung mit sozialer Segregation erschwerte Integration von Migrant(inn)en
Relativ konfliktarmes Zusammenleben in ethnisch-sozial homogenen Hausgemeinschaften
Geringe Berührungspunkte von Migrant(inn)en mit der deutschen Kultur und erschwerter Spracherwerb
Ausbildung von eigenen Regeln/ Normen für friedliches Zusammenleben im Wohnquartier
Gefahr des Rückzugs in die eigene Kultur, ethnische Netzwerke oder die Familie mit hohem Gruppendruck
Schaffung von Arbeitsplatz- und Versorgungspotentialen durch ausländische Selbständige
Ausbildung einer Kultur der Armut („Armutsfalle“)
Bedeutende familiale und nachbarschaftliche Selbsthilfepoten-ziale
Möglichkeiten der Stigmatisierung eines Quartiers und Gefahr des Ausschlusses von Minderheiten
Quelle: ILS NRW 2004: 14; z.T. ergänzt durch Krummacher Daraus folgere ich: Soziale Segregation in benachteiligten Stadtteilen ist meist erzwungen und mündet oft in negative Abwärtsspiralen individueller und kollektiver Benachteiligung. Demgegenüber hat ethnische Segregation positive wie
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negative Effekte, sie ist z. T. freiwillig, z. T. erzwungen. Mit Blick auf die Integrationsprobleme und Konflikte in multiethnischen Stadtteilen behaupte ich, dass die soziale Frage und nicht die ethnische Zusammensetzung ihrer Bewohner(innen) das eigentliche Hauptproblem ist. Im Rahmen der (begrenzten) Handlungsmöglichkeiten von Kommunen, privatwirtschaftlicher Akteurinnen und Akteure (maßgeblich der Wohnungswirtschaft) und gemeinnützigen Trägern sozialer Arbeit geht es m. E. darum, erzwungene Segregation vor allem über erweiterte Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt abzubauen und die positiven Effekte freiwilliger Segregation als Ressource zur Stabilisierung des Stadtteils zu fördern. Infolgedessen und vor dem Hintergrund der Bevölkerungsprognosen ist das bisher geltende Leitbild der „gesunden sozialen Mischung“, das oft als ethnische Mischung einer gleichmäßigen Verteilung der Migrant(inn)en in der Gesamtstadt verstanden wird, kritisch zu hinterfragen. Ethnische Segregation wird angesichts aller Prognosen Normalität sein und sollte daher weniger als Problem, sondern vielmehr als Chance begriffen werden (vgl. ILS-NRW 2004: 16).
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Zusammenleben und interkulturelle Konflikte in multiethnischen Stadtteilen
Viele Studien, selektive Wahrnehmungen – z. T. von innen, noch mehr von außen – sowie viele Medienberichte betonen ein hohes und zunehmendes Ausmaß interkultureller Konflikte in den multiethnischen, zugleich sozial segregierten Stadtteilen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Von Ghetto-Bedingungen der Armutsquartiere z. B. in anderen europäischen und amerikanischen Großstädten mit ihrem hohen Gewaltpotenzial ist die Situation in den deutschen multiethnischen Quartieren noch weit entfernt. Im Alltagsleben überwiegt ein friedlich-distanziertes und oft gelingendes Neben- und Miteinander der verschiedenen Bewohner(innen)gruppen (vgl. v. a. Bukow/Yildiz 2002). Die Alltagskonflikte sind meist die gleichen, wie anderswo auch. Allerdings: Unter der Oberfläche des friedlichen Nebeneinanders bestehen häufig eine große gegenseitige Distanz, Vorurteile, Unkenntnis und Vorbehalte hinsichtlich der jeweils anderen Formen der Lebensgestaltung. Und: Wenn sich bei Bewohner(innen)konflikten Migrant(inn)en und Einheimische gegenüberstehen, werden Alltagskonflikte ethisch definiert und damit zu interkulturellen Konflikten (vgl. LzZ-NRW 2004). Aus der Sicht meiner Studien sind weder Verharmlosungen, noch Dramatisierungen angemessen. Generell müssen die großen Integrations- leistungen und -lasten von Migrant(inn)en und Einheimischen in den multiethnischen Stadteilen
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anerkannt werden, die diese stellvertretend für die Bewohner(innen) der „migrantenfreien“ Stadtteile übernehmen. Im Dialog über die multiethnischen Stadtteile sollte dies stärker als bisher anerkannt und förderpolitisch honoriert werden. Einerseits wird die Gesamtsituation der multiethnischen Quartiere geprägt durch sozioökonomische Problem- und Notlagen, die zusammen mit den räumlichen Defiziten zu Konflikten und Konkurrenzen um knappe Ressourcen (Arbeit, Einkommen, Wohnen, Bildung, soziale Infrastruktur) führen und in gegenseitige Abschottung, interkulturelle Konflikte, Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft münden können. Andererseits bestehen in den multiethnischen Quartieren durchaus endogene Potenziale und Ressourcen, die – sofern sie erkannt, aktiviert und gefördert werden – gute Ansatzpunkte für eine sozialverträgliche Stabilisierung und Verbesserung der Lebenslagen bieten und damit zum Abbau interkultureller Konflikte beitragen können. Eine wichtige Chance bilden hierbei die Ressourcen und Selbsthilfepotenziale der Migrant(inn)en. Abbildung 1:
Potenziale von Migrant(inn)en zur Stabilisierung multiethnischer Stadtteile
Lokale Ökonomie und Infrastrukturen Aufbau einer Migrant(inn)enökonomie mit bedeutsamen Investitionen, Arbeitsplatzeffekten und Ausbildungspotenzialen; Vergleichsweise hohe Kaufkraft, die zunehmend lokal gebunden ist; teilweise Kompensation der Rückzüge deutscher Investor(inn)en im Handels- und Dienstleistungsbereich mit preiswerten und guten Angeboten für alle Einwohner(innen). Wohnen und Wohnumfeld erhebliche Selbshilfepotenziale bei der Wohn-, Wohnumfeld- und Raumnutzungsgestaltung Schaffung eines multikulturellen Stadtteilambientes (Gastronomie, öffentliches Leben, Plätze und Einrichtungen) Soziale Netze Vergleichsweise intakte familiale und nachbarschaftliche Unterstützungsnetze Soziokulturelle und religiöse Migrant(inn)envereine als soziale Netze, bedeutsames Selbsthilfepotenzial und Ressource der Aktivierung Zusammenstellung Krummacher
Zum Umgang mit „Minderheitenghettos“
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Ohne die Probleme und „Schattenseiten“ von hoher ethnischer und sozialer Segregation in Frage zu stellen und, ohne die z. T. bedrückenden internen Konflikte von scheinbar „intakten“ Familien- und Nachbarschaftsnetzen in ethnischreligiösen Netzwerken bestreiten zu wollen – letztere beinhalten oft ein hohes Maß von sozialer Kontrolle und Ausgrenzung von „Abweichenden“ – gilt aus meiner Sicht: Auch Gebiete mit hohen Migrant(inn)enanteilen können sozial stabil sein und sind es auch oft. Die ansässigen Migrant(inn)en bieten erhebliche Ressourcen zu ihrer ökonomischen und sozialen Stabilisierung (s. Übersicht). In den Blick von Politik und Planung sollte daher stärker Strategien einer sozialen und interkulturellen Stabilisierung über eine sozialintegrative Stadt(teil)politik kommen.
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Strategien des Umgangs mit Migration in den Programmen „Soziale Stadt“
Beim Umgang mit benachteiligten Stadtteilen bzw. Armutsquartieren hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass das übliche Nebeneinander sektoraler Politikund Planungsansätze aus städtbaulichen Maßnahmen und davon getrennten sozialpädagogischen Maßnahmen die negativen Abwärtsspiralen aus räumlicher und sozialer Benachteiligung nicht aufzuhalten vermag. Nicht wenige prototypische Armutsquartiere haben jahrzehntelange, ziemlich erfolglose Programmkarrieren hinter sich. Aufgrund dieser Erkenntnis wurden seit Anfang der 1990er Jahre zunächst von einigen Bundesländern (in NRW seit 1993), seit 1999 vom Bund „integrierte Handlungsprogramme/-konzepte“ zur Stadtteilerneuerung aufgelegt. Sie ermöglichen Lösungsansätze zur sozialräumlichen Stabilisierung, darunter auch der Gestaltung des interkulturellen Zusammenlebens in multiethnischen Stadtteilen. Die Eckpunkte der Programmphilosophie „Soziale Stadt“ lauten (vgl. DIFU 2003):
Integrierte Handlungskonzepte aus städtebaulichen, ökonomischen und nicht-investiven Maßnahmen mit den Schwerpunkten städtebauliche Verbesserungen, Ergänzung der Infrastruktur, wohnungswirtschaftliche Verbesserungen, lokale Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung, sozialpädagogische Maßnahmen und Ausbau der Gemeinwesenarbeit; Ressortübergreifende Bündelung von Ressourcen und Fördermitteln; Beteiligung und Aktivierung der betroffenen Bewohner(innen); Neue Verwaltungs- und Managementstrukturen („Quartiersmanagement“); Aktivierende Programmbegleitung und -evaluation mit Blick auf Übertragbarkeiten.
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Die nachfolgende Übersicht zeigt die zentralen Handlungsfelder auf. Abbildung 2:
Handlungs- und Politikfelder im Bundesprogramm „Soziale Stadt“
Arbeit + Soziales
Wirtschaft + Soziales
Wohnen + Städtebau
Bund-LänderProgramm: Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt
Umwelt
Familie + Jugend
Verkehr
Sicherheit Bildung + Kultur + Freizeit
Quelle: Döhne/Walter 1999: 26 Derzeit sind rd. 300 Stadtteile in über 200 Kommunen in das Programm „Soziale Stadt“ eingebunden. Für das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ liegen fünfjährige, für das entsprechende NRW-Programm über zehnjährige jeweils gut dokumentierte Umsetzungserfahrungen vor. In meinen nachfolgenden Thesen zur Programmumsetzung beschränke ich mich auf den Themenaspekt des Umgangs mit Migration. Grundlage der Thesen bilden die Auswertung von Evaluationsberichten sowie eigene empirische Studien v. a. in Nordrhein-Westfalen (vgl. DIFU 2003; Krummacher u. a. 2003; Krummacher 2004 a, b). Mit Blick auf Migration und Interkulturalität beurteile ich in der Programmumsetzung positiv: Im professionellen Diskurs von Praxis und Wissenschaft zur „Sozialen Stadt“ wird Migration nunmehr nicht mehr nur primär als Problem, sondern zunehmend als Herausforderung und Ressource nachhaltiger Stadt(teil)ent-wicklung anerkannt. Neben fachwissenschaftlichen Diskursen gilt dies nicht zuletzt für die Ergebnisse von Auftragsstudien (z.B. des Landes NRW), die Handlungsempfeh-
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lungen zuständiger Ministerien für die Landes- und Kommunalpolitik sowie für die gezielte Förderung von interkulturellen Projekten. Zum Teil unabhängig vom Programm „Soziale Stadt“, zum Teil in Verbindung damit haben einige Kommunen Integration und interkulturelle Orientierung in den Leitzielkatalog ihrer Stadtentwicklung aufgenommen und interkulturelle Gesamtkonzepte entwickelt (z.B. Essen). In zahlreichen Good-Practice-Projekten in den Programmstadtteilen dominieren direkt oder indirekt Aspekte zur Förderung des Abbaus der Benachteiligung von Migranten, des Umgangs mit interkulturellen Konflikten und der Förderung von interkulturellem Zusammenleben. Zu nennen sind Projekte in den Handlungsfeldern Wohn- und Wohnumfeldverbesserung, lokale Ökonomie, Bildung, Beschäftigung und Qualifizierung, soziale Infrastruktur und Soziokultur. Dies zeigt auch gut die Dokumentation „Preis Soziale Stadt 2004“ (vgl. GDW 2004). Als Defizite im Umgang mit Migration und Interkulturalität in der „Sozialen Stadt“ sehe ich: In den Anträgen vieler Städte zur Aufnahme in das Programm „Soziale Stadt“ werden hohe Migrant(inn)enanteile oft als Hauptindikator für Quartiersprobleme definiert und in den Zielen der Quartierserneuerung das Leitbild „gesunder sozialer Mischung“ propagiert, wobei Mischung vor allem auf Zuzug deutscher Mittelstandshaushalte und die Senkung der Migrant(inn)enanteile abzielt. In Übereinstimmung mit dem aktuellen Sozialstaatsumbau („Agenda 2010“, „Hartz-Gesetze“), den Sozialleistungskürzungen auf allen politischen Ebenen wird auch in den „Soziale Stadt“-Programmen der Aktivierungsgrundsatz „Fördern und Fordern“, zunehmend als strafbewehrtes Fordern und Kontrollieren ausgelegt. Dadurch wird die sozialintegrative Reichweite von Good-PracticeProjekten (nicht nur) für Migrant(inn)en immer enger. Hinzu kommt: In der Folge einerseits der verschärften Sicherheits- und Ordnungspolitik, andererseits der Anti-Terrorpolitik rücken auch bei zahlreichen Stadtteilprojekten ordnungs- und sicherheitspolitische Ziele in den Vordergrund der Quartierserneuerung. Die Ordnungsmaßnahmen richten sich nach dem Vorbild der Broken-Windows-Theorie und der Zero-Tolerance-Strategie schwerpunktmäßig gegen abweichende Minderheiten wie Suchtkranke und auffällige Jugendliche, darunter viele Migrant(inn)enjugendliche (vgl. Eick 2004; Krummacher 2005). Die Anti-Terrormaßnahmen stellen muslimische Migrant(inn)en häufig unter Generalverdacht und vergiften das Klima interkulturellen Zusammenlebens. Problematisch sind schließlich Programmbefunde, die zeigen, dass die propagierte Bürgerbeteiligung im Quartiersmanagement auf der Steuerungsebene der Verwaltung vor allem „top-down“ erfolgt und auf der Quartiersebene bildungsund durchsetzungsschwache Minderheiten, darunter auch die Migrant(inn)enhaushalte oft nicht erreicht.
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Meine gespaltene Zwischenbilanz zur Programmumsetzung lautet daher: Einerseits werden im migrationsbezogenen Diskurs und der Praxis der „Sozialen Stadt“ die Herausforderungen und Chancen unserer „bunter“ werdenden Stadtgesellschaften zunehmend gesehen und eingefordert; dafür stehen in der praktischen Umsetzung zahlreiche gute Einzelprojekte. Andererseits sind im öffentlichen und politischen Diskurs vieler lokaler Akteurinnen und Akteure noch immer Sichtweisen verbreitet, die Migration und Integration einseitig als Problem und Anpassungsdefizit der Migrant(inn)en und nicht als Chance zur Gestaltung sehen. Abgesehen von den Widersprüchen der staatlichen Migrationspolitik zwischen dominierender Abschottung, Abwehr und Begrenzungspolitik und vorsichtiger Integrationsförderung (dafür beispielhaft das neue ZuwG), schlägt sich dies auch in der Programmumsetzung nieder. Insofern ist es noch ein weiter Weg zur Durchsetzung einer interkulturellen Orientierung als Mainstream sozial-emanzipativer Stadt(teil)entwicklung.
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Fazit und Schlussfolgerungen
Der Beitrag sollte zeigen, dass mit Bezug auf die Situation multiethnischer Stadtteile soziale und ethnische, sowie erzwungene und freiwillige Segregationen unterschieden werden müssen. Soziale Segregation ist meist erzwungen (Sozialstatus und Ausschluss von anderen Wohnungsteilmärkten). Ethnische Segregationen können freiwillig oder erzwungen sein und werden von den Betroffenen sehr unterschiedlich bewertet. Erzwungene Segregationen sollte durch Schaffung von Wahlmöglichkeiten der Betroffenen, d.h. vor allem über sozialintegrative Strategien abgebaut werden (Bildung, Arbeit, Öffnung von Wohnungsmärkten, Wohnumfeld- und Infrastrukturverbesserungen). Dazu gehört auch eine aktive Anti-Diskriminierungspolitik. Freiwillige Segregation sind in demokratisch-pluralistischen Stadtgesellschaften zuzulassen; sie sind kein genereller Hinweis auf „fehlende Integrationsbereitschaft“ und können durchaus zur Stabilisierung von Lebenslagen in benachteiligten Stadtteilen beitragen. Die Aktivierung vorhandener Ressourcen, wenn sie gewollt und selbst bestimmt sind, ist möglich. Anstelle populistischer Diskussionen zu „Parallelgesellschaften“ als Schreckgespenst multikultureller Stadtgesellschaften sollte die Normalität multiethnischer Stadtteile mit ihren Problemen und Ressourcen wahrgenommen, die großen Integrationsleistungen ihrer Bewohner(innen) anerkannt und honoriert werden sowie als Herausforderung für eine sozialintegrative Gestaltung interkulturellen Zusammenlebens in den Städten begriffen werden.
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Die quartiersbezogenen Ansätze sozialintegrativer Stadtteilpolitik gelten auch in kritischer Sozialwissenschaft als angemessene Antwort zur Stabilisierung und Verbesserung interkulturellen Mit- und Nebeneinanders in multiethnischen Stadtteilen. Die bisherige Umsetzung der Programme „Soziale Stadt“ erfüllen die in sie gesetzten hohen Erwartungen leider nicht. Good-Practice- Beispiele gibt es, sie auszuwerten und auf Übertragbarkeiten zu prüfen, macht Sinn. Für ebenso wichtig halte ich es, dass sich die beteiligten Professionen, anwaltlichpolitisch in den Dialog für eine sozialintegrative interkulturelle Stadt(teil)politik einmischen. Literatur BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2000): Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Sechster Familienbericht. Berlin. Bukow, Wolf-Dietrich/Yildiz, Erol (2002): Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Ist die multikulturelle Stadt gescheitert oder wird sie zu einem Erfolgsmodell? Opladen. GDW-Gesamtverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. (Hrsg.) (2004): Preis Soziale Stadt 2004. Dokumentation. Berlin. DIFU – Deutsches Institut für Urbanistik, (Hrsg.) (2003): Strategien für die Soziale Stadt. Bericht der Programmbegleitung. Berlin. Eick, Volker (2005): „Ordnung wird sein ...“ Quartiersmanagement und lokale Sicherheitspolitik. In: Wohlfahrt, Norbert; Dahme, Hans-Jürgen (Hrsg.): Aktivierende Soziale Arbeit. Konzepte – Handlungsfelder – Fallbeispiele. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie. Eine Einführung. Frankfurt/New York. ILS-NRW – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) (2004): Belegungsmanagement in der integrierten Stadtentwicklung. Dortmund. Integrationsbeauftragte Bund – Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.) (2004): Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin. Krummacher, Michael/Kulbach, Roderich/Waltz, Viktoria/Wohlfahrt, Norbert (2003a): Soziale Stadt, Sozialraumspaltung, Quartiersmanagement. Herausforderungen für Politik, Raumplanung und Soziale Arbeit. Opladen. Krummacher, Michael (2004a): Kommunale Integrationspolitik und interkulturelles Quartiersmanagement in multiethnischen Stadtteilen. In: Treichler, Andreas/Cyrus, Norbert (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt am Main, S. 269-291. Krummacher, Michael (2004b): Hohe Erwartungen nicht erfüllt. Aktivierung und Bürgerbeteiligung in der Programmumsetzung „Soziale Stadt“. In SOZIALMAGAZIN, Heft 10/ 2004, S. 40-51. Krummacher, Michael (2005): Sauber – Sicher – Schön. Die „Soziale Stadt“ im Sozialstaatsumbau.
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Urbanität und Diversität. Zur Verhandlung von Fremdheit in der Berliner Stadtentwicklungspolitik1 Urbanität und Diversität
Beate Binder „Nicht jedes Stadtleben ist modern; doch jedes moderne Leben ist ein Stadtleben“, schreibt Zygmunt Bauman in seinem Essay „Ein Wiedersehen mit dem Fremden“ (Bauman 1997). Doch noch immer sind Städte die Orte, die als paradigmatisch für die stete Konfrontation mit Diversität als einer Grunderfahrung der Moderne gelten. Denn „Stadtleben findet unter Fremden statt“, und: „man bewegt sich durch einen von anderen bevölkerten Raum, die von ähnlichen Bedürfnissen gelenkt werden und deren Bewegungen man entsprechend einkalkulieren muss, während man seiner eigenen Bahn folgt.“ (ebd.)
Zygmunt Bauman betont eindrücklich die Ambivalenz dieser Erfahrung. Die Konfrontation mit der Diversität möglicher Lebensformen und -entwürfe ist reizvoll und zugleich Grundlage für die Kreativität urbaner Kultur, die gerade von Momenten der Überraschung und der Unvorhersehbarkeit lebt (vgl. Hannerz 1993). Andererseits ist dies auch bedrohlich und weckt Ängste, eben weil Städter(innen) in der post-traditionalen Ordnung der Stadt mit immer wieder anderen Möglichkeiten der Lebensgestaltung konfrontiert werden, die den eigenen Entwurf in Frage zu stellen vermögen. „Das Geheimnis städtischen Glücks“, so folgert Bauman, „liegt in dem Wissen, wie man das Abenteuer, das durch jene Unterdetermination des eigenen Bestimmungsortes und Reiseweges herbeigeführt wird, intensiviert, während man gleichzeitig die Bedrohung, die aus einer ähnlichen Unterdetermination anderer Fremder herrührt, eindämmt oder entschärft“, und, so Bauman weiter: „Das Ideal einer glücklichen Stadt verlangt nach einem Kompromiss, der eine subtile Balance zwischen Möglichkeiten und Gefahren ansteuert und einen ‚Ausgleich‘ zwischen widerstreitenden Anforderungen bewirkt.“ (Bauman 1997: 206)
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Der Vortragsstil dieses Beitrags wurde – nicht zuletzt auf Grund des zur Verfügung stehenden Raums – weitgehend beibehalten und damit auch eine teilweise polemische Zuspitzung der vorgetragenen Thesen.
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Im Folgenden möchte ich im Anschluss an diese Überlegungen der Frage nachgehen, wie in der gegenwärtigen Stadtentwicklungspolitik Urbanität und Diversität verhandelt werden, wie also Fremdheit und die Konfrontation mit Fremdheit in eine Politik der Stadtentwicklung integriert werden. Da Stadtentwicklungspolitik das Ziel hat, so könnte man in Bezugnahme auf Zygmunt Bauman metaphorisch überhöht sagen, die Rahmenbedingungen für „das Ideal einer glücklichen Stadt“ zu schaffen, gibt, so meine Vermutung, dieses Politikfeld in besonderer Weise über den Status des Fremden in der Gesellschaft Auskunft.2 Ohne in diesem Rahmen auf die Konstitutionsbedingungen eingehen zu können, begreife ich Stadtentwicklungspolitik aushilfsweise als ein komplexes politisches Handlungsfeld (vgl. Strom/Mollenkopf 2004): Strukturiert durch ökonomische Interessen, reguliert durch institutionelle bzw. juridische Regelwerke, bestimmt auch durch Förderprogramme, die unter lokalen Bedingungen in konkrete Handlungsstrategien umgesetzt werden3, stellt sich Stadtentwicklungspolitik auch als ein Politikbereich dar, der ganz wesentlich durch normative Leitbilder bestimmt wird. Denn wie in allen Politikfeldern werden Zukunftsvisionen und Handlungsziele auch hier in Metaphern und Begriffen gebündelt, die gesellschaftliche, soziale und kulturelle Vorstellungen transportieren (vgl. Shore/Wright 1997, besonders S. 19ff.; auch Löfgren 2000): Leitbilder und Metaphern stecken Handlungsoptionen ab und wollen aktivieren, hin auf eine im Begriff plastisch werdende Zukunft. Grundsätzlich hat der Druck, den Globalisierungsprozesse auf Städte ausüben und der zu einem neuen Konkurrenzgefüge wie zu veränderten Wettbewerbsmechanismen unter Städten geführt hat, auch neuen Realisierungsstrategien für die allgemeine Zielstellung von Stadtentwicklungspolitik hervorgebracht. So sind etwa (und für den hier diskutierten Kontext besonders wichtig) die klassischen Felder weicher und harter Standortvorteile auf neue Weise miteinander verwoben. In den Mittelpunkt gegenwärtiger Stadtentwicklungsstrategien ist das imagineering gerückt, die strategische und zielgeleitete Produktion von Bildern und Vorstellungen, durch die die spezifische Attraktivität einer Stadt als Investitions- wie Lebensort betont und vermarktet wird (vgl. etwa Kearns/Philo 1993; Pergamon 1995). Auf der anderen Seite reagiert Stadtentwicklungspolitik auf die zunehmende räumliche wie soziale Segregation, in der übergreifende globale Prozesse im lokalen städtischen Raum Wirklichkeit werden.
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Bauman selbst sieht allerdings in der Stadtplanung die Disziplin der Moderne, die konsequent das Fremde und damit alle zufällige Begegnung auszumerzen versucht hat (ebd.: 208f.). Mit der Verabschiedung der „großen Erzählungen“ haben sich jedoch auch die Grundlagen von Stadtplanung und Stadtentwicklungspolitik verschoben. Hingewiesen werden soll hier nur auf das Bund-Länder-Programm „Die soziale Stadt“ und das EU-Programm URBAN I + II, die mit ihren jeweiligen Förderrichtlinien auch in Entscheidungsprozesse lokaler Stadtpolitik eingreifen.
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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen entwirft Stadtentwicklungspolitik Konzepte und Ordnungen urbanen Lebens und sucht Leitlinien für die zukünftige Entwicklung festzuschreiben. Viele der gegenwärtigen Bemühungen werden dabei im Begriff der Urbanität gebündelt.4 Die Herstellung von Urbanität, die dicht konnotiert ist mit Momenten der Dichte und Heterogenität (vgl. Häußermann/Siebel 1997), ist eins der zentralen Entwicklungsziele gegenwärtiger Stadtpolitik. Zum Teil scheint der Begriff dabei mit utopischen Verweisen auf eine mögliche in der Zukunft liegende Stadtgesellschaft konnotiert, zum Teil auch in nostalgischer Rückbesinnung mit einer nicht mehr vorhandenen urbanen Lebenswirklichkeit verknüpft, etwa dann, wenn er mit dem Konzept der europäischen Stadt zusammengebracht wird. Meist schwingen Vorstellungen von einem „guten Leben“ und einem zivilgesellschaftlichen Miteinander mit, wenn im stadtpolitischen Diskurs von Urbanität die Rede ist. Doch im gegenwärtigen Diskurs um Stadt und Urbanität wird auffälligerweise die Erfahrung von und mit Diversität und Fremdheit meist auf die Erfahrung mit ethnisch nicht deutschen Menschen und Gruppen5 reduziert, während dem gegenüber etwa soziale, geschlechtliche, generationelle oder sexuelle Differenzen fast gänzlich unbenannt bleiben. Migrant(inn)en, die sich in deutschen Städten einrichten und ihre Lebensentwürfe zu realisieren versuchen, werden dabei einerseits im Sinne der Multikultur als Bereicherung beschrieben, scheinen aber zugleich bedrohlich, weil sie die bestehende gesellschaftliche Ordnung in Frage zu stellen scheinen. Während in den 1960er und 70er Jahren die Institutionen Arbeit und Schule die Inkorporation der „Fremden“ noch zu garantieren schienen, funktionieren diese gesellschaftlichen Integrationsmechanismen gegenwärtig kaum noch. Letztlich liegt das bedrohliche Potenzial des Schlagwortes von der Parallelgesellschaft genau darin begründet, dass völlig unklar zu sein scheint, wie die Balance von Fremdheit und Heimat, von Freiheit und Gemeinschaft in Städten als Grunderfahrung vor dem Hintergrund einer als immer diverser wahrgenommenen Bewohner(innen)schaft noch herzustellen ist. Häufig werden ethnische Minderheiten dafür in die Verantwortung genommen und soziale Konflikte und Differenzen auf diese Weise kulturalisiert.6
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Ein Aspekt, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, ist die Verschränkung von sozialwissenschaftlichem Diskurs und Stadtentwicklungspolitik im Begriff der Urbanität, denn dieser strukturiert in schillernder Uneindeutigkeit sowohl als analytische Kategorie die sozialwissenschaftliche Stadtforschung als auch als metaphorisch aufgeladenes Leitbild Stadtentwicklungspolitik. Vergleichbar der Rede von race in den USA ist auch im deutschen Diskurs deutlich, dass nur das „Andere“, also das „ethnisch Fremde“ markiert wird, nicht jedoch das „Eigene“, also die Zugehörigkeit zur deutschen Ethnie (vgl. hierzu einführend Dyer 2003). Zum Begriff der Kulturalisierung vgl. Wolfgang Kaschuba (1995).
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Im Folgenden werde ich am Beispiel Berlins unterschiedliche Felder der Stadtentwicklungspolitik danach befragen, wie in ihnen die Rolle von ethnischen Minderheiten jeweils verhandelt wird. Grundsätzlich scheint mir diese Frage deshalb relevant zu sein, weil durch die Strategien der Stadtentwicklungspolitik auch Wahrnehmungsweisen des Urbanen konstituiert und sozialen Gruppen je eigene Handlungsräume in der Stadt zugewiesen werden.7 Ich folge für meine Betrachtung dem Vorschlag von Elizabeth Strom und John Mollenkopf, die verschiedenen Ansätze, die Entwicklung der Stadt zu gestalten, unter drei Leitmotiven zu bündeln: das Leitmotiv des Wirtschaftswachstums, das ästhetisch/ technische Leitmotiv und das Heimat- oder Nachbarschafts-Leitmotiv (Strom/ Mollenkopf 2004: 286f.). Obwohl diese Trennung idealtypisch ist – letztlich stehen alle stadtentwicklungs-politischen Maßnahmen unter dem Druck, kommunale Daseinsvor- und -fürsorge im Sinne ökonomischer und sozialer Stabilität und Prosperität umzusetzen und greifen dabei ineinander –, ist sie hilfreich, um die auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Strategien zu ordnen.
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Leitmotiv Wirtschaftswachstum
Im Bereich der Wirtschaftsförderung wird die Widersprüchlichkeit des Umgangs mit dem bzw. den Fremden besonders deutlich, wenn man die Anstrengungen, die die Ansiedlung von cultural industries befördern wollen, in Beziehung setzt zu denjenigen, ethnische Ökonomien in die Stadtwirtschaft zu integrieren. Cultural industries basieren auf der Kreativität und Spontaneität urbaner Kultur. Sie sind nur in einer Atmosphäre denkbar, die Erfahrungen der Überraschung und des Unerwarteten zulässt. Im Zwischenbericht der Enquetekommission „Eine Zukunft für Berlin“ heißt es dazu: „Die stärkste Clusterbildung [im Bereich der dienstleistungsbasierten Wirtschaftsentwicklung, BB] findet sich im Bereich der Kultur- und Medienindustrie, zu der neben Film, TV, Multimedia und Musikproduktion auch Printmedien, Designagenturen und die Werbewirtschaft gehören. Dabei besteht ein enger Entwicklungszusammenhang zwischen den kommerziellen Kultur- und Medienunternehmen und den vielfältigen subkulturellen Milieus, die zusammen die besonders kreative Atmosphäre Berlins hervorbringen.“8
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Zum Zusammenhang von politischen Strategien und Lebenskonzepten vgl. Shore/Wright 1997. Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Eine Zukunft für Berlin“ (2004). Dies ist die jüngste Zusammenfassung der Leitlinien und Handlungsfelder, durch die eine Weiterentwicklung und Neuorientierung der Berliner Wirtschaft erreicht werden soll. Für diesen Hinweis danke ich Cordula Gdaniec und Alexa Färber.
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Cultural industries benötigen Freiraum und müssen zugleich kanalisiert und kontrolliert werden, sollen sie für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt nutzbar gemacht werden. Die Ausweisung von Arealen als mögliche Standorte sowie die Subvention von Ateliers und Studios ist Bestandteil einer Wirtschaftsförderungspolitik, die darauf setzen muss, dass sich die Akteur(innen) der Kreativbereiche in die (neo-liberalen) Spielregeln des Marktes einfügen, indem sie sich diese zunutze machen, und dies damit letztlich der städtischen Ökonomie zugute kommt. Ambivalenter beschreibt derselbe Bericht ethnische Ökonomien, die als Teil der „förderungswürdigen Strukturen des lokalen, kleinteiligen Gewerbes“ folgendermaßen thematisiert werden: „Zur Stadtteilwirtschaft gehören auch die so genannten ‚Ethnischen Ökonomien‘ mit eigenen Wirtschaftskreisläufen. Darüber hinaus existiert eine entwickelte Schattenwirtschaft, die in Berlin vor allem eine Multikulti-Schattenwirtschaft ist und innovative Potenziale enthält.“ (ebd.)
Unter dem Stichwort der „offenen Diskussionslinien“ wird dazu weiter ausgeführt: „Schattenwirtschaft hat einerseits negative Wirkungen, enthält aber andererseits ein hohes wirtschaftliches und kreatives Potenzial. Es ist zu prüfen, wie Politik und Verwaltung dazu beitragen können, aus der Schatten- eine offizielle Wirtschaft zu machen.“ (ebd.: 6)
Denn auch eine „Multi-Kulti-Schattenwirtschaft“ ist aus städtischer Sicht erst dann nützlich, wenn sie in die offizielle städtische Ökonomie eingebunden werden kann. Doch eine „Multi-Kulti-Schattenwirtschaft“ kann zugleich als Selbsthilfe fungieren. So besteht auf der einen Seite die Hoffnung, dass ethnische Ökonomien angesichts der schwindenden Integrationskraft des offiziellen Arbeitsmarktes positive Effekte auf die Stärkung der Eigeninitiative haben und sozial inkludierend wirken können. Doch zugleich wird der Grad hin zu Schwarzarbeit und mafiosen Strukturen als schmal wahrgenommen. Wenn cultural industries und ethnischen Ökonomien gegenüber gestellt werden, so werden im Grunde soziale Differenzen verhandelt, nämlich die differierenden Möglichkeiten von Subjekten, auf soziale, kulturelle und ökonomische Ressourcen für ökonomisches Handeln zurückgreifen zu können. Doch in dem Enquetebericht wird die Trennlinie zwischen unterschiedlich erfolgreichen Strategien, sich in der städtischen Ökonomie zu etablieren, vorrangig entlang ethnischer Zugehörigkeit gezogen – auch wenn genau diese Grenze zwischen cultural industries und lokalen ethnischen Ökonomien kaum eindeutig verlaufen dürfte.
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Denn auch ethnische Identitäten und Repräsentationen werden in der Produktion der cultural industries zu Material und Ressource für kulturelle Neuschöpfungen, etwa als Musik, literarische Texte oder location, und diese Produktion wird auch von Migrant(inn)en vorangetrieben.9
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Das ästhetisch/technische Leitbild
Im Kontext des ästhetisch/technischen Leitbilds hat Stadtentwicklung die Aufgabe, architektonische, historische oder repräsentative Bedeutungen und Werte im städtischen Raum zu schaffen oder zu erhalten. Nach 1989, als weite Areale der Innenstadt neu zu gestalten waren, wurde die Rekonstruktion des historischen Stadtbildes zu einem wichtigen Kriterium für den Weiter- bzw. Umbau Berlins. Auch die Entstehung der neuen Dienstleistungszentren ist vor der Folie historisch gesättigter Bilder legitimiert worden (vgl. Binder 2001). Durchgesetzt hat sich dabei eine Architektursprache, in der sich Tradition und Moderne so verbinden, dass trotz immer gleicher Gestaltungselemente identifizierbare Orte entstehen. Durch die Sanierung von Altbaubeständen und so genannten historischen Wahrzeichen, durch die Rekonstruktion der historischen Stadt und die Umnutzung alter industrieller Standorte konnte das spezifische Bild der Stadt gestärkt und diese in ihrer Unverwechselbarkeit herausgestellt werden (Boyer 1992; Philo/Kearns 1993). In dem Maß, in dem Geschichte für das „selling places“ nach außen nutzbar gemacht wird, sollen zugleich identitäre Bezugspunkte auch für die Bewohner(innen) der Stadt geschaffen werden. Das ästhetisch/ technische Leitbild, das sich in historischer Rekonstruktion und der Ausweisung einer Berliner Architektursprache materialisierte, setzt dabei zuallererst auf historische Tradition sowie auf einen gemeinsam geteilten Gedächtnisraum. In diesem Sinn beschreibt etwa Senatsbaudirektor Hans Stimmann die bauliche Textur der Stadt als das Gedächtnis ihrer Bewohner(innen) und geht dabei implizit von einer lang tradierten Geschichte aus, die einen gemeinsamen Bezugspunkt für alle Berliner(innen) darstellt (vgl. Stimmann 2001). Da Berlin als Hauptstadt nationaler Repräsentationsraum werden sollte, schlug sich in diesem Bereich der Stadtentwicklungspolitik auch das nationale Selbstbild der Bundesrepublik nieder. Die Bundesrepublik hat sich bis vor kurzem nicht als Einwanderungsland begriffen, und so stand auch nicht zur Debatte, wie die Geschichte der Einwanderung, kulturelle Veränderungen und Hybridbildungen in diesem nationalen Repräsentationsraum zur Darstellung gebracht 9
Diese „World-Culture“-Produktionen tragen wesentlich zur Herstellung von Urbanität bei und sind ein wichtiger Faktor für den „Konsum“ von und in der Stadt. Hier sei etwa auf ethnisch konnotierte wie initiierte Kulturräume hingewiesen, etwa die „Russendisco“ von Vladimir Kaminer.
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werden könnten. Insofern erstaunt es auch wenig, dass sich etwa in die vielfältigen Diskussionen um die Ausgestaltung des Regierungsviertels zwar viele ausländische Journalist(inn)en und Expert(inn)en einmischten, kaum jedoch die in der Stadt lebenden Migrant(inn)en. Die Stadtentwicklungspolitik, die am Schnittfeld von ästhetischer Stadtgestaltung und Wirtschaftsförderung auf die Rekonstruktion des historischen Erbes setzt, konnte offensichtlich nur für spezifische städtische Gruppen einen Identifikationsraum zur Verfügung stellen. Insofern geht die Vorstellung, dass sich „in der Perspektive (...) eines strategisch gewollten und erkennbaren Stadtraumes (...) die Gebäude zum identitätsstiftenden Gesamtbild“ (vgl. Amtsblatt der Planwerk Innenstadt Berlin 1999) zusammen setzen, zumindest an denjenigen vorbei, die ihre Geschichte in den so geschaffenen Räumen nicht wiederfinden können. Und damit sind neben Migrant(inn)en auch alle diejenigen gemeint, deren Lebensentwürfe vom dominanten bürgerlichen Modell städtischen Lebens abweichen.
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Das Heimat- und Nachbarschaftsleitmotiv
Unter das Heimat- und Nachbarschaftsleitmotivs fällt ganz wesentlich das Programm der „Sozialen Stadt“, das in Berlin durch die Einrichtung von Quartiersmanagements in so genannten „Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf“ umgesetzt wurde. Die inzwischen 17 Quartiere zeichnen sich auf Grund sozialstatistischer Daten vor allem durch eine überdurchschnittliche Anzahl von Personen, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, sowie durch einen hohen Anteil von Migrant(inn)en aus. Das Programm „Soziale Stadt“ steht in der Tradition staatlicher Interventionen, durch die seit Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen sozialer Ungleichheit und Wohnbedingungen ein Puffer geschoben wurde, der „die Verdoppelung von Benachteiligung durch sozialräumliche Ausgrenzung verhinderte“ (vgl. Häußermann 1998). Das Programm ist in seinem Zuschnitt aber insofern neu, als es ressortübergreifend auf die Stärkung vorhandener Strukturen setzt und nicht nur am Wohnen als einem Segment ansetzt. Vorrangiges Ziel ist es, die Ressourcen derjenigen zu stärken, die aus ökonomischen, sozialen und politischen Handlungsräumen der Stadt ausgeschlossen wurden. Auf der Homepage der Berliner Quartiersmanagements heißt es dementsprechend: „Die Stadt als Rahmen für eine solidarische Gesellschaft zu qualifizieren, ist das programmatische Ziel des Schwerpunktprogramms ‚Soziale Stadt‘ der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.“10
Diese Zielformulierung verweist auf zwei strukturelle Probleme des Programms: Zum einen werden die zu etablierenden Spielregeln der solidarischen Stadtge-
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sellschaft nicht als Teil der Verhandlungsmasse begriffen; zum anderen wird in diesem Segment der Stadtentwicklungspolitik am deutlichsten die Verbindung von „Ausländer“ und „Problem“ festgeschrieben und dieser Eindruck durch die mediale Repräsentation der Quartiere als „soziale“ und/oder „kulturelle Brennpunkte“ noch verstärkt. Das Konzept des Quartiersmanagements setzt auf die Nahwelt als Ressource und Ausgangspunkt für gesellschaftliches Handeln.11 Wie die gerade veröffentlichte Zwischenevaluierung zum Programm „Soziale Stadt“ deutlich macht, wurde bei der Implementierung vorrangig auf Maßnahmen der Veränderung des Wohnumfeldes gesetzt, die – so die Vorstellung – auch die soziale Situation der Bewohner(innen) verbessern sollten.12 So wurden auf vielfältige Weise Verschönerungen des Wohnumfelds vorgenommen, die Infrastruktureinrichtungen ausgebaut und zusätzliche Beratungsangebote implementiert. Auch wenn ein solches Vorgehen durchaus positive Effekte für die Lebensqualität haben kann, so ist doch zu fragen, ob es sich nicht um Maßnahmen der Imagepflege handelt, die vor allem ästhetischen und stadträumlichen Ansprüchen einer urbanen Mittelschicht entsprechen, aber kaum die vielfältigen und widerstreitenden Bedürfnisse diverser Bewohner(innen) an ein „funktionierendes“ Wohnumfeld befriedigen können. Deutlich wird dies etwa, wenn es sich das QM „Magdeburger Platz“ als Teil der Zukunftsperspektive für das Gebiet der nördlichen Potsdamer Straße zum Programm macht, eine „gemütliche Alternative“ zum Potsdamer Platz zu entwickeln. Der Begriff der „Gemütlichkeit“ ist zwar in Anführungszeichen gesetzt, doch lässt er Vorstellungen von befriedeter Urbanität und identitärer Verbundenheit mit dem Kiez erahnen: Die Kleine-Läden-Zeile, in der der/die Verkäufer(in) noch seine/ihre Kund(inn)en persönlich kennt, wo noch Zeit bleibt für das Schwätzchen zwischendurch und wo das Wissen umeinander den Alltag beherrscht – ein Leben eben weitgehend jenseits von Fremdheitserfahrungen. Zugleich setzt das QM auf Kunstaktionen, um Ladenleerstand zumindest kurzfristig zu beheben, und schafft damit urbane Erlebnisräume für spezifische soziale Gruppen. Solche und ähnliche Maßnahmen scheinen wenig geeignet, die als „Problemgruppen“ identifizierten Bewohner(innen) – insbesondere ethnische Minderheiten – zu erreichen, und dies betrifft die Umsetzung des Programms in weiten Bereichen (vgl. ebd.). 10 11
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http://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/quartiersmanagement/ (24.11.2004). Damit kommt, wie Albrecht Göschel vor kurzem pointiert feststellte, das Programm der Sozialen Stadt einer Identitätspolitik gleich, da es Probleme von Identität und Zugehörigkeit in einer fragmentierten Stadt, nicht Ungleichheiten in einer sozialen Einheit auszugleichen bestrebt ist (vgl. Göschel 2000). Dies wird in der Zwischenevaluierung als „Container-Theorie“ der Quartiersmanagements problematisiert. Vgl. http://www.sozialestadt.de/veroeffentlichungen/evaluationsberichte/ (Ergebnisse der Zwischenevaluierung).
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Bezieht sich die Arbeit des QM direkt auf ethnische Minderheiten, so mit dem Ziel der sozialen Integration. Dabei wird Integration, wie im mainstream des öffentlichen Diskurses zwar als kommunale Angebotsleistung, zugleich aber als einseitige Bewegung von Migrant(inn)en hin zur Mehrheitsgesellschaft verstanden. Wenn vor diesem Hintergrund zwei mehrheitlich von Migrant(inn)en bewohnte Blöcke des sozialen Wohnungsbaus in einer Broschüre wiederum des QM „Magdeburger Platz“ zwar in Anführungszeichen, aber dennoch als „arabische Dörfer“ bezeichnet werden, dann spricht das zuallererst für die Hilflosigkeit, Fremderfahrung in die eigene Arbeit so zu integrieren, dass Differenz produktiv gemacht werden könnte (Quartiersmanagement Berlin 2000: 32). Ganz abgesehen davon, dass in diesen beiden Wohnblöcken keineswegs nur Araber(innen) wohnen, wird hier statt Austausch zu suchen, das vor allem wohl sozial Fremde mit dem Zaun der ethnischen bzw. kulturellen Differenz umgeben.13 Ebenso werden ethnische Ökonomien, die im Enquetebericht als mögliches zukunftsweisendes Wirtschaftssegment beschrieben werden, in der Einschätzung vor Ort häufig als Indiz für die Existenz einer Parallelgesellschaft wahrgenommen, so wie vor kurzem durch den Neuköllner Bezirksbürgermeister.14 Im Schreckbild der Parallelgesellschaft werden gesellschaftliche Abkoppelungs-prozesse an der Stelle der Stadt verortet, an der sich sozio-ökonomische und ethnische Segregation überlagern (vgl. Häußermann/Siebel 2001). Dort, wo Migrant(inn)en mit ihren Netzwerken Raum besetzt haben, wird der Konflikt um gesellschaftliche Wertigund Verbindlichkeiten am sichtbarsten. Andreas Kapphan hat vor kurzem plausibel dargelegt, dass Konflikte bzw. Konfliktbeschreibungen auf Quartiersebene nicht als Folge von Desintegrationstendenzen zu deuten sind, sondern als Dominanzkonflikte: als Ausdruck dafür, dass die Selbstverständlichkeit sozialer und kultureller Regeln nicht mehr gegeben ist (vgl. Kapphahn 2004). Die Krise, die sich in der Rede von kulturellen bzw. sozialen Brennpunkten äußert und die in der Arbeit der QMs ihren Ausdruck findet, ist insofern vor allem eine Krise der gesellschaftlichen Ordnung. Für beide, die sich bedroht fühlenden autochthonen wie für die als bedrohlich eingestuften allochthonen Bewohner(innen) ist es ein Anerkennungskonflikt, der in der Rede der sozialen Brennpunkte repräsentiert wird. Doch auch wenn die Übernahme medialer Repräsentationen gerade auf der Ebene des Heimat- und Nachbarschaftsparadigmas maßgeblich die gegenwärtigen Problemlagen in den Stadtteilen mitproduziert hat, so hat diese Konstruktionsarbeit doch handfeste Konfliktlagen erzeugt, die Handlungsbedarf – auch auf der Ebene der Stadtentwicklungspolitik – erfordern.
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Vgl. hierzu die Feldstudie von Marcus Lohse (2002). Z.B. in http://dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/322166/ Deutschlandfunk Interview „Natürlich haben wir Parallelgesellschaften“. Interview mit Heinz Buschkowsky.
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Vor dem Hintergrund dieser knappen Skizze möchte ich abschließend noch einmal auf Zygmunt Baumans Plädoyer für einen Kompromiss in der Stadtentwicklungspolitik zurückkommen. Offensichtlich bedarf das „Ideal einer glücklichen Stadt“ einer stärker moderierenden, Diversität anerkennenden und dem Ausgleich von Interessenlagen verpflichteten Stadtentwicklungspolitik. Dafür scheint mir aber eine weitgehende Neujustierung des Blicks auf eben die Problemlagen in der Stadt und die Auflösung der vorherrschenden Gleichsetzung von „ethnischer Minderheit“ und „Problem“ notwendig. Vielmehr sollten die sich in vielfältiger Weise überlappenden sozialen, ethnischen, geschlechtsspezifischen, generationellen etc. Interessenkonstellationen und Bedürfnislagen wahr- und ernstgenommen werden, die sich in den vielfältigen urbanen Konflikten artikulieren. Eine solche Stadtentwicklungspolitik müsste sich dann folgenden Leitsatz auf die Fahnen schreiben: „Die Schwierigkeit liegt darin, von der Freiheit gerade so viel zu opfern, wie nötig ist, um die Qual der Unsicherheit erträglich zu machen, so dass man mit ihr leben kann.“ (Bauman 1997: 206)
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Permanenter Veränderungsprozess der gebauten Stadt
Nicht nur die Stadtgesellschaft, auch die gebaute Stadt befindet sich in einem permanenten Prozess der Veränderung, des Ausbaus und des Umbaus. Ob der Umgang mit Differenz bei diesem Ausbau/Umbau als Thema eine Rolle spielt, hängt davon ab, ob ein Zusammenhang zwischen Fragen des Zusammenlebens und dem Zustand der Stadt (ihrer Ausgestaltung in stadträumlichen Strukturen) überhaupt gedacht und öffentlich zur Diskussion gestellt wird. Die politische Integrationsdebatte der vergangenen Jahre hat dieses Thema komplett ausgeklammert. Im Vordergrund stehen hier, etwas überspitzt formuliert, Integrationsund Sprachkurse und die Frage, wer diese Kurse bezahlt. An dieser Stelle wird nun gezeigt, wie bedeutsam die Einbeziehung städtebaulicher Fragestellungen für das Leben der Bürger(innen) in der Stadt ist. Denn, so lautet eine der wichtigsten Thesen, die ich an dieser Stelle formulieren möchte: das Funktionieren der Städte ist maßgeblich von einer differenziert ausgestalteten stadträumlichen Struktur abhängig.
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„Suburbanisierung nach Innen“ oder Transformation der Stadtregionen durch den Ausbau integrativer Quartiere
Trotz einer heftig beklagten Stagnation im Bereich der Bauwirtschaft vollzieht sich auch derzeit ein bemerkenswerter Ausbau und Umbau unserer Städte. Dieser Veränderungsprozess schlägt sich in unterschiedlichen Richtungen nieder. Einerseits in einem Landschaftsverbrauch von etwa 110 Hektar pro Tag in Deutschland – vor allem durch zusätzliche Einfamilienhausgebiete und großflächiges Gewerbe im Umland der Städte – und andererseits in einem zunehmenden Umbau im Bestand auf Grund eines deutlichen Trends „zurück in die Stadt“. Hierfür lassen sich in allen großen Städten Beispiele finden. Zur Steuerung dieser Veränderungen hat der Bund die Programme Stadtumbau-Ost und Stadtumbau-West eingerichtet. Unter den herrschenden Rahmenbedingungen besteht dabei die Gefahr einer „Suburbanisierung nach Innen“
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mit zunehmender Nutzungstrennung und Ausschließung bestimmter Tätigkeitsmuster und Bevölkerungsgruppen auch in den Bestandsgebieten. Die Frage ist, ob es eine Chance gibt, diese Gefahr zu bannen und die Tendenz umzudrehen: Das Ziel müsste dabei sein, den Anteil integrationsfähiger Quartiere zu vermehren und auf diese Weise eine strukturelle Transformation der Agglomerationen insgesamt einzuleiten. Woran erkennt man integrationsfähige Quartiere, was sind ihre Merkmale? Ein wichtiger Aspekt für die Integrationskraft von Stadtteilen beziehungsweise Quartieren, ist die systemische und lebensweltliche Anbindung der Bürger(innen). Dort wo beispielsweise Lebens- und Arbeitsräume miteinander verbunden werden, wo unterschiedliche Funktionsräume in einem Gebiet liegen, kann dies gelingen. Indikator für eine positive strukturelle Transformation wäre die Nutzungsmischung der Städte und ihrer Quartiere. Vorbild kann diesbezüglich die Tübinger Südstadt sein.
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Zunehmende Bedeutung des Umgangs mit Differenz
Der Demograph Herwig Birg weist seit Jahren darauf hin, dass im Zusammenhang mit einer „demographischen Zeitenwende“ die Anteile der Menschen mit Migrationshintergrund im Alter von 20 bis 40 Jahren an der Bevölkerung in den größeren Städten Westdeutschlands schon bis um Jahr 2010 auf Größenordnungen zwischen 40% und 46% zunehmen werden. Das heißt, es wird in wenigen Jahren viele Stadtteile geben, in denen die Zugewanderten und die Zuwanderer bei den Familien- und Existenzgründer(inne)n Bevölkerungsmehrheiten bilden werden. Fragen des Zusammenlebens werden damit rapide an Bedeutung zunehmen.
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Strategie-Erklärungen
Eine Bundestags-Enquetekommission „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig umweltverträglichen Entwicklung“ hat in ihrem Abschlussbericht von 1998 die Forderung aufgestellt, den Landschaftsverbrauch, d.h. die weitere Zersiedlung im Umland der Städte, bis zum Jahr 2010 auf ein Zehntel der damaligen Größe zu senken und zu diesem Zweck die Stadtentwicklung auf „Innenentwicklung“ und Funktionsmischung im Sinne einer „Stadt der kurzen Wege“ umzupolen. Der Deutsche Städtetag hat 1999 in einem eigenen Strategiepapier für eine vermehrte Nutzung der vorhandenen Brachen auf ehemaligen Gewerbe-, Militär-, Bahn- und Postarealen für
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das Konzept einer stärkeren Mischung der Funktionen Wohnen, Versorgen, Arbeiten und Freizeit – also auch hier eine „Stadt der kurzen Wege“ – plädiert und darauf hingewiesen, dass damit u.a. der sozialen Segregation und dem wachsenden Verkehrsaufkommen entgegengewirkt werden könne. Dies entspricht den positiven Erfahrungen und empirischen Befunden einiger süddeutscher Städte (vgl. Steffen/ Baumann/Betz 2004).
5
Lokal eingebettete Wirtschaft als gesellschaftlicher Katalysator
Wenn Stadtteile im Zusammenhang mit einem „funktionierenden Multikulturalismus“ untersucht und als Belege für einen solchen Multikulturalismus herangezogen werden, handelt es sich fast immer um Gebiete, die durch eine kleinräumige funktionale Vielfalt, also ein räumlich enges Miteinander von Wohnen, Arbeiten und Kultur geprägt sind. Es scheint danach so zu sein, dass Wirtschaft und eine vielfältige Arbeitswelt in einem Quartier entscheidend dazu beitragen, dem Zusammenleben mit Fremden und Anderen einen höheren Grad an Selbstverständlichkeit zu verleihen. Die Anwesenheit unterschiedlicher Wirtschaftsbetriebe in einem Quartier, in dem auch gewohnt wird, setzt bei Bewohner(inne)n wie in der Wirtschaft Tätigen Toleranz gegenüber „Anderem“ voraus. Es geht dann nicht um Gleichartigkeit aller Tätigkeiten und Verhaltensweisen, sondern um Vielfalt, der ein gewisses Maß des Unverträglichen und Störenden zugebilligt wird, weil sie ökonomischen und kulturellen Austausch (Güter, Dienstleistungen, Jobs, Netzwerke, Bildungsangebote) befördert und Lebensqualität mit sich bringt. Diese Toleranz bewirkt auch Respekt vor kultureller und ethnischer Differenz. Die lokal eingebettete Ökonomie wird auf diese Weise zum Katalysator beim selbstverständlichen Umgang mit Differenz. Ihre planerische Eliminierung aus den Vierteln, in denen die Menschen wohnen, lässt diese Selbstverständlichkeit automatisch schmelzen.
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Andreas Feldtkeller
Abbildung 1:
6
Das Beispiel Tübinger Südstadt
Gegensätzlich ausgerichtete Stadtstrukturen
Um funktionsoffene Gebiete in ihren spezifischen Eigenschaften und Leistungen verstehen zu können, müssen diese mit ihrem Gegenstück, den funktionsspezialisierten Siedlungsgebieten (Wohnsiedlungen, Einfamilienhausgebieten, Gewerbegebieten, Einkaufszentren auf der grünen Wiese) verglichen werden. Funktionsspezialisierte Gebiete verfolgen den Zweck, störende Einflüsse anderer Funktionen durch deren Ausschluss zu vermeiden (Prinzip der Störungsvermeidung). Funktionsoffene Gebiete haben die Aufgabe, Synergien zwischen vielfältig unterschiedlichen Funktionen und Tätigkeiten zu ermöglichen (Prinzip der Synergieermöglichung). Die beiden Siedlungstypen sind damit in ihren Zwecken nicht ähnlich, sondern gegensätzlich ausgerichtet.
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Stadtumbau als Chance
funktionsspezialisierte Siedlungsbausteine
funktionsoffene Siedlungsbausteine
fremde Funktionen ausschließend, z.B. „Gewerbe verboten!“
vielfältige Tätigkeiten einschließend
fremde Gruppen abwehrend
differente Gruppen einschließend
fremde Lebensentwürfe abwehrend
fremde Lebensentwürfe einschließend
nur ausgewählte Potenziale nutzend
vielfältig differente Potenziale nutzend
Konflikte vermeidend
mit Konflikten umgehend
auf Synergien verzichtend
Synergien nutzend
Nutzung
keine funktionale Mischung
kleinmaßstäbliche funktionale Mischung
Bebauung
aufgelockert, einheitlich
kompakt, dicht, vielfältig
Straße
ausschließlich Verkehrsraum
Bewegungs- und Begegnungsraum
Milieu
homogen, exklusiv
heterogen, integrativ
Ausrichtung
Ziel Stadtstruktur
7
Auswirkung des städtebaulichen Funktionalismus
Ein Zusammenwirken von Industrialismus und städtebaulichem Funktionalismus hat während einer fünfzig Jahre langen Entwicklungsphase dazu geführt, dass funktionsoffene Stadtteile als etwas Überholtes und jedenfalls so nicht mehr Herzustellendes betrachtet werden. So hat die Baunutzungsverordnung von 1963 das bis dahin selbstverständliche Nebeneinander von Wohnen und nicht erheblich störendem Arbeiten in dicht bebauten „Wohn- und Geschäftsgebieten“ und „Wohngebieten“ aus dem Repertoire der zulässigen baulichen Nutzungsarten
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Andreas Feldtkeller
eliminiert. In der Folge sind im Zusammenhang mit dem starken Städtewachstum in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die kleinräumig funktionsgemischten Gebiete quantitativ und qualitativ zu einer Randerscheinung geworden. Sie werden von der Planung vielfach schon wegen ihrer Abweichungen von den Normen des modernen Städtebaus und wegen ihrer Fähigkeit, auch Nicht-Konformes aufzunehmen, als „Problemgebiete“ behandelt. In den städtischen Agglomerationen hat sich damit das Mosaik aus den beiden oben gegenübergestellten Mosaiksteinen sowohl in der Mengenverteilung wie im Anordnungsmuster im Verlauf eines halben Jahrhunderts vollständig verändert. Es wäre zu diskutieren, ob sich nicht auf diese Weise „Heterophobie“ schon siedlungsstrukturell etabliert hat. Abbildung 2:
Alte, gewachsene Quartiere werden von der Planung vielfach schon wegen ihrer Abweichungen von den Normen als „Problemgebiete“ behandelt. Dennoch sind es grade diese Quartiere, die zu Erfolgsmodellen werden können. Das Beispiel Köln-Ehrenfeld:
Stadtumbau als Chance
8
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„Leistungen“ von Stadtstrukturen
Wir haben in den vergangenen fünfzig oder sechzig Jahren verdrängt, dass die Menschen, sowohl Junge und Alte als auch Einheimische und Zugewanderte, mit ihren ganz unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten, Begabungen, Wünschen von Stadtvierteln und Siedlungsgebieten „Leistungen“ erwarten, die darin bestehen, dass sie bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen unterstützen, ermöglichen, jedenfalls nicht behindern oder gar völlig unterdrücken. Solange das Interesse von Wissenschaft, Planung und Politik sich nicht wieder auf die Leistungen stadträumlich unterschiedlich geprägter Strukturen richtet, kann die Aufgabe der Stadtentwicklung, die „sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Bevölkerung“ (§1 Baugesetzbuch) zu berücksichtigen, kaum eingelöst werden.
9
Angebotslücke
Der Wandel in Gesellschaft und Arbeitswelt hat dazu geführt, dass schon heute eine Mehrzahl, nämlich 54%, der Haushalte als Wohnumwelt ein „Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe“ anstrebt und nicht die reine Wohngegend (vgl. Umfrage der Zeitschrift STERN mit der Bausparkasse Schwäbisch Hall 2001). Bemerkenswert ist, dass diese Option auch von Haushalten mit Kindern unter 18 Jahren geteilt wird. Der Verzicht auf die Neuplanung und Neuherstellung funktionsgemischter Quartiere seit den 1950er Jahren, etwa am Rande der Innenstädte, hat in den vergangenen Jahren bei steigender Nachfrage zu einer immer größer werdenden Angebotslücke auf dem Markt für solche Standorte geführt. Solche Standorte sind
für viele mittelständische Betriebe, auch solche moderner Prägung, auch solche der ethnischen Ökonomie, ein unentbehrliches lokales Milieu, Wohnort einer Traditionsbevölkerung, die nur in der Stadt wohnen möchte, wichtige Niederlassungs- und Existenzgründungs-Orte für Zuwanderer und Zugewanderte, eine zunehmend interessante Option für Personen, Haushalte und Familien, die feststellen, dass sie ihren Alltag am Stadtrand nicht zeitsparend organisieren können und von Bildung und Kultur abgeschnitten sind
Eine Folge dieser Angebotslücke ist ein Verdrängungsprozess, der überall dort, wo die wirtschaftlichen Gewinner eine angestammte Klientel vertreibt, zu einem Verschwinden der typischen Vielfalt und damit der besonderen Qualität dieser
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Andreas Feldtkeller
Gebiete führt. Eine weitere Folge ist aber vor allem eine dramatische Beschneidung der Wahlfreiheit von Einzelnen und Bevölkerungsgruppen, die gezwungen sind, Standorte für ihr individuelles Fortkommen zu akzeptieren, die ihre eigentlichen Bedürfnisse und Wünsche nicht befriedigen können.
10 Desinteresse in der gängigen Stadtentwicklungspolitik In der Planungspraxis der Kommunen werden die Forderungen der EnqueteKommission und des Strategiepapiers des Deutschen Städtetags (s.o.) bisher kaum und schon gar nicht konsequent angewandt. Die Angebotslücke wird stattdessen eher größer. Abbildung 3:
Die Tübinger Südstadt ist ein beeindruckendes Beispiel für eine realisierte Stadtutopie
Kleinräumige und für Vielfalt offene Funktionsmischung gilt nach wie vor als etwas, „was man nicht herstellen kann“. Gegenbeispiele, wie z.B. eine Entwick-
Stadtumbau als Chance
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lungsmaßnahme in der Tübinger Südstadt, werden als „beeindruckendes Ergebnis“ mit dem Zeugnis „nicht verallgemeinerbar“ (vgl. Johann Jessen) in die Ecke der Stadtutopien gestellt. Die Kommunen haben sich in den vergangenen zehn Jahren daran gewöhnt, den Städtebau – etwa beim Umbau in den Innenstädten und bei der Neubebauung von Siedlungsbrachen – großen Bauträgern zu überlassen (sogenanntes „Public-Private-Partnership“). Dabei werden Nutzerinteressen, die kleinräumig gemischte Strukturen und Räume ganz unterschiedlicher Qualität benötigen, regelmäßig übergangen. Diese Tendenzen verbinden sich mit der Argumentation gegen eine Revisionsbedürftigkeit der staatlichen Baunutzungsverordnung, die seit 1963 unverändert durch den Funktionalismus aus dem Zeitalter der Industrie- und Abgrenzungsgesellschaft geprägt ist.
11 Stadtumbau als Chance? Solange nutzungsoffene Stadtviertel eine Ausnahme in den städtischen Agglomerationen darstellen, besteht die Gefahr, dass residenzielle und kulturelle Segregation nicht durch eigene Entscheidung, sondern unfreiwillig (der Not gehorchend) stattfindet. Wo Menschen und Gruppen sich aus dieser Unfreiwilligkeit nicht befreien können, weil akzeptable Alternativen nicht zur Verfügung stehen, besteht die Gefahr der Abschottung. Eine realistische Chance des Stadtumbaus zu Gunsten von mehr Selbstverständlichkeit im Umgang mit Differenz liegt in der konsequenten Nutzung von aufgelassenen Gewerbe-, Bahn- oder Militärarealen für neue funktionsoffene Quartiere mit kleingestückeltem, individuell zugeschnittenem Eigentum. Solche Areale liegen oft in der Nachbarschaft von Gebieten des früheren sozialen Wohnungsbaus, die auf diese Weise ebenfalls in der Akzeptanz verbessert werden können. In allen Städten stehen heute derartige Stadtbrachen zur Verfügung. Aber die Möglichkeiten zur Nutzung der vorhandenen Chance sind zeitlich begrenzt. In dem Maße, wie solche Gelegenheiten für die „innere Suburbanisierung“ unserer Städte verbraucht werden, reduziert sich auch die Chance für die Rehabilitierung der Offenheit für Vielfalt. Was heute verbaut wird, lässt sich in den kommenden Jahrzehnten nicht wieder zurückbauen. Voraussetzung für die Wahrnehmung der gebotenen Chance ist eine Abkehr von bisher gängigen Planungsgrundsätzen und -verfahren (Beseitigung von Altbauten, Bevorzugung von Bauträgern gegenüber Nutzer(inne)n, gestalterische Homogenität statt Heterogenität). Dazu wird es nur kommen, wenn die Zusammenhänge zwischen multikulturellem Zusammenleben und Stadtstrukturen mehr und besser als bisher erforscht, empirisch belegt und vor allem im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel offensiv diskutiert werden.
142 Abbildung 4:
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Konsequenten Nutzung von aufgelassenen Gewerbe-, Bahn- oder Militärarealen für neue funktionsoffene Quartiere, hier die Nutzung der ehemaligen Panzerhalle für ein Spiel- und Freizeitareal in der Tübinger Südstadt
Literatur Baumann, Dorothee/Steffen, Gabriele//Betz, Fabian (2004): Integration und Nutzungsvielfalt im Stadtquartier. Stuttgart/Berlin. Birg, Herwig (2001): Die demographische Zeitenwende: Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. München. Enquête-Kommission (1998): „Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung“ – Abschlussbericht, Bundestagsdrucksache 13/11200, Bonn. Feldtkeller, Andreas (1994): Die zweckentfremdete Stadt – Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. Frankfurt am Main/New York. Feldtkeller, Andreas (Hrsg.) (2001): Städtebau: Vielfalt + Integration. Neue Konzepte für den Umgang mit Stadtbrachen, Stuttgart/München. Feldtkeller, Andreas (2001): Das Quartier – Möglichkeitsraum der Bürger. Berlin.
Zur Differenz kultureller Regelsysteme
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Zur Differenz kultureller Regelsysteme im urbanen Sozialraum Zur Differenz kultureller Regelsysteme
Herbert Schubert Der Sozialraum eines Stadtteils oder Wohnquartiers lässt sich als geografisch abgrenzbarer Wohnbereich definieren (vgl. Riege/Schubert 2005). Zu ihm gehören auch die Lebenswelten der Bewohnerinnen und Bewohner, die über subjektive Zuschreibungen und Bedeutungen erzeugt werden. Die sozialen Räume prägen die Bedingungen der lebensweltlichen Integration nach Migrationsprozessen. Dies ist besonders in kulturell heterogenen Wohnquartieren bedeutsam; wichtige Ankerpunkte bilden dort:
die gebaute Umwelt als Gegenstand der Identifikation, die Freiflächen als Territorien möglicher Aneignung, die gelebte Nachbarschaft als tragendes Beziehungsnetzwerk, die Einrichtungen der sozialen und kulturellen Infrastruktur sowie die lokalen Organisationen als Orte der Vermittlung und Überwindung von Fremdheit.
Gehemmt wird die Integration hingegen von einer Differenz kultureller Regelsysteme zwischen autochthonen und allochthonen Bevölkerungsgruppen – insbesondere in den Sozialräumen marginalisierter Stadtquartiere. Dies äußert sich häufig in der Gestalt von Nutzungskonflikten, kontroversen Begegnungsformen im öffentlichen Raum und umstrittenen Formen seiner Aneignung. Die Konflikte stellen aber kein „Importgut“ der Einwandererbevölkerung dar, sondern sind – in der Tradition der Chicagoer Schule der Stadtethnografie – genuiner Teil der urbanen Kultur und Ordnung.
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Wissenschaftliche Forschungsperspektiven
Die kulturellen Differenzen in der Verhaltensregulierung werden überwiegend in Forschungsperspektiven thematisiert, die auf abweichendes Verhalten fokussiert sind. Beispielsweise sind Zuwanderinnen und Zuwanderer in Deutschland einer erhöhten Kriminalisierungswahrscheinlichkeit ausgesetzt, da sie gemessen am
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Herbert Schubert
Bevölkerungsanteil doppelt bis dreimal so häufig von der Polizei als Tatverdächtige registriert werden. Die Quote differiert nach Ethnien; denn unter Türken, Jugoslawen und Zuwanderern aus dem osteuropäischen Raum ist die Kriminalisierungswahrscheinlichkeit besonders hoch. Mansel/Albrecht (2003) schreiben als Begründung: „Relevant hierfür dürften bei den Türken vor allem die ausgeprägten kulturellen Differenzen zur deutschen Gesellschaft sein, die sie in einem besonderen Maße auffallen lassen und auf Grund welcher sie von der einheimischen Bevölkerung nicht nur ausgegrenzt, sondern auch diskriminiert werden“ (ebd.: 713).
Viele junge Nachkommen von Immigrantinnen und Immigranten sind mit den Verhaltensregeln im Aufnahmeland, mit dem Sprachgebrauch und mit den Lebensstilen kaum vertraut. Weil das oft auch für ihre Eltern gilt, können sich in den Sozialisationsprozessen keine hinreichenden Bindungen an die Werte und Normen der Aufnahmegesellschaft herstellen (Schmitt-Rodermund/Silbereisen 2004: 257). Als weiteres Erklärungsmerkmal wird in der Literatur die so genannte „Kultur der Ehre“ hervorgehoben; darin repräsentiert Gewalt als Mittel zur Wiederherstellung der Reputation und Ehre eines Mannes ein normativ gefordertes Verhaltensschema und eine kulturell geprägte Geschlechtsrolle. Die bei männlichen jugendlichen Migranten im Vergleich zu der gleichaltrigen einheimischen Bevölkerung deutlich überhöhten Raten der Gewaltdelinquenz werden auf solche leidenschaftliche Emotionen zurückgeführt, deren Basis starke Bindungen an ein Kollektiv bilden. „In Gesellschaften, die durch eine Kultur der Ehre geprägt sind, ist es vor allem für Männer notwendig, ihre Reputation ständig zu demonstrieren und zu verteidigen. Für sie ist Gewalt ein angemessenes und auch sozial erwartetes Mittel der Selbst(wert) -verteidigung. Entsprechende soziale Normen existieren sowohl auf der Ebene sozialer Institutionen als auch in individuellen Einstellungen und Erwartungen von Interaktionspartnern. Es sind normative Orientierungen, die im Sozialisationsprozess … vermittelt und angeeignet werden“ (vgl. Enzmann/Brettfeld/Wetzels 2004: 267f.).
Wenn jugendliche Migranten in einem solchen Wertemilieu aufwachsen, wird ihr Alltag von einem inneren Kulturkonflikt bestimmt. Denn sie können sich nicht an die Normen der Aufnahmegesellschaft annähern, da fortwährend Verhaltensnormen ihrer ethnischen Herkunftsgesellschaft Vorrang erhalten. Vor einer kulturalistischen Deutung ist allerdings zu warnen, denn die Tendenzen zu kollektivistischen Orientierungen und subkultureller Vergemeinschaftung korrespondieren
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nicht primär mit dem Migrantenstatus, sondern mit sozialer Benachteiligung. Gewalt legitimierende Männlichkeitsnormen sind bei autochthonen Jugendlichen aus Familien mit geringem sozioökonomischem Status ebenso ausgeprägt – sie entstehen unter den besonderen soziokulturellen Bedingungen von Marginalisierung und Ausgrenzung und lassen sich nicht auf einen ethnisch spezifisch kulturellen Faktor reduzieren. Beispielsweise unterscheiden sich eingebürgerte und nicht eingebürgerte türkische Jugendliche hinsichtlich ihrer Gewaltdelinquenz signifikant voneinander; die Differenz zwischen türkischen Jugendlichen und einheimischen Deutschen mit niedrigem sozioökonomischem Status hingegen nicht (vgl. ebd.: 275ff.). Enzmann, Brettfeld und Wetzels interpretieren daher, dass die Gewaltdelinquenz im Kontext der Kultur der Ehre eine jugendtypische Entwicklung von Identität und Autonomie unter den Bedingungen von sozialer und kultureller Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft abbildet (ebd.: 283). Die Differenz kultureller Regelsysteme wird somit nicht von der Spannung Fremdheit – Nicht-Fremdheit geprägt, sondern vielmehr von urbanen Exklusionsprozessen der Spannungsachse Etablierte – Außenseiter (Insider/Outsider).
2
Fallbeispiel Duisburg-Marxloh
Hüttermann (2000) hat in einer Figurationsanalyse in Duisburg-Marxloh eine sich umkehrende deutsch-türkische Etablierten-Außenseiter-Figuration untersucht. Aus den früher randständigen Zuwanderinnen und Zuwanderern wurden „avancierende Fremde“, die im Wohnumfeld über den Erwerb von Wohnhäusern (und den damit verbundenen Statuswechsel zur Vermieterin/zum Vermieter) sowie über die zahlreiche Verbreitung nichtdeutscher Werbe- und Schrifttafeln, Symbole und Fahnen im Rahmen der Etablierung einer ethnischen Ökonomie und Kultur an signifikanten Orten die gewohnten Statusgrenzen und die quasiständische Schließung des Stadtraums überwinden konnten. Mit der sukzessiven Umkehrung des Statusgefüges veränderte sich die Machtbalance im Stadtteil: In diesem Prozess wurde die alteingesessene deutsche Population auf ein Minderheitsniveau verringert, da sich die Besitzverhältnisse im Immobiliensektor zugunsten der zugewanderten Bevölkerungsteile verschoben und sich das Machtgefüge zugunsten der Migrantinnen und Migranten und ihrer Nachfahren wandelte. Ein weiteres Kennzeichen der sich umkehrenden Figuration in DuisburgMarxloh war, dass sich die Nachkommen der Immigrantinnen und Immigranten den öffentlichen Raum organisiert aneigneten. Die Aneignung erfolgte durch männliche Jugendliche aus der türkischen Bevölkerung, die sich zu einer „Street Corner Society“ zusammengeschlossen hatten. Die „Corner Boys“ breiteten sich an strategisch wichtigen Punkten der Wege und Plätze des Stadtteils aus. Dort
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Herbert Schubert
entfalten sie eine „Street Corner Culture“, deren Verhaltensnormen vom dominanten Wertesystem signifikant abweichen (vgl. Whyte 1996). Alteingesessene sehen darin ein Überschreiten von selbstverständlichen Grenzen der Raumnutzung und meiden zunehmend die in Anspruch genommenen Orte (z.B. Stadtplatz, ÖPNV-Haltestelle). Insbesondere sexuelle Belästigungen gegenüber deutschen Mädchen und jungen Frauen sowie Demütigungen ihrer männlichen Begleiter gehören zum Verhaltensrepertoire, wie empirische Erhebungen dokumentieren. Die „Street Corner Society“ in Marxloh entwickelte ein eigenes subkulturelles Regelsystem, nach dem sich (Geschlechts-) Ehre und Status erst im Rahmen einer Regeln verletzenden Machtentfaltung gegenüber jungen deutschen Frauen und Alteingesessenen bzw. Etablierten herstellen lässt: „Die Street Corner-Society wird … durch die Tatsache zusammengehalten, dass ihre Akteure … mittels der in der lokalen Öffentlichkeit ausgetragenen … gewalttätigen Charakterwettkämpfe … um das knappe Gut der Status und Macht verbürgenden Ehre konkurrieren. Gebrauchte BMWs, am Hosengürtel befestigte Handys und Kampfhunde sind hier genauso beliebt wie nächtliche Autorennen auf der zentralen Hauptstraße… Angesichts der strukturell bedingten Ohnmacht … und der dadurch bedingten geringen Kaufkraft und Langeweile … drängen vor allem junge männliche Erwachsene (meist Angehörige der zweiten und dritten Generation der Migrantenpopulation) auf expressive, Ehre erheischende Machtentfaltung im öffentlichen Raum. (…) Das (zumeist unterhalb der Kriminalitätsschwelle bleibende) Ängstigen und Demütigen vor allem der lokalen deutschen Bevölkerung (insbesondere der Frauen) gehört zu ihrem festen Verhaltensrepertoire …“ (Hüttermann 2000: 286f.).
Es bleibt allerdings vordergründig, die beobachtete „Street Corner Society“ auf die Relation autochthoner und allochthoner Quartierbewohnerschaft zu fokussieren und zu reduzieren. Whythes originäre Studien belegen, dass es sich mehr um eine Gruppenkultur benachteiligter männlicher Jugendlicher handelt, die ihre Exklusion durch Abweichung vom dominanten Wertesystem subkulturell kompensieren (vgl. Lindner 2004: 155). Nach den theoretischen Ansätzen der „social disorder“ und der „social incivility“ ist es nicht verwunderlich, wenn die langsame Umkehrung der Statushierarchie im Stadtteil Unsicherheit und Kriminalitätsfurcht auslöst (vgl. Lewis/Salem 1986; Skogan 1990): „Verunsichernde Konflikte häufen sich, weil sich die Bevölkerungsgruppen in der wohnumfeldnahen Öffentlichkeit nicht mehr auf gemeinsam geteilte Verhaltensnormen beziehen“ (Hüttermann 2000: 280).
Aber diese Differenz der Regelsysteme des Verhaltens resultiert nicht aus der Konfrontation autochthoner und allochthoner Bevölkerung. Ausschlaggebend ist
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im Allgemeinen, dass die Zugezogenen das an sie adressierte Stigma und die Außenseiterrolle aktiv zurückzuweisen beginnen. Wenn die Exkludierten in Konfliktfällen – besser als die Etablierten – eine „überlegene Gefolgschaft“ mobilisieren und sich den öffentlichen Raum aneignen können, polarisieren sie die Öffentlichkeit im Wohnquartier (ebd.: 276) – unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht.
3
Interaktive Verhaltensregeln im Sozialraum
Die Verhaltensvorschriften im urbanen öffentlichen Raum hat Erving Goffman (1974) in seinen „Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung“ beschrieben. Die Begegnungen auf „Schauplätzen“ der Stadt werden von spezifischen Regeln gesteuert; Goffman unterscheidet Regularien für das „Individuum als Fortbewegungseinheit“ von Regeln für das „Individuum als Partizipationseinheit“ (ebd.: 25). In der Bewegung durch den öffentlichen Raum der Stadt hat das Individuum als Fortbewegungseinheit Grundregeln zur Regulierung des Verkehrs zu befolgen (informell unter Fußgängern und formell im Straßenverkehr), damit Zusammenstöße und gegenseitige Behinderungen vermieden werden können. Diese Bewegungsregeln zur Regulierung der Bewegungsrichtung lassen sich differenzieren nach (a) der „Externalisation“ als „leibgebundene Kundgabe“ – durch körperliche Gesten zur Anzeige beabsichtigter Handlungen – und nach (b) der „Abtastung“ als visuelle Kontrolle des Kurses der Personen im nahen Umfeld. Als Entscheidungskriterien fungieren die „Prinzipien der Subordination“, worunter „Höflichkeitspraktiken“ zu verstehen sind, wie die Bewegungen im öffentlichen Raum unter Berücksichtigung der Bestimmungsmerkmale Alter, Geschlecht und gesundheitlicher Zustand untereinander koordiniert werden (ebd.: 37f.). Für das Individuum als Partizipationseinheit ist vor allem die räumliche Positionierung zu regulieren. Goffman schreibt über diese „Territorien des Selbst“, dass sie als ortsgebunden-geografische, situationelle und egozentrische Ansprüche hinsichtlich des Territoriums Bestandteil der Interaktion sind. Besonders zu nennen sind die folgenden Territorien des Selbst (ebd.: 56ff.):
Persönlicher Raum als der Raum, der das Individuum überall umgibt und dessen Betreten seitens eines anderen vom Individuum als Übergriff empfunden wird. Im städtischen Alltag handelt es sich um ein temporäres, situationelles Reservat, in dessen Zentrum das Individuum steht (z.B. Abstand im Fahrstuhl) Box als symbolisch begrenzter Raum, auf den ein Individuum temporären Anspruch erhebt (z.B. Handtuchmarkierung auf Liegestuhl). Im Unterschied
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Herbert Schubert
zum persönlichen Raum bleibt der Anspruch auch bei Weggang erhalten, weil externe Anspruchszeichen ein Territorium sichtbar begrenzen. Bei Andrang kann eine Box fiktiv geteilt werden (z.B. Zurückziehen persönlicher Gegenstände auf einer Parkbank) Benutzungsraum als das Territorium unmittelbar um und vor einem Individuum, auf das es auf Grund instrumenteller Erfordernisse einen anerkannten Anspruch hat (z.B. Ausweichen bei gemeinsamer Nutzung eines Fußwegs). Reihenposition als Ordnung, nach der ein Ansprucherhebender in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Gut im Verhältnis zu anderen Ansprucherhebenden bekommt (z.B. Organisation der Reihenfolge in einer Schlange) Hülle als engste Form egozentrischer Territorialität in Gestalt der Kleider, die die Haut bedecken, und der Haut, die den Körper schützt Besitzterritorien als die Reihe von Gegenständen, die mit dem Selbst identisch sind (z.B. persönliche Habe) Informationsreservat der Privatsphäre (beispielsweise in Gestalt des Inhalts von Taschen) und Gesprächsreservat als Kontrolle darüber, wer ein Individuum wann zu einem Gespräch auffordern kann oder mithören und sich einmischen darf
In dieses Regelwerk der öffentlichen Ordnung kam in Duisburg-Marxloh eine relative Unsicherheit, weil sich die soziale und individuelle Option des „SichGehen-Lassens“ ausdehnte. Die Konflikte der Raumaneignung durch die jungen türkischen Männer enthalten Verletzungen und Übertretungen sowohl auf der Ebene der Fortbewegung als auch auf der Ebene der territorialen Partizipation. Das Eindringen und die körperliche Belästigung durch Nähe, Berührung und unerwünschte Ansprache werden dabei nicht vorrangig durch die Differenzen kultureller Regelsysteme ausgelöst, sondern müssen sowohl im Kontext der Kultur der Ehre zur Entwicklung von Autonomie als auch unter den Bedingungen einer sozial-kulturellen Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft bewertet werden. Die Regelverletzungen durch „Street Corner Boys“ betreffen in der sozialräumlichen Öffentlichkeit meistens:
die Platzierung des Körpers auf einem von anderen beanspruchten Territorium; die Initiierung lästiger Begegnungen mit Vorbeigehenden bis hin zur Körperberührung als sexuelle Belästigung; keine Blickdisziplin zur Bekundung von Anstand, Scham und Takt durch intensives Anblicken und Durchbohren mit den Augen; eine Einmischung durch Laute in Gesprächsreservate.
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Die Verhaltensmuster der „Street Corner Society“ junger türkischer Männer in Duisburg-Marxloh zeigen, dass die Interaktionsregeln in „Charakterwettkämpfe“ als „besondere Art des moralischen Spiels“ im öffentlichen Raum des Stadtteils umdefiniert werden (Goffman 1971: 259ff.). Die Interaktionen mit den Interaktionspartnerinnen und Interaktionspartnern werden als Wettstreit angelegt, wessen kultureller Werterahmen Kontrolle über den anderen gewinnt. Neben den personenbezogenen stehen somit auch gesellschaftsbezogene Regelverletzungen. Das Spiel beginnt bei den Allochthonen mit einem Verstoß gegen die moralische Regel der Aufnahmegesellschaft als Provokation, und es folgt eine Art „ShowDown“ zur Selbstinszenierung des eigenen kulturellen Anspruchs. Goffman bezeichnet das Phänomen als „zeremonielle Entweihung“, weil bewusst etwas zum Ausdruck gebracht wird, was verboten ist (ebd.: 94ff.).
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Perspektive einer Etablierten-Außenseiter-Figuration
Mit Richard Sennett kann vermutet werden, dass die jungen Migrantinnen und Migranten in kulturell heterogenen Sozialräumen marginalisierter Stadtgebiete sensibel für Missachtung sind und mit der Selbstinszenierung auf mangelnden Respekt reagieren, weil ihnen Mitglieder der Aufnahmegesellschaft keine Achtung entgegenbringen (vgl. 2002: 52). Die Interaktionsregeln und Manieren der Aufnahmegesellschaft werden von Autochthonen – in einer Art ‚zeremonieller Überhöhung‘ von Regeln – genutzt, um den Exkludierten Anerkennung und Achtung zu verwehren und um zu demonstrieren, dass sie – in diesem Fall Personen mit Migrationshintergrund – der ‚einheimischen‘ Bevölkerung nicht gleichgestellt sind. Gerade die Mittel der Hochsprache können im Kontext von Regeln der Manieren instrumentalisiert werden, um abgrenzend Klassenidentitäten zu konstruieren. Die Missachtung der Regeln durch Jugendliche einer „Street Corner Society“ kann vor diesem Hintergrund als Strategie aufgefasst werden, im öffentlichen Raum demonstrativ mit einer Umdeutung aufzutreten, um offensiv Respekt zu erlangen und räumlich-physisch Machtpositionen zu beanspruchen. Zur Beschreibung des Verhältnisses von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in kulturell heterogenen Sozialräumen marginalisierter Stadtquartiere wird oft die „Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen“ herangezogen (Elias/Scotson 1990; vgl. auch Hüttermann 2000, Waldhoff 1995). In der zu Grunde liegenden Studie über eine englische Vorortgemeinde identifizierten die Autoren eine scharfe Trennung zwischen einer alteingesessenen Bevölkerungsgruppe und einer Gruppe später Zugewanderter, wobei die Alteingesessenen die zweite Bevölkerungsgruppe als Menschen von geringerem Wert stigmatisierten und sich selbst exklusiv erhöhend abgrenzten. In diesem spezifi-
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schen Figurationstyp hat die mächtigere Gruppe ein Gruppencharisma, nach dem sie selbst die „besseren Menschen“ sind. Mit Mitteln der sozialen Kontrolle wie „Lobklatsch“ über diejenigen, die durch das Bekenntnis zu gemeinsamen Regeln als Zugehörige angesehen werden, und „Schimpfklatsch“ über die vermeintlichen Tabubrecher wird die Etablierten-Außenseiter-Figuration in den alltäglichen Interaktionen kontinuierlich reproduziert (ebd.: 9). Es gibt allerdings zwei wesentliche Unterschiede zur aktuellen Situation in der städtischen Öffentlichkeit, so dass das Verhältnis von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in kulturell heterogenen Sozialräumen als eine ‚offene Etablierten-Außenseiter-Figuration‘ bezeichnet werden kann: Erstens gibt es in kulturell heterogenen urbanen Sozialräumen nicht den starken – gemeinschaftlichen – Zusammenhalt alteingesessener Familien, aus dem eine Machtüberlegenheit gewonnen werden kann. Sie werden im Gegenteil durch demografische Prozesse wie Abwanderung und Alterung reduziert und in ihren Machtpotenzialen geschwächt. Das skizzierte Beispiel Duisburg-Marxloh zeigt, dass sich die Zugezogenen in Konfliktfällen besser als die alteingesessenen deutschen Bewohnerinnen und Bewohner organisieren und das Machtverhältnis im Sozialraum sogar umdrehen können (vgl. Hüttermann 2000). Zweitens sind die Bewohnerinnen und Bewohner mit Migrationshintergrund füreinander auch nicht in dem Maße Fremde, wie es in der empirischen Untersuchung von Elias/Scotson (1990) der Fall war. Sie weisen im Gegenteil ein relativ großes Kohäsionspotenzial auf, so dass sie in der städtischen Öffentlichkeit zum Beispiel in Gestalt einer „Street Corner Society“ von jungen Männern sporadische Macht ausüben können. Dabei vollzieht sich ein dialektischer Prozess der Emanzipation, weil die Außenseiter beginnen, auf den Druck der ehemals Machtstärkeren zu reagieren, Ansätze zu einer Selbstorganisation zu entwickeln und Stigmatisierung mit Gegenstigmatisierung zu beantworten, damit sie sich gegen Herabsetzung und Diskriminierung wehren können (Waldhoff 1995: 207). Im Gegensatz zu dieser sozialräumlichen Situation herrscht eine uneingeschränkte, stationäre Etablierten-Außenseiter-Figuration auf der institutionellkorporativen Ebene vor. Denn nach wie vor haben Bevölkerungsgruppen ohne Migrationshintergrund den Großteil der formalen und informalen Schlüsselpositionen in der Stadt und in den Institutionen sowie Organisationen im Sozialraum von Stadtteil und Wohnquartier monopolisiert. Die „Vergemeinschaftung von Außenseitern“ mit Migrationshintergrund im Rahmen sporadischer Machtausübung im öffentlichen Stadtraum muss deshalb auch als Resonanz auf die Monopolisierung von formalen und informalen Schlüsselpositionen durch die Etablierten ohne Migrationshintergrund im städtischen Organisationsraum wahrgenommen werden. Waldhoff hat darauf hingewiesen, dass die ethnische Vergemeinschaftung auf das
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Niveau der Vergesellschaftung gebracht werden muss, wenn eine langfristige ethnische Unterschichtung überwunden werden soll (vgl. 1995: 63). Hüttermann unterscheidet in ähnlicher Weise eine korporative von einer wohnumfeldnahen Öffentlichkeit (vgl. 2000: 276): Die korporative Öffentlichkeit wird von lokalen Institutionen und Organisationen getragen, deren Agenten entsprechende Funktionsrollen ausgebildet haben und im Sinne von Habermas die örtliche „Systemwelt“ repräsentieren (z.B. Vereine, Parteien, kommunale Einrichtungen). Auf dieser Ebene der städtischen Öffentlichkeit sind die Machtchancen der Autochthonen institutionell gesichert. Die wohnumfeldnahe Öffentlichkeit wird hingegen von konkreter Face-to-Face-Kommunikation und sozialer Interaktion zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern getragen. Im Sinne von Habermas handelt es sich um eine „lebensweltliche“ Kulturbegegnung, die sich nicht dem Handeln organisierter Akteurinnen und Akteure der etablierten lokalen Machtgruppen unterordnet, so dass die Allochthonen auf dieser Ebene interaktiv sozialräumlich und lebensweltlich Gegenmacht generieren können. Vor diesem Hintergrund macht es keinen Sinn, den Blick auf die Differenzen kultureller Regelsysteme von Autochthonen und Allochthonen zu fokussieren und somit zu beschränken. Die Nutzungskonflikte auf der mikroskopischen Ebene alltäglicher Interaktionen im öffentlichen urbanen Raum repräsentieren nur die eine Seite der Medaille. Die Überwindung der Differenzen setzt voraus, dass auch die soziale Ungleichheit im organisationalen Raum der Systemwelt als andere Seite der Medaille stärker wahrgenommen und ausgeglichen wird. Dazu werden Konzepte eines konstruktiven „Diversity Managements“ gebraucht, die Strategien eines Multikulturalismus und der Chancengleichheit auch in der Entwicklung von Organisationen verfolgen. Neben der Mikroebene von Interaktionen im Wohnumfeld muss auch die Mesoebene der sozialen Institutionen und Organisationen ins Blickfeld gerückt werden. Wenn Allochthone beispielsweise in Kindertageseinrichtungen und deren Trägerverbänden, in Schulen und Bürgerhäusern, in Wohnungsgesellschaften oder in kommunalen Gremien und Strukturen als Mitglieder anerkannt sind und aktiv mitwirken können, setzt nicht nur ein Wandel der Struktur und Kultur in den Organisationen ein, sondern es wird auch integrative Rückwirkungen auf die alltäglichen Interaktionen von Autochthonen und Allochthonen im öffentlichen urbanen Raum geben.
5
Zusammenfassung und Ausblick
Die Differenz kultureller Regelsysteme zwischen autochthonen und allochthonen Bevölkerungsgruppen äußert sich in den Sozialräumen marginalisierter Stadtquartiere gegenwärtig häufig in der Gestalt von Nutzungskonflikten, kontroversen
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Begegnungsformen im öffentlichen Raum und umstrittenen Formen seiner Aneignung. Als Auslöser eines inneren Kulturkonflikts wird immer wieder das Aufwachsen jugendlicher Migrantinnen und Migranten in einem Wertemilieu der so genannten „Kultur der Ehre“ beschrieben. Aber der Blick in die Literatur verdeutlicht, dass Tendenzen zu kollektivistischen Orientierungen und subkultureller Vergemeinschaftung bei autochthonen Jugendlichen aus Familien mit geringem sozioökonomischem Status ebenso ausgeprägt sind. Sie entstehen unter den besonderen soziokulturellen Bedingungen von Marginalisierung und Ausgrenzung und lassen sich nicht auf einen ethnisch spezifisch kulturellen Faktor reduzieren. Trotz der ethnisch-kulturellen Komponente auf der phänomenologischen Ebene gehen die abweichenden Verhaltensmuster deutlich über den Migrationskontext hinaus: Sie resultieren eher aus dem Zusammenwirken klassenkultureller Ausgangsbedingungen, d.h. aus einer Verräumlichung sozialer Ungleichheit. Insofern werden die Konflikte und Differenzen von urbanen Mechanismen der Exklusion getragen und nicht von Migration ausgelöst. Das Beispiel der „Street Corner Society“, die ihr eigenes subkulturelles Regelsystem entwickelt, zeigt anschaulich, dass die Umkehrung des Statusgefüges im Sozialraum von Stadtteil und Wohnquartier teilweise im Rahmen einer Regeln verletzenden Machtentfaltung gegenüber Autochthonen stattfindet. Die geltenden Verhaltensvorschriften im urbanen öffentlichen Raum werden dabei von Allochthonen gezielt verletzt. Die Interaktionen mit den autochthonen Interaktionspartnern werden als Wettstreit angelegt, wessen kultureller Werterahmen Kontrolle über den anderen gewinnt. Aber auch diese Prozesse sind statusbasiert; denn Jugendliche einer „Street Corner Society“ konstruieren abweichende subkulturelle Regelsysteme, um die abwertende und ausgrenzende Klassenidentität demonstrativ umzudeuten – nicht hingegen aus einem ethnischen Widerspruch heraus. Die Umdeutung von Regeln durch Menschen mit einem Migrationshintergrund kann im Licht der Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen somit als Strategie aufgefasst werden, im öffentlichen Raum demonstrativ Respekt und Anerkennung zu erlangen. Im Sinne von Habermas handelt es sich um „lebensweltliche“ Kulturbegegnungen, die sich nicht der Logik etablierter lokaler Machtgruppen unterordnet, so dass die Allochthonen auf dieser Ebene interaktiv Gegenmacht generieren können. Im Blickpunkt stehen dabei die sozialen Interaktionen zwischen Bewohnerinnen und Bewohnern in der sozialräumlichen Öffentlichkeit. Daneben muss die korporative Öffentlichkeit von lokalen Institutionen und Organisationen mehr Beachtung finden. Denn sie fungieren als „Closed Shops“ der sozialräumlichen „Systemwelt“ (Habermas). Auf der Ebene der städtischen Öffentlichkeit von Vereinen, Parteien und kommunale Einrichtungen
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blieben die Machtchancen der Autochthonen gegenüber Allochthonen bisher institutionell monopolisiert. Zur Überwindung der Differenzen kultureller Regelsysteme muss daher sowohl auf der (a) mikrosozialen als auch auf der (b) mesosozialen Ebene angesetzt werden: Mikrosozial sind gemeinschaftliche Ideologien kritisch zu bewerten, die trennscharf zwischen Binnen- und Außenmoral differenziert und gegenüber Sippenfremden all dasjenige erlaubt, was unter den Sippengenossen verboten ist. Handlungsstrategien müssen daran ansetzen, Regeln der Interaktion explizit zu formulieren, demonstrativ zu sanktionieren und sozialräumlich gemeinsam zu teilen. Mesosozial ist hierzu vor allem eine Öffnung der Infrastruktureinrichtungen im Sozialraum gefordert – wie beispielsweise die Kindertagesstätten, Grundschulen und Infrastruktureinrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch die zivilgesellschaftlichen Agenturen. Eine in Kanada durchgeführte Längsschnitt- und Interventionsstudie zeigte, dass Jungen, die im Kindergartenalter als antisozial und unruhig aufgefallen waren, unbehandelt im Alter von 17 Jahren oftmals Anzeichen von schwerer Delinquenz aufwiesen. Hatten die Jungen und deren Eltern dagegen im Alter zwischen sieben und neun Jahren an einem Interventionsprogramm zu sozialen Fähigkeiten teilgenommen, konnten solche Entwicklungen in den meisten Fällen verhindert werden (Schmitt-Rodermund/Silbereisen 2004: 259, Studie von Lacourse, Eric/Cote, Sylvana /Nagin, Daniel S./Vitaro, Frank/Brendgen, Mara/Tremblay, Richard E. 2002). Solche Interventionsprogramme mit dem Ziel sozialer Eingliederung, dem Aufbau höherer Bildungsambitionen, der Schaffung eines fundierten Selbstbewusstseins und der Vermittlung eines kulturübergreifenden Regelrahmens werden auch in Deutschland gebraucht, um einer Chronifizierung der Auffälligkeit von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit geringem sozioökonomischem Status wirkungsvoll vorbeugen zu können. Vor diesem Hintergrund sind Hoffnungen mit Modellprojekten wie dem „Sozialen Frühwarnsystem“ (vgl. URL http://www.soziales-fruehwarnsystem. de/) und dem „Netzwerk Frühe Förderung“ (NeFF; vgl. URL http://www.lvr.de/) in Nordrhein-Westfalen verbunden. Die Erfahrungen der ersten Erprobungsprojekte zeigen, dass strukturierte, verlässliche und berechenbare Kooperationen von Fachkräften bei öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, des Gesundheitssystems und von anderen familienbezogenen Diensten einen wichtigen und sinnvollen Beitrag dazu leisten, riskante Lebenssituationen von Kindern – insbesondere in marginalisierten deutschen und nichtdeutschen Familien – im Sozialraum frühzeitiger wahrzunehmen, zu beurteilen und entsprechend zu beeinflussen. Damit es aber nicht bei professionellen Definitionsprozessen auf der korporativen Ebene der Stadtteilöffentlichkeit bleibt, sind solche Initiativen zivilgesell-
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schaftlich zu unterfüttern. Nur wenn Bewohnerinnen und Bewohner mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund in nachbarschaftlichen Präventionskreisen zusammenarbeiten, einen gemeinsamen Regelkodex durchsetzen und bei Regelverletzungen wirkungsvoll intervenieren, wird die lebensweltliche Integration von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in kulturell heterogenen Wohnquartieren positiv unterstützt.
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Zwischen institutioneller Ordnung und Selbstbehauptung
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Zwei Beispiele zur Einführung
Vor einigen Jahren wurde einer türkischstämmigen Frau in einem Krankenhaus in Rheinland-Pfalz eine Organtransplantation verweigert; dieser Vorfall erregte seinerzeit überregionale Aufmerksamkeit und wurde breit diskutiert. Manchen galt das als Ausdruck des alltäglichen strukturellen Rassismus in Deutschland. Interessant für den heutigen Zusammenhang ist m. E. die vom Krankenhaus vorgetragene Begründung: Es gehe nicht darum, der Frau die lebensrettende Transplantation vorzuenthalten, weil sie türkischer Herkunft sei, sondern weil sie nicht genügend Deutsch verstünde und spreche, um bei der notwendigen Nachbehandlung zur Vermeidung der Organabstoßung sachgerecht mitwirken zu können. Das Argument ist und bleibt rassistisch, weil eine solche Mitwirkung zum einen durch die sich als Übersetzerin verpflichtende Tochter gewährleistet war und zum anderen ja auch nicht die sprachlichen Fähigkeiten einsprachig deutscher Patienten überprüft werden, die ggf. durchaus Deutsch sprechen, aber in der ärztlichen Kommunikation versagen können. Aber was für ein Verständnis von Sprache steckt hinter diesem Ereignis? Als erstes fällt auf, dass es nur um eine Sprache geht, die deutsche nämlich. Dass die betroffene Frau, die dann später doch eine Transplantation erhielt und tragischerweise starb, eine andere Sprache, nämlich Türkisch sprach, spielte überhaupt keine Rolle. Türkisch galt hier nicht als „falsche Sprache“, sondern als etwas vollkommen Irrelevantes. Die simple Möglichkeit, von einer in die andere Sprache zu übersetzen, wurde gar nicht in Betracht gezogen. Diese Beobachtung belegt, dass es nicht allein um ein technisches Problem ging, nämlich die für die Nachbehandlung wesentlichen Anweisungen zu verstehen und umzusetzen, sondern um ein tiefer liegendes Verständnis vom allein als bedeutsam eingeschätzten Besitz der deutschen Sprache. Wenn es sich wirklich nur um ein technisches Problem gehandelt hätte, wäre Übersetzung ein adäquater technischer Weg gewesen. Die Nichtberücksichtigung dieser Möglichkeit aber zeigt, dass es eben nicht nur um ein technisches Problem geht, sondern um eine tief sitzende Normalitätsvorstellung von Sprachbesitz im Sinne von Einsprachigkeit.
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Ungefähr zur selben Zeit, 1999, ging ein anderer Vorfall durch die Medien, wo es auch um die Sprache ging: Ein Schulleiter erklärte seine Schule inklusive Schulhof zur rein deutschen Zone, mit der Argumentation, die zweisprachigen Kinder würden kein richtiges Deutsch lernen, wenn man ihnen nicht die Möglichkeit entziehe, in ihrer Familiensprache zu sprechen. Die dahinter liegende Vorstellung von Sprache zielt ebenfalls auf die Normalvorstellung von Einsprachigkeit, sprich man lerne eine andere Sprache ausschließlich und am besten durch Unterdrückung der Erstsprache. Es handelt sich hierbei um ein Beispiel, das exemplarisch ist. Es handelt sich keinesfalls um eine einzelne Stimme – der Mann bekam ja auch sehr viel Zuspruch für seine Entscheidung –, es handelt sich um eine tief sitzende Haltung in unserer Gesellschaft und unserem Bildungswesen, dass Einsprachigkeit die Norm und Zweisprachigkeit ein Defizitkriterium darstellt. Ingrid Gogolin brachte das 1994 auf den noch heute treffenden Ausdruck des „monolingualen Habitus der multilingualen Schule“. Wie kommt dieser Habitus zu Stande? Ich erlaube mir im Folgenden zunächst ein paar historische Anmerkungen und komme dann auf die aktuelle sprachpolitische Debatte und ihre Bedeutung für die Bildungspolitik.
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Geschichtlicher Rückgriff: Zur Ethnisierung der Sprache(n)
Das Thema Monolingualität und Multilingualität ist in einem engen Zusammenhang mit der Transformation der prämodernen europäischen sozialen Formationen zu Nationalstaaten zu sehen. Vor Anbruch der Neuzeit war die sprachliche Wirklichkeit nicht an ein staatliches Gebilde gebunden. Erst durch die Herausbildung der Nationalstaaten wurden die Sprachen in Europa zu Identitätsmerkmalen von Zugehörigkeit zu einem Staatswesen. Einsprachigkeit oder Monolingualität ist also kein quasinatürlicher Zustand einer Gesellschaft oder eines Staates – auch schon nicht einer sozialen Gruppe –, sondern das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung im Kontext des ‚nationbuilding‘. Wir haben es hier mit einer Dialektik der Geschichte zu tun, dass Sprachen wie das Deutsche spätestens seit dem 18. Jahrhundert als Identitätsmerkmal eines sich konstituierenden Staates dienen sollten. Denn zu dieser Zeit lag die Emanzipation der deutschen Sprache als eine Bildungssprache noch gar nicht lange zurück. Immerhin war die Sprachenfrage ein entscheidender Faktor für die reformatorischen Auseinandersetzungen zwischen Luther und der Kirche. Die Übersetzung der Bibel ins Deutsche mag aus der Sicht der evangelischen Theologie eine Zwangsläufigkeit sein, wenn das Verhältnis des „Christenmenschen“ zu Gott als ein unmittelbares bestimmt wird, in das keine Kirche als Institution
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vermittelnd einzugreifen hat. Historisch gesehen handelt es sich dabei um eine Emanzipation, ja man kann sagen Enthierarchisierung des Verhältnisses von Mensch und Gott. Wenn nun dieses Verhältnis ein direktes ist, dann stellt sich selbstverständlich die Frage der Sprache: In welcher Sprache redet man denn mit seinem Gott? Für Luther war die Antwort klar: nicht Latein, nicht Griechisch, nicht Hebräisch, sondern so „wie uns der Schnabel gewachsen“ ist. Dieser typisch lutherische Phraseologismus belegt ein Verständnis von der Natürlichkeit von Sprachen, d.h. es ist dem Menschen von Natur aus eine verschiedene Sprache gegeben. Der babylonische Turm der Sprachenverwirrung ist in dieser Sicht eine Chimäre oder besser: eine Konstruktion der Macht. Der Versuch, eine einheitliche Sprache des Glaubens zu entwickeln, ist nichts anderes als die Unterscheidung in Hegemonialsprachen und nicht legitime Sprachen, später im 18. Jahrhundert nannte man das „Volkssprachen“. Die Wirklichkeit ist schlichter: Es gibt eben verschiedene Sprachen als Laune der Natur. Bei Luther war das noch keine ethnisch aufgeladene Konstruktion, sondern eine – vielleicht naive – Vorstellung von der Natürlichkeit der Einzelsprachen, die nicht weiter hinterfragt wurde. „Deshalb haben auch die Sophisten gesagt, die Schrift sei dunkel und rede so seltsam. Aber sie sehen nicht, daß der Mangel auf den Sprachen beruht; andernfalls wäre nichts Klareres je gesprochen worden als Gottes Wort, wenn wir die Sprachen verständen. Ein Türke, den doch ein türkisches Kind von sieben Jahren gut versteht, wird für mich ganz dunkel reden, weil ich die Sprache nicht kenne“ (Luther 1924: 58).
Sehr klar war ihm der Machtaspekt: Tatsächlich ging es nicht so sehr um das private Gespräch mit Gott, sondern um die Frage der Entscheidung über Richtigkeit und Falschheit von Glaubenssätzen und religiösen Lebensformen. Mit der Übersetzung der Bibel in das Deutsche schaffte er die Voraussetzungen dafür, dass jeder selbst entscheiden konnte, was denn der richtige Glaube ist und was nicht, d.h. die Suprematie der Kirche als vermittelnde Instanz wurde gebrochen durch Übersetzung. „Darum ist es ein törichtes Vorhaben gewesen, daß man die Schrift hat kennenlernen wollen durch die Auslegungen der Väter und durch das Lesen vielen Bücher und Erläuterungen. Man hätte sich statt dessen auf die Sprachen verlegen sollen, [...] Denn was die Sonne gegenüber dem Schatten ist, das ist die Sprache gegenüber allen Erläuterungen der Väter. Nun geziemt es dem Christen, die heilige Schrift zu gebrauchen als ein eigenes, einziges Buch und es ist eine Sünde und Schande, daß wir unser eigenes Buch nicht verstehen und unseres Gottes Sprache und Wort nicht kennen. So ist´s denn noch viel mehr Sünde und Verderben, daß wir nicht Sprachen lernen [...]“ (Luther 1524: 58).
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Das gerade zitierte berühmte „Sendschreiben“ Luthers An die Ratherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollten von 1524 stellt das Thema Sprache direkt in einen Bildungskontext. Sprache ist für ihn auch Schriftsprache: Verbunden mit der Forderung danach, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zu Gott finde und dazu die Bibel in der ihm verfügbaren Sprache prüfen kann, ist die Ausbildung von Literalität gebunden, d.h. man muss lesen und schreiben können, ergo muss es Schulen geben, die das vermitteln. Bei Luther war also mit der Einsicht in die natürliche Sprache eines Menschen die Konsequenz verbunden, diese Sprache(n) als ein Element von Bildung zu betrachten; die natürliche Sprache ist das alltägliche „Maulbrauchen“, wie er es auch nannte, die einen bildenden Zugang erfordert, soll sie ihre Funktion erfüllen, den einzelnen in Glaubensdingen urteilsfähig zu machen. In dieser Hinsicht stand er in der Tradition der deutschen Mystik, die diesen Zusammenhang von individuellem Gottesbezug, Sprache und Bildung bereits im 14. und 15. Jahrhundert vorformuliert hatte, so vor allem bei Meister Eckart – einem Kölner übrigens. Was in Luthers Sendschreiben auffällt ist die Dedikation: Er richtet sich nicht an einen Herrscher, sondern an die „Ratsherren aller Städte deutschen Landes“, d.h. an die bürgerliche Administration und das im Plural. Deutschsein ist hier eindeutig noch nicht mit der Zugehörigkeit zu einem „Land“ verbunden: Die Sprache ist etwas natürlich Gegebenes, die politische Ordnung etwas sozial Konstruiertes; beides steht in keinem notwendigen, sondern einem zufälligen Zusammenhang. Am Ort der beginnenden Emanzipation der deutschen Sprache als – und das sollte man nicht unterschätzen – eine Sprache, in der man mit und über Gott reden kann, gibt es keine ethnische Aufladung von Sprache. Die Normalität ist für Luther die Vielfalt der natürlichen Sprachen, der man mit Sprachenlernen als Bildungsaufgabe zu begegnen hat, nicht mit Homogenisierung. Die o.g. Dialektik der Geschichte ist es nun, dass sich aus diesem Gedanken letztlich das Gegenteil entwickelt hat: die Idee einer einheitlichen deutschen Sprache, die über technische Errungenschaften (den Buchdruck), die Ausbreitung eines Beamtenstandes (so im 16. Jahrhundert vor allem die Meißnische Kanzlei) und später die Schule (durch die Einführung eines Faches deutsche Sprache im 19. Jahrhundert) die Vorarbeiten vorfand, in die hinein sich die Idee einer gemeinsamen Sprache als Ausdruck einer kollektiven Identität ausbreiten konnte. Es soll und kann jetzt im Folgenden nicht darum gehen, diese Entwicklung nachzuzeichnen. Wichtig erscheint es allerdings, die weitere Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert kurz zu thematisieren, wo die wesentlichen Weichen für die Vorstellung von Einsprachigkeit als Normalität gestellt wurden. Denn mit Luther hatte sich die deutsche Sprache als Bildungssprache noch lange nicht durchgesetzt. Noch Friedrich der Große hielt die deutsche Sprache als Literatursprache
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für ungeeignet. Er verfasste eine Schrift „De la littérature allemande“ – im Übrigen die erste deutsche Literaturgeschichte –, aber eben in französischer Sprache. Das Deutsche war es noch nicht einmal wert, als Metasprache zu den in ihr verfassten ästhetisch unwürdigen Produkten verwendet werden zu können; dazu diente Französisch als Sprache des gebildeten Adels. Im 18. Jahrhundert waren es die so genannten Romantiker, insbesondere Johann Gottfried Herder, die Grimms und andere, die auf die Suche nach der ursprünglichen Volks- oder Nationalsprache gingen – beide Begriffe stammen aus dieser Zeit. Der zentrale Identifikationstext war das Nibelungenlied, von dem aus man den Mythos einer identifizierbaren germanischen Sprache und Kultur herleitete; die Bearbeitung dieses Textes begründete die noch heute so genannte Germanistik. Der deutschen Sprache wurde eine Geschichte gegeben, die nicht ohne Grund in eine mythische Vergangenheit zurückverlegt wurde, deren Konfliktstoff von einem im Rhein versenkten Zwergenschatz herrührte. Das Nibelungenlied wurde eben nicht soziologisch als Auseinandersetzung von zwei Prinzipien der Regierung verstanden – einem archaischen, das seine Legitimation aus der Kraft des einen Helden herleitete (Siegfried) und einem technokratischen (Hagen) -, sondern als ein Ursprungsmythos deutscher Sprache und Kultur und damit der Vereinnahmung des Rheins als tiefstem deutschen Besitztum. Heute sehen wir im Kern des Nibelungenlieds letztlich ein politisches Traktat, ganz ähnlich der homerischen Darstellung des Kampfes um Troja, wo es zwischen Achill und Agamemnon letztlich auch um eine ganz ähnliche Auseinandersetzung zwischen einer mythischen und einer technologischen Herrschaftsform geht. Mit der rückwärtsgewandten Konstruktion einer Geschichte der deutschen Sprache, die eben nicht bei den Straßburger Eiden – also der Teilung des fränkischen Reiches in einen deutschen („lingua theodisca“) und einen französischen Teil („lingua romana“) – ansetzte, sondern in einem mythologischen Text, war ein Prozess eröffnet, der zu einer Ethnifizierung und Kulturalisierung der deutschen Sprache führte: Ethnifizierung hinsichtlich der Konstruktion einer so genannten Nationalsprache, die gegen andere Nationen mit ihren Sprachen abgrenzt und Kulturalisierung als eine Ursprungsverknüpfung von Sprache und Kultur, die auch zu einer inneren Differenzierung von sprachlichen Varietäten führte. Das kommt in Begriffen wie Hochsprache und Umgangssprache zum Ausdruck; auch in der Abgrenzung von Hochsprache und Dialekten. Historisch betrachtet ist zu betonen, dass der Ausdruck „theodiscus“ zu einem Programmwort der Kulturpolitik Karls des Großen wurde. Er leitet sich vom germanischen *theudǀ her und bedeutet einfach „Volk“. Karl verwendete ihn als Oberbegriff für Franci et Baioarii, Langobardi et Saxones – so auf der Reichsversammlung von 788 – gerade um den Ausdruck der lingua franca zu vermeiden und nicht das Fränkische den anderen Sprachen als Superstrat aufzu-
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oktroyieren. Von da an dauerte es noch immerhin fast zweihundert Jahre bis man erste Belege für das Wort „deutsch“ in deutscher und nicht lateinischer Sprache findet – so ein paar Mal bei Notker von St. Gallen: in diutiscun und später im Kölner Annolied von 1090. Hierhin wird der Sprachbegriff diutschin sprechin auch auf die Menschen übertragen (diutschi man, diutschi liute) und auf das Land (in diutschemi lande). Für Karls balancierende Kulturpolitik war es Programm, einen Namen für die gemeinsame Sprache zu implementieren, der der Vielfalt der vorhandenen Sprachen einen gemeinsamen Rahmen bot, ohne die Differenzen einzuebnen. Dieses historische Erbe lastet auf allen Diskussionen um die deutsche Sprache und ganz klar auch auf dem Diskurs über die deutschen Sprachkenntnisse der zugewanderten Menschen. Die gesellschaftliche Normalvorstellung ist die der Einsprachigkeit: Zwei- und Mehrsprachigkeit sind etwas Besonderes. Gesellschaftlich gilt Mehrsprachigkeit nicht als etwas Erstrebenswertes, sondern als etwas zu Verhinderndes; individuell gilt Zweisprachigkeit – bei aller Bewunderung für einzelne Menschen, die mehrere Sprachen perfekt sprechen – nach wie vor als Quelle einer defizitären Sprachentwicklung und Sprachverwendung. Ich möchte das im Folgenden anhand einiger Beispiele nachzeichnen.
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Sprache(n) in der Einwanderungsgesellschaft
Ich folge bei der Analyse der kommenden Beispiele der Linie, wie sie von WolfDietrich Bukow und Roberto Llaryora mit ihrem Buch „Mitbürger aus der Fremde“ 1988 vorgegeben wurde: Ich kehre die Perspektive um und schaue nicht in traditioneller Weise auf den Umgang mit Sprache und Sprachen, d.h. im Sinne von Gegenständen der Analyse, sondern aus der Perspektive der gesellschaftlichen Funktionalität des Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit. Die Frage lautet also nicht, wie die sprachlichen Verhältnisse aussehen, sondern wie mit ihnen umgegangen wird. Das Wort „Parallelgesellschaft“ ist der Ausgangspunkt. Ich möchte dem nicht eine weitere Dekonstruktion hinterherschicken, nur so viel: Hinter dem Begriff steckt die Vorstellung von einer hegemonialen einheitlichen Gesellschaft, von der sich eine ebenfalls einheitliche andere Gesellschaft abkapselt und parallel daneben lebt, – in üblicher Terminologie – nicht „integrieren“ lässt. Es ist das von Bukow und Llaryora benannte binäre Schema von „Ausländern“ und „Deutschen“, dessen Bipolarität keine Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse ist, sondern eine Konstruktion von Seiten der Mehrheitsgesellschaft, deren Funktionalität in der Konstruktion von einheitlichen Gruppen zu sehen ist, um auf dieser Weise die Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft zu legitimieren und zu stablisieren.
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Im Umgang mit den Familiensprachen der Einwanderinnen und Einwanderer ist das gut zu erkennen: In der Diskussion um das Deutschlernen und die mangelhaften Deutschkenntnisse von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erscheint die andere Familiensprache als „Risikofaktor“. Mit dem Begriff der „Risikogruppe“ hat die PISA-Studie machtvoll einen Pfeiler in die bildungspolitische Landschaft gerammt, hinter den man kaum noch zurückkommt. Das noch Anfang dieses Jahrhunderts zarte Pflänzchen der Anerkennung der Zweisprachigkeit als individuelle und gesellschaftliche Ressource ist seitdem eingegangen; der Stiefel der Nach-PISA-Debatte hat es zertreten. Immerhin formulierte nicht nur die Zuwanderungskommission, sondern auch das Forum Bildung und sogar das gegen die Süßmuthkommission gerichtete Papier der CDU „Zuwanderung steuern und begrenzen. Integration fördern“ im Jahre 2001 in diese Richtung. Zweisprachigkeit wurde in dieser Zeit nicht gerade als Recht auf Sprache aufgegriffen, aber immerhin als ein Element von Bildung, das individuell und von der Gesellschaft als wertvoll betrachtet wurde. Mit dem Begriff der „Risikogruppe“ aber – und damit werden landläufig die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verstanden – wurde die Diskussion personalisiert. Obwohl die PISA-Autor(inn)en immer wieder darauf hingewiesen haben, dass sie über Systemeffekte schreiben und keine individuellen Leistungsdiagnosen durchführen, führte doch die Zuschreibung des „Risikos“ zu einer Gruppe dahin, dass diese als verantwortlich für schlechte Ergebnisse betrachtet wurde: Nicht die Schule schafft es nicht, diese entsprechend zu fördern, lautet die Diagnose, sondern diese Schülerinnen und Schülern bringen die erforderlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Passage des Bildungssystems nicht mit. Konsequenterweise begann man in einigen Bundesländern darüber nachzudenken, die „Risikogruppe“ aktiv aus dem Bildungssystem auszuschließen, sprich Kinder vom Schulbesuch zurückzustellen, die nicht über hinreichende Deutschkenntnisse verfügen. Wir befinden uns in einer schwierigen Situation: Die nach PISA endlich in Gang gekommene Diskussion über die verstärkte Sprachförderung im Elementarbereich konnte einerseits mit einer gewissen Erleichterung wahrgenommen werden, insofern als von Expert(inn)enseite schon seit langem auf die nicht genutzten Bildungsmöglichkeiten im Vorschulalter hingewiesen worden war. Endlich schien es so weit, dass hier etwas in Gang kommt. Aber mit welchen Konsequenzen: Es geht allein um das Deutschlernen – die Berücksichtigung der Herkunftssprachen ist überhaupt kein Thema mehr. Und die von PISA ebenfalls klar nachgewiesen Problematik der frühen Selektion im deutschen Schulsystem droht noch weiter nach vorn geschoben zu werden – in die Zeit vor Schuleintritt. Dasselbe betrifft die seit Ende der 1990er Jahre entwickelten Sprachstandserhebungsverfahren: Hier wird eine wichtige und für die betroffenen Kinder und
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ihre sprachliche Förderung bedeutsame Maßnahme überschattet vom gesellschaftlichen Primat der Einsprachigkeit. Die Sprachstandserhebungsverfahren werden zum einen funktionalisiert: In einigen Ländern geht es um Selektion, sprich um die Aussortierung von Kindern aus den Regelklassen. So hat man in Bayern ein Verfahren entwickelt, das in vier Stufen unterteilt ist. Die vierte Stufe ist wunderbar kindgerecht konzipiert – eigentlich würde man jedem Kind bei der Anmeldung zur Einschulung wünschen, an so etwas teilnehmen zu können –, aber leider steht für die Kinder, die in diese Stufe gelangen, in der Regel schon aufgrund der Tatsache, dass sie sie erreicht haben, bereits fest, dass sie in eine spezielle Sprachfördermaßnahme eingewiesen werden, d.h. in eine Sprachlernklasse kommen. Das Bremer Verfahren SFD geht den umgekehrten Weg: Es lässt nur die sprachlich besseren Kinder in die höchste Stufe der Diagnostik gelangen. Diejenigen, denen mangelnde Deutschkenntnisse attestiert werden, scheiden bereits vorher aus. Sie werden einer Sprachfördermaßnahme zugewiesen, ohne dass diagnostisch klar wäre, welches ihre spezifischen Sprachlernbedürfnisse sind. In Berlin ist das viel kritisierte Verfahren „Bärenstark“ inzwischen offiziell zurückgezogen worden – aber anscheinend nicht aufgrund der wissenschaftlichen Kritik, sondern weil seine Ergebnisse schlichtweg nichts anderes abbilden als das Sozialniveau der Berliner Stadtteile. Und da wird man ein teures Verfahren gerne einsparen, da die Sozialstatistik sowieso vorliegt und die Fördermittel für den Bereich Deutsch als Zweitsprache – denn darum ging es in Berlin – dann auch entsprechend verteilt werden können. Ironie der Geschichte: Berlin hat nun das niedersächsische Verfahren übernommen, das in großen Teilen vom alten Berliner „Bärenstark“ abgekupfert hatte. Man hat dort nun ein „Bärenstark light“. Wenn man sich die Sprachstandserhebungsverfahren genauer ansieht, so wird vollkommen fraglich, was überhaupt noch unter Sprache verstanden wird: Das Berliner „Bärenstark“ war ein an der grammatischen Norm der entfalteten Schriftsprache orientiertes Verfahren. Dagegen richtete sich eine heftige Kritik von Seiten der Expert(inn)en für Kindersprache, die dahingehend argumentierten, dass es man nicht die gesprochene Sprache (zweisprachiger) Kinder an der grammatischen Norm einsprachiger Schrifttexte messen könne. Nicht umsonst konnte Berlin mit „Bärenstark“ extrem hohen Förderbedarf (von bis zu 80 Prozent) ausweisen – gesprochene Sprache folgt nun einmal nicht der normativen Grammatik der Schriftsprache. In Mannheim zum Beispiel müssen die Kinder hauptsächlich deutsche Silben klatschen. Daraufhin wird ihnen ein Punktwert zur phonologischen Bewusstheit zugewiesen, der dann als Indikator für den Sprachstand genommen wird. Zu diesen ganzen Verfahren liegen seit 2003 bzw. 2004 zwei Gutachten vor, eines von Lilian Fried von der Universität Dortmund (2003) und eines von
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einem Konsortium unter der Leitung von Konrad Ehlich von der Universität München (2004). Beide kommen zu dem Ergebnis, dass die derzeit auf dem Markt befindlichen Verfahren in der Regel nicht hinreichend ausgearbeitet sind, um so etwas wie den Sprachstand im Deutschen valide zu erfassen. Das bedeutet, dass wir in der Bundesrepublik weitreichende Entscheidungen fällen über frühe Selektion und Sprachfördermaßnahmen ohne überhaupt zu wissen, dass das, was wir messen, Sprachkompetenz überhaupt erfasst. An dieser Stelle ist nicht der Sprachstand von Kindern mit Migrationshintergrund das Skandalon, sondern die Art und Weise wie wir damit umgehen. Das Hamburger Verfahren HAVAS 5 war das erste, das überhaupt versuchte, die Familiensprachen der Kinder zu berücksichtigen. Dieses Verfahren wird ein Jahr vor Schuleintritt von den Lehrkräften in Vorschulen und den Erzieher(inne)n in Kindertagesstätten eingesetzt, um den Sprachstand festzustellen und auf dieser Basis eine Förderplanung zu erstellen. Hierbei werden beide Sprachen erhoben, um auf diese Weise ganz schlicht festzustellen, ob ein Kind ggf. eine allgemeine Beeinträchtigung der Sprachentwicklung hat oder ob es sich lediglich um einen Rückstand im Deutschen oder auch der jeweiligen Familiensprache handelt. Jedem vernünftigen Menschen leuchtet es ein, dass man mit der Information, ein zweisprachiges Kind könne weniger Deutsch als ein anderes schlichtweg nichts anfangen kann, wenn man nicht weiß, wie das Kind in seiner anderen Sprache agiert. Ein zweisprachiges Kind wird, wenn man es lediglich aufgrund seiner sprachlichen Performanzen im Deutschen beurteilt, in seiner sprachlichen Lebenswirklichkeit halbiert. Das aber tun die meisten der Verfahren aufgrund der vordergründigen Argumentation, in der Schule ginge es doch nur um das Deutsche. Jede(r) Sprachdidakter(in) aber weiß – oder sollte wissen –, dass die Förderung eines Kindes, das in seiner Familiensprache altersgemäß entwickelt ist, im Deutschen aber nicht, anders aussehen muss, als bei einem Kind, das in beiden Sprachen nicht altersgemäß entwickelt ist.1 Sprachliche Dominanz, d.h. die Ausprägung einer Sprache als die Stärkere wird auf diese Weise zum Defizitkriterium. Die Kinder bringen nicht einfach die „falsche Sprache“ mit; es ist aus meiner Sicht viel schlimmer: Die andere Sprache wird einfach nicht wahrgenommen. Sie ist nicht von Bedeutung, weil generell nicht auf die Kompetenzen, sondern nur auf die Defizite geschaut wird. Inzwischen – so muss man fairer Weise zugeben – ist das Problem durchaus erkannt worden und andere Verfahren versuchen die Familiensprachen der Kinder einzubeziehen: So können mit dem Bremer Verfahren anhand einer AudioCD die rezeptiven Fähigkeiten in der Familiensprache festgestellt werden; der in 1
So ergab die Verfahrensprüfung des HAVAS, dass die zweisprachigen Kinder in ihren Familiensprachen vergleichbare Ergebnisse erbrachten wie die einsprachig deutschen Kinder im Deutschen, tendenziell sogar höhere (vgl. Vieluf 2004).
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Duisburg eingesetzte CITO-Test ist auch in einer türkischen Variante erhältlich und soll auch für das Russische weiter entwickelt werden. Hier scheint sich also eine gewisse Einsicht auszubreiten, die eventuell zumindest für die Diagnostik auf einen Perspektivenwechsel Hoffnung gibt. Auf der bildungspolitischen Ebene hingegen können wir ganz andere Tendenzen entdecken: So wurde aus den Schulgesetzen von Hessen und Hamburg das Wort „Zweisprachigkeit“ gestrichen. In Hessen wurde das allen Ernstes mit „redaktionellen Anpassungen“ begründet; aus Hamburg ist mir nur die Begründung bekannt, dass es sich um eine Anpassung an die Leitlinien der Bildungspolitik handele. Die Änderung besteht in einer simplen Streichung, die aber die Aussage des gesamten Passus gravierend verändert: „Kinder und Jugendliche, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, sind unter Achtung ihrer ethnischen und kulturellen Identität so zu fördern, dass ihre Zweisprachigkeit sich entwickeln kann und ihnen eine aktive Teilnahme am Unterrichtsgeschehen und am Schulleben ermöglicht wird“ (Hamburgisches Schulgesetz 2003, § 3 Absatz 3).
Eine simple Streichung – bzw. „redaktionelle Anpassung“– bewirkt, dass es per definitionem keine zweisprachigen Kinder in den Schulen mehr gibt: Es gibt nur noch Kinder mit mehr oder weniger guten Deutschkenntnissen. Diese Entwicklung ist anhand der neuesten Daten, die für die Metropolregionen Zahlen ausweisen, die näher an 40 Prozent Anteil von Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund als an 30 Prozent liegen, stupend. Die Einsprachigkeit der Gesellschaft wird gesetzlich zementiert – unabhängig von gesellschaftlichem Wandel, der diese Gesellschaft schon seit längerem als eine multilinguale ausweist. Angesichts dieser Haltung ist – ich komme zu einem weiteren Beispiel – die Diskussion um die Bedeutung der Herkunftssprache(n) für den Erwerb der Zweitsprache Deutsch interessant. Selbst unter Kolleg(inn)en wird Vertreter(inne)n der Zweitspracherwerbsforschung, die auf die produktive Bedeutung der Herkunftssprache in einem koordinierten Sprachlernkonzept für den Erwerb der Zweitsprache hinweisen, häufig „Ideologie“ vorgeworfen. Es kommen die üblichen Killerphrasen über nicht hinreichend große Stichproben und nicht zeitgemäße methodische Designs – wer heutzutage nicht rasch skaliert, darf ja kaum noch am Gespräch teilnehmen. Dabei wird vollkommen ausgeblendet, dass die Zweitspracherwerbsforschung in Deutschland z. B. eine Nischendisziplin ist, die selbst in der Linguistik bis vor kurzem als nicht ganz ernst zunehmende exotische Nischenforschung galt. Nun fällt die Aufmerksamkeit auf den Bereich Zweitspracherwerb und Deutsch als Zweitsprache und den Vertreter(inne)n, die man bis dato nicht zur Kenntnis genommen hatte, wird vorgeworfen, sie hätten nicht genügend geforscht, um nun mal ganz schnell die anstehenden Fragen zu klären.
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Wenn diese Kolleginnen und Kollegen aber nun von den ihnen vorliegenden Daten ausgehend auf positive Effekte der Förderung der Herkunftssprachen hinweisen, wird ihnen Ideologie oder zumindest interpretative Überdehnung ihrer Untersuchungsergebnisse vorgeworfen. Es wird zur Zeit in keiner Weise zur Kenntnis genommen, dass abgesehen von einem Recht auf Sprache, die Herkunftssprachen tatsächlich eine Ressource für den Erwerb der Zweitsprache Deutsch darstellen können – unter den Bedingungen einer zeitlich langfristigen Förderung von fünf bis neun Jahren sowie der Koordinierung der Lehr- und Lernprozesse in beiden Sprachen. Aus dieser Perspektive sind Zwei- und Mehrsprachigkeit individuelle Ressourcen für einen effektiven Zweitspracherwerb. Die Tatsache, dass diese Möglichkeit des positiven Transfers von der Herkunftssprache in das Deutsche entweder gar nicht in Erwägung gezogen oder zumindest radikal in Zweifel gezogen wird, führt zu einer Haltung, dass man Deutsch allein durch das Deutsche lernt – vergleichbar der „english only“-Bewegung in den USA. Anstatt Zweisprachigkeit als individuell positive Voraussetzung für Sprachlernprozesse überhaupt in Betracht zu ziehen, bleibt sie Sprachbarriere – hier wiederholt sich schon seit langem eine Diskussion, die wir in den 60er Jahren mit den Dialekten hatten. Auch hinsichtlich des Sprachverhaltens von Familien mit Migrationshintergrund erleben wir häufig eine Diskussion wie im Zusammenhang mit dem Islam. In der Familien eine andere Sprache zu sprechen, gilt für Menschen, die als Arbeitsmigrant(inn)en, Aussiedler(innen) oder Flüchtlinge – also als gesellschaftlich marginalisierte Gruppe – gekommen sind, als Verweigerung von Integration. Der Umgang mit den Sprachen wird außerdem als ein double-bind betrieben. Zum einen wird den Familien gesagt, dass ihre Kinder besser Deutsch sprechen lernen sollten und dass es dafür hinderlich sei, wenn zuhause nur Türkisch oder Russisch gesprochen würde. Zum anderen – und häufig gleichzeitig – wird ihnen vorgeworfen, dass sie nicht richtig Deutsch könnten und ihren Kindern doch auf diese Weise „schlechtes Deutsch“ beibrächten. In einem bildungsnahen Elternhaus, in dem – nach dem Prinzip „ein Sprecher, eine Sprache“ – die Mutter nur Französisch und der Vater nur Deutsch spricht, würde niemand auf die Idee kommen, dass die Kinder zwei halbe Sprachen erwürben. Der Hintergrund ist das Prestige der jeweiligen Sprache und der soziale Status ihrer Sprecher(innen). Viele Eltern mit einem anderen Sprachhintergrund sind verunsichert, was denn nun das richtige Sprachverhalten sei, da ihnen von diversen ‚Expert(inn)en‘ und pädagogischen Professionellen widersprüchliche Auskünfte gegeben werden. Gleichzeitig ist das Wissen über das Ausmaß der zweisprachigen Praxen in den Familien bei den meisten der beteiligten Pädagog(inn)en eher gering und häufig von Vorurteilen oder überholten Positionen geprägt.
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Ein Beispiel dafür ist das Codemixing. Wir wissen inzwischen, dass es – abgesehen von späteren jugendkulturellen hybriden Sprachstilen – eine frühe und eine spätere Phase des starken Codemixing bei zweisprachig aufwachsenden Kindern gibt. Das gilt im Übrigen auch für Zweit- und Fremdsprachlerner. Wir wissen außerdem dass es kein ungrammatisches Codemixing gibt, sondern dass gerade dieses Phänomen die Emergenz zweier Lexika und zweier grammatischer Systeme in besonderer Weise beobachten lässt. Dennoch gilt dieses Phänomen als anormal, falsch, als Sprachenkonfusion und etwas, dem gegenzusteuern ist – übrigens denselben Leuten, die selbst ‚gerade gemailt haben‘ (vgl. hierzu zusammenfassend Cantone 2004: 60). Die starke Ablehnung, die Familien- oder Herkunftssprache für den Zweitspracherwerb zu berücksichtigen, korrespondiert mit einer in verschiedenen Bundesländern zu beobachtenden Tendenz, den so genannten muttersprachlichen oder herkunftssprachlichen Unterricht – soweit er in der Verantwortung der Länder erfolgt – zurückzufahren. Hessen, das zuvor als Musterland dafür galt, hat 1999 nach dem Regierungswechsel diesen Unterricht angefangen „auslaufen“ zu lassen und die Zuständigkeit dafür an die Konsulate der Herkunftsländer abzugeben. Auch in Nordrhein-Westfalen sind die Stellen aus diesem Topf um ein Drittel gestrichen worden. Die Möglichkeiten für Migrant(inn)en, ihre Familiensprache für ihre Kinder zu einer Bildungssprache auszubauen, sind nicht sehr groß und werden immer geringer. Von einem „Recht auf Sprache“, wie es in Schweden gilt, sind wir meilenweit entfernt. Im Übrigen wird das seit den PISAErgebnissen von neuem wieder verstärkt, d.h. es werden wieder mehr Angebote gemacht und es wird das Lernen in der Familiensprache von staatlicher Seite forciert. Hingegen wird in Deutschland von den Familiensprachen immer weniger versprochen; das Deutschlernen und Deutschtesten hingegen wird zur Zwangsmaßnahme.
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Conclusio
Das deutsche Bildungswesen zieht sich – trotz der verstärkten Anstrengungen der europäischen Institutionen hin zu einem breiteren Sprachenlernen – aus meiner Sicht wieder stärker auf eine einsprachige Position zurück. Einsprachigkeit ist die Normalität; individuelle Mehrsprachigkeit gilt in bildungsnahen Familien als bestaunenswertes Exotikum, in Migrant(inn)enfamilien als Sprachbarriere. Ein Selbstverständnis einer Schule – schon gar einer Region oder der Gesellschaft – als eine mehrsprachige und die Entwicklung entsprechender Bildungsmittel ist nicht in Sicht, sondern wird meist sogar abgelehnt.
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Warum ist das so? Wenn man an die alte Hoffman-Nowotny-These von der Unterschichtung der Gesellschaft durch Einwanderung denkt, muss man auf den Gedanken kommen, dass genau das gewollt ist. Ziel ist es, die Migrant(inn)en in einer Unterschichtposition zu befestigen. So gesehen macht alles einen Sinn: Das Geschrei über die mangelnden Deutschkenntnisse und Integrationsbereitschaft kaschiert lediglich die Rationalität eines „doing classes“, der fortwährenden Reproduktion einer geschichteten Klassengesellschaft, die eine ethnische Linie in ihre Schichtungskonstruktion eingezogen hat. Aus dieser Sicht kann eine adäquate Sprachförderung kein wirkliches Ziel sein. Wichtiger sind die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund als „Risikogruppe“, die das „Risikopotenzial“ der Schule als System verdecken – wie Peter Rüesch in seiner Reanalyse der IEA-readings-literacy-Studie ganz gegenläufig formulierte. Die Skandalisierung einer Gruppe verschleiert den Systemeffekt der Machterhaltung. Dann bleibt es bei einer Ethnisierung von Sprache(n) und Kulturen als Zutrittbedingungen einer integrationsunwilligen Gesellschaft, die von einem „radikalen Polyglottismus“ Seyla Benhabibs (1999) Lichtjahre entfernt ist. Und es bleibt dabei, was Luther bereits vor 600 Jahren so sachlich auf den Punkt gebracht hatte: „Ein Türke, den doch ein türkisches Kind von sieben Jahren gut versteht, wird für mich ganz dunkel reden, weil ich die Sprache nicht kenne.“
Sprachen kann man nämlich lernen und übersetzen. Und es ist schon eine besondere Dialektik der Geschichte, dass jenes Wort, das ursprünglich programmatisch aus der Mehrsprachigkeit der bestehenden Regionalsprachen des fränkischen Reiches herstammt, heute zur ethnisierenden Ein- und Ausgrenzung dient: theodiscus – deutsch. Literatur Baumert, Jürgen/Klieme, Eckhard/Neubrand, Michael/Prenzel, Manfred/Schiefele, Ulrich/ Schneider, Wolfgang/Stanat, Petra/Tillmann, Klaus-Jürgen/Weiß, Manfred (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen. Benhabib, Seyla (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Politische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt am Main. Cantone, Katja Francesca (2004): Code-switching in bilingual children. Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie beim Fachbereich Sprachwissenschaften der Universität Hamburg. Hamburg (masch.). CITO (2004): Test Zweisprachigkeit. URL: www.bildungsportal.nrw.de/BP/Service/ broschueren/Sprachstand/download.pdf
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Volker Hinnenkamp „Was die moderne Gesellschaft an Stilen und Lebensformen, an Milieus und biographischen Diskontinuitäten erlaubt, hätte unser Land auch ohne Einwanderer zu einer ‚multikulturellen‘ Gesellschaft werden lassen. Vielleicht sollte man der Debatte sogar dankbar sein. Denn sie macht zweierlei deutlich: einerseits dass es der Semantik gerade in der deutschen Tradition im Vergleich zu anderen europäischen Ländern an einer gewissen Gelassenheit und Distanz mangelt, andererseits dass die gesellschaftliche Dynamik längst über diese Problemlagen hinweggegangen ist.“ (Nassehi 2001)
1 Kann eine hybride Sprache von Nutzen sein? Was ist eine hybride Sprache? Von wessen Nutzen sprechen wir? Was hat „hybride Sprache“ mit dem Thema der Parallelgesellschaft zu tun? – Nun, ich muss zugeben, dass ich ganz froh war, im Eifer des alltäglichen Hochschulbetriebs nicht genauer über den vorgeschlagenen Titel nachdenken zu müssen. Als ich dann begann, meinen Vortrag auszuarbeiten, kamen mir doch einige Zweifel. Sicherlich hätte ich selbst weniger von einer „hybriden Sprache“ gesprochen, eher vom „hybriden Sprechen“; und zu „Nutzen“ fallen mir auch gleich die „Kosten“ ein und natürlich auch die Frage „Nutzen für wen? Kosten für wen?“ Zudem muss ich auch zugeben, dass der Begriff der Hybridität, als er vor einigen Jahren wieder in Mode kam, mir anfangs durchaus einiges Bauchweh bescherte. Stammt der Begriff nicht aus der artenspezifischen Vererbungsbiologie? Was hat er dann in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu suchen? Die Karriere des Wortes „Hybridität“ ist vielfältig. „Hybrid“, so lesen wir im Großen Brockhaus, steht für von „zweierlei Herkunft, zwittrig“. In der Genetik bezeichnet Hybridisierung die „Bastardisierung“ bzw. die „Kreuzung“ (ebd.). Das Wort „Bastardisierung“ gibt einen Teil des Klangs wider, der mir die Verwendung von Hybridität problematisch erscheinen ließ. Assoziiert doch gerade der Bastard das negativ Durchmischte, den natürlichen Gegensatz zum Reinen. Aber gerade das ist es ja, was den Begriff so tauglich werden ließ für das Projekt, um das es uns auch im diskutierten Kontext geht: Die Aufhebung, Auflösung, ja mitunter Kon-
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terkarierung identitärer Selbst- und Fremdsicherheiten – Sicherheiten, die wir in den großen und kleinen seit der Aufklärung tradierten und erbastelten Konstruktionen von Kultur, Sprache, Nation und natürlich Identität selbst gefunden zu haben glaubten, und die uns nun durch eben die Durchmischung, Bastardisierung, Legierung, Kreolisierung dieser unserer Sprache, Identität, Kultur etc. abhanden zu kommen scheinen. So haben „hybrid“ und „Hybridität“ sich des negativen Beiklangs entbunden, haben die Begrifflichkeit verkehrt gegen die Behüter(innen) des Reinen und Homogenen und Wesentlichen, die sich ihrer Kultur und ihrer Sprache und ihrer Identität sicher schienen. Diese antiessentialistische Dekonstruktionsleistung ist vor allem den unterschiedlichen Arbeiten in den letzten beiden Dekaden des vergangenen Milleniums zu verdanken, die sich unter dem Label des postkolonialen Diskurses zusammengefunden haben (bzw. zusammengefunden wurden), der maßgeblich auch in Schriftstellern wie Salman Rushdie – um einen prominenten Namen zu nennen – einen wichtigen Impetus hatte. Es sind gerade Intellektuelle – Schriftsteller(innen), Literaturtheoretiker(innen), Kultur- und Sozialwissenschaftler(innen) aus den postkolonialen Gesellschaften –, die diesen Diskurs vorangetrieben haben (vgl. Bhatti 1997). Doch war und ist die Dekonstruktion nur Nebeneffekt in der Formierung eines neuen Paradigmas: Unter den Bedingungen von Globalisierung und Transmigration werden die alten, allein dependenziellen Beziehungen zwischen dem, was entsprechend mit Erster und Dritter Welt oder Zentrum und Peripherie bezeichnet wurde, in einen neuen, gemeinsamen, sich vermischenden Schauplatz geholt, den der multikulturellen Stadt. Denn hier, in den Metropolen und Großstädten des Westens hat die weltumspannende Migration Peripherie und Zentrum zusammengeführt. In den urbanen Zentren des globalen Zeitalters findet sich der lokalisierte „Kaffeesatz“ einer historischen und wirtschaftlichen Globalisierung wieder, der teilhaben will mit den natives geeint im Rausch der medialen und konsumtiven Möglichkeiten, aber gleichzeitig juxtaponiert in der Diversität der Sprachen, Kulturen und ethnic communities, zerrissen in der Teilhabe an Wohlstand und sozialer Sicherheit. Die Verhältnisse einer stetig fluktuierenden Vielheit schaffen eine trans- und interkulturelle Verständigungsdynamik, deren Zeichenbestand und -wert mitunter nur in gesellschaftlichen Nischen von Nutzen ist, der aber auch bedrohlich in die Mehrheitsgesellschaft hinein proliferieren kann.1 Dieser Diversität an Zeichen und Bedeutungen kann man nicht entkommen, sie manifestiert sich in vielfachen Konstellationen und Codes und belehrt uns immerfort der Unbeständigkeit unserer vertrauten Zeichenvorräte (vgl. Hewitt 1994). Eine Option, dieser Wir-lebenin-einer-Welt-Konfrontation auszuweichen, ist die diskursive Konstruktion von 1
Vgl. dazu die unterschiedlichen Perspektiven in Rampton 1995; Erfurt 2003a; Androutsopoulos 2001, 2003; Dirim/Auer 2004.
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Neben- oder Parallelwelten, in die das Nicht-Zugehörige ausgelagert werden kann. Vielleicht ist es das, was sich nunmehr als „Parallelgesellschaft“ im hegemonialen Öffentlichkeitsdiskurs etabliert hat. Auf jeden Fall überführt es schon begrifflich eine multikulturelle Gesellschaftsbeschreibung in eine anderskulturelle Gesellschaftskonstitution, wenn auch nur die einer Nebengesellschaft. Das mit der „Parallelgesellschaft“ verbundene Bild erlaubt vielerlei Konnotationen. Eine unter vielen könnte lauten: Der Kaffeesatz hat sich folglich einer eigenständigen Gründung bemächtigt, hat sich nicht nur ausgeklinkt (Integrationsverweigerer und -untaugliche), sondern formiert sich gleichsam neu. Eine andere Lesart ist, dass man sich dieser Teilmenge an Gesellschaftsmitgliedern entledigt, die Augen verschließt – auch relativistisch –, sie sich selbst überlässt und sie dann dieser Konstitution bezichtigt (z.B. als Folge einer nicht affirmativen Bildungspolitik oder als Folge eines laissez-faire-Multikulturalismus).
2 Grundsätzlich kann man zwei Arten von Diskussionssträngen zur Hybridität ausmachen. Den einen Diskussionsstrang würde ich als semiotisch bezeichnen, gleichwohl er auch starke sozialwissenschaftliche Implikationen hat. Nach einer solchen, in der aktuellen Diskussion sehr weit verbreiteten, aber gleichzeitig verkürzten Definition ist demnach alles „[h]ybrid ..., was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist“,
so Bronfen und Marius (1997: 14). Hervorstechende Wörter hier sind „Vermischung“, „Verknüpfung“, „Collage“, „Sampling“ und „Basteln“. Solcherlei Techniken, Diskurse oder Texte sind zahlreich zu entdecken, vor allem, wenn das Augenmerk erst einmal auf sie gelenkt worden ist. Es ist dies die wohlfeil akzeptierte Hybridität der Mode, der Cuisine oder der Werbung. Längst sind Crossover und Weltmusik kommerzielle Markenzeichen geworden, feiern Konjunkturen und haben global ganze Schichten und Altersgruppen erfasst; ein Diego Marani konnte als Gag eine neue europäische Gemeinschaftsmischsprache kreieren2, Berlins Stadtverwaltung punktete nationwide mit ihrer Werbekampag2
Der Italiener Diego Marani ist Übersetzer und Revisor beim Ministerrat der Europäischen Union in Brüssel und Kolumnist in verschiedenen Zeitungen. Marani wurde 1996 bekannt mit der Kreierung seiner Hilfssprache „Europanto“, die ein Gemisch aus den verschiedenen Amtssprachen der Europäischen Union darstellt. Leseprobe: „Als consequence des results van der
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ne „We kehr for you”,3 schließlich entfaltete auch die Karikierung und stilisierte Aneignung des Gebrochenen, des unbeabsichtigt und unbeholfen Falschen seinen eigenen (kommerziellen) Charme – erinnert sei an Trappatonis „Wir haben fertig“4 und an die comedy-Kraft einer Kanaksprach.5 Der Nutzen hybrider Codes dieser Art liegt auf der Hand: Anderweitig als defizitär beklagte Phänomene werden so in symbolische Kapitale verwandelt und versichern ihren Freizeitkonsument(inn)en, Angehörige jener Schichten zu sein, die es sich erlauben können, auch über diese Moden zu verfügen. Diese Art der Hybridität birgt sicherlich auch Kreatives, Originelles und Neues in sich, weil sie die alten Selbstverständlichkeiten der Komposition, des gewohnten Mit- und Nebeneinanders delegitimiert und neue Spielräume eröffnet. Gewollt oder nicht, entsteht so auch eine neue Zeichenwelt und impliziert qua Teilhabe an ihr in gewisser Weise auch ein Bewusstsein für den Prozess der Hybridisierung. Die noch keineswegs auf ihren Höhepunkt angekommene Durchanglisierung weiter Teilbereiche der deutschen Sprache könnte als Zeugnis einer gewissen Hybridophilie genommen werden.6 In der zweiten Spielart des Hybriditätsdiskurses richtet sich das Hauptaugenmerk – zumindest, um welches es mir hier geht – vor allem auf die reaktive Entwicklung neuer sprachlicher, kultureller und identitärer Mischformen in der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft (oder anderswo, wie in England oder Frankreich, mit den ehemaligen Kolonialgesellschaften).
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switsche referendum over die bilaterale agreements mit Europe, der Europanto Instituto van Bricopolitik, in collaboratione mit der Zürcher Zoo, organize eine test zum verify if swisseros esse pronto por join der Europese Unione“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Europanto#Textbeispiel). In Frankreich wurde von ihm die europantische Erzählsammlung "Las adventures de l’inspector Cabillot" veröffentlicht. Unter diesem Motto startete die Berliner Stadtreinigungsbetriebe BSR 1999 mit einer Staffel von Plakaten, Postern und Anzeigen eine Kampagne mit dem Ziel, die Berliner(innen) für Fragen der Sauberkeit in der Stadt zu sensibilisieren. In einigen der Plakate wird mit Mehrsprachigkeit und mehrsprachiger Ambiguität gespielt (vgl. http://www.bsr-online.de/bsr/html/2763.htm sowie weiteres zu den Hintergünden http://www.bsr-online.de/bsr/ download/020615_Doku1.pdf). Die berüchtigte Schimpfrede des damaligen ialienischen FC Bayern München-Trainers Giovanni Trappatonis (vom März 1998) endete mit eben diesem berühmten Satz und wurde seitdem (zumindest für eine ganze Weile) zu einem „gefügelten Wort“ und zog vor allem in der Werbung eine Welle von dem sog. Gastabeiterdeutsch ähnelnden Sprechweisen nach sich. Ein viel beachteter Zeitungsartikel dazu unter dem Titel „Hey Lan, isch geb dir konkret Handy“ der beiden Forscher(innen) Inken Keim und Jannis Androutsopoulos vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim (IdS) erschien am 26.01.2000 in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Vgl. die Diskussionen in Muhr/Kettemann (Hrsg.) (2004) und in: Gardt/Hüppauf (Hrsg.) (2004).
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3 Damit komme ich zum empirischen Teil meines Papers. Ganz gleich, in welcher Großstadt ich mich umhöre, wo immer Jugendliche unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammenkommen, wird ein vielsprachiges Stimmengewirr hörbar, das nicht nur in einem Nebeneinander von Deutsch, Türkisch, Griechisch, Russisch und anderen Sprachen besteht, sondern in einem wahrhaften Mit- und – scheinbarem – Durcheinander. Man wird oftmals Zeuge, wie in einem atemberaubenden Tempo nicht nur zwischen den Sprachen hin und her gewechselt wird, sondern wie auch ganz neue gemischte Codes entstehen. Ganz offensichtlich gilt das, was die Schüler(innen) und Jugendlichen in diesen Unterhaltungen produzieren, als kaum gesellschaftsfähig. Denn in den Klassenzimmern, aus denen sie gerade kommen, werden diese Codes kaum geschätzt. Dort herrscht sanktionierte Einsprachigkeit vor – in der Regel und immer noch, zumindest im Unterrichtsdiskurs. Die Anderssprachigkeit der Schulhöfe, der schulischen Nebendiskurse gilt im Sinne der Institution schon längst als parallele, nicht legitimierte Welt. Sie manifestiert sich einer interessierten Öffentlichkeit allerhöchstens als defizitärer Mischmasch, oder im Jargon der Pädagogen als – doppelseitige – Halbsprachigkeit bzw. Semilingualismus (vgl. Hinnenkamp i.E.). Dazu ein kleines Beispiel aus der zweisprachigen Unterhaltung an einer Bushaltestelle zwischen den beiden türkischstämmigen 15jährigen Schülern Ahmet und Ferhat, die auf den Bus warten und dabei ein wenig über Busservice und Busfahrer lästern:7
7
Datengrundlage meiner Untersuchung sind informelle Gespräche, die die Jugendlichen im Raum Augsburg (Bayerisch Schwaben) in der Regel selbst aufgenommen haben. Die meisten der Jugendlichen waren zur Zeit der Aufnahme zwischen 15 und 18 Jahre alt. Mit einigen der Informant(inn)en habe ich Interviews über die Mischsprachigkeit geführt. Die meisten Sprecher(innen) in meinen Daten sind männlich. Der Großteil der Aufnahmen ist in informellen Freizeitsituationen entstanden. Nicht alle Gesprächsteilnehmer(innen) wussten bereits während des jeweiligen Gesprächs, dass sie aufgenommen wurden; sie wurden hinterher informiert und gefragt, ob sie mit der Verwendung der Aufnahmen für die Forschung einverstanden wären. Die Jugendlichen fanden es in der Regel positiv, dass für ‚ihre Sprache‘ Interesse gezeigt wurde. Zusätzlich wurden die Sprecher(innen) um grundlegende persönliche Daten gebeten, wie Alter, Ausbildung und Lebensphasen in Deutschland und der Türkei. Näheres vgl. Hinnenkamp 2005.
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Transkript8 „Bushaltestelle“ 01
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Otobüse binecekmiyiz? Werden wir in den Bus einsteigen? #((lachend)) Ich weiß nicht# °{Lan}° + bugün zaten ö÷retmen k zm út bize Mann heute hat uns schon der Lehrer beschimpft #((lachend und Luft einsaugend)) Echt oder?# Bugün geç kalm út m, otobüsü kaç rm út k Heute war ich spät dran, wir hatten den Bus verpasst Ben de saat acht’ta geldim camiye, lan hehehehehehehehe Und ich kam um acht Uhr in die Moschee, Mann He:: der Busfahrer ist (h)ein Sack hey Hehehe valla:::h hehe Echt oder der kommt (h)der kommt immer zu spät he Otobüsün dolu olmas na çok gicik olyom hey Mann ge + voll Dass der Bus voll ist, nervt mich sehr Ja weisch (+) girdik (h) {giriú/giriyoz=úimdi} içeriye wir sind rein- {Einstieg/wir steigen jetzt} da rein [((lacht)) [bi- bize (.....) (+) seid mal leise diyor ehh das regt mich auf hey zu uns sagt er #((3 Sek. lachend, Worte verschluckend))(....)hohohohohehehehe øyi mi? kötü mü?# ((saugt Luft ein)) Ist es gut oder ist es schlecht? (Ist das okey?) ((genervt)) Eh komm jetzt ((beherrscht, mit tiefer Stimme)) Ya tamam burday z=lan Ja, wir sind hier, Mann (Alles okey, Mann) Wo bleibt der Bus hey
Das relativ genaue Transkript ist nützlich, weil es die Vielfalt an Variation und szenischen Stimmen auch entsprechend genau wiederzugeben vermag. In diesem kleinen Gesprächsausschnitt haben wir es mit Deutsch, mit Türkisch und einem zum Teil dialektal eingefärbten Jugendjargon zu tun. Soziolinguisten nennen dieses Alternieren zwischen Sprachen (und/oder zwischen Sprachvarietäten) Code-Switching.9 Ein Code ist in der Regel ein in sich geschlossenes Set von Merkmalen, das gegenüber einem anderen Set bedeutungsunterscheidend ist. Man könnte sagen: Der Codewechsel steht für etwas jeweilig Anderes, er ist Träger metapragmatischer Information, will sagen: Wie ist der Codewechsel
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Die Transkriptionslegende findet sich im Anhang zum Schluss des Textes. Die Literatur zum Sprachalternieren bzw. Code-Switching ist mittlerweile sehr umfangreich. Verdienstvolle Diskussionen finden sich in folgenden Anthologien: Heller 1988, Eastman 1992, Milroy/Muysken 1995, Auer 1998a. Wegweisend in der Diskussion waren u.a. die Aufsätze von Gumperz 1964, Blom/Gumperz 1972, Poplack 1980, Gumperz 1982 sowie Auer 1988.
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hinsichtlich dessen, was wir gerade tun, zu verstehen; welche Bedeutung kommt ihm im Rahmen unseres Aushandlungsprozesses zu? Es gibt Codes, die wir als Außenstehende, als Zuhörer(innen), sogleich als deutlich unterschiedlich voneinander betrachten, typischerweise Sprache X gegenüber Sprache Y, wie hier Deutsch versus Türkisch. Aber bei vielen Codes müssen wir erst herausfinden, wie die Kommunikationsteilnehmer(innen) diese selbst wahrnehmen, was sie überhaupt als eigenständigen Code betrachten und was ein Code-Switching für sie selbst für eine Bedeutung hat (vgl. AlvarezCaccamo 1998, Auer 1998b). So kann neben unterschiedlichen Sprachen zum Beispiel auch ein Dialekt gegenüber einer standardsprachlichen Varietät, ein ethnischer Akzent gegenüber einer neutralen Sprechweise oder ein lakonischer Stil gegenüber einem ausschmückenden Stil als Code-Switching verstanden werden.10 Was für Sprachformen treffen wir in der Unterhaltung von Ahmet und Ferhat an? Es sind zum einen sowohl einsprachige als auch zweisprachige Sequenzen. Eine Sprachalternation vom Typ „Sprecher 1 spricht die eine Sprache, Sprecher 2 die andere“ findet sich z.B. in Z. 1 bis 5 oder 6 bis 9. Daraus könnte man schließen, dass die Sprachkompetenzen unterschiedlich verteilt sind, und jeder der Beteiligten die jeweilig andere Sprache zwar versteht, es aber vorzieht, in seiner stärkeren Sprache zu agieren. Das ist auch oft der Fall. Aber hier sehen wir sogleich, dass mit den Zeilen 6 und 7 das Muster umgedreht wird: Hat in den Zeilen 1 bis 5 Ferhat Türkisch gesprochen und Ahmet in Deutsch geantwortet, so ist Ahmets Beitrag in Zeile 6 Türkisch und Ferhat redet nun in Deutsch weiter (Z. 7 und 9). Findet sich eine sinnvolle Antwort auf die Frage, warum die beiden nun das Muster wechseln? Auch innerhalb einiger Äußerungen kommt es zum Wechsel, so in den Zeilen 10, 11 und 13. Hier könnte man eine Logik entdecken: In Zeile 10 ist der deutsche Teil eine Art abgesetzte emotionale Kommentierung des vorherigen türkischen Teils, zudem noch mit fiktiver Anrede. Auch das als Anredeform fungierende schwäbische „Ja weisch“ (Ja weißt du) in Zeile 11 ist von der kleinen türkischen Erzählsequenz abgehoben. Und in Zeile 13 ist klar erkennbar, dass der Busfahrer authentisch in Deutsch zitiert wird, eingeklammert vom türkischen „bize …. Diyor“ (zu uns sagt er). Wiederum ist Ferhats Kommentar dazu in Deutsch „das regt mich auf hey“. Die Sprachwechsel beinhalten also beides, eine scheinbare Willkür einerseits und eine gewisse interaktionslogische Geordnetheit andererseits, die wir 10
Methodisch bringt letztere Auffassung natürlich sehr viel mehr Probleme mit sich, da allein die Teilnehmer(innen)perspektive für das, was einen Code konstituiert, herangezogen werden muss. Gleichzeitig macht diese Perspektive es erforderlich, auf filigrane Strukturen der Kommunikation zu achten und sich auf den Aushandlungscharakter der Kommunikation zu konzentrieren. Daraus folgt, dass das, was die Kommunikationsteilnehmer(innen) (also nicht nur Sprecher(in) und Hörer(in), auch Schreiber(in) und Leser(in)) selbst als unterschiedliche Sets von Variablen wahrnehmen, den jeweiligen Code konstituiert.
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dem Aushandlungsprozess der Unterhaltung zuschreiben könnten. Aber es ist deutlich, dass beide Sprecher in beiden Sprachen agieren, dass sie stets beide Sprachen als Ressourcen zur Verfügung haben und schon in kleinsten Sequenzen mit unterschiedlichen Formaten (Deutsch-Türkisch, Türkisch-Deutsch, DeutschDeutsch, Türkisch-Türkisch) zu spielen vermögen.11 Eine Frage, die sich im Zusammenhang mit solchen Sprachformen stellt, ist die nach den dahinter aufscheinenden Kompetenzen: Sind sie Ausdruck von Sprachdefiziten in der jeweiligen Sprache und stellen Ausweichmanöver dar, oder sind sie Ausdruck einer spezifischen bilingualen Fertigkeit? Ferhat und Ahmet sprechen ja nicht ungrammatischer als einsprachige Jugendliche, sie weisen auch keine Suchstrategien nach den richtigen Worten aus, erwecken keinen Verdacht durch besonders auffällige Neustarts, Versprecher oder Selbstkorrekturen in der jeweilig anderen Sprache etc. Der alternierende Gebrauch von Deutsch und Türkisch kann wohl auch kaum als Zeugnis einer desintegrierten parallelen Lebenswelt betrachtet werden, sondern erweist sich – wie noch zu zeigen sein wird – als das durchaus logische und auch gleichzeitig antithetische Resultat einer in Migrationsgeschichte und multikultureller Gesellschaft begründeten polylingualen Entwicklung inmitten und in Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft. Diese Mischsprache reflektiert genau den oben erwähnten reaktiv-produktiven Aspekt, der mir in der Tat für diese zweite Spielart von Hybridität diskurskonstitutiv erscheint: Es handelt sich um hybride Codes, die in eben dieser Auseinandersetzung der globalisierten und hegemonisierten Gesellschaftsmitglieder um eine neue, eigenständige minoritäre Identitätsbildung mit und in der hegemonialen Mehrheitsgesellschaft geboren werden. Diese Auseinandersetzung ist nicht gleichzusetzen mit der modisch aufgemischten Beliebigkeit eines globalisierten Crossover, sie ist vielmehr unbequem, manchmal auch bedrohlich. Sie ist gekennzeichnet von Gegendiskursen, von mitunter gewaltsamer Raumnahme und eigenwilligen, eben hybriden Konstruktionen von Identitäten (Diken 1998; Erfurt 2003a). Unter ideologisch genehmeren Vorzeichen träfe für diesen Prozess der Ausdruck „Emanzipation“ zu, aber der ist in der Regel nur solchen Prozessen und Projekten vorbehalten, die unter den Tatbestand der politischen Korrektheit fallen (vgl. Terkessidis 1999: 246).
4 Ein weiteres Beispiel: In zweisprachig inszenierten rhetorisch-stilistischen Darbietungen wie kunstvollen Erzählungen, Spontandichtungen, Sprachspielen und 11
Es gibt eine ganze Anzahl weiterer interessanter Erscheinungen in diesem Beispiel, auf die ich hier nicht eingehen kann. Vgl. aber dazu Hinnenkamp 2005: 63ff.
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anderen Performances wird dieser Mischcharakter jenseits interaktionslogischer Deutungen noch einmal besonders deutlich. Die vorliegenden Daten der jugendlichen Switcher entkräften dabei nicht nur das normative Argument des bilingualen Defekts, sie strafen auch die schulischen Verdikte von Sprachlosigkeit oder Halbsprachigkeit in gewisser Weise Lügen. Da die mir vorliegenden kunstvollen Erzählungen in zwei Sprachen zu viel Raum einnehmen würden, möchte ich mich hier auf das Beispiel einer kleineren poetischen Sprachspielerei beschränken. Im folgenden Gesprächsausschnitt werden wir Zeugen, wie die drei 15 bis 16jährigen Jugendlichen Mehmet, U÷ur und Kamil in einem Selbstbedienungsladen in ihrer Nachbarschaft herumhängen und sich langweilen. Die drei kaufen sich schließlich einen Krapfen, essen ihn und albern dabei herum. Schließlich verschluckt sich Mehmet vor lauter Herumalbern am Krapfen. Kamil klopft ihm kräftig auf den Rücken und wünscht seinem Freund dabei ironisch „Guten Appetit“ – auf Türkisch. Dieser kleine Vorspann geht noch mit weiteren guten Wünschen bis Zeile 5. Transkript „Eingang“ 01
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Afiyet [olsun Guten Appetit [((Husten)) Afiyetle beraber olsun Guten Appetit miteinander Geber Verreck! Afiyet úeker olsun Zuckersüßen Appetit ((2 Sek.)) Stirb langsam hahaha + bizde (+) kaseti açt =„stirb langsam“ yaz yor Bei uns hat er die Kassette angemacht, da steht „stirb langsam“ drauf #((in Lachen übergehend))U-U÷ur „s t rb langsam“ okuyor hahaha# U- U÷ur liest „sıtırb langsam” #((Lachen geht ca. 6 Sek. weiter, K. und U. lachen mit)) ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha [ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha# #((Aus dem Lachen heraus)) [Stirb langsam (........) {s t rb/stirb} langsam,{Alter}# {°...°} ((aus dem Lachen heraus)) Bak orda ne yaz yor, Ei-gang hahaha Schau, was da steht, Ei-gang, {Ei/Mond}Gang (+) {Ei/Ay}Gang Ei{n}gang Nerde bunun {ay /Ei- } Wo ist hier {der Mond/das Ei} He? Nerde bunun {ay /Ei- }
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Wo ist {der Mond /das Ei} ((hüstelnd, in Lachen übergehend)) eh [eh ha ha ha [{Ay-/Ei-}Gäng Do÷ru lan Stimmt Mann Nerde bunun {ay / Ei- } o÷lum Wo ist diese{r/s} {Mond/Ei}, mein Junge Yoa: + #((betont gedehnt)) *ay-y n-gang*# (+) ay{ }gang haha ya Nö #((engl. Aussprache)) ein geyn zwei geyn# Ay n n Gang (+) h h h Der Gang des Bären Eingang (+) Zweigang ((0,5 Sek.)) [ha! [{Weiter-/zweiter} Gang {°...°} Dün ne filmleri vard ? Was für Filme gab es gestern? Dün mü? Gestern? Saate baksana Schau mal auf die Uhr
Die für uns interessante Episode beginnt nach der zweisekündigen Pause, die U÷ur mit „Stirb langsam“ einleitet (Z. 7). U÷ur kommentiert damit immer noch Mehmets Hustenanfall. „Stirb langsam“ erinnert Mehmet an eine Episode, bei der U÷ur den gleichlautenden Titel eines Videofilms als „Sitirb langsam“ ausgesprochen habe. Mehmets Schilderung führt zu lautem Gelächter (Z. 8 - 13).12 Noch aus dem Lachen über die Falschaussprache heraus lenkt Mehmet die Aufmerksamkeit seiner Freunde auf ein Schild im Laden, auf dem einmal in einzelnen Lettern EINGANG geklebt stand, bei dem sich aber das erste „N“ gelöst hat und nur noch „EI GANG“ zu lesen ist (Z. 15). Dies führt die drei zu einem kurzen, schnellen und effektiven Wortspiel, das mit Hilfe von Transkription und sprachlichen Zuordnungen allerdings nur noch bedingt authentisch wieder gegeben werden kann. Die ganze Episode von Z. 15 bis Z. 31 oder 32 ist nun der Polyfunktionalität und den Assoziationen dieser kleinen trunkierten Vorsilbe „Ei-“ gewidmet, die im Deutschen natürlich auf das „Ei“ anspielt und im Türkischen 12
Was könnte witzig daran sein? U÷urs vorgebliche Realisation von „stirb“ als „s t rb“ spielt an auf eine hoch stigmatisierte Gastarbeiterdeutsch-Aussprache von Konsonantengruppen, die aufgelöst wird durch sogenannte Sprossvokale, da das Türkische solcherlei KonsonantenCluster nicht kennt. Es bleibt unklar, ob allein U÷urs defekte Aussprache Grund für die Belustigung ist oder ob damit auf eine bestimmte Rollenkonstellation in der Gruppe oder ähnliches angespielt wird.
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auf „ay“, den Mond bzw. den Monat, oder – erweitert um den türkischen Laut [I] – auf den Bären (ay ). Nun wird beim Sprachalternieren der Jugendlichen so sehr gemischt, dass es keinerlei Restriktionen gibt, türkische Endungen an deutsche Wortstämme oder Grundformen zu hängen, wie wir bei einigen der zitierten Beispiele ja sehen konnten. Das heißt aber für das folgende Spiel, dass alle möglichen deutsch-türkischen Kombinationen bei diesen Zusammenfügungen mit gedacht werden können. So kann aus dem deutschen „Eigang“, respektive „eieriger Gang“ genau so schnell ein türkisch-deutscher „Ay Gang“ werden, also übersetzt ein „Mondgang“. Aus diesem multiplen Verständnis heraus erfolgt auch sofort Kamils Nachfrage „Nerede bunun ay /Ei- “ (Z. 18) und dessen Wiederholung (Z. 19), was Mehmet nunmehr mit Lachen goutiert und Kamil zu einer weiteren Variante veranlasst: „Ay/Ei Gäng“ (Z. 22). Kamil variiert also „Ay/Ei Gang“ zu „Ay/Ei Gäng“. Die der deutschen Orthographie angenäherte Schreibweise ist hier allerdings unvollständig. Denn Kamils Aussprache [aǹ gæƾ] macht deutlich, dass er hier genauso gut eine dritte Sprache, Englisch oder Amerikanisch, ins Spiel gebracht haben könnte. Auch der zuvor gehänselte U÷ur tritt nun ins Wortspiel ein (Z. 24), wobei nicht ganz klar ist, ob er hier schon partizipiert oder noch fragend hinten an ist. Auch Mehmet, der das Spiel eröffnet hat, klinkt sich hier mit einer weiteren Variante ein (Z. 25 und 26): Mehmet spricht nunmehr das vollständige deutsche Wort mit wieder eingefügtem „n“ ganz in Türkisch aus, dabei dehnt er das Wort und macht quasi einen Dreisilber daraus, sogleich gefolgt vom ursprünglich deutsch-türkischen „ay( )gang“ und – als ob diese beiden Varianten ihm keine Befriedigung verschafften – nimmt er schließlich Kamils angloamerikanische Variante wieder auf, allerdings den ‚heavy accent‘ eines deutsch sprechenden Amerikaners karikierend: [aǹn geǹn svaǹ geǹn] (Z. 26). Die Intonationskurve verfolgt dabei in etwa das Muster ֭֮ ¯֭, gleichzeitig verkünstelt sich Mehmets Stimme förmlich um eine ganze Tonlage nach oben. Mehmet generiert mit dieser Variante also zunächst einmal „gehen“, wenn auch amerikanisch ausgesprochen, aus „Gang“. Als Wortbildungsverfahren wird aus dem Nomen das Verb abgeleitet. Auf der paradigmatischen Ebene ersetzt er weiterhin „ein“ durch „zwei“ und stellt einem real existierenden deutschen Verb, eines, das zweifelsohne wiederum mehrere Lesarten ermöglicht, das Verb „zwei gehen“ zur Seite, das als Verbparallelismus zu „eingehen“ nicht existiert, aber durchaus als flektierte Verbalphrase „zwei (Personen etc.) gehen“ gelesen werden kann.13 13
Die pseudoamerikanische Aussprache in Z. 26 spielt u.U. noch auf ein weiteres Phänomen an. So korrespondiert „geyn“ auch mit der Form „geyt“, die im Jargon der Jugendlichen aus dem kriminellen Milieu stammt. Ein lang gezogenes „heute ge::::::yt“ etwa implizierte, dass es Zigarettenautomaten zu knacken galt. Allerdings ist diese regional beschränkte Bedeutung heutzutage obsolet und „geyt“ hat mehr die Insider-Bedeutung von „cool“, „okey“ oder „Ja, dann
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U÷ur ist nun gleichfalls voll dabei und wartet mit einer eigenen originären Lesart auf: Er bringt schließlich den Bären, ay , ins Spiel (Z. 27), denn er verwendet eine vollständige türkische Genitivkonstruktion, wörtlich „des Bären sein Gang“, wobei dem Gang, in altbekannter Mischmanier das türkische Possessivsuffix angehängt wird: ay -n- n Gang- (vgl. (2)). Kamil fügt in Parallele und in Anschluss zu Mehmets amerikanischem Zweiklang einen weiteren hinzu (Z. 28), in dem er „Eingang“ den „Zweigang“ zur Seite stellt, was U÷ur zu „Weitergang“ bzw. „zweiter Gang“ inspiriert. Als ob „Weitergang“ wörtlich zu nehmen sei, eröffnet Mehmet im nächsten (hörbaren) Zug ein ganz neues Thema (Z. 33). Offensichtlich ist das virtuose Sprachspiel an diesem Punkt erschöpft. Tatsächlich war U÷urs letzter Beitrag ein rein deutsches, real existierendes Wort, weit genug entfernt vom Ausgangswort, um tatsächlich „weiter gehen“ zu können. Auf der folgenden Übersicht ist die Abfolge des kurzen verbalen Schlagabtauschs noch einmal dargestellt. Transkript „Eingang“: Spielabfolge (Z. 15) Ei-gang (Z. 16) {Ei/Ay}Gang (Z. 17) Ei{n}gang (Z. 18) {ay / Ei- } (Z. 20) {ay / Ei- } (Z. 22) {Ay-/Ei-}Gäng ((engl.? [aǹ gæƾ])) (Z. 24) bunun {ay /Ei- } o÷lum (Z. 25) *ay-y n-gang* (Z. 25) ay{ }gang (Z. 26) #((engl. Akzent)) ein geyn zwei geyn# (([aǹn geǹn svaǹ geǹn]; ֭֮ ¯֭)) (Z. 27) ay n n Gang(Z. 28) Eingang (+) Zweigang (Z. 31) {Weiter/zweiter}Gang
Dass Kinder und Jugendliche mit Sprache spielen, sie testen, Worte verkehren und umdrehen, ist ein normaler Vorgang (vgl. Schlobinski/Schmid 1996: 213). Dass Mehmet, Kamil und U÷ur dies in zwei Sprachen beherrschen, das Spielmaterial und die Mehrdeutigkeiten aus beiden Sprachen extrahieren und ausschöpfen, ist sicherlich das Privileg der Zweisprachigen. Mehmet, Kamil und U÷ur sind Hauptschüler. Ihre Schullaufbahn ist nicht glänzend. In der Schule gelten sie als eher ‚halbsprachig‘, wie das Vokabular des schulinstitutionellen Ausländerdiskurses es ausdrückt. Dass die Jugendlichen allerdings ein sehr hohes sprachlilos!“. Der Ausdruck hat auf jeden Fall „etwas Verwegenes und intentional Dynamisches“ behalten (Information von Gürcan Kökgiran, Fulda).
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ches Reflexionsniveau besitzen, wird ebenfalls deutlich. Die Stigmatisierung von U÷urs Gastarbeiterdeutsch-Aussprache zeugt von einem hohen normativen Sprachbewusstsein. Die Jugendlichen sprechen diese Variante selbst nicht und wo doch, wird diese unter Umständen als lächerlich gegeißelt. Dieses normative Bewusstsein zeigt sich auch im Umgang mit dem defekten EINGANG. Linguistisch gesprochen gehören zu diesem Spiel Wortableitungen, Konversionen, paradigmatische Ersetzungen, Parallelismen und immerzu Mehrdeutigkeiten, die den Grad, die Möglichkeiten und Vieldeutigkeiten der Zweisprachigkeit immer mit einzubeziehen wissen. Spiele dieser Art sind häufig, nicht nur bei Mehmet und seinen Freunden. An anderer Stelle wird mit dem Namen „Wolfgang“ gespielt. In zusammenfassender Darstellung ergibt sich dabei folgende Sequenz: Transkript „Wolfgang“: Spielabfolge Wolfgang ad Wolfgang [Wolfgang sein Name ist Wolfgang] Wolfgang Wolf’un o÷lu Molf [Wolfgang Wolf sein Sohn Molf] Wolfgang Wolf’un o÷lu Molfgang [Wolfgang Wolf sein Sohn Molfgang] Wolfgang Wolf’un o÷lu in Wolfsburg [Wolfgang Wolf sein Sohn in Wolfsburg] Adam drei mal Wolf oldu Doppelwolf [Der Mensch war drei mal Wolf Doppelwolf] Ama Wolfsburg’da oynuyor [Aber er spielt in Wolfsburg] Wolfgang oynuyor ama wo wo [Wolfgang spielt aber wo wo]
Neben dem alliterativen Spiel mit „o“ ist auch die bilabiale Anlautvariante „M“ (Wolf’un o÷lu Molf) auffällig. Sie stellt ein typisches Reduplikationsmuster im Türkischen dar (z.B. „Wolfgang Molfgang“ für „Wolfgang et cetera“, „und so“), das hier aber in expressiv-poetischer Funktion eingesetzt wird. Bei einer anderen Gelegenheit beispielsweise wird aus hava (Wetter, Luft) der rhythmische Abzählvers „Bir sana bi hava / bir sana bi hava” („Einen für dich, einen in die Luft / Einen für dich, einen in die Luft“), was zur „Hava Ana“, der „Mutter Eva“, führt, um dann schließlich ganz profan in „Havanna Zigarre“ übergeleitet zu werden. Sprachspiele und andere Performances dieser Art, bei denen die poetische Funktion im Vordergrund steht, teilen die jugendlichen Sprachmischer mit vielen anderen einsprachigen Kindern und Jugendlichen. Bemerkenswert ist aber hier, dass diese konkret-poetischen Sprachspielereien all die ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen und Varietäten souverän als Ressource ihrer Mischsprache nutzen. Neben den umgangssprachlichen und dialektalen Anklängen kommen dabei auch stilisierte Elemente des „Gastarbeiterdeutschs“ ihrer Eltern- oder
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Großelterngeneration zum Zuge. Die Stilisierung14 dieser Varietät können wir dabei als eine Form betrachten, mit der sich sowohl karikierend als auch wiederaneignerisch spielen lässt. Die Sprachspieler stellen dabei ein hohes normatives Bewusstsein über Sprache und Varietäten aus, bis hin zum Wissen über Wortbildungsprozesse. In anderen Zusammenhängen würde man ihnen ein hohes Niveau an Sprachreflexion und Sprachbewusstheit attestieren.
5 Das (Ver-)Mischen von Codes begnügt sich eben nicht nur mit der vorhandenen Bilingualität im Sinne einer „doppelten Einsprachigkeit“15, sondern nimmt auch andere Varietäten bzw. andere Codes aus dem Kommunikationshaushalt der Migrationsgesellschaft auf, die ebenfalls schon kontaktsprachlich infiziert sind wie „Gastarbeiterdeutsch“, „Foreigner Talk/Xenolekt“ oder „Kanaksprach“,16 die in Form von Zitaten, Karikaturen und Stilisierungen mit eingeflochten werden. So ist etwa die Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“-Elementen integraler Bestandteil des mischsprachlichen Repertoires. Im „Eingangs“-Beispiel (vgl. die „s t rb langsam“-Episode) fungierte der Rekurs auf diese Varietät in gleich mehrfacher Hinsicht als Zitat: Zum Einen bildet diese Varietät das den Migrant(inn)en von der Mehrheitsgesellschaft zugeschriebene Gastarbeiterdeutsch ab, das vor allem die Elterngeneration der jugendlichen Migrant(inn)en zum Teil sprechen oder sprachen. Zum Andern nimmt die zitative Verwendung von „Gastarbeiterdeutsch“-Elementen in Anspielung auf dessen Antinormativität gerade auch Bezug auf die dahinter stehende Normativität als vorherrschenden Maßstab durch die Mehrheitsgesellschaft – ein Maßstab, der zum tertium comparationis eines allzeit greifbaren formalen Distinktions- und Diskriminierungsgrunds erhoben worden ist (Hinnenkamp 1980, 1989). Sich diese Normverletzung zitierend-karikierend zu Eigen zu machen, kann somit auch als Wiederaneignung gedeutet werden. Denn obschon diese Normverletzungen den Migrant(inn)en zugesprochen werden, geraten sie qua Stilisierung zu Karikaturen fremder, entliehener Stimmen und werden nun zu Spielmaterial innerhalb ihres eigenen Code-Repertoires. 14
15 16
Zur Stilisierung allg. vgl. Hinnenkamp/Selting 1989. Zur ethnischen Stilisierung vgl. insbesondere die Arbeit von Rampton 1995, 1999; siehe dazu auch die aufschlussreiche Magisterarbeit von Eksner 2001. Diesen Begriff verdanke ich J. Normann Jørgensen von der Universität Kopenhagen. Vgl. Jørgensens Arbeiten zum Dänisch-Türkischen, z.B. Jørgensen 2003. Zum „Gastarbeiterdeutsch“ vgl. z.B. frühe Arbeiten wie die von Keim 1978, zum Foreigner Talk bzw. Xenolekt Hinnenkamp 1982 und Roche 1989. Zur sog. „Kanaksprach“ oder „Kanak Sprak“ Füglein 2001, Androutsopoulos 2003, Pfaff 2005.
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Das wird auch im folgenden kleinen Gesprächsausschnitt deutlich. Mehmet (Me) sitzt zusammen mit seinem Freund Kamil in seinem Zimmer. Die beiden hören leise Techno-Musik. Ebenfalls im Zimmer spielen Mehmets kleine Nichte und kleiner Neffe. Im Hintergrund hört man öfter die Stimme der Mutter (Mu). Schließlich kommt die Mutter zu Mehmet ins Zimmer, wo sich folgender kleiner Dialog entspinnt: Transkript „Wie-geht’s“ 1
Mu
2 3
Mu
4 5 6
Me: Mu: Me:
((ihr Enkelkind rufend)): NEREDESøN GI:::Z? Wo bist du, Mädchen? ((1 Sek.)) ((kommt ins Zimmer, zu ihrem Sohn gewandt)): WIE GE::::ST? NIX GU:AT NIX GU:AT? ((holt Luft und nimmt das Kind)) °hopala°
Mehmets Mutter spricht ihren Sohn nicht in Türkisch, sondern in einem extrem übertriebenen und lauten Gastarbeiterdeutsch an und vertauscht die beiden Konsonanten „t“ und „s“. Dabei sieht sie weder Mehmet noch Kamil an diesem Nachmittag zum ersten Mal, so dass es keinesfalls eine Begrüßung ihres Sohnes oder dessen Freundes darstellt. Mehmet antwortet in der gleichen extremen Weise. „NIX GU:AT“ ist als Antwort deshalb besonders gut geeignet, weil das hoch stigmatisierte „nix“ darin vorkommt und seine Längung des Vokals und die Diphtongisierung sozusagen einen normverletzenden Parallelismus zur Frage der Mutter darstellt.17 Mit der Echo-Rückfrage der Mutter ist die Sequenz beendet. Es gibt keine weiteren Begründungsanschlüsse auf die Rückfrage der Mutter. Die Isolation, die deplatzierte Thematik und Anschlusslosigkeit der Sequenz, bestehend aus drei Redebeiträgen, spricht für ein metaphorisches intertextuelles Sprachspiel zwischen Mutter und Sohn, in dem genau die oben beschriebene stilisierte Sprechweise zum Tragen kommt. Diese Varietät ist allgegenwärtig. Ihre uneigentliche Benutzung entbindet noch rituelle Floskeln ihrer Ritualität und Inhalte ihrer thematisch anbindenden Relevanzsetzung. Ihre Funktion ist allein phatisch: Ein Wir, das sich auch über die übertriebene, ja karikierende Verwendung fremdbestimmter Stimmen ihrer eigenen Eigentlichkeit rückversichert.
17
Man kann zudem sowohl „nix“ als auch das diphtongierte „guat“ als Anspielung auf das Bayrische betrachten. Damit käme eine weitere ‚reizvolle‘ Mischung zu Stande.
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6 Natürlicherweise sind es insbesondere Migrantenjugendliche18, die den sprachlich-kommunikativen Raum in dieser Weise ausfüllen, denn sie bilden einerseits eine Art intergenerative Nische innerhalb der Migrant(inn)en und fungieren andererseits zugleich als eine Art Schaltstelle zwischen der eingewanderten Elterngeneration und der etablierten Mehrheitsgesellschaft. Die Jugendlichen, die in der beschriebenen Weise switchen und mischen, bezeichnen diese Sprechweise in den Interviews, die ich mit ihnen geführt habe, als „gemischt sprechen“ oder „kar ú k konuúmak“ (gemischt sprechen) oder „halb deutsch halb türkisch reden“. Einige meiner Augsburger Informanten nennen sie „yar m yamalak konuúmak“, was ungefähr so viel heißt, wie „halb geflickt sprechen“. Aber was immer sie dazu sagen, es fallen vor allem zwei Dinge ins Gewicht:
Sie geben dieser spezifischen Sprechweise einen Namen und sie grenzen sie somit in ihrem subjektiven Bewusstsein von anderen Varietäten oder gar anderen Sprachen ab. Die Kennzeichnung, die die Jugendlichen für diese Varietät verwenden, drückt eine Aktivität aus: Sie bezeichnen sie nicht nominal als „Mischsprache“ oder „Flickwerk“, sondern sie antworten mit verba dicendi-Formulierungen wie „sprechen“, „konuúmak“ oder „reden“. Das heißt, indem sie gemischt sprechen, tun sie etwas, sind sie aktiv bei der Sache.
Die Bedeutung dieser Form der aktivischen Selbstreferenz wird erst wirklich deutlich auf dem Hintergrund der Benennung der Sprache der Eltern und Großeltern dieser Jugendlichen. Diese sprachen „Gastarbeiterdeutsch“, ihre Kinder wurden als „semilingual“ bezeichnet.19 Keine dieser Bezeichnungen hatte ihren 18
19
Ich verwende die Bezeichnung „Migrantenjugendliche“, weil der Lebenshintergrund dieser Jugendlichen u.U. auch ohne eigene Wandererfahrung stark durch die Migration von Eltern und Großeltern sowie durch die Zuordnung zur panethnischen Gruppe der „Gastarbeiter“ oder „Ausländer“ bzw. der Zuordnung als ethnische „Türken“, „Griechen“, „Polen“ usw. geprägt ist. Trotz dieser nur indirekten Teilhabe sind sie dennoch integraler Teil der modernen Migrationsgeschichte. Vor allem aber sind diese Jugendlichen auch Teil eines Diskurses, den sie selbst kaum mitbestimmen können. Die im Jahre 2000 von der Christlich Demokratischen Union (CDU) entfachte und immer wieder neu aufflammende Diskussion um die Orientierung an eine sog. „deutsche Leitkultur“ als Messlatte der Integration beispielsweise gilt Migrant(inn)en (vgl. Nassehi 2001). Sie sind, wie auch im Falle der Parallelgesellschaft-Diskussion, Objekt dieser Debatte, nicht aber ihr Subjekt. Diese Objektbeziehung spiegelt sich gleichfalls wider im Begriff des Migranten. „Gastarbeiterdeutsch“ ist eine Varietätenkennzeichnung, die ihren Weg selbst in Hadumod Bußmanns „Lexikon der Sprachwissenschaft“ gefunden hat, wo wir nachlesen können: Gastar-
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Ursprung unter den Sprechern und Sprecherinnen selbst. Diese wurden vielmehr von den Spezialisten und Spezialistinnen der Mehrheitsgesellschaft als solche etikettiert und trugen unwillkürlich zur Etablierung eines defizitorientierten ausländerpolitischen Diskurs zur Anders- und Fremdsprachigkeit bei. Die Generation des „Gemischtsprechens“ hat sich diesen Namen allerdings selbst gegeben. Sie bedurfte keiner Fremdkategorisierung.
7 Die Jugendlichen haben ein Bewusstsein darüber, dass sie nicht zwei Sprachen oder mehrere Varietäten sprechen und zwischen ihnen hin- und her alternieren, sondern dass diese Sprechweise des „Gemischtsprechens“ ein eigenständiger Code ist, den allein sie zur Verfügung haben und mit dem sie sich identifizieren. Das Gemischtsprechen dieser Jugendlichen ist ein hybridolektaler Code aus eigenem Recht heraus. Sie selbst fassen es nicht als Code-Switching auf, sondern als eine „Sprache“ an sich.20 Eins dürfte dabei deutlich werden: Eine wie immer bemühte Etikettierung dieser Sprechweisen („Sprache“) als Hinweise einer defizitären Sprachkompetenz wird der notwendigen Differenziertheit keinesfalls gerecht, ist vielmehr selbst defizitär. Wir – und damit ist prinzipiell die ganze Sprachgemeinschaft gemeint – sprechen ohnehin nicht eine Sprache, sondern mit dem bekannten österreichischen Linguisten Mario Wandruszka gesagt: „Eine Sprache ist viele Sprachen“ (Wandruszka 1979). Wir sprechen in Varietäten, in Stilen, Registern, Modalitäten und switchen zwischen all diesen hin und her. Es wäre auch blauäugig zu meinen, dass die von Muttersprachlern gewählten Optionen des Sprechens
20
beiterdeutsch ist eine „seit den 60er und 70er Jahren in Deutschland sich entwickelnde Pidginvariante, die durch parataktische Satzmuster, beschränkten Wortschatz, wenig Redundanz, Weglassen von Artikel, Präposition, Konjunktion und Verbflexion gekennzeichnet ist. Diese Merkmale besitzen generelle Verbreitung unabhängig von der jeweiligen Ausgangssprache“ (Bußmann 1990: 262f.). Zur Vergegenwärtigung: Die Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch“ stammt nicht von ihren Sprechern und Sprecherinnen selbst, sie beinhaltet vielmehr die Fremdcharakterisierung und Fremdbezeichnung einer Sprachvariante, deren Hauptcharakteristikum auch nicht etwa in der Stützfunktion für Sprachnotsituationen gesehen wird, sondern in ihren defizitären Erscheinungen. Die Muttersprachen der Migrant(inn)en, auch daran sei erinnert, tauchten in der deutschen linguistischen Diskussion so gut wie gar nicht auf. Und wenn, dann dienten sie als Interferenzspender für Fehler im Gastarbeiterdeutsch. Auch die Versuche der nachfolgenden Generation, Gastarbeiter- oder Ausländerkinder genannt, sich in zwei Sprachen, der Sprache und den Varietäten ihrer Eltern und der Sprache und den Varietäten ihrer deutschsprachigen Umgebung zurechtzufinden, wurden oft durch „doppelseitige Halbsprachigkeit“ qualifiziert oder besser: abqualifiziert (vgl. Hinnenkamp 1990; i.E.). Vgl. auch Jørgensen’s „languaging“-Argument (2003) oder Quist 2004; zur ‚monolektalen‘ Sicht des Code-Switchings siehe auch Swigart 1992 und Meeuwis/Blommaert 1998.
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gleichzeitig immer auch „optimale Wahlen“ darstellen würden. Und der schon zitierte Autor führt an anderer Stelle aus: „Für den Menschen gibt es weder eine vollkommene Beherrschung seiner Sprache noch eine völlig homogene Sprachgemeinschaft. Es gibt nie und nirgends ein perfektes, homogenes Monosystem, immer und überall nur unvollkommene heterogene Polysysteme. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Sprache ist nicht das der vollkommenen Einsprachigkeit, sondern im Gegenteil das der unvollkommenen Mehrsprachigkeit und der mehrsprachigen Unvollkommenheit“ (Wandruszka 1979: 313).
8 Die mischsprachlichen Varietäten dieser Jugendlichen sind – so habe ich versucht zu zeigen –Teil der sprachlichen und kulturellen Hybridisierung, von der ich anfangs ganz allgemein gesprochen habe. Viele Jugendliche andersethnischer Herkunft, die als 2. und 3. Generation von Immigranten in Augsburg, Hamburg, Frankfurt oder Berlin und anderswo in Deutschland, Europa und der Welt groß geworden sind, mischen Zeichen und Codes in der gleichen Weise21, wie dies auch der Fall in anderen Lebensbereichen ist (Diken 1998). Gleichzeitig ist es mehr als nur eine „Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten“, mehr als formale „Techniken der collage, des samplings, des Bastelns“ (vgl. Bronfen/Marius 1997: 14). Ich habe versucht zu zeigen, dass die Migrantenjugendlichen, die in den polykulturellen und vielsprachigen Räumen groß werden, in ihrem sprachlichen Ausdrucksverhalten spezifische Zwischenformen und Kreationen aus den ihnen zur Verfügung stehenden Codes entwickeln. Dabei stellen diese zweisprachigen und zweisprachig gemischten Konversationen nicht allein ein Code-Switching im Sinne juxtaponierter Regelhaftigkeit und interaktionslogischer Aushandlungsfunktion dar. Vielmehr handelt es sich um einen hybriden Code, um ein Oszillieren zweier Sprachen, immerfort sowohl die eine Sprache als auch die andere präsentierend, aber gleichzeitig doch etwas eigenes, drittes konstituierend: nämlich „gemischt sprechen“, „kar ú k konuúmak“, „yar m yamalak konuúmak“ und ähnliches, mithin um einen Sprachcode aus eigenem Recht heraus. Diese Mischsprache fungiert wie ein Spiegel der historischen, sozialen, kulturellen und linguistischen Bedingungen, unter denen diese Jugendlichen groß werden. Historisch bieten sie eine konterkarierende Antwort auf die Integrations21
Vgl. zusammenfassend Erfurt 2003b, auch Kap. 1 in Dirim/Auer 2004; oder einzelne Studien wie zum Beispiel die von Aguillou/Saïki 1996 (Paris), Kotsinas 1998 (Stockholm), Appel 1999 (Amsterdam), Henze 2000 (New York) oder Quist 2005 (Kopenhagen).
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anforderungen der Mehrheitsgesellschaft: deutsch zu beherrschen und doch gleichzeitig „türkische (oder eine andere ethnische) Identität“ und „türkische Kultur“ bewahren zu dürfen. Soziolinguistisch reagieren die Jugendlichen mit einer Gruppensprache, einem „identity-related“ We-Code (vgl. Sebba/Wootton 1998), der wiederum beides, Defizit und Kompetenz, vor allem aber Differenz, Eigenes und Autonomie in sich trägt, der folglich nach mehreren Seiten ausschließt, sowohl zur Elterngeneration als auch insbesondere und vor allem zur Mehrheitsgesellschaft; der aber doch wiederum gleichzeitig beide Seiten integriert in einen autonomen Code, die ‚Spendersprachen‘ – um ein Wort aus der Anfangszeit der Kreolistik zu leihen – dabei verzerrt und umdeutet. Der von den Jugendlichen verwendete Hybridolekt impliziert somit eine Art migrationsgeschichtlichen Rückkopplungseffekt, er stellt die (Wieder-)Aneignung und ReKontextualisierung eines fremdoktroyierten Diskurses dar. Insofern ist der Code der Jugendlichen mit all den genannten Implikationen Teil des Hybriditätsdiskurses.
9 Ich komme auf den Titel dieses kleinen Aufsatzes „Vom Nutzen einer hybriden Sprache“ zurück:
Der erste ersichtliche Nutzen liegt natürlich im Erkenntnisgewinn, was es mit der hybriden Sprache, exemplifiziert am Gemischtsprechen von türkischstämmigen Migrantenjugendlichen in bayerisch Schwaben, wie ich es in den letzten Kapiteln beschrieben habe, auf sich hat. Dies kann natürlich auf andere Situationen mit Migrationshintergrund übertragen werden. Somit offenbart diese Sprache ein Stück Migrationsgeschichte, und sie zeigt, wie aus Objekten von Integrations-, Sprach- und Schulpolitik Subjekte werden. Gleichzeitig offenbart sie damit eine doppelte Perspektivität, die wir in dieser hybriden Sprechweise als quasi metaphorisches Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation verstehen können: Sie sagt nicht nur etwas über die Beziehungsstruktur der teilnehmenden Sprachmischer untereinander aus, sondern sie definiert auch die Beziehungskonstellation der hybriden Sprecher(innen) zu den linguistisch, kulturell und sozial hegemonialen Gruppen der Gesellschaft. Der zweite Nutzen ist fachspezifisch für diejenigen, die Sprache zum Gegenstand ihrer Disziplin haben. Das hybride Sprechen gibt Auskunft darüber, wie unterschiedliche Sprachen mit ganz unterschiedlich sprachstruk-
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turellen Voraussetzungen in einem Code verschmelzen und dennoch formal harmonisieren können. Soziolinguistisch aber auch sprachpädagogisch ist interessant – und von Nutzen – zu sehen, was diese Jugendlichen für einen hohen Grad an Sprachbewusstheit haben, wie sie die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel – Sprachen, Varietäten, Stile und Stilisierungen – zum Teil souverän und virtuos einsetzen, wie sie von linguistischem Wissen Gebrauch machen, um Elemente aus zwei unterschiedlichen Sprachen in eine gemeinsame Form zu gießen. Dabei haben sie Normen zu erfüllen, die den Ansprüchen variationsreichen Sprechens und Aushandelns gerecht werden. Den kritischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Denkern liefern hybride Sprachen sozusagen in empirisch wohlfeiler Manier antiessentialistische Munition. Sie wirken bei der Dekonstruktion homogener Sprach- und Kulturverständnisse mit, sie dynamisieren und unterminieren folglich alle jene präskriptivistischen Verständnisse von Kultur und Sprache, auf die man etwa im immer gleichen Konzert der Assimilationsspezialisten oder – andersperspektivisch – auch bei Gegnern der aktuellen Rechtschreibreform stößt, wenn sie beispielsweise den Eingriff in die vorgeblich harmonisch und organisch gewachsene deutsche Sprache beschwören.22 Schließlich hat sie den Nutzen, dass sie der schulischen Sprachpädagogik einen Spiegel vorhält. Sie impliziert hinreichend Argumente, um von der Perspektivität einer sog. doppelseitigen Halbsprachigkeit Abstand zu nehmen und die Sprachen der anders- und mischsprachigen Migrantenjugendlichen als Sprechweisen aus eigenem Recht heraus anzuerkennen und als produktive und kreative Ressourcennutzung in den Sprachlernprozess mit einzubeziehen.
Soweit war es mehr der erkenntnistheoretische und erkenntnispraktische Blick von Außen, der verschiedene Nutzaspekte einer hybriden Sprache betrachtet hat. Aber es gibt natürlich auch Nutzaspekte aus der Sicht der Sprachverwender selbst.
Der bedeutendste Nutzen aus Binnensicht der Benutzer(innen) einer hybriden Sprache ist sicherlich in seiner kommunikativen Funktion zu sehen. Ihre Verwender(innen) geben immer wieder zu, dass diese Sprache ihnen ganz alleine „zu Eigen“ ist, dass sie ihre eigene Kreation ist und von sonst
22
Zitat des Dichters Durs Grünbein, der in diesem Zusammenhang nicht einmal vor den Metaphern der Vergewaltigung und Mutterschändung zurückschreckt: „Man vergreift sich nicht an der Mutter. Man spielt nicht mit dem Körper, der einen gezeugt hat“ (vgl. Der Spiegel 47 v. 15.11.04). Wie viel Folter, Grausamkeit und Missbrauch tut die lebendige Sprachgemeinschaft mit allen ihren Variationen dieser gewachsenen Sprache dann an?
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niemandem außer ihrer speziellen gemischtsprachigen Gemeinschaft geteilt wird. Von den befragten Jugendlichen wird immer die Metapher benutzt, dass sie sich in dieser Sprache „zu Hause“ fühlen würde, und dass dieser Sprechweise eine spezifische Emotionalität und Nähe zu Gleichsprachigen ausdrücke. Ein weiterer Nutzen ist ein abgrenzender: Gemischtsprechen ist für Außenstehende, sowohl einsprachig Mehrheitssprachige als auch einsprachige Minderheitensprachige (also z.B. Deutsche und Türk(inn)en, Franzosen/Französinnen und Algerier(innen)) entweder gar nicht oder nur rudimentär verständlich. Man muss dieselben lebensweltlichen Erfahrungen und Herausforderungen gemacht haben. Der Beherrschung dieser Sprechweise kommt damit so etwas wie eine Shibbolet-Funktion zu. Sie dient gleichsam als Eintrittsticket zu einer bestimmten Erfahrungsgemeinschaft.
Hier schließt sich in gewisser Weise der Kreis, der mit dem Thema „Parallelgesellschaft“ begonnen hat. Denn Exklusion und Ausgliederung gehen Hand in Hand. Allerdings ist das reaktive Exkludieren der jugendlichen Mischer keineswegs gleichzusetzen mit der diskursiven Exklusion durch die Mehrheitsgesellschaft. Das Gemischtsprechen der Migrantenjugendlichen ist jedenfalls kein Code aus dem Jenseits der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern eine Stimme, ein Echo und eine Konstruktion, die aus der Mitte der Einwanderungsgesellschaft und in der aktiven und produktiven Auseinandersetzung von Folgegenerationen der Migrant(inn)en mit der Mehrheitsgesellschaft entstanden ist. Aber diese Beschreibung dichotomisiert in falscher Weise, denn gerade das hybridolektale Gemischtsprechen macht doch nur allzu deutlich, dass Mischung immer auch das Aufheben von Grenzen impliziert. Transkriptionslegende zu den im Text zitierten Beispielen: {kommt} {fährt/Pferd} (....) (( )) #((Komm.)) dadada# wiesa:gt, sa:::gt lanngsam, dasssss damit DAS °da° *ach was* >darüber< /ver/ste/hen/
unklar mögliche Alternativen unverständlich Kommentar, Außersprachliches, z.B. ((1,5 Sek.)),((lachen)) Reichweite des Kommentars Äußerungsabbruch Vokallängung, Grad der Längung Halten des Konsonanten, je nach Intensität intonatorisch hervorgehoben, betont laut leise langsam schnell stakkatohaftes Sprechen; "abgehackt", silbisch
196 + (+) (h) = kom [men[da o÷lum mein Sohn
Volker Hinnenkamp Pause, unter 1 Sekunde Mikropause, deutliches Absetzen Zögern, (z.B. er (h)kommt) schneller Anschluss Überlappung und Ort der Überlappung Türkisch Übersetzungszeile
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Frank-Olaf Radtke Das Reizwort ‚Parallelgesellschaft‘ wird im allgemeinen Sprachgebrauch der Politik dazu verwendet, unerwünschte Prozesse der sprachlichen und kulturellen Selbstabschottung ethnischer, aktuell islamischer, Gemeinschaften zu beschreiben und die Minderheiten für ihr desintegratives Verhalten verantwortlich zu machen. Im folgenden Beitrag soll deutlich gemacht werden, dass jedenfalls die ethnische Entmischung der Schülerpopulation und ihre Verteilung auf verschiedenen Grundschulen, die dann über hohe ‚Ausländerkonzentration‘ klagen, nicht von den ethnischen Minderheiten ausgeht, sondern von der deutschen Mittelschicht, vertreten durch Eltern und Lehrerinnen, die durch ihre Entscheidungen im Schulsystem eine Dynamik der Entmischung in Gang setzen, die über die Wohnsegregation noch hinausgeht.
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Verteilung der Schüler auf die Grundschulen
Versteht man die sozialräumliche Verteilung der Schüler auf die Schulen einer Stadt als Ergebnis einer Strukturbildung, dann lässt sich die Frage anschließen, wie diese Verteilung zustande kommt und über Jahrzehnte stabil bleibt, sich aber auch verändern kann. Zu klären ist, ob die andauernden Differenzen in der Bildungsbeteiligung zwischen deutschen und nicht-deutschen Schülern schon mit der leistungsunabhängigen Verteilung der Schüler auf die Grundschulen in Zusammenhang stehen. ‚Ethnische Konzentration‘ ist bei dieser Betrachtung ein erklärungsbedürftiger Effekt solcher Verteilungsprozesse. Gesucht werden die Mechanismen der Lenkung der Schülerströme in einer Gemeinde, welche die soziale und ethnische Integration der Schülerpopulation, gemessen an ihren jeweiligen Bildungsbeteiligungsquoten, entweder verbessern oder aber die Desintegration stabilisieren oder sogar weiter vertiefen können. Wenn man die Mechanik der sozialen Entmischung und ihre Wirkung besser verstünde, könnte man nach Jahren der Fördermaßnahmenpädagogik, die beim einzelnen Schüler
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Auszug aus Radtke 2004.
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und seinen Defiziten ansetzte, nach aussichtsreicheren Interventionspunkten im lokalen Schulsystem selbst suchen. Mit dem Begriff ‚Mechanismus‘ ist das Zusammenspiel verschiedener Akteure gemeint, die in unterschiedlichen Organisationskontexten handeln und dabei je unterschiedlichen Logiken folgen; ihre Entscheidungen aber können unabhängig von individuell erbrachten Leistungen erhebliche Folgen für die Bildungschancen und -karriere eines Kindes haben. Dazu gehören die Qualität eines Wohnumfeldes und Entscheidungen über die räumliche Verteilung und Bewirtschaftung von Wohnraum in einer Gemeinde; dazu gehören Entscheidungen über die Struktur des lokalen Schulangebotes in einem Quartier und über das pädagogische Angebotsprofil einzelner Schulen, die mit der regelmäßigen Schulentwicklungsplanung einer Gemeinde im Einvernehmen mit der Landesregierung getroffen werden; dazu gehört die Aufnahme-, Versetzungs- und Empfehlungspraxis einzelner Schulen in den Quartieren, welche sich an den jeweiligen organisatorischen Möglichkeiten orientiert; und dazu gehört nicht zuletzt das in ressourcentheoretischer Perspektive immer wieder hervorgehobene Schulwahlverhalten der Eltern, das sich auf soziales und kulturelles Kapital stützt, sich aber erst vor dem Tableau des administrativ bereitgestellten Schulangebotes entfalten kann. An der Herstellung sozialräumlicher Strukturen ist also eine Vielzahl staatlicher Organisationen und privater Akteure beteiligt, die ihr Verhalten nicht oder nur schwach koordinieren. Ihre Entscheidungen haben aber in der Summe Effekte, die keiner der beteiligten Entscheider geplant oder vorausgesehen hat. Speziell bezogen auf das lokale Schulsystem entstehen in diesem Zusammenspiel eine direkte (intendierte) und eine indirekte (nichtintendierte) Lenkung von Schülerströmen, die für den einzelnen Schüler Vor- und Nachteile in seiner Bildungslaufbahn haben und insgesamt den über Schule und Bildung maßgeblich vermittelten Integrationsprozess in einer Stadt positiv oder negativ beeinflussen können. Im Folgenden werden exemplarisch2 Mechanismen der Verteilung von nachfragenden Schülern auf vorhandene Schulen als Zusammenwirken der Faktoren Stadtentwicklung, Schulentwicklungsplanung, Schulprofilbildung, Übergangsentscheidungen bzw. -empfehlungen der Schulen und Wahlverhalten der Eltern rekonstruiert. Dabei wird die Hypothese verfolgt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der ‚horizontalen‘, herkunftsbestimmten Verteilung der 2
Die folgenden Überlegungen stützen sich auf eine Pilotstudie, die auf der Basis von verfügbaren kommunalen Sozial- und Schulstatistiken, Schulentwicklungsplänen und direkt in den Schulen erhobenen Daten im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuches ‚Soziale Stadt‘ in Darmstadt und Wiesbaden durchgeführt worden ist. Ziel dieser Studien ist es, die Datenbasis für ein künftiges lokales Schulmonitoring zu bestimmen, das Interventionspunkte jenseits individueller Förderung bestimmen und als Basis für ein lokales Bildungs- und Integrationsmangament dienen soll (vgl. Radtke/Rathgeb/Hullen 2002).
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Schüler auf die Grundschulen im sozialen Raum (Stadtteile) und ihrer anschließenden ‚vertikalen‘ leistungsbezogenen Verteilung auf die Schulformen des dreigliedrigen Schulsystems besteht. ‚Ethnische Konzentration‘ der Wohn- und der Schulbevölkerung wird so nicht nur auf ‚ethnische Gemeinschaftsbildung‘ zurückgeführt, sondern als Ergebnis eines komplexen sozialen Geschehens aufgefasst, das genauer aufgeklärt werden soll. Sofern sich die Verteilung der Schüler auf die Grundschulen, die unabhängig von Schülerleistungen schon mit dem Schuleintritt erfolgt, auf die weitere Schullaufbahn auswirkte, müsste zumindest von einer Aushöhlung des meritokratischen Prinzips gesprochen werden.
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Gesetzliche Schuleinzugsbezirke
Der Primarbereich ist in Deutschland, in der Tradition des Weimarer Grundschulkompromisses von 1920, im Vergleich zum daran anschließenden dreigliedrigen Sekundarbereich, eine Schulform, in der – dem programmatischen Anspruch nach – Schülerinnen und Schüler aus allen sozialen Schichten mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen in heterogenen Klassen miteinander lernen sollen. Die Grundschule soll als sozialer Schmelztiegel für die ganze Bevölkerung fungieren. Eine Erinnerung an diesen normativen Gedanken einer schulisch vermittelten Integration der Bevölkerung wird in den Schulgesetzen der Bundesländer institutionell aufbewahrt: Bis heute ist die Grundschule eine Bezirksschule mit festem, gesetzlich geregeltem Einzugsgebiet. Aus gesellschaftspolitischen Erwägungen, die das Ziel der sozialen Integration betonen, ist die Schulwahlfreiheit der Eltern im Primarbereich bislang eingeschränkt. Die Schuleinzugsbezirke der Grundschulen werden in der periodischen Schulentwicklungsplanung fortgeschrieben und von den städtischen Schulämtern verwaltet. Änderungen können aus quantitativen oder aus qualitativen Gründen vorgenommen werden. Die Notwendigkeit dazu entsteht, wenn etwa durch Bevölkerungsschwankungen oder -verschiebungen in einem Stadtteil neue Wohngebiete gebaut werden und in einem anderen die Schülerzahl rückläufig ist. Reicht es nicht aus, bestehende Grundschulen und deren Schulbezirke zu vergrößern oder die Schule zu verkleinern (‚atmende Schulen‘), muss unter Umständen eine Schule geschlossen und andernorts eine neue Grundschule gegründet bzw. müssen die Schuleinzugsbezirke neu geschnitten werden. Andere Anlässe für Bezirksänderungen sind denkbar. Überlegungen der Pädagogik können mit Gesichtspunkten der sozialen Integration kollidieren. Gerade kleine Grundschulen, die wegen ihrer Wohnortnähe und Übersichtlichkeit von Reformern als pädagogisch wünschenswert bevorzugt werden, schaffen, wenn sie nur wenige Straßenzüge erfassen, eine gesteigerte
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Homogenität der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft. Der pädagogische Vorteil eines engen Quartierbezugs hat dann den Preis, dass die Grundschulen ihrem politischen Auftrag zur sozialen Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen nicht mehr oder nur eingeschränkt nachkommen können. Die Betrachtung örtlicher Schulstatistiken zeigt, dass der Anteil von deutschen und nichtdeutschen Schülern auf den Schulen der Primarstufe sehr unterschiedlich über die Stadtteile und Quartiere verteilt ist. Auffällig ist, dass Grundschulen mit besonders hohem Ausländeranteil häufig direkt neben Schulen mit einem unterdurchschnittlich niedrigen Ausländeranteil bestehen. Es galt zu prüfen, ob derartige statistische Auffälligkeiten sich als Effekt des Zusammenspiels von direkten oder indirekten Lenkungs- und Wahlmechanismen deuten lassen, die es im Folgenden zu rekonstruieren gilt.
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Schulkonstellationen
Beispiel 1: Die Wirkung des Zusammenspiels von Stadtplanung, Wohnraumbewirtschaftung und der Aufteilung der Schulbezirke durch das städtische Schulamt ließ sich exemplarisch in einem klar abgegrenzten und überschaubaren Wohnvorort einer der untersuchten Städte aufzeigen. In diesem Stadtteil, der durch lockere Bebauung vornehmlich mit Ein- und kleinen Mehrfamilienhäusern geprägt ist, sind insgesamt vier Grundschulen angesiedelt, davon zwei in unmittelbarer Nachbarschaft (ca. fünf Minuten Fußweg) zueinander. Vergleicht man die Ausländerquoten der vier Schulen am Ende der 1990er Jahre, so fällt auf, dass drei der Schulen gemessen am städtischen Durchschnitt einen unterdurchschnittlichen zeigen, eine Schule dagegen einen deutlich erhöhten Ausländeranteil aufweist. Betrachtet man den Stadtplan, fällt der extrem ungleiche Zuschnitt der Schulbezirke auf. Das Kartenbild legt die Assoziation nahe, dass der Einzugsbezirk der Schule mit dem hohen Ausländeranteil wie ein Kuchenstück aus der Torte des Stadtteils herausgeschnitten – oder wie ein Keil in ihn hineingetrieben worden ist. In der Tat handelt es sich bei dem flächenmäßig vergleichsweise kleinen Schulbezirk um ein in den 1960er und 1970er Jahren neu erschlossenes, hoch verdichtetes Wohngebiet (Hochhausbebauung), das schon – vor dem Hintergrund allgemein ansteigender Schülerzahlen – quantitativ die Begründung einer zusätzlichen Grundschule nahelegen konnte. Eine genauere Recherche an der neu gegründeten Grundschule zeigte, dass der statistisch ausgewiesene Ausländeranteil den Anteil der Schüler mit familiärem Migrationshintergrund nur unzureichend beschreibt, weil die Anzahl der Aussiedlerkinder statistisch nicht erfasst ist. Nach
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Aussagen der Schulleiterin der Schule liegt der Anteil der Kinder, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist, in der Schule bei 90%. Der Zuschnitt der Schuleinzugsbezirke wurde in diesem Fall offenbar von Beginn an nicht als Instrument zur Integration der neu in den Stadtteil hinzukommenden Bevölkerung gesehen, sondern im Sinne einer direkt intendierten Lenkung als Exklusionsmöglichkeit genutzt. Für die Bevölkerung der Hochhäuser wurde 1970 eine eigene Schule eröffnet, die bereits in unmittelbarer Nähe bestehende Grundschule blieb von den neu angesiedelten Schülern so weitgehend unberührt. Der schon städtebaulich in Kauf genommene Segregationseffekt (Hochhausbebauung hier, Ein- und Zweifamilienhäuser dort) verschärfte sich noch, als die Zusammensetzung der Bewohner des neuen, von Sozialem Wohnungsbau geprägten Wohngebiets durch die Vergabepraxis der Wohnungen zunehmend sozial homogenisiert wurde. Nicht zuletzt durch die Zuweisung von Aussiedlern und ‚einkommensschwachen‘ Aus- und Inländern in den 1980er und 1990er Jahren entwickelte sich die neue Hochhaussiedlung in der Selbstbeschreibung der Stadtverwaltung zu einem „sozial homogenen“ Bezirk mit geringen materiellen Ressourcen, Einwohnern mit niedriger Schulqualifikation und hoher Erwerbslosigkeit, der nun von den städtischen Behörden als „sozialer Brennpunkt“ behandelt wird. Der Schulbezirk der neu gegründeten Grundschule umschreibt genau jenen Raum, der heute Teil des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ ist. Die sich in den unterschiedlichen Ausländer- bzw. Aussiedlerquoten offenbarende ‚Arbeitsteilung‘ der beiden benachbarten Schulen könnte als Spezialisierung auf den jeweiligen besonderen Förderbedarf der Schüler gelesen werden. Die Folgen dieser ‚Arbeitsteilung‘ für die Bildungskarrieren der Schüler werden jedoch deutlich, wenn man die über die Jahre vergleichsweise stabilen Quoten betrachtet, mit denen Schüler aus den beiden benachbarten Grundschulen an den nahe gelegenen Gymnasien angemeldet wurden. Während von den alteingesessenen Schulen regelmäßig fast die Hälfte der Kinder eines Jahrgangs auf ein Gymnasium wechselt, sind es von der neuen Schule nur einzelne, zudem meist deutsche Kinder. Schon auf der Basis solcher noch vorläufiger Eindrücke können erste Hypothesen über den Prozess der sozialräumlichen Verteilung der Schüler gebildet werden: Erstens ist die ethnische Konzentration in diesem Fall Folge einer direkten Lenkungsmaßnahme, die im Effekt die drei anderen Grundschulen entlastet bzw. die Integrationsaufgabe an eine Schule delegiert. Dass die verschiedenen Grundschulen zweitens über Jahrzehnte jedes Jahr das gleiche oder ein ähnliches Verteilungs- bzw. Übergangsmuster auf weiterführende Schulen produzieren und dabei keine Annäherung der Bildungsbeteiligungsquoten zwischen deutschen und ausländischen Schülern erreichen, deutet darauf hin, dass Grundschulen und
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weiterführende Schulen in feste Konstellationen eingebunden sind, in denen die Schülerströme alljährlich – nur lose an die Schülerleistungen gekoppelt – in den gleichen Bahnen verlaufen. In solchen Netzwerken entsteht für die abgebenden wie für die aufnehmenden Organisationen Planungssicherheit. Solche Konstellationen, zu denen möglicherweise auch schon bestimmte Kindergärten gehören, die ebenfalls die Tendenz haben, ‚schwierige‘ Kinder abzuweisen, gilt es in künftigen, systematisch angelegten Fallstudien in den lokalen Schullandschaften zu identifizieren und in ihrer Wirkung zu untersuchen. Die Stabilität der Verteilungsmuster solcher Schulkonstellationen ist drittens auf selbst erzeugte Intransparenz in der lokalen Schulorganisation und gegenüber dem Publikum angewiesen; ihre Aufklärung müsste zu erheblichen Irritationen der Allokationspraxis führen. Zwar existieren entsprechende Statistiken in den Schulen, die das Ergebnis des Entscheidungsverhaltens widerspiegeln, diese werden jedoch nicht Teil der Selbstbeobachtung der Schulen. Dass die Verteilungsmuster von der lokalen Schulorganisation nicht in ihre Kommunikation einbezogen werden, zeigt viertens, dass soziale und ethnische Integration bisher nicht zu den Zielen gehören, an denen die Organisation Schule selbst ihre Erfolge bemisst. Weil ethnische Desintegration das Ergebnis eines Zusammenspiels von Stadtentwicklung, Wohnraumbewirtschaftung, Schulentwicklungsplanung und dem Aufnahmeverhalten mehrerer Schulen ist, das bislang niemand in der Stadt oder in der Schulaufsicht systematisch beobachtet, können die einzelnen Schulen, die Stadt und die beteiligte Sozialarbeit usw. in ihren Selbstdarstellungen (talk) ihre Anstrengungen und Entscheidungen in Form von Fördermaßnahmen herausstreichen. Der ausbleibende Erfolg wird externalisiert, also den Eltern und den Merkmalen der Kinder zugerechnet, und kann dann zu der Forderung nach mehr Unterstützung bzw. Entlastung genutzt werden. Stadtentwicklung, Wohnraumbewirtschaftung und Schulentwicklungsplanung arbeiten nach je eigenen Gesichtspunkten, die auf die Lösung ihrer je eigenen Probleme zielen; im Effekt überlassen sie die pädagogische ‚Integrationsarbeit‘ in diesem Fall den Lehrer(inne)n der Grundschule des selbst geschaffenen ‚sozialen Brennpunktes‘ und überantworten sie darüber hinaus den Kompensationsprogrammen des Modellversuchs „Soziale Stadt“. In der etablierten Arbeitsteilung zwischen Schule und Sozialarbeit können Lösungen generiert werden, die dazu neigen, das Problem zum gegenseitigen Vorteil auf Dauer zu stellen. Beispiel 2: Auch in den Innenstädten der beiden untersuchten Kommunen finden sich Schulkonstellationen, die ihre Schüler unterschiedlich erfolgreich durch das lokale System prozessieren. Ausgangspunkt der Analyse ist wiederum die statistische Beobachtung von mehreren, aneinander grenzenden Schulbezirken und
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direkt benachbarten Grundschulen, deren Ausländerquoten relativ hohe Unterschiede, manchmal den drei-, vier- oder fünffachen Anteil aufweisen. Mögliche Wohnsegregation und der Zuschnitt der Schuleinzugsbezirke allein erklären in diesen Fällen die großen Differenzen der Ausländeranteile zwischen den Schulen nicht. Gerade in den Innenstädten mit einem erhaltenen Altbaubestand, der zum Teil edel saniert, zum Teil in erbärmlichem Zustand ist, entstehen marktvermittelt Wohnquartiere mit einer sozial und ethnisch gemischten Wohn- und Schulbevölkerung. Die Differenzen in den Ausländerquoten der Grundschulen entstehen hier durch eine Umverteilung der schulpflichtigen Kinder zwischen den Grundschulen auf zwei Wegen: Erstens besteht die Möglichkeit der ‚Gestattung‘, mit denen die Schulbehörde Eltern auf deren Antrag erlaubt, ihre Kinder auf eine andere als die gesetzlich vorgesehene Grundschule zu schicken; zweitens nutzen die Schulen die Möglichkeit der pädagogischen Profilbildung, die unter dem Stichwort ‚Schulautonomie‘ als Teil des New Public Managements eröffnet worden ist. Mit zielgruppenorientierten Programmen können sie sich für bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders attraktiv machen. Die Initiative zur Umverteilung kann also sowohl von den Eltern als auch von den Schulen ausgehen, muss aber von der lokalen Schulbehörde gebilligt werden. Das kontingente Zusammenspiel von drei oder mehr Akteuren, das zu einer indirekten Lenkung der Schülerströme führt, ist Gegenstand der Untersuchung. Eine eingehende statistische Betrachtung des ‚Gestattungsgeschehens‘ in den Innenstadtbezirken konnte zeigen, dass einzelne Schulen offenbar besonders nachgefragt sind: Sie verzeichnen zusätzliche Anmeldungen (positive Gestattungen), manchmal im Umfang von zwei ganzen Klassen, während sich umgekehrt direkt benachbarte Schulen mit einer entsprechenden Zahl von Abmeldungen (negativen Gestattungen) konfrontiert sehen, die auf die Dauer den Bestand der Schule gefährden könnten, würden sie nicht durch gezielte (Um-) Lenkungsmaßnahmen ausgeglichen. So können Eltern von einer Schule zur anderen weiterempfohlen werden, wenn die Schule mehr Anmeldungen hat, als sie Schüler aufnehmen kann. Der Schüleraustausch zwischen den Grundschulen wird möglich, weil die städtische Schulbehörde im Einvernehmen mit dem staatlichen Schulamt die Verbindlichkeit von Schulbezirksgrenzen durch die Anerkennung von Ausnahmetatbeständen individuell aufheben kann. Von dieser Möglichkeit wird in den untersuchten Städten nach Angaben der Schulämter in einer Größenordnung von mehreren hundert Gestattungen pro Jahr Gebrauch gemacht. Diese Praxis führt ausweislich der Schulstatistik im Effekt zu einer zum Teil extremen ethnischen Homogenisierung der Schülerpopulationen in einzelnen Grundschulen. Die Motive für Gestattungsanträge der Eltern bzw. Gestattungen durch die Schulaufsicht sind aus der Statistik nicht ohne weiteres abzulesen. So viel scheint festzustehen: Die Entmischung der Schülerpopulation durch Schulwahl geht je-
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denfalls nicht von ‚integrationsunwilligen‘, ethnisch vergemeinschafteten Migranten aus, sondern von deutschen und ausländischen Eltern, die über das notwendige soziale und kulturelle Kapital verfügen, um wählen und ihre Wahl auch realisieren zu können. Die ethnische Konzentration in einzelnen Schulen wird darüber hinaus systematisch noch verstärkt, wenn auch die Schulen bzw. die dort Lehrenden selbst aktiv werden und entgegenkommende Strukturen schaffen. Eine Möglichkeit, auch schon in der Grundschule ganz legal eine größere Leistungshomogenität der Klassen zu erreichen, als sie im Schuleinzugsgebiet vorhanden ist, eröffnet sich, wenn sich eine Schule in die Lage bringt, ihre Schüler selbst auswählen zu können. Gelegenheit dazu verschafft die gezielte, auf bestimmte soziale Gruppen gerichtete pädagogische Profilbildung, mit der Differenz zwischen Schulen der gleichen Form erzeugt und das Wahlverhalten der Eltern angeregt werden kann. Ein besonderes pädagogisches Profil kann, wenn die Schule Modell- bzw. Versuchsstatus erhält, ausnahmsweise aus einer bezirksgebundenen Grundschule eine Angebotsschule für die ganze Stadt machen. Der Schulbezirk als Integrationselement verliert auf diese Weise seine Wirkung. So kann z. B. eine so genannte Eingangsstufe (Schulbeginn schon für Fünfjährige mit Klasse 0) einer Grundschule ein besonderes reformpädagogisches Profil geben. Bei entsprechender Übernachfrage etwa von berufstätigen Müttern hat die Schule die Möglichkeit, Schüler nach eigenen Gesichtspunkten auszuwählen (creaming). Andere Beispiele pädagogischer Profilbildung sind Montessori- oder Waldorf-Pädagogik, eine konfessionelle Orientierung der Schule, Frühenglisch, ein Musikschwerpunkt oder Ganztagsbetreuung. Schüler, die nicht aufgenommen werden können, müssen dann von der Behörde – nach Beratung der Eltern – an die benachbarten Grundschulen mit negativem Gestattungssaldo verwiesen werden. Dass sich bei dieser Arbeitsteilung zwischen benachbarten Schulen unter der Hand eine ethnische Ungleichverteilung herstellt, wird von den Schulbehörden offenbar sehend in Kauf genommen – und bei Gelegenheit wortreich beklagt. Schulen mit hohem Ausländeranteil können sich dann gezwungen sehen, sich ihrerseits ein spezifisches ausländerpädagogisches Profil mit besonderen Sprachfördermaßnahmen, Hausaufgabenhilfe usw. zu geben, das sie für deutsche Mittelschichteltern weiter unattraktiv macht und den Prozess der ethnischen Entmischung der Schülerpopulation in einem Stadtteil weiter vorantreiben und pädagogisch legitimieren kann. Soziale und ethnische Herkunft werden auf diese Weise zum dominanten Organisationsprinzip der Grundschulen, ohne dass jemand der absichtsvollen Segregation geziehen werden könnte. Die sich einstellende ethnische Konzentration ist nicht ein unabänderliches Ereignis, sondern das Resultat einer Reihe unkoordinierter Entscheidungen unterschiedlicher Akteure in den Organisationen, aber auch der Eltern, die eine verdeckte Auseinandersetzung um Startvorteile in der Gesellschaft führen.
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Die These, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen der ‚horizontalen‘ Verteilung der Schüler auf die Grundschulen im sozialen Raum (Stadtteile) und ihrer anschließenden ‚vertikalen‘ Verteilung auf die Schulformen des dreigliedrigen Schulsystems, wird heuristisch erhärtet, wenn man wiederum vergleichend die Übergangsquoten der Innenstadt-Grundschulen mit hohen und mit niedrigen Ausländeranteilen auf weiterführende Schulen betrachtet. Dann zeigen sich die erwarteten Unterschiede, wobei die Übergangsquoten auf ein Gymnasium zwischen 70% und 80% von Schulen mit ganz niedrigen Ausländeranteilen und lediglich 10% von einer Schule mit extrem hohem Ausländeranteil variieren können. Auch hier gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich in den innerstädtischen Bezirken stabile Konstellationen zwischen Kindergärten, Grundschulen und weiterführenden Schulen herausgebildet haben, die – flexibel bei der Interpretation von Schülerleistungen – im Interesse der Vermeidung von Planungsrisiken wiederkehrende Übergangsmuster in höhere Bildungsgänge hervorbringen. Hier hätten eingehendere Untersuchungen anzusetzen. Im Bereich der Sekundarschulen, wo es keine gesetzlichen Einzugsgebiete mehr gibt, kann die Dynamik der ethnischen Entmischung, angetrieben von Präferenzen der Eltern und der Bevorzugung von homogenen Lerngruppen durch die Schulen, dann ungehindert greifen.
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Fazit: Die ethnische Desintegration geht von der Mitte der Gesellschaft aus
Zwischen den Grundschulen und den weiterführenden Schulen findet in den sozial und ethnisch gemischten Innenstädten ein Wettbewerb um die Schüler statt, mit denen aus der Sicht der Schulen am ehesten erfolgreich gearbeitet werden kann. Medium des Wettbewerbs sind der Wille der Eltern und ihre Ängste vor sozialem Abstieg, Distinktionsmerkmale sind die Schulprofile und die damit erzeugten Bilder (Images) einer Schule, die das Wahlverhalten beeinflussen (sollen). Wie Eltern Schulen meiden, die als ‚problembelastet‘ gelten, haben auch Schulen die Tendenz, Schüler abzuweisen, die sie als ‚problematisch‘ ansehen. Begehrt sind aus der Sicht der Eltern Schulen, die ihnen und ihren Kindern eine erfolgreiche Schullaufbahn versprechen. Erfolgversprechend sind aus der Sicht der Schulen leistungsfähige und -bereite Schüler, die eine wirksame Unterstützung aus dem Elternhaus mitbringen. Beide Kalküle greifen ineinander und verstärken sich gegenseitig. Eltern verhalten sich umsichtig, wenn sie die Wahl einer Schule für ihr Kind an die Aussicht auf eine qualifizierte Empfehlung für eine weiterführende Schule zu knüpfen suchen. Schulen verhalten sich rational, wenn sie die Probleme für die Organisation und die einzelnen Lehrer(innen) zu minimieren suchen
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oder wenn sie in einer Art pädagogisch-professionellem Heroismus alle Probleme auf sich und ihre voll ausgebaute Abteilung für Sozialarbeit ziehen. Auch damit kann man glänzen. Zwar hat niemand etwas gegen Ausländer oder Aussiedler, aber man sucht seine eigenen kleinen Alltagsvorteile bzw. geht – ohne weitreichendes Kalkül – Problemen aus dem Weg. Für die durch Kumulation indirekt entstehenden Effekte kann niemandem die Verantwortung zugeschrieben werden. Die Beförderung der politisch erwünschten sozialen Integration im Sinne einer Normalisierung und Angleichung des Bildungsverhaltens der verschiedenen Bevölkerungsgruppen wäre Angelegenheit der Schulaufsichtsbehörde, die aber in ihrer Darstellung des Problems auf eine Semantik der sozialen und kulturellen Defizite zurückgreifen kann. In die Dynamik des Wettbewerbs um Schüler, der zur sozialen und ethnischen Entmischung bzw. Konzentration führt, könnte sie nur eingreifen, wenn sie sich gegen die Interessen beider Referenzgruppen, der artikulationsfähigen Eltern und der pädagogisch profilierten Schulen, stellen würde. Aber mit welchem Argument könnte sie überzeugen? Moral? Politische Korrektheit? Gerade wegen der kaschierten Interessen und des unübersichtlichen Konfliktpotentials ist Schulentwicklungsplanung ein kommunalpolitisch so heiß umkämpftes, auch parteipolitisch gerne genutztes Feld. Man könnte den Prozess der Verteilung der Schüler auf die Grundschulen ein Geschäft auf Gegenseitigkeit zwischen Lehrern und Eltern nennen, das die Mittelschicht unter den Augen der Schulbehörde auf Kosten ‚der Ausländer‘ unter sich abmacht. Die Wahrnehmung der Eltern ist von Bildern bestimmt, die in erster Linie von der sozialen und ethnischen Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule geprägt sind. Dazu tragen die Schulentwicklungsplanung, die Profilbildung der Schulen und das Wahlverhalten der Eltern gleichermaßen bei. Im Effekt werden die Kinder, deren Eltern nicht über genügend ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital verfügen, um wirkungsvoll Einfluss auf die Bildungslaufbahn ihres Kindes nehmen zu können, von den chancenreichen Schulkonstellationen in einer Stadt von vorne herein ausgeschlossen. Ihnen bleiben mit Beginn der Schulpflicht oft nur unzureichend ausgestattete und renovierungsbedürftige Restschulen, die ihrerseits sehen müssen, wie sie das Problem lösen, mit einer als ‚problematisch‘ stigmatisierten Schülerschaft erfolgreich Schule machen zu müssen. In den beiden ausgewählten Beispielen der sozialräumlichen Anordnung der Grundschulen bzw. der Entmischung der Schülerpopulationen ist nachzuvollziehen, wie es im Wettbewerb um Schüler der einen Schule gelingt, die angenehme und leichte Aufgabe zu übernehmen, mit den Kindern der Mittelschicht zu arbeiten, während komplementär dazu anderen Schulen die Arbeit mit den Kindern zufällt, die erhöhten Förderbedarf hätten, um ebenfalls in den weiterführenden Schulen erfolgreich sein zu können. Welche Schule in diesem Wettbewerb um
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Schüler in welche Rolle gerät, ist nur zum Teil von der Schule selbst und ihren pädagogischen Anstrengungen abhängig, zuerst wohl maßgeblich von der Qualität ihres Wohnumfeldes, den sozialen Merkmalen der dort ansässigen Bevölkerung und dem kalkulierten Zuschnitt des Schuleinzugsbezirks. Das Schicksal einer Schule hängt aber auch wesentlich von der Dynamik ab, die in einer Konstellation von benachbarten Schulen und ihrer Vernetzung mit den Kindergärten einerseits und den weiterführenden Schulen andererseits entsteht. Dabei sind die Grundschulen mit einer überwiegenden Mittelschichtklientel offenkundig nicht weniger erfolgreich oder erfolglos als die Schulen mit einem hohen Ausländeranteil, insofern beide Schultypen die Kinder so wieder entlassen, wie sie eingeschult wurden: Die sozial gut gestellten Schüler verlassen die problemfreien Grundschulen als gute Schüler, die sozial schlecht gestellten verlassen die Problemschulen als schwache Problemschüler. Schullaufbahndeterminierend ist offenbar die Lenkung der Schülerströme schon bei ihrer sozialräumlichen Verteilung auf die verschiedenen Grundschulen. Diese allein leistungsunabhängige Verteilung wird, vermittelt über feste Schulkonstellationen, beim Übergang in weiterführende Schulen beinahe direkt in eine vertikale Verteilung in das dreigliedrige System transformiert, erscheint nun aber als leistungsabhängig und wird durch Bildungszertifikate bzw. Empfehlungen legitimiert. Die Betonung des meritokratischen Prinzips der Schule wird zu einer Illusion, die zwischen Täuschung, irrtümlicher Deutung und normativ geprägtem Wunschdenken angesiedelt ist. In Zukunft dürfte die soziale und ethnische Entmischung der Schülerschaft durch Profilbildung der Schulen und das Wahlverhalten der Eltern noch an Bedeutung gewinnen. Der Wettbewerb um leistungsstarke Schüler könnte sich gerade unter dem Vorzeichen performativer Evaluation von Schülerleistungen als Qualitätsnachweis einer Schule, wie sie vom Programme for International Student Assessment (PISA) angestrebt wird, noch weiter verstärken. Mit der Deregulierung des Schulsystems (Schulautonomie/Profilbildung) soll der Wettbewerb zwischen Schulen absichtsvoll stimuliert und Wahlfreiheit gerade als qualitätssteigerndes Steuerungselement gestärkt werden. In der Konsequenz dieser Angebotspolitik und der Umgestaltung der Schullandschaft zu QuasiMärkten läge in Deutschland die völlige Aufhebung der Schuleinzugsgebiete auch im Grundschulbereich. Was als Instrument der Effektivitäts- und Effizienzsteigerung erdacht wurde, führt im Effekt, so zeigt eine lange Reihe von Studien aus dem angloamerikanischen Bereich, nicht nur nicht zu einer Verbesserung der Qualität der Schulen bzw. der von ihnen hervorgebrachten Schülerleistungen, sondern zugleich zu mehr ethnischer und rassischer Trennung und zu mehr Ungleichheit bezogen auf qualifizierte Abschlüsse. Stephen Ball hat in einer Sekundäranalyse von Studien
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aus Neuseeland bis Schottland, aus London und San Francisco gezeigt, dass Kundenorientierung der Schulen sich durchgängig als ein leistungsunabhängiger Sortiermechanismus erweist, welcher die ohnehin durch den Wohnungsmarkt vorgegebene Segregation der Bevölkerung noch verstärkt. Das meritokratische Prinzip wird unterlaufen, bevor es überhaupt greifen kann. Wenn in Deutschland schon jetzt, unter Bedingungen einer hoheitlichen Regulierung der Schulangebote, ein Wettbewerb um erfolgversprechende Schüler in Gang kommt, der desintegrierend wirkt, so ist kaum zu erwarten, dass weitere Deregulierung zu mehr Integration und Gerechtigkeit führen würde. In einer der von Ball zitierten Studien heißt es: „Besonders dort, wo es eine begrenzte Anzahl frei wählbarer Schulen mit hoher Marktattraktivität gibt, neigen privilegierte Eltern und privilegierte Schulen dazu, sich in einer zunehmenden Segmentation des Marktes gegenseitig auszusuchen.“
Darin könnte man Ansätze zu einer Parallelgesellschaft sehen.
Literatur Radtke, Frank-Olaf/Rathgeb, Kerstin/Hullen, Maren (2002): Lokales Bildungs- und Integrationsmanagement. Bericht der wissenschaftlichen Begleitforschung im Rahmen der Hessischen Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt (HEGISS). Frankfurt am Main. URL: www.hegiss.de Radtke, Frank-Olaf (2004): Die Illusion der meritokratischen Schule. Lokale Konstellationen der Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem. In: IMIS-Beiträge 23. Osnabrück, S. 143- 178.
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Zwischen Ausgrenzung und Unterstützung. Bildungsbiographien von Jugendlichen mit Migrationshintergrund Zwischen Ausgrenzung und Unterstützung
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Vorbemerkung
Betrachtet man den öffentlichen Diskurs über Jugendliche mit Migrationshintergrund und insbesondere ihre Bildungssituation, so zeigt sich, dass diese Jugendlichen vorrangig als Problemgruppe wahrgenommen und ihre vermeintlichen Defizite thematisiert werden. An dieser Grundmelodie hat sich im Laufe der Zeit nur wenig geändert, selbst wenn die thematischen Fokussierungen variieren. Was im medialen Diskurs ganz offensichtlich wird, spiegelt sich auch im wissenschaftlichen Diskurs wider, wenngleich hier Gegendiskurse deutlicher verankert sind (vgl. z.B. Pott 2002, Weber 2003, Badawia 2002, Gogolin 2002, Gogolin 2003, Gomolla/Radtke 2002, Gomolla 2003). Das Stichwort der ‚Parallelgesellschaft‘, das seit Jahren die Medienlandschaft wie auch die politische Diskussion durchzieht, ist hierbei ein Element sich wiederholender Argumentationsketten. Die allochthone Bevölkerung, so ist immer wieder zu lesen, ziehe sich in zunehmendem – und bedrohlichem – Maße in parallele Welten mit eigener Infrastruktur zurück. Eine Folge dieses Rückzuges sei es, dass die deutsche Sprachkompetenz der Schüler(innen) mit Migrationshintergrund immer mehr abnehme. In (selbst gewählten) Ghettos lebend, vom türkischen Fernsehprogramm sozialisiert und den Kindergarten nicht besuchend1 träten die Kinder mit immer schlechteren Deutschkenntnissen in die Schule ein, und ihr Scheitern sei vorprogrammiert. Politisch wird daran anknüpfend in regelmäßigen Abständen eine ‚Kindergartenpflicht für Migrantenkinder‘ gefordert, unbeeindruckt von den tatsächlichen Zahlen, die auf eine hohe Quote verweisen (vgl. z.B. Boos-Nünning/Karakaúo÷lu 2004: 229ff.). Doch nicht nur der Rückzug 1
So war im Spiegel 10/2002 unter der Überschrift „Die Rückseite der Republik“ zu lesen: „Meistens spricht die Frau kein Deutsch. Da sie deshalb zu Hause ist, behält sie auch die Kinder im Haus, und während die Mutter den Haushalt macht, sitzen die Knirpse vor dem Fernseher – gefüttert mit Türk-TV aus der Satellitenschüssel.“ Wie so häufig wird hier die Thematik vorrangig an den türkischen Einwanderinnen und Einwanderern abgearbeitet.
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in ‚Parallelgesellschaften‘ oder ‚Kulturkolonien‘ wird beklagt, ebenso wird trotz gegenteiliger wissenschaftlicher Ergebnisse (vgl. Gogolin/Neumann/Roth 2003: 56f.) immer wieder die Bildungsdistanz und -abstinenz der Eltern moniert. Was in den 60er Jahren an den ‚Arbeiterkindern‘ abgearbeitet wurde, wiederholt sich bei den Kindern mit Migrationshintergrund. Diese würden, da ihre Eltern häufig wenig oder gar kein Interesse an einer qualifizierten Bildung und Ausbildung hätten, nicht in den Kindergarten geschickt, ihre Schullaufbahn werde nicht begleitet oder unterstützt.2 Zur Begründung wird jedoch weniger auf die soziale Herkunft – wie bei den ‚Arbeiterkindern‘ – rekurriert, sondern die Annahme wird durch Rückgriff auf den Topos der ‚kulturellen Differenz‘ der Einwanderinnen und Einwanderer gestützt. Vor allem bei den Töchtern zeigten die Eltern wenig Bildungsaspiration, da sie – traditionellen Vorstellungen verhaftet – eine qualifizierte (Aus-)Bildung für die Mädchen als nicht notwendig erachteten3. Auch in anderen Diskurssträngen findet der kulturalisierende Blick seinen Niederschlag: ‚türkische Machos‘, denen vor allem die Lehrerinnen ausgeliefert seien, oder ‚russische Gewalttäter‘, die das Schulsystem überfordern, lassen sich hier als Beispiele nennen. Der problemfixierte Blick konstatiert vor dem Hintergrund der ‚kulturellen Differenz‘ nicht nur identitäre Probleme der Jugendlichen, sondern zudem pädagogische und ordnungspolitische für die gesellschaftlichen Instanzen. Es würde den vorliegenden Rahmen sprengen, die Probleme der verschiedenen Argumentationsstränge dezidiert herauszuarbeiten, doch sollen an dieser Stelle zwei Probleme festgehalten werden, die eng mit der medialen Darstellung allochthoner Jugendlicher und ihrer Bildungssituation verflochten sind: Zum ersten verschieben die vorgestellten Argumentationsmuster den Blickwinkel, indem sie von den strukturellen Bedingungen des Schulsystems ablenken. Spricht man hauptsächlich von mangelnder deutscher Sprachkompetenz der 2
3
Doch findet sich auch eine umgekehrte Argumentation, die auf ein hohes Bildungsinteresse der Eltern verweist. Allerdings wird auch dieses wiederum problematisiert und als „übersteigertes“ Bildungsinteresse klassifiziert. So war ein Artikel in der Frankfurter Rundschau am 5.12.2002 übertitelt mit „Grenzen von Multikulti. Die Miganten-Bildungselite drängt an die Gymnasien – obwohl es in Deutsch hapert.“ Zwar hätten, so der Autor, die Eltern die Politiker-Appelle, für ihre Kinder eine möglichst gute Schulbildung anzustreben, endlich ernst genommen, doch folgen daraus eine Überforderung der Kinder, überzogene Bildungserwartungen und eine Benachteiligung der autochthonen Kinder, da das Lerntempo den schwächeren angepasst und gedrosselt werde. So schrieb beispielsweise Susanne Gaschke in der Zeit und verweist damit auf die ‚andere Kultur‘ der Einwanderer: „Selbstverständlich ist unser Bildungswesen auch auf deutsche Kultur verpflichtet, nämlich, Kinder jedweder Herkunft so zu erziehen, dass ihnen im Leben alle Chancen offen stehen. Dazu gehört, dass ihre Eltern sie nicht gegen ihren Willen verheiraten. Dass sie auch als Frau einen Beruf ergreifen dürfen. Dass sie die offene Gesellschaft ertragen können. Und Deutsch lernen: Lesen, schreiben, sprechen.“ (Die Zeit 21/2001)
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Kinder aufgrund ihres unzureichenden Kindergartenbesuches, so müssen weder die Qualität der vorschulischen Erziehung noch der „monolinguale Habitus“ (Gogolin) des Schulsystems, der eng mit dem bundesrepublikanischen Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft verbunden ist, thematisiert werden. Fokussiert man eine Abschottung der Einwanderinnen und Einwanderer gegenüber den Bildungsinstitutionen, so bleiben Vermittlungsprobleme zwischen Eltern und Schule oder die strukturelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund weitgehend undiskutiert. Konstatiert man eine generelle Bildungsabstinenz der Migrant(inn)en, so geraten die hohe Selektivität des Bildungssystems, die enge Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg aus dem Blickfeld. Problematisiert man ein mangelndes Interesse der Eltern, vor allem den Töchtern zu einer guten (Aus-)Bildung zu verhelfen, müssen keine Erklärungen dafür gefunden werden, warum allochthone wie autochthone Mädchen bessere Schulabschlüsse erzielen als ihre männlichen Altersgenossen, jedoch auf dem Ausbildungsmarkt deutlich schlechtere Chancen haben (vgl. Granato 1999, Farrokzhad 2003) Das zweite hier zu markierende Problem bezieht sich auf die Wirkungsweise eines Diskurses, der migrantische Jugendliche vorrangig als problembelastet, defizitär und abweichend darstellt und beispielsweise das alltägliche Leben in den Städten (vgl. Bukow u.a. 2001) oder auch ‚durchschnittliche Jugendliche‘ und ihren Alltag kaum berücksichtigt. Diese Aspekte, wie auch erfolgreiche Bildungsverläufe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, bleiben weitgehend unsichtbar – finden sie Raum, so werden sie als Ausnahme und Abweichung, nicht jedoch als Normalität vorgeführt. Auch der pädagogische Blick ist in hohem Maße von diesen Bildern beeinflusst, wie verschiedene Studien zeigen. So arbeiten beispielsweise Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke (2002) in ihrer Untersuchung zur strukturellen Diskriminierung von Migrant(inn)en im Schulsystem heraus, wie Lehrer(innen) schulische Probleme aufgrund ‚kultureller Differenzen‘ antizipieren und diese Annahme zu einer vorwegnehmenden Dequalifizierung und Herunterstufung allochthoner Schüler(innen) führt. Auch Martina Weber (2003) macht in ihrer Studie zum Umgang der bundesrepublikanischen Schule mit Heterogenität das ‚ethnische Wissen‘ der Pädagog(inn)en sichtbar.4
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Wie tief dieses Wissen nicht nur als pädagogisch gelerntes, sondern auch als sedimentiertes Alltagswissen verankert ist, zeigen nicht zuletzt eigene Lehrerfahrungen. Universitäre Seminare im Rahmen der Pädagog(inn)en- und Lehrer(innen)ausbildung zu dem Themenbereich Migration sind geprägt von sich wiederholenden Mustern. Die Defizite der Migrant(inn)en, ihre (selbstgewählte) Ghettoisierung, schulische Probleme der Jugendlichen, mangelnde Sprachkompetenz, wie auch die ‚unterdrückten Kopftuchmädchen‘ sind wiederkehrende und resistente Topoi innerhalb der Seminardiskussionen.
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Diese problemorientierte Berichterstattung hat zur Folge, dass die Jugendlichen von Lehrer(inne)n, Ausbilder(inne)n und im Alltagsleben durch eine spezifische Brille wahrgenommen werden. Sie werden festgeschrieben auf die Rolle der ‚Anderen‘, der ‚Abweichenden‘, ebenso wie ihre spezifischen Kompetenzen unsichtbar bleiben. Der mediale und der Alltagsdiskurs sind Bestandteile ihrer Marginalisierung. Ebenso wie die Diskurse über marginalisierte Quartiere oder ‚soziale Brennpunkte‘ den Bewohner(inne)n der Quartiere ihr Leben noch zusätzlich erschweren und sich letztendlich gegen sie wenden (vgl. Schulze/Spindler 2005), wenden sich auch die Jugend- und Schuldiskurse gegen die Jugendlichen. Interviews mit allochthonen Jugendlichen zeigen, wie genau diese die vorherrschenden Bilder über sie kennen. Als Objekte dieses Diskurses agieren sie zugleich als Subjekte, die sich gegenüber diesem Diskurs positionieren und mit diesem gesellschaftlichen Wissen agieren (vgl. Çelik 2003: 29). Sie arbeiten sich auch in der Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte immer wieder an ihnen ab, verwerfen sie und entwickeln Gegenentwürfe, nehmen sie an oder relativieren sie, formulieren sie als bedeutsam für ihr Leben oder auch nicht. Im Folgenden soll zunächst anhand der biographischen Erzählung von Zeliha Ö. veranschaulicht werden, welche Wirksamkeit die hegemoniale gesellschaftliche Sicht – im pädagogischen Kontext Schule – auf die Bildungslaufbahn entfaltet. Daran anknüpfend möchte ich den Blick erweitern und zwei strukturelle Aspekte fokussieren, die sich nicht nur in dem Interview mit Zeliha als bedeutsam für die Bildungslaufbahn herausstellen: die Zusammensetzung der Schülerschaft und das Schulprofil einerseits, die Frage der Ressourcen für den Bildungsaufstieg andererseits. Hierzu werde ich auf weitere biographische Beispiele zurückgreifen.
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Zur Bildungsbiographie von Zeliha Ö.
Zeliha Ö. wächst in Köln auf und ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 24 Jahre alt. Ihr Vater wandert Anfang der 60er Jahre als Arbeitsmigrant in die BRD ein, ihre Mutter zieht kurz vor Zelihas Geburt nach Köln. Ihr 16 Jahre älterer Bruder bricht kurz darauf sein Abitur in der Türkei ab und folgt ebenfalls nach Köln. Im Alter von fünf Jahren wird Zeliha als ‚Kann-Kind‘ eingeschult. Sie konnte zuvor keinen Kindergarten besuchen, da sie keinen Platz erhalten hat. Bei ihrer Einschulung spricht Zeliha nur wenig deutsch, hat allerdings bereits im Alter von drei Jahren in der örtlichen Moschee begonnen, arabisch zu lernen und konnte, so erzählt sie im Interview, arabisch lesen, bevor sie in der Schule lesen lernt. Diese
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Sprachkompetenz wie auch ihre türkische Muttersprachlichkeit bleiben in der Grundschule unberücksichtigt und Zeliha fallen die ersten Jahre schwer. Nach der Grundschule besucht sie eine örtliche Realschule, eine Zeit, die sie als sehr belastend erinnert. In dieser Schule, die nur von wenigen allochthonen Schüler(inne)n besucht wird, herrscht ein hoher Anpassungs- und Selektionsdruck – der sich vor allem gegen Schüler(innen) mit Migrationshintergrund wendet. Zelihas individuelle Lernvoraussetzungen wie auch ihre Mehrsprachigkeit finden in dieser Schule keine Berücksichtigung – „da musstest du einfach mitkommen, also du musstest sogar bessere Noten erbringen.“ „Friss oder stirb“ fasst Zeliha die Schulphilosophie zusammen5, die sich beständig im Schulalltag manifestiert, wenn Zeliha beispielsweise in den ersten Jahren von Mitschüler(inne)n wegen sprachlicher Fehler ausgelacht wird und die Lehrer(innen) nicht einschreiten – was ihr pädagogischer Auftrag wäre. Dieses Klima lassen Zeliha, die eine gute Schülerin ist, nicht nur an ihren Leistungen und Kompetenzen zweifeln, sondern haben auch zur Folge, dass sie sich dieser Schule nicht zugehörig fühlt, sondern als geduldet erlebt. „Auf der anderen Schule hat man immer, hatte ich immer Besorgnis, ich wusste nie ob ich eine Zwei oder ne Fünf kriege. Irgendwie das war dann immer diese Ungewissheit oder halt, dass man gedacht hat, oh mein Gott, man ist nicht gut genug eigentlich für die Schule, aber man wird hier irgendwie geduldet. (...) Also ich hatte nie dieses Gefühl, also ich bin kompetent oder so, weil ich irgendwie, weil wir irgendwie dieses Gefühl nicht vermittelt bekommen hatten.“
Die aus dem Schulklima resultierende Unsicherheit bezüglich ihrer eigenen Fähigkeiten und ihres Leistungsstandes führt so weit, dass Zeliha befürchtet, die Qualifikation für die Sekundarstufe II nicht zu erhalten. Sie schließt als zweitbeste Schülerin ihres Jahrganges die Realschule ab. Dennoch hätte sie es, wie sie pointiert zusammenfasst, ebenso wenig gewundert, wenn sie durchgefallen wäre. Die Position der Schule, die in den Erfahrungen von Zeliha zum Ausdruck kommt, kann bestenfalls als differenzneutral gedeutet werden, mehr jedoch spricht dafür, dass Schüler(innen) mit Migrationshintergrund in diesem systemischen Kontext als Ausnahme wahrgenommen werden, die eigentlich fehl am Platz erscheinen. Sie werden geduldet, wenn sie beweisen, dass sie die gleichen, wenn nicht gar bessere Leistungen erbringen als die autochthonen Schüler(innen). Der problematische Umgang der Schule mit der Heterogenität der Schüler(innen) spitzt sich für Zeliha zu, als sie sich in der sechsten Klasse entscheidet, das Kopftuch anzulegen. Zu diesem Zeitpunkt trägt ihre beste Freundin bereits seit einigen Monaten ein Kopftuch, was ihren Entschluss beeinflusst, der zudem 5
Vergleiche hierzu auch Ingrid Dietrich (1997).
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durch den regelmäßige Moscheenbesuch bestärkt wird. Familiär besteht ein offenes bis ablehnendes Verhältnis zu ihrer Entscheidung. Die Schule reagiert, indem eine Klassenkonferenz einberufen wird. In der Annahme, dass Zeliha von ihren Eltern zu diesem Schritt gezwungen wird, werden ihre Eltern in die Schule zitiert, um Stellung zu beziehen. Sie machen dort ihre Position deutlich, unter anderem indem sie auf die der Schule bekannte ‚Widerspenstigkeit‘ ihrer Tochter verweisen, die einen Zwang unwahrscheinlich mache. Nun könnte davon ausgegangen werden, dass das ‚Problem‘ der Schule – die Frage der Freiwilligkeit – damit gelöst ist. Doch das Thema Kopftuch entwickelt sich vielmehr zu einem ‚Dauerbrenner‘, das die gesamte Realschulzeit überdauert. Immer wieder wird es von ihren Lehrer(inne)n thematisiert – mit dem impliziten bis expliziten Ziel, Zeliha zum Ablegen zu bewegen. Dabei wird in den Schilderungen deutlich, wie sehr die Lehrer(innen) einer spezifischen Vorstellung von Kopftuchträgerinnen verhaftet sind. „Irgendwie konnten die Lehrer nicht unterscheiden zwischen persönlichem Charakter und irgendwie diesem Bild von einer Kopftuchträgerin. Also die Lehrer konnten sich eigentlich nie vorstellen, warum ich Kopftuch tragen würde, weil irgendwie war ich ziemlich vorlaut sozusagen und irgendwie immer zu energisch und irgendwie, eh halt war ich nicht mit Kopftuchträgerin zu vereinbaren. Sie meinten also du bist doch gar nicht so brav oder du bist doch gar nicht so ruhig, wieso trägst du Kopftuch.“
Die Lehrer(innen) folgen dem gesellschaftlichen Mehrheitsdiskurs, der die kopftuchtragende Schülerin als unterdrückt und daran anknüpfend als ruhig, brav und angepasst entwirft. Der Widerspruch zwischen diesem Bild und der konkreten Person Zelihas führt jedoch nicht zu einer Revision des Bildes. Stattdessen wird von Zeliha eine Anpassung an das Bild eingefordert. Sie soll das Kopftuch ablegen, um die Widersprüchlichkeit des Bildes einzuebnen. Doch die schulischen Reaktionen beinhalten nicht nur ein Unverständnis und eine Entindividualisierung Zelihas als ‚Kopftuchträgerin‘. Ebenso erfährt Zeliha wiederholt eine massive Diskriminierung und Ausgrenzung durch verschiedene Lehrer(innen). „Es wurde manchmal auch gemobbt, zum Beispiel, wenn ich gefragt hab, ich hab das nicht richtig verstanden, können Sie das nochmal bitte wiederholen? Ja, zieh dein Kopftuch aus, dann hörst du besser oder so.“
Da Zeliha befürchtet, aufgrund ihres Kopftuches keine Lehrstelle zu finden, entscheidet sie sich, nach der zehnten Klasse das Abitur anzuschließen, um „das Problem erstmal etwas hinaus zu schieben“. Gemeinsam mit einigen Freundin-
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nen meldet sie sich auf einem Gymnasium an. Aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen entscheidet sie sich dabei bewusst für eine Schule mit einer heterogeneren Schülerschaft. Sie zieht damit die Konsequenz aus der erfahrenen Ausgrenzung der vorangegangenen Schuljahre. „Wir wollten jetzt nicht wieder auf eine Schule, wo halt überwiegend nur Deutsche waren oder so. Irgendwie, wir wollten wirklich mal jetzt unter Freunden mal sein, damit wir irgendwie so akzeptiert wurden. So dieses Bedürfnis hatten wir wirklich auch gehabt.“
Den Übergang auf diese weiterführende Schule erlebt Zeliha als große Entlastung, da sie sich nun in einer weniger vereinzelten Position befindet und ihr Wunsch nach Akzeptanz erfüllt wird. Mit den veränderten Mehrheitsverhältnissen verschieben sich auch Normalitätserwartungen. Der Heterogenität der Schüler(innen) wird nun mit einer größeren Selbstverständlichkeit begegnet, auch seitens des Lehrkörpers, der den individuellen Lernstand der Schüler(innen) berücksichtigt und hier fördernd ansetzt. Hinzu kommt die Erfahrung eines deutlich demokratischeren Stils auf der neuen Schule. Zelihas schulisches Selbstbewusstsein steigt, sie beteiligt sich am Unterricht, bringt eigene Meinungen ein, wo sie zuvor ihre eigene Position eher zurückgehalten hat. Zeliha fasst die geänderte Situation zusammen und rekurriert dabei erneut auf ihr Kopftuch, das in diesem neuen Kontext seine ‚Bedeutung‘ verliert: sie kann es ‚vergessen‘. „Und da hab ich mich gar nicht mehr ausgegrenzt gefühlt oder so, also ich hab gar nicht mehr gemerkt, dass ich Kopftuch trage, also in dem Sinne in der Schule. Und da konnte man so richtig rebellieren, wir möchten das durchsetzen oder das machen irgendwie, da ham wir auch wirklich son Selbstbewusstsein entwickelt, was in der Schule, auf der Realschule nicht der Fall war.“
Zeliha macht das Abitur und immatrikuliert sich für das Lehramt der Sekundarstufe I, mit der Fächerkombination Geschichte und Biologie. Zum Zeitpunkt des Interviews absolviert sie gerade ihre Prüfungen.
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Zusammensetzung der Schülerschaft
In der Bildungsdiskussion wird die Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule bzw. einer Klasse vorrangig hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Leistungs- und Bildungsniveau der Schüler(innen) thematisiert (z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2003; Kristen 2002).
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Die Bildungsbiographie von Zeliha verdeutlicht demgegenüber einen anderen Aspekt: die Auswirkung, welche die Zusammensetzung der Schülerschaft auf das Lernklima und den Schulalltag allochthoner Schüler(innen) haben kann. Die Heterogenität der Schüler(innen), die immer in einem Wechselverhältnis mit dem Selbstverständnis und dem Profil der jeweiligen Schule steht, prägt den Anpassungs- und Selektionsdruck, der auf die Schüler(innen) ausgeübt wird. Zeliha ist diesem Druck in der Realschule massiv ausgesetzt, so dass sie sich nicht als selbstverständliches Mitglied dieser Institution fühlt. Sie beschreibt sich als ‚geduldet‘, ein Status, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er jederzeit zurückgenommen werden kann. Ihre Position als ‚Abweichende‘ verschärft sich mit ihrer Entscheidung für das Kopftuch. Sie wird von der Migrantin zur ‚nichtintegrierten Migrantin‘ – und wird ein weiteres Mal zur ‚Abweichlerin‘, indem sie als Kopftuchträgerin nicht den gängigen Stereotypen entspricht. Diese Konfliktlage, die ihren schulischen Alltag prägt, löst Zeliha mit der Entscheidung für ein Gymnasium, das sich durch eine hohe Heterogenität der Schülerschaft auszeichnet und diese als Selbstverständlichkeit annimmt. In diesem Kontext verliert auch Zelihas Kopftuch seine Besonderheit und zugeschriebene Bedeutung. Dieser Aspekt, die Zusammensetzung der Schülerschaft, wird auch in anderen Gesprächen von den Interviewpartner(inne)n thematisiert und zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen vor allem bildungserfolgreicher Jugendlicher. Seine Auswirkung und Bedeutung soll daher an zwei weiteren Beispielen verdeutlicht werden: Tariks K. ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 24 Jahre alt. Nach seiner Grundschulzeit besucht er ein Gymnasium in einem angrenzenden Quartier und ist hier der einzige Schüler mit Migrationshintergrund. Dies bedeutet einen deutlichen Bruch zu seinen vorangegangenen Erfahrungen und in einem Ineinandergreifen sozialer und rassistischer Hierarchien erlebt er sich in den folgenden Jahren als ‚abweichend‘ und nicht zugehörig. Er ist einem kontinuierlichen Prozess des „otherings“ (Sökefeld 2004) ausgesetzt – „ich bin was Fremdes“ fasst er im Interview seine Situation in der Schule zusammen. Seine Mitschüler(innen) sind nicht nur ausnahmslos autochthoner Herkunft, sie entstammen zudem einem bürgerlichen Mittelstandsmilieu, das sich von seinem Herkunftskontext unterscheidet. Seine bisherigen Erfahrungen werden in diesem schulischen Kontext entwertet. Im Gegensatz zu Zeliha, die diese Ausgrenzung direkt durch die Schule und die Lehrer(innen) erfährt, erlebt Tarik die Abwertung vor allem im Kontakt mit seinen Mitschüler(inne)n6. Hier ist er nicht nur der ‚Türke‘ sondern zugleich auch der ‚Proll‘ – die Kategorien ‚race‘ und ‚class‘ überschneiden sich in einem wechselseitigen Prozess der Verstärkung. 6
Zur ausführlicheren Darstellung der Bildungsbiographie von Tarik vergleiche Bukow/Schulze 2006.
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Ebenso wie Zeliha erfährt Tarik in der Oberstufe eine Veränderung, deren Bedeutung er im Interview hervorhebt. Durch Quereinsteiger von Haupt- und Realschulen verändert sich die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft, und er ist nicht mehr der einzige allochthone Schüler in der Klasse. Diese Zeit hebt Tarik als die schönste Zeit seiner Schullaufbahn hervor. „Ab der Elften sind, kommen ja auch wieder Leute dazu jetzt aus der Realschule oder aus der Hauptschule, die hier ihr Abi machen wollen. Und dementsprechend waren die Klassen dann bunter gemischt. Die letzten zwei Jahre in der Schule waren also die schönsten Jahre so gesehen für mich.“
Auch Vedat Y. bezieht sich in der Rekonstruktion seiner Schullaufbahn explizit auf den Stellenwert der Heterogenität. Nach Abschluss der Grundschule wechselt Vedat auf eine Gesamtschule, die wie die meisten Gesamtschulen in Köln einen hohen Anteil allochthoner Schüler(innen) aufweist. In deutlichem Gegensatz zu den Erfahrungen von Zeliha und Tarik blickt Vedat jedoch auf eine positive Schulzeit zurück. Seine Schilderungen zeichnen sich durch eine deutliche Selbstverständlichkeit aus. „Und ich bin immer sehr gerne zur Schule gegangen und auch nie geschwänzt, außer okay ein paar Mal. Aber das ist letztendlich nur ein Zeichen davon, weil ich gerne da war. (...) Ja Spaß hat natürlich gemacht immer wieder die Klassenfahrten, die Ausflüge und alles, was man so gemeinschaftlich organisiert hat.“
Dass er die Schule gerne besucht und vor allem auch die kollektiven Aktivitäten in guter Erinnerung hat, begründet Vedat im Interview nicht nur mit dem liberalen Klima in der Schule, sondern er hebt gerade auch die heterogene Schülerschaft als Ursache hervor. So erinnert er seinen ersten Schultag an der Gesamtschule in der Aula und kennzeichnet die Zusammensetzung der neuen Schüler(innen) als einen „sehr, sehr, sehr guten Mix eigentlich“.
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Ressourcen im Bildungsaufstieg
Angesichts eines Bildungssystems, welches Jugendlichen mit Migrationshintergrund den Bildungserfolg eher erschwert als ebnet, wie auch angesichts der konkreten Ausgrenzung, die Zeliha und Tarik erleben, stellt sich die Frage nach den Ressourcen für den Bildungserfolg. Sichtbar werden dabei in der Analyse vor allem familiäre Ressourcen: Zeliha, Tarik wie auch Vedat sprechen übereinstimmend von einer starken Bildungsmotivation ihrer Eltern, die ihre Schullaufbahn flankiert. Alle drei Ge-
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sprächspartner(innen) erhalten durch ihre Eltern einen klaren Bildungsauftrag, den sie annehmen. Das Bildungsinteresse der Eltern ist dabei auch an die eigenen Arbeitserfahrungen in der Migration geknüpft. In diesem Sinne erklärt sich auch Vedat die Bedeutung, die seine schulische Laufbahn für seinen Vater besitzt. „ (...) ich denk, für ihn wars wichtig, dass ich einen guten schulischen Werdegang habe aufgrund seiner Vergangenheit oder aufgrund seiner Erfahrungen, die er gemacht hat. Er ist halt als Arbeiter hierhin gekommen und war der Sprache nicht mächtig und wurd halt immer nur hin und her kommandiert und musste Scheissarbeit machen und das ist natürlich auch ein psychischer Druck dann irgendwie, der auf einem lastet über die ganzen 30,40 Jahre (...) und ist jetzt auch richtig glücklich, dass ich jetzt so gesehen, das auch erreicht habe, was er für mich wollte.“
Ein weiterer Begründungszusammenhang wird bei Zeliha sichtbar: Zeliha soll eine qualifizierende Ausbildung abschließen, die es ihr als Frau erlaubt ein Leben in finanzieller Unabhängigkeit von einem Ehemann zu führen. So erzählt Zeliha rückblickend von dem Wunsch ihres Vaters: „(...) weil der hat mir auch jedes Mal also gesagt, ich möchte nicht, dass du von irgendeinem Mann abhängig bist, ich möchte auch nicht, dass du dich als Putzkraft irgendwie durchs Leben schlägst, weil das hab ich dir nicht vorgesehen.“
Diese Beispiele stehen stellvertretend für einen elterlichen Wunsch, der uns in den Gesprächen mit den Jugendlichen und Heranwachsenden häufig begegnete und sich nicht nur auf bildungserfolgreiche Jugendliche beschränkt7. Neben einer „abstrakten Unterstützungsleistung“ (Hummrich 2002: 17), die sich in einer Befürwortung des Bildungsaufstiegs und einer emotionalen Stärkung artikulieren (vgl. Boos-Nünning/Karakaúo÷lu 2004: 252), differiert die daraus folgende Unterstützung in hohem Maße. In Abhängigkeit von den ökonomischen und sozialen Ressourcen, vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen Kapitals (im Sinne Bourdieus) sowie der familiären Situation erfahren die Jugendlichen in ihrer Schullaufbahn zum Teil eine hohe Unterstützung, andere sind auf eigenständige Akte der „Selbstplatzierung“ verwiesen (vgl. Leenen/Grosch/Kreidt 1990: 762), die ihnen bereits in frühen Jahren ein hohes Maß an Eigenständigkeit abverlangt.
7
Ingrid Gogolin, Ursula Neumann und Hans-Joachim Roth verweisen auf zahlreiche Studien, die seit vielen Jahren zeigen, das Einwanderer- „wie einheimische Familien auch bestrebt sind, ihr ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zu vermehren, um einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Hohe Bildungsziele und der Wunsch nach einer möglichst guten Ausbildung für die Kinder waren nicht selten bereits wichtige Gründe für die Migration selber.“ (Gogolin, Neumann, Roth 2003: 56)
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Mit den hier exemplarisch ausgewählten Biographien möchte ich Formen der Unterstützung veranschaulichen, die vor allem durch die Aktivierung familiärer Ressourcen und Unterstützungssysteme der ethnischen Community geprägt sind8. Damit möchte ich zugleich Unterstützungsleistungen sichtbar machen, die einen wichtigen Faktor in dem erfolgreichen Verlauf dieser Bildungsbiographien einnehmen, die jedoch in der Diskussion, wie sie am Beispiel des medialen Diskurses sichtbar gemacht wurde, zumeist übersehen werden. Ebenso wie Vedats und Zelihas Eltern zeichnet sich auch Tariks Vater durch hohe Bildungserwartungen an seinen Sohn aus. Tarik schildert ihn als sehr streng und rigoros, was seine schulischen Leistungen betrifft. Sein Vater begleitet Tariks Schullaufbahn insbesondere in den ersten Jahren mit großem Interesse, kontrolliert seine Hausaufgaben und sein Leistungsniveau. Regelmäßig besucht er die Elternsprechtage und nimmt insbesondere in den ersten Jahren zumeist Bekannte aus dem Wohnhaus mit, die als Dolmetscher die Verständigung mit den Lehrer(inne)n erleichtern. „Und so am Anfang halt wie gesagt: Und hast du Hausaufgaben bekommen und hast du die gemacht? und so. Und bei Elternsprechtagen und so ist er sofort dabei gewesen. Hat er sich irgendeinen geschnappt so, der Deutsch konnte, zumeist wieder einen aus dem Hause ((lacht)), so einen älteren.“
Hier wird sichtbar, wie Tariks Vater private Netzwerke aktiviert, um den erhofften Bildungsaufstieg seines Sohnes zu unterstützen. Diese Unterstützung des Bildungsweges durch soziale Netzwerke weitet sich mit Tariks Übergang auf die weiterführende Schule aus. Bewusst wählt die Familie ein Gymnasium für Tarik aus, das bereits von Erkan, einem entfernten Verwandten, besucht wird. Er ist einige Jahre älter als Tarik und die Familie bietet ihre Hilfe an – eine schulische Unterstützung, die Tariks Eltern aufgrund ihres eigenen Bildungshintergrundes und ihrer deutschen Sprachkompetenz nicht leisten können. „ (...) das war aufgrund dessen, da ich, da wir einen Verwandten hatten, der auf der Schule war. Und so gesagt, er wollte also, sein Vater hat meinen Vater halt angerufen, dass er mir hilft. Und so bin ich halt dazu gekommen, dahin zu gehen auf die Schule.“
Diese versprochene Hilfestellung realisiert sich in der folgenden Zeit auf höchst handfeste Weise. Tarik verbringt über zwei Jahre hinweg regelmäßig die Wo8
Die Unterstützungsnetze überschreiten dabei den engen Rahmen der Kernfamilie, wie sie von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaúo÷lu (2004: 250ff.) ausgeführt werden. Während die beiden Autorinnen in ihrer Studie über die Lebenslagen von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund Eltern und Geschwister als helfende Instanzen im Bildungsprozess hervorheben, zeigt sich in den folgenden Beispielen ein deutlich erweitertes Familiennetz, das wichtige Unterstützungsleistungen übernimmt.
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chenenden bei seinen Verwandten. Dort erhält er nicht nur Unterstützung im konkreten Lernstoff, sondern auch in der Verbesserung seiner deutschen Sprachkompetenz. Doch für Tarik ist Erkan nicht nur in fachlicher und sprachlicher Hinsicht von großer Bedeutung. Vor allem nimmt er eine Vorbild- und emotionale Unterstützungsfunktion ein. Tarik, der seine Schulzeit mit den Worten zusammenfasst, dass er ungern zur Schule gegangen sei, aber trotzdem nicht versagt habe, findet bei Erkan eine emotionale Stärkung, die ihm hilft durchzuhalten und weiterzumachen. „Also der hat zum Beispiel der Erkan hat mir immer eingeredet, bring deine Leistung, gib dein Bestes und irgendwann mal werden sie so und so merken, du bist im Endeffekt genauso wie die. So ist es auch normal. Und irgendwann merkt man halt im Alltag kommt das, ist ja nix anderes als du in anderer Form.“
Die Bedeutung familiärer Unterstützungsnetze zeigt sich in den Erzählungen von Zeliha, die von einer 15 Jahre älteren Cousine berichtet, zu der sie ein enges Verhältnis hat. Diese Cousine, die inzwischen als Fremdsprachenkorrespondentin arbeitet, begleitet über Jahre hinweg Zelihas Schullaufbahn. Sie ist bei Zelihas Einschulung dabei, begleitet als Übersetzerin ihre Eltern regelmäßig zu den Elternsprechtagen und unterstützt bei zahlreichen Formalitäten. „Ja meine Eltern, die Cousine, also mit der hatten wir ja immer zu tun gehabt und irgendwie die hat mich ja auch immer so begleitet irgendwie, sei es was eingekauft werden musste für die Schule oder so und sie kam auch zu den Elternsprechtagen dann auch mit.“
Als Zeliha aufgrund ihrer schulischen Leistungen das erste Schuljahr wiederholen soll, findet die Familie die entscheidende Unterstützung von verwandtschaftlicher Seite: Die Familien vereinbaren, dass Zeliha für ein halbes Jahr zu ihrer Cousine und deren Familie zieht, eine Vereinbarung, die zugleich das Problem löst, dass ihre Eltern aus familiären Gründen für einige Zeit in die Türkei fahren müssen. Da ihr neuer Wohnort zu weit von ihrer alten Schule entfernt ist, wechselt Zeliha für ein halbes Jahr die Grundschule. Nach dieser Zeit kann sie nahtlos in die zweite Klasse ihrer alten Schule zurückkehren. In einer abschließenden Evaluation verweist Zeliha auf die wichtige Rolle ihrer Cousine für die erfolgreiche Bewältigung ihres Bildungsweges: „Ich verdanke ihr ziemlich viel, dass ich irgendwie jetzt durchgekommen bin. Also immer wenn ich Schwierigkeiten hatte oder danach irgendwie, eh kam sie, stand sie mir dann auch zur Seite. Ich weiß nicht, sie ist auch sprachlich ziemlich begabt gewesen, so dass sie mir auch immer helfen konnte oder Hilfestellung geben konnte, war schon ganz gut gewesen.“
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Diese Beispiele zeigen, wie Bildungsprozesse bzw. der Bildungsaufstieg von privaten und verwandtschaftlichen Netzwerken flankiert und unterstützt werden. Tarik wie auch Zeliha erleben in ihrer Bildungslaufbahn die Hilfe durch eine Person aus der Verwandtschaft, die ihnen im Bildungssystem ‚einen Schritt voraus‘ ist und die erworbenen Kompetenzen an sie weitergibt. Beide heben dabei übereinstimmend die hohe Bedeutung dieser Personen für das erfolgreiche Absolvieren der Bildungslaufbahn hervor. Die Cousine von Zeliha, wie auch der Verwandte Tariks sind dabei Mittler(in), Nachhilfelehrer(in) wie auch Vorbild in einer Person. Dahinter steht verstärkend ein weiteres Familiennetz, das sie für einige Zeit aufnimmt – Tarik regelmäßig über einen Zeitraum von zwei Jahren am Wochenende, Zeliha zieht für ein halbes Jahr zu ihren Verwandten. Während damit Tariks und Zelihas Eltern auf die Unterstützung eines privaten und verwandtschaftlichen Netzwerkes zurückgreifen, um die Bildungslaufbahn ihrer Kinder zu flankieren, greifen Vedats Eltern vor allem auf bezahlte Unterstützungen zurück. Auch sie gehen gemeinsam mit einem Dolmetscher zu den Elternsprechtagen und der Vater bietet Vedat wiederholt private Nachhilfe an, sollte er Hilfe benötigen.
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Folgerungen
Vor allem der öffentliche Diskurs über migrantische Jugendliche und ihre Bildungswege ist durch stereotype Vorstellungen und eine defizitorientierte Perspektive gekennzeichnet, welche die Verantwortung vorrangig den Einwanderinnen und Einwanderern zuweist. Verwiesen wird auf mangelnde Bildungsaspirationen, unzureichenden ‚Integrationswillen‘, den Rückzug in ‚Parallelgesellschaften‘ sowie fundamentale ‚kulturelle Differenzen‘. Anhand biographischer Beispiele wurde beleuchtet, welche konkreten Folgen und Barrieren für die Jugendlichen in ihrem Schulalltag daraus erwachsen. Dabei lag der Fokus auf dem Lern- und Schulklima, dem Anpassungs- und Selektionsdruck und den impliziten und expliziten Normalitätserwartungen innerhalb der Institution Schule, die sich entlang der Kategorien ‚race‘ und ‚class‘ entfalten. Darüber hinaus wurde ein ressourcenorientierter Blick auf die Bildungswege von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund gerichtet und die unterstützende Funktion verwandtschaftlicher Netzwerke, aber auch der ethnischen Community für den Bildungsaufstieg im Einwanderungsland aufgezeigt. Häufig als ‚Integrationshemmnis‘ wahrgenommen, bilden diese Netzwerke einen wichtigen Faktor im individuellen Bildungsweg – in einer Bandbreite von Übersetzungsleistungen in der Kommunikation mit der Schule bis hin zur zeitweiligen Aufnahme in die Familie. Hervorzuheben ist dabei die Funktion einzelner Perso-
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nen, die als Mittler(innen) und Vorbilder von hoher Bedeutung sind. Zugleich verweisen die hohen familiären Leistungen bei bildungserfolgreichen Jugendlichen auf die Konstitutionsbedingungen und damit auch strukturellen Mängel im bundesrepublikanischen Bildungssystem zurück. Der Familie wird ein hohes Maß an vorbereitenden, begleitenden und unterstützenden Leistungen zugewiesen, die von der Vermittlung von Basiskompetenzen und der vorausschauenden Planung der Bildungslaufbahn bis zu der Sicherung von entsprechenden Lern- und Arbeitsbedingungen wie auch der konkreten Unterstützung im schulischen Lernprozess – wie Hausaufgabenbegleitung oder ergänzende Nachhilfe – reichen. (vgl. Leenen/Grosch/Kreidt 1990: 753). Die Eltern sind damit vor Aufgaben gestellt, die je nach dem vorhandenen kulturellen oder ökonomischen Kapital nur schwer einzulösen sind. So sind sie beispielsweise mit einem Schulsystem konfrontiert, dessen sprachlichen Anforderungen nicht nur dem ungebrochenen Primat der deutschen Sprache entsprechen, sondern das zudem noch eine Sprache ‚pflegt‘, die am ehesten den Kindern bildungsnaher Elternhäuser entspricht (vgl. Gogolin 2003: 22f.). Nicht zuletzt diesen Bedingungen verdankt sich die hohe Korrelation zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg, die in der BRD besonders ausgeprägt ist (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Das bundesrepublikanische Bildungssystem versagt in besonderer Weise, wenn es darum geht herkunftsbedingte Unterschiede unter den Schüler(inne)n auszugleichen und damit eine Chancengleichheit zu verwirklichen. Die Selektionsmechanismen, die ihm eingeschrieben sind, treffen nicht nur, jedoch in ganz besonderer Weise die Schüler(innen) aus Einwandererfamilien und finden ihre Ergänzung in strukturellen Diskriminierungsprozessen. Dabei wäre es angesichts der Einwanderungsrealität der BRD vielmehr als Daueraufgabe der Bildungsinstitutionen anzusehen, „auf die besonderen Bildungsvoraussetzungen und -bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu reagieren“ (Gogolin/Neumann/Roth 2003: 29), sich darauf einzustellen und Konsequenzen zu ziehen. Die Aktivierung privater Ressourcen, wie sie in ihren unterschiedlichen Formen in den biographischen Beispielen sichtbar wurde, zeigt, welch hohen Einsatz die Familien leisten (müssen), um ihren Kindern den Bildungsaufstieg zu ermöglichen.
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Chancen und Barrieren eines beruflichen Arrangements
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Chancen und Barrieren eines beruflichen Arrangements
Andreas Deimann/Markus Ottersbach 1
Einleitung
Zugewanderte und ihre nachfolgenden Generationsangehörigen arbeiten inzwischen in allen Wirtschaftssektoren und in allen Berufsgruppen vom ungelernten Arbeiter bis hin zum Akademiker. Allerdings bestehen hinsichtlich der Verteilung auf die Branchen und Berufsgruppen zwischen einheimischen Deutschen und Zuwanderinnen und Zuwanderern, auch zwischen verschiedenen Zuwanderergruppen, erhebliche Unterschiede. Bemerkenswerten Fortschritten in Richtung einer Angleichung an die Verhältnisse der einheimischen Erwerbsbevölkerung steht eine sich verfestigende „Unterschichtung“ des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes durch Migrant(inn)en gegenüber. Die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit, aber auch die Positionierung in Berufen mit wenig Reputation und Einkommen ist für den Einzelnen je individuell problematisch. Arbeitslosigkeit und die Ausübung niedrig qualifizierter Berufe stellen auch Probleme für die Gruppe der Zugewanderten dar, die kollektiv an das untere Arbeitsmarktsegment und die stark von Rationalisierung und Umstrukturierung betroffenen Arbeitsfelder gebunden bleibt und dadurch stark von Segregation und Stigmatisierungsprozessen betroffen ist. Schließlich handelt es sich um ein Problem der Gesellschaft, die Einkommen im Wesentlichen über Erwerbsarbeit verteilt und beruflichen Erfolg zur Voraussetzung einer eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebensführung macht. Ein dauerhafter Ausschluss vom Arbeitsmarkt bzw. ein dauerhafter Einschluss in wenig aussichtsreiche Positionen hat unweigerlich nachziehende soziale Marginalisierungseffekte zur Folge. Die neuen Dienstleistungsberufe der Informations- und Kommunikationstechnologie stehen, spätestens seit der im Jahr 2000 von der Bundesregierung eingeführten „Greencard“, global mobilen Spezialisten offen. Das Engagement des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) für ein liberales Zuwanderungsgesetz hatte demonstriert, dass die Branche zumindest in der Selbstwahrnehmung ethnisch blind ist, also Zugewanderten genauso wie Einheimischen offen steht. Allerdings muss
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man die mit dem Oberbegriff „Migrant(inn)en“ bezeichnete soziale Gruppe differenzieren: Auf der einen Seite befinden sich die im internationalen „Wettbewerb um die besten Köpfe“ umworbenen Spitzenkräfte mit im Ausland erworbenen Qualifikationen, die als Neuzuwanderer nach Deutschland kommen, und auf der anderen Seite stehen die bereits dauerhaft in Deutschland lebenden Nachkommen der von 1955 bis 1973 für gering qualifizierte Tätigkeiten angeworbenen Arbeitsmigrant(inn)en, aber auch die deutschen Spätaussiedler(innen). Sie haben bis heute große Schwierigkeiten im Einwanderungsland hohe Qualifikationen zu erwerben und ihre berufliche Leistungsfähigkeit voll zu entfalten. In 15 Teilprojekten der Entwicklungspartnerschaft (EP) openIT, die im Rahmen des europäischen Programms EQUAL 2002 bis 2005 gefördert wurde, wurden Ausbildungen, Weiterbildungen und Unterstützungsmaßnahmen im Bereich der IT-Berufe für Eingewanderte in NRW durchgeführt. Das Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ) NRW in Solingen hat mit einem Forschungsprojekt einerseits zur Analyse der Unterrepräsentation von Migrant(inn)en in hoch qualifizierten Berufen und durch die Formulierung von Handlungsempfehlungen zur Öffnung von IT-Kernberufen für Migrant(inn)en beigetragen. Im Rahmen des Forschungsprojekts haben die Autoren die Karriereverläufe sowohl hoch qualifizierter Bildungsausländer(innen) als auch von hoch qualifizierten Bildungsinländer(inne)n mit Migrationshintergrund2 näher untersucht und in Bezug auf Unsicherheitserfahrungen (im Sinne von Risiken oder Barrieren) und auf Sicherheitskonstruktionen (im Sinne von Chancen) analysiert. Dabei konnten die Eckpunkte der jeweiligen Karriereverläufe herauskristallisiert werden, Eckpunkte, die einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf ihrer Karriere hatten. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in die Ergebnisse, deren vollständige Dokumentation im Internet zu finden ist (www.equal-openit.de).
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Unsicherheitserfahrungen und Sicherheitskonstruktionen: Die Eckpunkte beruflicher Karrieren
Die Vermutung, dass schichtspezifische Selektionsmechanismen, indirekte institutionelle Diskriminierung und die fehlende Anerkennung interkultureller Kompetenzen ein einseitiges Bildungsverhalten der Migrant(inn)en bewirken und diese daher sich in ihrer Berufswahl überwiegend an sog. „einfachen“ Berufen orientieren, entspricht einem deduktiven Automatismus, der empirisch nur bedingt haltbar ist. Denn trotz dieser strukturellen, institutionellen und kommunika1
Differenziert wird zwischen Bildungsausländer(inne)n, die in ihrem Herkunftsland die Hochschulzugangsberechtigung erworben, und der Gruppe der Bildungsinländer(innen), die diese in der Bundesrepublik erhalten haben.
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tiven Benachteiligungs- bzw. Diskriminierungsformen gelingt es Migrant(inn)en immer wieder, die Leiter des Erfolgs empor zu klettern. Quantitative Erhebungen reichen deshalb nicht aus, um die für das Verstehen der Unterrepräsentation erforderlichen Aspekte des Migrationskontextes, der Migrationsbiographie und der konkreten Bildungsentscheidungen der Migrant(inn)en jeweils zu ermitteln bzw. zu rekonstruieren. Dies kann nur mit qualitativen Methoden geschehen. Qualitative Methoden haben den Vorteil, dass soziale Prozesse wie der Berufswahlprozess detailliert rekonstruiert werden können, zweifellos nicht ohne ein gewisses Potenzial an Konstruktion. Biographien werden in der Tat rekonstruiert, d.h. es entsteht eine subjektive, gefärbte, von bestimmten äußeren Umständen abhängige „Erfindung der eigenen Biographie“. Abgesehen davon, dass auch mit quantitativen Methoden die Ziele der Authentizität und der Repräsentation nicht automatisch erreicht werden können, bieten qualitative Methoden den Vorteil, dass die Betroffenen, über die in der Regel immer nur berichtet und gesprochen wird oder auch Geschichten konstruiert werden, an dieser Stelle selbst zu Wort kommen können. Der biographischen Methode kommt damit noch eine ganz besondere Bedeutung zu: Ganz im Sinne der modernen Ethnographie geht es darum, „den Anderen“ die Möglichkeit zu geben, „(...) ihre Diskurse im eigenen zum Sprechen zu bringen“ (Fuchs/Berg 1993: 93). Die Wissenschaft hat dementsprechend vor allem die Aufgabe, Räume zu öffnen, in denen sich „die Anderen“ selbst zur Geltung bringen können, um der Gefahr vorzubeugen, „(...) nicht mehr nur über und vor allem nicht mehr für die Anderen sprechen zu wollen (...)“ (Fuchs/Berg 1993: 72). Einer durch die gängigen klassischen und modernen Theorien der sozialen Ungleichheit immer wieder erneuerten Inszenierung der Repräsentation „der Anderen“ könnte damit eine angemessene Perspektive entgegengesetzt werden. Bei der anschließenden Evaluation des „biographischen Materials“ geht es darum, bei den Interviewpartner(inn)en sowohl die traditionalen als auch die innovativen sozialen Bestandteile der individuellen Bewältigungsformen sozialer Ereignisse (vgl. Apitzsch 1996: 145f.) herauszukristallisieren. Wir wählen eine dialektische Vorgehensweise, eine – im Sinne von Fritz Schütze – phänomenologisch orientierte Rekonstruktion sozialer Prozesse, die auf die Erkenntnis teils offener, teils latenter Potenziale der Reflexion und der Transformation der eigenen Situation der Interviewpartner(inn)en gerichtet ist. Biographieentwicklungen oder Karrieren werden heute maßgeblich durch den Umgang mit Risiken geprägt. Diese können sowohl äußerlicher als auch innerlicher Art sein. Tritt ein Risiko von außen auf, so ist es nur so lange als objektiv zu bewerten bis der, zwar strukturell geprägte, jedoch individuell entschiedene und vollzogene Umgang mit dem Risiko beginnt. So wird der Umgang mit einer Unsicherheitserfahrung wie z.B. der Nicht-Anerkennung eines im Her-
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kunftsland erworbenen Zertifikats durch das Aufnahmeland von verschiedenen Personen auf sehr verschiedene Art und Weise angegangen. Die eine Person wirft z.B. das Handtuch und kehrt wieder in ihr Herkunftsland zurück, eine andere Person mag diese Unsicherheitserfahrung als Herausforderung interpretieren und versucht, den Abschluss im Aufnahmeland nachzuholen oder ggf. auch für dessen nachträgliche Anerkennung zu erkämpfen. In beiden Fällen geht es jedoch darum, auf irgendeine Art und Weise wieder biographische Sicherheit zu erlangen. Dafür bedient man sich so genannter Sicherheitskonstruktionen, mit denen wir deutend bzw. Sinn gebend die Unsicherheitserfahrung zu bearbeiten versuchen. Die Wahl der Sinngebung bzw. des Deutungsmusters beeinflusst maßgeblich den Umgang mit dem Risiko und somit auch die Auswahl des Handwerkzeugs, mit dem wir versuchen, das Risiko abzustellen, es zu umgehen oder zu kompensieren. Im Folgenden gehen wir zunächst auf die Arten der Unsicherheitserfahrungen ein, anschließend auf die Wahl der jeweiligen Sicherheitskonstruktionen.
2.1 Unsicherheitserfahrungen 2.1.1 Allgemeine Unsicherheitserfahrungen Fast alle Interviewpartner(innen) waren bei der Planung ihrer Karriere mit Unsicherheitserfahrungen allgemeiner Art konfrontiert. Einige nannten z.B. das Problem der Wohnungssuche am Ausbildungsort. Herr B., der aus Marokko stammt und dort als Diplom-Biologe erfolgreich ein Studium absolviert hat, klagt über die Probleme, die man hat, als Familie mit Kindern in einer Stadt wie Dortmund eine angemessene preisgünstige Wohnung zu finden: „Zurzeit bei mir gibt es ein Problem, ich kann z.B. keine Wohnung finden. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber mit Familie ist schwierig. Z.B. früher als ich die Maßnahme angefangen habe, habe ich gleichzeitig eine Wohnung gesucht, bis jetzt sieben, acht Monate habe ich immer noch keine Wohnung gefunden.“
Insbesondere diejenigen unter den Zuwanderinnen und Zuwanderern, die erst seit kurzer Zeit in Deutschland weilen, klagen über Unsicherheitserfahrungen allgemeiner Art. Sie variieren sehr stark. Herr P, Spätaussiedler und jahrelang als Bauingenieur in Weißrussland tätig, kam wegen des Tschernobyl-Unglücks in die Bundesrepublik. Er zählt eine ganze Reihe an Erfahrungen auf. So ist z.B. das Alter für Herrn P. ein Problem:
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„Mit 39 Grenze kommt, ich hab das Gefühl 40 ist die Grenze und ich habe auch in vielen Anzeigen gelesen, bis 40, bis 40 (…) im IT-Bereich auch, ich hab zu Hause sehr viele Anzeigen, da steht, Alter bis 40, ich verstehe, das ist ein kritisches Alter.“
Spezifische Hemmnisse, einen Job zu finden, sieht er nicht. Er argumentiert: „Jetzt für diese Jahre 2003 und 2004 habe ich so viele Bewerbungen geschickt, habe ich aber keine Einladung zum Gespräch bekommen und das bedeutet, dass die Leute können nicht meine Fähigkeiten, meine Kenntnisse einschätzen, das liegt irgendwo in anderem Bereich, ich weiß es nicht, und das hängt nicht davon ab, wie gut ich als Programmierer oder wie gut ich als Mensch oder wie Spezialist bin, das liegt in anderem Bereich. Ich denke, es stört, das ich keine Erfahrung in diesem Bereich habe, in Deutschland auch, das ist das wichtigste denke ich.“
Auch das Fehlen von Beziehungen zu einflussreichen Personen beklagt er: „Ja zum Beispiel, hätte ich eine Bekannte in einer Firma, und braucht diese Firma einen Spezialist, vielleicht könnte sie mich empfehlen, aber das ist vielleicht.“
Auch die fehlenden Sprachkenntnisse sind für ihn ein Hemmnis. Jedoch interpretiert er andere Gründe als bedeutsamer für die Entwicklung seiner Lage: „Doch, Sprache auch, aber meine Sprache konnte niemand einschätzen, weil ich komme nicht zum Bewerbungsgespräch. Sprache zum Beispiel würde es zu einem Gespräch kommen und mir würde jemand sagen, dass ihm meine Sprache nicht genug ist, das ist seine Sache. Nein, das ist Problem ist, dass meine Sprache niemand hört. Und Sprache kommt erstmal an anderer Stelle, zuerst kommt etwas anderes, und Sprache ich weiß auch, das meine Sprache nicht reicht, zum Beispiel mit Kunden frei sprechen mit Kunden über irgendwas, das ist gut und das ist nicht gut, vielleicht aber vielleicht reicht auch, aber das ist eine andere Sache.“
An dieser Stelle wird klar, dass fundamentale Hemmnisse vorliegen, die es dem Bewerber nicht gestatten, sich selbst als kompetente Person zu präsentieren. Es sind offenbar – etwas metaphorisch ausgedrückt – ganz andere Türen, die hier bereits verschlossen sind.
2.1.2 Branchenspezifische Unsicherheitserfahrungen Sämtliche Interviewpartner(innen) klagten auch über so genannte branchenspezifische Unsicherheitserfahrungen. Während man lange Zeit von einem boom des IT-Sektors sprechen konnte, stagniert die Branche spätestens seit Einbruch des
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„Neuen Marktes“. Seit 2003 sind die Umsätze in der Branche mäßig und die Angestelltenzahlen rückläufig. Die Ausbildung der Interviewpartner(innen) fällt somit in eine Zeit, in der Neuanstellungen utopisch sind. Diese Situation prägt zweifellos entscheidend die Stimmung sowohl der Auszubildenden als auch die Wahrnehmung der Branche von außen. Herr B., Asylbewerber aus dem Kosovo und in Folge seines dort schon vor Ausbruch des Krieges erworbenen Abschlusses als Diplom-Betriebswirt als ein klassischer hoch qualifizierter Bildungsausländer zu bezeichnen, beklagt deshalb vor allem die ungewisse Zukunft des IT-Bereichs in der Bundesrepublik. Auch die fehlenden Sprach- und Computerkenntnisse sind für ihn ein Problem. Er resümiert: „Von meiner Meinung bei mir fehlt nur die Sprache, sonst habe ich diese Kraft, dass ich schaffe. Aber wenn die Frage ist, ob ich hier in Zukunft eine Stelle finde, dass ist schwer zu sagen. Wie ich sehe, wie die Politik läuft, das ist schwer.“
Fast alle Interviewpartner(innen) klagen über die im Laufe der Ausbildung aufgrund des Konjunktureinbruchs des IT-Bereichs zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit. Sie merken schnell, dass die Ausbildung zur Warteschleife wird. Insgesamt spüren einige der Interviewpartner(innen) eine deutliche Abwertung der Ausbildung, die sie zurzeit machen. In einem Fall bestätigt auch die Agentur für Arbeit die Unzulänglichkeit dieser Maßnahme: „Wissen Sie, ich bin noch jung, ich bin 24 Jahre alt und wenn man, wenn ich zum Arbeitsamt jetzt gehe wegen dieser Arbeitslosmeldung und der Beamte oder der Arbeitsvermittler, der Berufsvermittler sagt, dass Sie eine Beschäftigung gemacht oder was haben Sie gemacht? Ich habe ihm gesagt, ich habe ein Jahr im IT-Bereich, das war wie Ausbildung und Qualifizierung im IT-Bereich, der guckt zu, ach, das war gar nichts, das ist nur so, dass sie aus Ihrer Wohnung um 8 Uhr zur Arbeit gehen, das ist besser, als dass sie zu Hause bleiben und schlafen bis 12 Uhr. Ich habe gesagt, nein, ich bin nicht der Mensch, der das so macht (...).“
Eine häufig genannte branchenspezifische Unsicherheitserfahrung ist die „Kälte“ der Branche, die mit einer besonders hohen Konkurrenz einhergehe. Herr B., dessen Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien als Gastarbeiter eingewandert waren und der selbst in der BRD geboren wurde, beklagt den harten Konkurrenzkampf unter Kolleg(inn)en: „Auch in der Firma denke ich, dass es solche Leute gibt, die sagen, mir passt nicht sein Gesicht nicht, (...) mit dem möchte ich nicht arbeiten, den mache ich so fertig, dass ich ihm was nicht zeige oder falsch zeige, damit er hier rausfliegt. Vielleicht kommt dann der nächste und er passt mir ein bisschen besser. Es ist schon schwer. Also ist schwer. Gerade auch für die Ausländer (...).“
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Bei Schwierigkeiten spürt Herr B. auch, dass er von seinen Mitschüler(inne)n nur wenig Unterstützung erfährt. Und von den Leuten, die er schon vor der Ausbildung kannte, die inzwischen schon einen Beruf in der IT-Branche gefunden haben, kümmert sich keiner um ihn. Er begründet dieses Desinteresse mit der starken Konkurrenz und dass die Leute „halt so sind“. Er betont: „Sobald man etwas von denen will, dann sagen Sie ‚Abstand‘, es ist jeder fast so.“
Im Zuge der Konjunkturschwankungen bzw. des -einbruchs scheint die „Kälte“ der Branche noch intensiver geworden zu sein, so dass die Konkurrenz sich schon in den Ausbildungsgängen des IT-Bereichs bemerkbar macht.
2.1.3 Zuwandererspezifische Unsicherheitserfahrungen In ihrer Rolle als Personen mit Migrationshintergrund sehen sich viele Interviewpartner(innen) benachteiligt. Dazu gehört vor allem die unsichere Situation im Herkunftsland, wenn eine Rückkehroption noch vorhanden ist. Eine bedeutsame Unsicherheitserfahrung entsteht bei Herrn K., Jurist aus dem Irak, durch seine unklare Haltung zum Verbleib in Deutschland. Auf die Frage, ob er seine Perspektive denn im Aufnahmeland sähe, antwortet er: „Viele Menschen haben mich so gefragt, besonders nach dem Krieg. Vor dem Krieg unsere Beantwortung natürlich nein. Nach dem Krieg wie denken immer so, wann wir gehen zurück nach unsere Heimat, bis wann wir bleiben hier, wir gehen in unser Land, da ist besser wegen Sprache, Arbeit, Bekannte, Familie. Aber wenn man guckt die Nachrichten vom Irak, man kann nicht sagen.“
Ein zentrales Problem für Herrn K. ist aber auch, dass er Schwierigkeiten hat, seine Zeugnisse aus dem Irak zu erhalten. Dort war es eine übliche Praxis, die Zeugnisse nicht herauszugeben. Mit dieser Maßnahme sollten Fluchtversuche unterbunden werden. Inzwischen hofft er, dass er nach dem Machtwechsel die Zeugnisse ausgehändigt bekommt. Ein weiteres Problem wird jedoch sein, diese Zeugnisse hier anerkannt zu bekommen. Der schon erwähnte Asylbewerber aus dem Kosovo, Herr B., klagt auch über ethnische Diskriminierung seitens der Arbeitgeber. Als ein Problem sieht er die Bevorzugung der deutschen Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt, die auch für die IT-Branche zutrifft: „Das ist schwer, weil an erster Stelle kommen die Deutschen, dann später sie reden langsam, langsam von denen (…), sie sortieren.“
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Über ethnische Diskriminierungen allgemeiner Art berichtet Herr H., politischer Flüchtling aus dem Iran: „Und dann, was ich an Deutschland zu meckern habe (…). Also ich, ich bezahl ja auch Steuern hier, will am Wochenende feiern gehen, kommt man nirgendwo rein. (…) Ich bin ja sogar Deutscher, aber ich kann nicht in ne deutsche Diskothek rein, kann ich nicht. (…) Unmöglich. (…) Aber was soll ich dann da machen, dann tritt er mich. Die sind so, die lassen dich nicht. (…) Warum darf ich denn nicht hier rein? Weißte, was ist an mir anders, ich hab sogar Stoffhose angehabt und Lackschuhe. Alle Deutschen, die dahin gekommen sind, hatten keine an. Hatten Jeans an, Jeansjacke und Jeanshose angehabt und sind rein gekommen. Versteh ich nicht, was an mir anders ist. (…) Es ist verständlich auf eine Art und Weise für mich, dass ich denke, okay, es gibt Ausländer, die machen hier viel Scheiße. Aber es gibt auch genügend Deutsche, die machen Scheiße.“
Bei diesen Erzählungen gerät er richtig in Rage. Sie scheinen seinen Alltag wesentlich zu bestimmen. Er fährt fort: „Ja, (…) es ist in vielen Sachen so. (…) Im Alltag, ich bin hier, auch beim Bund hab ich das auch zu meinem Leutnant gesagt, der hat mich gefragt: ,Sind sie stolz ein Deutscher zu sein?‘ Da hab ich ihn gefragt: ,Warum soll ich stolz sein, das ich nicht akzeptiert werde?‘ Ich mache hier, ich hab hier Bundeswehr gemacht, ich hab besseren Abschluss gemacht als mancher Deutscher, ich spreche besser Deutsch als mancher Deutsche, die in die Sonderschule gehen, ich war noch nie arbeitslos wie Nazis, die sitzen auf der Straße und saufen sich einen, ich zahle Steuern, ich bemühe mich (…), aber akzeptiert? (…) Ich werd nicht als Deutscher akzeptiert. (…) Das Problem ist halt so, dass man erst mal diese Schublade hat. Man kann nicht aus dieser Schublade raus. Egal wo ich hin gehe. Die sehen ja nicht, ich kann ja nicht meinen deutschen Ausweis auf meine Stirn kleben. Dass ich Deutscher bin, dass ich beim Bund gewesen bin (…), das wissen die ja nicht. Die sehen als erstes den Ausländer, den Schwarzhaarigen, dann kommt vielleicht noch: ,Hm Moslem!‘ Jetzt ist es ja auch noch kritisch mit dem Muslim-Sein. Hm Muslim und dann hat man schon schlechtere Karten als andere.“
Als besonders interessant erscheint uns an dieser Stelle, dass Status und Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland erheblichen Einfluss auf Art und Umfang von Unsicherheitserfahrungen haben. Zunächst als politischer Flüchtling in Deutschland angekommen und inzwischen deutscher Staatsangehöriger, lebt Herr H. schon längere Zeit im Ruhrgebiet. Er erlebt sich als beruflich integriert, auch wenn er gerade noch eine Ausbildung macht. Seine Klagen richten sich eher gegen das brüchige soziale Gefüge. Hier erlebt er Ausschluss. Ähnlich ergeht es auch Herrn B. In Deutschland als Kind marokkanischer Arbeitsmigranten geboren, weiß er im Grunde von Unsicherheitserfahrungen nichts zu berichten. Hemmnissen
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aufgrund seiner Herkunft ist er – so betont er – bisher nicht begegnet. Allerdings sieht er in letzter Zeit, dass die soziale Isolation zunimmt: „Also, ich hab wirklich noch nie, echt noch nie irgendwelche Probleme wegen meiner Herkunft und die ist prinzipiell deutsch, Probleme gehabt. Das ist komplett an mit vorbei gegangen. Dementsprechend auch Glaube und Religiosität, ich bin also Atheist, mit 14 habe ich mich damals entschieden, ich bekenne mich zu gar keinem Glauben, andere halten da immer die Waage, so dass ein Teil der Familie so berücksichtigt wird, so (...). Ich bin evangelisch, ein Teil der Familie ist evangelisch, mein Vater ist arabisch. Und es kommt so zu Hause nicht zum Konflikt, weil zwar mein Vater hätte gerne, wenn ich arabisch und meine Mutter hätte gerne gehabt, wenn ich evangelisch geworden bin und ich fand’s ganz logisch, dass ich gar nichts geworden bin. (…) Aber das hat sich auch entwickelt, ich hab früher so viele Freunde, so alles, so Marokkaner, Tunesier und so, so mit 19 so gehabt, die haben alle Currywurst gegessen und jetzt sind die hoch und heilig, jetzt gehen die alle in die Moschee. Das ist immer so ne Sache.“
2.1.4 Geschlechtsspezifische Unsicherheitserfahrungen Da das Sample nur vier Interviewpartnerinnen beinhaltete (der Anteil der Frauen, der diese Ausbildung macht, ist äußerst gering), wurden nur wenige geschlechtsspezifische Unsicherheitserfahrungen genannt. Frau St., eine Rumänin, die bereits sieben Jahre in ihrem Herkunftsland als Computerfachfrau gearbeitet hat, beklagt sich jedoch sehr deutlich über die unzureichende Unterstützung allein erziehender Frauen, die versuchen, wieder in das Erwerbsleben einzusteigen. An Problemen, die ihre Berufsentwicklung beeinträchtigen, zählt Frau St. vor allem geschlechtsspezifische auf. Die Kindererziehung ist für sie kaum mit dem Beruf zu vereinbaren. Sie betont: „Ich glaube, für die Mutter wird doch recht zu wenig gemacht. Also spreche ich nicht nur als Ausländer, sondern als Frau. (…), also ich denke da müsste viel, viel mehr gemacht werden. Damit ich einfach arbeiten kann ohne immer wieder den Eindruck zu haben (…), ich wäre eine schlechte Mutter. Ich mache auch einen Job wenn ich nach Hause komme. (…) also ich war wirklich froh, dass ich sie in einer Ganztagschule bekommen konnte, ich hatte ein Antrag gestellt bei einem Hort, einem katholischen Hort, und obwohl ich die Zusicherung bekommen habe, dass meine Tochter da ein Platz hat, wurde ich angerufen und mir wurde gesagt, ihre Tochter hat kein Platz mehr, weil eine Hortgruppe wurde gestrichen, ihre Tochter geht in einen evangelischen Kindergarten und erst kommen unsere katholischen Kinder. Es ist wirklich ein Problem, sowieso für eine Mutter, die beiden Leben irgendwie zusammen zu kriegen, zu Hause Mutter zu sein und berufstätig zu sein.“
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Als Problem sieht sie die fehlenden Teilzeitarbeitsmöglichkeiten, insbesondere im IT-Bereich: Und dann noch immer wieder gibt es dieses Problem, ach, Teilzeitarbeit, sie sind doch nicht ein (...), obwohl ich weiß nicht, viele Mütter denke ich mir würden auch gerne etwas mal nach Hause nehmen, statt dieser: ‚du bist nicht ein vollwertiger Arbeiter‘ zu hören. Weil irgendwann gehen die Kinder ins Bett und man würde weitermachen (...)“.
Frau K., in Gelsenkirchen als Tochter türkischer Arbeitsmigranten geboren, bestätigt die enormen Probleme von Frauen, insbesondere von Frauen ohne deutschen Pass, im IT-Bereich: „(...) Nachteil: ja das ist das Problem, man hat irgendwie einen Nachteil, wenn man Ausländerin ist, man hat nochmal nen Nachteil, wenn man `ne Frau ist und in dem Bereich arbeiten möchte, weil es immer schon den Klassen, also in den Klassen, da gibt es sehr wenige Frauen, und Männer vertrauen Männern eher als wenn sie sich `ner Frau gegenüber stellen und Computer denken, also, dann haben die schon so ein Fragezeichen im Kopf, das sehe ich ja schon in meinem eigenen Bekanntenkreis oder Verwandtenkreis, die haben alle einen PC zu Hause, wenn ich da sage, mach doch mal das und das, dann heißt es, dann gucken die erstmal, aber wenn das gleiche ein Mann gesagt hätte, dann würden die ganz anders reagieren, ist klar. Aber ich glaube, da kann ich mich so durchsetzen, hoff ich (...). Ich bin sowieso von Natur aus ein bisschen kämpferisch, das hab ich im Blut, das macht nichts.“
2.2 Sicherheitskonstruktionen Als Sicherheitskonstruktionen führten die Interviewpartner(innen) im Gegensatz zu den Unsicherheitserfahrungen nur wenige an. Während die Unsicherheitserfahrungen sich vor allem auf allgemeine Aspekte und auf die unsichere Arbeitsmarktlage beziehen, scheinen sich Sicherheitskonstruktionen vor allem auf den beruflichen und sozialen Bereich zu beschränken. Strukturelle oder systembedingte Probleme scheinen auf der lebensweltlichen Ebene noch aufgefangen werden zu können. Die Fallbeispiele signalisieren insgesamt das (Noch-)Gelingen der Sozialintegration unter einer problematisch (gewordenen) Systemintegration2. Das Beispiel des bereits erwähnten Diplom-Betriebswirts B. aus dem Kosovo verdeutlicht das (Noch-)Funktionieren des Alltags aufgrund guter sozialer Beziehungen wie die zu seinen Kollegen, auch wenn die Hierarchie die Kontakte reglementiert: 2
Vgl. zu den Begriffen der System- und Sozialintegration Habermas 1981.
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„Wir haben viel Kontakt miteinander. Die Kollegen, die sind nett, und wir haben auch Unterstützung von den Lehrern, vielmal, aber wie ich es gesagt habe, hier geht die Organisation anders.“
Weitere soziale Kontakte hat er im Berufsbereich nicht. Diese beschränken sich auf andere soziale Netzwerke. Intensive Kontakte zu Deutschen hat er erst über seine Frau bekommen. Als Grund gibt er an, dass er die deutsche Sprache nicht so gut beherrsche. Auf die Frage, ob er Kontakt zu Deutschen habe, antwortet er: „Ja, letzter Zeit ja, vorher nicht. Seit ich mit meiner Frau bin, habe ich Kontakt. Vorher hatte ich wenige, wie kann man sagen, man ist geschämt, wenn man nicht richtig Deutsch spricht, man denkt, vielleicht sage ich was Falsches, man muss überlegen, aber in letzter Zeit (...)“
Auch in Bezug auf Art und Ausmaß der Sicherheitskonstruktionen scheinen Migrationskontext und Migrationsgrund eine erhebliche Rolle zu spielen. Neu Zugewanderte haben erwartungsgemäß die größten Probleme, während Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund häufig über bessere soziale Netzwerke verfügen, je länger sie im Einwanderungsland wohnen. Herr B., bereits als Sohn marokkanischer Arbeitsmigranten eingewandert und selbst in Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, schildert, dass er die fehlende institutionelle Unterstützung durch Eigeninitiative wie die Suche nach Informationen aus Fachzeitschriften kompensieren kann: „Beratung hat nicht stattgefunden. Beim Arbeitsamt gab es mal ein Standardgespräch, in dem Sinne, dass der IT-Bereich kaputt wäre und so in die Richtung, dass ich eher in den Medienbereich was machen sollte. Ich hätte dann eine Umschulung zum Drucker machen können. Ich hab dann gesagt, nä, das wäre es nicht für mich und eh, wenn ich mich selbständig mache, dann habe ich gut drei Monate Zeit, da habe ich mich ein bisschen rein gelesen in die Sache, wie der Arbeitsmarkt da aussieht und ich bin immer wieder auf die Information gestoßen, im Jahr 2005, 2006 soll es der Branche besser gehen (…)“
Ein großer Vorteil ist offensichtlich jedoch, dass Herr B. über hervorragende soziale Netzwerke verfügt. Auf die Frage, wie er an den Praktikumsplatz gelangt sei, antwortet er: „Okay, ich kenn den Verfügungsleiter von Veba in Horst, der ist ein Nachbar. Man hat sich halt so kennen gelernt und der hat mich gesehen, so die ganze Zeit, und irgendwie hat sich das so ergeben nach ner Zeit. Er sammelt Motorräder in seiner Garage und am Wochenende sieht man sich und wir haben dann miteinander geredet und geredet. Und irgendwann habe ich ihm das dann erzählt, dass ich die
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Andreas Deimann/Markus Ottersbach Umschulung mache und einen Praktikumsplatz suche. (…) Der kam dann irgendwann auch selber auf mich zu und hat mich dann gefragt, ob ich nicht Interesse daran habe, so, ich soll ihm mal meine Bewerbung geben und dann hat der das mitgenommen. (…) Letztens habe ich auch zufällig mit einem Leiter gesprochen von (...). Ich wollte eigentlich etwas anderes, aber da hat sich herausgestellt, dass der auch nen Praktikumsplatz zu vergeben hatte. Da habe ich, ich hatte ja da schon einen, habe ich dann anderen erzählt, dass es da einen Praktikumsplatz gibt. Erschreckenderweise hatte sich da noch gar keiner beworben. Ich hab jetzt wieder einen Praktikumsplatz durch nen Zufall über nen Bekannten gefunden, der Vater ist Ingenieur, der hat denn auch gesagt, es gibt da nen Platz, jetzt hab ich die Adresse auch abgegeben an jemand, der noch keinen Platz hatte. Das ergibt sich so. Ich red halt gern so mit Leuten und so.“
Unterstützung in Bezug auf den Lernstoff erhält Herr B. im Rahmen eines Lernkreises. Daran nehmen ausschließlich Auszubildende teil, die in seiner Klasse sind. Ein großer Vorteil sei, so betont er, dass man dort auch über andere als schulische Dinge reden kann. Die Peergroup scheint vielen der Interviewpartner(innen) einen wichtigen Halt zu geben. Manche berichten von regelmäßigen Treffen, bei denen man gemeinsam lernt oder sich eben auch über andere, die Ausbildung begleitende Dinge unterhält und austauscht. So auch die bereits erwähnte Rumänin, Frau St. Sie betont, dass der Kontakt zwischen den Kolleg(inn)en, die zusammen diese Maßnahme machen, doch recht gut ist. Fragen in Bezug auf die Ausbildung regelt sie eher mit Kolleg(inn)en als mit Freund(inn)en. Aufgrund ihrer kosmopolitan orientierten Familie verfügt sie auch noch über eine andere Sicherheitskonstruktion, die Idee der Remigration bzw. der weiteren Migration in ein anderes Land. Denn als eine weitere Sicherheitskonstruktion bezeichnet sie die mögliche Auswanderung nach Amerika, wo bereits ein großer Teil ihrer Familie wohnt, oder auch wieder zurück nach Rumänien: „Ja, ich finde das ganz normal, wenn jemand dahin geht, wir haben auch ein Zuhause. Das macht auch Spaß. Letztes Jahr war ich mit meinen Kinder in Rumänien, wir waren fünf Wochen da und zwei davon in die Berge, zwei am Meer, und es hat den gut gefallen in Rumänien, sie haben endlich das Schwimmen gelernt, denn sonst wussten sie nicht und doch, es hat mich schon richtig überrascht, die Entwicklung, die da stattgefunden hat in dieser Zeit.“
Da einige der Interviewpartner(innen) aus wohlhabenden Familien stammen, ist das erforderliche ökonomische Kapital, das zur Unterstützung eingesetzt werden kann, manchmal durchaus vorhanden. Die in Gelsenkirchen geborene Frau K., berichtet dazu:
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„Ich hab einen sehr aufgeweckten Vater, ich habe immer Nachhilfe gekriegt, egal was (...), und dann hat man gesagt, man sollte überlegen ob ich dann Türkisch (...) nehme, meine Muttersprache, dann hat mein Vater gesagt, nein, auf gar keinen Fall, die kriegt Nachhilfe, hat er (...) auch gut gezahlt und ich bin da eigentlich auch immer recht gut mitgekommen, das war jetzt nicht so das Problem. Ich war immer so mittelmäßig gut in der Schule, also es war jetzt nicht so, dass ich jetzt abgesackt bin oder sonst wie. Höchstens die Problematik bestand darin, dass ich in der fünften Klasse überhaupt kein Wort Türkisch konnte, wo ich in die Türkei gegangen bin, da hab ich ein bisschen Probleme gekriegt.“
Nicht immer hagelt es nur Kritik an der Situation im Aufnahmeland. Für Herrn K., Jurist aus Bagdad, ist die rechtliche Sicherheit im Aufnahmeland zunächst eine zentrale Sicherheitskonstruktion. Die Gefahr der Verfolgung ist für ihn nicht mehr existent: „Ja, in Deutschland ist besser als im Irak auch. Zuerst hab ich gesagt, gibt es in Deutschland viele Gesetze Recht, man hat kein sein Recht verloren. Aber im Irak, wenn jetzt Amerika raus gegangen und alles wird normal wie eine normale Staat, gibt es auch da viele Probleme. Wissen sie die Dritte Welt, wie ist. Immer kommt eine neue Diktator, man kann da nicht gut leben. Gibt es ein Stickwort, man lebt im Wald, immer die stärkere isst oder frisst die schwach. Das ist immer in unsere Länder so, aber hier ich habe mein Recht. Sie sind deutsch, richtig; aber sie können mich nicht schlagen oder mein Recht verlieren oder abnehmen. Das ist so, von Ordnung hier ist besser, nicht hundertprozentig aber ist mehr so. Wir können so sagen, ein Paradies, vom Gesetz her, vom Recht her und von Ordnung her. Aber wir hoffen, geht besser in unserem Land, was zum Beispiel was haben wir hier gelernt oder nicht, gibt es viele Leute hier seit zwanzig Jahren oder hier geboren oder so, was haben die Leute hier gelernt nach Irak mitnehmen.“
Auch in Bezug auf Beratung durch Institutionen hat Herr K. bisher nur positive Erfahrungen gemacht. Bei der Agentur für Arbeit hat man ihn gut beraten: „Ich habe gar nichts, keine Probleme gehabt mit dem Arbeitsamt, wenn ich gehe zu den Angestellten oder zu den anderen zu dem Bearbeiter, sind sehr nett. Die versuchen mir zu helfen, aber die Probleme nicht, die Lösung ist nicht in der Hand von diese Leute. Die Arbeitslosen sind viel und kein Arbeit und er kann nicht so machen. Wenn er viel Arbeit hat in Essen oder andere Stadt, die geben mir wie ein anderer Deutscher, oder andere Ausländer.“
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Fazit: Ungleiche berufliche Arrangements als Folge der Migration
Das berufliche Arrangement der Interviewpartner(innen) ist – insgesamt betrachtet – von zahlreichen und sehr vielfältigen Unsicherheitserfahrungen und von eher wenigen Sicherheitskonstruktionen begleitet. Im Vergleich zu einheimischen Deutschen verfügen Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund meist über weniger soziale Kontakte und über deutlich geringeres ökonomisches Kapital. Dies ist jedoch nicht durchgängig der Fall. Politische Flüchtlinge, die im Herkunftsland schon über beträchtliches ökonomisches und kulturelles Kapital verfügt haben, bewegen sich im Aufnahmeland unabhängiger und erfolgreicher. Man könnte auch sagen, die Kapitalien migrieren mit ihnen, ohne entscheidend an Wert einzubüßen. Ausnahmen gibt es jedoch bei der Anerkennung von im Herkunftsland erworbenen Zertifikaten bzw. erst gar nicht ausgehändigten Zertifikaten. Dieser Faktor hängt jedoch auch wieder stark vom Herkunftsland ab. Lediglich ihre im Herkunftsland erworbenen sozialen Kontakte verlieren im Aufnahmeland in der Regel ihre Bedeutung. Betrachtet man sich die Migrationskontexte und -gründe noch einmal genauer, so kann man insgesamt festhalten, dass für die befragten Neuzuwanderer (anerkannte Asylbewerber(innen), Spätaussiedler(innen), Familienangehörige) die Ausbildung in IT-Berufen nur ein schwaches berufliches Arrangement ist. Die Ausbildung wird, wenn die Interviewpartner(innen) selbst im Herkunftsland eine Hochschulausbildung abgeschlossen oder erfolgreiche Karrieren gemacht haben bzw. die Familie sozial privilegiert war, meist als sozialer Abstieg aufgefasst. Für die Befragten aus zugewanderten Familien ist die Ausbildung in ITBerufen jedoch schon eher ein starkes berufliches Arrangement. Sie wurde in der Regel als sozialer Aufstieg aufgefasst, weil die Eltern als Arbeiter(innen) schwächer auf dem Arbeitsmarkt positioniert waren. Für die Befragten aus einheimisch deutschen Familien (Vergleichsgruppe) ist die Ausbildung in IT-Berufen nahezu ein selbstverständliches berufliches Arrangement. Sie wurde nicht als soziale Mobilität aufgefasst, weil die Eltern vergleichbar auf dem Arbeitsmarkt positioniert waren. Mit diesen Ergebnissen werden in Bezug auf die Bildungsforschung und die Migrationsforschung vor allem die Aspekte sozialer Ungleichheit (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital, Statuserwerb), der Migrationskontext und herkunftsländerspezifische Bedingungen wie die Verweigerung der Zertifikatausgabe im Irak als Gründe der Positionierungen aufgewertet. Auch geschlechtsspezifische Aspekte spielen bei der Ergründung beruflicher und sozialer Positionierungen eine erhebliche Rolle. Vereinzelt müssen auch institutionelle Formen der Diskriminierung als Grund für Positionierungen festgehalten werden.
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Positionierungen durch Geschlecht und Herkunft
Positionierungen durch Geschlecht und Herkunft Positionierungen durch Geschlecht und Herkunft
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Migrante Positionierungen: Dynamische Mehrfachverortungen und die Orientierung am Lokalen Migrante Positionierungen
Christine Riegel Junge Frauen mit Migrationshintergrund werden im Alltag oft einseitig vor dem Hintergrund ihrer Herkunft oder ihrer ethnischen bzw. nationalen Zugehörigkeit gesehen und darauf reduziert. Folgen sind Fremdzuschreibungen, die jedoch meist nicht ihrem Selbstbild und ihrer Selbstverortung entsprechen. In diesem Beitrag werden Möglichkeiten und Grenzen der Positionierung jenseits ethnischer oder nationaler Kategorien aufgezeigt: dynamische Mehrfachverortungen und die Orientierung am lokalen, jugendkulturellen Raum. Diese konnten in einer sozio-biografischen Untersuchung zu Orientierungs- und Handlungsformen von jungen Migrantinnen herausgearbeitet werden. Die Untersuchung wurde in den Jahren 1998 bis 2000 in einem Stadtteil einer süddeutschen Großstadt durchgeführt und verfolgte die Frage nach spezifischen Umgangsformen von jungen Migrantinnen mit sozialen Ein- und Ausgrenzungsprozessen.1 Der hier benutze Begriff Migrantinnen ist insofern unzutreffend und ungenau, als die jungen Frauen in Deutschland aufgewachsen sind und selbst keine Migrationserfahrungen haben. Sie sind Töchter und Enkelinnen von Arbeitsmigrant(inn)en aus unterschiedlichen Ländern Südeuropas und der Türkei. Die jungen Frauen waren zum Befragungszeitpunkt zwischen 16 und 20 Jahre alt und befanden sich im Übergang von der Schule zum Beruf.2 Diese Studie ist aus einer international vergleichenden Jugenduntersuchung des Projekts „Internationales Lernen“ entstanden, in der Ende der 90er Jahre in fünf europäischen Großstädten zum Thema „Orientierungen Jugendlicher im Kontext von Integration und Ausgrenzung“ geforscht wurde (vgl. Held/Spona 1999). In dieser Untersuchung wurde der Schwerpunkt auf das Zusammenleben 1
2
Die Ergebnisse der gesamten Untersuchung sind ausführlich in der Publikation „Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen. Eine sozio-biografische Untersuchung“ (Riegel 2005) dargestellt. Die empirischen Grundlagen der Untersuchung sind biografische Interviews, teilnehmende Beobachtung im Stadtteil sowie Daten einer quantitativen Befragung und von Gruppendiskussionen, die im Rahmen der vergleichenden Jugenduntersuchung erhoben wurden.
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in heterogenen Stadtteilen gelegt. Für das deutsche Untersuchungsgebiet konnte u.a. die integrative Bedeutung des Stadtteils für Jugendliche herausgearbeitet werden (vgl. Held/Riegel 1999; Riegel 1999). In der daran anknüpfenden soziobiografischen Studie, auf die ich mich im Folgenden beziehe, wurde dieses Phänomen mit dem Fokus auf junge Frauen mit Migrationshintergrund weiterverfolgt. So konnten geschlechtsspezifische und jugendspezifische Verortungsmöglichkeiten von jungen Frauen mit Migrationshintergrund sowohl unter soziostrukturellen, lebensweltbezogenen und biografischen Aspekten erörtern werden (vgl. Riegel 2005).
1
Pluriforme Verortungen und Mehrfachzugehörigkeiten
Zunächst konnte in beiden Untersuchungen eine Vielfalt von Positionierungen und Identitäten von jungen Frauen mit Migrationshintergrund herausgearbeitet werden. Es zeigte sich, dass die Identifikationen der jungen Frauen reichhaltig sind und vielfältige Bezugspunkte im sozialen, kulturellen und geografischen Raum haben. Junge Migrantinnen weisen zu verschiedenen Zugehörigkeitskontexten eine emotionale Verbundenheit auf und ihr Selbstverständnis zeichnet sich durch ein flexibles Zusammenspiel von unterschiedlichen Identifikationsmomenten aus. Selbstcharakterisierungen wie „von allem etwas“ verdeutlichen eine positive und selbstbewusste Interpretationsmöglichkeit des Migrationshintergrunds und der Mehrfachzugehörigkeit, solche wie „sowohl als auch“ oder „weder noch“ verweisen auf eine Weigerung oder die empfundene Unmöglichkeit sich im nationalen Zugehörigkeitsdiskurs eindeutig zu verorten. Darüber hinaus konnten positive Affirmationen und Identifikationen festgestellt werden, die jenseits ethnischer Kategorien liegen oder diese mit globaleren (z.B. als Europäerin) oder regionalen und lokalen Bezugselementen verbinden (z.B. als „schwäbische Griechin“). Besonders wichtig sind für Jugendliche mit Migrationshintergrund kulturelle Identifikationsangebote, die sich im transnationalen Raum entwickelt haben. Regionale Bezugspunkte werden mit globalisierten, transkulturell entstandenen Trends, Mode- und Musikstilen zusammengebracht und zu einem eigenen Stil oder Markenzeichen entwickelt. Spezifisch für die Positionierungen von jungen Migrantinnen ist, dass diese keine eindimensionalen Identitätskonstruktionen widerspiegeln, sondern dass sie sich je nach Situation und Kontext auf ganz verschiedene soziale Zusammenhänge beziehen. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit ethnisierten Zuschreibungen und im Aushandeln von Zugehörigkeiten sind für sie dynamische Verortungsstrategien von Bedeutung (vgl. Riegel 2005 und 2003).
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Für diese Subjektkonstruktionen erweisen sich theoretische Konzepte, wie die der natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten von Paul Mecheril (2000) oder die der hybriden Identitäten (Hall 1994; Bhabha 1994) als sinnvoll. Daraus entstehen kulturelle Ausdrucksformen, die nicht auf eindeutige und homogene Ethnizitätskonstruktionen zurückgreifen, sondern die durch Verflüssigungsprozesse von Zugehörigkeitskontexten und das Ineinandergreifen von Lokalem und Globalem neue kulturelle Mischformen hervorbringen. Diese werden auch New Ethnicities (Hall 1999) oder Third Spaces (Bhabha 1990) genannt. Die Bedeutung solcher Kulturen und Räume möchte ich im Folgenden anhand einer lokalen, ethnisch gemischten Jugendszene, die sich im Stadtteil des Untersuchungsgebietes etabliert hat, aufzeigen.
2
Die lokale Jugendszene RIO
Der Stadtteil einer süddeutschen Großstadt, im Folgenden Raukenberg genannt, zeichnet sich durch eine heterogene Bevölkerungszusammensetzung mit einem hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund aus.3 Er kann als typisch für ethnisch unterschichtete und benachteiligte Stadtteile in deutschen Großstädten betrachtet werden. Spezifisch für den Stadtteil ist, dass sich die dort lebenden Menschen, gleich welcher Herkunft, stark mit dem Gebiet in dem sie leben, identifizieren. Kulturelle Differenzen gehören hier zur Selbstverständlichkeit und trotzdem hält der Stadtteil die Menschen zusammen. Hier hat sich eine lokale Jugendszene entwickelt, die sich selbst als RIO bezeichnet. RIO steht für Raukenburg im Osten. Dazu zählen sich Jugendliche ganz unterschiedlicher Herkunft, wobei hier nicht deutsche, sondern Jugendliche der zweiten und dritten Einwanderungsgeneration die Mehrheit stellen. Der Stadtteil ist für sie primärer Bezugs- und Identifikationspunkt. Die stadtteilorientierten Jugendlichen nutzen das Stadtviertel als Aufenthaltsort und Aktionsfläche und deklarieren öffentliche Plätze im Stadtteil als ihren Raum. Sichtbar wird dies nicht nur durch ihre körperliche Präsenz, sondern auch durch ihre Graffitis. Die seit mehreren Generationen tradierte Abkürzung RIO ist als Graffiti und Markenzeichen nicht nur im Stadtteil selbst (an Häuserwänden, Parkbänken, dem Schulklo usw.), sondern auch an anderen Orten in der Stadt zu finden. Auch die einzelnen Cliquen und Clubs im Stadtteil benennen sich nach diesem gemeinsamen Zeichen: RIO-Girls, RIO-Boys, kleine RIOs und große RIOs. Des Weiteren drückt sich der gemeinsame Bezug auf ihren Stadtteil auch in ihrem Auftreten im Gruppenverband bei größeren Veranstaltungen außerhalb des Stadtteils (z.B. 3
Der Anteil der ausländischen Kinder und Jugendlichen lag in den 90er Jahren bei 38 Prozent, der der Erwachsenen bei 24 Prozent (Statistisches Amt Stuttgart 1991).
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dem Volksfest) und in der ritualisierten Inszenierung von Auseinandersetzungen mit anderen Stadtteil-Gruppen aus. Durch diese Mittel der Selbstinszenierung und Stilbildung werden der Gruppenzusammenhang und das kollektive Identifikationsmuster „Wir-Raukenburger“ gestärkt. Diese Formen der Raumaneignung und kulturellen Expressivität stellen gerade für Migrant(inn)en der zweiten oder dritten Generation (beiderlei Geschlechts) eine adäquate Verortungsmöglichkeit jenseits der Polaritäten des Herkunftslands und des Einwanderungslandes dar. Welche Bedeutung solche Jugendkulturen für junge Migrantinnen haben, möchte ich im Folgenden am Beispiel von Mihriban, deren Eltern aus der Türkei stammen, aufzeigen.
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Stadtteil als Ort der Zugehörigkeit und Verbundenheit
Mihriban ist in Deutschland geboren und im Stadtteil Raukenburg aufgewachsen. Durch ihren älteren Bruder ist sie schon früh mit den Stadtteilcliquen in Kontakt gekommen und nach und nach hineingewachsen. Entsprechend groß ist auch ihre Identifikation. Bei ihrer Selbstpräsentation zu Beginn des Interviews kommt dies bereits zum Ausdruck: „Okay. Also, ich bin neunzehn Jahre alt (.) und komme aus der Türkei, lebe hier im Stadtteil Osten, liebend gerne im Osten.“
Mihriban erscheinen nennenswert: ihr Alter, ihre Herkunft und der Ort, an dem sie aufgewachsen ist und auch heute noch lebt. Interessant ist dabei, dass sie bezüglich ihrer Herkunft die Türkei nennt, für ihren momentanen Lebensraum benennt sie jedoch nicht Deutschland, sondern den lokalen Kontext des Stadtteils. Ihre Erzählungen über ihre Jugendzeit sind stark von kollektiven Erlebnissen und einem starken Gemeinschaftsgefühl geprägt: „Und das ist für mich unvergesslich. Wir wollten also nie irgendwie in die Stadt gehen oder mal was trinken gehen. Das war gar nicht unser Interesse. Es hat geschneit und in Strömen geregnet und wir standen am Sportplatz mit den Jungs und so und ja, das waren echt die schönsten Zeiten. Aber das waren irgendwie die schönsten Zeiten, wirklich. Weil, ich weiß nicht, wir waren wie eine große Familie irgendwie. Und das ist für mich unvergesslich.“
Das Gefühl der sozialen Eingebundenheit und Zugehörigkeit waren offensichtlich wichtiger als Aktivitäten über den Stadtteil hinaus. Der Vergleich mit einer großen Familie, einer gängigen Metapher unter den Jugendlichen im Stadtteil (andere Formulierungen sind „wir sind wie Brüder und Schwestern“), bringt
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diese unumstößliche, als natürlich empfundene Verbundenheit im Stadtteil deutlich zum Ausdruck. Mihriban fühlt sich sowohl als Raukenburgerin wie auch als Türkin und hat darüber hinaus wahrscheinlich noch viele andere Bezugs- und Orientierungspunkte, die je nach Situation und Kontext für sie unterschiedlich bedeutend sind (von ihr stammt auch die oben zitierte Selbstbeschreibung „von allem etwas“). Sowohl Mehrfachverortungen als auch Identifikationsangebote jenseits ethnischer Zuschreibungen sind durch die Stadtteilorientierung für sie und auch andere Jugendliche möglich. Gerade, was Fremdzuschreibungen und stereotypisierende Bilder anbelangt, mit denen jugendliche Migrantinnen im Kontext der deutschen Mehrheitsgesellschaft ständig konfrontiert werden, bietet der Stadtteilbezug eine Möglichkeit der Verortung, die mit anderen Zugehörigkeiten und Fragen der Herkunft vereinbar sind. Gleichzeitig ist dabei die Gefahr gemindert, dass sie auf ethnische oder nationale Zugehörigkeiten festgeschrieben werden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Verbundenheit der Menschen im Stadtteil relativieren jedoch auch Differenzen in der nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit, so dass diese für die Jugendlichen – zumindest in diesem Kontext – unbedeutend oder zumindest zweitrangig werden. So sagt Mihriban an anderer Stelle: „Das Gute ist, dass es hier gemischte Cliquen gibt. Also, dass sich Griechen und Türken nicht verstehen, das gibt es hier nicht. Man hat von jedem Land etwas hier, lernt auch viel dazu.“
Auch wenn von den Jugendlichen die Beziehungen untereinander teilweise etwas idealisiert dargestellt werden (vgl. Riegel 1999), so verlaufen Konflikte und Rivalitäten innerhalb der Cliquen und des Stadtteils nicht unbedingt nach nationalen Kriterien. Solche Aussagen verweisen jedoch auf die Selbstverständlichkeit des multikulturellen Miteinanders, welches von jungen Frauen mit Migrationshintergrund als positiv erachtet wird. Sie gehören hier nicht zu einer Minderheit oder werden als „Andere“ ausgesondert oder ausgegrenzt. Tülin, eine Freundin von Mihriban sagt beispielsweise: „Also, man fühlt sich wohl. Man hält halt hier so zusammen. Die sagen nicht: Du bist ein Türke, du gehörst nicht zu uns. Aber das ist halt einfach gut.“
Diesbezüglich bietet der Stadtteilzusammenhang Integrationspotenzial und Anerkennung, die jungen Migrantinnen im Kontext der deutschen Mehrheitsgesellschaft oft verwehrt werden. Er ist für sie ein Ort der sozialen Heimat und Verbundenheit, der ethnische und nationale Verortungen nicht per se ausschließt, sondern eine alternative Fokussierung ermöglicht und Vielfachverortungen zulässt.
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Christine Riegel
In dieser Funktion ist der Stadtteil bzw. die jugendliche Stadtteilkultur sowohl für männliche und weibliche Jugendliche bedeutend, wenn dies jeweils auch mit unterschiedlichen Ausdrucks- und Aktionsformenformen verbunden ist (vgl. Riegel 1999). Für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund hält der jugendkulturelle Raum geschlechtsspezifische Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Identifikation bereit.
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Spezifisch weibliche Aktions- und Identifikationsmuster
Der Stadtteil als Aktionsraum bietet für die jungen Frauen eine Möglichkeit, sich im gemischtgeschlechtlichen Kontext und im öffentlichen Raum zu bewegen, zu behaupten und auszuprobieren. In ihrer Kindheit fühlte sich Mihriban den Jungs und der Clique selbstverständlich zugehörig und als Mädchen nicht als etwas Besonderes: „Und ich hab mich auch gar nicht irgendwie als weibliches Ding gefühlt neben denen, ich war total locker und die haben mich ganz anders gesehen und auch mal ein bisschen geschubst und wir haben uns auch ein bisschen geschlagen und Fußball gespielt und solche Sachen.“
Die gemischtgeschlechtliche Clique ist ein Ort, an dem sie lernen, sich im Umgang mit Jungen zu behaupten. Mihriban wertet diese Erfahrungen auch für ihr späteres Leben als wichtige soziale Kompetenz. Trotz der männlichen Dominanz in den gemischtgeschlechtlichten Stadtteilcliquen, streben die weiblichen Jugendlichen – dies zeigte sich auch bei der teilnehmenden Beobachtung und an den Aussagen von anderen Mädchen – nach ihrer gleichberechtigten Teilhabe und Anerkennung, sowohl in ihrer Weiblichkeit, als auch jenseits geschlechtsspezifischer Attribute, z.B. als ernstzunehmender und geschlechtsneutraler Kumpel. Mihriban sieht den Stadteilkontext als eine günstige Gelegenheit für Mädchen, sich im gemischtgeschlechtlichen Rahmen selbstverständlich aufzuhalten, ohne dass dies von der Erwachsenengeneration (und auch der türkischen Community) besonders reglementiert oder als anstößig betrachtet werden würde. „Und ich finde, also vor allem wir türkischen Mädchen, (...). Und wenn du da mit den Jungs redest und du bist in der Clique drin, damals, und da hat man dich auch mit anderen Augen angesehen. Also nicht ‚guck mal‘ und so, ‚die hängt mit den Jungs rum‘ und ‚was ist denn das für eine Schlimme‘ oder so was. Die haben sich auch schon alle daran gewöhnt gehabt und haben uns auch nicht irgendwie mit schlechten Augen gesehen.“
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Junge Frauen wie Mihriban finden in den Stadteilcliquen ein akzeptiertes Terrain, in dem sie ihre Erfahrungen machen und sich gleichzeitig der Erwachsenenkontrolle entziehen können. Darüber hinaus bietet die Stadtteilclique und das damit verbundene jugendkulturelle Forum für die jungen Frauen auch eine wichtige Möglichkeit zum Ausprobieren und Verwirklichen von untypischen Geschlechterrollen. Hier spielte für Mihriban der Mädchenclub der örtlichen Jugendeinrichtung eine zentrale Rolle. Der Mädchenclub definierte sich ebenfalls über den Stadtteil, was sich auch an ihrem Namen „RIO-Girls“ manifestiert. Besonders gut wird das kollektive Selbstverständnis an folgendem Lied deutlich: „Wir sind die RIO-Girls, und wir sind sehr gut drauf. Die gute Laune hält uns immer auf dem Lauf. Uns zu verarschen hat doch wirklich keinen Zweck, denn andere Weiber sind für uns der letzte Dreck. Und wenn euch das nicht passt, dann kommt doch einfach her, denn euch zu verschlagen das fällt uns gar nicht schwer. Kommt doch einfach her. Kommt doch, kommt doch einfach, ja, kommt doch einfach her.“
Das Lied gilt als Art Kampflied gegenüber Mädchen aus anderen Stadtteilen. Sie präsentieren sich als die Besonderen, die RIO-Girls. Gleichzeitig mit der positiven Selbstzuschreibung als aktive, freche und gutgelaunte Mädchen aus Raukenburg, findet eine Abgrenzung gegenüber anderen Mädchen statt, verbunden mit Abwertung, Bedrohung und einer aggressiven Kampfansage. Auch für die Mädchen gehört die gewalttätige Auseinandersetzung zum selbstverständlichen Verhaltensrepertoire. Dabei reihen sie sich in die Tradition der Stadtteilrivalitäten ein, die bereits schon seit mehreren Generationen von Jugendlichen praktiziert und mystifiziert werden. Auch wenn sie sich dabei an den bisher von Jungs dominierten Inszenierungen und Kämpfen orientieren, suchen sie sich jedoch ihr eigenes Terrain. Sie bleiben als Mädchen unter sich im geschlechterhomogenen Raum, sowohl in der Clique als auch in ihren Rivalitäten mit Mädchen von anderen Stadtteilen. In der Mädchenclique kann sich Mihriban in ganz anderer Weise mit ihrer Mädchenrolle auseinandersetzen als in gemischtgeschlechtlichen Zusammenhängen. Hier ist sie weniger stark mit geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen konfrontiert, kann für Mädchen ansonsten unerwünschte bzw. männlich konnotierte Aktionsformen und Geschlechterrollen ausleben und ausprobieren. Mihriban verkörpert eine Art Grenzgängerin, die sich zwischen verschiedenen Sphären bewegt, in einer reinen Mädchenclique und in der männlich dominierten Sportplatzclique. So kann sie ihre Geschlechterrolle in differenten Zusammenhängen erfahren, ausprobieren und teilweise auch damit spielen. Hier zeigt sich, dass New Ethnicities nicht nur alternative Möglichkeiten der Verortung und Identifikation jenseits ethnischer oder nationaler Zugehörig-
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Christine Riegel
keiten bzw. Zuschreibungen bereithalten, sondern auch ein Experimentierfeld hinsichtlich geschlechtsuntypischer Handlungsformen und Präsentationen darstellen (können).
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Ambivalenzen und Grenzen
Die hier aufgezeigten Positionierungsmöglichkeiten für junge Migrantinnen, pluriforme Identitätskonstruktionen und die Verortung in Third Spaces, verweisen v.a. auf eine positive Interpretation von Verortungsmöglichkeiten in ethnisch heterogenen Gesellschaften. Allerdings repräsentiert die dargestellte jugendliche Stadtteilkultur keineswegs einen herrschaftsfreien Raum. Auch hier gibt es Prozesse der Ein- und Ausgrenzung. Gerade in benachteiligten Stadtteilen sind Kämpfe um symbolische Zugehörigkeiten zentral und so konstituieren sich auch die Stadtteilcliquen durch ihre ständige Abgrenzung und Absicherung nach außen (z.B. gegenüber anderen Stadtteilen). Die geschlechtersegregierten Zuständigkeitsbereiche bzw. die männliche Dominanz in den Stadtteilcliquen machen deutlich, dass es auch innerhalb von solchen Wir-Bewussten-Gemeinschaften und Jugendszenen zu Hierarchien sowie zu Ein- und Ausgrenzungsprozessen kommt. Beispielsweise finden Unterwerfungsprozesse im Geschlechterverhältnis statt, wenn männliche Jugendliche die Mädchen des Stadtteils als ihren Besitz deklarieren und verteidigen. Mädchen werden bei gemeinsamen Aktionen von den männlichen Jugendlichen nicht ernst genommen bzw. auf „ihre“ Geschlechterrolle verwiesen, andererseits für Vergemeinschaftungszwecke (den Zusammenhalt der Clique, das Wir-Gefühl des Stadtteils) instrumentalisiert. Gleichermaßen bestehen in diesen Jugendkulturen auch Normalitätsdiskurse, die ihrerseits zu sozialer Kontrolle oder Ein- und Ausgrenzungsmechanismen führen. Spezifisch für die Mädchencliquen sind interne Konkurrenzkämpfe, die u.a. über die angemessene Form der Körperpräsentation (Schönheitsideale, Kleider-Ordnungen und Marken-Pflicht) ausgetragen werden. Als sozialer und kultureller Raum ist die Stadtteilkultur für die jungen Frauen also widersprüchlich: Deutlich herausgearbeitet werden konnte der sozialintegrative Charakter solcher Identifikations- und Verortungsräume jenseits ethnischer Zuschreibungen und Kategorisierungen, allerdings wurden auch damit verbundene Schwierigkeiten deutlich. Um solche Räume nicht ideologisch zu überhöhen, ist es notwendig, die damit verbundenen Ein- und Ausgrenzungsprozesse in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus haben solche Räume und New Ethnicities gesamtgesellschaftlich betrachtet nur eine randständige Bedeutung und die Möglichkeit der
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anerkannten Mehrfachverortung bleibt auf solche Nischen beschränkt. Junge Frauen wie Mihriban entwickeln sich jedoch mit zunehmendem Alter aus den jugendspezifischen Gemeinschaften und lokalen Zusammenhängen heraus, finden als erwachsene Frauen nicht unbedingt entsprechende Räume, in denen sie in ihrer Mehrfachzugehörigkeit anerkannt werden. Weder innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft, noch innerhalb von ethnischen Communities. Mehrfachzugehörigkeiten sind in der deutschen Mehrheitsgesellschaft zwar Realität, erfahren jedoch wenig Anerkennung.4 Gesellschaftlich vorherrschend ist nach wie vor ein bipolares Denken (Herkunftsland oder Einwanderungsland), das seine Entsprechung nicht zuletzt auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht und in vorherrschenden Integrationsforderungen an Einwanderinnen und Einwanderer hat. Realität ist für die jungen Frauen vielmehr, dass sie im Heranwachsen zu einer jungen Frau zunehmend mit ethnisiert vergeschlechtlichten Fremdzuschreibungen konfrontiert werden, mit denen sie sich nicht identifizieren können und wollen. Dies sind konstruierte Bilder, die ihre Rolle als Frau und Mädchen in einen ethnisierten Zusammenhang stellen, wobei sich rassistische, nationalistische und ethnozentristische mit sexistischen Ideologien und Deutungsmustern überlagern. Sie sind für die jungen Frauen mit sozialer Aussonderung, mangelnder Wertschätzung und letztendlich auch mit Einschränkungen in ihren Handlungsmöglichkeiten und Lebenschancen verbunden. Diese Bilder stehen nicht nur konträr zur Selbstsicht der jungen Frauen, sondern auch ihren Integrationsbemühungen entgegen, als Erwachsene einen Platz in der deutschen Gesellschaft zu finden. Aus diesen Gründen zeigen sich die jungen Frauen gegen die Zuschreibungen stark und widerständig und entwickeln unterschiedliche Gegen- und Abwehrstrategien (vgl. Riegel 2003b und 2005). Junge Migrantinnen kämpfen mit unterschiedlichen Strategien gegen Zuschreibungen und für ihre Anerkennung im gesellschaftlichen Raum. Allerdings wählen sie hier nicht mehr das Mittel des Zusammenschlusses und der Solidarität, sondern individualisierte Formen. Abschließend kann konstatiert werden, dass junge Frauen mit Migrationshintergrund sich hinsichtlich ihrer sozialen Positionierungen in einem Spannungsfeld befinden: Sie sind mit sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen konfrontiert, die einerseits positive Interpretationsmöglichkeiten von Zugehörigkeitskontexten bereithalten, die sie aber andererseits durch Zuschreibungsprozesse auf ihre nationale oder ethnische Herkunft festschreiben. So stehen positiv konnotierten Möglichkeiten der Mehrfachverortung ethnisiert-vergeschlechtlichte Fremdzuschreibungen gegenüber, dem integrativen Charakter von lokalen und pluriformen Verortungsmöglichkeiten stehen Aussonderungs- und Diskriminierungsprozesse entgegen, die sie zu Anderen machen. 4
Dies zeigt sich u.a. daran, dass es für Mehrfachzugehörigkeiten und hybride Identitäten keine alltagstauglichen Begriffe gibt.
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In diesem Spannungsfeld versuchen sich die jungen Migrantinnen zu positionieren und kämpfen um ihre Anerkennung und Zugehörigkeit. Was sie anstreben, ist ihre soziale und gesellschaftliche Integration in der deutschen Gesellschaft. Auch wenn dieser Kampf von den jungen Frauen weitgehend individuell geführt wird und sie persönlich Verantwortung für ihre gesellschaftliche Integration übernehmen, ist ihre Anerkennung und Integration auch eine gesellschaftliche Aufgabe und braucht strukturelle, rechtliche und politische Voraussetzungen. Soll diese nicht nur in sozialen Nischen oder biografischen Übergängen, wie der Jugendzeit, möglich sein, bedarf es einer generellen, gesamtgesellschaftlichen Anerkennung von Mehrfachzugehörigkeiten sowie der Dekonstruktion vorherrschender Kategorisierungen, auch im Geschlechterverhältnis.
Literatur Bhabha, Homi (1990): The Third Space. Interview mit Homi Bhabha. In: Rutherford, Jonathan (Hrsg.): Identity, Community, Culture, Difference. London, S. 207–221. Bhabha, Homi (1994): The location of culture. London/New York. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg. Hall, Stuart (1999): Kulturelle Identität und Globalisierung. In: Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt am Main, S. 393–441. Held, Josef/Riegel, Christine (1999): Integrations- und Ausgrenzungsprobleme Jugendlicher. In: Held, Josef/Spona, Ausma (Hrsg.): Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration. Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts. Riga/Hamburg, S. 59-88. Held, Josef/Spona, Ausma (Hrsg.) (1999): Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration. Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts. Riga/Hamburg. Riegel, Christine (1999): „Wir sind die RIO-Girls und wir sind sehr gut drauf...“ Die Bedeutung des Stadtteils für Jugendliche. In: Held, Josef/Spona, Ausma (Hrsg.): Jugend zwischen Ausgrenzung und Integration. Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts. Riga, Hamburg, S. 89–105. Riegel, Christine (2003): Umgangsformen von jungen Migrantinnen mit ethnisiertvergeschlechtlichten Fremdzuschreibungen. In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis, 26.Jg, Heft 63/64, S. 59-76. Riegel, Christine (2005): Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen. Eine sozio-biografische Untersuchung. Frankfurt am Main/London.
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Rassismus, Männlichkeit und „andere“ Körper
Susanne Spindler Szenarien so genannter Parallelgesellschaften sind vielfältig vorhanden. Ein Teil des medialen und populärwissenschaftlichen Diskurses konzentriert sich in der Darstellung auf aggressive junge Männer, die – notwendigerweise mit dem Ausweis „Migrationshintergrund“ ausgestattet, um in der Parallelgesellschaft mitmachen zu können – ganze Stadtteile unter ihre Kontrolle bringen, und dort ihre eigenen, meist kriminellen Regeln herrschen lassen.1 Sie werden als „türkische Machos“ skizziert, die in gewalttätiger Form ihre Männlichkeit ausleben müssen, Produkte einer familiären Sozialisation, die von Gewalt, einem gewalttätigen Geschlechterverhältnis sowie patriarchalen Vorstellungen der Väter geprägt seien. Mit emanzipatorischen Verhältnissen in der Bundesrepublik konfrontiert, gerieten die jungen Männer mit solchen Konzepten von Männlichkeit in einen Kulturkonflikt – und würden ihr Dilemma dann durch Gewalt verarbeiten. Ihre Gewaltbereitschaft schmälere ihre Chancen, sich in der Gesellschaft einen Platz zu erobern (vgl. z.B. Pfeiffer/Wetzels 2000: 21ff; Aslan 2003) und erhöhe somit das Risiko, dass sie sich in ihrer eigenen Welt verschanzen. Als Angehörige von Parallelgesellschaften werden sie zum „bedrohlichen Anderen“ im Inneren – das macht sie besonders bekämpfenswert. Mit Jugendlichen, die in dieser Weise beschrieben werden, habe ich im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes2 biographische Interviews geführt. Zusammenfassend stelle ich einige Ergebnisse der biographischen Analysen dar, in denen sich Verschränkungen von Männlichkeitskonstruktionen und Eth1 2
Vgl. z.B. der Spiegel 10/2002; in der Süddeutschen Zeitung vom 4.12.2001 steht: „Islam-Serie: Wie in Deutschland eine Parallelgesellschaft entsteht.“ Unter dem Projekttitel: „Die Überrepräsentation allochthoner Jugendlicher in Untersuchungsund Strafhaft. Kriminalitätskarrieren allochthoner Jugendlicher“ haben wir an der Universität zu Köln von 1999 bis 2002 eine Untersuchung mit inhaftierten Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund durchgeführt, deren Lebensmittelpunkt vor der Inhaftierung in Köln war. Forschungsziel war, die Lage der Jugendlichen zu beschreiben und zu deuten und das Bedingungsgefüge ihrer „Kriminalitätskarrieren“ zu analysieren. Die Ergebnisse sind veröffentlicht in Bukow et al. 2003. Die folgenden Ausführungen sind Ergebnisse meiner darauf aufbauenden Dissertation, die sich mit den Zusammenhängen von Vergeschlechtlichung und Rassismus beschäftigt (ist unter dem Titel „Corpus deliciti – Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten“ im April 2006 erschienen).
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nisierungen auf den Körper konzentrieren. Es zeigt sich, dass für diese Jugendlichen ihr Geschlecht zum Bestandteil der Schwierigkeit mit ihrer gesellschaftlichen Positionierung wird. Dies wird es aber nicht, weil sie entgegen, sondern weil sie entlang gesellschaftlicher Vorgaben agieren. Dabei geraten die Jugendlichen immer mehr an den Rand und schließlich ins gesellschaftliche Aus3.
1
Der Rahmen: Abarbeiten an hegemonialer Männlichkeit
In der Produktion von Geschlechterdiskursen ist die Betrachtung geschlechterpolitischer gesellschaftlicher Konzepte relevant. Ich arbeite in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der hegemonialen Männlichkeit4, womit ein vorherrschendes Konzept und eine Dynamik von Männlichkeit bezeichnet ist, mit der eine Gruppe auf Grund ihres Geschlechts und weiterer Merkmale die Führungsposition beansprucht und aufrecht erhält. „Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleisten soll.“ (Connell 2000: 98).
Dieses übergeordnete Konzept von Männlichkeit bedeutet zugleich auch die Existenz untergeordneter Formen. Hegemoniale Männlichkeit ermöglicht es, 3
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Ich wähle hier den Begriff des gesellschaftlichen Aus bewusst, denn die Biographien der Jugendlichen münden meist nicht nur in der Haft, die ja immer noch den Einschluss beinhaltet, sondern darüber hinaus in der Abschiebung. Diese ist – entgegen aller anderen Formen von Sanktion, die die Gesellschaft bereithält – eine tatsächliche Form des „Aus“. In einer Kette rassistischer Behandlungen ist sie Endpunkt und Ziel, in ihrem Kern stellt sie ein vormodernes Machtmittel dar, das man heute eigentlich überwunden glaubt. Gerade in ihr zeigt sich der Kern rassistischen Vorgehens. Foucault sieht die Funktion von Rassismus eben darin, den Tod innerhalb biopolitischer Macht zu verankern, deren Ziel es eigentlich ist, „leben zu machen“; die Abschiebung muss zwar nicht den physischen Tod bedeuten, kommt aber dem gesellschaftlichen gleich. „Im großen und ganzen sichert der Rassismus, denke ich, die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, dass der Tod der Anderen die biologische Selbst-Stärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist.“ (Foucault 2001: 305). Mit dieser Argumentation zeichnet er das „Aus“ als Funktion von Rassismus. Man kann dem natürlich entgegensetzen, dass für die späteren Lebenswege der Subjekte das einstige Innen, die Definition der Zugehörigkeit (trotz des Erlebens der sich steigernden Definition als anders, als anormal, als abweichend) weiterhin eine Rolle spielt und es nie ein wirkliches Außen geben kann. Man kann überlegen, ob sich an diesem Punkt die Möglichkeit für Widerstand bietet; die illegalisierte Rückkehr einiger Abgeschobener könnte dazu ein Anhaltspunkt sein. Für den v.a. der australische Männlichkeitsforscher Robert W. Connell steht, der sich dabei auf Antonio Gramscis Hegemoniekonzept bezieht.
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dass Männer nicht nur durch Differenzierung von Frauen, sondern auch innergeschlechtlich hierarchische Rangfolgen ausarbeiten, entlang der momentan akzeptierten Ideale weiß, heterosexuell, mächtig und beruflich erfolgreich. Wie Connell betont, ist Hegemonie bei Gramsci als dynamischer Begriff gedacht, meint keine starre Größe oder gar Charaktereigenschaft, ist vielmehr Orientierungsmuster. Hegemoniale Männlichkeit ist ein Ideal, an das sich Männer durch ihre Darstellung von Geschlecht immer wieder versuchen anzunähern. Sie bedarf der Zustimmung, die ständig hergestellt werden muss, die manchmal durch Zwang und Gewalt, meist aber durch Autorität erzeugt wird (vgl. Connell 2000: 98, Meuser 1998: 98). Auch die Definition eines „Anderen“ kann der Herstellung von Zustimmung zu den gewünschten Zielen dienen; man hebt sich durch die Betonung von Differenz vom Anderen ab, um sich der hegemonialen Dynamik zurechnen zu können. Bei den Jugendlichen als den „Anderen“ wird dies über die Konstruktion einer „abweichenden“ Geschlechtlichkeit forciert und legitimiert. In ihren Biographien zeigt sich, wie sich geschlechterpolitische mit rassistischen Diskursen verschränken.5 Konsequenz der Definition als „anders“ ist die Verweigerung der Teilhabe an hegemonialer Männlichkeit und damit auch an normativer Geschlechtlichkeit.6 Das bedeutet nicht nur den Ausschluss der Jugendlichen, sondern stellt zugleich eine Strategie dar, hegemoniale (Geschlechter)Konsense zu unterstützen. Genau an diesen Konsensen arbeiten sich die Jugendlichen immer wieder im Versuch der Teilhabe ab. Geschlecht wird umso wichtiger, je weniger andere Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen.
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Im Körper festgeschriebene Unterlegenheit
Bestimmte Erfahrungen sollen nicht zu Männlichkeit passen, eine davon ist das Opfersein. Deshalb ist die Opfererfahrung von Männern nur selten gesellschaftliches Thema, besonders sexualisierte Gewalt bleibt ausgeblendet. Migrantische
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Die vielfältigen Verschränkung von Rassismus und Geschlecht bei Migrantinnen belegt eine mittlerweile recht breite feministische Forschung; vgl. z.B. Gutiérrez Rodríguez 1999, Lutz 2002 sowie die Beiträge in Apitzsch/Jansen 2003, beiträge zur feministischen theorie und praxis 2003 und in Castro Varela/Clayton 2003. Damit möchte ich nicht die Problematik hegemonialer Konstrukte verdecken, sondern im Gegenteil ihre Durchschlagkraft und Bedeutung hervorheben; auch das Scheitern widerständischen Verhaltens dieser Jugendlichen bedeutet nicht per se, dass Widerstand in ihrer Lage zwecklos sei. Dieses Spannungsfeld kann aber im vorliegenden Text leider nur ungenügend bearbeitet werden, da es mir zunächst um die Rekonstruktion der zu Grunde liegenden Mechanismen geht.
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Jungen als Gewaltopfer verschwinden meist vollständig, werden überlagert von vielmehr täterbetonten Bildern. Einige der Biographen haben Opfererfahrungen durch mehrfache Formen von Gewalt, was es notwendig macht, ihre Konstruktionen von Geschlecht unter diesen Lebensbedingungen zu deuten. Wenn es um erlittene sexualisierte Gewalt geht, wird das besonders einleuchtend: Manchmal sind den Jugendlichen ihre diesbezüglich gemachten Erfahrungen nicht mehr zugänglich, oder sie möchten nicht darüber sprechen. Wenn sie doch davon erzählen, werden zwei Gefühle deutlich: Scham und die Schuldzuweisung an sich selbst. Die Teenager gehen damit unterschiedlich um: Während der eine in der Missbrauchserfahrung die Ursache seiner Kriminalität sieht, hütet sich ein anderer davor, über sie zu sprechen. Aber obwohl er nicht davon erzählen will, gelingt ihm das nicht immer. Das Thema wird noch brisanter, wenn die Jugendlichen Opfererfahrungen im pädosexuellen Milieu machen.7 Hier geht es nicht mehr um Unterordnung unter einzelne Männer, sondern sie bewegen sich in einem System, in dem sie den niedrigsten Rang einnehmen. Ihr Migrationshintergrund wird zum Katalysator für den Zugang zu einem Milieu, in dem erwachsene Männer ihr Wissen um die Situation der Jugendlichen anwenden. Besonders deutlich wird das beim sexualisierten Missbrauch eines Jugendlichen, dessen „Stiefvater“ gezielt eine Flüchtlingsfrau heiratet und ihre schwierige aufenthaltsrechtliche Lage missbraucht. Diese Männer bauen damit ihre Macht aus, knüpfen sexistische Diskurse an rassistische. Im pädosexuellen Milieu binden sie die Jungen dann in die von ihnen entworfene Dynamik ein. Werden die Jungen älter, können sie auch noch zu Mittätern gemacht werden; dies stellt zugleich sicher, dass sie keine Informationen gegen die Männer verwerten. Das Milieu wirkt als Beschleuniger für die kriminellen Karrieren der Jugendlichen, was dadurch bestätigt wird, dass sich ein Großteil der in Köln bekannten jugendlichen „Intensivtäter“ im pädosexuellen Milieu bewegt. Die Kriminalisierung dieser Jugendlichen führt dann auch noch zu ihrer „Entsorgung“ durch den Staat – durch Abschiebung. Man kann dieses Milieu als Verkörperung der gesellschaftlichen Situation betrachten, in der die Jugendlichen leben: Das, was sie tun, erleben sie als falsch, sie gehören auf die unterste Stufe einer Leiter, sie müssen sich anderen zur Verfügung stellen, um überhaupt einen Platz zu ergattern – zynischerweise gibt es aber hier immerhin einen. Sie können darüber weder sprechen noch die Gewalt anprangern, zu groß ist die Gefahr, dass sie dann noch mehr unter Druck geraten und auch, dass sie sich selbst damit dieses Platzes berauben. Die Möglichkeiten, 7
Während der Untersuchung mussten wir feststellen, dass wir es dabei nicht mit einem Einzelfall zu tun hatten, sondern dass mehrere der von uns befragten Jugendlichen Opfer wurden und dass ein pädosexuelles Milieu existierte, das sich stark auf Jugendliche mit Migrationshintergrund konzentrierte.
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ihr Selbstbild und Entwürfe ihres Geschlechts zu bearbeiten oder zu korrigieren, schrumpfen immer mehr zusammen. Im pädosexuellen Milieu finden alle Entwürfe von Geschlecht im Rahmen des gewalttätigen und hierarchischen Systems statt. So statten auch sie ihr Geschlecht mit Gewalt aus und versuchen damit zugleich, in der Hierarchie aufzurücken. Orte, um dies auszutragen, sind die jugendlichen Körper. Der Körper wird zum unterlegenen, zum penetrierten Objekt – eigentlich eine den Frauen kulturgeschichtlich zugeschriebene Position. Nun den jungen Männern zugewiesen, klopft sie deren Unterlegenheit fest. Andere Männer verfügen über ihren Körper und machen ihn sich gefügig. Damit dominieren sie mehr als nur die Körper; manchmal beherrscht das Milieu den gesamten Alltag der Jugendlichen, selbst noch in der Haft. Die Erfahrung wehrlos zu sein, manifestiert ihre Unterlegenheit als Mann. Aber je mehr der Körper der Jugendlichen in den Vordergrund tritt, desto mehr geraten ausdifferenzierte Konstruktionen von Geschlecht in den Hintergrund. Ihre unterlegene Position im System der Männlichkeiten ist schon fest verankert; indem sie verharren, stimmen sie zugleich der hegemonialen Konstruktion zu und stützen sie damit. Werden sie gewalttätig, kann das auch als Versuch der Jugendlichen interpretiert werden, ihr Geschlecht wieder ins Spiel zu bringen, sich selbst als männlich zu entwerfen und der bisherigen Konstellation ihre Zustimmung zu entziehen.
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Was heißt hier homosexuell? Im System der Zwangsheterosexualität
Solche Lebenssituationen haben auch Auswirkungen auf die Positionierung der Jugendlichen in dem übergeordneten Diskurs der Geschlechter, der sowohl die Zweigeschlechtlichkeit als auch heterosexuelle Sexualität zur Norm erhebt. Die Jugendlichen verbinden Homosexualität zwar nicht ausschließlich, aber oft eng mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Ob sie selbst homosexuell sind oder wie groß der „Anteil“ an Homosexualität in ihrer sexuellen Orientierung ist, ist eine Frage, mit der sie sich beschäftigen. Vor allem aber sind die Erzählungen eine Form der Auseinandersetzung mit ihrer Positionierung als Mann, in deren Mittelpunkt Machtverhältnisse stehen. Die Erfahrung der Abweichung von der heterosexuellen Norm forciert das Bedürfnis der Jugendlichen, die geschlechtliche Ordnung für sich und die anderen zu rekonstruieren, um sich darin konform zu zeigen. Junge Männer dürfen nicht homosexuell sein, denn das widerspräche sowohl gesellschaftlichen Regulierungen als auch ihren eigenen Erfahrungen. Ein Jugendlicher mit sexualisierten Gewalterfahrungen ist im Interview beispielsweise ständig bestrebt, sich eindeutig der Kategorie „heterosexuell“ zuzurechnen. Er erzählt von einem ho-
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mosexuellen Mann, den er verprügelt habe, und mit dem er danach Mitleid hatte, weil er anders sei als „wir“, also auch als er selbst. Die Auseinandersetzung des Jugendlichen mit Homosexualität zeigt, dass er um eine „intelligible“ Geschlechtsidentität kämpft. Dahinter verbirgt sich die common-sense-Vorstellung, dass das anatomische Geschlecht, die Geschlechtsidentität und dazu gehörende sexuelle Praxen und Wünsche kohärent seien und Kontinuität stiftend (vgl. Butler 1991: 38).8 Es wird angenommen, dass die „innere Einheit“ für die Identität von Frau und Mann unerlässlich sei. Butler analysiert dies als ein von der institutionalisierten Heterosexualität getragenes Konstrukt. Es verbindet sex, gender und Begehren so miteinander, dass die Binarität von Mann und Frau, Heterosexualität und heterosexuelles Begehren selbstverständlich werden, damit Zustimmung sichern und so das System aufrechterhalten. Den interviewten Jugendlichen mit Missbrauchserfahrung stellt sich die Frage, wie sie eine solche der Norm entsprechende geschlechtliche Identität konstituieren können. Sie sind mit divergierenden Erfahrungen konfrontiert und wissen zugleich um ihre Abweichung von der gesellschaftlichen Norm. In Anlehnung an Butler (1991: 38ff) kann formuliert werden, dass die Regulierungsverfahren der Geschlechterausbildung und -trennung die innere Zerrissenheit von Jugendlichen, denen eine einheitliche Geschlechtsidentität „fehlt“, konstituieren. In dem Sinne, wie Kohärenz und Kontinuität keine ontologischen Merkmale sind, so können auch Nicht-Kohärenz und Nicht-Kontinuität nicht dem „Wesen“ der Jugendlichen zugerechnet werden. Sie sind vielmehr Ausdruck gesellschaftlicher Vorgaben und der Verarbeitung ihrer Erfahrungen, ihrer momentanen Lebenssituation in diesem Kontext. Macht lässt sich in Zusammenhang mit Homosexualität schon durch bloßen „Verdacht“ herstellen. Wenn andere Männer sie „verdächtigen“, „schwul“ zu sein, dann versagen sie den Jugendlichen die „heterosexuelle Normalität“, mit der diese selbst ringen. Und innerlich lassen ihre eigenen Erfahrungen des Missbrauchs sie daran zweifeln, ob sie denn wirklich heterosexuell sind, oder ob es nicht eine innere, „tatsächliche“, aber ihnen verborgene Homosexualität ist, die andere Männer dazu bringt, sie als homosexuell einzuordnen.
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Die besondere Wendung, die der Geschlechtsidentität inhärent ist, beschreibt Butler: „Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d.h. sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, dass es der Tat vorangeht. (...) Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität gerade performativ durch diese ‚Äußerungen‘ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind.“ (Butler 1991: 49, Hervorh. i. Orig.)
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Der Körper als Ausweg
Aus einem Konglomerat der Ebenen, auf denen den Jugendlichen anerkannte Männlichkeit verweigert wird9, suchen sie Auswege – einer davon ist, ihre Männlichkeit gewalttätig auszustatten. Ihnen bleiben nur wenige Ressourcen und in ihrem Alltag ist Gewalt an der Tagesordnung. Sie üben Gewalt in Cliquen aus, die als Männerbünde Geschlecht und migrantische oder stadtteilbezogene Herkunft zum konstitutiven Merkmal der Zugehörigkeit definieren. Gewalttätige Männlichkeit können die Jugendlichen hier gemeinsam ausleben, obwohl und gerade weil sie verboten ist. Sie führen ihre Auseinandersetzungen gegen Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit und staatlicher Macht, gegen Gegner wie beispielsweise die Polizei. Damit versuchen sie, sich überlegener Männlichkeit anzunähern, entfernen sich aber immer mehr davon. Ihre unterworfene Männlichkeit verkehren sie in Gewalt, körperliche Auseinandersetzungen sind ihr einziges Mittel. Das reicht aber gegen diesen Gegner nicht aus und prädestiniert sie, zu verlieren. Auf Nebenpfaden zeigt sich die individuelle Suche nach anderen Formen von Geschlecht, und damit nach Auswegen aus der Versagung anerkannter Formen von Männlichkeit. Die Jugendlichen platzieren Männlichkeit da, wo die Institutionen Lücken lassen. Sie grenzen sich von Formen gesellschaftlich untergeordneter Männlichkeit ab, was deutlich wird in der Ablehnung von Homosexualität. Auch zum weiblichen Geschlecht stellen sie Bezüge her: Sie konstruieren Überlegenheit, indem sie Weiblichkeit mal abwerten, mal Formen von Beziehungen favorisieren, die ihnen männliche Normalität und damit anerkannte Männlichkeit verschaffen könnten. Diese „privaten“ Versuche reichen jedoch nicht aus, einen Platz in der Gesellschaft zu erlangen. Vielmehr holen männliche Milieus oder Institutionen sie ein und weisen ihnen wieder ihre untergeordnete Stellung zu, worauf die Jugendlichen reagieren müssen. Tun sie das mit Gewalt, so ist das die ihnen mögliche Antwort auf Ausschluss und Unterordnung, verstärkt diese aber, denn sie ist gesellschaftlich nicht erlaubt. Erneut handeln sie sich den Vorwurf ein, ihre Männlichkeit nicht im Griff zu haben und damit zur Gefahr zu werden; Grund genug, sie aus- oder wegzuschließen. Auch eine scheinbar übertriebene Form der Darstellung von Körperlichkeit in hypermaskuliner Form ist Folge der Ausbeutung dieser letzten Ressource. Mit ihrer Hilfe versuchen sie Strategien für die Zukunftsgestaltung zu entwickeln. Die Kontexte, die ihnen zum Handeln bleiben, werden immer mehr eingeschränkt, so dass körperliche Macht zu einer der letzten verbleibenden Kräfte 9
Dazu gehören beispielsweise Schule und weitere Institutionen, berufliche Aussichten, die Position ihrer Familien, mediale Diskurse über männliche Migrantenjugendliche etc.
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wird (vgl. Kaufman 2001: 152). Wenn die „männliche“ Ausstattung des Körpers zur Notwendigkeit wird, weil sie die einzige Perspektive ist, dann hat dies Konsequenzen: Die Jugendlichen müssen mit diesem Körper arbeiten und ihn bearbeiten, wodurch er zur Gefahr für andere wird. Die nehmen ihn auch dann als Bedrohung wahr, wenn er nicht als solche eingesetzt wird. Die Betonung des Körpers verleiht den Jugendlichen den Anschein von unkontrollierbarer Stärke und einem archaischen Verhalten, dessen Männlichkeit diese Gesellschaft längst überwunden glaubt; er wird zum „demonstrativen Geschlechtszeichen“ (Meuser 1999: 31). Nicht nur für die Jugendlichen selbst wird ihr Körper immer wichtiger, nicht nur sie greifen auf ihn zurück und überschreiten in ihren Gewalttätigkeiten die körperlichen Grenzen von anderen. Vor allem durch die oben beschriebenen Formen sexualisierter Gewalt erfahren sie von außen eine Entgrenzung und eine Überschreitung ihrer Körpergrenzen, die sie zugleich begrenzt. Diese Erfahrung geschieht zu einer Zeit, in der die Gesellschaft die Definition ihres Körpers als geschlechtlich vorantreibt, nämlich kurz vor und in der Pubertät, die den Körper dann „geschlechtsreif“ macht. In dieser Zeit greifen die anderen auf den Körper zu und tun ihm Gewalt an, produzieren damit hegemoniale Männlichkeit und legen im Gegenzug die Jugendlichen auf subordinierte Männlichkeit fest, die sich in deren Körper einschreibt. Die jugendlichen Körper erfahren von außen und dann auch von innen die Zuweisung einer reduzierten Bedeutung. Aber nicht nur sie, auch die Jugendlichen als Personen mit Geschichten werden nicht mehr wahrgenommen, sind nur noch als Defizitträger interessant, immer mit Blick auf das, was an ihnen anders und anormal ist, was ihnen fehlt, was sie falsch gemacht haben. Ihre Männlichkeit wird auf wenige und ausschließlich negative Attribute reduziert: „gewalttätig“, „aggressiv“, „unproduktiv“ und reichlich „verantwortungslos“. Auch wenn für die Jugendlichen ihre Geschlechtskonstruktionen durchaus mit gesellschaftlich legitimierten Männlichkeitskonstruktionen korrespondieren und zu vereinbaren sind, und auch wenn ihre Deutung innerhalb dessen liegt, was sie von der Gesellschaft kennen und was sie für sie bedeutet (und dazu gehören Gewalterfahrungen), so steht das Urteil der gesellschaftlichen Zuschreibungen fest: Diese Jugendlichen bewegen sich nicht im Rahmen des Legitimen und können somit keine Verantwortung für sich übernehmen. Deshalb wird die Haft für sie auch zum endlich „richtigen“ Ort, denn hier müssen und dürfen sie keine Verantwortung übernehmen.
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Konsequenzen der „Verantwortungslosigkeit“
Die Haft kennzeichnet den Endpunkt marginalisierter Männlichkeit. Ordnungen von über- und unterlegener Männlichkeit scheinen unverrückbar. Eigene Ausformulierungen von Geschlecht werden immer belangloser, Aufbegehren macht immer weniger Sinn.10 Wenn selbst das Geschlecht nicht mehr wichtig sein darf, führt das in letzter Konsequenz zur Ent-Männlichung, manifestiert in der Abschiebung, die das Individuum entfernt. Was sich hier zeigt, ist der völlige Entzug von Eigenverantwortung und Selbstbestimmung, Begriffe, die immer wichtiger für den Alltag werden, sind sie es doch, die die Instrumentarien charakterisieren, derer das Individuum im Neoliberalismus bedarf. Foucault erfasst solche Formen als Regierungsinstrumentarium, die über Formen der Disziplinierung hinaus und auf andere Machtformen verweisen, in deren Zentrum die Subjektivität steht. Prozesse der Subjektivierung kennzeichnen die Mechanismen gouvernementaler Führung (vgl. Foucault 2000: 53ff). Sie vermitteln zwischen der Macht und der Subjektivität durch Selbsttechnologien, die ein Teil der Herrschaftstechniken sind (vgl. Lemke et al. 2000: 8). Sie ermöglichen dem Individuum, sich selbst, mit seinem Körper und seinen Lebensformen funktional zu halten; das Subjekt internalisiert die Regeln so, dass es sich selber lenkt. Subjektivität muss nun nicht unterdrückt werden – im Gegenteil, sie wird unabdingbar. Wichtig ist dabei, dass die „richtigen“ Selbsttechnologien entwickelt werden, also diejenigen, die zur Erfüllung der Regierungsziele dienen (vgl. Lemke et al. 2000: 27ff).11 Durch den Entzug von Eigenverantwortung wird an den Jugendlichen einmal mehr „der Andere“ als Gegenbild kreiert, der, dem diese Verantwortungsübernahme eben nicht zuzutrauen ist. Es manifestiert sich eine Form des Ausschlusses, gegen den die Jugendlichen schon vorher kämpfen; exekutiert wird er dann in der Abschiebung. Zudem erlangt der Begriff der Selbstverantwortung dadurch an 10
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Was nicht bedeutet, dass sie es deshalb nicht tun würden, sei es in Form von Cliquen, die sich bilden oder individueller Widerstände, z.B. Neuankömmlinge in das Funktionieren des Systems sowie seines „Unterlebens“ (Goffman) einzuweihen, ihnen Hilfe oder Schutz des Älteren anzubieten usw. Diese Form von Macht ist keineswegs weniger problematisch als andere zuvor, im Gegenteil: Die Subjektivierung bedeutet nicht, dass Unterwerfung oder Unterdrückung beseitigt wären. Zudem ist das neue Verhältnis von Macht und Subjekt trotz des Terminus der Selbstverantwortung nicht mit Freiheit des Subjekts gleichsetzen; im Gegenteil macht genau das widersprüchliche Spannungsfeld der Verhaftetheit zwischen Zwang und Wille zur Selbstverantwortung, zwischen Eigeninitiative und neuen Zumutungen den Kern der Problematik aus (vgl. z.B. Langemeyer 2004: 70). Haug (2005: 134) sieht in dem Diskurs um Selbstverantwortung beispielsweise ein Mittel, Kohärenz in eigentlich brüchige und ungleichzeitige Geschlechterverhältnisse zu bringen.
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Aufwertung: Er dient zur Unterscheidung derer, die zur Übernahme dieser Selbstverantwortung nicht in der Lage waren und daher offensichtlich gesellschaftlich versagt haben (denn sonst wären sie nicht im Gefängnis) von denen, die eben in der Lage sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Diese simple Binarität überdeckt das Spannungsfeld von Selbstverantwortung und Zumutung, indem die Gesellschaft sich alltäglich bewegt.
Literatur Apitzsch, Ursula/Jansen, Mechtild M. (Hrsg.) (2003): Migration, Biographie und Geschlechterverhältnisse. Münster. Aslan, Hakan (2003): Ehre und hohle Männlichkeit. In: die tageszeitung vom 10.02.2003. beiträge zur feministischen theorie und praxis (2003): Wenn Heimat global wird. Heft 63/64. Bukow, Wolf-Dietrich/Jünschke, Klaus/Spindler, Susanne/Tekin, Ugur (2003): Ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben. Migration und Jugendkriminalität. Opladen. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main. Castro Varela, María do Mar/Clayton, Dimitria (2003): Migration, Gender, Arbeitsmarkt. Neue Beiträge zu Frauen und Globalisierung. Königstein/Taunus. Connell, Robert W. (2000²): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Opladen. Döge, Peter (2000): Geschlechterdemokratie als Männlichkeitskritik. Männerforschung, Männerpolitik und der „neue Mann“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. 28. Juli, 31/32, S. 18-23. Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main, S. 41-67. Foucault, Michel (2001): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76. Frankfurt am Main. Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (1999): Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung. Opladen. Haug, Frigga (2005): Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. In: Kaindl, Christina (Hrsg): Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Eine Einführung in Wissenschafts-, Ideologie- und Gesellschaftskritik. Marburg, S. 124-140. Kaufman, Michael (2001³): Die Konstruktion von Männlichkeit und die Triade männlicher Gewalt. In: BauSteineMänner (Hrsg.): Kritische Männerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Hamburg, S. 138-171. Langemeyer, Ines (2004): Subjektivität und kollektive Erfahrung. Subjektivierung als Machtinstrument im Produktionsprozess. In: Widerspruch. Marktregime und Subjekt im Neoliberalismus. 23. Jg., Heft 46, S. 65-78. Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich (2000): Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie. Eine Einleitung. In: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt am Main, S. 7-40.
Rassismus, Männlichkeit und „andere“ Körper
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Die Skandalisierung von Differenzen
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Die Skandalisierung von Differenzen. Das Beispiel ethnisierter Jugendgewalt Die Skandalisierung von Differenzen
Christoph Liell 1
Die Skandalisierung von Gewalt und Kultur
Gewalt gilt nicht selten als finaler Ausdruck und zwangsläufige Folge problematisch empfundener kultureller Differenz. „Krieg in den Städten“, „Gefährlich fremd. Zeitbomben in den Vorstädten“ lauten etwa die Buch- und ZeitschriftenTitel, und spätestens nach Veröffentlichung der jeweils aktuellen Kriminalstatistiken setzen die Diskussionen um einen überproportional hohen Anteil junger Nicht-Deutscher an den Straftäter(inne)n ein. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre gilt die Gewaltkriminalität Jugendlicher mit Migrationshintergrund als Beleg dafür, dass die Integration von Migran(inn)en der zweiten und insbesondere dritten Generation gescheitert sei. Kulturelle Differenz und Gewalt verdichten sich in diesen, periodisch immer wieder neu aufflammenden Diskussionen zu einem Bedrohungsszenario, in dem die Gesellschaft auseinander zu brechen und zu zerfallen droht. Solche Dramatisierungen ethnisierter Jugendgewalt stützen sich dabei nicht nur auf journalistische Quellen, sondern auch auf sozialwissenschaftliche Studien, die beabsichtigt oder nicht, rege Wechselwirkungen mit den Medien entfalten können. Das zeigen manche Arbeiten des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung oder des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Dramatisierungen ethnisierter Jugendgewalt sind meist eingebettet in umfangreichere Gesellschafts- und Zeitdiagnosen entlang von Begriffen wie Anomie, Desintegration oder Kulturkonflikt. Allen drei eigentlich unterschiedlichen Konzepten gemeinsam ist eine spezifische Vorstellung von Kultur. Kulturen erscheinen dabei, offenbar nach dem Vorbild nationalstaatlicher Ordnung, als nach außen hin abgeschlossene und im Inneren homogene Einheiten. Differenzen zwischen zwei oder mehr Kulturen sind immer schon als größer unterstellt, als Differenzen innerhalb je einer dieser Einheiten. Als spezifisches und kohärentes Muster von Werten und Normen wird Kultur die Funktion zugeschrieben, gesellschaftliche Integration zu garantieren. Kulturelle Muster schreiben sich dieser
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Vorstellung zufolge während der Sozialisation den Akteurinnen und Akteuren ein und regulieren ihr Handeln als nahezu unentrinnbares, determinierendes Programm. Fast zwangsläufig erscheinen dann Migration und kulturelle Differenz per se als problematisch, denn sie bewirken eine Auflösung „kultureller Selbstverständlichkeiten“, sowohl auf Seiten der Einheimischen als auch der Zugewanderten. Dass kulturelle Zugehörigkeit als exklusiv, als eine Frage von Entweder-Oder gedacht wird, manifestiert sich schon in der Art, wie die Fragebögen solcher Forschungen formuliert sind. So haben die befragten Jugendlichen türkischer Staatsangehörigkeit in einer bekannten Studie genau folgende zwei Aussagen zur Verfügung, um ihr Lebensgefühl auszudrücken: „Ich fühle mich in Deutschland unter Deutschen wohler als unter Türken.“ und „Ich fühle mich in Deutschland unter Türken wohler als unter Deutschen“. Von vornherein wird damit die Möglichkeit einer ambivalenteren Art der Zugehörigkeit schon durch die Fragestellung ausgeschlossen. Eine solche Vorstellung von Kultur als homogene, statische Einheit kann Migration, Differenz und Pluralität kaum anders als Konflikt begreifen und diesen wiederum nur als destruktiv, gewaltförmig zugespitzt. So mündet die Diagnose von Anomie und Desintegration in eine skandalisierende Rhetorik des Kulturkonflikts. Integration kann auf diese Weise nur als Anpassung des Fremden an das Eigene, als Abschleifen von Differenzen gedacht werden. Dieser kulturpessimistische Blick auf die eigene Gesellschaft, der jede Art von sozialem Wandel und Pluralität nur als Gefahr für Ordnung, Stabilität und Zusammenhalt einer Gesellschaft in den Blick bekommen kann, wird nicht selten durch die Pathologisierung der anderen, fremden Kultur ergänzt. Beispiele dafür bilden etwa Behauptungen, die Gewalt nichtdeutscher Jugendlicher sei auf die Gewaltaffinität ihrer Herkunftskultur zurückzuführen, wie etwa in Heitmeyers Fundamentalismusstudie (1997): Bei der höheren Gewaltbereitschaft Jugendlicher türkischer Staatsangehörigkeit „ist zu vermuten, dass v.a. bei den männlichen Jugendlichen kulturbedingte Sozialisations- und Erziehungsbedingungen zu Buche schlagen, die nicht zuletzt mit traditionalen Geschlechtsrollenzuschreibungen auch hinsichtlich der Duldung bzw. sogar Forderung der Ausübung körperlicher Gewalt verknüpft sind.“
Türkische Kultur erscheint in dieser Perspektive nicht nur als traditional, sondern enthält scheinbar auch die Forderung zur Ausübung körperlicher Gewalt. Alle drei hier skizzierten Arten des Umgangs mit Kultur und kultureller Differenz, also Anomie, Desintegration und die Behauptung einer besonderen Gewaltaffinität der anderen Kultur, beruhen auf denselben essentialistischen Vorstellungen von Kultur, die eine Dramatisierung und Skandalisierung kultureller Differenz nahe legen. Nicht zuletzt werden auch alle drei Ansätze gleichzeitig
Die Skandalisierung von Differenzen
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verwendet, wie etwa Heitmeyers Arbeiten zeigen. Übersehen wird dabei, dass diese drei Perspektiven auf völlig unterschiedlichen Problemdiagnosen beruhen, was zu logischen Erklärungsproblemen führt: Während Desintegrationskonzepte den Schwund allgemein verbindlicher kultureller Werte und sozialer Bindungen beklagen, gehen Anomietheorien davon aus, dass die übergreifenden Werte einer Gesellschaft und ihre Geltung gerade intakt sind. Lediglich auf der Ebene von Normen als Regeln zur Verwirklichung dieser Werte kommt es durch sozialstrukturelle Ungleichheiten zu Abweichungen, weil diejenigen, denen die Ressourcen zur Erreichung dieser Werte fehlen, zu illegitimen und illegalen Mitteln greifen. Die Behauptung einer besonderen Gewaltaffinität etwa der türkischen Kultur kehrt nun die Logik dieser beiden ersten Erklärungen um: Plötzlich werden im Gegensatz zu den kulturpessimistischen Perspektiven von Anomie und Desintegration kulturelle Normen und Werte als zu dauerhaft, stabil und wirksam diagnostiziert. Wie man aber das Gewalthandeln nichtdeutscher Jugendlicher aus dem Fehlen kultureller Selbstverständlichkeiten und zugleich aus der andauernden Wirksamkeit einer türkischen Kultur der Gewaltsamkeit erklären kann, ohne in logische Probleme zu geraten, bleibt offen. Aber auch wenn man sich vor der Vermischung dieser drei Diagnosen hütet, bleibt neben einem verkürzten Verständnis von Kultur und kultureller Differenz ein weiteres Erklärungsproblem bestehen: Denn aus den pauschalisierenden Annahmen über allgemein geteilte Normen und Werte sowie allgemeine Prozesse sozialen Wandels folgt, dass stets ein weitaus größerer Teil der Befragten das Ursachenmerkmal für Gewalt trägt im Vergleich zur Minderheit derer, die tatsächlich Gewalt ausüben. Während Desintegration, Anomie und Fundamentalismus in solchen repräsentativen Studien bei bis zu zwei Dritteln aller Befragten anzutreffen ist, erweisen sich selten mehr als ein Zehntel der Befragten in Gewalthandeln verstrickt. Dass damit die Erklärung unscharf und beliebig gerät, wird durch eine dramatisierende Rhetorik der Latenz überdeckt. Der zufolge übe die Mehrheit der Jugendlichen noch nicht Gewalt aus, sei aber gleichsam auf dem Wege dazu – ohne dass diese Vermutung empirisch plausibel gemacht wird. Skandalisierungen ethnisierter Jugendgewalt beruhen aber nicht nur auf einem problematisch verkürzten Verständnis von Kultur, sondern speisen sich auch aus dem dramatisierenden Potential des Gewaltbegriffs und seiner eigentümlichen Struktur. Während sich einerseits moderne Gesellschaften als nach innen gewaltfrei verstehen und dies seit der frühen Neuzeit zum zentralen Bestandteil ihres Selbstverständnisses gehört, wird Gewalt seit dieser Zeit zu einem zentralen Thema sozialer und politischer Bewegungen. Von der Aufklärung über die Arbeiterbewegung, Frauen-, Bürgerrechts- und Ökologiebewegung war und ist es eine wesentliche Strategie, die herrschenden, kritisierten Verhältnisse als
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Gewaltverhältnisse zu entziffern und zu skandalisieren. Dies hat zwei manifeste Folgen für den Umgang moderner Gesellschaften mit Gewalt: Erstens erfährt der Gewaltbegriff dadurch eine Verschiebung und Ausweitung seines Begriffsgehaltes. Physische Gewalt, psychische Gewalt, Gewalt gegen Sachen, strukturelle Gewalt, mediale Gewalt und viele ähnliche Begriffe deuten die Bandbreite auf der konzeptuellen Ebene an. Aber auch auf der phänomenalen Ebene lässt sich leicht erkennen, wie soziale Bewegungen und sozialer Wandel unser Verständnis von Gewalt stetig ändern: Betrachtet man etwa familiale Gewalt, so ist offensichtlich, dass es erst sozialer Bewegungen (in diesem Falle vor allem der Frauenbewegung) bedurfte, damit etwa Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in der Ehe als Unrecht gesellschaftlich benennbar, für die Opfer als illegitime Gewalt überhaupt artikulierbar und schließlich in jüngerer Zeit strafrechtlich sanktionierbar wurde. Was als Gewalt gilt, ist also alles andere als eine objektive Größe, sondern in hohem Maße sozialem und kulturellem Wandel unterworfen, bzw. selbst gerade Gegenstand politischer und sozialer Auseinandersetzungen und nicht ein neutral benennbares Phänomen. Zweitens folgt aus dem Umstand, dass Gesellschaftskritik fast immer als Gewaltkritik auftritt, die Entdeckung immer neuer, bis dahin unsichtbarer oder verdeckter Formen von Gewalt. Während diese Prozesse durchaus einer Sensibilisierung gegenüber Gewalt entsprechen, führen sie auch dazu, dass sich eine eigentlich in ihrem Inneren als gewaltfrei verstehende Gesellschaft mit der Wahrnehmung von immer mehr und immer neuer Gewalt konfrontiert sieht. Verstärkt wird dieser Eindruck nicht zuletzt dadurch, dass vor dem Hintergrund des staatlichen Gewaltmonopols auf die Skandalisierung von Gewalt vor allem mit Praktiken und Diskursen der Repression und Ordnung reagiert wird. Dass solche inneren Aufrüstungen aber nicht zwangsläufig zur Minderung von Gewalt führen, ist offensichtlich, verleiht der Wahrnehmung von immer mehr Gewalt jedoch weitere Plausibilität. Diese Gemengelage birgt nicht nur ein großes Potential für Skandalisierungen mithilfe des Gewaltbegriffs, sie führt auch zu methodischen Schwierigkeiten bei der sozialwissenschaftlichen Analyse von Gewalt: Aus dem ersten Aspekt, dem ständig sich wandelnden und umkämpften Gehalt des Gewaltbegriffs, ergeben sich manifeste Schwierigkeiten insbesondere für Gewaltstudien, die als standardisierte, repräsentative Untersuchungen angelegt sind. „Haben Sie in den letzten 12 Monaten absichtlich gegenüber anderen körperliche Gewalt ausgeübt?“ ist eine der Standardfragen zu eigenem Gewalthandeln in solchen Umfragen. Was die Befragten aber jeweils unter „körperlicher Gewalt“ verstehen, wird als völlig transparent vorausgesetzt, obwohl dies alles andere als ein objektiver Begriff ist. Die Ohrfeige dem jüngeren Geschwister gegenüber, die Rauferei mit blauen Flecken auf dem Schulhof, die Drohung mit einer Waffe ohne Verlet-
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zung, die Selbstverteidigung gegen einen Angriff, das ritualisierte Aufeinandertreffen zweier gewaltaffiner Jugendgruppen, die Menschenjagd einer Gruppe auf Einzelne, der Brandanschlag, Mord – alle diese Beispiele können mit guten Gründen als Gewalt gelten. Ob und welche aber davon auch für die Befragten als „körperliche Gewalt“ gelten, ist ebenso ungeklärt, wie die völlig unterschiedlichen Kontexte dieser Beispiele. Der zweite Aspekt, der sich aus der eigentümlichen Struktur des Gewaltbegriffs ergibt und Gewaltanalysen in Schwierigkeiten bringt, betrifft die Tendenz zur Wahrnehmung von immer mehr Gewalt. Nicht zuletzt weil in den Befragungen der Anteil der GewaltTäter(inne)n relativ gering ist, besteht in sozialwissenschaftlichen Analysen häufig die Tendenz, von Gewalthandeln abzusehen und gewaltaffine Einstellungen zu fokussieren. Da sich stets ein wesentlich größerer Anteil von Befragten zu gewaltbefürwortenden oder gewaltakzeptierenden Äußerungen als zu eigenem Gewalthandeln bekennt, lassen sich dann die bereits erwähnten Rhetoriken der Latenz anschließen. Denen zufolge ist die Zustimmung zu gewaltaffinen Äußerungen, die je nach Formulierung der Fragen bis zu zwei Drittel der Stichprobe aufweist, nur ein kurzer Schritt vor dem eigentlichen Gewalthandeln. Einen solch engen Zusammenhang zwischen gewaltaffinen Einstellungen und Gewalthandeln theoretisch und empirisch plausibel zu machen, bleiben die Studien aber schuldig. Skandalisierungen ethnisierter Jugendgewalt beruhen also auf zwei Fundamenten: einerseits einem eng geführten Konzept von Kultur als statischer, homogener Einheit und andererseits der Eigendynamik des Gewaltbegriffs, sich auszuweiten und immer neue Gebiete zu erschließen. So effektiv diese Dramatisierungen sein mögen, um sozialpolitischen Handlungsbedarf unmissverständlich nahe zu legen, so schnell münden diese Skandalisierungen in Ausgrenzung und Repression. Ihr analytischer Nutzen, sei es in Bezug auf kulturelle Differenz und Pluralität oder in Bezug auf Gewalt, bleibt in jedem Fall gering. Wie sehen aber nun Gegenpositionen und -strategien aus, die das Phänomen ethnisierter Jugendgewalt dem skandalisierenden Zugriff zu entziehen versuchen?
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Dekonstruktion und Rekonstruktion kultureller Differenzen
Im Folgenden will ich zwei verschiedene Positionen unterscheiden, die gegen die Skandalisierung kultureller Differenz antreten. Der ersten Perspektive, in einem eher losen Sinne im Folgenden Dekonstruktion genannt, geht es um das kritische Hinterfragen der Behauptungen, die hinter Skandalisierungen kultureller Differenz stehen. So werden der essentialistische Kulturbegriff und rigide Vorstellun-
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gen homogener, normativer Integration schon seit der symbolisch-interaktionistischen Kritik am Strukturfunktionalismus in Frage gestellt und erneut im Gefolge poststrukturalistischer Theorien einer radikalen Kritik unterworfen. Phänomene wie Kultur, Fremdheit, Ethnizität, aber auch Devianz und Gewalt erscheinen nun nicht mehr als objektive Fakten. Vielmehr wird deutlich, wie machtvermittelte kulturelle Deutungsmuster diese Phänomene durch Etikettierungs- und Stigmatisierungsprozesse, Kontrollpraktiken und Ausgrenzungsdiskurse erst konstituieren. Diese Konstruktionsprozesse werden durch die Kritik ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet und als voraussetzungsvolle Zuschreibungen entlarvt, die vor allem politische Funktionen besitzen. Beim Thema ethnisierter Jugendgewalt und sog. „Ausländerkriminalität“ bilden seit langem entsprechend vorschnelle, skandalisierende Interpretationen der Polizeilichen Kriminalstatistik einen Fokus der Kritik, schließlich nährt der dort ausgewiesene überproportional hohe Anteil Nicht-Deutscher an den Strafund Gewalttäter(inne)n immer wieder aufs Neue das Bild des „kriminellen Ausländers“. Schon seit den 1960er Jahren wird jedoch darauf hingewiesen, dass Kriminalstatistiken nicht einfach objektive Fakten zu Häufigkeit und Strukturen von Straftaten und Straftäter(inne)n liefern, sondern zugleich wesentlich durch die veränderliche Ermittlungsintensität der Strafverfolgungsbehörden und durch das ebenfalls variable Anzeigeverhalten der Bevölkerung beeinflusst sind. So konnten etwa Mansel und Albrecht (2003) in einer jüngeren Studie zeigen, dass Nicht-Deutsche in ähnlichen Konfliktsituationen wesentlich häufiger als Deutsche durch Opfer bzw. Zeug(inn)en angezeigt werden. Da die Kriminalstatistik aber eine Tatverdächtigenstatistik ist, kann so der überproportional hohe Anteil Nicht-Deutscher an den Tatverdächtigen erklärt und zugleich relativiert werden. Typisch für diese hier als Dekonstruktion bezeichnete Perspektive ist der häufig entlarvende, ideologiekritische Gestus, mit dem Skandalisierungen kultureller Differenz und Gewalt kritisiert werden. So treffend sowohl die stärker empirisch orientierten als auch die kulturkritisch geprägten Arbeiten zumeist sind, so ergeben sich dennoch Probleme aus dieser kritischen Perspektive. Denn die Akteurinnen und Akteure, in unserem Kontext kriminalisierte Jugendliche, tauchen in diesen Arbeiten nur als Opfer meist institutionell vermittelter Kontroll- und Ausgrenzungsprozesse auf. Das Handeln, die Deutungsmuster, Erfahrungen und sozialen Kontexte der Akteurinnen und Akteure bleiben ausgeblendet, die Jugendlichen scheinen von äußerlichen Kräften, wie etwa Ordnungsdiskursen und Marginalisierung, determiniert zu werden. Trotz völlig konträrer Stoßrichtung ergeben sich an diesem Punkt Ähnlichkeiten zwischen Skandalisierungen von Gewalt und kultureller Differenz einerseits und der daran ansetzenden Kritik als Dekonstruktion andererseits. Werden die Akteurinnen und Akteure in der skandalisierenden Perspektive vor allem als Opfer von makro-
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strukturellen Prozessen wie sozialstruktureller Lage oder kultureller Imprägnierung dargestellt, so erscheinen die Jugendlichen in der kritischen Perspektive der Dekonstruktion ebenso determiniert, wenn auch durch andere Wirkkräfte wie etwa Stigmatisierungen und Ausgrenzungspraktiken. Damit wird aber das eigentliche Phänomen, also ethnisierte Jugendgewalt, aus der Analyse ausgeblendet, und es entsteht schnell der Verdacht einer Verharmlosung oder gar Leugnung des ganzen Phänomens. So wichtig also die Dekonstruktion von Mythen, Skandalisierungen und Dramatisierungen bei diesem Phänomen ist, so wenig reicht diese Perspektive für eine umfassende Analyse aus. Die zweite Position, die Skandalisierungen kultureller Differenz entgegentritt, widmet sich dementsprechend einer Rekonstruktion von Praktiken und Diskursen der Marginalisierten und Ausgeschlossenen. Die kulturellen Artikulationen von Migrant(inn)en und Minderheiten werden als erfolgreiche, widerständige Bewältigungen eines durch Rassismus und Exklusion geprägten Alltags interpretiert. Wichtige Impulse dafür liefern die Postcolonial Studies mit Begriffen wie Hybridität und Diaspora. In Deutschland gelangen so Phänomene wie Turkish Hip-Hop oder subkulturelle Sprachcodes von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den Blick. Der Verdienst dieser Arbeiten liegt darin, auf der Basis einer Dekonstruktion von Skandalisierungen kultureller Differenz die Analyse weiter zu treiben und die Diskurse und Praktiken der betroffenen Akteurinnen und Akteure zu rekonstruieren. Kultur wird nicht nur als Produkt von Zuschreibungen und Konstruktionen entlarvt, sondern es wird gezeigt, wie kulturelle Zugehörigkeiten durch handlungsfähige Akteurinnen und Akteure in komplexen Prozessen der Selbst- und Fremdrepräsentation reproduziert werden. Die Grenzen von Kulturen, die skandalisierende Konzepte kultureller Differenz als undurchlässig annehmen, erweisen sich dabei im Alltag immer schon als transzendiert und durchlässig. Problematisch wird diese Perspektive der Rekonstruktion dort, wo aus der Betonung der Selbstermächtigung und Kreativität der Akteurinnen und Akteure eine Interpretationshaltung erwächst, die beinahe alle Lebensäußerungen der Betroffenen als Widerstand gegen eine rassistische und marginalisierende Umwelt deutet und emphatisch stilisiert. Dies mag daran liegen, dass der empirische Untersuchungsgegenstand in den meisten Fällen aus kulturellen bzw. subkulturellen Eliten besteht – etwa bei Analysen des Turkish Hip-Hop häufig überregional erfolgreiche, medial erfahrene Gruppen. Stärker noch als bei der Perspektive der Dekonstruktion überwiegt das Genre der Kulturkritik gegenüber stärker empirisch orientierten Herangehensweisen in den rekonstruktiven Untersuchungen zu Diaspora und Hybridität. Das Ziel, einseitige Skandalisierungen etwa von Migrant(inn)en-„Gangs“ in der öffentlichen Diskussion zu kritisieren, führt offenbar bei beiden hier unter-
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schiedenen Gegenpositionen dazu, dass das Gewalthandeln durch Jugendliche mit Migrationshintergrund ausgeblendet wird. Wie lassen sich nun aber die Einsichten dieser beiden Gegenpositionen berücksichtigen, ohne dabei in die diskutierten Probleme zu geraten, um so überhaupt eine nicht skandalisierende Analyse des Gewalthandelns Jugendlicher mit Migrationshintergrund leisten zu können?
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Praktiken, Ästhetisierungen und Dramatisierungen von Gewalt
Dieser Frage möchte ich anhand der Ergebnisse von Gruppendiskussionen, biographischen Interviews und teilnehmender Beobachtung nachgehen, die ich mit fünf Gruppen aus der Berliner Hip-Hop-Szene durchgeführt habe. Die meisten Mitglieder dieser Rap- bzw. Breakdancegruppen sind männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus binationalen Familien im Alter zwischen 16 und 24 Jahren. Dem Alter entsprechend gehen einige noch zur Schule, einige machen eine Ausbildung, mehrere sind berufstätig, ein Teilnehmer besucht eine Fachhochschule; insgesamt dominieren Hauptschulabschlüsse. In vier der fünf Gruppen waren einige der Mitglieder in der Vergangenheit als Täter in Gewalthandeln verstrickt, haben größtenteils Körperverletzung und Raub in der Gruppe gegen andere Jugendgruppen begangen. Sowohl dieses gewaltförmige Handeln als auch die spätere Hinwendung zu den ästhetischen Praktiken Rap und Breakdance sind bei den Jugendlichen in teilweise bereits über zehn Jahre andauernde Karrieren in der Hip-Hop-Szene eingebettet. Während der Stil Hip-Hop mit seinen ästhetischen Disziplinen Rap, Breakdance, DJing und Graffiti nicht unmittelbar mit Gewalt verbunden ist, thematisieren jedoch auch die Jugendlichen, die selbst nie in Gewalthandeln verstrickt waren, vor dem Hintergrund von Gangsterrap das Phänomen Gewalt und Hip-Hop. Für das Gewalthandeln der Jugendlichen sind nun wie erwähnt Erklärungsmodelle geläufig, die biographische Diskontinuitäten, soziale und kulturelle Desintegration oder sozialstrukturelle Marginalisierung als Ursachen annehmen – Erklärungen also, die vor allem auf den Migrationshintergrund der Jugendlichen abstellen und nicht selten in Skandalisierungen abdriften. Aber auch Gegenpositionen, die den jugendkulturellen Stil Hip-Hop als widerständiges Ausdrucksmittel rassistisch ausgegrenzter und marginalisierter Jugendlicher mit entgegen gesetzter Stoßrichtung rekonstruieren, stellen ähnliche Vermutungen über die Gründe an, warum sich die Akteurinnen und Akteure dem Stil zuwenden. Vor allem die biographischen Interviews mit den Jugendlichen eignen sich zu einer Überprüfung, denn in ihnen müssten sich Hinweise auf solche Ursachenzusammenhänge finden lassen. Genau an dieser Stelle entkräftet das empiri-
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sche Material jedoch skandalisierende wie entskandalisierende Thesen über Marginalisierung als Ursache sowohl in Bezug auf Gewalthandeln als auch in Bezug auf die Hinwendung zu Hip-Hop. Zunächst unterscheidet die Erfahrung z.T. schwerer biographischer Brüche, wie etwa Trennung oder sogar Verlust der Eltern, mehrmalige Migrations- und Remigrationserfahrungen oder Schwierigkeiten bei der Schul- oder Berufsausbildung nicht zwischen denjenigen Jugendlichen, die an Gewalthandeln im Rahmen von ‚Gangs‘ beteiligt waren, und denen, die es nicht waren. Bis auf einen Jugendlichen schildern alle ihre Eltern mit Begriffen wie „weltoffen“, „liberal“, sowohl auf „türkische Sitten“ als auch auf den Kontakt ihrer Kinder mit deutschen Gleichaltrigen bedacht. Unabhängig von Schulart und Schulerfolg wird das Verhältnis zu Lehrer(inne)n und Mitschüler(inne)n als positiv beschrieben. Darüber hinaus liegen bei den in Gewalthandeln verstrickten Jugendlichen biographische Brüche und Erfahrungen rassistischer Diskriminierung zeitlich erst nach der Phase ihres gewaltförmigen Handelns. Und insofern das Gewalthandeln dieser Jugendlichen episodal, auf das Alter etwa zwischen zwölf und sechzehn Jahren beschränkt, bleibt, lassen sich kaum tiefverwurzelte Persönlichkeitseigenschaften, wie sie die geläufige Fragebogenforschung untersucht, als Ursache festmachen. Diese empirischen Befunde aus einer qualitativen Forschung widerlegen selbstverständlich nicht grundsätzlich die These vom Zusammenhang zwischen Marginalisierungs- und Diskriminierungserfahrungen einerseits und Gewalthandeln oder der Aneignung jugendkultureller Stile andererseits. Sie machen aber deutlich, dass solche Erklärungen nicht einfach vorausgesetzt werden können und offenbar auch andere Wirkzusammenhänge existieren. So taucht in den Erzählungen der Jugendlichen über ihren Einstieg in die Hip-Hop-Szene immer wieder der Topos auf, dass Hip-Hop (sowohl als ästhetische Praxis und jugendkultureller Stil als auch die an Gangsterrap anknüpfenden gewaltförmigen Praktiken) eine „Mode“ und „populär“ waren – oder wie einer der Jugendlichen formuliert: „Man ist in die Welle hineingeboren.“ Medien, in Form von Tonträgern, Videos und Kinofilmen und reale Vorbilder in Form älterer Jugendlicher in der Nachbarschaft und Schule bilden den Hintergrund ihres Einstiegs in die Szene. Hip-Hop als ein zu jener Zeit bereits etablierter Stil scheint eine Option unter anderen zu sein, für deren Entscheidung weniger eine gemeinsame Problemlage der Akteurinnen und Akteure als vielmehr kontingente Netzwerke aus Nachbarschaften, Freundschaften und Bekanntschaften verantwortlich sind. Andere solcher Optionen der Zugehörigkeit stellen etwa die unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund quantitativ wohl bedeutendere TurkishPop-Szene, religiöse Bewegungen oder eine starke Bildungsorientierung dar. Die Aneignung des Stils vollzieht sich dabei als Abfolge ausgehend von einer an-
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fänglichen Affiziertheit über die Nachahmung der meist medialen Vorbilder bis zur Ausbildung eines eigenen persönlichen und gruppenspezifischen Stils durch lange andauernde Praktiken des „Probierens“, „Übens“, „Bastelns“ und „Puzzlens“. Weder bildet Hip-Hop damit den authentischen, kreativen oder aber defizitären Ausdruck einer bestimmten sozialen Lage, noch wird der Stil bloß oberflächlich konsumiert, sondern medial vermittelte kulturelle Repräsentationen und die lokalen Praktiken der Akteurinnen und Akteure verschränken sich und schaffen neue kollektive Zugehörigkeiten. Wie erwähnt, führt dieser Prozess bei einigen Jugendlichen auch zu gewaltförmigen Handeln in „Gangs“.
3.1 Praktiken der Gewalt Die von Jugendlichen geschilderten gewaltförmigen Handlungsepisoden laufen meist nach einem ähnlichen Muster ab, das man als ‚Rituale der Anmache‘ bezeichnen kann: Ein Akteur fordert einen anderen durch eine Beleidigung oder durch die Unterstellung einer Beleidigung durch den anderen heraus („Was guckst Du?“, „Du hast mich angerempelt!“, „Du hast meine Freundin angemacht!“). Der herausgeforderte Akteur nimmt nun diese Provokation auf, statt sie zu ignorieren oder zu versuchen, die Unterstellung zu entkräften. Dadurch kommt es zu Prozessen wechselseitiger Steigerung der verbalen Auseinandersetzung, die in gewaltförmiges Handeln übergehen können, aber nicht müssen. Dabei kann sich im Rahmen solcher Eigendynamiken der Kreis der beteiligten Akteurinnen und Akteure erheblich erweitern, aus der Auseinandersetzung zwischen anfangs zwei Kontrahent(inn)en können u.U. länger andauernde, ganze Gruppen umfassende Gewaltepisoden entstehen. Die Frage, wer angefangen hat, bzw. ob die dem anderen unterstellte Missachtung intendiert war, spielt weder in der unmittelbaren Handlungssituation noch in den nachträglichen Erzählungen darüber eine Rolle. Entscheidender ist, dass eine an sich neutrale Situation im öffentlichen oder halböffentlichen Raum, wie etwa das Aneinanderstoßen im Gedränge oder auch bloßes Aneinandervorbeigehen als Provokation definiert wird und sich die beteiligten Akteurinnen und Akteure darauf einlassen. Dass Gewalt hier kein Mittel zur Lösung eines vorgängigen Konflikts ist, sondern ein Konflikt erst inszeniert werden muss, damit verbale Beleidigungen und eventuell gewaltförmiges Handeln sich den Akteurinnen und Akteuren als Handlungsmöglichkeiten aufdrängen, darauf weisen einige Bemerkungen der Jugendlichen hin. So rahmen sie ihre Erzählungen über Gewaltepisoden mit Bemerkungen wie „nichts Ernstes so im Grunde“, „Kinderkram“, es wurden Geschichten über andere „erfunden“, Sachen über sie „erzählt in Anführungsstrichen“. Diese erzählerischen Rahmungen der Gewaltepisoden
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dienen sicher auch dazu, die Intensität des eigenen Gewalthandelns als geringfügig darzustellen – sie unterstreichen aber mindestens ebenso das willkürliche Moment, die Anlasslosigkeit gewaltförmiger Handlungsepisoden. Was wird nun aber in den Ritualen der Anmache inszeniert, wenn ihnen kein voran liegender Konflikt zugrunde liegt? Übereinstimmend kommen die Jugendlichen, die selbst in gewaltförmiges Handeln verwickelt waren, dabei auf das Thema ‚Härte‘ zu sprechen. Ab der siebten Klasse, so ein Befragter, „wollten wir richtig hart sein so, ham auch ne Gang gegründet“, man wollte nicht als „Softie-Bubie“ oder „Heulsuse“ abgestempelt sein. Die kollektive Orientierung an ‚Härte‘ bildet ein wesentliches Moment der Gruppenzugehörigkeit und umgekehrt stellt die Gruppe eine unverzichtbare Ressource dar, ‚Härte‘ erfolgreich durchzusetzen. Härte beruht dabei auf einer Verhüllung des eigenen Selbst, auch gegenüber Freunden. Der ‚Kern‘, das ‚Innen‘ des Selbst, das auch Gefühle und Verletzbarkeit umfasst, wird in der Interaktion mit anderen als unzugänglich präsentiert. Der harte Akteur erscheint als unverletzt und unverletzbar in einem psychischen und physischen Sinn. Genau aufgrund dieser Verhüllung besteht jedoch stets der Verdacht, die Härte des anderen sei nur ein ‚Image‘. Daraus folgt, dass Härte immer unsicher und auf ihre Bewährung und Reproduktion in Ritualen der Anmache angewiesen ist. Letzter Maßstab für Härte ist dann die Unverletzbarkeit der Körpergrenzen, denn erst die physische Unterlegenheit des anderen, ‚beweist‘ die eigene Härte. Diese ist nie ein einmal erreichter, sicherer Status, sondern immer erprobungsbedürftig und unsicher: „Man muss immer kämpfen. Jeder muss wissen wo sein Respekt ist.“ Respekt meint hier nicht eine umfassende moralische Anerkennung, sondern die Anerkennung der eigenen Härte und Unverletzlichkeit. Härte schafft neben ihrer Eigenschaft, als kollektive Orientierung Gruppenzusammenhänge zu reproduzieren, offenbar identitätsstiftende Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen der familialen Sphäre und der der Gleichaltrigen. Sie stellt ein Orientierungsmuster dar, das seit dem Beginn der Erforschung kriminalisierter und gewaltaffiner Jugendgruppen in den 1920er Jahren beobachtet wird, einschließlich ihrer Beleidigungstiraden und gewaltförmigen Eskalationen. Seit dieser Zeit strukturiert Härte nicht nur die meisten durch männliche Jugendliche dominierten Jugendkulturen, sondern wirkt darüber hinaus auch in zahlreichen populärkulturellen Genres wie etwa Western und Actionfilmen stilbildend. D.h. Hip-Hop, bzw. genauer Gangsterrap, stellt eine spezifische Artikulation einer Orientierung an Härte dar, die nicht an bestimmte ethnische oder nationalkulturelle Eigenschaften oder an bestimmte soziale Probleme der Akteurinnen und Akteure gebunden ist, sondern eine große historische, soziale und kulturelle Ausbreitung erfahren hat.
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Sowohl Anlass als auch Ablauf des Gewalthandelns werden somit durch die Verschränkung von kulturellen Codes der Härte und letztlich auf die Körperlichkeit der Akteurinnen und Akteure abzielenden Praktiken bestimmt. Eine Analyse der Struktur von Härte kann damit den Skandal einer häufig anlasslosen Gewalt aufklären, ohne empirisch bei weitem nicht immer aufzeigbare situationsimmanente Konflikte oder dahinter liegende Marginalisierungs- oder Desintegrationserfahrungen als Ursachen für das Gewalthandeln zu unterstellen. Vielmehr tauchen solche Erfahrungen bei den befragten Jugendlichen wie erwähnt erst gegen Ende der gewaltaffinen Phase auf bzw. markieren die Abwendung von Gewalt.
3.2 Ästhetisierungen von Gewalt Auffällig ist nun, dass die Orientierung an Härte und die Handlungsstruktur der ritualisierten Anmache auch bei den ästhetischen Praktiken von Rap und Breakdance eine zentrale Rolle spielen, allerdings auf entscheidende Weise transformiert. Dies gilt sowohl für die gewalterfahrenen Jugendlichen, bei denen auf die Abwendung von Gewalt die Hinwendung zu diesen musikalisch-tänzerischen Aktivitäten folgt, als auch für diejenigen der Befragten, die nicht in Gewalthandeln verstrickt waren. Nicht umsonst heißen wettbewerbsartige Performances von Rap oder Breakdance „Battles“ und enthalten die Texte von (Gangster-)RapSongs und die Choreographie vieler Breakdance-Shows unzählige Bezüge auf reale und fiktive, selbst erlebte und medial vermittelte Gewaltepisoden. So eng auch Rituale der Anmache und Breakdance durch das Vokabular („Battlen“, „Schlagen“, „den-Anderen-kaputt-machen“) verbunden scheinen, so entscheidend ist die Transformation, die die Orientierung an Härte hier erfährt. Härte wird im Breakdance zu einer Orientierung an Leistung („der Beste werden“) umgewandelt, deren letzter Maßstab ebenfalls an die Körperlichkeit der Akteurinnen und Akteure gebunden bleibt. Im Breakdance steht nun aber nicht die Unverletzlichkeit des eigenen Körpers und die Verletzung des anderen im Vordergrund, sondern vielmehr die artistisch-akrobatische Manipulation der eigenen Körpergrenzen. Diese Selbstwendung auf den eigenen Körper und die Regeln des Wettkampfes führen zur Entschärfung, Befriedung und Hegung von Härte. Die Spuren dieser Transformation bleiben in Sprache, Handlungsdynamik und Choreograhie der Breakdancer erhalten. Battle-Rap kultiviert analog dazu die verbalen Provokationen, Beleidigungen und Drohungen, wie sie zur Eröffnung und im Verlauf von Ritualen der Anmache benutzt werden, in Songs. Härte wird in einer dem Publikum häufig maßlos und obszön erscheinenden Weise fiktionalisiert, übertrieben, und ironisiert. Ähnlich der Orientierung an Leistung bei den Breakdancern steht hier das
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metaphorisch-poetische Können, die stimmliche Körpertechnik des Raps und deren Perfektionierung im Zentrum der Gruppen. Der Einwand, ihre Texte seien gewaltverherrlichend, sexistisch und gefährlich, geht für die Jugendlichen ins Leere, da für sie Rap explizit „Kunst“ und „Fiktion“ ist. Härte bleibt ein wichtiges Orientierungsmuster, aber nicht mehr als rigide, u.U. gewaltförmige Demonstration von Männlichkeit und Stärke, sondern Härte wird durch maßlose Übertreibungen ironisch gebrochen und ästhetisch eingehegt. Die Ästhetisierung von Härte und Gewalt in den Songtexten erscheint also nicht als nachträgliche Verherrlichung von Gewalt in der Gang, sondern setzt am immer schon inszenierten Charakter von Härte an, macht diese symbolische Struktur explizit und entschärft sie. Dennoch werden diese Gangster- und Battletexte nicht nur von einer skandalisierenden Öffentlichkeit als Gewaltverherrlichung und/oder Sexismus interpretiert und kritisiert – auch innerhalb der weiteren Hip-Hop-Szene trifft solcher Gangster- und Battlerap auf Ablehnung, nicht zuletzt, weil die darin implizierte Reduktion von Hip-Hop auf Reinszenierungen harter Männlichkeit für diese Kritikerinnen und Kritiker auf Kosten des politisch-emanzipatorischen Gehaltes des Stils geschieht.
3.3 Dramatisierungen von Gewalt An die ernsten, weil bisweilen gewaltförmigen Inszenierungen von Härte in der Gang und an die ironische Re-Inszenierung von Härte in Rap und Breakdance bindet schließlich die Berichterstattung der lokalen und überregionalen Presse an. Die befragten Jugendlichen nehmen teils stolz, teils kritisch Bezug darauf, wie vor allem die Boulevardpresse aus ihren Inszenierungen der gefährlichen Straße in den Ritualen der Anmache dann Dramatisierungen ganzer gefährlicher Viertel ableitet. Einerseits ließ die mediale Aufmerksamkeit das Gewalthandeln für die Jugendlichen zu jener Zeit zusätzlich attraktiv werden – andererseits sind sie sich bewusst, welchen aktiven, eigenen Anteil die Medien an der Konstruktion des Phänomens Gang-Gewalt haben. Das wird etwa im ironisierenden Kommentar eines Befragten deutlich: „Und das war ja ne Zeit damals, wo halt irgendwie so die Gangs populär waren, wo man in Zeitungen sehr viel gelesen hatte. So ganz spannende Stories, die von der BZ auch noch so schön spannend so beschmückt und beschrieben wurden.“
Trotz dieses Wissens um die Ambivalenz solcher Medienberichte übernehmen die früher selbst in Gewalthandeln verstrickten Jugendlichen diese medialen Dramatisierungen, wenn sie über die Zunahme von Gewalt in der Stadt in häufig
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stark übertreibender Form erzählen. Nicht selten enden solche Erzählstränge dann bei den Jugendlichen überraschenderweise in der Gewissheit, dass Jugendgewalt und die Kriminalität von Ausländer(inne)n immer weiter steigen und es werden Mordraten für einzelne Berliner Bezirke aus dem Gedächtnis zitiert, die die Zahlen aus der Kriminalstatistik für ganz Berlin übersteigen – ihre Quelle ist dabei die schon erwähnte BZ. Einerseits sind diese Übertreibungen sicher als Neutralisierungsstrategien zu interpretieren, mit denen sie die Intensität und Bedeutung ihres eigenen früheren Gewalthandelns herabspielen. Andererseits scheinen aber solche medialen Dramatisierungen eine hohe und kaum hintergehbare Plausibilität für die Jugendlichen zu besitzen. So lassen sich ihre Übertreibungen aktueller Gewalt auch als Normalisierungsstrategie lesen, mit der sie ihr geändertes, nunmehr ‚normales‘, ablehnendes Verhältnis zu Gewalt dokumentieren: Dass ‚die‘ Gewalt immer mehr zunimmt, weiß schließlich jeder Durchschnittsbürger, -seher und -hörer. Deutlich geworden ist, dass sich die Konstitution des öffentlich wahrgenommenen Phänomens ethnisierter Jugendgewalt auf mehreren Ebenen als Verschränkung lokaler Praktiken und kultureller Repräsentationen und Codes vollzieht. Das betrifft die Aneignung des Stils, innerhalb dessen bei einigen Jugendlichen auch Gewalthandeln eingebettet ist, den Anlass und den Verlauf gewaltförmiger Handlungsepisoden, die daran ansetzenden Ästhetisierungen von Gewalt in Rap und Breakdance und schließlich die Dramatisierung von ‚Gang‘Gewalt durch Medien und ihre Übernahme durch die Akteurinnen und Akteure.
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Alternative Umgangsformen mit kultureller Differenz
Vielleicht wichtiger als diese Einsicht in die Struktur von skandalisierungsträchtigen Phänomenen sind jedoch die Hinweise auf alternative Umgangsformen mit kultureller Differenz, die sich den Interviews und Diskussionen entnehmen lassen und die auf der Ebene des Alltags der Jugendlichen kulturpessimistische Diagnosen von Desintegration, Kulturkonflikt und Zerfall widerlegen. Zentral dafür sind die Effekte der Milieubildung, die von der Vergemeinschaftung der Jugendlichen in stilistisch orientierten Peer Groups ausgehen. Denn hier werden Räume geschaffen, in denen Identitäten und Orientierungen angeeignet und erprobt werden können, gerade dann, wenn der unmittelbare Rückgriff auf familiale oder institutionell vermittelte Orientierungen durch die Akteurinnen und Akteure kaum möglich oder nicht erwünscht ist. Diese kollektiven Erprobungsprozesse können auch problematische Formen wie Gewalthandeln annehmen, aber erstens betrifft dies nur eine Minderheit der Jugendlichen und vor allem bieten solche neu geschaffenen kollektiven Zugehörigkeiten offenbar auch Ressourcen, um sich aus der Ver-
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strickung in Gewalthandeln zu lösen bzw. um z.T. schwere biographische Diskontinuitäten zu bewältigen. Bei einigen Gruppen wird kulturelle Differenz explizit zum Thema ihrer musikalisch-künstlerischen Praxis gemacht, um neue kulturelle Positionen zwischen der Herkunftskultur der Eltern und der hiesigen zu schaffen. Dabei knüpfen sie in ihren Texten und in den Interviews sehr versiert an die reiche Geschichte des Kulturtransfers zwischen Orient und Okzident an. Die Songs und Auftritte lassen sich dementsprechend als performative Umsetzung einer Haltung verstehen, der es um eine kritische Vermischung von kulturellen Elementen ohne die Nivellierung ihrer Differenzen geht. So verfremdet eine der befragten Gruppen einen weit verbreiteten traditionellen türkischen Tanz, indem sie ihn rappt. Sie beschreiben, wie dies beim Publikum zunächst meist Staunen, Verunsicherung, auch Ablehnung auslöst – bei den einen wegen der orientalischen Klänge in einem Rapsong bei den anderen, weil ein traditioneller Tanz ‚modern‘, ‚westlich‘ verfremdet wird. Letztlich führt der Song bei ihren Auftritten jedoch fast immer dazu, dass das aus deutschen und türkischen Jugendlichen bestehende Publikum im Tanzen gemeinsam die situative Erfahrung einer Transzendierung kultureller Grenzen macht. In anderen Gruppen finden analoge Prozesse der Milieubildung statt, sowohl bezogen auf den engen Kreis der Gruppe selbst als auch darüber hinaus, wenn bei gelungenen Konzerten und Auftritten die Gruppe mit dem größtenteils anonymen Publikum interagiert und neue kollektive Bindungen erzeugt werden. Allerdings steht bei mehreren der befragten Gruppen kulturelle Differenz und ihre Bearbeitung gar nicht explizit im Vordergrund. Das Thema wird entweder nur metaphorisch angeschnitten oder fehlt ganz, offenbar, weil die subkulturelle Zugehörigkeit zu Hip-Hop nationalkulturelle Identifikationen überlagert und sekundär werden läßt. Dementsprechend hoch ist nicht nur die überregionale sondern auch die internationale Vernetzung der befragten Jugendlichen in der Hip-Hop-Szene. Damit wird von mindestens zwei Seiten die Dichotomie zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur unterlaufen: Erstens durch explizite Vermischungen und Vermittlungen, wie sie ein Jugendlicher schon in Bezug auf seine Familie und seine Eltern formuliert: „Wir wollten nicht so typisch türkisch sein. Also natürlich sind wir typisch türkisch, wir kennen unsere Sitten und Traditionen usw. stehen auch dazu. Aber halt wir wollten nicht so ne Subkultur, so subkulturelle Türken sein in Deutschland, also, die wirklich so leben, wie sie z.B. auch in ner Türkei leben würden.“
Und zweitens wird die Dichotomie etwa zwischen türkischer und deutscher Kultur dadurch unterlaufen, dass andere – in diesem Falle stilistisch-jugendkulturelle – Zugehörigkeiten an Bedeutung gegenüber nationalkulturellen Kategorien gewinnen.
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Ugur Tekin Betrachtet man die einzelnen Phasen der Migration in der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Gesamtheit, stellt man fest, dass die Bundesrepublik immer schon Einwanderungsland war, diese Tatsache aber systematisch ignoriert wurde. Menschen mit Migrationshintergrund wurden von Anfang an als Randphänomen, als defizitäres und deviantes Phänomen wahrgenommen. Das hat einerseits Folgen für die Positionierungsprozesse der betroffenen Menschen in der Gesellschaft. Andererseits hat die Ignorierung der faktischen Einwanderungssituation gravierende Folgen für die Gestaltung der Gesellschaft und des Sozialen im globalen Kontext (vgl. Tekin 2003: 307). Wenn die Sozialwissenschaften sich mit Migration beschäftigen, thematisieren sie oft einseitig Konfliktzusammenhänge. Vor fundamentalistischen Entwicklungen bei türkischen Jugendlichen wird gewarnt, weil man die Entwicklung einer „Parallelgesellschaft“ (vgl. Heitmeyer 1997) oder einer „Sub– Gesellschaft“ (vgl. Keim/Neef 2000) prognostiziert. Für das Schulversagen Jugendlicher mit Migrationshintergrund und ihr „Kriminalitätspotential“ werden autoritäre Erziehungsstile der Eltern (vgl. Pfeiffer/Wetzels 2000) und letztlich Modernitätsdifferenzen verantwortlich gemacht. Viele Erklärungsansätze stellen lebensweltliche Aspekte wie kulturelle und religiöse Eigenschaften oder ethnische Eigenschaften in den Vordergrund. Obwohl die lebensweltlichen Aspekte im Prozess der Modernisierung tendenziell privatisiert und „konstitutiv belanglos“ (vgl. Bukow/Llaryora 1998) werden, werden sie im Nachhinein erneut herangezogen, um gesellschaftliche Prozesse oder Situationen zu beschreiben bzw. ethnisch zu „rahmen“. Auf diese Weise gerät „Ethnizität“ zum Leitprinzip der Gesellschaft. Dieser kulturalistische und ethnische Blick auf die Gesellschaft und damit die starke Fixierung auf kulturelle und ethnische Elemente führt zur Ausblendung politischer Motive und sozialer Ursachen (vgl. Kaschuba 1999: 132). In diesem Aufsatz geht es darum, diese spezifische Form der Integration, die bis hin zur totalen Exklusion reicht, wie sie speziell bei Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund zu beobachten zu sein scheint, im
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Rahmen biographischer Analyse zu verfolgen1. Die Wirklichkeitskonstruktionen der Untersuchten standen im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes. Sie sind für mich legitime und ernstzunehmende Wirklichkeitskonstruktionen. Sie sind genauso berechtigt oder unberechtigt wie andere Weltbilder. Obwohl und gerade weil es um den gesellschaftlich belasteten Begriff Kriminalität ging, war ein Verzicht auf alle Wertungen von Wirklichkeitskonstruktionen notwendig – Wertungen, wie sie gerade in der Behandlung von Kriminalität zirkulieren. Dazu gehört insbesondere die Thematisierung von „Ausländerkriminalität“, die zum konstitutiven Element eines Diskurses wird, der Hierarchien und Ausschließungsprozesse in der metropolitanen Gesellschaft strukturiert. Diese auch in der Wissenschaft übernommene Herangehensweise basiert auf problematischen theoretischen Konstruktionen. Zu ihren Grundannahmen gehört ein einfacher Dreischritt, den man in Anlehnung an Schiffauer (2000: 317) folgendermaßen beschreiben könnte: 1) Kriminalität ist gefährlich und abweichend; 2) Der Kriminelle muss einen Grund haben, sich für das Falsche statt für das Richtige zu entscheiden; 3) Dieser Grund kann nur in einem psychischen, sozialen oder kulturellen Defizit liegen. Diese reduktionistischen Annahmen verstellen die Erkenntnis und unterstützen Exklusions-Diskurse, die Minderheiten ausschließen.
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„Ausländersituation“: Dauerzustand des „Provisoriums“
Aufgrund einer hohen Differenzierung von Handlungsorientierungen und von Sozialisationsprozessen der Untersuchten kann man keine eindimensionale Aussage über ihre „Karriere“ machen. Jedoch ist das Kernproblem, dass sie in einer sehr spezifischen Situation, nämlich in einer „Ausländersituation“ leben, die nichts mit ihrem Migrationshintergrund zu tun hat. In den Biographien der interviewten Jugendlichen zeigen sich jeweils Wendepunkte, die oft auf der „Ausländersituation“ basieren (vgl. Bukow 2003: 293; Bauman 1995: 95). Die „Ausländersituation“ ist gekennzeichnet durch strukturell bedingte Aufstiegsbarrieren, eine daraus resultierende Unterschichtung (vgl. Geißler 1996: 224f.; HoffmannNowotny 1973) und durch eine medial vermittelte und politisch organisierte ethnifizierte Struktur der gesamten Gesellschaft. Die interviewten Jugendlichen 1
Im Rahmen des Forschungsprojekts „Überrepräsentation allochthoner Jugendlicher in Untersuchungshaft und im Strafvollzug“ haben wir mit Jugendlichen und Heranwachsenden biographische Interviews im Gefängnis geführt. Die Interviews wurden von mir und von anderen Mitarbeitern des o.g. Forschungsprojektes ausgewertet und die Untersuchungsergebnisse im Buch „Ausgegrenzt, eingesperrt und abgeschoben. Migration und Jugendkriminalität“ (Bukow/ Jünschke/Spindler/Tekin 2003) veröffentlicht.
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werden einer Minderheit zugeordnet und machen dementsprechende Diskriminierungs-, Gewalt- und Rassismuserfahrungen. Sie haben weitaus weniger Platzierungschancen als einheimische Gleichaltrige. Der Status „Ausländer“ wird beherrschend, weil er mit einem strukturellen Ausschluss aus Systemen einhergeht, der individuelle Vielfalt an Persönlichkeiten konterkariert und die Basis für eine Vielzahl von Konflikten abgibt. Man kann beobachten, wie die betroffenen Jugendlichen versuchen, sich in einem Dauerprovisorium ohne eine echte systemische Bindung durchzuschlagen. Ihre Mühen sind ab einem bestimmten Zeitpunkt vergeblich, weil sie nicht mehr von gesellschaftlichen Systemen aufgefangen werden können. Das Leben im Provisorium bewegt sich in einem Teufelskreis, die Jugendlichen sind auf das Hier und Jetzt reduziert. Der Kampf mit den alltäglichen Problemen lässt ihnen keinerlei Raum, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln. Ihre Lebensform hat nichts mit der zeitweiligen Exklusion in der globalisierten metropolitanen Gesellschaft zu tun, in die viele Gesellschaftsmitglieder geraten, weil sie sich immer weniger in durchstrukturierten und verfestigten Lebenslagen befinden und dadurch zeitweilig exkludiert werden können. Diese Jugendlichen sind jedoch keine Modernitätsverlierer(innen). Verlierer(innen) können immerhin noch am Spiel teilnehmen. Die Jugendlichen sind dagegen von vorne herein von der Teilnahme ausgeschlossen und haben damit noch nicht einmal mehr die Chance, zu den Verlierer(innen)n zu gehören. Gewinner(innen) und Verlierer(innen) gehören dem Inklusionsbereich an, während die Jugendlichen sich im Exklusionsbereich aufhalten (vgl. Schroer 2001b: 36). Hier geht es um eine Kettenreaktion, bei der eine Exklusion die andere nach sich zieht. Der hier verwendete Exklusionsbegriff verortet die Entstehung dieses Problems nicht an den Rändern der Gesellschaft, sondern in ihrem Zentrum (vgl. Castel 2000: 14). Insofern spreche ich von sich gegenseitig verstärkenden Exklusionen oder auch einer multiplikatorischen Exklusion (vgl. Schroer 2001b: 34), die die Ausgeschlossenen immer weiter abspaltet, bis sie jegliche Bindung an systemische und an kommunikative Bezüge verloren haben. Diese Form der Spaltung der Gesellschaft ist neu. Gemeint ist hier nämlich nicht deren Spaltung durch „alte“ soziale Ungleichheiten, sondern die Teilung der Gesellschaft in inkludierte Individuen und Gruppen und exkludierte. Ein tiefer Graben trennt diese beiden Lager voneinander. Diese Kluft ist vielleicht vergleichbar mit einem Nord-Süd-Gefälle inmitten der metropolitanen Gesellschaft (vgl. Dubet/Lapeyronnie 1994: 35)2.
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Bukow spricht in dem Zusammenhang von einer „Form von Ungleichheit nach der ZentrumPeripherie-Logik“ (Bukow 2002: 39).
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Mögliche soziale Drehbücher in der Exklusion
Den Ausgeschlossenen geht es nur noch um das nackte Überleben, sie sind auf ihren Körper reduziert. Die Frage ist, wie die Jugendlichen ihre Wirklichkeit unter den Bedingungen der Totalexklusion konstruieren. Welche Nischen, welche Angebote, welche besonderen sozialen Drehbücher können sie nutzen, wenn sie bereits exkludiert sind? In einer Extremsituation bietet die Religion eine Möglichkeit, Wirklichkeit neu zu konstruieren. Nach Luhmann bleibt als letztes inkludierendes System vor allem die Religion übrig (2000: 243). Die interviewten Jugendlichen wählen dieses System jedoch deswegen nicht, weil ihre Probleme sehr konkret und alltäglich sind. Eine Flucht ins Imaginäre gelingt auf dieser Ebene nicht. Im Gefängnis suchen manche Jugendliche Zuflucht in der Religion, das hat jedoch keine praktischen Auswirkungen. Den interviewten Jugendlichen steht mitunter der Rückgriff auf gesellschaftlich legitimierte, pragmatische Wirklichkeitsentwürfe offen. Dies scheitert jedoch oft, weil sie weder individuell für ein solches Leben gerüstet sind, noch über entsprechende Ressourcen verfügen. Sie haben die Schule früh – ohne Abschluss – verlassen. Einige sind Analphabet(inn)en. Versuche, im tertiären Sektor Gelegenheitsarbeiten zu finden, schlagen fehl, weil es Helfertätigkeiten kaum noch gibt. Sie werden auf allen Ebenen der Gesellschaft als Störfaktor oder als hilfsbedürftig wahrgenommen und erfahren eine Sonderbehandlung. Zum Beispiel werden sie in der Schule in Vorbereitungs- und Sonderklassen segregiert, einige leben lange Zeit segregiert in Flüchtlingsheimen, was dazu führt, dass die Gesellschaft sie nur provisorisch registriert. Die Erfahrung des Ausgeschlossenseins wird dadurch verstärkt. Die Jugendlichen weichen in dieser Situation auf ein Leben im Milieu aus, um ihre alltäglichen Schwierigkeiten „zu bewältigen“. Das Leben im Milieu verhindert jedoch den Rückgriff auf gesellschaftlich legitimierte Wirklichkeitsentwürfe. Die Familien sind nicht in der Lage, ihnen die nötige Unterstützung zu geben, weil sie gesellschaftlich schwach positioniert sind. Sie können keine Vorbildfunktion übernehmen; andere Expert(inn)en oder Vorbilder, die für die Sozialisation der Jugendlichen als signifikant Andere eine große Rolle spielen könnten, gibt es oft nicht. Einige Jugendliche kommen ohne Eltern nach Deutschland, andere müssen migrationsbedingt einige Zeit ohne Eltern in der Heimat leben, bevor sie nachziehen können. Diese Jugendlichen sind ohnehin auf sich allein gestellt und haben gelernt, ohne familiäre Unterstützung auszukommen. Das hindert sie daran, auf eventuell vorhandene familiäre Ressourcen zurückzugreifen.
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Ein bei allochthonen Jugendlichen häufig zu beobachtendes Phänomen ist die Nutzung ethnischer Netzwerke und der Versuch, den eigenen Lebenslauf über die Perspektive eines Herkunftsmythos neu zu organisieren. Dies führt schnell zu einer ethnisierenden Dynamik, denn Konflikte mit der Umwelt sind vorprogrammiert. Eine solche Reorganisierung des Lebenslaufs passt letztlich nicht in eine Gesellschaft, zu deren elementaren Eigenschaften die formale Ausdifferenzierung gehört und damit die Verschiebung ethnischer Arrangements auf die lebensweltliche Ebene. Andererseits wird jedoch diese Form der sekundären Bearbeitung der Biographie von den Gesellschaftsmitgliedern faktisch praktiziert, weil ihre konkreten alltäglichen Verhältnisse unter einen ethnisierenden Druck geraten sind. In diesem Prozess lernen die Einheimischen, andere zu diskriminieren und ihr Selbstwertgefühl damit zu erhöhen. Die Angehörigen von Minderheiten ziehen sich aufgrund von Diskriminierungserfahrungen auf ihre Landsleute zurück, die ihnen im Rahmen des Möglichen immer noch mehr als nichts zu bieten haben (vgl. Bukow 1999: 103). Man kann genau beobachten, dass die kriminalisierten Jugendlichen diese Form der Neuordnung der Biographie, nämlich den Rückzug auf die ethnische Ebene, nicht nutzen können. Grund dafür ist, dass ihre Lebensform schnell die Aufmerksamkeit der Kontrollorgane nach sich zieht. Ab diesem Zeitpunkt distanziert sich die ethnische Community von ihnen. Die Inhaftierung führt zur weiteren Isolierung. In der Haft selbst versuchen die Jugendlichen, eine ethnische Unterstützungsstruktur neu zu organisieren. Das führt zwar im Haftalltag zu weiteren Konflikten, zeigt jedoch außerhalb des Gefängnisses keinerlei Wirkung. Es bleibt allein die Peergroup, die die Wirklichkeitskonstruktion der betroffenen Jugendlichen bestimmt. Bei der Positionierung in den Lebenswelten bzw. in den Milieus lässt sich die Herausbildung von „milieuspezifischen Gegengesellschaften“, in denen die Jugendlichen an ihrer Karriere arbeiten, feststellen. Mit Berger/Luckmann könnte man sagen, dass „Sub-Sinnwelten“ zur Objektivation eine Basis benötigen: nämlich „Subgesellschaften“ (vgl. Berger/Luckmann 1969: 136). Man kann die Clique als Ort einer reflexiven Praxis charakterisieren, weil die Jugendlichen ihre gesellschaftliche Situation, die spezifischen Bedingungen, unter denen sie leben, innerhalb der Clique permanent reflektieren, neu zu bearbeiten und Lösungsstrategien zu entwickeln versuchen. Sie orientieren sich vor allem an den Welt- und Situationsinterpretationen, Normen und Erwartungen, die in der jeweiligen Gruppe herrschen. In der modernen Gesellschaft muss sich jeder aus den vorgegebenen differenzierten „Bausätzen biographischer Kombinationsmöglichkeiten“ (Beck 1986: 217) seine je individuelle Biographie zusammensetzen. Weil die interviewten Jugendlichen aus systemischen Bezügen wie Schule, Ausbildung, Arbeit heraus-
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gefallen sind, fehlen solche Bausätze. Das milieuspezifische Erfahrungswissen, auf das die Jugendlichen rekurrieren, kann nur zu stark vereinfachten, reduzierten, plakativen Vorstellungen von Wirklichkeit genutzt werden. Ihre Wirklichkeitskonstruktionen erscheinen oft als eng, starr und unbeweglich, weil die Jugendlichen auf den Kampf ums Überleben ohne systemische Bindungen reduziert sind. Die Clique bietet dem gesellschaftlich Ausgeschlossenen Schutz, Solidarität und Anerkennung, die von anderen Bereichen versagt wird, gleichzeitig ist sie Bühne der institutionell erzeugten De-Kulturation. Sie feiert eine Männlichkeit, die auf den eigenen Körper beschränkt ist (Connell 1999: 65ff.). Dieses Bild von Männlichkeit und die damit einhergehende Ausübung von Gewalt ist nicht, wie Christian Pfeifer und Peter Wetzels vermuten, ein traditionelles, durch die Familie vermitteltes Bild oder Resultat der Erfahrung innerfamiliärer Gewalt. Diese These vernachlässigt die gesellschaftlichen Kontexte und blendet die gesellschaftlichen Machtgefälle aus, die Männlichkeitsbilder allochthoner Jugendlicher erzeugen (vgl. Pfeifer/Wetzels 2000: 12). Diese Männlichkeitsbilder basieren mehr auf Alltagserfahrungen als auf Tradition. Das Leben in der Exklusion lässt den Jugendlichen eine einzige Ressource: nämlich ihren Körper, den sie auf mehreren Ebenen einsetzen. Einmal verwenden sie ihn als Waffe, denn Gewalt spielt im Leben der Jugendlichen eine große Rolle, gewalttätige Auseinandersetzungen gehören zu den alltäglichen Umgangsformen. Daneben ist der Körper das (einzig verbleibende) Feld der Selbstdarstellung. Gleichzeitig spielt der Körper eine große Rolle bei Drogenkonsum und Selbstverletzungen – denn Grenzerfahrungen wie z.B. Schmerz werden am Körper erfahren. Schließlich wird der Körper als Ware eingesetzt, da wo er verkauft wird. Manche Jugendliche gehen auf den Strich – das PädophilenMilieu eröffnet ihnen eine Möglichkeit zu überleben. Die verschiedenen Formen des Einsatzes von Körper erzeugen unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe, denen jedoch eines gemeinsam ist: Sie sind nahezu ausschließlich auf den eigenen Körper reduziert. Bei Auseinandersetzungen mit den Kontrollorganen werden die Strukturen des männlichen Zusammenschlusses in der Clique sehr deutlich. Das hier vorherrschende Männerbild diktiert den Jugendlichen, Konfrontationen mit der Polizei nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie zu suchen um sich an ihnen abzuarbeiten. Dieses Spiel verstärkt den Gruppenzusammenhalt und trägt beinahe schon fatalistische Züge: Gewinner und Verlierer stehen von vorne herein fest. Hier kommt es zu Kriminalisierungsschüben, die die Inhaftierung zur Folge haben. Im Kontakt mit den Kontrollinstanzen erfahren die Jugendlichen eine doppelte Stigmatisierung: als Ausländer und als Kriminelle. Dieser Sanktionsprozess zieht sowohl ausländerrechtliche als auch jugendrechtliche Maßnahmen nach
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sich. Spielt das Ausländerrecht schon vor der Inhaftierung eine entscheidende Rolle für die gesellschaftliche Platzierung, so erfahren es die Jugendlichen in der Haft in zugespitzter Form. Einerseits werden sie von Resozialisierungsmaßnahmen ausgeschlossen, andererseits droht ihnen der physische Ausschluss aus der Gesellschaft durch die Abschiebung. Sie erleben, dass Mitgefangene tagtäglich aus der Haft heraus abgeschoben werden. Einige der interviewten Jugendlichen sind bereits abgeschoben worden, illegal zurückgekehrt, erneut inhaftiert und wissen, was ihnen bevorsteht. Ein solcher Sanktionierungsprozess stellt gleichzeitig die Grundlage eines Legitimationssystems für die interviewten Jugendlichen dar. In der unterprivilegierten Situation als ausländische Kriminelle verfestigen sich ihre Deutungs- und Erklärungsmuster auf der Grundlage von „Neutralisierungstechniken“ (vgl. Sykes/Matza 1968: 360ff.). Neutralisierungstechniken sind nicht der Versuch delinquenter Jugendlicher, sich „herauszureden“, sondern erzeugen ihre subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen, die von ihnen nicht hinterfragt werden. Die Erfahrung der doppelten Stigmatisierung, die ihnen auf zwei Ebenen per se Andersartigkeit und Minderwertigkeit zuschreibt, wird Teil der Wirklichkeitskonstruktion der betroffenen Jugendlichen, die ihr Stigma auch für „sekundäre Gewinne“ (Goffman 1967: 20) nutzen können. Die Vorstellungen von Wirklichkeit, die sich auf dieser Grundlage entwickeln, sind sehr weit entfernt von den Vorstellungen vergleichbarer Bevölkerungsgruppen, denen der vergleichbaren autochthonen Bevölkerungsgruppen zum Beispiel. Der Alltag der betroffenen Jugendlichen, der auf die Sicherung existentieller Grundbedürfnisse reduziert ist, unterscheidet sich extrem vom Alltag „normaler“ Jugendlicher. Dennoch gibt es auch unter den Bedingungen der Exklusion noch einen Rest gemeinsamer Schnittmenge mit dem Vorstellungssystem Gleichaltriger, einen letzten gemeinsamen „Horizont“ (Bukow 2003: 297), der sich speist aus Wünschen, Erwartungen, Interessen, die auch inkludierte Gleichaltrige oder Erwachsene teilen. Im fortschreitenden Exklusionsprozess wird jedoch klar, dass diese Gemeinsamkeiten niemals mehr eingelöst werden können (vgl. Dubet/Lapeyronnie 1994: 109).
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Intervention durch soziale Helfer(innen)
Während es auf der strukturellen Ebene der Gesellschaft Exklusionsmechanismen gibt, gibt es andererseits Inklusionsangebote an die betroffenen Jugendlichen von seiten einer Vielzahl von professionellen Akteur(inn)en: Einerseits gibt es die Sozialkontrolleure wie Polizei oder Justiz, andererseits die sozialen Helfer(innen): Sozialarbeiter(innen), Lehrer(innen), Erzieher(innen), Therapeut-
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(inn)en. Sie alle befassen sich mit den Jugendlichen auf einer reflexiven Interaktions-Ebene. Ziel der Helfer(innen) ist die soziale Integration der Jugendlichen. Das bedeutet für diese jedoch die Aufgabe der Wirklichkeitskonstruktionen, die sie in der Exklusion als Überlebensform entwickelt haben. Die an einem Normalitätsmythos ausgerichteten Interventionsbemühungen blenden die besondere Situation der Jugendlichen völlig aus und können die Jugendlichen innerhalb dieses Bezugssystems nur als abweichend wahrnehmen. Die Jugendlichen andererseits können die Interventionen nicht als Hilfsangebot annehmen, weil sie ihren in der Exklusion geformten Lebensgewohnheiten, ihren Vorstellungswelten widersprechen. Die Jugendlichen verteidigen ihre Gewohnheiten und Wirklichkeitskonstruktionen reflexiv. Dieses Missverständnis führt zum Scheitern der Interventionen, auf deren Fuß Disziplinierungsmaßnahmen auf der psychischen, sozialen und kulturellen Ebene folgen. Disziplinierungsmaßnahmen, die scheinbar wie zwangsläufig auf die Inhaftierung hinauslaufen. Das Leben in der Haft, in der totalen Institution verschärft jedoch die Dynamik von Ethnisierung und Selbstethnisierung. Man kann hier von einer neuen Qualität dieser Dynamik sprechen, die vom künstlichen Alltag in der geschlossenen Institution provoziert wird. Es lässt sich folgern, dass der Kriminalisierungsprozess der Jugendlichen letztendlich Fremd- und Selbstethnisierung beschleunigt. Ihre gesellschaftliche Positionierung zwischen struktureller Zumutung durch das „Ausländer-Sein“ und lebensweltlicher Etikettierung durch die Zugehörigkeit zu einer Ethnie („Türke-werden“) verfestigt sich (vgl. Spindler/Tekin 2003: 256ff.).
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Schlussbemerkungen
Die Exklusionsmechanismen gegenüber den hier vorgestellten Jugendlichen sind nur eine zugespitzte Form des gesellschaftlichen Umgangs mit Migration im Allgemeinen. Die Jugendlichen erscheinen als nicht therapierbar, ihre politisch gewollte „Fremdheit“ wird in den Vordergrund gestellt, das Scheitern der Interventionen legitimiert ihren Ausschluss aus der Gesellschaft (durch Gefängnisaufenthalt oder Abschiebung). Die „Nihilierung“ (Berger/Luckmann 1969: 121ff.) ihrer Lebensformen dient der Konstruktion eines einheitsstiftenden Normalitätsmythos, die Exklusion dient letztlich allein der Inklusion. Die Totalexklusion hat eine gesellschaftliche Funktion und ist insofern auch intendiert. Die exkludierten Jugendlichen werden sichtbar gemacht, um die inkludierten, die aber jederzeit exkludiert werden können, zu disziplinieren. Sie
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sind warnendes Beispiel für die Inkludierten. Die Dynamik von Exklusionsprozessen lebt von der Angst, selbst exkludiert zu werden. Bezogen auf den lokalen Raum findet hier eine nationale Politik ihre Umsetzung, in der die Bedrohung der inneren Sicherheit durch „Ausländerkriminalität“ artikuliert wird. Dieser Mythos wird zum konstitutiven Element eines Diskurses, der Hierarchisierungen und Ausgrenzungsprozesse provoziert. Diese Ausgrenzungsprozesse spielen eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung von Macht (vgl. Foucault 1976: 56f.). Auf diese Weise konstruiert man eine fiktive „Normalität“, die mit den Alltagswirklichkeiten der betroffenen Gruppen nicht gleichzusetzen ist, eine Normalität, in der allochthone Gruppen als „kriminell“ wahrgenommen werden Durch die neoliberale Umstrukturierung spitzen sich gesellschaftliche Polarisierungsprozesse zu. Diese Prozesse werden nicht unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit thematisiert, sondern als Problem der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Ein integraler Bestandteil dieses Sicherheitsdiskurses sind Strategien, die bestimmte Gruppen ethnisieren und als Fremde identifizieren und endlich ausschließen (vgl. Ronneberger 1998: 29f.). Dieser Diskurs eignet sich gut zur Ablenkung von ganz anderen gesellschaftlichen Problemen, nämlich von den Herausforderungen, Problemen und Gefährdungen der modernen Risikogesellschaft und einer zunehmend hilflosen Risikopolitik.
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Kurzprofile der Autor(inn)en Kurzprofile der Autor(inn)en
Beate Binder Kontakt: [email protected] Beate Binder ist Professorin am Institut für Volkskunde der Universität Hamburg. Ihre Habilitationsschrift mit dem Titel „Streitfall Stadtmitte. Historische Erzählungen, geschichtspolitische Interventionen und die Produktion von Lokalität: Stadtethnologische Perspektiven auf ein Berliner Konfliktfeld“ befasst sich mit der symbolischen Transformation Berlins zur Hauptstadt nach 1990. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadtethnologie, Geschichtspolitik und Geschlechterforschung.
Ingrid Breckner Kontakt: [email protected] Ingrid Breckner ist Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der HafenCity Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Methoden der Raumerkundung, die Evaluation städtischer Entwicklungsprozesse: Konzepte und Handlungsansätze im Themenfeld „Soziale Stadt“ und die Sozialverträglichkeit von Großprojekten in urbanen Kontexten (z.B. Messeerweiterung in Hamburg und HafenCity Hamburg), die Suburbanisierung und stadtregionale Entwicklung, die (Un-) Sicherheit in Europäischen Städten, Stiftungen als Akteure in der Stadtentwicklung und Migration und Mobilität. Veröffentlichungen sind unter www.tu-harburg.de/stadtforschung (Stichwort „Publikationen“) zu finden.
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Kurzprofile der Autor(inn)en
Wolf-Dietrich Bukow Kontakt: [email protected] Wolf-Dietrich Bukow ist Professor für Kultur- und Erziehungssoziologie an der Universität zu Köln und Mitgründer der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt). Er arbeitet und publiziert vor allem zu den Themen Partizipation, urbanes Zusammenleben sowie zu diversen Aspekten der Migration. Hierzu leitete er mehrere Forschungsprojekte. Seit 2000 veröffentlicht er schwerpunktmäßig zum Thema Stadtgesellschaft. Er ist Mitherausgeber der Reihe Interkulturelle Studien, in der zuletzt erschien: Bukow, Wolf/Ottersbach, Markus/Tuider, Elisabeth/Yildiz, Erol (Hrsg.) (2006): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden.
Christoph Butterwegge Kontakt: [email protected] Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft im Seminar für Sozialwissenschaften, Abteilung Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und Mitglied der Forschungstelle für interkulturelle Studien (FiSt). Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration, Flüchtlingsbewegungen und Asylpolitik; Rechtsextremismus, Rassismus und (Jugend-) Gewalt im Zeichen der Globalisierung.
Andreas Deimann Kontakt: [email protected] Andreas Deimann ist Diplom-Sozialpädagoge (FH) und Doktorand an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Folgen der Migration im Erziehungssystem und der Sozialen Arbeit. Zu diesem Thema ist von ihm unter anderem folgende Publikation erschienen: Deimann, Andreas (2004): Kinder mit Migrationshintergrund an Schulen für Lernbehinderte in Nordrhein-Westfalen. Eine Analyse der Ursachen, Folgen und Alternativen überproportionaler Überweisung. Solingen.
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Andreas Feldtkeller Andreas Feldtkeller ist Diplom-Ingenieur und war von 1972 bis 1997 Leiter des Stadtsanierungsamtes Tübingen. Dort war er zuständig für die Erneuerung der historischen Altstadt Tübingens und ab 1991 für das Gesamtkonzept und die Durchführung der Konversionsmaßnahme „Stuttgarter Straße/Französisches Viertel“ in der Tübinger Südstadt. Seit 1997 arbeitet er als freiberuflicher Stadtplaner und ist zudem Mitglied der Fachkommission Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die „Stadt der kurzen Wege“ und Innenentwicklung statt Außenentwicklung. Veröffentlich hat er dazu folgendes Buch: Feldtkeller, Andreas (1994): Die zweckentfremdete Stadt – Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums. Frankfurt am Main/New York.
Volker Hinnenkamp Kontakt: [email protected] Volker Hinnenkamp ist Professor für „Interkulturelle Kommunikation“ an der Hochschule Fulda University of Applied Sciences und Lehrender im Masterstudiengang ICEUS – Intercultural Communication and European Studies. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Interkulturelle Kommunikation, Sozio- und Pragmalinguistik, Gesprächsforschung und Kommunikationsmanagement, Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Sprachkontakt. Forschungsprojekte und Publikationen zum Foreigner Talk der Muttersprachler gegenüber Nichtmuttersprachlern, zur Interaktionalen und Interpretativen Soziolinguistik, zu Interkultureller Kommunikation und zu Missverständnissen in alltäglichen Gesprächen; aktueller Forschungsschwerpunkt ist das „Gemischtsprechen“ von Jugendlichen mit mehrsprachigem Hintergrund. Zuletzt ist von ihm folgende Publikation erschienen: Hinnenkamp, Volker/Meng, Katharina (Hrsg.) (2005): Sprachgrenzen überspringen. Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis. Tübingen.
Thomas Krämer-Badoni Kontakt: [email protected] Thomas Krämer-Badoni ist Professor am Institut für Soziologie der Universität Bremen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Stadtentwicklung, Stadtverkehr, Stadt-
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ökologie, lokale Demokratie und Bürgerbeteiligung, Exklusionsprozesse, urbane Entwicklung.
Michael Krummacher Kontakt: [email protected] Michael Krummacher ist Professor für Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Evangelischen Fachhochschule RWL Bochum. Seine Themenschwerpunkte in Lehre, Forschung und Wissenschafts-Praxis-Transfer sind Allgemeine Sozialpolitik, Kommunal- und Regionalpolitik, Wohnungspolitik und Migrationspolitik.
Christoph Liell Christoph Liell ist Diplom-Soziologe und war von 1998 bis 2001 Stipendiat des Graduiertenkollegs „Gesellschaftsvergleich“ an der Freien Universität Berlin. Von 2002 bis 2004 hat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-WeberKolleg der Universität Erfurt gearbeitet. Seit 2005 ist er freiberuflicher Dozent mit den Arbeitsschwerpunkten Kultursoziologie, Gewaltforschung und Jugendund Medienkulturen. Er ist Mitherausgeber des folgenden Buches: Liell, Christoph/Pettenkofer, Andreas (Hrsg.) (2004): Kultivierungen von Gewalt. Beiträge zur Soziologie von Gewalt und Ordnung. Würzburg.
Claudia Nikodem Kontakt: [email protected] Claudia Nikodem (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität zu Köln und Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien. Zudem ist sie Redakteurin der Zeitschrift „beiträge zur feministischen theorie und praxis“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frauen-, Migrationsforschung und Stadtforschung. Zurzeit forscht sie zum Thema transnationale Partnerschaften.
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Markus Ottersbach Kontakt: [email protected] Markus Ottersbach hat zur Zeit eine Vertretungsprofessur für Soziologie an der Fachhochschule Köln an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine Soziologie, Politische Soziologie, Minderheitenforschung, Stadt- und Jugendsoziologie. Veröffentlicht hat er unter anderem: Ottersbach, Markus (2004): Jugendliche in marginalisierten Quartieren. Ein deutsch-französischer Vergleich. Wiesbaden.
Frank-Olaf Radtke Kontakt: [email protected] Frank-Olaf Radtke ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main mit den Forschungsschwerpunkten Erziehung und Migration und Erziehung und Profession/Organisation.
Christine Riegel Kontakt: [email protected] Christine Riegel (Dr.) ist seit 2004 Dozentin am Departement Erziehungswissenschaften der Universität Fribourg/Schweiz und leitet das Forschungsprojekt „Prävention von Rechtsextremismus und ethnisierter Gewalt in Schulen. Eine Interventions- und Evaluationsstudie mit Lehrerfortbildungsmaßnahmen in der Schweiz“. Seit Oktober 2006 hat sie ebenfalls in Fribourg die Oberassistenz für den Masterstudiengang „Geschlecht, Gleichheit und Differenz im internationalen und interkulturellen Kontext“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Jugend-, Migrations- und Geschlechterforschung, Interkulturelle Pädagogik, Rassismusprävention an Schulen. In diesem Kontext ist von ihr erschienen: Riegel, Christine (2004): Im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung. Orientierungen und Handlungsformen von jungen Migrantinnen. Eine soziobiografische Untersuchung. Frankfurt am Main.
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Kurzprofile der Autor(inn)en
Hans-Joachim Roth Kontakt: [email protected] Hans-Joachim Roth ist Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Universität zu Köln mit den Forschungsschwerpunkten Kulturtheorie, interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Erziehung in der Schule und Islam und Erziehung. Er ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt).
Herbert Schubert Kontakt: [email protected] Herbert Schubert ist Professor für Organisationssoziologie und Sozialmanagement an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln und Geschäftsführer des Instituts für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (IMOS). Im Jahre 2003 wurde er zum Apl.Professor am Fachbereich Landschaftsarchitektur und Umweltentwicklung der Universität Hannover ernannt. Er hat die Leitung des „Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkts Sozial Raum Management“ welcher vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes NordrheinWestfalen gefördert wird.
Erika Schulze Kontakt: [email protected] Erika Schulze (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Sozialwissenschaften, Abteilung Soziologie, der Universität zu Köln. Seit 1996 ist sie Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt), zudem seit 2000 Redakteurin der Zeitschrift „beiträge zur feministischen theorie und praxis“. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Stadtsoziologie, Migration, Bildung, Gender.
Susanne Spindler Kontakt: [email protected] Susanne Spindler (Dr.) ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) und zur Zeit als Bildungsreferentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und als Lehrbeauftragte an der Universität zu Köln tätig. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift „beiträge zur feministischen theorie und praxis“. Von ihr sind
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diverse Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Jugend, Migration und Geschlecht erschienen, zuletzt: Spindler, Susanne (2006): Corpus delicti – Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten. Münster.
Ugur Tekin Kontakt: [email protected] Ugur Tekin (Dr.) ist Lehrbeauftragter am Seminar für Sozialwissenschaften (Abteilung Soziologie) sowie der Anadolu-Universität/Türkei. Er ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kriminalsoziologie, Migrations- und Jugendforschung.
Erol Yildiz Kontakt: [email protected] Erol Yildiz ist Privatdozent und Studienrat im Hochschuldienst am Seminar für Sozialwissenschaften und ist Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität zu Köln. Er forscht schwerpunktmäßig zu den Themen Stadt, Migration und Bildung, Globalisierung und Transkulturalität.