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German Pages 410 Year 2015
Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hrsg.) Trancemedien und Neue Medien um 1900
2009-01-26 14-10-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c9200877536328|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 1098.p 200877536336
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Peter Gendolla.
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) T00_02 seite 2 - 1098.p 200877536344
Marcus Hahn, Erhard Schüttpelz (Hrsg.)
Trancemedien und Neue Medien um 1900 Ein anderer Blick auf die Moderne
Medienumbrüche | Band 39
2009-01-26 14-10-40 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c9200877536328|(S.
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) T00_03 titel - 1098.p 200877536352
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hermann Schnauss: Elektrographie einer Hand, 1900; © Albertina, Wien Lektorat & Satz: Marcus Hahn, Claudia von Rönn und Nadine Taha Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1098-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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) T00_04 impressum - 1098.p 200877536360
Inhalt Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz Einleitung ........................................................................................................ 7
Das Jenseits und seine Immanentisierung Helmut Zander Höhere Erkenntnis Die Erfindung des Fernrohrs und die Konstruktion erweiterter Wahrnehmungsfähigkeiten zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert ......................................................................................17 Johannes Dillinger / Nicole K. Longen Die gesellschaftliche Konstruktion des Totengeisterglaubens Amerikanischer Spiritismus und deutscher Geisterkult im Vergleich ...................................................................................................57 Michael Hochgeschwender Geister des Fortschritts Der US-amerikanische Spiritualismus und seine mediale Vermittlung im 19. Jahrhundert....................................................................79 Ulrich Linse Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur Die Hypnose-Experimente der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ ...................................................................................................97 Barbara Wolf-Braun Parapsychologische und psychiatrische Konstruktionen des Mediumismus um 1900 ....................................................................145
Globalisierung von Trance Walter Bruchhausen Wahnsinn oder Heilungsweg, Teufel oder Ahnen? Ostafrikanische Geistmedien unter deutscher und britischer Herrschaft......................................................................................................173
Annette Werberger Eine Stimme der Moderne – Der Dibbuk als Medium von ‚Tradition‘.................................................................................................... 199 Marcus Hahn Tonfilm, Trance, Totaler Krieg Gottfried Benns primitivistische Religionsphysiologie und King Vidors Film Hallelujah ....................................................................... 227
Technische und personale Medien Eva Johach Kollektiv der Psychographen Trance und Medialität in den Experimentalpraktiken des Tischerückens ....................................................................................... 253 Erhard Schüttpelz Medientechniken der Trance Eine spiritistische Konstellation im Jahr 1872 ........................................ 275 Uwe Schellinger Trancemedien und Verbrechensaufklärung Die ‚Kriminaltelepathie‘ in der Weimarer Republik .............................. 311 Wolfgang Hagen Manfred von Ardennes ‚Gedanken hören‘.......................................... 341
Zur Entstehung der Medientheorie Michael Gamper Charisma, Hypnose, Nachahmung Massenpsychologie und Medientheorie ................................................... 351 Petra Löffler Schwindel, Hysterie, Zerstreuung Zur Archäologie massenmedialer Wirkungen ......................................... 375 Autoren......................................................................................................... 403
Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz
Einleitung Zwei große Globalisierungsschübe werden durch das Auftreten Neuer Medien mitgestaltet: durch analoge Neue Medien um 1900, und durch digitale Neue Medien in der Gegenwart. Für die Moderne ist bekannt, dass das Auftreten Neuer Medien mit zentralen Debatten über die ‚Modernität‘ und die ‚Modernisierung‘ von Trancepraktiken einherging. Insbesondere der Spiritismus des 19. Jahrhunderts und die Entstehung der modernen Esoterik um 1900 lösten durch ihre Praktiken und ihre kosmologischen Ansprüche eine fortwirkende Debatte über die Modernität von Trancemedien und ihre Verwendung Neuer Medien aus. Trancemedien sind personale Medien, die allerdings zur Initiierung und zur semiotischen Umsetzung ihrer psychosomatischen ‚Dissoziation‘1 verschiedenste mediale Artefakte heranziehen – und unter diesen Artefakten finden sich auch die jeweils neuesten Medien. Eine Fülle von Einzelsymptomen deutet darauf hin, dass es im Gegensatz zur häufig vertretenen These vom stetigen Verschwinden der Interferenz von Trancemedien und Neuen Medien zumindest bis zum Ersten Weltkrieg eine starke Affinität zwischen der ‚Modernität‘ oder ‚Modernisierung‘ des einen und des anderen Bereichs gab. In der deutschen Medien- und Kulturwissenschaft ist diese Affinität insbesondere durch die Pionierarbeiten von Wolfgang Hagen,2 Stefan Andriopoulos3 und Ute Holl4 als Forschungsgebiet erkannt und bearbeitet worden. In der Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts und im ersten großen Globalisierungsschub bis zum Ersten Weltkrieg bemühten spiritistische Trancemedien und ihre Organisatoren ständig die neuen und zukünftigen Medien zum Vergleich (Telegraphie, Telefon, Film, Fernsehen);5 sie nutzten und erfanden neue mediale Gebrauchsweisen (Fotografie, Laborexperimente);6 und sie waren auch mit der Entwurfs- und Erfindungsgeschichte von Neuen Medien durchaus verbunden (Funk, Radio).7 Diese Affinität zwischen Trancemedien und Neuen Medien
1
Geertz: „Cognitive Approaches to the Study of Religion“.
2
Wolfgang Hagen: „Zur medialen Genealogie der Elektrizität“; ders.: „Der Okkultismus der Avantgarde um 1900“; ders.: Radio Schreber.
3
Andriopoulos: Besessene Körper.
4
Holl: Kino, Trance & Kybernetik.
5
Andriopoulos: „Okkulte und technische Television“.
6
Hessenbruch: „Science as Public Sphere“; Chéroux: The Perfect Medium.
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Rowlands/Wilson: Oliver Lodge and the Invention of Radio.
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
schlug sich spätestens seit der frühen Filmgeschichte in allen öffentlichkeitswirksamen Diskursen nieder, in denen die Alteritätserfahrungen von Neuen Medien und Massenmedien thematisiert wurden. Die Theorie der Massenmedien war bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem ‚Massenpsychologie‘ und Massensoziologie, und diese berief sich in ihrem Kern auf Hypnose-Techniken und Hypnose-Erfahrungen.8 Und auch der moderne Medienbegriff, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Herausbildung einer Kommunikationswissenschaft und einer eigenständigen Medienwissenschaft führen sollte, ist ohne eine Berücksichtigung seiner spiritistischen Genealogie begriffshistorisch nicht rekonstruierbar.9 Dabei waren und sind die Wechselwirkungen von Trancemedien und Neuen Medien, von personalen und technischen Medien in der Moderne keineswegs von Harmonie geprägt. Kennzeichnend für die Kontroversen um die Wechselwirkungen zwischen Trancemedien und Neuen Medien in der globalisierten Welt des 19. Jahrhunderts wie in der Gegenwart ist die Fragestellung eines Anspruchs auf ‚Modernität‘, und die komplementäre Frage einer Abqualifizierung bestimmter Medienpraktiken und ihrer Rechtfertigungsformen durch ein Signum der ‚Rückständigkeit‘. In den Diskussionen dieser Qualifizierungen unterlag die kulturwissenschaftliche Überlieferung des 20. Jahrhunderts allerdings sehr bald einer Reihe von Erinnerungstäuschungen, die bis in aktuelle Moderne-Konzepte fortwirken und erst in den letzten Jahrzehnten durch eine professionelle Historisierung der modernen Esoterik ausgeräumt worden sind.10 So haben die Religionshistoriker Bernhard Lang und Colleen McDannell mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass die Jenseits-Vorstellungen der Moderne spiritistisch entwickelt und auch in den christlichen Konfessionen populär und dominant wurden. Es ist nicht die kolportierte ‚Abseitigkeit‘ des Spiritismus, aus der die Sprengkraft der betreffenden Kontroversen rührte, sondern seine zentrale Stellung in der historischen Dynamik der modernen Kosmologie.11 Nur aus der Religions- und Wissensgeschichte des langen 19. Jahrhunderts12 wird plausibel, warum die Debatte um spiritistische Praktiken und Postulate sich um 1900 (in der Erosion des ‚offiziellen‘ transatlantischen 8
Kümmel/Löffler: Medientheorie 1888-1933.
9
Vgl. die instruktive Begriffsgeschichte von Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs.
10 Zum internationalen Forschungsstand vgl. Hanegraaff u.a.: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. 11 Lang/McDannell: Der Himmel. 12 Vgl. Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich 1983; Linse: Geisterseher und Wunderwirker; Sawicki: Leben mit den Toten; Freytag/Sawicki: Wunderwelten; Zander: Anthroposophie in Deutschland.
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
Spiritismus) in einer solchen Vielzahl von ästhetischen, wissenschaftlichen und esoterischen Reaktionen und Gegenreaktionen niederschlagen konnte, und zwar in fast allen künstlerischen Avantgarden seit dem späten 19. Jahrhundert;13 in der Theoriebildung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, insbesondere der modernen Ethnologie,14 der Psychologie15 und der Psychiatrie;16 in neuen Kategorisierungen und Organisationen der entstehenden Esoterik und ‚okkulter‘ Praktiken;17 und im Kernbereich späterer Medientheorien (über den Weg der Massenpsychologie und der Äthertheorie)18. Der Globalisierungsschub um 1900 ist zugleich jene Epoche gewesen,19 in der die große transatlantische Debatte des 19. Jahrhunderts über die ‚Modernität‘ oder ‚Rückständigkeit‘ von Trancetechniken und Trancekulten durch den Imperialismus und Kolonialismus weltweit exportiert wurde. Medienumbrüche und Globalisierungsschübe verlaufen um 1900 wie in der Gegenwart koextensional. Entsprechende Kontroversen über die ‚Modernität‘ und ‚Rückständigkeit‘ bestimmter Trancepraktiken und ihrer Gemeinschaften werden seit 1900 weltweit an den verschiedensten Orten mit globalen Verflechtungen ausgetragen, und gewinnen auch und gerade in der Gegenwart eine eigene Dynamik.20 Eine noch weitgehend unbearbeitete – und auch im vorliegenden 13 Vgl. Loers: Okkultismus und Avantgarde; Fischer/Loers: Im Reich der Phantome; Pytlik: Okkultismus und Moderne; Pytlik: Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900; Fauchereau: Hommes et mouvements esthétiques du XXe siècle, Vol. I. 14 Pels: „Introduction: Magic and Modernity“. 15 Treitel: A Science for the Soul. 16 Didi-Huberman: Die Erfindung der Hysterie. 17 Vgl. Campbell: Ancient Wisdom Revived; Dixon: Divine Feminine; Hanegraaff u.a.: Dictionary of Gnosis and Western Esotericism; Doering-Manteuffel: Das Okkulte. 18 Ginneken: Crowds, psychology and politics, 1871-1899; Kümmel/Löffler: Medientheorie 1888-1933; Gamper: Masse lesen, Masse schreiben; Kümmel-Schnur/ Schröter: Äther. 19 Vgl. zum historiographischen Hintergrund Osterhammel/Petersson: Geschichte der Globalisierung. 20 So in den islamischen Ländern mit ihren aktuellen religiösen und politischen Konflikten zwischen ‚fundamentalistischen‘ und nicht-fundamentalistischen Ansprüchen an einen ‚Islam in der Moderne‘. Ein Vergleich der beiden großen Globalisierungsschübe – des ersten bis zum Ersten Weltkrieg und des zweiten in der Gegenwart – zwingt daher zu einem stetigen Vergleich der Genealogien des 19. Jahrhunderts mit den unvorhersehbaren Kontroversen, die heute an den verschiedensten Orten zur ‚Modernität‘ von Trancemedien und insbesondere zur Interferenz zwischen Trancemedien und Neuen Medien ausgetragen werden. Diese Kontroversen können in der Gegenwart des digitalen Medienumbruchs beobachtet wer-
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
Band nur exemplarisch entwickelte – Forschungsaufgabe entsteht aus der Frage, auf welchen interkontinentalen Transferwegen sich die Kontroversen und Begrifflichkeiten einer ‚Modernität‘ und ‚Rückständigkeit‘ von Trancepraktiken und Medientechniken herausgebildet haben, und zwischen den Kolonien, Nationalstaaten und Imperien verhandelt und ‚glokalisiert‘ wurden. Eine ‚Globalisierung von Trance‘ hat bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattgefunden, und schlug sich nicht nur in neuen religiösen und säkularen Organisationen nieder (etwa in den dauerhaften Wirkungen des französischen Kardecismus in Brasilien), sondern auch in den westlichen Massenmedien und in der gesamten wissenschaftlichen Terminologie des Erfahrungsbereichs von Trancemedien. Auch und gerade in wissenschaftshistorischer Hinsicht kann nur von einem Zwischenstand der Forschung ausgegangen werden. Die große spiritistische und antispiritistische Kontroverse mit ihren verschiedenen Debatten und Neuen Medien ist in den letzten Jahren verschiedentlich dargestellt worden, und die ästhetischen Umsetzungen spiritistischer und ‚okkulter‘ Praktiken sind wiederholt erforscht worden. Allerdings stehen Forschungen zum missing link zwischen den spiritistischen Praktiken des 19. Jahrhunderts und den Modernisierungsdiskursen der Gegenwart weiterhin aus. Es steht zu vermuten, dass dieses missing link im ersten Globalisierungsschub insbesondere in zwei Wissenschaften terminologisch konfiguriert wurde: in der Ethnologie als anthropologischer ‚Auslandswissenschaft‘ (zusammen mit der ‚Volkskunde‘ als ihrer Inlands-Verwandten), und der Psychiatrie als ‚Inlandswissenschaft‘ (mit ihren kolonialen ‚Auslands‘-Implementierungen und ihrer popularisierten Überschneidung mit der ‚Massenpsychologie‘). Die hier versammelten Beiträge möchten zur historischen Rekonstruktion jener Weichenstellung beitragen, die um 1900 und in der Auseinandersetzung mit der Interferenz von Trancemedien und (analogen) Neuen Medien stattgefunden hat und welche die ästhetische, wissenschaftliche und ‚esoterische‘ Kategorisierung des gesamten Phänomenbereichs betrifft – eine Weichenstellung, die bis heute in den Medien- und Kulturwissenschaften überlebt hat. Das vorliegende Buch geht auf eine gleichnamige Konferenz des Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg SFB/FK 615 Medienumbrüche. Medienkulturen und Medienästhetik zu Beginn des 20. Jahrhunderts und im Übergang zum 21. Jahrhundert zurück, die vom 2. bis zum 4. Juli 2008 an der Universität Siegen stattgefunden hat. Ziel der Konferenz war es, zwei weitgehend separat entstandene Forschungs-
den, und verlangen eine medienethnographische Erforschung, die seit Juli 2007 im Rahmen des Siegener SFB/FK 615 (und komplementär zu den historischen Forschungen) durch das Teilprojekt A10 Trancemedien und Neue Medien in den beiden Globalisierungsschüben (1900 und heute) für Marokko und die marokkanische Diaspora unternommen wird.
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
stränge miteinander zu verknüpfen: Eine medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem ‚okkulten‘ Bereich, deren Faszination bisher meist von technischen, ästhetischen und naturwissenschaftlichen Medienentwicklungen gespeist wurde, und eine international mittlerweile etablierte Historisierung der Esoterikgeschichte, deren deutschsprachige Protagonisten wir für die Tagung gewinnen konnten. Die Herausgeber danken allen Autor/inn/en für ihre Beiträge zu Konferenz und Band, und Heike Behrend (Köln) für ihre Diskussionsbeiträge. Unser Dank gilt auch Heinz Schott (Bonn), der auf der Tagung über Magie, Mesmerismus und Hypnose: Trancemedien aus medizinhistorischer Sicht gesprochen hat, aber aus Zeitgründen leider auf die Ausarbeitung seines Beitrages für die Publikation verzichten musste. Unverzichtbare Hilfe bei der Organisation und Durchführung der Tagung haben Marina Artino, Anja Dreschke, Jiannis Giatagantzidis, Frederic Ponten und – vor allen anderen – Claudia von Rönn geleistet; sie hat zudem gemeinsam mit Nadine Taha die Drucklegung dieses Bandes umsichtig und unermüdlich vorangetrieben.
Siegen, im Januar 2009 Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz
Literatur Andriopoulos, Stefan: „Okkulte und technische Television“, in: ders./Dotzler, Bernhard (Hrsg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt a.M. 2002, S. 31-53. Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. Campbell, Bruce F.: Ancient Wisdom Revived. A History of the Theosophical Movement, Berkeley 1980. Chéroux, Clément: The Perfect Medium. Photography and the Occult, New Haven 2005. Darnton, Robert: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich [1968], München 1983. Didi-Huberman, Georges: Die Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997.
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
Dixon, Joy: Divine Feminine. Theosophy and Feminism in England, Baltimore 2001. Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web, München 2008. Fauchereau, Serge: Hommes et mouvements esthétiques du XXe siècle, Vol. I: Les premiers ismes, l’occultisme, la naissance de l’abstraction, Paris 2005. Fischer, Andreas/Loers, Veit (Hrsg.): Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren (Ausstellungskatalog Museum Abteiberg Mönchengladbach), Frankfurt a.M. 1997. Freytag, Nils/Sawicki, Diethard (Hrsg.): Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München 2006. Gamper, Michael: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930, Paderborn u.a. 2007. Geertz, Armin W.: „Cognitive Approaches to the Study of Religion“, in: Antes, Peter/ders./Warne, Randi R. (Hrsg.): New Approaches to the Study of Religion, Bd. 2: Textual, Comparative, Sociological, and Cognitive Approaches, Berlin/New York 2004, S. 347-399. Ginneken, Jaap van: Crowds, psychology and politics, 1871-1899, Cambridge 1992. Hagen, Wolfgang: Radio Schreber. Der ‚moderne Spiritismus‘ und die Sprache der Medien, Weimar 2001. Hagen, Wolfgang: „Der Okkultismus der Avantgarde um 1900“, in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338-357. Hagen, Wolfgang: „Zur medialen Genealogie der Elektrizität“, in: Maresch, Rudolf/Werber, Niels (Hrsg.): Kommunikation – Medien – Macht, Frankfurt a.M. 1999, S. 133-173. Hanegraaff, Wouter J. u.a. (Hrsg.): Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, 2 Bde., Leiden u.a. 2006. Hessenbruch, Arne: „Science as Public Sphere. X-Rays Between Spiritualism and Physics“, in: Goschler, Constantin (Hrsg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit in Berlin 1870-1930, Stuttgart 2000, S. 89-126. Hoffmann, Stefan: Geschichte des Medienbegriffs, Hamburg 2002. Holl, Ute: Kino, Trance & Kybernetik, Berlin 2002.
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Marcus Hahn / Erhard Schüttpelz | Einleitung
Kümmel, Albert/Löffler, Petra (Hrsg.): Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M. 2002. Kümmel-Schnur, Albert/Schröter, Jens (Hrsg.): Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008. Lang, Bernhard/McDannell, Colleen: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt a.M. 1996. Linse, Ulrich: Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter, Frankfurt a.M. 1996. Loers, Veit (Hrsg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian, 1900-1915, Ostfildern 1995. Osterhammel, Jürgen/Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung, München 2003. Pels, Peter: „Introduction: Magic and Modernity“, in: Meyer, Birgit/ders. (Hrsg.): Magic and Modernity. Interfaces of Revelation and Concealment, Stanford 2003, S. 1-38. Pytlik, Priska (Hrsg.): Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare, Tübingen/Basel 2006. Pytlik, Priska: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn 2005. Rowlands, Peter/Wilson, J. Patrick (Hrsg.): Oliver Lodge and the Invention of Radio, Liverpool 1994. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn 2002. Treitel, Corinna: A Science for the Soul. Occultism and the Genesis of the German Modern, Baltimore 2004. Zander, Helmut: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Milieus und gesellschaftliche Praxis 1884 bis 1945, 2 Bde., Göttingen 32008.
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Das Jenseits und seine Immanentisierung
Helmut Zander
Höhere Erkenntnis Die Erfindung des Fernrohrs und die Konstruktion erweiterter Wahrnehmungsfähigkeiten zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert 1.
Neues Geisterland: das Jenseits
Im 19. Jahrhundert erscheinen erstmals Geister aus dem „Jenseits“. Als Anfang dieser spiritistischen Innovation hat sich das spirit rapping von Hydesville in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Im Haus des Methodistenpastors John D. Fox hörten dessen Kinder Klopfgeräusche, die man als Mitteilungen aus dem Jenseits interpretierte. Der Methodismus ist ein ekstatisches Milieu, in dem der Offenbarungsanspruch der Schrift durch eigene Erfahrungen begründet oder erweitert wurde. Damit entstand eine spezifisch amerikanische Form des Spiritismus,1 die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Europa wirkte. Aber die Geschichte von Hydesville war eine Gründungsmythologie, nicht nur weil die Mädchen teilweise später Betrugspraktiken offenlegten, sondern weil diese Geschichte einen punktuellen Anfang suggeriert, den es so nie gab. Dann aber wird der Einleitungssatz, dass es sich bei den Geistererscheinungen aus dem Jenseits um eine kulturhistorische Innovation handle, begründungsbedürftig, werden doch von der Altertumswissenschaft bis zur Ethnologie Heerscharen von Geistern aufgeboten, die man einladen, beschwören oder verjagen kann. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass die spiritistischen Geistererscheinungen eine Innovation sind. Diese Position ergibt sich, wenn man neben dem genus proximum, den Geistererscheinungen in der longue durée der Religionsgeschichte, die differentia specifica der spiritistischen Praktiken im 19. Jahrhundert bestimmt. Die Unterschiede und damit die Innovationen liegen vor allem in drei Punkten: Erstens in der Erfindung des Jenseits um 1800. Das Substantiv Jenseits ist im Deutschen erst seit den 1790er Jahren nachweisbar,2 möglicherweise 1
Höchst instruktiv dazu der Beitrag von Michael Hochgeschwender in diesem Band.
2
Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. IV/2, Sp. 2312. Zur Begriffs- und Kulturgeschichte vgl. Hölscher: Das Jenseits.
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Helmut Zander | Höhere Erkenntnis
stammt die Substantivierung des Adjektivs von Jean Paul. Die Kreation von Substantiven ist aber, wie die begriffsgeschichtliche Forschung gezeigt hat, ein Indikator für die Innovation in Gegenstandsbereichen.3 Doch die Begriffskarrieren der spiritistischen Terminologie – auch zentraler Begriffe dieses Aufsatzes wie der ‚höheren‘ oder der ‚übersinnlichen‘ Erkenntnis – sind unaufgearbeitet. Zweitens beanspruchten Spiritisten um 1900, Geistererscheinungen empirisch nachzuweisen. Dieses Übergreifen naturwissenschaftlicher Empirieansprüche der new science ist ein Charakteristikum der Religionskultur um 1900.4 Drittens schließlich entstand Spiritismus erst, als der alte Himmel durch das Fernrohr als menschenleere Zone entdeckt worden war. Das hellsehende Medium für das neue Jenseits benötigte einen neuen epistemischen Rahmen, weil neue technische Medien, Fernrohr und Mikroskop, neue ästhetische Felder erschlossen, die mit traditionellen Sensorien nicht mehr wahrnehmbar waren und alte Wahrnehmungsfelder eliminierten.5 Dieses Dreieck von Jenseitsbegriff, methodischer Empirie und der durch das Fernrohr entstandenen neuen Kosmologie steht im Zentrum dieses Aufsatzes, weil sich von hier aus die Innovationen des Spiritismus als Teil einer Veränderung der religiösen Raumordnung und der religionsästhetischen Wahrnehmung seit der Frühen Neuzeit deuten lassen. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklungen bilden die technischen Erweiterungen des Blicks durch Teleskop und Mikroskop kurz nach 1700. Damit werden kategorial neue, weil für die natürlichen Sinne unzugängliche Welten für den Menschen ‚geschaffen‘, die, so meine These, die Kreation eines ‚Jenseits‘ nach sich ziehen, das am Ende des 18. Jahrhunderts dann diesen Begriff erhält. Der Spiritismus gehört, so meine Folgethese, zu den Fernwirkungen dieser medialen Innovation und zu den Versuchen, diese neuen Welten zugänglich zu machen. Für die historiographische Plausibilität der konstitutiven Verbindung von Jenseits und Fernrohr ist nachzuweisen, dass die spiritistischen Innovationen 3
Wichtig sind hierzu die von Reinhard Kosellek oder Lucian Hölscher durchgeführten oder initiierten Forschungen. Solche sind für die mediale Begrifflichkeit des Spiritismus und seines Umfeldes noch zu leisten. Der Terminus ‚höhere Erkenntnis‘ etwa dürfte, wie die Masse der spezifisch spiritistischen Begriffe, im 19. Jahrhundert entstanden sein. Einige relevante Begriffe wie das ‚Fernsehen‘ dürften aus der Romantik stammen (dieser Terminus findet sich bereits bei Carl Gustav Carus [freundlicher Hinweis von Heinz Schott]), der Telegraph stammt aus dem späten 18. Jahrhundert, das Teleskop ist schon im 17. Jahrhundert belegt. Auch das Adjektiv ‚übersinnlich‘ ist im 17. Jahrhundert belegt, signifikanterweise (zuerst?) bei Jacob Böhme (Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. XI/2, Sp. 559).
4
Zander: „Esoterische Wissenschaft um 1900“.
5
Siehe unten Abschnitt 3.
18
Helmut Zander | Höhere Erkenntnis
des 19. Jahrhunderts auf Diskursstränge zurückgehen, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Schärfer gesagt: Der Spiritismus beginnt nicht mit dem spirit rapping von Hydesville im 19. Jahrhundert, wie es die Forschung weitgehend unterstellt hat, sondern ist auch das Produkt von Transformationen im Rahmen einer longue durée von seit dem 17. Jahrhundert laufenden Versuchen, die neue astronomische Weltdeutung weltanschaulich aufzufangen. Bei meinen Überlegungen handelt es sich nur um die erste Kartierung einer Geschichte, deren intellektuelle Landschaften erst nach weiteren Forschungen zu den nichthegemonialen Traditionen und einer Neukodierung der Wirkungsverhältnisse von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ sichtbar werden. Die vornehmste Aufgabe der vorgeschlagenen Antworten ist es deshalb, neue Fragen zu stellen.6 Methodisch geht es nicht darum, eine neue Meistererzählung zu liefern. Sie zahlt im besten Fall den Preis einer hohen Komplexitätsreduktion im Rahmen der Geschichte ‚marginaler‘ Strömungen, ist aber auch angesichts des Forschungsstandes nicht zu verantworten, da sie mehr verdecken als erhellen würde. Ich wähle deshalb den Weg, mir wichtig erscheinende Dimensionen herauszugreifen und so einen roten Faden zu konstruieren, ihn aber durch Kontextualisierung, durch Verweise auf verwandte oder konkurrierende Phänomene zu relativieren. Diese Verweise haben nicht die Funktion eines name dropping, sondern sollen die Rekontextualisierung der analytisch extrahierten Themen ermöglichen, indem sie die Perspektivität meines Ansatzes deutlich machen.
2.
Neuer Himmel
Um das Jahr 1608 herum wird in den Niederlanden, vermutlich im seeländischen Middelburg, der Fundus optischer Sehhilfen zu einer epochalen Erfin-
6
Signifikanterweise fehlen in der mediengeschichtlichen Literatur Bezüge auf die Wurzeln in der Esoterik oder in der historischen Medienanthropologie. Vgl. nur exemplarisch Holtz-Bacha: Schlüsselwerke für die Medienwissenschaft; Schanze: Handbuch der Mediengeschichte; Hiebel: Große Medienchronik; Merten: Die Wirklichkeit der Medien; Hörisch/Wetzel: Armaturen der Sinne; Helmes/Köster: Texte zur Medientheorie. Eine Ausnahme bildet Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs, S. 128ff., der spiritistische Medien am Beispiel Wilhelm Bölsches (der strukturell zu den in diesem Aufsatz in Abschnitt 6.1 behandelten innerokkultistischen Kritikern gehört) sehr knapp behandelt, aber über die semantische Brückenfunktion den Spiritismus normativ eliminiert („überflüssige Relikte einer irrationalen Weltanschauung“, S. 130). Sehr offen hingegen Kümmel/Löffler: Medientheorie 1833-1933 und Kümmel-Schnur/Schröter: Äther, hier insbesondere Rieger: „Im Äther der Intuition“.
19
Helmut Zander | Höhere Erkenntnis
dung verdichtet.7 Man benutzte Linsen, um Fernrohre und, wohl wenig später, Mikroskope herzustellen. Die einzelnen Elemente waren nicht neu. Linsen wurden seit der Antike für Vergrößerungen benutzt, die Brille war seit dem 13. Jahrhundert in Westeuropa in Gebrauch, aber das Arrangement in komplexen technischen Geräten zur Fernsicht war innovativ. Damit wurden Welten sichtbar, die bislang niemand hatte sehen können. Diese Instrumente erweiterten nicht nur das Sehfeld, sondern veränderten kategorial die religiöse Wahrnehmung:8 Der metaphysische Himmel – ich beschränke mich im Folgenden vor allem auf das Fernrohr – wurde zum physischen Weltall. Die Folgen dieser Erfindung sind sofort und mit hohem wissenschaftstheoretischen und emotionalen Ausschlag diskutiert worden. Galileis Entdekkung, dass der Mond nicht die ideale Kugelform besaß, stellte metaphysische Hintergrundannahmen einer vollkommenen Konstruktion der Himmelskörper in Frage. Seine Entdeckung der Jupitermonde verschärfte die Debatte um die Unendlichkeit des Himmels, die im 16. Jahrhundert von Thomas Digges bis Giordano Bruno postuliert worden war. Fast zeitgleich mit Galileis Entdeckungen publizierte Johannes Kepler 1609 seine Astronomia nova, in der er die naturale Identität der irdischen mit der himmlischen Sphäre postulierte und die Himmelstheologie in eine Himmelsphysik überführte. Aber die Ergebnisse der teleskopischen Einsichten blieben, nicht zuletzt aufgrund der Schwächen der frühen Fernrohre, noch jahrzehntelang umstritten.9 Entscheidend ist im Blick auf den Spiritismus, dass der sichtbare Himmel als religiöse Welt in Frage gestellt war, weil er für die menschliche Wahrnehmung zugänglich und analysierbar wurde. Zuvor hatte der Himmel – Analoges gilt für die Unterwelt – zwar als überirdische, nicht aber prinzipiell von der menschlichen Welt getrennter Raum gegolten. Man konnte ihn etwa bereisen. So berichtete eine alte, noch vorexilische Überlieferung der Bibel, dass der Prophet Elias mit einem Wagen in den Himmel aufgefahren sei und seinen Jüngern seinen Mantel zurückgelassen habe (2 Kg 2,11). Bildprogramme dieses Topos finden sich auch in der Frühen Neuzeit. Analog wurde die Himmelfahrt Jesu, Marias oder Mohammeds im Modell der Translokation gedacht. Auch die Unterwelt konnte man befahren, wie die Geschichte von Orpheus, der zu Hades und Persephone in die Tiefe steigen kann, um die tote Eurydike ins Land der Lebenden zurückzuholen, oder die Erzählung von Jesu Abstieg in die Totenwelt zeigen. Ebenso besaß das Paradies irdische Koordinaten. Dem älteren Schöpfungsbericht zufolge hatte Gott Engelwächter vor die Tore gestellt, da7
Zur Vorgeschichte vgl. Helden: The Invention of the Telescope; Willach: „Der lange Weg zur Erfindung des Fernrohres“.
8
Heßler: „Der Imperativ der Sichtbarmachung“.
9
Witthaus: Fernrohr und Rhetorik.
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mit umherwandernde Menschen keinen Einlass fänden (Gen 3,24), und noch Theodor von Mopsuestia (350?-428/429) bestimmte im 5. Jahrhundert die geographische Lage des Paradieses.10 Diesem Kontinuum zwischen Erde und Himmel und der Unterwelt entzogen das Fernrohr und das Mikroskop die Plausibilität. Der Himmel wurde in unermesslichen Tiefen erkennbar, aber unzugänglich. Damit entstand die paradoxe Situation, dass ehedem metaphysische Himmelskörper jetzt ‚irdisch‘ und prinzipiell zugänglich, faktisch aber unzugänglich wurden. Der Traum einer extraterrestrischen Exkursion des Menschen sollte erst mit der Mondlandung im Jahr 1969 in Erfüllung gehen. Die spiritistische Geisterwelt war angesichts dieser Probleme ein Zwitter: Sie sollte empirisch real sein, dies war das Zugeständnis an die naturwissenschaftliche Episteme des 19. Jahrhunderts. Aber zugleich musste sie durch eine kategoriale Differenz von der ‚materialistischen‘ Welt unterschieden sein, da die Astronomen durch die Fernrohre keine ‚Geisterwelten‘ erblickt hatten. Damit entstand eine Himmelswelt, die um 1800 herum ein eigenes Substantiv erhielt: Das Jenseits. Diese Begriffserfindung war der semantische Abschluss einer Neuverortung der himmlischen und nachtodlichen Welt, die mit dem Anspruch empirischer Nachweisbarkeit konstruiert wurde, aber doch empirisch unzugänglich blieb. Wenn man aber in den Himmel nicht mehr aufsteigen, in das Paradies nicht mehr wandern und die Unterwelt nicht mehr befahren konnte, benötigte man einen neuen Zugang. Die Lösung lautete: Erscheinung statt Begehung, Geisterkommunikation statt unmittelbarer Kontaktaufnahme. An dieser Stelle greife ich erstmals zum Mittel der Kontextualisierung, denn strukturell hatte die Depotenzierung des metaphysischen Himmels viele Vorläufer: Der christliche Spiritualismus, also die Begründung von Religion über Erfahrung, hatte schon in den neutestamentlichen Texten die Möglichkeit konzipiert, an Stelle historischer Faktizität auf innere Wahrnehmung zu setzen und so den Himmel in den Menschen zu verlagern. Oder: Die theologia negativa hatte jede Möglichkeit des angemessenen Redens über Gott und seine ‚Welt‘ in Abrede gestellt und somit jede sprachliche Explikation fragwürdig gemacht. Oder: die Theologie der analogia entis hatte die Position vertreten, dass von Gott nur im Modus kategorialer Differenz gesprochen werden könne – was dann auch für den Himmel galt. Oder: Die antike Tradition allegorischer Deutung hatte mit der Metaphorisierung der Himmelssemantik im 17. und 18. Jahrhundert die Abhängigkeit von physikalischen Himmelsvorstellungen gelöst. Diese Allegorisierung führte im 18. Jahrhundert zu der Etablierung der vielleicht wichtigsten Alternative zu einem spiritistisch-empirischen Jenseits, der Metaphorisierung der Rede vom Himmel in der Theologie und überhaupt zu semiotischen Theo10 In genesim II, 8, nach Scafi: Mapping Paradise, S. 44.
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rien religiöser Sachverhalte.11 In diesem Feld war der Spiritismus nur eine Reaktion auf die Veränderungen der Wahrnehmungsbedingungen des Himmels seit dem 17. Jahrhundert.
3.
Aufrüstung der Sinne: höhere Einsicht bei Swedenborg, Oetinger und Lessing
Die Sinne schienen nach der Erfindung von Fernrohr und Mikroskop zugunsten der neuen technischen Medien entthront, vielleicht sogar entmachtet. Aber die Geschichte der sinnlichen Himmelswahrnehmung verlief nicht so, wie eine lineare Säkularisierungstheorie im 19. Jahrhundert glaubte: wonach der Himmel erforscht und profaniert und der Glaube an eine religiöse Welt des Himmels zum Aberglauben geworden sei. Die Wissenschaftsgeschichte hat im 19. Jahrhundert diese Deutung mit den Hagiographien ihrer Zeugen und Märtyrer geschrieben. Allen voran galt Galilei als intellektuelle Galionsfigur, dessen Konsequenzen nur Uneinsichtige und dogmatische Verblendete ignoriert hätten. Von einer solchen Deutung bleibt heute kaum noch ein Stein auf dem anderen.12 Vielmehr kam es zu konkurrierenden Deutungen der neuen astronomischen Befunde, die nicht in einer linearen Geschichtskonzeption à la ‚von Galilei über Newton zu Einstein‘ zu fassen sind. In diesem Deutungsfeld interessieren mich nicht die gerade genannten theologischen Optionen einer nichtphysikalischen Deutung des Himmels, denn für sie war die Empirisierung des Himmels kein Problem. Da sie als modernitätskompatibel galten, sind sie gut erforscht und in der historischen Theologie präsent. Wichtiger sind für den Spiritismus wissenschaftsgeschichtlich bislang unterbelichtete Deutungsalternativen. Dazu zählt die Verstärkung, teilweise sogar die Schaffung einer Theologie und Physiologie höherer Sinne, die den Menschen konkurrenzfähig mit dem Fernrohr machen sollten. Der Terminus der höheren Sinne war in der Leibniz-Wolffschen Schule für Verstand und Vernunft etabliert, wohingegen als niedere die physischen Sinne wie der Tast- oder der Sehsinn bezeichnet wurden. Diese Anthropologie wurde in der Frühen Neuzeit aufgerüstet, die höheren Sinne wurden (vermutlich im 19. Jahrhundert) zu übersinnlichen. Diese Sinne sind für den späteren Spiritismus von Interesse, weil sie versprachen, nicht nur einen Mehrwert gegenüber den neuen optischen Medien zu schaffen, sondern diese gar zu übertreffen. Die höher schauenden Sinne sollen ein mit epistemischem Mehrwert aus-
11 Sparn: „‚Aussichten in die Ewigkeit‘“. 12 Exemplarisch Biagioli: Galilei, der Höfling.
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gestattetes strukturelles Äquivalent der ‚fern‘ schauenden ‚Rohre‘ und ‚Gläser‘ sein. Die Geschichte dieser ‚höheren‘ Erkenntnis durch die Ausbildung höherer Sinne ist noch ungeschrieben, und diese Leerstelle wird in diesem Aufsatz auch nicht gefüllt. Es lassen sich jedoch Positionen benennen, in denen die Herausbildung höherer Erkenntnis erwogen oder erwartet wird. Die drei im Folgenden genannten Protagonisten, Swedenborg, Oetinger und Lessing, bilden keine genealogische Reihe, kein evolutionäres Trio. Vielmehr markieren sie nur Positionen in einem Feld der europäischen intellektuellen Debatte, bei denen die Einordnung als ‚rückwärtsgewandte‘ oder ‚fortschrittliche‘ Denker – in denen etwa der ‚moderne‘ Lessing gegen die ‚Traditionalisten‘ Swedenborg und Oetinger ausgespielt wird – vor allem etwas über die Position des Beobachters und kaum etwas über das 18. Jahrhundert aussagt. Emanuel Swedenborg (1688-1772), dessen Nachlass in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm heute zum Weltkulturerbe zählt, wurde der ‚Seher‘ des 18. Jahrhunderts schlechthin. Aber er war in erster Line ein Naturforscher. Sein naturphilosophisches Deutungsinteresse zielte, wie das vieler Kollegen, auf das Verstehen des inneren Zusammenhangs der Welt, wozu ihm sowohl Physik und Mathematik als auch kulturwissenschaftliche Konzepte wie sprachphilosophische Ursprachenkonzepte oder Korrespondenztheorien dienten. Mitten in einer naturphilosophischen Arbeit, dem Regnum animale, die sich mit der Frage universaler Korrespondenz beschäftigte, ereilten ihn im März 1744, wie er berichtete, Träume, die er bis zum Oktober des gleichen Jahres in seinem Traumtagebuch aufzeichnete. Er schrieb, in der Nacht nach Ostern das Gesicht Christi und noch mehr wunderbare Dinge geschaut zu haben. Diese Notizen dokumentierten einen fundamentalen epistemologischen Wandel in Swedenborgs Biographie. Sein Vertrauen für die Erklärungspotenzen der Mathematik und der exakten Wissenschaften schwand.13 Swedenborg begann, sich als Werkzeug Gottes zu fühlen, er wandelte sich vom Naturforscher zum Visionär – jedenfalls in der Außenwahrnehmung. In seinem Selbstverständnis blieb er Wissenschaftler – als Enthusiast, als ‚Ergriffener‘ wollte er nie gelten.14 Er hatte, möglicherweise auf Grund der Beschäftigung mit der Philosophie John Lockes, eine Theorie der ‚Intuition‘ in seine Epistemologie integriert und intensivierte zugleich sein philologisches Bibelstudium, indem er beispielsweise Hebräisch lernte, ehe er die Bibel mit visionärem Blick las.15 Auf der Grundlage dieser Mischung aus Erkenntnistheorie,
13 Jonsson: Emanuel Swedenborg, S. 120ff. 14 Viatte: Les sources occultes du romantisme, S. 74. 15 Lamm: Swedenborg, S. 75f.
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Naturphilosophie und Theologie (die im 18. Jahrhundert die Norm war), vielleicht auch unter Rückgriff auf hermetisches Denken,16 erschienen (anonym) zwischen 1749 und 1756 die acht Bände seines spirituellen Vermächtnisses, der Arcana Coelestia. In diesen Himmlischen Geheimnissen deutete er insbesondere die Schöpfungsgeschichte mit den exegetischen Methoden seiner Zeit, fügte aber zugleich Erläuterungen hinzu, die er auf seine Einblicke in die spirituelle Welt zurückführte. Für Swedenborg war dies eine Suche nach sicherer Erkenntnis, die die Naturforschung beinhalten, aber auch darüber hinausgehen sollte. Ins Zentrum seiner Wissenskonzeption stellte er eine Theorie mehrfacher Schriftsinne, welche die historische Bearbeitung eines Stoffes sowie Korrespondenz- und Analogiedenken miteinander verband.17 In diesem Kontext revidierte er zentrale Positionen der lutherischen Theologie: Er kritisierte die Trinitätslehre, sah das Jüngste Gericht als spirituelles Ereignis und deutete die Hölle als postmortale Einsamkeit.18 Aber Swedenborg wechselte in seiner Selbstwahrnehmung nicht auf die Seite der Traumdeuter, sondern blieb Naturforscher und Philologe mit erweitertem Wahrnehmungsfeld. Swedenborg beanspruchte, die ohnehin im 18. Jahrhundert häufig unscharfe Grenze zwischen Naturphilosophie und spekulativer Theologie durchlässiger zu machen und die Grenzen naturforschender Erkenntnis durch eine exegetisch begründete Schau zu überschreiten. Der Himmel war so für Swedenborg eine nicht physikalisch begehbare, blieb aber eine sinnlich zugängliche Welt. Er wollte die physikalische Raumordnung im Prinzip beibehalten („der Christliche Himmel befindet sich unterhalb der alten Himmel“19), aber er postulierte nicht (mehr) dessen physische 16 Swedenborg gilt zwar vielfach als Schlüsselfigur für die Genese der europäischen Esoterik, doch sind seine Rückgriffe auf neuplatonisches Denken, etwa auf Böhme, so klar nicht. Vgl. Williams-Hogan: „The Place of Emanuel Swedenborg in Modern Western Esotericism“, S. 203ff. Und wenn man auf Böhme zurückgriff, musste man nicht zwingend Esoteriker werden (Mansikka: „Did the Pietists Become Esotericists When They Read the Works of Jacob Boehme?“). WilliamsHogan macht die Verbindungen Swedenborgs zu esoterisch genannten Positionen stark, aber dies ist teilweise dem Forschungsinteresse der 1990er Jahre verdankt, möglichst weitgehend ‚verdrängte‘ Bezüge zur ‚Esoterik‘ aufzudecken. Die Korrespondenztheorie, die als Gelenkstück zu hermetischem Denken gilt, ist keine Eigenheit dieser Tradition. Deshalb sind Hinweise auf Swedenborgs Korrespondenztheorien kein zwingender Beleg für ‚esoterische‘ Bezüge; vgl. Williams-Hogan: „The Place of Emanuel Swedenborg in Modern Western Esotericism“, S. 218ff., und Hanegraaff: Swedenborg, Oetinger, Kant. 17 Jonsson: Emanuel Swedenborg, S. 169. Exemplarisch Swedenborg: Himmlische Geheimnisse, S. 4f. (= Vorwort, Nr. 5). 18 Williams-Hogan: „Swedenborg, Emanuel“, S. 1102f. 19 Swedenborg: Enthüllte Offenbarung, S. V.
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Zugänglichkeit. Swedenborgs Position wird an einem zentralen Punkt der europäischen Religionsgeschichte, dem Umgang mit dem apokalyptischen Denken, deutlich. Das Jüngste Gericht, das als physikalisches Ereignis durch die neue Kosmologie in eine Krise geraten war und das Leibniz schon 1700 durch die Konzeption einer Theodizee hatte transformieren wollen,20 dachte Swedenborg auf eine Weise, die den Himmel als reale Welt festhielt, ihn aber im Angesicht einer zeitlich unendlichen Kosmologie denkmöglich werden ließ: Das Endgericht sei im Himmel im Jahr 1757 schon abgehalten worden.21 In der Folgezeit werde „ein neuer Himmel aus Christen“ entstehen, und „aus diesem Himmel steigt nun herab und wird herabsteigen die Neue Kirche auf Erden, welche das Neue Jerusalem ist“.22 „Das Neue Jerusalem ist eine neue Kirche auf Erden, welche mit jenem Himmel zusammenwirken wird“.23 Damit war der Himmel von Swedenborg spiritualisiert. Der für die Geschichte des Spiritismus entscheidende Punkt ist Swedenborgs Anspruch auf höhere Wahrnehmung,24 die er in den Arcana Coelestia begründete. Da niemandem „außer dem HErrn“ „Geheimnisse […] geoffenbart“ würden, könne es eigentlich keine höhere Wahrnehmung geben, außer, und darin spiegelt sich die christliche Theologie der Rezeptivität, dass vermöge der Göttlichen Barmherzigkeit des HErrn [mir] vergönnt worden ist, schon einige Jahre lang fortwährend und ununterbrochen im Umgang mit Geistern und Engeln zu seyn, sie reden zu hören, und wieder mit ihnen zu reden; daher staunenswerthe Dinge im andern Leben zu hören und zu sehen gegeben werden, die nie zu eines Menschen Kenntniß, noch in seine Vorstellung gekommen sind.25 Als Swedenborg 1749 den ersten Band der Arcana veröffentlichte, kannte er die Projektionsvorwürfe, die angesichts dieser Ansprüche im Raum standen: Ich weiß wohl, daß Viele sagen werden, es könne nie Jemand mit Geistern und Engeln reden, so lange er im Leibe lebt, und Viele, es sey eben Einbildung [phantasia], Andere auch, ich habe derlei berich-
20 Sparn: „Mit dem Bösen leben“, S. 214f. 21 Swedenborg: Enthüllte Offenbarung, S. III. 22 Ebd., S. IIIf. 23 Ebd., S. V. 24 Mir ist nicht klar, ob Swedenborg diese Terminologie benutzt hat. 25 Swedenborg: Himmlische Geheimnisse, S. 5 (= Vorwort, Nr. 4).
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tet, um Glauben zu gewinnen, und Andere anders; aber dergleichen kümmert mich nicht, denn ich habe (jenes) gesehen, gehört, gefühlt.26 Aber es blieb nicht bei höheren (im Sinne von geoffenbarten) Einsichten über theologische Gegenstände. Swedenborg beanspruchte, auch über ganz irdische Dinge mehr zu wissen.27 Swedenborg wurde das, was man im 19. Jahrhundert einen ‚Hellseher‘ nannte. Seine Konkretionen konnten sich wie folgt lesen: Im Gespräch „mit Engeln und Geistern“ habe er erfahren, dass bei den Tartaren das bis dato unbekannte Buch „Jaschar“ existiere, in dem etwa die Verehrung „Jehovas“ gelehrt werde.28 „Suchet deshalb in China nach, und ihr werdet es vielleicht bei den dortigen Tartaren finden.“29 Johann Friedrich Immanuel Tafel, Swedenborgs Übersetzer und Herausgeber, verkündete 1829 stolz die Bewahrheitung dieser Vision: Man habe das Buch „Hajaschar“ gefunden.30 Die meisten dieser Geschichten lassen sich als Zuschreibungen entlarven, für gut begründet hingegen sahen die Zeitgenossen, auch sein späterer Kritiker Immanuel Kant, ein Ereignis vom Juli 1759 an. Am 19. Juli habe Swedenborg bei einem Abendessen eine Feuersbrunst im rund vierhundert Kilometer entfernten Stockholm beschrieben, bis zu dem Punkt, als es vor seinem eigenen Haus endete. Am nächsten Tag sei er aufgefordert worden, bei den Behörden eine detaillierte Beschreibung abzugeben, am 21. Juli habe ein Kutscher, von Stockholm kommend, Swedenborgs Darstellung bestätigt.31 Swedenborg wurde also die Fähigkeit zugesprochen, fernsehen zu können – und dies mehrte unter den Zeitgenossen seinen Ruhm, schuf ihm aber zugleich die schärfsten Gegner. Kant, der prominenteste unter ihnen, stand im Lauf seines Lebens auf beiden Seiten. Swedenborg beanspruchte damit, und dies wird in der Sekundärliteratur kaum auseinandergehalten, zwei Möglichkeiten ‚höherer‘ Wahrnehmung: eine spirituelle und eine irdische, den Kontakt mit himmlischen Welten und die Fähigkeit des sublunarischen Fernsehens. Es geht hier nicht um die empirische Frage, ob Swedenborg wirklich in die spirituelle Welt geschaut und den Brand ferngesehen hat, sondern um die Etablierung eines neues diskurstheoretischen Musters, demzufolge Swedenborg 26 Ebd., S. 50 (= Nr. 68). Swedenborg schreibt „vidi, audivi, sensi“; ders.: Arcana Coelestia, S. 53 (= Nr. 68). Ob man Caesars „veni, vidi, vici“ mithören darf? 27 In swedenborgianischen Kreisen wurde eine Vielzahl solcher hellsichtiger Einsichten zusammengetragen. Vgl. die Materialsammlung etwa bei Geymüller: Swedenborg und die übersinnliche Welt, S. 309-347. 28 Tafel: „Eine erfreuliche Nachricht betreffend das Buch Jaschar“, S. 42. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Williams-Hogan: „Swedenborg, Emanuel“, S. 1103.
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sein Wissen als höhere Einsicht präsentierte: Mit hermeneutischen Hilfsmitteln in den Himmel und mit seinen ‚physischen‘ Fähigkeiten in die Ferne schauen zu können. Der Einblick in den Himmel und die Fernwahrnehmung des Brandes von Stockholm waren der Auftakt eines neuen Typus der mit höheren Sinnen geschauten Wahrnehmung. Damit gehört Swedenborg – vermutlich – an eine zentrale Stelle in der Geschichte höherer Wahrnehmung. Als ‚Seher‘ nahm er an vielen Stellen der wissenschaftlichen Enzyklopädie Verschiebungen vor: Er holte die individuelle Möglichkeit einer Offenbarung, die in der katholischen Tradition als ‚Privatoffenbarung‘ möglich, aber damit auch in den kirchlichen Rahmen integriert worden war, in den Protestantismus zurück. Hier waren vordem mit der Ausgrenzung der ‚Schwärmer‘ und durch das Theologumenon der Abgeschlossenheit der (schriftlichen) Offenbarung neue Offenbarungen theologisch delegitimiert worden. Er verstärkte die anthropologische Begründung der höheren Einsicht, indem er die Rezeptivität bei Träumen und bei höheren Einsichten zwar festhielt, aber sich selbst als aktives Subjekt im Verkehr mit Geistern konzipierte und die Niederschrift der Himmlischen Geheimnisse, deren Anonymität bald keine mehr war, als seine eigene (auktoriale) Leistung darstellte. Swedenborg plausibilisierte seine höhere Einsicht, indem er sie mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Empirizität verband. Insbesondere die hellseherische Fernsicht irdischer Ereignisse eröffnete die Möglichkeit, die religiöse Tradition einer erweiterten Wahrnehmung in eine andere, ‚empirische‘ Anthropologie zu übertragen. Ein zweiter Protagonist der Theorie erweiterter Erkenntnismöglichkeiten, der schwäbische Pietist und Pfarrer Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), gehörte zu den vielen, die sich unter dem Eindruck der Lektüre Swedenborgs der Erlangung höherer Erkenntnisse zuwandten.32 Oetinger war zuerst glühender Verfechter Swedenborgs und der Arcana Coelestia gewesen, dann aber dessen scharfer Kritiker geworden, weil sich Swedenborg für ein unmittelbares Werkzeug Christi und dessen endzeitlicher Gesandter gehalten habe.33 Dazu kamen andere theologische Prägungen Oetingers, der im Gegensatz zu Swedenborg stark von neuplatonischten Traditionen beeinflusst war, von Jakob Böhme (von dem der Begriff des ‚Übersinnlichen‘ stammen könnte34) und der Kabbala. Er rezipierte und transformierte dabei Positionen, die die theologische Grenze zwischen Schöpfung und Geschöpf erniedrigten, damit die Fähigkeiten des Menschen erhöhten und so höhere Erkenntnis denkbar machten.
32 Hanegraaff: Swedenborg, Oetinger, Kant, S. 67-85. 33 Benz: Swedenborg in Deutschland; Beyreuther: „Einführung in Oetingers ‚Swedenborg und Anderer irdische und himmlische Philosophie‘“, S. XXIX-XLVI. 34 Siehe oben Anmerkung 3.
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Oetinger konzipierte als Fluchtpunkt seiner Epistemologie eine ‚Zentralerkenntnis‘, die dem Menschen eine umfassende Erkenntnis ermöglichen sollte. Er beschrieb sie mit der Metapher, dass die Erkenntnis des Ganzen wie im Fragment eines zerbrochenen Spiegels möglich sei.35 Dabei handle es sich um einen gestuften Prozess: „In der Central-Erkenntnis“ seien „vielerlei Grade […], so dass immer einer vor dem andern mit dem göttlichen Licht tiefer ins göttliche Licht sieht“.36 Verglichen mit der Vernunfterkenntnis sei die Zentralerkenntnis kein „Stückwerk“ mehr, „weil Gott selbst in einem solchen [Menschen] siehet“.37 Oetinger bezog sich dabei auf Paulus, demzufolge Gott offenbare, was kein Auge gesehen habe.38 Konsequenterweise versprach Oetinger eine massiv erweiterte Erkenntnis, weil der Mensch „mit Gott ein Geist“ werde.39 Damit aber konfrontierte sich Oetinger mit dem Pantheismusproblem, sofern göttliche und menschliche Erkenntnis ineinanderlaufen. Dagegen versuchte er sich zu versichern, indem er postulierte, dass der Mensch seine „Persönlichkeit“ beibehalte, also von Gott unterschieden bleibe, aber „Gott selbst in einem solchen siehet“.40 Im Rahmen dieser hermeneutischen Klausel konnte Oetinger Sätze formulieren, die isoliert Pantheismus bedeuten würden: Nicht nur bei Engeln, die eine leibfreie Erkenntnis besäßen,41 sondern auch bei Menschen laufe die Zentralerkenntnis auf die „Verwandlung der Natur des Erkennenden in die Natur des Erkannten“ hinaus, die Seele werde passiv „in jedem Grad der Central-Erkenntnis in die Einheit und folglich in das Unendliche transformirt“.42 Damit versuchte er, die Vergöttlichung des Menschen zu vermeiden. Konsequenterweise hielt er gegen Böhme, von dem er in seinen Reflexionen über die Zentralschau beeinflusst ist, Gott für frei, den Akt der Schöpfung vorzunehmen oder zu unterlassen.43 In diesem Kontext erweiterter Erkenntnisfähigkeiten stehen Oetingers Überlegungen zu höheren Sinnen. Er postulierte die Existenz einer vierten
35 Oetinger: „Anmerkungen 1. von der Central-Schau oder Erkenntnis, wie die Engel erkennen, 2. von ihrem Unterschied von den Gesichten und Offenbarungen Gottes in den äußern Kräften der Seele“, S. 287. 36 Ebd., S. 291. 37 Ebd., S. 292. 38 Ebd., mit Verweis auf 1 Kor 2 und 2 Kor 3,18. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 In der „englischen Welt“ werde die Seele „transformirt in das, was sie erkennt“; ebd., S. 287. 42 Ebd., S. 292f. 43 Henze: Bengel und Oetinger als Vorläufer des deutschen Idealismus, S. 58ff.
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Dimension,44 vielleicht unter Rückgriff auf Anregungen seines Schülers Johann Ludwig Fricker. Als Letztbegründung berief sich Oetinger wiederum auf Paulus, der von Länge, Breite, Höhe und Tiefe spreche (Eph 3,18) und damit die Dreidimensionalität überschreite.45 Diese höhere Erkenntnis postulierte er entweder als „Möglichkeit“ in der Entwicklung des Menschen, von der dieser selbst „keine Erfahrung“ habe,46 oder er unterstellte sie in einer eschatologischen Perspektive im himmlischen Jerusalem. Die postulierten Fähigkeiten der „Geister“ entsprachen jedoch strukturell den Eigenschaften, die im 19. Jahrhundert den Medien zugeschrieben wurden: Die Geister haben Vermoegenheiten, die wir nicht koennen. Ihre Gedanken-Bilder sind intellectualiter perspectivisch, wie in den Propheten, […] sie können in die Ferne sehen, ohne ihren Ort zu veraendern, sie koennen einander verstehen und erkennen, ja sich und Andern mit suessen Erquickungen penetriren.47 Im Blick auf die weitere Entwicklung der Theorien höherer Sinne im 18. Jahrhundert ist eine Eigenheit bei Oetinger wichtig: Er nahm keine Anthropologisierung der höheren Wahrnehmung vor. Für Oetinger besitzen nur die Geister, nicht jedoch die Menschen die höheren Wahrnehmungsfähigkeiten von Fernsehen oder Telepathie. Allerdings liegt hier eine Spannung zu seinen eigenen Fähigkeiten spiritueller oder hellseherischer Einsicht. Gleichwohl: Der Weg vom theozentrischen zum anthropozentrischen Himmel war damit wohl beschritten.48 Wie es in der Folgezeit zur Naturalisierung von spirituellen Eigenschaften höherer Erkenntnis kam, ist in Ermangelung von Forschungsarbeiten noch nicht nachvollziehbar. Es ist überhaupt unklar, ob es sich hier um einen ‚Weg‘ handelte oder ob man nicht andere Metaphern, etwa vom ‚Auftauchen‘ oder von der ‚Wiederkehr‘ derartiger Vorstellungen benutzen müsste. Klar ist nur, dass sich etwa zwei Generationen nach Oetinger analoge, aber eben anthropologisch anders konstellierte Vorstellungen finden. Dazu zählt Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781), der zumindest so viel Aufklärungstheologe wie Schriftsteller und Bibliothekar war. Er hatte in seinen letzten Lebensjahren, seit den 1780er Jahren, in seiner Erziehung des Menschenge44 Zander: Anthroposophie in Deutschland, S. 898ff. 45 Oetinger: Biblisches und emblematisches Wörterbuch, S. 302 (= EA 1776, S. 572). 46 Als höchste Stufe der „Wiedergeburt“: Oetinger: Abriß der evangelischen Ordnung der Wiedergeburt, S. 261. 47 Oetinger: Biblisches und emblematisches Wörterbuch, S. 302 (= EA 1776, S. 573). 48 Lang/McDannell: Der Himmel.
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schlechts Seelenwanderungsvorstellungen ventiliert.49 Hier hatte er die unendliche Lernfähigkeit des Menschen mit dessen endlicher Lebenszeit kontrastiert und als Lösung dieses Dilemmas die Möglichkeit einer Seelenwanderung erwogen. Zielte er dabei in der Erziehung des Menschengeschlechts auf die Perfektion des biologisch und psychisch vorfindlichen Menschen, so ging er in dem nachgelassenen Fragment Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können, das vermutlich jünger als die Erziehungsschrift ist, einen Schritt weiter. Er unterstellte, ausgehend von fünf Sinnen des Menschen, mit entwicklungstheoretischen Annahmen, es habe früher weniger Sinne gegeben, und folgerte, dass es angesichts der unterstellten Entwicklung des Menschen künftig eine unbekannte Anzahl weiterer Sinne geben werde.50 Insbesondere erwartete er „besondre Sinne“ für die „elektrische“ und die „magnetische Materie“, „durch welche wir es unmittelbar erkennen, ob sich die Körper in dem Stande der Electricität, oder in dem Stande des Magnetismus befinden“.51 Damit vollzog Lessing im Rahmen einer „‚Naturalisierung‘ der Jenseitsvorstellungen“ eine Naturalisierung der Sinnesorgane.52 Er griff dabei Überlegungen Charles Bonnets auf,53 der 1769 in seiner Palingénésie philosophique, einer Art Physikotheologie der Auferstehung, in der Auferstehung einen spirituellen Leib entstehen sah, womit sich der Mensch „ins Unendliche vervollkommnen“ könne.54 Und weil Bonnet eine stark sensualistische Anthropologie vertrat, sollten aus den Keimen des materiellen Leibes „ausgezeichnete Sinne und neue Sinne“ erwachsen.55 Bonnet löste auch das kosmologische Problem der Vielzahl der Welten, denn mit den neuen Sinnen werde es möglich sein, die anderen Welten zu besuchen.56 Gegenüber Bonnet (und Oetinger) betrachtete Lessing die neuen Sinne allerdings nicht als Eigenschaften eines himmlischen Wesens. Vielmehr überlegte er, ob der Mensch diese naturalen Fähigkeiten nicht im Lauf von postmortalen Entwicklungen, in einer Seelen- oder Planetenwan49 Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa, S. 343ff.; mit wichtigen Korrekturen Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Zur Datierung vgl. Schilson/Schmitt: „Kommentar“, S. 794. 50 Lessing: „Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können“, S. 229 (Pkt. 5f.); zur offenen Anzahl ebd., S. 231 (Pkt. 19). 51 Ebd., S. 230 (Pkt. 17). 52 Fick: Lessing-Handbuch, S. 442. 53 Vgl. dazu Altmann: „Lessings Glaube an die Seelenwanderung“, S. 20ff. 54 Bonnet: Palingénésie philosophique, Bd. 16, S. 493 („perfectioner à l’indéfini“); der Bezug zur Auferstehung ebd., S. 499. 55 Ebd., S. 496 („des Sens plus exquis & de nouveaux Sens“). 56 Ebd., S. 500, Bonnet spricht von „d’autres Mondes qu’il nous sera permis de visiter“.
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derung, gewinnen könne. Vermutlich dachte er an eine evolutive Entwicklung, bei der sich die in den niedrigen Sinnen lagernden Wahrnehmungsformen künftig entwickeln würden und so auch die alte Vorstellung der Seelenwanderung modernisieren sollten.57 Angesichts der wenig erforschten Genese dieser drei Positionen sind die Kontexte dieses Denkens momentan nur in Annäherungen bestimmbar. Sie liegen zum einen einmal mehr in der Kosmologie. Die Theorien der Unendlichkeit des Kosmos waren im Verlauf des 17. Jahrhunderts in die räsonierende Öffentlichkeit gelangt und hatten kulturelle Bewältigungsversuche freigesetzt. Von großer publikumswirksamer Resonanz waren die Entretiens sur la pluralité des mondes, die der französische Popularphilosoph Bernard le Bovier de Fontenelle 1686 veröffentlichte und die 1726 ins Deutsche übersetzt wurden. Im lockeren Plausch zwischen einem Philosophen und einer wissbegierigen Dame während eines Abendspaziergangs unter dem sternenübersäten Himmel griff Fontenelle mit seiner Unendlichkeitstheorie die damalige orthodoxe Theologie an. Aber er ging noch einen Schritt weiter, indem er auch eine Vielzahl bewohnter Welten unterstellte. Vor diesem Hintergrund erlangten Theorien der Planetenwanderung, die ein Weiterleben und eine Fortentwicklung des Menschen auf anderen Welten postulierten, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts große Popularität. Damit restituierte Fontenelle die Hoffnung eines belebten Kosmos, ohne dessen Entgrenzung preiszugeben. Fontenelle machte jedenfalls klar, dass Unendlichkeit und Wohnlichkeit des Kosmos keine sich ausschließenden Gegensätze waren. Für eine Theorie von Jenseitskontakten, wie sie der Spiritismus entwickeln sollte, war dies eine ausgezeichnete Vorlage. Die andere Dimension von zentraler Bedeutung war die Anthropologie. Hier ist vorderhand auffällig, dass neuplatonisch eingefärbte Positionen eine beträchtliche Rolle spielen. Ihre Pointe liegt in einem Menschenbild, das keine kategoriale Differenz zwischen dem Göttlichen und der Materie kennt und den Menschen oder zumindest seine Seele als göttlich denkt. Wenn aber der Mensch in seinem Innersten göttlich gedacht wird, kann er auch göttliche, also unbegrenzte Erkenntnisleistungen erbringen. Bei Oetinger ist dieser Bezug am klarsten, Böhme und die Kabbala haben Wurzeln in der neuplatonischen Tradition. Bei Lessing ist dieser Konnex weniger eng, da er nicht unmittelbar auf den Neuplatonismus zurückgriff. Aber er kannte die neuplatonisch eingefärbte lurianische Kabbala durch Franciscus Mercurius van Helmont gut,58 und die Seelenwanderung, in deren Verlauf der Mensch letztlich göttlich wird, besitzt starke neuplatonische Wurzeln.
57 So die Deutung bei Fick: Lessing-Handbuch, S. 443. 58 Altmann: „Lessings Glaube an die Seelenwanderung“, S. 33f.
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Diese Bezüge zum Neuplatonismus eröffnen weitere Kontexte. Systematisch nahm der Neuplatonismus gegenüber dem Christentum vielfach diametral entgegengesetzte Positionen ein. In seiner Schöpfungstheologie hatte das Christentum eine kategoriale Differenz zwischen Gott und Mensch postuliert und damit den göttlichen Menschen und gottgleiche Erkenntnis abgelehnt, zugleich aber im Theorem der Gottunmittelbarkeit eines jeden Menschen die Erkenntnishierarchien egalisiert. Höhere Erkenntnis gab es hier im Prinzip nicht, da allen die gleiche Erkenntnis zur Verfügung stehen sollte. Gleichwohl gibt es im Christentum theologische Konfigurationen, welche die Trennung zwischen Gott und Mensch ermäßigen, etwa in den Traditionen einer synergistischen Gnadenlehre, in der Gott und Mensch kooperativ Erlösung herstellen. Sie finden sich in der Frühen Neuzeit etwa im hermetisch und alchemistisch orientierten Pietismus, aber es braucht weitere Forschungen, um nachzuprüfen, ob es hier Übergänge in die Konzeptionen ‚höherer‘ Erkenntnis gibt. Signifikanterweise griff der theologisch versierte Swedenborg in seiner erweiterten spirituellen Wahrnehmung nicht auf ein Konzept höherer Erkenntnis, sondern auf den Traum zurück. Der hatte eine lange Geschichte der Deutungsoptionen zwischen der göttlichen Eingebung und dem Instrument des Menschen schon hinter sich und seine Naturalisierung als Ausdruck des Unterbewussten bei Freud noch vor sich. Im 18. Jahrhundert und noch lange nach Freud blieb der Traum jedenfalls ein Mittel zur Erlangung tieferer (oder höherer) Erkenntnis, das die Konflikte mit dem neuplatonischen Denken, die im Christentum auftauchten, umgehen konnte. Allerdings hat Martin Mulsow deutlich gemacht, dass die Reduktion von höherer Erkenntnis auf neuplatonische Wurzeln zu kurz greift. In der frühneuzeitlichen Diskussion um den homo perfectus gibt es zwar nachweislich, vermittelt unter anderem über die Gnosis und den Islam, neuplatonische Einflüsse, aber der Renaissancearistotelismus konnte zu analogen Konsequenzen kommen. Pietro Pomponazzi (1462-1525) etwa naturalisierte die Anthropologie. Wenn es aber keine übernatürlichen Ursachen mehr gab, konnte und musste man alle Omnipotenzkonzepte in den naturalisierten Menschen lokalisieren.59 Der perfekte Mensch war dann derjenige, der seine naturalen Potenzen entwickelte – ‚höhere‘ nicht ausgeschlossen.60 Im Spinozismus des 17.
59 Mulsow: „Der vollkommene Mensch“, S. 749ff. 60 Perfektibilität wurde zwar ein wichtiges Stichwort der aufklärerischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts, blieb aber angesichts der gleichzeitigen Annahme der menschlichen Korruptibilität immer umstritten (Hornig: „Perfektibilität“, S. 225) und kam zudem mit dem Historismus in die Krise, insofern im Konzept der Perfektibilität der historistische Relativismus nicht ernstgenommen werde (vgl. ebd., S. 241).
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Jahrhunderts fand diese Materialisierung des Menschen wie des Himmels dann ein populäres Forum. Gleichwohl spricht meines Erachtens viel dafür, dass vor allem neuplatonisches Denken für die Geschichte ‚höherer‘ Erkenntnisfähigkeiten einschlägig ist, doch das ist ein Thema für weitere Forschungen. Nun kann man die Frage stellen, wie tief eigentlich der Unterschied zwischen einem materialistisch begründeten Mehrwert von Wissen, wie man ihn aus Pomponazzi entwickeln kann, und einer aus dem neuplatonischen Denken entwickelten Position letztlich ist. Denn wenn man im neuplatonischen Ansatz den Unterschied zwischen weltlichen und überweltlichen Kräften aufhebt, werden die ‚höheren‘ zu immanenten Kräften, so dass man zum gleichen Ergebnis wie der Materialismus kommt. In der europäischen Ideengeschichte ist dies als Identifizierung von Atheismus und Pantheismus diskutiert worden. Wie immer diese Entwicklung gelaufen ist, für die weitere Mediengeschichte ist die Immanentisierung ‚göttlicher‘ Kräfte ein möglicherweise wichtiges Scharnier von den Konzepten höherer Wahrnehmung zur Medialisierung im 19. Jahrhundert. In diesem Feld ist die Theorie höherer Erkenntnis mit der Geschichte der Entwicklung von physischen Organen zu erweiterten Erkenntnisorganen zu situieren. Die bei Lessing erwogenen weiteren Sinne haben als ‚sechster Sinn‘ und ‚siebter Sinn‘ Karriere gemacht und begegnen im 19. Jahrhundert als somatische Orte erweiterter Erkenntnis.61 Sie besitzen eine lange Vorgeschichte in der Bibelexegese, wo man in einer Fünf-Sinnes-Lehre zwischen inneren und äußeren Sinnen unterschieden hatte (wobei mit stark wechselnden Konjunkturen eine einheitliche Seele oder Seelenfakultäten miteinander konkurrierten).62 Bereits im Mittelalter waren die inneren Sinne Hirnarealen zugewiesen worden,63 ehe wohl in der Frühen Neuzeit neue und höhere Sinne hinzukamen.64 Hinzuzuziehen sind schließlich die Veränderungen in der philosophischen Ästhetik, wie sie sich bei Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) niedergeschlagen haben, wonach nicht mehr der Verstand die Sinneswahrnehmung organisiere, sondern der Verstand von den Leistungen der Sinne abhängig sei, womit er die traditionelle Hierarchie der Sinne umgekehrt hatte.
61 Siehe unten Abschnitt 6.1. 62 Scheerer: „Die Sinne“. 63 Ebd., Sp. 838. 64 Scheerer indiziert neue Sinne in der Physiologie erst 1794 und damit sicher zu spät bei dem italienischen Naturforscher von Lazzaro Spallanzani, der einen Widerstandssinn bei nachtfliegenden Fledermäusen postulierte (ebd., S. 851). Dass es im frühen 19. Jahrhundert zu einer eine „Inflation neuer Sinne“ in der Naturforschung komme, dürfte stimmen (S. 851f.).
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Bevor ich nach diesen Überlegungen zu Kontexten der Entwicklung höhrere Sinne im 18. Jahrhundert zum 19. Jahrhundert komme, wären die Jahrzehnte um 1800 eigener Überlegungen wert. Aber auch diese Transformationsgeschichte ist noch ungeschrieben. Ich werfe nur ein Schlaglicht auf zwei Vertreter, die Ärzte Johann Karl Passavant (1790-1857) und Joseph Ennemoser (1787-1854). Ennemoser, der damals prominente Vertreter eines tierischen Magnetismus, hielt zwischenmenschliche „Fernwirkungen“ und immaterielle Kräfte für nachweisbar,65 benannte mit den höheren Organen in der Tradition von Leibniz und Wolff aber Verstand und Vernunft. Passavant hingegen unterstellte besondere, höhere Fähigkeiten, die er allerdings nur in Ausnahmesituationen gegeben sah, etwa in Ekstase.66 Die dabei auftauchenden Fragen ziehen sich über den Sattel der Zeit um 1800 bis in die spiritistische Debatte des späten 19. Jahrhunderts. Diese Phase wäre als eigene Transformationszone zu analysieren, etwa im Blick auf die Rolle der romantischen Naturphilosophie oder hinsichtlich des Mesmerismus oder im Blick auf die psychologische Debatte, wo etwa in den Wurzeln der Psychoanalyse solche Zusammenhänge liegen.67 Vorerst bleibt festzuhalten, dass die Fragen, die Passavant oder Ennemoser im frühen 19. Jahrhundert stellten, in der spiritistischen Deutungskultur wieder auftauchten: Sind übersinnliche Fähigkeiten normal oder außergewöhnlich? Braucht man nur die normalen Organe oder besondere? Sind die höheren Erkenntnisse Indikatoren einer jenseitigen Welt oder sind sie weltimmanent zu erklären? Aber als der Spiritismus an die Beantwortung dieser Fragen ging, waren neue Parameter in der Debatte, etwa durch die Veränderungen in den Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts, namentlich in der Auseinandersetzung um das physiologische Sehen.
4.
Abrüstung der Sinne: physiologisches Sehen
Die Euphorie höherer Erkenntnis hat vermutlich an Verve verloren, als in den 1830er Jahren neue Ergebnisse der Sinneslehre hinsichtlich der Verlässlichkeit von Wahrnehmungen den mainstream der tradierten Wahrnehmungstheorien in Frage stellten. Für den gerade entstehenden Spiritismus bedeutete dies, dass neben die Option eines Erkenntnismehrwertes die Auseinandersetzung mit Positionen verringerter Erkenntnismöglichkeiten trat. Im Hintergrund dieser Revision standen ältere Modelle, in denen Wahrnehmung als objektiver Abbildungsprozess gedacht war. Die im 18. Jahrhun65 Ennemoser: Der Magnetismus im Verhältnisse zur Natur und Religion, S. 2. 66 Passavant: Untersuchungen über den Lebensmagnetismus, S. 126. 67 Böhm u.a.: „Verdrängte Ursprünge“.
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dert verbreitete camera obscura war das Leitmodell einer Theorie, die Wahrnehmung als objektive Abbildung der Außenwelt konzipierte.68 In die Kamera falle ein unverfälschtes, allenfalls perspektivisch eingeschränktes Bild. Weil Filter zwischen Objekt und Abbildung nicht vorgesehen waren, Illusionstechniken als artifizielle Arrangements davon unterschieden wurden69 und (Zer-)‚Brechung‘ des Lichts in der Debatte um die Refraktion die Sehtheorie nicht gestürzt hatte, konnte man mit dem Modell der camera obscura die mimetische Identität von Objekt und Wahrnehmung postulieren. Die Krise derartiger Wahrnehmungstheorien ist mit Johannes Müller, dem berühmten Bonner und später Berliner Physiologen verbunden, der seit 1833 in seinem Handbuch der Physiologie nachwies, dass Sehen ein subjektiver Akt ist. Die Sinne können durch unterschiedliche Reize erregt werden, das Auge etwa nicht nur durch Licht, sondern auch durch Schlag und namentlich durch Elektrizität. Der Nexus zwischen Objekt und Abbild im Auge war damit gelockert, mehr noch: Wahrnehmung konnte nicht nur ein Ergebnis externer Eindrücke, sondern auch interner physiologischer Prozesse sein. In den folgenden Jahren machten Debatten über Nachbilder und bewegte Bilder deutlich, wie äußere Reize inexistente Phänomene intern konstruieren können. Vermittels eines Praxinoskops etwa, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden wurde, konstruiert das Auge eine Bewegung, die gar nicht vorhanden ist: Bilder, die jeweils einen Abschnitt einer Bewegung festhalten, werden schnell nacheinander gezeigt und sekundär im Sehvorgang zu einem bewegten Objekt. Damit begann die große Zeit jahrmarktmäßiger Sinnestäuschung: Stereoskope, in denen zwei leicht versetzt aufgenommene Bilder eine dreidimensionale Tiefe vorgaukelten, oder Dioramen, die bei dem Betrachter den Eindruck einer tief gestaffelten Landschaft erzeugten, obwohl er nur eine Leinwand vor sich hatte, wurden zu Publikumsmagneten, die die Irritation der sicher geglaubten Wahrnehmung zu einem Volksvergnügen machten. Das physiologische Sehen und seine Popularisierung hatten massive Konsequenzen: Wenn das Auge Wahrnehmung nicht nur rezipiert, sondern auch produziert, geht die eindimensionale Referenz zum Objekt verloren. Das war für die sinnestheoretische Debatte nicht neu, erhielt aber durch die Empirisierung eine erheblich verstärkte Plausibilität. Wahrnehmung ist dann nicht mehr als mimetische Abbildung konzipierbar, sondern wird zur subjektiven Wahrnehmungsproduktion. An Versuchen, die verlorene Objektivität des Objektes wiederherzustellen,70 fehlte es nicht: Die Vermessung des beobachteten Ob68 Zur camera obscura und der Dynamisierung des Sehens vgl. Hick: Geschichte der optischen Medien; Dewitz/Nekes: Sehmaschinen und Bilderwelten. 69 Gronemeyer: Optische Magie. 70 Crary: Techniken des Betrachters.
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jekts lässt sich als eine Reaktion lesen, eine andere war die genauere Klassifizierung von Sinneseindrücken in Bezug auf die verursachenden Reize schon bei Johannes Müller.71 Für den Spiritismus dürften die Folgen der physiologischen Sinneslehre ambivalent gewesen sein. Auf der einen Seite stellte sie die Abbildungsqualität der höheren Erkenntnis in Frage. Auf der anderen Seite bot die Theorie der physiologischen Wahrnehmung auch Vorteile, weil Sinneswahrnehmung analog zu Apparaten gedacht werden konnte. Ein physiologisches Sinnesverständnis erleichterte die Empirisierung von Wahrnehmung, und genau das geschah in den spiritistischen Séancen.
5.
Der Spiritismus
In diesem Feld veränderter und sich verändernder Wahrnehmungsdeutungen entstand um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Spiritismus. Auch hier indiziert die Prägung eines neuen Begriffs – gewonnen vermutlich aus dem theologischen Begriff des Spiritualismus (also der auf die Erfahrung des ‚Geistes‘ ausgerichteten Theologie) – einen Gegenstandsbereich, der trotz aller Beziehungen zu älteren Traditionen eine neue Qualität besaß. Der Singular ‚Spiritismus‘ unterschlägt allerdings die Pluralität der Formen, die sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildeten: von der gemeinsamen Erfahrung in religiösen Spiritistengemeinden über das manchmal individualisierte automatische Schreiben bis zu den Geistererscheinungen aus dem Jenseits, die ich im Folgenden herausgreife. Der Singular unterschlägt auch, dass der Spiritismus teilweise starke nordamerikanische Wurzeln besaß und nicht einfach aus westeuropäischen Traditionen abgeleitet werden kann. Gleichwohl reagierte auch der Spiritismus in Europa auf die kosmologische Debatte seit der Frühen Neuzeit. So besitzen die Spiritismen in unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Sozialformen zwei gemeinsame Referenzpunkte. Sie setzten zum einen eine andere – jenseitige, höhere, spirituelle – Welt voraus. Dies war, wie die Protagonisten und die Forschung seit langen gesehen haben, eine Gegenposition zum Materialismus, der jegliche ‚spirituelle‘ Dimension der Welt leugne und den man vor allem in den Naturwissenschaften sah. Diesen Gegner trachtete man mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen, und dies ist die zweite Gemeinsamkeit: Spiritistische Erfahrungen sollten den Kriterien der empirischen Naturwissenschaften folgen. Es ging um die Intersubjektivität von Ergebnissen, um die Wiederholbarkeit von Experimenten, um die Prüfung ihrer Ergebnisse in einer scientific community, und 71 Schickore: „Eröffnung der Augen“, S. 166.
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nicht zuletzt sollten Theorien von idealistischen Voraussetzungen zu nachgelagerten Deutungen werden. Diese Empirisierung der Metaphysik zeigt sich exemplarisch im Verständnis der Séance als physikalischem Experiment. Ein Bild aus dem Nachlass des französischen Astronomen und Theosophen Camille Flammarion (1842-1925) dokumentiert diese Absicht (vgl. Abb. 1).
Abbildung 1: Camille Flammarion: Séance mit Eusapia Palladino (1892; Fonds Camille Flammarion).72 Es handelt sich um eine Sitzung mit dem neapolitanischen Medium Eusapia Palladino im Jahr 1892, bei der es offenbar um die Levitation eines Tisches geht. Die Séance gehört in eine Reihe von Sitzungen, an denen auch der Physiker Oliver Lodge oder der Physiologe Frederick Myers, beide auch Mitglieder der Society for Psychical Research, teilnahmen, und die zwischen 1905 und 1908 auch Henri Bergson sowie Marie und Pierre Curie, letztere immerhin Inhaberin von zwei Nobelpreisen, zu Beobachtungen an diesem Medium anregten.73 Das darüber hinaus viele Schriftsteller – Rainer Maria Rilke, Thomas 72 Die Abbildung entnehme ich Fischer/Loers: Im Reich der Phantome, Abb. 97. 73 Ebd., S. 98.
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Mann, Franz Werfel, Alexander Döblin – in spiritistischen Séancen und davon beeindruckt waren, ist inzwischen gut erforscht.74 Die plüschige Wohnzimmeratmosphäre sollte nicht davon ablenken, dass hier das Arrangement eines Labors aufgegriffen wurde: Es gibt nicht nur den Zirkel der SéancePraktikanten, sondern auch zwei Männer, die, rechts stehend, die scientific community repräsentieren. Der vordere von beiden hält Papier und Stift in den Händen, er ist der Protokollant, der die Beobachtungen notiert und die Überprüfbarkeit sichern soll. Der Prüfer neben ihm (mit Bart), der konzentriert auf den Tisch, vermutlich auf die Hände blickt, hat die Aufgabe, Betrug auszuschließen. Wobei schon die Tatsache, dass dieses Foto existiert, als Teil der empirischen Dignität galt. Es gibt eine Überfülle von Fotografien, die als Dokumentation der Objektivität spiritistischer Séancen dienen sollen.75 Allerdings ermöglicht eine Fotografie auch die Falsifikation des empirischen Anspruchs. Wenn, wie in diesem Bild, der Rand der Tischplatte auf dem Foto scharf ist, die Stempel hingegen an den Füßen unscharf werden, um die Erhebung des Tisches zu „beweisen“, ist gerade dies ein Indikator für eine mögliche Retusche, da die Tiefenschärfe des Tisches an der Vorderseite gleich sein müsste.76 Gleichwohl wurden Fotografien, die nicht nur die Wirkungen von Geistern, sondern auch diese selbst zeigen sollten, zu einem extrem populären Demonstrationsgegenstand. Parallel zur Empirisierung wurden Debatten um die epistemische Begründung von medialen Fähigkeiten geführt. So betrachtete der Schriftsteller und Philosoph Carl du Prel (1839-1899), der in den 1870er und 1880er Jahren der Doyen der deutschen Spiritisten war und Repräsentant der Geisterhypothese (also der Begründung spiritistischer Phänomene durch die Wirkung von Geistern aus dem Jenseits), den Spiritismus als eine Art Naturwissenschaft des Unbekannten: „Der Okkultismus zeigt zwar Naturkräfte, die wir nicht kennen, aber die Kausalität gilt hier so gut als in einem physikalischen Laboratorium“, so du Prel 1899 in seiner Schrift Der Tod, das Jenseits, das Leben im Jenseits.77 Aber dies war keine simple Repristination frühneuzeitlicher oder älterer Himmelskonzeptionen. Du Prel hatte die Destruktion des klassischen Himmels und der Geozentrik durch Kopernikus sowie die Folgen der Erfindung des Fernrohrs 74 Pytlik: Okkultismus und Moderne. Vgl. auch Hilke: L’écriture automatique. 75 Vgl. Fischer/Loers: Im Reich der Phantome; Le troisième œil. Die Nutzung von Bildern ging bis in die gerichtsverwertbare Nutzung der „Beweise unsichtbarer Dinge“ hinein; vgl. Golan: „Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen“, besonders S. 183ff (Zitat S. 183). 76 Zur fotografischen Täuschung vgl. exemplarisch Fischer: „In der Dunkelkammer eines Medienforschers“, S. 140. 77 Du Prel: Der Tod, das Jenseits, das Leben im Jenseits, S. 76.
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und die Fortschrittserzählung der Astronomiegeschichte des 19. Jahrhunderts verinnerlicht. Die Zeit der „Astronomie des primitiven Menschen“ war für ihn vorbei, eine Form des Jenseits, das eine Himmelfahrt denkmöglich machte, für ihn passé.78 Sein Jenseits wollte er kategorial vom alten Himmel unterschieden wissen. In einer mit der so genannten ‚Moderne‘ kompatiblen Jenseitskonzeption suchte er deshalb neue Wege, und dies geschah in drei Schritten: Der erste Schritt war die Konzeption eines Bewusstseins, das mit neuen, technisch gesteigerten Wahrnehmungsfähigkeiten den Zugang zu dem kategorial differenten Jenseits des Spiritismus offenhalten sollte. Der Mensch besitze „transcendental-psychologische Fähigkeiten“. Diese seien zwar kein „normaler Besitz“, würden aber evolutiv entwickelt.79 Die „Steigerung des menschlichen Bewußtseins“ sei möglich,80 die „Grenzen des Naturerkennens können im historischen Fortgang der Wissenschaften überwunden werden“,81 ein „sechster Sinn“82 werde entstehen und das Jenseits erkennbar werden. Eine übersinnliche Wahrnehmung könne man im Rahmen einer physiologischen Wahrnehmungstheorie technikanalog herstellen. Das frühneuzeitliche Postulat höherer Sinne und deren technische Realisierung flossen bei du Prel ineinander. Aber zum zweiten sah du Prel, dass er den topographischen Ort des Jenseits neu bestimmen musste, wenn der Himmel als oberes Stockwerk der Erde obsolet war. Seine Lösung lautete: „Das Jenseits bleibt aber ganz unangetastet, wenn wir ihm den Platz innerhalb des Diesseits anweisen“ und das „Jenseits mit dem Diesseits räumlich zusammenfällt“.83 Dies war nahe an einer contradicitio in adjecto, wollte du Prel doch Transzendenz und Immanenz des Himmels miteinander verbinden. Doch wie lässt sich in diesem Konzept die Erscheinung von Geistern deuten? „Die scheinbare Wiederkehr löst sich dann auf in ein bloßes Sichtbarwerden eines in der Regel unsichtbaren Wesens, was durch bloße Verdichtung der übersinnlichen Materie des Astralleibes geschehen kann.“84 Die höhere Dimension, so kann man du Prel deuten, ist damit nicht kategorial von der irdischen unterschieden, sondern eine Art anderer Aggregatzustand, der keine neue Physik, sondern nur eine andere Erkenntnistheorie braucht.
78 Ebd., S. 49ff. 79 Du Prel: Die Philosophie der Mystik, S. 378, 381. 80 Ebd., S. 389. 81 Ebd., S. 401. 82 Ebd. 83 Du Prel: Der Tod, das Jenseits, das Leben im Jenseits, S. 60. 84 Ebd., S. 61.
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Das Ganze deutet du Prel drittens mit einem damals beliebten physikalischen Zusatztheorem: Dieses Jenseits sei die vierte Dimension der Physik.85 Dabei handelte es sich um ein in den 1870er Jahren popularisiertes Theorem der theoretischen Mathematik, das im Spiritismus schnell eine hohe Akzeptanz gefunden hatte und die Kompatibilität mit neuesten Entwicklungen in Physik und Mathematik sichern sollte.86 Auf Oetinger kam du Prel, wie fast die gesamte Debatte um 1900, nicht zu sprechen. Du Prel beanspruchte, mit seinem Geniestreich alle Probleme des Jenseits zu lösen. Der Himmel blieb fernrohrfähig, weil das Jenseits gegenüber dem physikalischen Himmel kategorial different gedacht war. Diese kategoriale Differenz war für ihn aus zwei Gründen kein Problem: Das Jenseits war zum einen durch erweiterte, höhere Sinne erkennbar. Hier beerbte du Prel die frühneuzeitliche Debatte um höhere Erkenntnis. Zum anderen galt ihm das Jenseits als anderer Aggregatzustand des Diesseits nicht als ein Gegenstand des Glaubens, sondern als eine Dimension der Empirie. Hier war er ganz ein Zeitgenosse des empirieverliebten 19. Jahrhunderts. Dass dieses Jenseits allerdings eine Erfindung des 19. Jahrhunderts war, hat er nicht gesehen.
6.
Spiritistische Transformationen
Du Prel war als Verfechter der ‚Geisterhypothese‘ nur ein Exponent des Spiritismus in einem pluralen Feld von Spiritismen und geriet zudem mit seiner Position in den 1890er Jahren innerspiritistisch massiv in die Kritik. Zwei Angelpunkte des Spiritismus, die Annahme einer jenseitigen Welt und einer höheren Erkenntnis, verloren zwischen Betrugsfällen, theologischer Kritik und ausbleibenden naturwissenschaftlichen Bestätigungen an Plausibilität. Daraus entstanden innerspiritistische Innovationen, die ich an zwei Beispielen dokumentiere: an der Theosophie Blavatskys, die die Krise der Empirie durch eine hermeneutische Wendung des Spiritismus zu entschärfen suchte, und an dem Anspruch von du Prels Gegner und (in gewisser Weise) Schüler SchrenckNotzing, das Jenseits in Immanenz zu überführen und so im Verein mit den zeitgenössischen Monismen die Krise des kaum zweihundert Jahre alt gewordenen Jenseits zu überwinden. Solche Transformationen sind für die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts zentral, boten sie doch die Möglichkeit, die als Metaphysik angesehenen Konstruktionen durch Immanentisierung in einem physikalischen Rahmen zu reifizieren.
85 Ebd., S. 63. 86 Siehe oben Anmerkung 44.
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6.1
Helena Petrovna Blavatsky, Theosophie und Hermeneutik
Als Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891) und Henry Steel Olcott (18321907) mit weiteren Gesinnungsgenossen am 17. September 1875 in New York die Theosophische Gesellschaft gründeten, waren sie als praktizierende Spiritisten auf der Suche nach einer neuen Perspektive, da die spiritistische Empirie angesichts der grassierenden Betrugsfälle und der uneingelösten Beweisansprüche in einer Krise steckte. Insbesondere Blavatsky hatte die Kalamitäten einer spiritistischen Existenz am eigenen Leibe erfahren, da sie des Betrugs überführt worden war: ‚Materialisierende‘ Hände hatten sich als ausgestopfte Placebos erwiesen. In dem Zirkel um Blavatsky und Olcott beschäftigte man sich 1875 stattdessen mit Proportionslehren des Alten Ägypten und fasste den Beschluss, eine Vereinigung für „occult research“ zu gründen.87 Die entscheidende Pointe dieser Interessensverlagerung war die Relativierung des ‚praktischen‘ Okkultismus zu quasi religionshistorischer Forschung. Man unterstellte alten Kulturen ein tiefes und geheimes Wissen über den religiösen Zusammenhang der Welt, suchte eine philosophia perennis, die sich durch alle kulturellen Brüche hindurch in die Gegenwart ziehe, und beanspruchte, Wege zur Erkenntnis dieser Traditionen durch historische Forschung und durch Meditation zu weisen. An die Stelle von Geistererscheinungen und Materialisationen sollte die objektive, quasi empirische Einsicht in die übersinnliche Welt treten. Die kulturelle Empirisierung mündete in den Anspruch, höhere Erkenntnis auf der Grundlage religionshistorischer Einsichten zu erlangen. Dies war der Kern der hermeneutischen Wende des Spiritismus in die Theosophie. Dies artikulierte man 1878 in drei theosophischen Prinzipien: 1. The study of occult science; 2. The formation of a nucleus of a universal brotherhood; and 3. The revival of Oriental literature and philosophy.88 Im ersten Zweck steckte der empirische Anspruch, den man aus dem Spiritismus mitnahm. Okkulte Forschung sollte science, Naturwissenschaft bleiben. Im zweiten Zweck formulierte man das elitäre Ideal einer Avantgarde der Wissenden, die allerdings die Grenzen der traditionellen Kulturen und Religionen sprengen sollte. Im dritten Zweck schlug die Stunde der hermeneutischen
87 Olcott: Old Diary Leaves, S. 117. 88 Ebd., S. 401.
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Wende zur religionshistorischen Arbeit, durchaus kritisch gegenüber dem eurozentrischen Blick. Dieses historische Interesse gehört mit zu den Wurzeln der universitären Forschung zur Religionsgeschichte, und später hieß es in den theosophischen Prinzipien denn auch „Studium der vergleichenden Religionswissenschaft“.89 Dieser analytisch scharf konstruierbare Bruch zwischen Empirie und Hermeneutik war in der historischen Pragmatik ein Prozess, in dem der Wechsel von der einen auf die andere Seite nie konsequent vollzogen wurde. Blavatsky und Olcott, die 1882 ihr headquarter in Adyar nahe dem südindischen Madras (heute auch: Chennai) aufgeschlagen und sich dem Buddhismus angenähert hatten, gaben auf der einen Seite den Anstoß, Pali-Manuskripte zu sammeln, Philologie zu treiben und so die theosophische Sammlung buddhistischer Manuskripte zu einer der größten der Welt zu machen. Auf der anderen Seite blieb die ‚praktische Magie‘, blieben spiritistische Techniken ein Bestandteil von Blavatskys Pragmatik. Sie ließ Briefe ‚verborgener‘ ‚Meister‘ in einem Schrank ihres Hauses ‚erscheinen‘ oder ‚fand‘ ‚verlorene‘ Tassen oder Broschen wieder. Die Debatte über die Fälschung von Meisterbriefen führte dann auch 1885 die noch junge Theosophische Gesellschaft in die erste existenzbedrohende Krise. ‚Praktische Magie‘ wurde zu einem Schatten, der die Theosophie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verfolgte und zu einer Konkurrenz, die in ihrer Intention antispiritistisch agierte, aber strukturanaloge Ergebnisse zeigte. Die Immanentisierung durch Philologie blieb in der Theosophie prekär. In der zweiten Generation von Theosophen, für die Annie Besant (18471933) und Charles Webster Leadbeater (1847-1934) stehen, blieb man in der Sache ablehnend gegenüber dem Spiritismus, war aber in den Methoden elastischer. Auf der einen Seite förderte man weiterhin die religionshistorische Arbeit, etwa indem man die Konzentration auf den Buddhismus, wie sie Blavatsky und Olcott promoviert hatten, durch eine Öffnung auf den Hinduismus sowie durch die Rezeption eines ‚esoterischen‘ Christentums und gnostischer Traditionen relativierte – also hermeneutische Verfahren praktizierte. Auf der anderen Seite beanspruchte man hellsichtige Einblicke in strukturell jenseitige Welten, also höhere Erkenntnis, etwa wenn Besant und Leadbeater 1895 die molekulare Struktur der Materie hellsichtig zu schauen beanspruchten90 und dabei ‚empirische‘ Verfahren für sich reklamierten – just in dem Jahr, als Röntgen die x-rays entdeckte. Man ‚sah‘ und dokumentierte die Auren von Men-
89 Cranston: HPB, S. 190f. 90 Besant/Leadbeater: Occult Chemistry.
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schen91 und dehnte die empirischen Ansprüche auf die ‚materialisierten‘ Substrate von Gedanken aus92. Dahinter standen Überlegungen zu einer Sinnesphysiologie, in der man die kulturell verankerte Erkenntnis doch wieder an ‚harte‘ Fakten binden wollte. So postulierte Besant, dass Körperteile wie „die Zirbel-Drüse, deren Function unsern Physiologen total unbekannt ist“, das „Organ der Gedankenübertragung“ seien oder sich dazu entwickeln würden.93 Meditation zur höheren Erkenntnis und eine somatische Verankerung gingen für Besant Hand in Hand. Eine der interessantesten Transformationen der Theosophie war in diesem Zusammenhang die Abkehr von der Séance und die Etablierung einer ‚Esoterischen Schule‘ unter Besant, die nach dem Tod Blavatskys im Jahr 1891 zur starken Frau in der Theosophischen Gesellschaft aufgestiegen war. In dieser Schule sollten Theosophinnen und Theosophen durch Meditation und die Lektüre von Schriften höhere Einsicht erlangen. Die ehedem spiritistisch vermittelten Informationen sollten durch jedes Individuum selbst erkannt oder jeder zu seinem eigenen Medium werden. In der dritten Generation von Theosophen, für die exemplarisch Rudolf Steiner steht (1861-1925), änderte sich das Changieren zwischen theosophischer Hermeneutik und einer Empirie mit spiritistischen Zügen. Als Steiner 1902 Generalsekretär der deutschen Adyar-Theosophen – einer Fraktion der inzwischen gespaltenen theosophischen Bewegung – wurde, übernahm er die religionshistorische Ausrichtung ebenso wie die Esoterische Schule. Für seine Schulung verfasste er ein Grundlagenwerk, in dem er 1904/05 den Anspruch auf seinen epistemischen Mehrwert in eine Frage kleidete, die er positiv zu beantworten versprach: „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ Der Kern der Theosophie war für Steiner eine höhere, hellsichtige, clairvoyante Erkenntnis. Doch auch Steiner mochte nicht, wie schon Besant, auf physiologische Organe verzichten, für ihn wurde das Sprachzentrum, „Brocas Organ“, zum Ort des Reinkarnationsgedächtnis: „Dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Entwickelung“.94 In seiner Esoterischen Schule ging er teilweise andere Wege als Besant, indem er freimaurerische Riten integrierte, die schon Besant in die Theosophie eingeführt, aber nicht mit der Esoterischen Schule verknüpft hatte. Darin lag zwar kein genetischer, wohl aber ein struktureller Bezug zum Spiritismus.
91 Leadbeater: Man Visible and Invisible. 92 Besant/Leadbeater: Thought-Forms. 93 Besant: Das Denkvermögen, S. 51. 94 Steiner: Vorstufen zum Mysterium von Golgatha, S. 21.
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Denn die hermeneutische Ausrichtung hatte die Theosophie verkopft, wohingegen Séancen eine ‚jenseitige‘ Erfahrung augenfällig und handgreiflich hatten werden lassen. In den maurerischen Zeremonien holten Besant und Steiner diese sinnliche Empirie in die Theosophie zurück. Aber damit war das Maß der Wiederannäherung an spiritistische Praktiken nicht ausgeschöpft. Seit 1916 fungierte Steiner als Medium, indem er „Mitteilungen“ des in diesem Jahr verstorbenen ehemaligen Generalstabschefs Helmuth von Moltke d.J. bis 1924 an dessen Witwe Eliza von Moltke übermittelte – ein klassischer Fall spiritistischer Totenkommunikation.95 Bei alldem blieb Steiner (zumindest in seiner Sicht) einer jenseitskritischen Position verbunden. Er verstand sich als Monist, der beanspruchte, die Konsequenzen der Erfindung des Fernrohrs radikal zu exekutieren und die spiritistische Metaphysik des Jenseits als inadäquate Antwort zu erledigen. Das Jenseits als kategorial differente Welt – wie der Himmel vor Kepler und wie der spiritistische Himmel – sollte damit eliminiert sein. Ein Jenseits gab es für Steiner nicht mehr: Die „geistigen Welten“ seien „fortwährend um uns herum und nicht in einem Jenseits räumlich von uns getrennt“,96 schrieb er 1907, und 1924 wollte er das Jenseits bloß metaphorisch verstanden wissen.97 Von du Prels Position des Jenseits innerhalb des Diesseits war von Steiners Konzeption fast nicht unterscheidbar. Das Jenseits war damit aufgehoben, und darüber hinaus ermöglichte die Konstruktion, strukturanalog zum neuplatonischen Denken oder zum naturalistischen Aristotelismus, dem ‚göttlichen‘ Menschen höhere Erkenntnis zuzuschreiben. Das hier zu Tage tretende Konzept der Immanenz wurde als ‚Monismus‘ zum Schlüsselwort der um 1900 beschworenen Religion der ‚Moderne‘.98 Von hier aus fand die theosophische Immanenzkonzeption den Weg über das engere theosophische Milieu hinaus, namentlich in die künstlerische Weltdeutung der Moderne und in die Abstraktion hinein, von Mondrian über Kandinsky bis zu Worringer.99 Mehr noch: Die Theosophie war Teil einer im frühen 20. Jahrhundert florierenden Gegenbewegung zu einer mit der Renaissance einsetzenden, im 18. und dann besonders im 19. Jahrhundert sich entfaltenden Historisierung der epistemischen Kultur Europas. Theorien übersinnlicher Einsicht und empirischer Manifestationen waren Versuche, der kulturellen Ver-
95 Zander: „Der Generalstabschef Helmuth von Moltke d.J. und das theosophische Milieu um Rudolf Steiner“, S. 453f. 96 Steiner: Menschheitsentwickelung und Christuserkenntnis, S. 47. 97 Steiner: Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge, S. 53. 98 Vgl. exemplarisch Meyer-Benfey: Moderne Religion. 99 Ringboom: The Sounding Cosmos; Öhlschläger: Abstraktionsdrang.
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mittlung jedweder Erkenntnis, auch der religiösen, auszuweichen, also den Folgen des Historismus zu entgehen. Hier trafen sich die Spiritisten und ihre Nachfolger mit der Avantgarde der intellektuellen Kultur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.100
6.2
Albert von Schrenck-Notzing, oder: Die Radikalisierung der Immanenz
Schrenck-Notzing wirkte zwar später als die frühe Theosophie, stand aber du Prel näher, weil die ‚experimentelle‘ Prüfung bei ihm einen zentralen Stellenwert behielt. Die Differenz zwischen beiden brachen über das Verständnis des Jenseits auf. So fest auch du Prel von der Existenz und Zugänglichkeit einer ‚transzendentalen‘ Welt überzeugt war, so wenig vermochten ihm selbst viele überzeugte Spiritisten zu folgen. Betrugsfälle hatten die Gegner bestärkt, die Wiederholbarkeit der ‚empirischen‘ Phänomene war allenfalls innerhalb eines affektiven Personenfeldes möglich gewesen, die Theosophie war mit dem Anspruch präsent, die spiritistischen Medien und du Prels Transzendentalismus durch noch ‚höhere‘ Erkenntnis zu überbieten. Der Ausdehnung der Wahrnehmung durch das Fernrohr war jedenfalls selbst in den Augen vieler Sympathisanten kein neues, empirisch oder empirieanalog erkennbares Geisterreich zur Seite getreten. In dieser Situation kam eine scharfe Kritik an du Prel von seinem ehemaligen Mitarbeiter Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929).101 Er war Arzt, hatte sich einen Namen als Fachmann für Homosexualität erworben, war zusammen mit Sigmund Freud in Zeitschriften und auf Kongressen zur Hypnoseforschung zu finden und hatte sich mit du Prel der Erforschung ‚okkulter‘ Phänomene gewidmet. Durch die Heirat mit der vermögenden Industriellentochter Gabriele Siegler war er finanziell unabhängig geworden und betrieb in seinem Palais in München eigene Forschungen. In seinem Experimentalsalon ging das spiritistisch interessierte Bildungsbürgertum Münchens ein und aus, hier hatte Thomas Mann 1923 seine ‚okkulten Erlebnisse‘, die im Zauberberg unter dem doppelsinnigen Titel Fragwürdigstes wieder auftauchten.102 1890 trennte sich Schrenck-Notzing mit seiner Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie von du Prels Münchner Psychologischen Gesellschaft. Ein Angelpunkt war dabei du Prels ‚Geisterhypothese‘, die Schrenck in Frage 100 Doering-Manteuffel: „Die antihistoristische Revolution im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“. 101 Zur Schrenck-Notzing vgl. Böhm u.a.: „Verdrängte Ursprünge“. 102 Pytlik: Okkultismus und Moderne, S. 115-140.
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stellte. An Stelle der Geistererscheinungen gab es in Schrencks Séancen ‚Materialisationsphänomene‘.103 ‚Materialisationen‘ von ‚Teleplasma‘ sollten aus den Körperöffnungen der Medien treten und alternativ zu Geisterwirkungen die spiritistischen Phänomene von der Levitation bis zu Klopfzeichen erklären (vgl. Abb. 2).104
Abbildung 2: Albert von Schrenck-Notzing: Erzeugung von Ektoplasma durch das Medium Stanislawa P. (um 1920; Nachlass Schrenck-Notzing, Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg).105
Dahinter stand eine du Prel diametral entgegenlaufende These, dass nämlich die in Frage stehenden Phänomene nicht von jenseitigen Geistern ausgelöst würden, sondern auf weltimmanenten Wirkungen beruhten. Nachdem Eduard von Hartmann 1885 eine vielgelesene Kritik am Geisterglauben publiziert hat-
103 Schrenck-Notzing: Materialisations-Phaenomene. 104 Zum Begriff ‚Teleplasma‘ vgl. ebd. 105 Die Abbildung entnehme ich Fischer/Loers: Im Reich der Phantome, Abb. 81.
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te,106 war ein so genanntes ‚animistisches‘ Modell,107 wie man diese Position möglicherweise im Rückgriff auf eine Semantik der Religionswissenschaft nannte, in der Debatte. In diesem Konzept hatte das Jenseits allenfalls als Metapher einen Platz. Schrenck verlagerte jedenfalls, Ansätze du Prels verschärfend, die spiritistischen Phänomene ins Diesseits: Bei der Unzulänglichkeit unserer Naturerkenntnis spricht a priori nichts gegen die Möglichkeit von anormalen Erscheinungen und Wirkungen, die ihren Ursprung in der wunderbaren menschlichen Organisation haben könnten.108 Deshalb nannte Schrenck diese Erscheinungen nicht spiritistisch, sondern okkult. Schrenck hatte damit das Konzept jenseitiger Einflüsse somatisch begründet und der Immanenz zugewiesen. Die Medien selbst produzierten das Teleplasma, das nicht mehr, wie die Geister, aus dem Jenseits erschien. Schrencks Phänomene waren ein organisches, ein diesseitiges, d.h. kein jenseitiges Phänomen mehr. Anders als du Prel, der das Jenseits als anderen Aggregatzustand des Diesseits betrachtet hatte, es aber immerhin bestehen ließ, eliminierte Schrenck es letztlich. Damit standen du Prel gegen Schrenck, Spiritismus gegen Okkultismus, die Geisterhypothese gegen den Animismus, Jenseits gegen Immanenz, höhere Erkenntnis gegen reine Empirie.109 Gerade in der empirischen Verlässlichkeit seiner Versuche suchte sich Schrenck von du Prel zu unterscheiden. Nicht nur Dokumentationen und Fotografien sollten die empirische Dignität der Ergebnisse garantieren, vielmehr ging Schrenck bis zur Fixierung der Medien und zu gynäkologischen Untersuchungen. Und doch wurde auch für Schrenck die Empirie zum experimentum crucis. Zum einen scheiterte er an sich selbst, weil er den Medien Sonderkonditionen zugestand, etwa Verdunklungen rechtfertigte – denn allein in einem affektiven Feld kämen die okkulten Phänomene zustande. Zum anderen scheiterte er an den Folgen dieser Ausnahmen von der strengen Empirie. Die Medien betrogen ihn, beispielsweise ließen sich ‚materialisierte‘ Geister als ausgerissene Titelbilder von Zeitschriften identifizieren.110 Gleichwohl galt Schrenck mit seinem ‚Animismus‘ den Protagonisten des Spiritismus als ‚Moderner‘, hingegen du Prel als ein Konservativer. Immanenz 106 Hartmann: Der Spiritismus. 107 Aksakow: Animismus und Spiritismus; vgl. dazu Pytlik: Okkultismus und Moderne, S. 56. 108 Schrenck-Notzing, „Zur Methodik bei mediumistischen Untersuchungen“, S. 81. 109 Pytlik: Okkultismus und Moderne, S. 46ff. 110 Fischer: „In der Dunkelkammer eines Medienforschers“, S. 140.
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galt als der neue Zug der Zeit, jedenfalls für den Spiritismus. Mit Schrenck war das monistische Denken des 19. Jahrhunderts, in dem Geist und Materie, Diesseits und Jenseits aufgehoben sein sollten, im Spiritismus angekommen. Allerdings zahlte auch Schrenck den Preis, der allen religiösen Monismen abgefordert wurde. Im immanentistischen Denken waren die Andersartigkeit und der Mehrwert der spiritistischen Phänomene nicht mehr zu identifizieren. Die Rettung des Spiritismus in Diesseitigkeit bedeutete den Verlust von Differenz und Unterscheidbarkeit.
7.
Von der höheren Erkenntnis in der Frühen Neuzeit zu den Medien des 20. Jahrhunderts
Der Spiritismus gehört, so die Ausgangsthese, in die seit dem 17. Jahrhundert laufende Geschichte der Bewältigung des epistemologischen Schocks, den die Erfindung des Fernrohrs mit ausgelöst hat. Den bewohnten Himmel, der verloren war, ersetzte im Spiritismus ein Jenseits, das zwar kategorial different gedacht werden konnte, aber gleichwohl zugänglich und belebt sein sollte. Von dort konnten Geister erscheinen, und man sollte diese Welt durch eine oder durch höhere, übersinnlich genannte Erkenntnis wahrnehmen können. Diese spiritistische Wahrnehmung war keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wenngleich die Forschungsgeschichte mit einem gefesselten Blick den Spiritismus erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen ließ. Denn auf den Mesmerismus und sein Umfeld spezialisierten Forscherinnen und Forschern war immer klar, dass der Spiritismus ohne diese Vorgeschichte nicht zu verstehen ist, und die Romantikforschung hat etwa in der Psychologiegeschichte immer wieder auf die Wurzeln in den Seelenlehren um 1800 verwiesen. Aber die Geschichte des Spiritismus reicht weiter zurück. Ich habe die möglichen Rückbezüge nicht erschöpfend genannt, aber dass sie existieren, macht der Verweis auf die Konzeption erweiterter Wahrnehmungsfähigkeiten im 18. Jahrhundert deutlich. Die wiederum bliebe ohne die durch die Erfindung des Fernrohrs kurz nach 1600 dramatisch veränderte Kosmologie unverständlich, weil der Himmel als strukturelles, aber älteres Analogon des Jenseits seine metaphysische Qualität verloren hatte. Dass die Zusammenhänge in der Frühen Neuzeit komplexer sind, können die angefügten mehrfach Hinweise auf weitere Kontexte vorerst nur behaupten; sie sind in künftigen Forschungen zu diskutieren. Klar scheint mir jedoch, dass es weder einen ‚Bruch‘ in den Jahrzehnten um 1900 gibt, noch dass wir die leichtfertige Identifizierung der Esoterik des 19. Jahrhunderts mit Phänomen der Frühen Neuzeit (etwa als Produkte der Hermetik) festhalten können. Stattdessen sind neue Transformationsgeschich-
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ten zu schreiben, um die lange Genese des spiritistischen Denkens zu verstehen. Auf dieser Basis sollte es möglich sein, die Transformation des spiritistischen Erbes im 20. Jahrhundert zu beschreiben. Die medienwissenschaftlich wichtigste betrifft die Wurzeln der technischen Medien und der kulturellen Medialisierung seit dem späten 20. Jahrhundert. Sie liegen schon semantisch in der Kultur der Séancen und der Esoterischen Schulen um 1900. Von den ‚Medien‘ über das ‚Fernsehen‘ bis zu den Komposita mit ‚Tele-‘ ist die mediale Kultur des 21. Jahrhunderts mit dem Okkultismus des 19. Jahrhunderts und mit seinen frühneuzeitlichen Wurzeln verbunden. Im Okkultismus und seinem Jenseits wurde vorgedacht, was erst später im Diesseits realisierbar wurde: das Reich unmittelbarer Fernkommunikation über Manuskript und Printmedien hinaus oder die technische Realisierung dieser Art von Medialisierung zwischen Radio, Fernsehen und dem world wide web.
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Die gesellschaftliche Konstruktion des Totengeisterglaubens Amerikanischer Spiritismus und deutscher Geisterkult im Vergleich1 Im Jahr 1854 erging an den Senat der Vereinigten Staaten von Amerika die Bitte, eine Kongresskommission einzusetzen, um zu überprüfen, ob man Nachrichten von Verstorbenen empfangen könne.2 Unterzeichnet hatten dieses Gesuch 15.000 Anhänger der Spiritistischen Bewegung. Diese Bewegung war sechs Jahre vorher durch die Fox-Schwestern ins Leben gerufen worden. In ihrer Antwort verspotteten die Senatoren den Spiritismus als ein weiteres Relikt vormodernen „Aberglaubens“: Zugunsten der Alchemie und Naturmagie sprach ihrer Meinung nach die Tatsache, dass diese die Vorläufer der rationalen „useful“ (nützlichen) Wissenschaft waren. Der Spiritismus war im Gegensatz dazu ein absurdes Wahngebilde, das nur durch die körperliche und mentale Instabilität einzelner Individuen oder durch die Ineffektivität des Schulsystems erklärt werden könne.3 Der Senat wiederholte hiermit die aufgeklärte Polemik gegen Magie und Volksglauben. In diesem Beitrag werden wir versuchen, den Platz des Spiritismus im aufgeklärten Amerika des 19. Jahrhunderts zu definieren. Wir werden die Fox-Schwestern – die ‚Mütter‘ des Spiritismus – und ihre frühen Anhänger mit einer deutschen Sekte, die Geister verehrte, vergleichen. Diese Sekte entwickelte sich in den 1770er Jahren in einer württembergischen Kleinstadt, welche bisher kaum mit den Ideen der Aufklärung in Berührung gekommen war. Traditionelle Volkssagen über Totengeister sollen dabei das tertium comparationis bieten. Wir werden uns auf drei Hauptaspekte konzentrieren: erstens auf die Herkunft der jeweiligen Geistergeschichten, zweitens auf die von der Spiritismusbewegung und der Geistersekte entwickelten Organisationsschemata und drittens auf ihre Überlegungen hinsichtlich des Lebens nach dem Tod. Eine solche vergleichende Vorgehensweise ist durch die strukturellen Ähnlichkeiten, die diese beiden Fälle von angeblichen Kontakten mit den Toten aufweisen, gerechtfertigt. Auf diese Weise können die Besonderheiten beider Glaubenssysteme näher beleuchtet werden,
1
Eine englische Version dieses Textes wurde publiziert als Dillinger: „American Spiritualism and German Sectarianism“.
2
Davenport: The Death-Blow to Spiritualism, S. 151ff.
3
Ebd., S. 154ff.
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was dabei helfen soll, die Rolle zu verstehen, die diese Systeme in der jeweiligen Gesellschaft gespielt haben.
1.
Make-Believe: Kontext, Herkunft und Entwicklung des Spiritismus und der Geistersekte
Die spiritistische Bewegung der Fox-Schwestern und die württembergischen Geistersekte entstanden in Regionen, in denen bereits früher religiöse Erneuerungsbewegungen gewirkt hatten. Der Pietismus bildete einen integralen Bestandteil des Protestantismus im Herzogtum Württemberg. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts beobachteten die württembergischen Behörden misstrauisch die separatistischen Pietisten, die eigene lokale Gemeinschaften ausbildeten und sich zu Haus- und Familiengottesdiensten versammelten. 1743 wurden diese Gruppe vom Herzog offiziell anerkannt und zugleich der Kontrolle durch die staatliche Administration und die protestantisch-lutherische Staatskirche unterworfen. Dem Pietismus schien damit die Spitze genommen: Die ehemals durchaus kritische Sekte vermied Konflikte mit den Obrigkeiten. Erst in den 1780er Jahren lösten Laienprediger eine neue Welle religiöser Begeisterung aus, die von Reformforderungen begleitet wurde.4 Die FoxSchwestern fanden ihre ersten Anhänger in ihrer Heimat, dem so genannten ‚Burned-Over District‘. In diesem Gebiet des nördlichen Bundesstaates New York hatten in rascher Folge verschiedene religiöse Erneuerungsbewegungen großen Zulauf erhalten. Sowohl die Shakers und Mormonen als auch die Perfectionists und Millerites fanden hier Anhänger.5 In der ersten Phase ihrer Karriere wurden die Fox-Schwestern durch die Congregational Friends, eine kleine Gruppe ehemaliger Quäker, beeinflusst. Die Congregational Friends betrachteten die disziplinäre Struktur des Quäkertums als unvereinbar mit der Vorstellung vom inneren Licht: Der Geist Gottes, der in jedem Menschen strahlen sollte, konnte sich nur unbehindert äußern, wenn die Freiheit des Individuums respektiert wurde. Stark von äußeren Regeln geprägte Religiosität war also abzulehnen.6 Die Fox-Schwestern kamen aus diesem Umfeld enthusiastischer, privatistischer und heterodoxer Religiosität. Ein kurzer Abriss ihrer Karriere kann hier daher ausreichen.7 1848 wurden erstmals mysteriöse Klopfgeräusche in 4
Fulbrook: Piety and Politics, S. 137-152.
5
Brown: The Heyday of Spiritualism, S. 98.
6
Braude: Radical Spirits, S. 12ff.
7
Für eine detaillierte Beschreibung vgl. Isaacs: „The Fox Sisters and American Spiritualism“.
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einem Haus in Hydesville, New York gehört, das zu dieser Zeit von der deutschamerikanischen Familie Fox (ursprünglich: Voss), bewohnt wurde.8 Es wurde behauptet, dass diese Geräusche von Toten verursacht wurden, die so mit den Lebenden in Kontakt treten wollten. Die drei Töchter der Familie, Margaret, Kate und Leah wurden für Medien gehalten. In Gegenwart der Geschwister Fox sprachen die Verstorbenen mittels Klopfzeichen. Sie äußerten sich über eigene Anliegen oder beantworteten spezifische Fragen. In ganz Amerika und Europa erregten die Fox-Schwestern in den 1850ern großes öffentliches Interesse. Unter der Leitung von Leah, mit über zwanzig die älteste der Schwestern, wurden die Fox-Schwestern zu den ersten professionellen Medien.9 Einen wesentlichen Bestandteil ihrer Karriere machten die zahlreichen von Wissenschaftlern, Ärzten und Theologen durchgeführten Untersuchungen über die Echtheit der Geistererscheinungen aus. Die Schwestern begrüßten diese Überprüfungen zunächst immer. Wenn die Untersuchungskommissionen jedoch zu dem Ergebnis gelangten, dass die vermeintlichen Geistergeräusche von den Medien selbst erzeugt wurden, wiesen sie sie prompt als voreingenommen zurück. Im Gegensatz zu den späteren Spiritisten engagierten sich die Fox-Schwestern nie aktiv in der Politik.10 Politik und Administration nahmen ihrerseits offiziell keine Notiz von den Schwestern.11 In den 1860er Jahren zogen sich die Fox-Schwestern langsam aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zurück. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die spiritistische Bewegung, zu deren Gründung sie mit beigetragen hatten, über ganz Amerika und Europa verbreitet.12 Buchstäblich Tausende von Medien offe8
Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 74.
9
Davenport: The Death-Blow to Spiritualism, S. 83.
10 Braude: Radical Spirits, S. 10ff., 58ff.; Isaacs: „The Fox Sisters and American Spiritualism“, S. 80f., 96ff. 11 Obwohl es die Spiritisten offensichtlich enttäuschte, schienen die Geschwister Fox politischen Fragen eine geringere Bedeutung beizumessen. Leahs spätere Kritik an dem Washingtoner Establishment grenzte an Unsinn: „But to return to Washington, it was not at that time a very satisfactory place for the prosecution of Spiritualism […]. It was, indeed, a centre of political agitation, and business connected with the Government; but at that time, at least, too much whiskey was consumed there […]. Washington is a mean city. I despise nearly everything I meet here.“ (Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 269, 271). 12 Die Tatsache, dass sich in Amerika der Spiritismus stärker als in Europa durchsetzen konnte, wurde mit dem Klischee des ‚ungebildeten Amerikaners‘ begründet. Die Bewegung der Fox-Schwestern wurde als eine weitere Modetorheit abgelehnt, der es gelungen war, in Amerika massiven Zuspruch zu erlangen, in Europa jedoch nur von einer vergleichsweise kleinen ungebildeten Minderheit akzeptiert wurde. Mit Widerwillen bezeichnete Kiesewetter den Spiritismus der Fox-Schwestern als „eine Verrücktheit, die als ein neues Evangelium von Hunderttausenden geistlosen
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rierten ihre Dienste und imitierten die Praktiken der Fox-Schwestern. Obwohl es durchaus Kritik an den Fox-Schwestern gab, stellten die Spiritisten selber niemals ernsthaft den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen in Frage. Man kann daher sagen, dass die Ereignisse in Hydesville nicht nur den Ausgangspunkt des Spiritismus’ darstellten. Die Weise, in der diese durch die Fox-Schwestern und ihre frühesten Anhängern gedeutet wurden, stellte die engste Annäherung an eine Orthodoxie, einen ‚kanonisch‘ unbestreitbaren Erkenntnisstand dar, den die verwirrend komplexe spiritistische Bewegung vor dem Ende des 19. Jahrhunderts erreichte. Anders als die amerikanischen Spiritisten erlebte die württembergische Geistersekte nur kurzfristig Zulauf. Die Gründe hierfür lagen in der ungleich ungünstigeren äußeren Entwicklung.13 1770 behauptete Anna Maria Freyin, Dienstmagd bei Georg Buck, einem Metzger in der Kleinstadt Weilheim an der Teck, zwei Totengeistern begegnet zu sein. Die Natur dieser Totengeister blieb unklar: Obwohl Freyin behauptete, dass es sich bei diesen um Seelen handelte, die bereits in den Himmel aufgestiegen waren, zeigten sie sich dennoch im Hause ihres Dienstherren. Auf diesen offensichtlichen Widerspruch wird zurückzukommen sein. Die Gespenster wurden von Freyin, Buck und einer schnell wachsenden Zahl neugieriger Besucher gesehen und gehört. Die Geister, die als ‚Erlöste‘ eher Teil des himmlischen als des irdischen Lebens waren, luden die Anwesenden zu Hausgottesdiensten ein. Sie trugen Passagen aus der Bibel vor, beteten, sangen religiöse Lieder und forderten die Leute zu einem moralisch untadeligen und der christlichen Ethik entsprechenden Leben auf. Innerhalb weniger Wochen entwickelten sich aus den gelegentlichen Treffen in Bucks Haus regelmäßige Versammlungen, um die Geister zu sehen und mit ihnen zu beten. Buck, ein Trinker und Müßiggänger, den der lutherischen Pfarrer vom Abendmahl ausgeschlossen hatte, übernahm bei diesen Treffen die Rolle des Wortführers. Der protestantischen Tradition entsprechend vermutete die Kirche, dass es sich bei den Geistern in Wirklichkeit um Dämonen handelte. Sie forderte von den Behörden, gegen die Geisteranhänger einzuschreiten. Oberamtmann Christoph von Bühler verwies Freyin daraufhin aus Württemberg. Dennoch suchten die Geister weiterhin Bucks Haus auf und die Versammlungen wurden fortgesetzt. Buck, der stark verschuldet war, lieh sich von einigen der Geisteranhänger Geld. Er versprach es ihnen zurückzuzahlen, sobald ihm die Geister verraten hätten, wo er einen Schatz finden oder wie er ein Vermögen in der Yankees und einigen tausend irregeleiteten Deutschen, denen es an Vernunft und Wissen fehlt, verehrt wird“. (Kiesewetter: Geschichte des Neueren Occultismus, Bd. 1, S. 448). 13 Vgl. ausführlich Dillinger: „Das Ewige Leben und fünfzehntausend Gulden“.
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Lotterie gewinnen könnte. Die Personen, die sich regelmäßig bei Buck versammelten, fingen an, die Äußerungen der Geister als göttliche Offenbarung zu betrachten. Es wurde behauptet, dass die Gespenster in der Lage wären, „größere Wunder“ zu bewirken „alls bey der Gebuhrt Christi“.14 Bucks Anhänger verkündeten öffentlich, dass ihnen die Geister weit „bessern Unterreicht aus Gottes Wortt geben“ würden als ihr Pastor. Über die religiösen Lieder, die die Geister sangen, wurde berichtet, dass sie von überirdischer Schönheit seien und insofern bereits einen Beleg für die göttliche Natur der Erscheinungen darstellten.15 Freyin wurde wie eine Heilige verehrt: Sie wurde „Erlöserin der Seelen [...], rechthailige Kämpferin, gaistliche Mutter [...], Wundertäterin“ genannt. Die Geisteranbeter feierten den Jahrestag von Freyins entscheidender Begegnung mit den Gespenstern an Epiphanie. Da dieser Termin im kirchlichen Festkalender in der Region als ‚Fest der Erscheinung‘ bekannt war, bot sich hier die Möglichkeit, mit der Begrifflichkeit zu spielen: Nicht auf der Erscheinung Jesu in der Welt lag der Akzent, sondern auf den Geister‚erscheinungen‘. Buck hatte einen sechs Jahre alten Jungen adoptiert, den er nicht am evangelischen Gottesdienst und Katechismusunterricht teilnehmen ließ. Das Kind galt als besonders vertraut mit den Geistern. Laut Aussage des evangelischen Pastors von Weilheim, bezeugte der Junge den Geistern „eine nur Gott allein schuldige Ehrforcht“. Angeblich wurde ihm beigebracht, „auf die Knie niderzufallen und sie gleichsam anzubeten.“ Wahrscheinlich wurde das Kind auf die Rolle eines Mediums oder eher noch auf die eines Priesters vorbereitet. Freyins und Bucks Anhänger entwickelten das aggressive Selbstbewußtsein einer sich als Elite verstehenden Kleingruppe. Sie „alleine [hätten] erleuchtete und offene Augen [...]. [Die] übrige leuthe wären blind, verstockt und bedaurungswürdig.“ Sie behaupteten, von Gott besondere Gnadengaben erhalten zu haben: Die Offenbarungen der Geister seien „etwas Göttliches und denen Leuthen, so nicht besonders beruffen etwas ohnbegreifliches“. Die FreyinBuck-Gruppe kann als eine religiöse Sekte bezeichnet werden. Hier etablierte sich ein neuer Kult: Er wurde konstituiert durch regelmäßige Versammlungen, einem Feiertag und Anbetungsgesten, die zumindest von Bucks Adoptivsohn 14 Alle folgenden wörtlichen Zitate nach Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 1421. Vgl. dazu auch Dillinger: „Das Ewige Leben und fünfzehntausend Gulden“. 15 Sowohl im europäischen Volksglauben als auch im amerikanischen Spiritismus ist das Motiv vom Gesang der Totengeister weit verbreitet. Leah Fox behauptete sogar, dass ihr durch die Klopfgeräusche Noten diktiert wurden. Vgl. z.B. Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 415ff und Mengis: „Geist“. Vgl. ferner die spiritistischen Gesangsbücher von Henk: Spirit Voices und Packard: Spirit Minstrel. Ein analytischer Vergleich der bekannten Texte solcher ‚Geister-Lieder‘ könnte unser Verständnis von den jeweiligen Glaubensgrundsätzen weiter fördern.
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durchgeführt wurden. Die Geisterverehrer versuchten aktiv weitere Personen als Mitglieder für ihre Gruppe anzuwerben und wiesen öffentlich die Autorität der etablierten Kirche zurück. Freyin hatte angeblich damit begonnen, die Äußerungen der Geister niederzuschreiben. Deren Mahnungen, Gebete und Lieder wurden von der Sekte als unmittelbare göttliche Offenbarungen verstanden. Insofern kann hier von der Entstehung eines heiligen Buches gesprochen werden. Anfang 1771 ordnete die zentrale Verwaltung der württembergischen protestantischen Kirche die sofortige Einstellung der Versammlungen in Bucks Haus an. Dieses Verbot wurde ignoriert. Einen Monat später beauftragte der Oberrat, Württembergs Regierung, Bühler, nach der ausgewiesenen Freyin zu fahnden. Die Behörden hofften, die Aktivitäten der Geisteranbeter beenden zu können, indem sie Freyin wegen Betruges überführten. Bühler blieb zunächst erfolglos. Eine vom Herzog angeordnete Razzia in Bucks Haus scheiterte, weil sie im Vorfeld verraten worden war. Die Anführer der Geistersekte ergingen sich in Prophezeiungen, in denen sie die behördlichen Repressalien als Martyrium interpretierten, durch das sie schließlich zu einem epochalen Triumph über die etablierte Ordnung gelangen würden. Mit noch größerem Eifer als bisher beharrten sie auf der Wahrheit ihrer Offenbarungen und griffen die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten an. Buck denunzierte öffentlich den Weilheimer Pfarrer als einen „lügen Prediger“ und den Stadtschreiber als einen „Lügenschreiber“. Damit sprach er den Vertretern von Kirche und Staat ihre moralische Integrität ab. Es ging um mehr als einen Angriff auf einzelnen Personen: Wenn die Amtsträger von Staat und Kirche Lügner und Betrüger waren, waren sie – aus der Sicht eines frühneuzeitlichen christlichen Idealstaates betrachtet – Gegner Gottes. Bedeutete das nicht, dass die etablierte Ordnung Gottes Willen widersprach? Welche Autorität konnten Kirche und Staat, korrupt und widergöttlich, wie Buck sie zeichnete, noch beanspruchen? Der Weilheimer Pfarrer warnte Bühler zu Recht davor, dass die polemischen Äußerungen der Geistersekte „gefährliche folgen in Ansehung der bürgerlichen Verfassung und des gemeinen Wesens“ haben würden. In Weilheim begannen sich bereits die praktischen Folgen von Bucks Bruch mit der hergebrachten Ordnung zu zeigen. Ein lokaler Amtsträger, der der Sekte beigetreten war, wurde von Bucks Gegnern nicht mehr respektiert. Innerhalb der Sekte genoss er ebenfalls keine Autorität, da man sich von der staatlich-kirchlichen Ordnung insgeamt distanziert hatte. Glaubenszweifel innerhalb der lutherischen Gemeinde wurden laut: Einige Weilheimer klagten, „sie wüßten nicht, was sie mehr glauben sollten [...] [und sie] wollten [...] ihre bibeln zum Fenster hinaus werfen“. Der kritische Pietismus schien in Gestalt der Geistersekte aggressiver denn je auferstanden zu sein. Angst vor einer ‚Revolution‘ ließ die Behörden schließ-
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lich hart durchgreifen. Buck und ein weiterer Anführer der Geistersekte wurden für zwei Jahre nach Ludwigsburg ins Gefängnis geschickt, nachdem sie sich geweigert hatten zu gestehen, dass sie Betrüger seien. Ohne ihren Wortführer begann sich die Gruppe langsam aufzulösen. 1773 gelang es Bühler, Freyin festzunehmen. Unter massiven Druck gestand sie, dass sie sich die ganze Zeit über in Bucks Haus versteckt und die angeblichen Geistererscheinungen inszeniert hatte. Einige Tage später entfloh Freyin auf traditionelle Weise aus dem Gefängnis, indem sie sich mittels Betttüchern aus dem Fenster abseilte. Es gelang nicht, sie noch einmal festzunehmen. Die letzte Person, die sich selbst nach Einkerkerung und Auspeitschung noch zur Geistersekte bekannte, wurde 1774 von den Behörden für unzurechnungsfähig erklärt. Die Unterschiede zwischen den Fox-Schwestern und der württembergischen Geistersekte sind offensichtlich. Den Prinzipien der Aufklärung folgend, hielten es die amerikanischen Behörden des 19. Jahrhundert nicht für ihre Pflicht, über religiöse Rechtgläubigkeit zu entscheiden. Der amerikanische Diskurs war daher hauptsächlich wissenschaftlicher Art: Kommunizierten die Fox-Schwestern tatsächlich mit den Toten? Waren ihre Behauptungen korrekt? Im Gegensatz dazu war der Diskurs in Württemberg im wesentlichen religiös motiviert: Waren die Lehren der Geistersekte wahr? Die Geisterbotschaften der Fox-Schwestern wurden aufgrund der rein wissenschaftlichen Natur des amerikanischen Diskurses als Gegenstand einer empirischen und naturwissenschaftlichen Überprüfung betrachtet. In Bucks Haus wurde dagegen niemals eine auch nur ansatzweise entsprechende Untersuchung durchgeführt. Obwohl die württembergische Regierung relativ tolerant war, war sie weit davon entfernt, sich in Religionsfragen neutral zu verhalten. Wie es zu erwarten war, wurden in diesem von bäuerlicher Kultur und Konfession geprägten Staat Alteuropas Magie oder zumindest unorthodoxe Glaubenslehren verfolgt, wohingegen der aufgeklärte Staat diese ignorierte und somit ihre Verbreitung erlaubte. Durch die Trennung von Kirche und Staat schuf die Aufklärung einen Freiraum für Heterodoxie und Magie. Ihr noch voraufgeklärtes Umfeld machte Buck und Freyin zu Revolutionären. Für die Behörden war es unmöglich ihre Behauptungen, dass sie ohne Hilfe der Kirche göttliche Offenbarungen erhielten, zu ignorieren, besonders von dem Moment an, als offensichtlich wurde, dass diese Offenbarungen zumindest teilweise der etablierten Theologie widersprachen. Dadurch, dass die Geistersekte neue hierarchische Strukturen analog zur Kirche aufbaute, stellte sie die alten gesellschaftlichen Hierarchien in Frage. Werfen wir nun einen ausführlicheren Blick auf den Ursprung der jeweiligen Bewegung und auf die Weise, wie sie ihre Geistererzählungen konstruierten. Freyin behauptete, dass sie einem Geist, welchen sie als dunkel und furchterregend beschrieb, begegnet sei. Die Totengeister des traditionellen
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kirchlich geprägten Volksglaubens streben danach, ihre Existenz zu beenden.16 Sie sehnen sich nach ‚Erlösung‘ zum himmlischen Leben: Sie wollen die Sphäre der Lebenden verlassen und endgültig ins Jenseits hinüberwechseln. Einige Totengeister verweilen einfach ohne einen bestimmten Grund in ihrer gewohnten Umgebung, ihren Arbeitsstätten und Häusern, bis sie nach einer gewissen Zeit von allein verschwinden. Die meisten müssen jedoch erst ein bestimmtes Hindernis beseitigen, dass sie an den irdischen Bereich bindet. Ein Unrecht muss gesühnt oder eine vor dem Tod nicht mehr erfüllte Aufgabe erledigt werden. Die Lebenden können die umherwandernden Seelen erlösen, indem sie für sie beten, sie segnen oder ihnen helfen, ihre jeweilige Aufgabe zu erfüllen. Freyin gelang es irgendwie – sie ging nie genauer auf diesen Punkt ein – den Geist, dem sie begegnet war, zu erlösen. Das Gespenst veränderte seine Erscheinung und erschien nun leuchtend weiß und schön. Freyin gab vor, dass der Geist sich auch nach seiner Erlösung weiterhin sowohl nachts und als auch tagsüber in Bucks Haus zeigte und sogar von einem zweiten weißen Gespenst begleitet würde. Nach dem populären Geisterglauben bedeutete die Erlösung eines Geistes, dass dieser von seinen Bindungen an die Welt der Lebenden befreit wurde. Er zeigte sich ein letztes Mal in weißer Gestalt zum Zeichen seiner Erlösung und verschwand dann endgültig.17 Der Geist, der von Anna Maria Freyin erlöst wurde, blieb jedoch weiterhin für sie und andere sichtbar. Die weißen Gestalten, die Freyin, Buck und zahlreiche andere Leute in dem Haus in Weilheim sahen, waren keine Geister mehr, die zwischen Diesseits und christlichem Jenseits aus Himmel und Hölle (nach katholischer Auffassung auch Fegefeuer) existierten. Da sie schon erlöst waren, hatten sie Anteil am ewigen Leben in Seligkeit gewonnen. Die Gespenster waren damit Teil des himmlischen Lebens. Ihre Äußerungen galten somit als göttliche Offenbarungen. Das im christlichen Volksglauben so weit verbreitete Motiv von der Erlösung eines Totengeistes wurde von Freyin konträr zu Volksglauben und Theologie verwendet, um das neue religiöse Erzählmuster eines direkten Kontaktes mit dem Himmel zu kreieren. Der erste angebliche Kontakt der Fox-Schwestern mit den Geistern entsprach Mustern des traditionellen Geisterglaubens mehr als der von Freyin. In ihrem Haus in Hydesville wurde die Fox-Familie wiederholt von seltsamen Klopfgeräuschen gestört. Als die Klopfzeichen auf Dinge, die die Fox-Kinder sagten, zu reagieren schienen, stellte die Mutter den mysteriösen Wesen einige 16 Für das Folgende vgl. Thompson: Motif-Index of Folk Literature, bes. E 230, E 340, E 341, E 415. Vgl. ferner den Index der nationalen Motive bei Müller/Röhrich: „Der Tod und die Toten“ und Jones: Things that Go Bump in the Night, S. 9-45. 17 Mengis: „Geist“, S. 488f.
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direkte Fragen. Diese Fragen wurden durch Klopfzeichen beantwortet. Die Fragen von Frau Fox spiegelten den traditionellen Glauben an Totengeister wieder: Wurden die Klopfgeräusche durch einen Geist, dem ein Unrecht widerfahren war, verursacht? Wurde ihm in diesem Haus ein Unrecht zugefügt? War er ermordet worden? War sein Leichnam im Haus versteckt? Wer war der Mörder?18 Die Quellentexte entlarven Frau Fox als eine Frau, die nur über geringe schulische Bildung, jedoch über reiches traditionelles Wissen verfügte. Wie auch ihre älteste Tochter im Rückblick feststellte: „We knew nothing of Clairvoyance, Magnetism, or Trance Mediums“, aber Totengeistersagen wurden oft in der Familie erzählt.19 Als die Fox-Familie ihre Nachbarn herbeiriefen, um die Erscheinungen zu bezeugen, akzeptierten diese sofort die von Frau Fox vorgeschlagene, am populärem Volksglauben orientierte Interpretation der Ereignisse. Ohne zu zögern stiegen sie in den Keller hinab, um den Leichnam, von dem der Geist gesprochen hatte, zu suchen. Es begann eine Reihe ergebnisloser Grabungen im Keller des Foxschen Hauses. Dieses Verhalten stand in vollkommener Übereinstimmung mit dem alten Totengeisterglauben. Es war unerlässlich, den Leichnam des Ermordeten zu finden und ein christliches Begräbnis für ihn auszurichten, ansonsten konnte seine Seele keine Ruhe finden.20 Damit nicht genug: Die Person, die der Geist als den Mörder identifiziert hatte, musste sich schon bald gegen lautstarke Anschuldigungen verteidigen. In der Geschichte der Fox-Schwestern ging es zunächst nicht um Medien, sondern um ein Spukhaus, was vollständig den traditionellen Erzählmustern gemäß präsentiert wurde. Als die Fox-Familie Hydesville verließ und die mysteriösen Klopfzeichen sie auch in ihrem neuen Zuhause verfolgten, erklärten sie, dass sie auf ein weiteres Spukhaus gestoßen seien und erkundigten sich nach den Verbrechen, die dort begangen worden wären.21 Die Idee, dass die Geräusche, die durch die Geister verursacht wurden, als ein Kommunikationsmittel verwendet werden könnten, war zwar selten, aber nicht gänzlich unbekannt im Volksglauben. Das bekannteste Beispiel war selbstverständlich der Sensationsfall des Cock Lane Geistes von 1762.22 Ann Braude betonte, dass die Annahme, dass sich Frauen wegen ihrer angeblichen 18 Davenport: The Death-Blow to Spiritualism, S. 92-117. 19 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 6, 41, 74-84, 101, 403f., 424ff., wörtliches Zitat S. 41. Vgl. ferner Davenport: The Death-Blow to Spiritualism, S. 119. 20 Thompson: Motif-Index of Folk Literature, E 341; Jones: Things that Go Bumb in the Night, S. 36; Müller/Röhrich: „Der Tod und die Toten“. 21
Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism , S. 7-39.
22 Thompson: Motif-Index of Folk Literature, E 402. Vgl. Grant: The Cock Lane Ghost.
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Passivität und leichteren Beeinflussbarkeit besser als Männer zum Medium eignen, vollkommen den alten Geschlechterstereotypen entspricht.23 In der Volksmagie wurde vorausgesetzt, dass Jungfrauen über eine besondere Affinität zu den Geistern verfügen.24 Ganz am Anfang der Karriere der FoxSchwestern stand also die angebliche Erscheinung eines Poltergeistes, die auf völlig traditionelle Weise interpretiert und behandelt wurde. Hierbei wurden die alten Vorstellungen von Spukgeräuschen als Kommunikationsmittel und von Geistern, die sich bevorzugt jungen Frauen zeigten, verbunden. Die Motive traditionellen Geisterglaubens sind kein starres Regelwerk: Die Möglichkeit der ‚Bricolage‘, der Modifizierung und Neukombination einzelner Elemente ist integraler Bestandteil von herkömmlichen Gespenstererzählungen. Bis zu diesem Punkt scheint die Geschichte der Fox-Schwestern, genau wie Freyins Erzählung, von aufgeklärtem Gedankengut unberührt zu sein.
2.
Glaubensstrukturen
Die ersten Anhänger Bucks litten unter einer defizitären sozialen Integration: Leute mit einem schlechten Leumund fanden ihren Weg zu Bucks Versammlungen. Arme und Personen ohne familiären Rückhalt traten der Sekte bei. Der herrschaftliche Amtmann von Weilheim wurde zu einem leidenschaftlichen Anhänger Freyins. Als Repräsentant der Landesherrschaft war er ein Außenseiter in der Stadt und Gegenstand permanenter kritischer Aufmerksamkeit der Bürger. Innerhalb von Bucks Anhängerschaft spielten soziale Unterschiede keine Rolle. Im Gegenteil, die Geisterverehrer wurden gerade dafür kritisiert, dass sie diese bewusst ignorierten. Als Bühler erfuhr, dass sein Untergebener, der Weilheimer Amtmann, Freyins Sekte beigetreten war, empörte er sich darüber, dass der Amtmann die Autorität einer Dienstmagd anerkannte, die sich ihm gegenüber verhielt, als sei sie ihm sozial gleich gestellt oder sogar überlegen. Diese Verletzung sozialer Grenzen wog für Bühler schwerer als die Tatsache, dass mit Freyin eine Frau religiöse Autorität beanspruchte. In den folgenden zwei Jahren entspezifizierte sich der soziale Hintergrund der Geisteranbeter vollkommen. Ein Ratsmitglied und zwei Handwerker, die vollkommen in die lokale Gemeinschaft integriert zu sein schienen, traten der Bewegung bei. Als sich eine Adlige für Bucks Sekte zu interessieren begann, griff ihre Familie ein und erklärte sie für debil. Aufgrund der strukturellen Mängel des frühen Spiritismus ist es nahezu unmöglich, etwas Genaueres über die Zahl und den sozialen Status der An23 Braude: Radical Spirits, S. 23f. 24 Kummer: „Jungfrau“.
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hänger der Fox-Schwestern zu sagen.25 Leah Fox und die anderen Wortführer der Bewegung legten gesteigerten Wert darauf, dass sie Unterstützung von Personen einer höherern Intelligenz genössen. Sie zitierten endlose Listen von Juristen und Theologen, die die Geistererscheinungen gewissenhaften Prüfungen unterzogen hätten.26 Die moderne bürgerliche Präsentationsform, einschließlich Lesungen und gebührenpflichtiger Konsultationen, die die FoxSchwestern verwendeten, lässt zumindest darauf schließen, dass sie ein großund bildungsbürgerliches Publikum anzogen, sowie diejenigen, die sich am Groß- und Bildungsbürgertum orientierten. Wie zu erwarten sahen sich diese bürgerlichen Spiritualisten selbst nicht als ‚konservativ‘, als an traditioneller Volkskultur orientiert oder gar als Gegner der Aufklärung an. Obwohl die Fox-Schwestern traditionelle Elemente des Geisterglaubens verwendeten, gab es in ihren Seancen ein Element technischer Neuerung. Seit dem Sommer 1848 wurden nicht mehr nur einfache Entscheidungsfragen gestellt, die durch Klopfen bejaht oder durch Schweigen verneint werden konnten. Die Fox-Schwestern trugen das Alphabet vor. Die Geister buchstabierten komplette Sätze, indem sie beim jeweils entsprechenden Buchstaben klopften.27 Vier Jahre nachdem Morse sein erstes Telegramm von Washington nach Baltimore versendet hatte, wurde diese Methode als der ‚spiritual telegraph‘ (Geistertelegraph) bekannt. In späteren Seancen wurde behauptet, dass diese Kommunikationsmethode nicht von einer lebenden Person erfunden worden war. Die Idee stammte von den Geistern selbst, die die FoxSchwestern langsam und vorsichtig dahingehend beeinflussten, das neue Kommunikationsmittel zu verwenden. Die Fox-Schwestern wussten sogar, wer den ‚Geistertelegraphen‘ erfunden hatte: kein Geringerer als der Geist von Benjamin Franklin. Franklin, Vordenker und Leitfigur von Revolution und Aufklärung in Amerika, war auch Vordenker und Revolutionär im Jenseits. Nach Meinung von Leah Fox begründete der Spiritismus a new truth, which was destined to revolutionize this world, and establish a communication between the here and the hereafter. […] It is not surprising that the Spirit on the other side who seems to have been the principal initiator, not to say the inventor of this new
25 Braude: Radical Spirits, S. 25ff. 26 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 68. 27 Isaacs: „The Fox Sisters and American Spiritualism“, S. 83; Capron: Modern Spiritualism, S. 64f.
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development in the evolution of Humanity […] was […] Benjamin Franklin.28 In einer seiner ersten Nachrichten versicherte Franklin, dass „the world will be enlightened [by Spiritualism]“.29 Ihre Gegner verhöhnten die Spiritisten dagegen als rückständig und unaufgeklärt. Der Spiritist und ehemalige Gouverneur von Wisconcin, Nathaniel P. Tallmadge, schrieb 1853, dass die Skeptiker „[were] far behind the intelligence of the age [in which] [...] mesmerism and clairvoyance […] are considered by intelligent and scientific men as well established as electricity and magnetism“.30 Leah Fox verglich sich selbst mit Galileo und die Skeptiker von der Harvard Universität mit den Hexenjägern aus Salem.31 Die Bewegung, die sie mitbegründet hatte, apostrophierte sie stets als ‚Modern Spiritualism‘, nicht so sehr um sie vom traditionellen Geisterglauben abzugrenzen, sondern vielmehr um den Spiritismus als einen wesentlichen Bestandteil, wenn nicht sogar als die Vollendung der aufgeklärten Epoche, die mit der Amerikanischen Revolution begonnen hatte, zu charakterisieren. Die religiösen Inhalte des Spiritismus widersprachen diesem Trend nicht. Tatsächlich verstärkten sie diesen sogar. Für Leah Fox bewiesen die Geisterbotschaften, die sie als konkrete, wissenschaftliche Fakten darstellte, „[the] immortality of the soul (heretofore a mere dogma of unproved and unprovable ‚faith‘), which is the foundation corner-stone of all religions and of all Religion. In the words of [Apostle] Paul, to ‚faith‘ they ‚add knowledge‘“32, die den Grundstein aller Religionen und jeder Religion bildet. Sie geben, um es mit dem Apostel Paulus zu sagen, zum Glauben das Wissen.33 Die Vorstellung, dass Geister erscheinen, um zu beweisen, dass der Tod nicht das Ende der menschlichen Existenz sei, war nicht neu. Tatsächlich handelte es sich hierbei um einen Kernbestand der theologischen Interpretation der Geistererscheinungen seit Thomas von Aquin.34 Die Fox-Schwestern und die anderen Spiritisten interpretierten dieses Vorstellung neu. Erklärtes Ziel der Geister war dem Kampf gegen den Materialismus. Dieses Ziel verfolgten sie jedoch, indem sie sich selbst materialisierten. Dadurch, dass sie nachweisbare Effekte in einer
28 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism , S. 55f. 29 Dewey: History of the Strange Sounds or Rappings Heard in Rochester and Western New-York, and Usually Called the Mysterious Noises!, S. 62. 30 Capron: Modern Spiritualism, S. 338. 31 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism , S. 299f. 32
Ebd., S. 3.
33 Ebd. 34 Vgl. Lecouteux: Geschichte der Gespenster und Wiedergänger im Mittelalter.
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wissenschaftlich kontrollierten Umgebung erzeugten, bewiesen sie die Existenz des Jenseits. Dass sie diese Effekte überhaupt erzielen konnten, verdankten sie wiederum ihren überlegenen Kenntnissen von Elektrizität und Magnetismus.35 Religion bedurfte der Bestätigung durch den wissenschaftlich aufgefassten Spiritismus. Die spiritistisch gerechtfertigte Religion war im Einklang mit den Prinzipien der Aufklärung. Die Botschaften der Geister waren den Kirchen gegenüber kritisch, nicht konfessionell gebunden und deistisch. Auf der Grundlage dieser Befunde ist es offensichtlich, dass der US-Senat vollkommen daneben lag, als er den Spiritismus als ein Relikt aus der unaufgeklärten Vergangenheit denunzierte. Das Organisationsschema des Spiritismus entsprach seiner Ablehnung von Dogmen und Autoritäten. Es spiegelte aber auch strukturelle Elemente der amerikanischen republikanischen Gesellschaft wieder. Die Fox-Schwestern, die Medien schlechthin, erlangten oder beanspruchten niemals irgendeine Art institutionalisierter Autorität. Im Gegensatz zu Freyin versuchten sie nicht die Hierarchie und die Glaubensgrundsätze einer neuen Kirche zu etablieren. Jeder sollte ein Medium konsultieren können, und es wurde behauptet, dass in jeder Familie zumindest ein Familienmitglied über die Begabung zum Medium verfügte.36 Bret Carroll führte in seiner Geschichte des Spiritismus aus, dass die Bewegung ihre Abneigung gegen übergeordnete Organisationsformen und verbindliche Regelungen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgab, als ihre Glaubwürdigkeit durch lautstarke Pressekampagnen und Betrügereien gelitten hatte.37 Der Spiritismus erwies sich jedoch auch weiterhin als antiautoritär. Gemäß dem Ideal der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft stützte er sich nicht auf klar umrissene Gruppen oder Institutionen, sondern auf Individuen. Wie bereits erwähnt wurde, gerieten die Fox-Schwestern ganz zu Beginn ihrer Karriere unter den Einfluss der individualistischen Doktrin der Congregationel Friends. Deren religiöser Individualismus beeinflusste sie sicherlich. Die individualistische Theologie der Congregationel Friends bildete allerdings ein Teil der neuen Aufklärungskultur, die die Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen betonte.
35 Vgl. Capron: Modern Spiritualism, S. 345. 36 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism , S. 403. 37 Carroll: Spiritualism in Antebellum America, S. 178f.; Moore: In Search of White Crows, S. 65ff.
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3.
Glaube an Strukturen
Nicht nur die spiritistische Bewegung wurde durch die neuen Anforderungen und Möglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft der jungen USA geformt. Die neue Gesellschaft veränderte auch die Vorstellung vom Leben nach dem Tod grundlegend. Die Fox-Schwestern ließen den volkstümlichen Geisterglauben bald hinter sich. Sie behaupteten, dass nur wenige Wochen nach den ersten Klopfgeräuschen in Hydesville ihr eigener toter Großvater sie dazu angehalten habe, anderen Leuten dabei zu helfen, mit ihren „friends in heaven“ in Verbindung zu treten.38 Damit war der Raum volkstümlicher Spukvorstellungen verlassen: Nun ging es darum, nicht mit umgehenden Totengeistern, mit den Seelen von Verstorbenen im Jenseits zu kommunizieren. Auch dieser Gedanke war der Volksmagie ebenso wie der gelehrten Magie der Hermetiker, Astrologen und Traumdeuter vom Schlage eines John Dee grundsätzlich bekannt. Die Shakers und natürlich die frühen Spiritisten Immanuel Swedenborg und Andrew Jackson Davis sprachen angeblich mit Seelen aus dem Jenseits und nicht mit Spukerscheinungen, wie sie in den Gespenstersagen beschrieben wurden. Die Fox-Schwestern und alle ihnen folgenden Spiritisten stellten sich nun in diese Tradition und wandten sich damit ab von der Motivik des herkömmlichen Totengeisterglaubens, die den Beginn ihrer Karriere bestimmte hatte. Sie kommunizierten nicht länger mit Spukgeistern, die zwischen der Sphäre der Lebenden und der Toten festsaßen, sich an bestimmten Orten zeigten und auf Erlösung warteten. Die Fox-Geschwister gaben jetzt vor, in der Lage zu sein, Kontakt zu jeder toten Person herzustellen und von jedem Toten Nachrichten zu erhalten. Konsequent bezeichneten sie die Erscheinungen, mit denen sie in Verbindung stehen wollten, niemals als ‚ghosts‘ (Gespenster), sondern unspezifischer als ‚spirits‘ (Geister). Sowohl den Fox-Schwestern als auch Freyin gelang es, Erzählungen zu konstruieren, die von den Elementen traditioneller Geistergeschichten ausgingen und sich zu der Behauptung entwickelten, im Kontakt mit dem Jenseits zu stehen. Dass genau dieses aber unmöglich sei, war bis in das 18. Jahrhundert der gemeinsame Nenner aller theologischen Stellungnahmen zur Geisterdebatte. Die katholische Kirche akzeptierte zumindest die Möglichkeit, dass Gott Seelen aus dem Fegefeuer zurück zur Erde senden könnte. Die reformierten Kirchen behaupteten, da sie die Existenz des Fegefeuers leugneten, dass alle Totengeister in Wahrheit Dämonen seien. Diese versuchten so, Verwirrung und Glaubenszweifel zu säen. Auf jeden Fall unmöglich war es jedoch für die Lebenden, mit den Verstorbenen im Jenseits zu kommunizieren. Natürlich gab es Volkssagen über Träume von verdammten oder geretteten Seelen. Diese 38 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 51.
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Motivkomplexe waren jedoch nicht mit dem Vorstellungskreis des Totengeisterspuks verbunden. Der Volksglaube teilte die Auffassung der Theologie, dass eine Kontaktaufnahme zwischen der Welt der Lebenden und dem Jenseits von Himmel und Hölle unmöglich sei. Die Erlösung eines umgehenden Geistes zielte ja eben gerade darauf ab, seine Bindungen an die Welt der Lebenden endgültig zu lösen. Freyin, Buck und ihre Anhänger behaupteten, nur zwei erlöste Seelen sehen zu können. Die Geister der Weilheimer Sekten spielten die Rolle von Heiligen, Propheten oder Engeln. Sie verkündeten den Gläubigen den Willen Gottes. In diesem Punkt ähnelte Freyins Geist mehr Joseph Smiths Engel Moroni als den unzähligen Toten, die mit den Fox-Schwestern in Verbindung stehen sollten.39 Die württembergische Sekte behauptete nicht nur, mit zwei Toten kommunizieren zu können, sie entwickelte auch Jenseitsvorstellungen, die von denen der etablierten Kirchen abwichen. Die erhaltenen Aufzeichnungen liefern allerdings nur sehr wenige Details. Laut Buck bezeugten die Erscheinungen entgegen der protestantischen Lehre die Existenz „eines 3ten Ortes in welchem sich die abgeschidenen Seelen auffhalten“.40 Auch wenn dieses von den protestantischen Pfarrern mit der katholischen Vorstellung vom Fegefeuer assoziiert wurde, meinte Buck sicherlich etwas anderes. Die Seelen im Fegefeuer interagierten nicht mit der Welt der Lebenden und waren nicht in der Lage, religiöse Instruktionen zu übermitteln. Württembergs katholische Nachbargebiete akzeptierten Bucks Erläuterungen nicht. Ganz im Gegenteil: Sie begegneten der Geistersekte mit „lachen und spotten [...] und sagen [...], daß wann derley dinge bey Ihnen vorgingen, man diese Phantasten an leib und leben strafen würde.“41 Der „3te Ort“ war vermutlich die Sphäre der Geister zwischen Erde und christlichem Jenseits. Es ist denkbar, obwohl es dafür keinen direkten Beweis gibt, dass Freyin und Buck indirekt unter dem Einfluß Swedenborgs standen. Swedenborg war von dem pietistischen Prediger Friedrich Christoph Oetinger rezipiert worden, der bei seinen Amtskollegen wie bei den Gläubigen für die Ideen des schwedischen ‚Geistersehers‘ warb. Oetinger sprach von der Existenz eines Zwischenreiches, in dem die Seelen der Toten auf ihre Aufnahme in den Himmel warten sollten. Allerdings vertraten die Pietisten niemals die Vorstellung, dass die Geister religiöse Instruktionen übermitteln könnten. Es wurde im Gegenteil sogar behauptet, dass bedeutende pietis-
39 Carroll: Spiritualism in Antebellum America, S. 22, 44, 163f, 182f. 40 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 209 Bü 1421. 41 Ebd.
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tische Geistliche Predigten für die Toten im Zwischenreich hielten.42 Buck und Freyin bezogen sich nie eindeutig auf Oetinger oder Swedenborg, Oetinger nahm von den Vorgängen in Weilheim offenbar keine Notiz. Anders als die Geistersekte entwickelte der Spiritismus keine gottesdienstähnlichen regelmäßigen öffentlichen Versammlungen, bei denen Nachrichten aus dem Jenseits empfangen werden konnten. Vielmehr nahm der Kontakt mit den Geistern die Form einer freiwilligen Kommunikation zwischen grundsätzlich beliebigen Individuen an. Während Freyins Geister religiöse Lehrer waren, deren Autorität innerhalb der Sekte nicht angezweifelt wurde, waren die Toten nach spiritistischer Auffassung bestenfalls persönliche Leitfiguren. Die Strukturen, die für die Kommunikation mit den Geistern von den Fox-Schwestern eingeführt wurden, spiegelten die modernen Kommunikationsprozesse des US-amerikanischen Alltags in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder. Der Kontakt mit der Geisterwelt war demokratisiert worden. Die Interaktion mit den Geistern wurde in keiner Weise durch Hierarchien oder Autoritäten kontrolliert. Das Jenseits der Spiritisten unterschied sich wesentlich von dem des orthodoxen Christentums. Amerikanische Spiritisten, z.B. Andrew Jackson Davis, der in dieser Hinsicht einflussreicher als die Fox-Schwestern war, präsentierten eine dynamisierte Version von Swedenborg.43 Der Himmel bestand aus sieben konzentrischen Sphären. Die siebente war der Sitz Gottes. Beim Eintritt in den Himmel nahm jede Seele die Position in den Sphären ein, die dem auf Erden erreichtem Niveau sittlicher Entwicklung entsprach. Die Seelen verblieben jedoch nicht auf dieser Position. Durch den Einfluss eines höheren Geisterwesens gelang ihnen ein stetiger Aufstieg, der sie schließlich in die siebte Sphäre führen würde. Dort würden sie jedoch nicht mit Gott vereint werden, sondern mit ihm zusammen eigenständig bis in alle Ewigkeit weiterexistieren. Der Himmel wurde insofern zu einem Ort der Vervollkommnung, der Entwicklung und des permanenten Fortschrittes der Individuen. Nach Leah Fox war der Tod „but birth into another stage of progressed and progressive life, in unchanged personality and identity”.44 Die gleichsam statische ewige Glückseligkeit des Christentums verschwand. In der von Aufstiegsmobilität beherrschten dynamischen Hierarchie des spiritistischen Jenseits hatte die Hölle, die Sackgasse ewiger Verdammnis, selbstredend keinen Platz. 42 Haug: Reich Gottes im Schwabenland, S. 160ff. Es ist möglich, dass in Oetingers Konzept die viel älteren Legenden vom Nobiskrug oder von der Kalten Herberge als Schutz der Toten eine Rolle spielten. 43 Brown: The Heyday of Spiritualism, S. 78ff; Carroll: Spiritualism in Antebellum America, S. 62ff. 44 Underhill: The Missing Link in Modern Spiritualism, S. 3.
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Worin liegt die Bedeutung dieser neuen Jenseitskonzeption? Worin bestand ihre besondere Attraktivität? Selbst wenn wir nicht Bronislaw Malinowskis schlichten Funktionalismus teilen, können wir vermuten, dass sowohl die Regeln und Absichten der Magie als auch die Vorstellung von einer Geisterwelt mit Bezug auf die Bedürfnisse und Ideale der jeweiligen Gesellschaft konstruiert werden.45 Der Volksglauben entwickelt keine Utopien. Imaginäre soziale Räume, wie z.B. bei Fairy Land, die verborgene Anderswelt der Naturgeister, oder der Hexensabbat46 waren verzerrte, aber dennoch erkennbare Spiegelbilder der Alltagsgesellschaften. Man könnte von magischen ‚DoppelgängerGesellschaften‘ sprechen. Geisterglaube tendiert dazu, die Werte der Gesellschaft zu bestätigen und zu stärken. Gerade der traditionelle Totengeisterglaube ist dafür das beste Beispiel. Die Geisterexistenz ist eine Strafe oder Buße für Verstöße gegen einen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragenen Verhaltenskodex. So muss etwa ein Geizhals sein Geld bis in alle Ewigkeit zählen. Ein adliger Jäger, der durch die Felder seiner Bauern ritt, muss Teil der wilden Jagd werden. Der Bauer, der den Grenzstein seines Nachbarn zu dessen Ungunsten versetzte, muss nach seinem Tod jemanden suchen, der ihm die Stelle zeigen kann, an die der Stein korrekterweise gehört. Ein Mörder schließlich muss fortwährend seine Tat wiederholen.47 Die Geister exemplifizieren moralische Verpflichtungen. Verstorbene Freunde oder Verwandte kehren zurück, um zu helfen und zu raten.48 Selbst wenn sie nicht notwendigerweise disziplinierende Funktion hatten, spiegelten traditionelle Totengeistererzählungen doch offensichtlich die Regeln der Alltagsmoral wieder, die sich auf die Gemeinde, die Familie und soziale Rollenerwartungen bezogen. Man kann festhalten, dass der traditionelle Geisterglaube ein Normensystem abbildete. Dieses war weniger der Realität der vorindustriellen ländlichen Gesellschaft verpflichtet als vielmehr den Idealen, den Erwartungen in Bezug auf ein angemessenes Verhalten, die diese Gesellschaft für sich entwickelt hatte. Im populären Volksglauben exemplifizierten die Totengeister soziale Regeln. Die umgehenden Toten dachte man sich als solitäre Wesen, soziale Inter45 Malinowski: Coral Gardens and Their Magic, S. 239-250 und Malinowski: „Magic, Science, and Religion“. Vgl. den kritischen Überblick bei Sharot: „Magic, Religion, Science, and Secularization“. 46 Dillinger: ‚Böse Leute‘: Hexenverfolgungen in Schwäbisch-Österreich und Kurtrier im Vergleich, S. 120-134. 47 Thompson: Motif-Index of Folk Literature, E 337, 416. Vgl. ferner Jones: Things that Go Bump in the Night, S. 21ff und Müller/Röhrich: „Der Tod und die Toten“. 48 Thompson: Motif-Index of Folk Literature, E 320, 366. Vgl. ferner Jones: Things that Go Bump in the Night, S. 37, 45 und Müller/Röhrich: „Der Tod und die Toten“.
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aktionen zwischen Geistern oder Analogien zur Alltagsgesellschaft begegnen in traditionellem Geisterglauben nicht. Die Geisterschiffe, Geisterarmeen und wilden Jagden bilden dabei keine Ausnahme. Im Allgemeinen werden sie nicht als eine Gruppe unterscheidbarer Individuen, sondern als eine kollektive Einheit beschrieben.49 Freyin verwischte zwar die Unterschiede zwischen Geistern und erlösten Seelen, trotzdem blieb sie weiterhin auf das traditionelle Bild von Geistern als solitären, nicht sozialen Wesen fixiert. Sie gab vor, nur mit den beiden Geistern, die sie erlöst hatte, kommunizieren zu können. Als der Spiritismus die orthodoxe christliche Lehre von Himmel und Hölle aufgab, erlangte er eine Freiheit, die der traditionelle Volksglauben nie besessen hatte. Die Toten standen nun zur Verfügung, um ein neues Jenseits, eine neue imaginäre Gesellschaft zu kreieren. Der traditionelle Geisterglaube war Ausdruck und Bestätigung der Normen der vorindustriellen Gesellschaft. In einigen Fällen, Fairy Land oder dem Hexensabbat war sogar ein diesen Normen getreues Spiegelbild dieser Gesellschaft entworfen worden. Das Gleiche gilt für den Spiritismus. Dass die Geister des Spiritismus ihren Vorgängern im traditionellen Volksglauben überhaupt nicht mehr glichen, verdankt sich der schlichten Tatsache, dass sich die Gesellschaft oder genauer die Ideale dieser Gesellschaft verändert hatten. Das spiritistische Jenseits mit seiner dynamischen Hierarchie von Individuen, die willens und auch fähig sein sollten, ihre jeweilige Stellung durch Aufstieg zu verbessern, spiegelte die bürgerliche kapitalistische Gesellschaft der amerikanischen Ostküste im 19. Jahrhundert und ihren ‚pursuit of happiness‘ wieder. Hier wie dort wurden Rangunterschiede akzeptiert, jedoch die Möglichkeit des Aufstiegs unterstrichen. Zentral war der Glaube an den Fortschritt: Jeder Einzelne ebenso wie die Gesellschaft als Ganzes hatten die Chance, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Optimismus prägte die spiritistische Auffassung vom Jenseits ebenso wie die Werte dieser bürgerlichen Gesellschaft: Es konnte nicht nur jede Seele die siebente Sphäre erreichen, jede Seele würde sie erreichen. Man könnte fast glauben, das spiritistische Jenseits habe Horatio Alger – ebenfalls ein Zeitgenosse der FoxSchwestern – erfunden. Die spiritistische Vorstellung von den Toten als Individuen mit freiem Willen in einer Umgebung, die Fortschrittsstreben zwingend fordert und belohnt, korrespondierte vollkommen mit dem aufgeklärten Menschenbild und Gesellschaftsideal. Die württembergische Geistersekte entstand in einer traditionellen, weitgehend agrarisch geprägten Gesellschaft. Die Ideen der Aufklärung und die sozialen Umbruchserfahrungen, die diese bedingen sollten, fehlten in diesem Umfeld noch weitgehend. Die Fox-Schwestern standen jedoch bereits eindeutig in aufgeklärt bourgeoisen Kontexten. Der moder49 Thompson: Motif-Index of Folk Literature, F 403.2.3.7, E 501.3, 510. Vgl. ferner Behringer: Shaman of Oberstdorf.
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ne Spiritismus brachte moderne Geister hervor: Man könnte pointiert von einer Aufklärung der Toten sprechen. Als Tallmadge die Behauptung der FoxSchwestern verteidigte, dass der Geist von Benjamin Franklin den ‚GeisterTelegraphen‘ erfunden hatte, versuchte er aus seiner Sicht der aufgeklärten USGesellschaft, ein Argument für die Richtigkeit spiritistischer Glaubensaussagen zu gewinnen: „With all the evidence of progress which surrounds us here, how can we discard such evidences from the spirit-world, which is believed to be one of ‚everlasting progression‘?“50 Der Erfolg der Fox-Schwestern und der Bewegung, die sie mit initiiert hatten, verdankte sich ihrem zweifachen Anschluss an den Aufklärungsdiskurs. Sie stellten die Geisterbotschaftfen als durch die Vernunft bewiesen und offen für wissenschaftliche Untersuchungen dar. Die Kernaussagen dieser Botschaft reflektierten sowohl die Kernaussagen der Aufklärung als auch die Werte der neuen bürgerlichen Gesellschaft. In dieser Hinsicht befand sich der Spiritismus im völligen Einklang mit dem traditionellen Geisterglauben. Die Imagination der Geisterwelt wurde durch die Regeln und Ideale der Gesellschaft geformt und bestätigte diese seinerseits. Insgesamt gesehen erscheinen die Fox-Schwestern somit innovativer als die württembergische Geistersekte. Gemäß den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft betonte der Spiritismus immer die Rolle des Individuums. Deshalb ist es auch keine Überraschung, dass zumindest ein Teil der Bewegung sich politisch um die Wahrung der Persönlichkeitsrechte bemühte. Einige Medien wurden zu Wortführern der Anti-Sklaverei-Kampagnen und der Suffragetten. Verarmt und alkoholkrank beschuldigten Kate und Margaret Fox 1888 ihre Schwester Leah und andere Spiritisten, sie ausgenutzt zu haben. Beide erklärten öffentlich, dass sie die so genannten Geistergeräusche selbst erzeugt hatten und wandten sich vom Spiritismus ab.51 Margaret konvertierte zum Katholizismus.52 In ihrer Verurteilung des Spiritismus’ wiederholte sie alte konfessionelle Argumente: „No, the dead shall not return, nor shall any that go down into hell. So says the Catholic Bible and so say I. The spirits will not come back. God has not ordered it.“53 Für Margaret Fox bedeutete die Abkehr vom Spiritismus die Rückkehr zu voraufgeklärtem Gedankengut.
50 Capron: Modern Spiritualism, S. 346. 51 Isaacs : „The Fox Sisters and American Spiritualism“, S. 104f. 52 Moore: In Search of White Crows, S. 44. 53 Davenport: The Death Blow to Spiritualism, S. 37.
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Underhill, Ann L.: The Missing Link in Modern Spiritualism [1885], New York 1976.
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Geister des Fortschritts Der US-amerikanische Spiritualismus und seine mediale Vermittlung im 19. Jahrhundert Spiritualismus beziehungsweise Spiritismus: Bereits der Begriff weckt Assoziationen von Esoterik, Okkultismus, rückständigem Obskurantismus, gesellschaftlicher Irrelevanz und sozialpathologischer Devianz. Ein ganzes Arsenal von Klopf- und Poltergeistern, feinstofflichen Geistererscheinungen, geheimen Séancen in abgedunkelten Zimmern und betrügerisch irrlichternden Medien drängt sich auf und lässt es wenig aussichtsreich erscheinen, dem Phänomen tatsächlich eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung abzuringen. Dennoch soll genau dies hier geschehen. Der Spiritualismus wird als eine spezifisch angelsächsische, genauer US-amerikanische Religionsform beschrieben, die durchaus Rückschlüsse auf tiefer liegende soziale und kulturelle Entwicklungen in den USA der Zeit zwischen 1850 und 1890 zulässt. Dabei wird der Spiritualismus als integraler Bestandteil eines Modernisierungsprozesses erkennbar werden, der im Unterschied zu älteren, überwiegend an Max Webers Vorstellungen vom immanenten Zusammenhang von Modernisierung und Säkularisierung bzw. Entzauberung der Welt orientierten sozialhistorischen Anschauungen seine religiösen Wurzeln gerade nicht einbüßt.1 Zumindest in den Vereinigten Staaten war der Spiritualismus vielmehr einer aus einer Vielzahl von Versuchen, einen religiösen Kernbestand in die technisch-industrielle und vom naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmodell geprägte Welt der Moderne einzubinden.2 Gleichzeitig sollte der angebliche Gegensatz von Religion, Demokratie und Wissenschaft durch eine ganzheitliche, auf unmittelbare Erfahrung abhebende Spiritualität aufgehoben werden. Dies aber war nur möglich, weil der Spiritualismus neben den weltanschaulich-ideellen Inhalten, auf denen er gründete und die einen wesentlichen Teil seiner Kompatibilität mit der amerikani-
1
Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Vgl. zur Bedeutung von Religion und Konfessionalität in der Zeit zwischen 1830 und 1970 auch Blaschke: Konfessionen im Konflikt; Hochgeschwender: Wahrheit, Einheit, Ordnung.
2
Vgl. dazu z.B. Butler: Awash in a Sea of Faith; Ahlstrom: A Religious History of the American People; Finke/Stark: The Churching of America; Moore: Religious Outsiders and the Making of America; Moore: Selling God; Hochgeschwender: Amerikanische Religion.
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schen Kultur der Moderne ausmachten, überdies in der Lage war, sich an laufende Veränderungen in den Massenmedien, der Verdichtung und Beschleunigung von Kommunikation auf nationaler und globaler Ebene zu beteiligen.3 Ja, der Spiritualismus wurde mehr noch als das zeitgleich entstehende Mormonentum und parallel zur in dieser Hinsicht weitgehend identischen zweiten evangelikalen Erweckungsbewegung, zu einem Musterfall massenmedialer Selbstinszenierung mitsamt der damit eng verknüpften Selbstkommodifizierung des Religiösen im Kontext einer utilitaristisch-abstrakten Marktgesellschaft. Insofern war amerikanischer Spiritualismus alles andere als ein okkult-esoterisches Phänomen, sondern vielmehr konsequent in den Prozess der Neustrukturierung von partizipativer Öffentlichkeit eingebunden, ohne indes Ursache dieser Entwicklung zu sein. Mit dieser doppelten These schließe ich an die Ergebnisse der neueren kulturwissenschaftlichen und kulturanthropologischen religionshistorischen Forschung in den USA an. Besonders wichtig sind dabei die Studien von Molly McGarry,4 Anne Braude5 und Bret E. Carroll,6 die allesamt herausgearbeitet haben, wie problematisch die bis etwa 1980 anhaltende einseitige Abqualifizierung des Spiritualismus als esoterisch-obskurantistischer Irrweg durch die ältere sozialhistorische Forschung war.7 Für Deutschland hat jüngst Diethard Sawicki einen vergleichbaren Weg beschritten.8 In der Tat kam dem Spiritualismus in der angelsächsischen Welt schon rein quantitativ ein ganz anderer Stellenwert zu als in Deutschland. Während die geschätzte Zahl der Spiritisten im Deutschen Reich des ausgehenden 19. Jahrhunderts nie die Marke von zwanzigtausend Personen überschritt, stellte der Spiritualismus in den USA und Großbritannien eine Massenbewegung mit allen Anzeichen einer Volksreligion dar. In seiner Hochphase Mitte der 1850er Jahre und in den 1870er und 1880er Jahren zog der Spiritualismus eine mindestens in die Hunderttausende gehende gläubig-enthusiastische Anhängerschar an. Die Spiritualisten selbst schätzten, dass sich rund elf Millionen der etwa fünfundzwanzig Millionen US-Amerikaner um 1855 zu der neuen Religi3
Vgl. u.a. Cohen/Boyer: Religion and the Culture of Print in Modern America; Nord: „The Evangelical Origins of Mass Media in America, 1815-1835“.
4
McGarry: Ghosts of Futures Past.
5
Braude: Radical Spirits.
6
Carroll: Spiritualism in Antebellum America.
7
Vgl. ferner Cox: Body and Spirit; Buescher: The Other Side of Salvation. Zur unter medialen Gesichtspunkten außerordentlich wichtigen Frage der literaturhistorischen Rezeption des Spiritualismus vgl. zudem Sword: Ghostwriting Modernism; Bennett: Transatlantic Spiritualism and Nineteenth-Century American Literature; Kucich: Ghostly Communion.
8
Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten.
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on bekannten. Freilich drängt sich nach allem, was wir heute wissen, der Verdacht auf, diese Zahl sei deutlich zu hoch gegriffen. Seriöse, aber nichtsdestotrotz unsichere Mutmaßungen gehen regelmäßig von einer Anzahl von ca. ein bis zwei Millionen stabilen Gläubigen aus, können aber wenig über den Umfang der Mitläuferschaft aussagen.9 Insgesamt stellt sich nämlich das Problem der exakten Quantifizierbarkeit der Anhängerschaft des Spiritualismus in den Vereinigten Staaten gleich unter mehreren Gesichtspunkten: Zum einen existierte noch keine sorgfältig geführte Religionsstatistik. Obwohl in den Vereinigten Staaten aufgrund der Verfassungslage seit 1790 alle zehn Jahre eine Volkszählung durchgeführt werden musste, wollte man die Mitgliedschaft in religiösen Organisationen nicht messen. Religion war, laut dem ersten Verfassungszusatz, Privatsache und nicht Gegenstand staatlicher Maßnahmen. Aus diesem Grunde sind wir auf die Erhebungen der Kirchen und Denominationen angewiesen, die wiederum auf recht unterschiedlichen statistischen Grundsätzen beruhten. Zum zweiten verfügte ausgerechnet der Spiritualismus, im Gegensatz etwa zu den in der New Church organisierten Swedenborgianern, über keinerlei kirchliche Struktur, die eine Zählung überhaupt erlaubt hätte. Drittens war es deswegen auch nicht möglich, exakt zwischen Anhängern, Sympathisanten, Mitläufern und bloß neugierigen Teilnehmern an spiritistischen Praktiken zu unterscheiden. Das aber heißt, dass wir letztlich auf recht grobe Schätzungen angewiesen bleiben, die uns allenfalls eine ungefähre Größenordnung spiritualistischer Anhängerschaft vermitteln können. Ungeachtet dieses methodischen Einwandes bleibt die Tatsache bestehen, dass in der Mitte der 1850er Jahre und in den Jahrzehnten nach 1880 der Spiritualismus in den USA keine zu vernachlässigende Randgruppe, sondern ein quantitativ und qualitativ bedeutsames Massenphänomen war, dessen rasche und weit verzeigte Ausbreitung immerhin erklärungsbedürftig ist. Jedoch nicht nur rein quantitativ, auch sozial war die Basis des angelsächsischen Spiritualismus deutlich breiter als die des kontinentaleuropäischen Spiritismus.10 In Deutschland etwa zählten fast alle praktizierenden Spiritisten zum gehobenen Bürgertum oder gar zur Aristokratie.11 Ihre politischen Anschauungen waren dementsprechend eher konservativ und obrigkeitstreu. Darüber hinaus fanden sich in Deutschland Spiritisten noch in vergleichsweise randständigen Bereichen der religiös inspirierten sozialistischen Arbeiterbewegung, so etwa bei den Deutschkatholiken und Freireligiösen.12 Sie waren noch 9
Ebd., S. 10ff.
10 Zu Großbritannien vgl. Owen: The Darkened Room. 11 Sawicki: Leben mit den Toten, S. 229-353. 12 Vgl. hierzu z.B. Paletschek: Frauen und Dissens; Bahn: Deutschkatholiken und Freireligiöse.
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am ehesten inhaltlich, nicht aber zahlenmäßig mit den diversen Strömungen innerhalb des amerikanischen Spiritualismus zu vergleichen, was insofern nicht verwundert, als sie ihre Existenz teilweise dem direkten Kontakt mit amerikanischen spiritualistischen Missionaren verdankten.13 Zwar entstammte auch im nordatlantischen Kulturraum die Mehrzahl der führenden, publizistisch aktiven und mithin bekannten Führer der Bewegung der gehobenen Mittelklasse. Viele von ihnen waren Universitätsprofessoren, allen voran Naturwissenschaftler. Auch anderes akademisch gebildetes Personal fand sich, beispielsweise Rechtsanwälte und Journalisten. Die weitere Anhängerschaft hingegen rekrutierte sich klassen- und ethnienübergreifend aus nahezu allen sozialen Straten der US-amerikanischen Gesellschaft. Gleichwohl überwogen Angehörige der weißen, protestantischen Mittelklassen; Juden, Katholiken und Immigranten waren dagegen, abgesehen vom kreolischen Louisiana, deutlich unterrepräsentiert.14 Darüber hinaus hat Anne Braude zumindest für Philadelphia einen rein schwarzen Spiritualistenzirkel um die beiden Medien Rebecca Jackson und Rebecca Perot nachgewiesen.15 Daraus leitete sie postulatorisch ab, es müsse schon in der Frühzeit eine eigene und umfassende schwarze Spiritualistenbewegung gegeben haben, deren Spuren sich bislang allerdings nicht haben auffinden lassen. Wohl aber entstanden im Laufe der Zeit schwarze spiritualistische Freikirchen, die oft bis heute existieren und die insbesondere im 20. Jahrhundert einigen Einfluss auf die Entwicklung der schwarzen Musik und damit der schwarzen Identität in den USA genommen haben.16 Diese ganz andere strukturelle Beschaffenheit des Spiritualismus in der angelsächsischen Welt dürfte, sofern die These vom inneren Zusammenhang von gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Modernisierung stimmt, einerseits mit den besonderen Gegebenheiten der fortgeschritten bürgerlichen Industriegesellschaften Großbritanniens und besonders der USA zu tun haben. Andererseits spielte aber auch die kulturelle und mentalitäre Ausstattung beider Gesellschaften, vor allem das fortschrittsoptimistische Streben nach individueller Freiheit und materiellem Wohlstand, eine zentrale Rolle. Daneben dürfen gerade die Faktoren des aufkommenden Massenkonsums17 und der neuen Massenmedien18 für 13 Zander: Anthroposophie in Deutschland, Bd. 1, S. 928ff. 14 Vgl. hierzu Möllers: Kreolische Identität, S. 179ff. 15 Braude: Radical Spirits, S. 29ff. 16 Baer: The Black Spiritual Movement. 17 Immer noch wegweisend Leach: Land of Desire. 18 Generell siehe John: Spreading the News; Sweet: Morality and Mail in NineteenthCentury America; Huntzicker: The Popular Press. Darüber hinaus hat Howe: What Hath God Wrought seine Gesamtdarstellung der Jacksonian Era unter den Gesichtspunkt der communication revolution gestellt.
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das rasche Wachstum der spiritualistischen Weltanschauung nicht unterschätzt werden. Schließlich verweist das nahezu zeitgleiche Auftreten des Spiritualismus auf beiden Seiten des Atlantiks auf ein intaktes sozialkulturelles Transfersystem zwischen den viktorianischen Gesellschaften Großbritanniens und der USA, das sich für eine beziehungsgeschichtliche Analyse ebenso anbieten würde wie die innige Wechselbeziehung zwischen britischen und amerikanischen Evangelikalen, die sachlich und chronologisch dem Entstehen des Spiritualismus vorausgegangen war. Dabei darf indes nicht übersehen werden, dass der Spiritualismus in Großbritannien analog zum Deutschen Reich deutlich elitärer geprägt war als in den USA, was wiederum die Suche nach divergenten sozialen Gegebenheiten nahe legt. Diese vergleichende Fragestellung soll hier allerdings nicht im Mittepunkt stehen. Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen werde ich zunächst einen Abriss der Geschichte des Spiritualismus in den Vereinigten Staaten geben, um danach auf die ideellen und organisatorischen Vorläufer einzugehen. In diesem zweiten Teil soll auch das Weltbild der Spiritualisten im Kontext etwa des verwandten Swedenborgianismus herausgearbeitet werden. Der dritte und abschließende Teil meines Artikels behandelt dann die genuin modernisierenden19 Aspekte des Spiritualismus im Zusammenhang mit den kulturellen Prägungen der amerikanischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei werden den Problembereichen des spiritualistischen Republikanismus, des spiritualistischen Gendersystems, des spiritualistischen consumerism sowie der massenmedialen Bedingungen der Ausbreitung des Spiritualismus zentrale Bedeutung zukommen. Wenden wir uns also knapp dem historischen Ablauf zu. Die Anfänge des Spiritualismus in den USA gehen in das Jahr 1848 zurück, in eine Zeit also, die im besonderen Maße religiös, kulturell, sozioökonomisch und emotional aufgewühlt war.20 Eben erst war der Krieg der Union mit Mexico siegreich been19 Dies setzt allerdings ein Konzept von Moderne voraus, das sich nicht ausschließlich auf das positiv konnotierte und normativ gewertete Erbe einer rationalistischen Aufklärung bezieht und sich dadurch engführen lässt. Vielmehr muss es um die der Aufklärung und der Moderne inhärenten Dialektiken und Aporien gehen, um das, was man auch als Schattenseite der Aufklärung und der Moderne bezeichnen kann. Vgl. etwa Wehling: Die Moderne als Sozialmythos; Martin: A General Theory of Secularization. Siehe ferner Meyer: Magic and Modernity. 20 Vgl. allgemein neben Howe: What Hath God Wrought v.a. Finzsch: Konsolidierung und Dissens; Wilentz: The Rise of American Democracy; Reid: The Origins of the American Civil War; Barney: The Passage of the Republic; McPherson: Für die Freiheit sterben, die übrigens allesamt, obwohl sie in ihrer Mehrheit auf den religiösen Aspekt eingehen, den Spiritualismus komplett außer Acht lassen. Offenbar ist vielen, gerade amerikanischen Historikern dieser Teil ihrer Religionsgeschichte wahlweise nicht präsent oder ein wenig peinlich.
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det worden, und die im Friedensvertrag von Guadaloupe Hidalgo neu erworbenen Territorien warfen die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von freien- und Sklavenstaaten mit nie gekannter Schärfe auf. Im Nordosten war der Prozess der Industrialisierung im vollen Gange, und in den großen Hafenstädten verließen beinahe täglich Tausende von der Kartoffelfäule geplagten Iren ihre Schiffe, um an Land, in den Vereinigten Staaten, ihr Glück zu suchen. Angesichts des rapiden sozialen und ökonomischen Wandels wirkten die gesellschaftlichen Eliten verunsichert und suchten nach neuer Orientierung. Eine mitunter naiv anmutende Fortschrittseuphorie und tief sitzende Ängste vor der Veränderung standen unverbunden nebeneinander.21 Nicht zuletzt schienen die Ergebnisse der zeitgenössischen Naturwissenschaften das Risiko in sich zu bergen, nicht nur das alltägliche Leben um einige Sorgen und Nöte ärmer zu machen, sondern überdies althergebrachte religiöse Sinngebungsversuche, Rituale und Symbole dem Spott rationaler Kritik preiszugeben. Das orthodoxe protestantische Christentum hatte auf diese Herausforderung mit einer Reihe von Erweckungsbewegungen reagiert, die nunmehr allerdings ihren anfänglichen Schwung eingebüßt hatten.22 Immerhin jedoch, so haben Nathan Hatch23 und Mark Noll24 überzeugend nachgewiesen, hatten die Erweckungen unter anderem dazu geführt, dass eine spezifisch amerikanische Version des protestantischen Christentums entstanden war, die im Zeichen eines missionarischen arminianischen Heilsuniversalismus und eines sozialreformatorischen, apokalyptisch-enthusiastischen Perfektionismus25 sowohl zur Demokratisierung der amerikanischen Öffentlichkeit, als auch zur Akzeptanz des marktkapitalistischen Modells26 seitens der erweckten Denominationen beigetragen hatten. Kurzum: Die USA befanden sich in einer Phase des radikalen Umbruches und einer daraus resultierenden intensivierten Suche nach Sinn. Genau diesen Sinn aber verhieß ein Ereignis, das im Sommer 1848 unvermittelt für Schlagzeilen sorgte.27 Katie und Margareta Fox, zwei Mädchen von zwölf und vierzehn Jahren, Töchter eines streng methodistischen Farmers, hatten mit Hilfe plötzlich auftretender Klopfzeichen, deren Herkunft anfangs nicht zu ermitteln waren, dank medialer Trance Kontakt mit dem Geist eines ermordeten 21 Vgl. dazu z.B. Larkin: The Reshaping of Everyday Life, 1790-1840; Rose: Victorian America and the Civil War. 22 Hochgeschwender: Amerikanische Religion, S. 77-116. 23 Hatch: The Democratization of American Christianity. 24 Noll: America’s God. 25 Vgl. z.B. Carwardine: Evangelicals and Politics in Antebellum America; Strong: Perfectionist Politics. 26 Noll: God and Mammon; Davenport: Friends of the Unrighteous Money. 27 Vgl. Carroll: Spiritualism in Antebellum America; Braude: Radical Spirits.
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Wanderhändlers aufgenommen, der zuvor ihr Elternhaus in Hydesville, NY, als Poltergeist heimgesucht hatte. Der Geist hatte ihnen nicht nur die Lage seines inzwischen skelettierten Leichnams verraten, sondern zudem mit dem Namen seines Mörders aufgewartet. Obwohl der angebliche Täter aufgrund dieser Zeugenaussage nie verurteilt werden konnte, sorgte allein die Nachricht für eine Sensation. Erstmals, so schien es, war es gelungen, auf einer unverstellten Erfahrungsebene direkten Kontakt zum Jenseits aufzunehmen. Das öffentliche Interesse stieg noch an, als wenige Wochen später die beiden Söhne eines presbyterianischen Geistlichen gleichfalls Kontakt mit einem Poltergeist aufnahmen. All dies geschah kaum zufällig in den westlichen Distrikten des Staates New York im Umfeld der Stadt Rochester, das für seine Tendenz zu einer besonders tiefen Religiosität bekannt war. Schon zuvor war der so genannte Burnt-over district mehrfach Ausgangspunkt religiöser awakenings gewesen.28 Auch die Mormonen waren in dieser Atmosphäre entstanden.29 Hier stießen die egalitären soziokulturellen Traditionen der yeomanry besonders heftig mit den aus der Frühindustrialisierung entlang des Erie-Kanals resultierenden sozialen Brüchen zusammen. Sofort nahm sich eine aufgeregte, gleichermaßen sensationslüsterne wie hoffnungsfrohe Öffentlichkeit des Themas an. Der weithin berühmte Zirkusdirektor P. T. Barnum fungierte als Promoter für die beiden Fox-Schwestern, die – obschon beständig Zweifel an ihrer Redlichkeit geäußert wurden – bald zum Muster für zahllose andere Medien wurden, die nun überall im Lande öffentlich oder privat Séancen abhielten.30 Barnums PR-Fähigkeiten wurden noch potenziert, als die renommierte New York Tribune und ihr landesweit einflussreicher Herausgeber Horace Greeley anfingen, über die Ereignisse positiv zu berichten.31 Nicht zuletzt durch ihn wurde den Spiritualisten das Tor zur einst evangelikal dominierten Abolitionistenbewegung geöffnet, deren organisatorischer Grundlage man sich in der Folge bedienen konnte. Gleichzeitig eröffnete der Kontakt mit dem Jenseits naturgemäß vollkommen neue religiöse Perspektiven. Chiliastische, endzeitliche Erwartungen wurden dadurch ebenso angeheizt wie die Hoffnung, eine Religionsform zu finden, die wie die awakenings auf individueller Erfahrung basierte, aber nicht mehr von der Autorität einer heiligen Schrift und den Traditionen der christlichen Orthodoxie abhing. Auch eine intellektualistische, wissenschaftliche Theologie erschien den egalitär-antielitär ausgerichteten Spiritualisten im wachsenden Maße überflüssig. Mehr und mehr strömten deshalb die Menschen zu
28 Barkun: Crucible of the Millennium. 29 Wood: „The Rise of an American Original: Mormonism“. 30 Cook: The Arts of Deception; vgl. ferner Ashby: With Amusement for All. 31 Williams: Horace Greeley.
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den Séancen und versuchten, über die Medien, in aller Regel junge Frauen, Kontakt mit verstorbenen Angehörigen aufzunehmen. Besonders trostreich erschienen die so vermittelten Gespräche mit jüngst dahingeschiedenen Säuglingen, Ehepartnern oder Eltern. Zeitweise schlossen sich Scharen prominenter Persönlichkeiten aus der intellektuellen Szene Neuenglands und abolitionistischen Kreisen der neuen Religion an. Harriet Beecher Stowe, William Lloyd Garrison, Lydia Maria Child, die Schwester Sarah und Angelina Grimké, James Fenimore Cooper, Henry James sowie Susan B. Anthony und Elizabeth Cady Stanton, die beiden bekannten Feministinnen, sympathisierten offen mit dem Spiritualismus, während die Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson und Henry Thoreau bei aller Wertschätzung für die Potenzen des Jenseitskontaktes vergleichsweise skeptisch blieben. Politisch wichtige Schützenhilfe erhielte der Spiritualismus durch den ehemaligen Gouverneur von Nebraska und Senator der USA T. N. Tallmadge und durch Vertreter der sozialutopischen Lebensreformbewegung, darunter Robert Owen und sein Sohn. Auf diese Weise verbanden sich schon frühzeitig eine Reihe gesellschaftsreformerischer und progressiver politischer Gruppen, der Abolitionismus, der Feminismus und der utopische Sozialismus, mit dem Spiritualismus. Ein starker radikaler Flügel wuchs der Bewegung zu. Die Mehrheit der Spiritualisten blieb indes moderat liberal und jedem Radikalismus abhold. Mit dem Ausbruch des Bürgerkrieges erlahmte zeitweise die anfängliche Begeisterung. Trotzdem liefen die Séancen weiter und wurden immer aufwendiger gestaltet. Inzwischen beschränkte sich die Geisterwelt nicht mehr auf bloße Klopfgeräusche oder Hilfestellung beim Pendeln, sie ließ Texte niederschreiben, redete direkt durch die Stimme des Mediums mit den Anwesenden oder erschien sogar leibhaftig. Parallel dazu häuften sich allerdings Vorwürfe, die Medien oder ihre Promotoren würden betrügen. Fast schlimmer war allerdings der aus transzendentalistischen Kreisen kommenden Einwand, die Aussagen der Geister über das Jenseits seien schlicht banal. Erst eingangs der 1870er Jahre, als mit der feministischen und kommunistischen Börsenhändlerin Victoria Woodhull, die einst selbst gemeinsam mit ihrer Schwester Tennessee Claflin als Medium gearbeitet hatte, wieder eine zugkräftige Persönlichkeit in den Reihen der Spiritualisten auftauchte, nahm die Bewegung einen neuerlichen Aufschwung.32 Unter anderem unterstützte nun der Multimillionär Cornelius Vanderbilt, der gleichzeitig ein Verhältnis zu Victoria Woodhull und Tennessee Claflin hatte, den neuen Glauben. Die Geister enthüllten ihm die Geheimnisse des Aktienmarktes. Der Spiritualismus schien insgesamt eine Antwort auf die Sinnkrise und den Materialismus des Gilded Age zu geben, obwohl er längst den Enthusiasmus der 1850er Jahre eingebüßt hatte. Erst in den 32 Goldsmith: Other Powers.
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späten 1880er Jahren brach er dann vollends zusammen. Dafür war ein ganzes Bündel von Gründen verantwortlich: Zum einen hatten die inzwischen verarmten und dem Alkoholismus verfallenen Fox-Schwestern, vermutlich gegen Bezahlung, eingestanden, ihre Anhänger systematisch betrogen zu haben. Zwar widerriefen sie ihrer Aussage von 1888 bald wieder, aber der angerichtete Schaden war nicht wieder gutzumachen. Zum zweiten mussten Victoria Woodhull und Tennessee Claflin nach einem heftigen Skandal in der New Yorker feinen Gesellschaft unter dem Druck des obersten amerikanischen Sittenwächters Anthony Comstock das Land in Richtung Großbritannien verlassen. Dort wandten sie sich öffentlich vom Spiritualismus und vom politischen Radikalismus ab und fingen an, Sympathien für den konservativen Katholizismus zu entwickeln. Kritiker wie etwa Mark Twain nahmen dies zum Anlass, mit Ironie und Sarkasmus über den Spiritualismus herzufallen und ihn in die obskurantistische Ecke zu drängen. Zum dritten übernahmen schließlich neue religiöse Bewegungen die bisherige Funktion des Spiritualismus und zu einem guten Teil auch dessen gläubige Anhänger. Besonders taten sich dabei die Christian Science Bewegung der Mary Baker Eddy, sowie die Theosophie von Madame Blavatsky hervor. Der abrupte Aufstieg des Spiritualismus und seine über annähernd drei Jahrzehnte währende Erfolgsgeschichte kamen nicht von Ungefähr. Er bewegte sich innerhalb eines kulturellen Horizontes, den verschiedene Vorläuferbewegungen bereits grundgelegt und mit der Aura der Modernität versehen hatten. Herausragend war dabei der Swedenborgianismus, ein mystischspekulatives System, das auf den Visionen des schwedischen Naturwissenschaftlers Emmanuel Swedenborg aus dem späten 17. Jahrhundert beruhte.33 Vor allem Andrew Jackson Davis, der ‚Poughkeepsie Seer‘ und Chefdenker der jungen spiritualistischen Bewegung, war schon vor dem Rummel um die FoxSchwestern von Swedenborg tief beeinflusst worden.34 Mit Hilfe von dessen Geist transponierte er dann in den 1850er Jahren die älteren Visionen in ein neues, zeitgemäßes Gewand. Es waren drei Elemente, auf die der Spiritualismus zurückgreifen konnte: 1. Besonders wichtig war die Siebensphärenlehre, wonach die jenseitige Welt in sieben kreisförmig angeordnete Sphären angeordnet war, die konzentrisch um Gott als Mittepunkt kreisten. Dort lebten die Geister der Verstorbenen je nach ihren Verdiensten wie im Diesseits. Mit der Siebensphärenlehre eng verbunden war der typisch swedenborgianische Grundgedanke einer vollkommen neuen Jenseitstopographie. Das Reich der Toten und Geister war
33 Vgl. Lang/McDannell: Der Himmel, S. 358-375. 34 Moore: Introduction to the Writings of Andrew Jackson Davis.
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nicht mehr wie im traditionellen Christentum strikt von der Welt der Lebenden separiert. Beide Seinsebenen waren ganz im Gegenteil ineinander verwoben und energetisch bzw. sympathetisch verbunden. Für die Spiritualisten ermöglichte es diese feinstofflich-elektrische Verbindung über das so genannte Ektoplasma den Medien, in Trance Kontakt zu den Geistern aufzunehmen. In moderner Analogie dienten sie dabei als eine Art spiritueller Telegraph. Davis und die Spiritualisten verwarfen allerdings aus dem swedenborgianischen Ansatz dessen biblizistische Relikte, unter anderem den Glauben an eine Hölle für die Verdammten. Ihr liberaler Fortschrittsoptimismus ließ eine endgültige Verwerfung der Sünder nicht zu. Entwicklung war ihnen das Grundgesetz allen Daseins. 2. Dieser optimistische Grundzug der Spiritualisten trug ferner dazu bei, den zweiten, dem Swedenborgianismus entlehnten Aspekt zu modifizieren. Swedenborgs großes Verdienst hatte darin gelegen, das Jenseits gewissermaßen komplett anthropozentrisch ausgestaltet zu haben. Nicht mehr die visio beatifica, die beseligende Schau Gottes in der Ewigkeit, machte das Jenseits der Moderne aus. Es fand vielmehr ein kategorialer Wechsel statt, ein neues jenseitiges Paradigma bahnte sich an. An die Stelle der qualitativ verstandenen Ewigkeit des traditionellen Christentums trat eine quantitative Unendlichkeit, an die Stelle der theozentrischen Gottesschau ein ausschließlich am Diesseits orientiertes Miteinander. Familie und Beruf dominierten das bürgerliche Leben der Geister, so wie sie einst deren Existenz im Diesseits bestimmt hatten. Der Tod war der Übergang in eine neue Daseinsform, die sich bestenfalls graduell vom Diesseits unterschied. Davis und die Spiritualisten entwickelten Swedenborgs Lehre nun an einem entscheidenden Punkt weiter: Die Toten wurden nicht mehr statisch gemäß ihren Verdiensten an eine Sphäre gebunden. Sie entwickelten sich progressiv und notwendig im Verlauf eines Reifungsprozesses in Richtung des göttlichen Zentrums weiter, von dem aus das Universum emaniert war. Die egalitäre Forderung nach sozialer Mobilität im Diesseits, wie sie spätestens seit der common man-Rhetorik Andrew Jacksons in den USA gang und gäbe war, wurde für das Jenseits zu einer moralischen Mobilität umgedeutet. Auf diese Weise konnte der elitär-aufgeklärte Mystizismus Swedenborgs aktiv in die massenpartizipatorisch-reformistische Semantik der Epoche Andrew Jacksons eingebettet werden.35 Dies erst ermöglichte dem Spiritualismus jenen Erfolg bei den breiten Massen, welcher der New Church stets versagt geblieben war. Ungeachtet dieser kleinen Differenzen wurde Swedenborg zum Säulenheiligen des Spiritualismus mit seiner Suche nach einem harmonischen und perfekten Kosmos. Kaum minder bedeutsam war daneben die Lehre des Öster35 Menand: The Metaphysical Club, S. 89f.
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reichers Franz Mesmer aus dem 18. Jahrhundert. Dessen aufgeklärt-naturwissenschaftliches Konzept des tierischen Magnetismus, einer alles lebendig umfassenden elektrischen Energie, und seine Anwendung von hypnotischer Trance lieferten die naturwissenschaftliche Grundlage für die mediale Jenseitskommunikation. Wo der Swedenborgianismus diesseitige und jenseitige Bürgerlichkeit lieferte, bot der Mesmerismus eine am szientistischen Geist des 19. Jahrhunderts orientierte Rationalität, die gleichfalls die substantielle Identität beider Seinsweisen im Diesseits und Jenseits zu bestätigen schien. Um mit den Toten kommunizieren zu können, benötigte man keine Wunder mehr. Die richtig eingesetzten medialen Fähigkeiten und Kommunikationstechniken reichten vollkommen aus. Damit war jedem Gedanken an eine auf Weihe oder Ordination beruhende Mittlertätigkeit von Ritualexperten der Boden entzogen.36 3. Die dritte ideelle Wurzel für den Spiritualismus stellte paradoxerweise ausgerechnet die evangelikale Erweckungsbewegung dar, wenngleich nicht ohne eine gewisse Ambivalenz. Auf der einen Seite stellte der Spiritualismus eine offene Abkehr vom Biblizismus der Evangelikalen dar. Nicht zuletzt lehnte er strikt die Tendenz der Erweckungsprediger ab, das Totenreich in der Terminologie der hell and damnation-Predigten zu charakterisieren. Andererseits konnte der Spiritualismus nahtlos an den arminianischen Heilsuniversalismus vieler Erweckter anknüpfen. Nicht wenige Evangelikale hatten ihrerseits bereits Abschied von der calvinistischen Vorstellung genommen, Gott habe nur einige wenige zum ewigen Heil auserwählt. Zudem orientierten sich die Spiritualisten an den Missions- und Kommunikationstechniken der Evangelikalen, sowie an deren genereller Akzeptanz des Marktcharakters von Religion in der amerikanischen Kultur. Kapitalismus und religiöses Leben verschmolzen so zu einer Einheit. Dank der drei genannten Vorläufer verfügte der Spiritualismus über ein kohärentes, mit dem Szientismus der zeitgenössischen Naturwissenschaften zumindest partiell kompatibles Weltbild. Kein noch so reformoffenes Christentum vermochte es, mit dieser liberal-romantischen Vision eines synthetischen Ganzen aus Religion, Bürgerlichkeit und Naturwissenschaft zu konkurrieren. Nicht die Rivalität von wissenschaftlicher Moderne und religiöser Tradition bestimmte den Spiritualismus, sondern die unverbrüchliche Gewissheit, diesen Konflikt ein für alle Mal beendet zu haben. Das allein aber machte den Erfolg der Bewegung nicht aus. Sie war in einer weiteren, typisch amerikanischen Weise Religion des modernen Menschen, denn sie war radikal individualistisch, republikanisch und demokratisch. Dieses kulturelle Referenzsystem unterschied den amerikanischen Spiritualismus deutlich von dem sehr stark au36 Blum: Ghost Hunters.
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toritär ausgerichteten deutschen und englischen Spiritismus. Der amerikanische Spiritualismus kannte keine Kultexperten, keine Ritualisten, keine intellektuellen Theologen, keine Orthodoxie, keine Klassenschranken. Er setzte zur Gänze auf den medial vermittelten, aber prinzipiell jedermann offen stehenden, unverstellten Kontakt zwischen freien und gleichen Individuen unterschiedlicher Seinsstufen. Allerdings beschreibt dieses Bild einer fundamental demokratischen Religion nur einen Teilaspekt des Spiritualismus. Erst jüngst hat Bret E. Carroll auf die autoritären und auf Ordnung abhebenden Elemente der spiritualistischen Weltanschauung mit ihren Medien, Promotoren und Geistführern, d.h. auf ihre geistliche Funktionselite aufmerksam gemacht.37 Nun ist Carroll gewiss darin zuzustimmen, dass es den Spiritualisten in einer Epoche krisenhafter Verunsicherung zentral um Autorität und Ordnung zu tun war. Allerdings darf man diesen Befund nicht überstrapazieren. Wie im spiritualistischen Jenseits herrschte in der diesseitigen Bewegung eine auf Meritokratie gegründete Mobilität vor. Die intermediäre Elite musste sich in besonderen Kommunikationssituationen andauernd bewähren, sonst büßte sie ihre Autorität rasch ein. Lediglich das erfolgreiche Medium verhieß Profit. Dies entsprach dem liberal-kapitalistischen Denken der Zeit. Ordnung, Autorität und demokratische Egalität waren in einer prinzipiell offenen Marktsituation kein Widerspruch mehr. An einen zweiten Punkt lässt sich die progressiv-liberale Modernität des Spiritualismus aufweisen. Wie eingangs kurz angedeutet, war die neue Religion eng mit der gleichfalls 1848 in Seneca Falls, NY, ins Leben gerufenen Frauenbewegung verknüpft. Das hatte seine Gründe: Obschon die intellektuelle Führung im Spiritualismus meist Männern vorbehalten war, blieben Frauen unentbehrlich. Gemäß der szientistischen Metaphorik der Spiritualisten vollzog sich die mediale Kommunikation mit dem Jenseits telegraphisch, das heißt auf elektronischem Weg zwischen einem Plus- und einem Minuspol. Nun war der Pluspol männlich und der Minuspol weiblich konnotiert. Da die jenseitigen Geistführer in aller Regel männlich waren, musste ihr diesseitige Pendant logischerweise bevorzugt weiblich oder doch zumindest effeminat, wenn nicht homosexuell sein. Daher war es beileibe nicht zufällig, dass rund 75 % aller Medien Frauen waren. Dieser Umstand kam wiederum der neuen, bürgerlichen Wertschätzung weiblicher Spiritualität entgegen, die sich im 19. Jahrhundert auch in anderen Religionen, etwa dem Katholizismus, fand. Die Frau wurde nun nicht mehr, wie noch in der Frühneuzeit, primär als sexuelle Gefahr angesehen. Ganz im Gegenteil desexualisierte gerade das Bürgertum seine Perzeption von Weiblichkeit und zwang zumindest die angepassten Frauen so regelrecht zu Sublimationsformen, beispielsweise im Bereich der Religion. Dies 37 Carroll: Spiritualism in Antebellum America, S. 172ff.
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mochte, wie die hysterische Pandemie unter bürgerlichen Frauen im 19. Jahrhundert belegt, gravierende Nachteile haben. Im Bereich der Spiritualität eröffnete es Frauen jedoch zuvor unbekannte Karrierechancen, dank derer sie den Männern fast gleichgestellt waren. Fast nebenbei bediente die spiritualistische Wertschätzung der Frau als Medium einen weiteren Aspekt des Verhältnisses von Weiblichkeit und Religion. Nicht nur im Bereich der Medien, auch im Bereich der Anhängerschaft waren Frauen in der Mehrheit. Dies wiederum hing eng mit der Nähe der Frauen zum Tod zusammen. Jede Schwangerschaft war ein potentielles Rendezvous mit dem Jenseits. Ein weiterer Bereich, in dem der Spiritualismus intentional modernisierend tätig war, war das Feld des mass consumerism. Wie kaum eine andere Religion entsprach der Spiritualismus dem Geist des modernen Kapitalismus. Die Medien wurden von den professionellen Promotoren dem Publikum regelrecht feilgeboten, sie traten gegen Bezahlung auf, und ihre Jenseitskommunikation wurde mit allerlei Show-Elementen aufgelockert. Religiöse Erfahrung wurde gewissermaßen zum Konsumgut in einem jahrmarktartigen Rahmen. Auch und gerade die Presse war in diesen kommerziellen Rahmen eingebunden. Sie vervielfältigte die Erfahrungen der Spiritualisten landesweit in alle Haushalte und führte ihnen so umgekehrt neue Anhänger zu. Dabei war es in erster Linie das Engagement Greeleys, der als Herausgeber der New York Tribune zu den führenden Sozialreformern seiner Zeit zählte. Ohne seinen Einsatz, der in einer Linie mit seinen zeitweiligen radikal sozialistischen und abolitionistischen Ideen stand,38 wäre der Spiritualismus kaum über lokale oder regionale Bedeutung hinausgekommen. Hinzu kam die Berichterstattung in anderen überregionalen Zeitungen, insbesondere in der entstehenden yellow press, beispielsweise der eben erst entstandenen National Police Gazette. Schließlich schufen die Spiritualisten sich selbst eine Vielzahl meist kurzlebiger regionaler und überregionaler Presseorgane, die ersten schon in den 1840er Jahren. Seit den 1850er Jahren wuchs dann die Zahl der spiritualistischen Zeitungen und Zeitschriften, die sich unter anderem darauf spezialisierten, der immer wieder aufflammenden Kritik an der neuen Religionsform entgegenzutreten.39 All dies stand erneut in einem breiteren Zusammenhang. Bereits seit der Revolutionszeit hatte die Presse zu den zentralen Organen der Fundamentalpolitisierung und der gesamtgesellschaftlichen Partizipationsinstrumente in den USA gezählt. Seit den 1820er Jahren hatten sich dann die evangelikale Erweckungsbewegung und der ultramontane Katholizismus in gleicher Weise der neuen Medien und der gerade entlang der Ostküste guten Transport- und Kommunikationsmöglichkei-
38 Williams: Horace Greeley, S. 88-151. 39 Kucich: Ghostly Communion, S. 36-58.
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ten bedient. Dabei wurde die Rezeption primär durch die enorm hohe Alphabetisierungsquote von rund 90% besonders im Norden des Landes begünstigt, die zu den höchsten in der Welt zählte, wieder ein Verdienst der protestantisch-biblizistischen Erweckungen. Besonders wichtig war bei dieser massenmedialen Inszenierung spiritualistischer Modernität auch der Marktaspekt. Die neue Religion gründete gewissermaßen in der paradoxen Allianz der radikalen, aber durchaus elitären Reformer vom Typus Horace Greeleys mit kapitalistischen und bewusst populärkulturell-egalitären Propagandisten der neuen Unterhaltungsindustrie vom Typus P. T. Barnum. Erst die Kombination beider brachte den großen Erfolg der 1850er Jahre. Auf diese Weise integrierte der Spiritualismus Religion in den Markt und sorgte dafür, dass die amerikanische Gesellschaft umgekehrt mit einer an die Marktmechanismen angepassten Form von Religion versorgt wurde. In ihrer Summe belegen diese Beispiele, wie außerordentlich gut der Spiritualismus an den sozialkulturellen Bezugsrahmen der USA im späten 19. Jahrhundert angepasst war. Er war die moderne Synthese aus Religion, Wissenschaft, Bürgerlichkeit, Progressivität und Kommerz schlechthin und vermochte es so, eine sinnhafte republikanische Ordnung zu stützen. Damit bewegte er sich in einem kulturellen Referenzsystem, das für eine Vielzahl von Amerikanern unabhängig von ihrer Herkunft verstehbar und prinzipiell akzeptabel war. So war der Spiritualismus in seiner Zeit alles andere als eine obskurantistische Sekte; er war die Religion des modernen Menschen. Er musste indes weichen, als sich die Moderne weiterentwickelte.
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Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur Die Hypnose-Experimente der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ Einleitung Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften – so hat der Münchner Philosoph und Okkultist Carl du Prel1 das Thema meiner Ausführungen vor über hundert Jahren in einer berühmten Veröffentlichung programmatisch zusammengefasst.2 Schein und Sein vermischen sich bei diesem Sujet unentwirrbar. Der Zusammenhang zwischen Trancemedium und Fotografie wird sich außerdem im Folgenden als durchaus komplex erweisen, da alte und neue Medien der Kommunikation um 1900 in Gemengelage agierten. Denn Malerei und die Presse, vorgeblich Hysterische und angeblich Hypnotisierte, Trancemedien und deren Fotografien, Magnetiseure und Ärzte, Tanz und schauspielerische Pantomime bildeten einen eigentümlichen Medienverbund. Dies macht vermutlich sogar die Modernität der nun zu schildernden Vorgänge aus. Meine folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die exemplarische Rekonstruktion des Auftretens der so genannten Pariser ‚Schlaftänzerin‘ oder ‚Somnambulen‘ [Marie] Ma[g]deleine Guipet in München im Jahre 1904.3 Diese Beschränkung fällt umso leichter, weil die Kunsthistorikerin Christine Walter bereits vor ein paar Jahren über die späteren medialen Verquickungen der Münchner ‚Materialisationsphänomene‘ aus den Jahren 1909 bis 1913 berichtet hat.4
1
Zur Biographie vgl. Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus.
2
Du Prel: Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften.
3
Zu deren Biographie: Boerner: Die Schlaftänzerin Magdeleine Guipet; Ochaim/ Balk: Varieté-Tänzerinnen um 1900, S. 110f., 130.
4
Walter: „Die Materialisationsphänomene des Albert Freiherr von SchrenckNotzing“; dazu Schrenck-Notzing: Materialisations-Phaenomene.
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Ulrich Linse | Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur
1.
Das ‚Übersinnliche‘ oder ‚Transzendentale‘ und seine Organisation
Kurt Kiesewetter, um 1900 der beste Kenner der okkultistischen Szene in Deutschland, schrieb über die Vorgänge im Vorfeld der Entstehung der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ in München, deren außerordentliches Mitglied er selbst war:5 Das Ende des Jahres 1885, welches durch das Erscheinen des E[duard] von Hartmannschen Werkes über den Spiritismus, durch die Medienentlarvungen in Hamburg und Leipzig und durch die Auflösung der ‚Theosophischen Societät Germania‘ für die Geschichte des Occultismus bedeutungsvoll ist, ging nicht dahin, ohne ein neues wichtiges Ereignis auf diesem Gebiete zu zeitigen, nämlich das Erscheinen der Monatsschrift Sphinx, Organ für die geschichtliche und experimentelle Begründung einer übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage, unter Mitwirkung in- und ausländischer Gelehrter herausgegeben von dem als verdienstvoller Kolonialpolitiker rühmlichst bekannten Dr. jur. Wilhelm Hübbe-Schleiden (geb. zu Hamburg am 20. Oktober 1846).6 Die Sphinx, welche nicht nur die spiritistischen Tagesvorgänge, sondern das riesige Gesamtgebiet des Occultismus in den Kreis ihrer Arbeiten zog, wurde mit einem Schlag das leitende Organ in Deutschland, ja vielleicht die vornehmste occultistische Zeitschrift der Erde, was sie nächst der außerordentlichen Tätigkeit und Opferwilligkeit des Herausgebers der Bedeutung der auf philosophischem Gebiet bahnbrechenden Arbeiten über die monistische Seelenlehre des Freiherrn Dr. Carl du Prel7 und den Arbeiten eines Stammes altbewährter Mitarbeiter verdankt. Infolge der Vorliebe des Herausgebers für buddhistische Religionsphilosophie und seine Abneigung gegen das phänomenale Gebiet des Occultismus ist in neuerer Zeit die experimentell-geschichtliche Begründung einer ‚übersinnlichen Weltanschauung‘ etwas in den Hintergrund getreten […].8 Mitte der 1880er Jahre gab es also in Deutschland ein personell und publizistisch vernetztes Feld von Neureligionen, zu deren wichtigsten Spiritismus, Theosophie, Psycho-Monismus und Buddhismus gehörten. Dabei waren so5
Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus, S. 265.
6
Vgl. Klatt: Der Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden; Klatt: Theosophie und Anthroposophie.
7
Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus.
8
Kiesewetter: Geschichte des neueren Occultismus, S. 572.
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Ulrich Linse | Mit Trancemedien und Fotoapparat der Seele auf der Spur
wohl der Spiritismus wie die Theosophie um 1885 in der Krise und lösten damit einen Neuansatz aus, eben die Zeitschrift Sphinx. Max Dessoir, der Psychologe und Parapsychologe, erinnerte sich später, wie das Erscheinen der Sphinx für ihn als jungen Mann (geb. 1867) „das größte Ereignis“ im Deutschland des Jahres 1886 war: Die Zeitschrift sollte nämlich, im Gegensatz zu jeglichem Materialismus, aber auch zur bloß erkenntnistheoretischen Philosophie eine ‚übersinnliche Weltanschauung‘ vertreten, und zwar gestützt auf Okkultismus, Spiritismus und Theosophie. Gründer und Herausgeber war Hübbe-Schleiden […] Hübbe-Schleiden nahm sich meiner aufs freundlichste an […] Er bewohnte eine kleine, vorstädtische Wohnung in München-Neuhausen, und ich war sein Gast.9 Die katholische und liberale Haupt- und Residenzstadt München wurde damit Zentrum einer ‚anti-materialistischen‘, außerhalb der dortigen Universität behausten und in den damaligen Alternativreligionen gegründeten Seelen‚Philosophie‘, die dennoch auf dem festen Boden naturwissenschaftlichen Experimentierens zu stehen hoffte. Der Privatgelehrte Carl du Prel nannte die angestrebte, experimentell abzusichernde Erkenntnis eine ‚übersinnliche Weltanschauung‘ oder eine ‚Transzendentalpsychologie‘. Dessoir hingegen sprach 1889 ablehnend vom „Wechselbalg einer ‚experimentellen Metaphysik‘“ bzw. der „Missgeburt der ‚experimentellen Religion‘“ und meinte, er sehe beim besten Willen nicht, wie hypnotische und auch selbst mediumistische Untersuchungen dazu beitragen könnten [endgültige Aufschlüsse über die Unsterblichkeit der Seele zu erlangen; U.L.]. Sie lehren uns wohl, dass die psychischen Functionen einen größeren Einfluss auf den Körper ausüben als gemeinhin angenommen, aber sie berühren die materialistische Erklärung des Seelenlebens in keiner Weise.10 Freilich: Auch die berühmte ‚Geheimlehre‘ der Helena Petrowna Blavatsky, der internationalen Führerin der theosophischen Bewegung, erstrebte die Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie. Der damalige Okkultismus war also auf der Suche nach einer vernünftigen Religion als einer Verbindung von Glauben und Wissen(schaft). Bevorzugt wurde ein denkender Glaube, blinde Frömmigkeit wurde abgelehnt. Vielleicht machte das den modernen
9
Dessoir: Buch der Erinnerung, S. 125.
10 Dessoir: Psychologische Gesellschaft in München, S. 4f.
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religionsintellektuellen Habitus dieser ‚Geheimwissenschaften‘ aus. Strittig war nur die genaue Grenzziehung des Zweifels.11 Karl Kiesewetter schilderte dann, wie insbesondere die durch die Recherchen der Londoner ‚Society for Psychical Research‘ aufgeflogenen betrügerischen Machenschaften der Madame Blavatzky zur Gründung der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ führten: Nach dem großen theosophischen Krach zu Ende des Jahres 1885 machte sich das Bedürfnis einer freien Vereinigung wissenschaftlich gebildeter Männer zur Erforschung des occultistischen Gebietes auf anderer Grundlage als auf der schiefen theosophischen Ebene geltend, weshalb Verfasser dieses Werkes [also Karl Kiesewetter; U.L.] Dr. Hübbe-Schleiden brieflich zur Gründung einer nach den Grundsätzen der Londoner Society for Psychical Research gebildeten Gesellschaft anregte. Nachdem dieses Projekt während des Winters 1885/86 in Privatkreisen zu München vielfach ventiliert worden war, bildete sich im Frühling des letzteren Jahres [also 1886; U.L.] eine freie gesellige Vereinigung namens ‚Sphinx‘ zur Untersuchung der occultistischen Phänomene, aus welcher mit Anfang des Jahres 1887 der Münchener ‚Psychologische Gesellschaft‘ hervorging. Dieselbe entwickelte in der ersten Zeit ihres Bestehens eine außerordentliche Tätigkeit und erregte besonders durch die geradezu epochemachenden hypnotischen Versuche des Herrn Dr. du Prel und Dr. von Schrenck-Notzing12 das allgemeinste Interesse in den weitesten Kreisen, wodurch ihre Mitgliederzahl rasch sehr bedeutend anschwoll. Leider aber wurden trotz der ständigen Anregungen du Prels und anderer die mediumistischen Erscheinungen, zu deren Untersuchung die Gesellschaft vorzugsweise gegründet worden war, mehr und mehr von der Tagesordnung abgesetzt.13 In den Statuten der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ vom Oktober 1886 war als Zweck dieser Gesellschaft von Du Prel formuliert worden: „Die Gesellschaft bezweckt, unter ihren Mitgliedern das Studium der Psychologie durch wissenschaftliche Vorträge, Diskussionsabende, Experimente und gesellige Zusammenkünfte zu ermöglichen und insbesondere die wissenschaftliche Anerken11 So äußerte Max Dessoir rückblickend über Albert von Schrenck-Notzing: „Schrenck glaubte und ich zweifelte“ (Dessoir: Buch der Erinnerung, S. 130). 12 Zu Leben und Werk vgl. Walter: „Die Materialisationsphänomene des Albert Freiherr von Schrenck-Notzing“; F.E.: „Albert von Schrenck-Notzing“; Höck: „Kein Genie, aber ein klarer Kopf“; Schrenck-Notzing: Grundfragen der Parapsychologie, S. 11-31. 13 Kiesewetter: Geschichte des neueren Occultismus, S. 573.
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nung der Thatsachen aus den transzendentalen Gebiet nach Kräften zu fördern“.14 Ohne in den Statuten verankert zu sein, war die Sphinx die Vereinszeitschrift der ‚Gesellschaft‘; diese Verbindung war zusätzlich personell dadurch verankert, dass Hübbe-Schleiden, der ‚Redakteur‘, also Herausgeber der Sphinx, auch Vizepräsident der ‚Gesellschaft‘ war.15 Die ‚Psychologische Gesellschaft‘ war also entstanden als Reaktion auf die durch die Veröffentlichung des [Richard-]Hodgson-Reports (1885) aufgedeckten Betrügereien Blavatzkys mit den angeblichen Briefen der ‚Adepten‘ (die so genannten Mahatma Letters) ausgebrochenen Krise der okkultistischen Bewegung: Es galt, die ‚übersinnliche Philosophie‘ vor der öffentlichen Verunglimpfung als Schwindelei zu retten, indem sie als experimentell und naturwissenschaftlich fundierte ‚Psychologie‘, als neue ‚transzendentale‘ Weltanschauung etabliert wurde. In Paris war bereits 1884 durch Charles Richet eine ‚Société de Psychologie Physiologique‘ gegründet worden. 1886 wurde nach dem Muster des englischen Vorbilds in Boston eine ‚American Society of Psychical Research‘ geschaffen. Die Berliner ‚Gesellschaft für Experimentalpsychologie‘ wurde schließlich von dem jugendlichen Max Dessoir 1888 ins Leben gerufen, und im Sommer 1889 fand in Paris dann der erste Internationale Congress für physiologische Psychologie mit etwa zweihundert Gelehrten statt.16
2.
Die ‚Psychologische Gesellschaft‘ im Rahmen der Münchner gehobenen Gesellschaft
Kurt Kiesewetters obige Aussage, die ‚Psychologische Gesellschaft‘ sei in „weitesten Kreisen“ auf Interesse gestoßen, verrät nichts über die tatsächliche Zahl der Mitglieder oder deren gesellschaftliche Position. 1887 zählte die Münchner Vereinigung fünfundsiebzig Mitglieder, 1889 umfasste sie einhundertzehn Mitglieder – wenig im Verhältnis etwa zum Londoner Verein mit etwa sechshundert Angehörigen.17 Laut Satzung konnte „jeder Gebildete, insoferne er sich eines unbescholtenen Rufes erfreut“, ordentliches Mitglied werden.18 Da „auswärts lebende Personen und Damen“ nur außerordentliche Mitglieder sein konnten, ergibt sich, dass sich die ordentliche Mitgliedschaft im Wesentlichen auf das männliche erwachsene Münchner gehobene Bildungsbürgertum – dazu
14 Zitiert nach Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus, S. 255. 15 Ebd., S. 273. 16 Dessoir: Psychologische Gesellschaft in München, S. 2f. 17 Ebd., S. 3. 18 Zitiert nach Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus, S. 255.
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zählten (häufig geadelte) Akademiker einschließlich Künstler – beschränkte und so nicht zuletzt auch dem geltenden Vereinsrecht Genüge tat.19 Aus der Mitgliederliste vom 1. Juni 1887 ist zu ersehen, dass die ‚Psychologische Gesellschaft‘ damals achtunddreissig ordentliche Mitglieder und siebenunddreissig außerordentliche Mitglieder hatte, zu letzteren zählten elf Frauen. Trotzdem sollte der weibliche Anteil an den geselligen Aktivitäten der ‚Gesellschaft‘ nicht unterschätzt werden. So schrieb Max Dessoir im Rückblick: Durch Hübbe lernte ich die Münchner Damen kennen, die sich 1888 als Vorkämpferinnen der neuen Weltanschauung gebärdeten: an der Spitze die Fürstin Lichtenstein [Rudolf von Liechtenstein war Mitglied der Münchner Psychologischen Gesellschaft; er hatte sich 1877 von Gräfin Clara Sermage scheiden lassen; U.L.] und die Gräfin [Caroline von] Spreti, hinter ihnen Frau Carl du Prel [Dr. Albertine Freifrau von Prel], Frau Gabriel Max [Emma Kietzing] und Frau Dr. [Eugenie] Schäuffelen. Ihr halbwissenschaftliches Treiben war vermischt mit gesellschaftlichen Bestrebungen. Solcher Ehrgeiz war Hübbe-Schleiden fremd […] Die Herren und Damen der vornehmen Gesellschaft, die sich am Okkultismus ergötzten, waren [auch Karl Kiesewetter; U.L.] ein Greuel. Selbst den Dr. Carl du Prel rechnete er dazu.20 Daraus ergibt sich scheinbar, dass es in der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ den eher ernsten Forscher und Sucher auf der einen Seite, die an unterhaltenden events für die society Interessierten – vornehmlich auch die Frauen – auf der anderen Seite gab. In Wirklichkeit war beides häufig vermischt, wie sich an Schrenck-Notzing und seinem Malerfreund Albert von Keller zeigen lässt. Séancen mit bezahlten Medien in den eigenen luxuriösen Räumlichkeiten – Kellers ‚Salon‘ befand sich in der Münchner Maximilianstraße21 – als Abendunterhaltung mit ausgewählten Gästen gehörten bei beiden zum gehobenen bürgerlichen Lebensstil, dienten also zu Repräsentationszwecken, aber ebenso zur Befriedigung ihrer geistigen Neugierde. Beide Männer waren auch dadurch charakterisiert, dass sie ihren gesellschaftlichen Status einschließlich ihres nicht 19 Nach der Mitgliederliste von 1887 (vgl. Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus, S. 263ff.) waren folgende Münchner Künstler und Kunstgelehrte ordentliche Mitglieder der ‚Psychologischen Gesellschaft‘: Adolf Bayersdorfer, Hermann Freiherr von Engelhardt, Hugo Freiherr von Habermann, Albert Keller, Franz Lambert, Gabriel Max, Heinrich Max, Richard Muther, Toni [Anton] Stadler, Wilhelm Trübner. 20 Dessoir: Buch der Erinnerung, S. 125, 129. 21 Details bei Müller: Albert von Keller [1984]; dort fanden etwa fünfzig Séancen statt: Müller: Albert von Keller [1981], S. 52.
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von einem Brotberuf abhängigen Lebens- und Arbeitsstils der Heirat und der damit verbundenen Mitgift mit sehr reichen und schönen Frauen verdankten: Schrenck-Notzing hatte sich mit der Industriellentochter Gabriele Siegle verbunden, Keller die achtzehnjährige Bankierstochter Irene von Eichthal gegen den Willen ihres Vaters nach einer Entführung aus der Theaterloge ihrer Eltern – ein noch lange in der Münchner Gesellschaft erinnerter Skandal22 – geehelicht. Dessoir schilderte die „seltsam gegabelte Absicht“ in Schrenck-Notzings Erforschung okkulter Erscheinungen: Auf der einen Seite strebte er nach bleibenden Untersuchungsergebnissen, die seinen Namen in der Wissenschaft lebendig erhalten sollten, auf der anderen Seite wollte er durch die Sitzungen sein Haus zu einem führenden Hause der Münchner Gesellschaft machen. Die Sitzungen bei Schrenck waren nicht nur Arbeitszusammenkünfte, sondern meist auch ‚Ereignisse‘ für den sogenannten Geburts- und Geistesadel. Das zweite vertrug sich nicht immer mit dem ersten.23 Die Beschäftigung mit Medien wurde deshalb von Zeitgenossen auch als Suche von gesellschaftlicher Anerkennung durch Neureiche („Parvenüs“) gedeutet. So grantelte ein Dr. Franz Roberts, „ärztlicher Mitarbeiter“ der sozialdemokratischen Münchener Post,24 nicht ohne antisemitischen Unterton: SchrenckNotzing und dessen Frau seien nicht so recht reçu, die ‚Gesellschaft‘ (nicht die Hofgesellschaft, die kommt hier gar nicht in Betracht, sondern die gewisse Ganzmünchenklique) stand Einem noch sehr kühl und reserviert gegenüber, das musste anders werden, denn man war doch sehr reich [...]. Skandal, so wenig noch beachtet zu werden. Man baut also ein Palais (frei nach Villa Stuck), man (der weibliche sehr schöne Teil) fordert ‚ganz München‘ auf, in dem neuen Heim zu verkehren. Man will eine Zentrale bilden, alles, was geistiges Interesse hat, soll sich bei [ihnen] treffen – ausgenommen die koscheren älteren Verwandten, die mit der Modernität nicht so mit können, denen gibt man lieber nach Schluss des Yom-Kippur ein opulentes Diner, – aber sonst ist man 22 Uhde-Bernays: Im Lichte der Freiheit, S. 15. 23 Dessoir: Buch der Erinnerung, S. 130. 24 Franz Roberts schrieb in der Münchener Post drei Artikel gegen den „MadeleineJubel“ (18. Jg., Nr. 57, 10. März 1904; Nr. 58, 11. März 1904; Nr. 59, 12. März 1904) und veröffentlichte sie dann in erweiterter Fassung als Die Schlaftänzerin Madeleine G. Die von Schrenck-Notzing inspirierte und vielleicht auch finanzierte Antwort darauf war Ropa: Die Schlaftänzerin.
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sehr aufgeklärt. Und ‚ganz München‘ sah ein, als einige liebenswürdige Helfer den schöneren Teil in seinem Bemühen unterstützten, dass diese ‚Zentrale‘ fehlte, ein Bedürfnis sei. Famoses Haus, vorzügliche Küche, ausgezeichnete Zigarren und Weine, den Hausherrn kennt man kaum, man fühlt sich trotzdem behaglich in dem Haus der schönen Wirtin, man macht nur einen höflichen Diener und sonst ist die ganze Clique beisammen, gemütlicher als irgend wo anders ist es doch hier. Außerdem immer eine Attraktion, bald das, bald jenes: ein Konzert, ein berühmter Komiker, und neuerdings: ‚Kinder, da müssen wir alle hingehen, das Haus ist zu famos, Schren[c]k führt seine Schlaftänzerin vor.‘ Und sie kamen alle, alle, ‚man‘ war zufrieden, Doktor von Schren[c]k ist ein Wohltäter für alle Beteiligten.25 Über die in der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ einzuschlagende Richtung kam es bald zum Zerwürfnis und Du Prel trennte sich von ihr 1889 und gründete seine eigene, nicht sehr erfolgreiche ‚Gesellschaft für wissenschaftliche Psychologie‘. Ursache waren nach den beobachtenden Zeitgenossen nicht nur unterschiedliche Auffassungen zwischen Du Prel auf der einen, Schrenck-Notzing auf der anderen Seite, nämlich zwischen ‚philosophischer‘ Spekulation und induktiver Forschungsweise,26 sondern auch ganz unterschiedliche Charaktere: Hier der Dr. du Prel: „ein naiver Schwärmer, ein gläubiges Kindergemüt, ein hochgebildeter und ein guter, aber kein moderner Mensch“. Und dort der „Dr. Freiherr von Schren[c]k-Notzing“: „Eine Großstadterscheinung durch und durch. Schöner Mann mit durchdringendem Blick, zu Zeiten blasiert, zu Zeiten stahlhart, ein ganz moderner Mensch.“27 Die Beeinflussung des Mediums Zeitung mit dem Lockangebot des „Schlafmediums“ gehörte gewiss zu dieser Modernität, und Schrenck-Notzings ärztlicher Gegner Franz Roberts hat den Weg von der „intimen Soiree“ in der Villa Schrenck-Notzings zur öffentlichen Bühnenvorstellung folgendermaßen als Kritik der damaligen liberalen Münchner Presse (Münchener Neueste Nachrichten und Allgemeine Zeitung) imaginiert: Die intimen Gesellschaften unter Beiziehung einer wohldressierten Presse machten Furore, ernste Redakteure schüttelten verzückt beim Souper die gelehrten Häupter: ‚eine Notiz dürfen wir doch bringen.‘ ‚Aber nein, Herr Doktor.‘ Doch der [journalistische] Doktor fährt 25 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 9f. 26 So beschrieb Dessoir: Psychologische Gesellschaft in München, S. 3 den Unterschied. 27 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 9.
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fort: ‚die Sache gehört an die Öffentlichkeit, Herr von Schren[c]k, die Wissenschaft verlangt es, so reizend auch diese intime Vorstellung bei unserer intimen, pardon, reizenden Wirtin sind, es ist zu interessant, diese, wie sagten Sie doch, diese ‚kataleptische Starre, der Patinareflex‘, ‚Verzeihung, Patellareflex‘, ‚also Patellareflex, dieses dritte Bernheimersche Stadium, Trance, Somnolenz, das Inkrafttreten des außerdimensionalen Unterbewusstseins, Anschauung des reinen Objekts, der Wille losgelöst von der Vorstellung. Herr von Schren[c]k, das sind Sie der Wissenschaft einfach schuldig.‘28 Für Roberts war der ganze Medienrummel geschickt von Schrenck-Notzing lanciert: erst das „Vorspiel“ von Madeleines fünfmaligen Auftritten29 in Münchner Privatzirkeln 1903 bis Anfang 1904, davon die ersten drei in dem von Gabriel Seidl erbauten Palais Schrenck-Notzings in der Max-Joseph-Straße am Karolinenplatz30. Dem folgten lockende begeisterte Presseberichte, dann ca. dreissig Anfragen für weitere Privatsitzungen durch Vereine und Offizierskasinos. Stattdessen organisierte dann die ‚Psychologische Gesellschaft‘ fünf große öffentliche Bühnenauftritte im Münchner Schauspielhaus während Magdeleines fünfwöchigem Münchenaufenthalt von Mitte Februar bis Mitte April 1904.31 „Mehr als 3000 Personen (Künstler, Ärzte, Gelehrte)“, so SchrenckNotzing selbst, „wohnten den Vorführungen gratis bei, während etwas mehr als 2000 Personen gegen Entrée Zutritt hatten“.32 Nach Roberts betrug das Eintrittsgeld exorbitante zwanzig Mark;33 Schrenck-Notzing rechtfertigend: In dieser Weise konnte man die Künstlerin selbst auch materiell entschädigen für die zahlreichen Absagen an alle Vereine (ausgenommen den ärztlichen Verein), man konnte durch hohes Eintrittsgeld den Zutritt der Sensationslustigen beschränken und dafür sich andererseits das Theater und Orchester gratis für 3 Matineen ausleihen.34
28 Ebd., S. 10. 29 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 2. 30 Ebd., S. 23. 31 Ebd., S. V, 2. 32 Ebd., S. 3. 33 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 11. 34 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 3.
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Roberts hat die Anwesenden böse ihrem gesellschaftlichen Habitus nach und nicht ohne – im Folgenden von uns weggelassene – persönliche Anspielungen, wiederum auch solche antisemitischer und antifeministischer Art, beschrieben: Es war die ‚geistige crème de la crème‘ unserer Hauptstadt versammelt. Da saßen sie alle, die Halbgötter, von denen die Tageszeitungen so ehrfurchtsvoll reden: da waren zu sehen die berühmten Mimen, Mimosen, Sänger und Sängerinnen vom Hoftheater, vom Gärtnerplatztheater, vom Schauspielhaus, da waren die ‚großen‘ Meister des Pinsels, die saturierten Villenbesitzer von Bogenhausen, da waren die genialischen modernen Dichter […], da waren die geistreichen Vertreter unseres Rechtsanwaltstandes […], da waren etliche unserer berühmten Fleischbeschauer und Menschenfleisch-Charkutiers, der Stolz der medizinischen Fakultät der Universität, da waren Kommerzienräte […], da waren Aufsichtsräte und Bankdirektoren […], natürlich sämtlich in Begleitung ihrer, Gott sei Dank, meistens wirklich schöneren Hälften […]. Und nun öffneten sich die Pforten und die Schar der kleineren Geister, die in jeder anderen Stadt noch große Geister sein würden, drängte herein, die Herren mit hohen Kragen, die Jünglinge mit langen Haaren, die Damen und Reformkleidern (hoffentlich auch Hosen), die kurzgeschorenen Frauenrechtlerinnen und die liebreizenden Malweibchen […].35 Roberts griff hier den Liberalismus an, der sich aufgeklärt dünke, aber in Wirklichkeit auf jeden religiös verbrämten Schwindel hereinfalle. Und er geißelte die „Suggestionsfähigkeit des Publikums“ durch die liberale Presse.36 Auch heute noch können wir übrigens lesen: „Politisch und geistesgeschichtlich gehören die (somnambulen) Medien sowie ihre Ärzte, Patienten und Protokollanten in Deutschland beinahe, nicht ausschließlich, zu Gegenaufklärung und politischer Reaktion“.37 Das stimmt natürlich nicht: Der erfolgreiche Münchner Auftritt der Guipet wäre tatsächlich ohne Unterstützung der dortigen liberalen Presse, besonders durch Georg Hirth (Verleger der liberalen Münchener Neuesten Nachrichten und Mitgründer der Münchner Secession)38 undenkbar gewesen. Und der Verriss der Münchener Post fiel vielleicht gerade deshalb so heftig aus, weil in
35 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 12f. 36 Ebd. 37 Brumlik: „Die Geburt der Tiefenpsychologie aus der Geisterbeschwörung“, S. 53. 38 Buhrs/Ludwig: Die Münchner Secession 1892-1914, S. 11-17.
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Teilen Deutschlands, besonders in Sachsen, auch in der Arbeiterschaft okkulte Praktiken, Aberglaube und religiöse Weltdeutungen verbreitet waren.39 Die Beschäftigung mit Trancemedien war jedenfalls um 1900 nicht beschränkt auf dubiose sektiererische Rituale in Hinterzimmern – das mochte am ehesten auf das Proletariat (so genannter ‚plebejischer Spiritismus‘) zutreffen. Sondern der Mediumismus war zum modischen Thema einer liberalen Öffentlichkeit und ihrer Presse geworden, zu einem Thema, das Modernität spiegelte, in dieser Ambivalenz zwischen Wundergläubigkeit und Skeptizismus, Unterhaltungsbedürfnis und Sinnsuche. Und Künstler hatten in München einen hervorragenden Anteil an diesen Vorgängen: Um die Mitte der Achtziger wurde dort in vornehmen Malerkreisen der Okkultismus Mode. Gabriel von Max führte an. Er galt als ein ausgemachter Dunkelmann, Zauberer und Magier. Mit Unrecht: denn er konnte sich auf seine naturwissenschaftlichen Studien und Sammlungen wie auf die Thatsache berufen, dass er mehrere Schwindelmedien entlarvt hatte. Immerhin war der Niederschlag des Mediumismus in seiner Malerei von allerlei Geheimnissen umwoben. […] [Und Keller notierte in den Séancen; U.L.] voll Eifer den körperlichen und geistigen Ausdruck der Frau in der Hypnose oder Katalepsis. Er hatte immer für seine Aufgabe gehalten, das Innenleben, die gemütlichen Verfassungen, das Nervenrätsel seiner weiblichen Modelle zu sehen, die ‚odeur de femme‘, über alle farbenharmonischen, chicen Toilettenkünste hinaus; nun wagte er sich, durch wissenschaftliche Beobachtungen geleitet, ins Gebiet der Ekstase, der Vision, der andern, unbewusste Existenz, des Wunderglaubens, der kein Wunder mehr ist, der seelischen Erleuchtung. Er nimmt Motive des Neuen Testaments, der Heiligengeschichte, der Blutzeugentragödie und der Hexenprozesse.40 Gabriel von Max41 und Albert von Keller malten weibliche Medien in Trance (vgl. Abb.1) – sie waren einfacher gesellschaftlicher Herkunft.
39 Sawicki: Leben mit den Toten, S. 311ff.; Linse: „‚Das Buch der Wunder und Geheimwissenschaften‘“; Linse: Geisterseher und Wunderwirker, S. 66ff. 40 Elias: „Albert von Keller“, S. 318. 41 Gabriel von Max malte u.a. Katharina Emmerich, Friederike Hauffe, Maria von Mörl.
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Abbildung 1: Albert von Keller, Frau in Trance (ohne Jahresangabe).42
Zum gesellschaftlichen Ambiente der Maler aber gehörten ‚emanzipierte‘ Frauen, die sich von schönen Männern – gewiss waren Keller und SchrenckNotzing solche – auch zu erotischen Abenteuern verlocken ließen. Keller, so sein Biograph Hans Rosenhagen, sei „in seiner Jugend […] ein bildhübscher, von schönen Weibern umschwärmter Mann gewesen […]. Noch als Siebziger wirkte Keller entschieden jugendlich, und in seinem Atelier fanden sich immer die schönsten Modelle, die zum Teil der wirklichen Gesellschaft angehörten.“43 Keller habe die Rolle des Paris, dessen Urteil er so oft gemalt habe, sein ganzes Leben hindurch gespielt, „und sein Atelier in der Kaulbach-Straße war eine regelrechte Filiale des Berges Ida“.44 Seine Ehe sei deshalb wohl nicht glücklich gewesen: „Dazu war der Künstler ein zu lebhafter Verehrer des schönen Geschlechts und selbst ein verwöhnter Liebling der Frauen.“45 Und der Psychologe Dessoir über Schrenck: „Bei den Frauen hatte der sehr gut
42 Privatsammlung. Mit freundlicher Genehmigung von H. und L. Schultz. Ich danke den Keller-Sammlern und -Kennern herzlich für ihre Unterstützung. 43 Rosenhagen: „Erinnerungen an Albert von Keller“, S. 202. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 201.
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aussehende Mann große Erfolge; doch bezweifle ich, dass er jemals von der Liebe ergriffen war: genießerisch verschluckte er die Frauen wie Austern.“46 Roberts verhöhnte aber nicht nur die Hosen tragenden emanzipierten Frauen, sondern auch Schrenck-Notzings Buch über „perverse Sexualität“ und sein „starkes Selbstbewusstsein, er hat ab origine pervers Sexuelle geheilt!! (auf wie lange?), er kann sehr viel“.47 Tatsache ist: Auch die klar definierten Geschlechts-Charaktere waren ins Wanken gekommen und mit ihnen die damit verbundene Moral. Für die Liberalen war auch dies Erweiterung des Freiheitsraums, für die Konservativen Anarchie. Vergessen wir nicht: wir befinden uns damals im München der Bohème, mit Franziska von Reventlow und Erich Mühsam als praktischen und theoretischen Vertretern der ‚freien Liebe‘ (letzterer zu Mann wie Weib). Und der bisexuelle Thomas Mann wollte sich 1905 von Schrenck-Notzing durch Hypnose von seinen homosexuellen Neigungen heilen („sittlich festigen“) lassen, nachdem er kurz zuvor seine spätere Frau Katia Pringsheim kennen gelernt hatte.48 Die Münchner society erprobte die erotische Moderne.
3.
Zeitgenössisches Tanztheater und Hypnose als dramaturgische Schauspielkunst
„Eine weitere Attraktion für das großstädtisch gewöhnte Münchener Publikum wurde geboten durch die vielen exotischen Tänzerinnen, die in Mode kamen und als Eintagsfliegen des Ruhmes sich ablösten.“49 Denn zur Modernität um 1900 gehörte auch das damalige Tanztheater. Man könnte den Tanz geradezu die Leitkunst der damaligen ästhetischen Moderne nennen.50 Auch hier hat der die antimodernistischen Klischees bedienende Grantler Dr. Franz Roberts die Szene beschrieben: Nachdem die Musik die dominierende Kunst der letzten Dezennien gewesen […], entdeckte das Zeitalter plötzlich seine tiefe Begabung für alle choreographischen Künste. Von den verschiedensten Stellen aus wurde der Tanz neugeboren, neu geschaffen. In den Spiegelsälen des Berliner Schlosses erlebten Menuett und Sarabande ihre Auferstehung, auf Wolzogenschen und andern Überbretteln wurde ge46 Dessoir: Buch der Erinnerungen, S. 130. 47 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 9. 48 Höfl-Hielscher: „Der Arzt des Schriftstellers“. 49 Uhde-Bernays: Im Lichte der Freiheit, S. 201. 50 Vgl. den Ausstellungskatalog: Tanz in der Moderne.
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walzt und gepolkat, aus Amerika zog siegreich der von intelligenten, stark nach Schweiß riechenden Niggers erdachte Cake Walk seinen Triumphzug durch die gelobten Lande, Sada Yakko hupfte japanisch naiv-boticellihaft auf ein bis drei Beinen (indem sie mitunter einen Arm als Bein benützte), Miß [Loïe] Fuller verblüffte die Welt durch Serpentinenwirrungen, die Saharet und die liebliche Beherrscherin des Königs der Flamländer und Kongoneger [Leopold II. von Belgien], Cléo de Mérode tanzte nach alter scheußlicher Weise. Kurz und gut: Terpsichore schlug ihre acht Schwestern siegreich aus dem Feld. Aber das alles war erst ein Vorspiel kommender und großer Ereignisse. Die Welt war reif zum völligen Blödsinn und die nackten Füße Isadoras [Isidora Duncan] erschienen frischgewaschen auf der Bildfläche, um Begeisterung, ja gottesdienstliche Gefühle in den Herzen der ganz modernen Meschuggenen zu erwecken. Die Erneuerin des Tanzes, die Jung-Hellenin, das attische Hirtenmädchen, die gotterfüllte Seherin […] wurde in Blättern und Blättchen gepriesen.51 Und dann sei schließlich die Magdeleine durch Schrenck-Notzing als geeignetes Objekt zur Abwechslung während der stillen Fastenzeit nach München verbracht worden: „Doppelt geeignet, da es tanzte, schlaftanzte, also eine Repräsentantin der modernsten Kunst war.“52 Empire of Ecstasy hat etwas reißerisch ein amerikanischer Wissenschaftler diesen Siegeszug der auch mit der Körperkultur, einschließlich der Nacktkultur, verschwägerten modernen Tanzkunst in Deutschland genannt.53 Es war eine Befreiung der Körper und der Sinnlichkeit. Schrenck-Notzing verwies in diesem Zusammenhang auf eine völkerpsychologische Studie Friedrich von Hellwalds über den Tanz, in welcher dieser nachweise, dass der Urgrundzug der Kunst Terpsichores das erotische Moment sei.54 Es ist kein Zufall, dass die Künstler der Münchner Secession immer wieder Tänzerinnen malten.55 Eine solche erotische Ausstrahlung ging gewiss auch von der „Traumtänzerin“ Magdeleine aus: „Die Person, mittelgroß, eher klein, brünett, schlank, feingebaut, mit großen Kopfe, slawischen Gesichtszügen, ausdrucksvollen Augen, bekleidet nur mit einem dünnen, blassblauseidenen, wallenden, empireartigen Gewand […].“56 51 Roberts: Die Schlaftänzerin Madeleine G., S. 3. 52 Ebd., S. 6. 53 Toepfer: Empire of Ecstasy. Vgl. dazu Wedemeyer-Kolwe: ‚Der neue Mensch‘. 54 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 17. 55 Ochaim: Franz von Stuck und der Tanz; Gross-Roath: Das Frauenbild bei Franz von Stuck. 56 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 13.
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Überdeutlich stellte Schrenck-Notzing in seiner Schrift über Magdeleine heraus, dass diese „Tanzsomnambule“ im „Ekstasezustand“ ihre Vorführungen absolvierte,57 ein ganzes Kapitel des Werkes befasste sich mit „Pantomimik und Ekstase“58. Und Friedrich August von Kaulbach hat die ‚Somnambule‘ auch als eine solche erotische Frau gemalt59 (vgl. Abb. 2) – hier übrigens ganz in den Spuren von Franz von Lenbach und Franz von Stuck, welche die anderen oben genannten Tänzerinnen in Porträts verewigten.
Abbildung 2: Friedrich August von Kaulbach, Magdeleine Guipet (keine Jahresangabe).60
Nach Schrenck-Notzings Terminologie handelte es sich bei Magdeleines Darbietung um einen „Schlaftanz“ oder eine „somnambule Darbietung auf dramatisch-choreographischem Gebiet“61, oder, wie er an anderer Stelle sagte, um 57 Ebd., S. 8f. 58 Ebd., S. 17ff. 59 Vgl. Magnin: L’art et l’hypnose, S. XI, 275, 279. 60 Die Abbildung entnehme ich ebd., S. XI. 61 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 48.
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eine unter dem Einfluss der Hypnose entstandene künstlerische Darstellung „ihrer psychischen Erlebnisse in plastisch schönen Attitüden“62. Damit wurde der historische Zusammenhang mit den im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert in pantomimischen Darstellungen oder auch im Tanz dargestellten ‚Attitüden‘,63 lebenden Bildern oder belebten Plastiken, hergestellt. Die Vorführung Magdeleines war ein fast stummer pantomimischer Tanz zur Begleitung von Musikstücken, teilweise auch Pantomimen nach Zuruf von abstrakten Begriffen: „In einigen Fällen nahm sie konventionelle, an bekannte allegorische Darstellungen erinnernde Haltungen an: bei dem Wort Frieden die des Segnens und Beruhigens; entsprechendes bei dem Wort Träumerei.“64 Sie spielte „fast nur mit dem Gesicht und den Armen; der Körper ist ziemlich wenig, die Beine sind fast gar nicht beteiligt“.65 Nach Meinung von Dr. med. F. E. Otto Schultze war dabei der „Affektausdruck“ „bisweilen nicht nur sehr stark, sondern einfach übertrieben – bis zur Hohlheit, zum leeren Pathos“.66 Und weiter: Zunächst kann ich mich hier nicht eines gewissen modischen, konventionellen Ausdrucks erwehren. Dies rührt wohl daher, dass man in den letzten 6-8 Jahren die großen, steilen, einfachen Linien und die großen Winkel in der bildenden Kunst vielfach bevorzugt hat. Um zu zeigen, was ich meine, darf ich sagen, dass das mir die Folge einer billigen Verwertung der Prinzipien zu sein scheint, die man aus den großen, umfassend konzipierten und deshalb nicht manierierten Kompositionen, zumal von Böcklin, Klinger und Stuck, abgesehen hat. Die wenigst angenehme Verwertung hat wohl das Plakat und die Ansichtspostkarte gezeigt.67 „Ruhe und Mäßigung“ hätten der Ausdrucksweise gefehlt, stattdessen habe Madeleine ihre „Vorliebe für das Überstarke, fast Brutale“ gezeigt.68 Kritisiert wurde besonders „das geradezu peinlich berührende Stöhnen und Schreien beim Chopinschen Trauermarsch“, oder dass sie sich „beim ruhigen, langsamen Abwärtsspielen der einfachen Tonleiter […] mit den Fingernägeln in den
62 Ebd., S. 7. 63 Hoff: „Ikonographie des Weiblichen“. 64 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 140. 65 Ebd., S. 163. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 163f. Plakat und Postkarte sind bisher verschollen. 68 Ebd., S. 163.
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Fußboden geradezu einzugraben sucht“.69 Die einen deuteten dies aus der Nähe ihres slawischen Blutes zum Urnatur-Zustand, andere aus ihrer ausgeprägt weiblichen Natur, wieder andere als hysterisch bedingte Übertreibung. Magdeleines pantomimischer Tanz enthielt gewiss auch konventionelle Momente. Ihre durch Musik befeuerte Pantomime ergriff aber die Zuschauer vor allem wegen der expressiven Modernität, als deren Schrittmacher sich die damalige bildende Kunst der Sezessionisten erwies. Tatsächlich waren einige Mitglieder der 1892 gegründeten Münchner Secession70 auch der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ beigetreten (z.B. Albert von Keller,71 Gabriel von Max,72 Wilhelm Trübner,73 dazu „der heimliche Kaiser der Kunst“ in München, Adolph Bayersdorfer, Konservator an der Alten Pinakothek74). Damit war also ästhetisch die Vorstellung der Guipet durchaus auf der Höhe der Zeit und dementsprechend auch ein gesellschaftliches Ereignis für München: Für Traumtanz und hypnotische Experimente, für Magnetismus und Somnambulismus war in München ein ausnehmend günstiger Boden vorhanden. Die Maler Gabriel von Max und Albert von Keller luden zu spiritistischen Sitzungen ein. Der Arzt Freiherr von Schrenck, ein reicher Lebemann, veranstaltete in seinem Palais in der Max-JosephStraße intime Séancen. Auch Menschen, die solche Befragungen einer geheimnisvollen Ferne sonst skeptisch gegenüberstanden, ließen sich bestimmen, okkulten Abendunterhaltungen beizuwohnen. Auf Monate hinaus erhielt sich im Stadtklatsch dieser Verkehr mit dem Jenseits und der Geisterwelt als unbezweifelbar neue Entdeckung, besonders als die seltsame Schlafwandlerin Madeleine Guipet als Wahrsagerin nach Schillers Kassandra angeblich bewiesen hatte, dass ihre mimischen Halluzinationen auf eigentümlichen psychologischen Vorgängen beruhten.75
69 Ebd., S. 41. 70 Vgl. Buhrs/Ludwig: Die Münchner Secession 1892-1914; Meister: Münchner Secession; Ottomeyer: Wege in der Moderne; Harzenetter: Zur Münchner Secession; Ludwig: „Die Münchner Secession und ihre Maler: Albert von Keller“; ders.: „Die Münchner Sezession und ihre Maler: Der frühe Stuck und die gründerzeitlichen Symbolisten“; ders.: Malerei der Gründerzeit; Rosenberg: Die Münchener Malerschule und ihre Entwicklung seit 1871. 71 Müller: Albert von Keller [1988, 1984, 1981]; Rosenhagen: Albert von Keller. 72 Siebenmorgen: „Gabriel von Max und die Moderne“; Muggenthaler: Der Geister Bahnen; Mann: Gabriel Max. 73 Rohrandt: „Wilhelm Trübner und die künstlerische Avantgarde seiner Zeit“. 74 Käss: Der heimliche Kaiser der Kunst. 75 Uhde-Bernays: Im Lichte der Freiheit, S. 202.
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Der Theaterfachmann Freiherr Julius von Werther, früherer Intendant des Stuttgarter Hoftheaters, hat die geschickte Inszenierung von Hypnose und Tanz während der ersten Privatvorstellung der Guipet aus eigener Anschauung folgendermaßen beschrieben: Eine Pariserin, bezeichnet als Magdeleine G[uipet], wurde von einem Magnetiseur, Namens Magnin, vorgeführt […] [und] wurde stehend von dem Magnetiseur eingeschläfert und sank in einen Lehnstuhl. Zwei Ärzte bestätigten den eingetretenen somnambulen Zustand. Da ertönt Musik hinter einem Vorhang […]. Alsbald erhebt sich Magdeleine aus ihrem Lehnstuhle und begleitet mit Armen und Beinen wie mit lebhaftem Gesichtsausdrucke diese Töne. Die Musik geht in ein Chopinsches Prélude über. Den weichen, schwermütigen Liebestönen des ersten Motivs entspricht die Gebärde Magdeleines mit überzeugender Wahrheit. Das Auditorium, das sich anfänglich durchaus skeptisch verhalten, wird aufmerksam, mehr und mehr gefesselt, und als im zweiten Motiv des Préludes das tragische Moment einsetzt, werden die Bewegungen der Somnambulen derart hochdramatisch, dass atemlose Stille unter den Schauenden eintritt. Nach einigen musikalischen Improvisationen, stets durch vollkommen entsprechende Bewegungen begleitet, beginnt der Meister [Hofkapellmeister und Akademiemusikdirektor Bernhard Stavenhagen; U.L.] den Chopinschen Trauermarsch zu spielen. Augenblicklich erfasst den Körper Magdeleines die gewaltige Tragik der großen Akkorde dieses Musikstückes und scheint ihn ins tiefste hinein zu erschüttern; mehr und mehr steigert sich die Pantomime des Schmerzes, laute, unartikulierte Klagetöne, die indes die Noten Chopins völlig treffen, stößt die Somnambule aus. Sie wirft sich voll unsäglichen Leides, das sich auf ihren Gesichtszügen malt, auf den Boden und erstarrt plötzlich, als die Musik auf dem Piano abbricht, in der letzten Pantomime wie leblos. […] die Somnambule wird durch den Magnetiseur wieder in ihren wachen Zustand versetzt und abgeführt.76 Ob echt oder gespielt, die Hypnose folgte jedenfalls in ihrer Dramaturgie nach Meinung der damaligen Fachleute den Vorgaben des Vaters der modernen Hypnose, James Braid.77 Bereits die Einschläferungsmethode, die Fixation durch mesmerische Striche, erinnere daran, aber auch die Neigung, die Stellung der letzten Note beizubehalten und in Katalepsie (Erstarrung) überzugehen.78 76 Zitiert bei Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 13f. nach Julius von Werther: „Die Schlaftänzerin“, in: Goslarsche Zeitung, 13. März 1904. 77 Preyer: Die Entdeckung des Hypnotismus; Braid: Der Hypnotismus. 78 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 49.
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Auch „das Erwecken erfolgt dadurch, dass Herr Magnin die Hypnotisierte sich niedersetzen lässt und mit zentrifugalen mesmerischen Strichen, Anblasen, Bewegen der Augenlider die Suggestion des Erweckens verbindet. Dasselbe folgt ebenso rasch wie das Einschlafen“.79 Seit Jean-Martin Charcots hypnotischen Demonstrationen mit Hysterischen in der Pariser Salpêtrière hatte der dramatische Ausdruckswert dieser Vorführungen über Text- und Bildmedien weite Verbreitung und Beachtung in der Öffentlichkeit gefunden.80 Max Dessoir riet 1889 ganz offen, die aus dem Magnetismus hervorgegangene „junge Wissenschaft des Hypnotismus“, ergänzt durch den Mediumismus, solle der Grundstock der experimentellen Tätigkeit der ‚Psychologischen Gesellschaften‘ sein. Denn das verspreche nicht nur den größten wissenschaftlichen Gewinn, sondern errege auch das größte öffentliche Interesse, da es „auf das große Publicum einen gewaltigen Reiz ausübt“.81 Die Münchner Vorstellungen der Madeleine bewiesen zumindest letzteres; der wissenschaftliche Ertrag der Vorführungen war dagegen strittig. Der künstlerische wiederum unbestreitbar. Dabei spielte die Fotografie eine bedeutsame Rolle.
4.
Die Fotografie als Medium der Reklame und Seelenkunde
In seinem Bericht Telepathische Experimente des Sonderausschusses der Psychologischen Gesellschaft in München schrieb Schrenck-Notzing im Dezember 1887 in der Sphinx über die Wirkungen der Hypnose: In den tiefen Stadien der Hypnose, besonders in der somnambulen, findet, wie bekannt, eine allgemeine Steigerung der ganzen Persönlichkeit, psychisch wie physisch, statt; Selbstbewusstsein und Wille dagegen sind ganz ausgeschaltet; jeder Reiz, der feinste übersinnliche, durch bloße geistige Konzentration ausgeübte, in der lethargischen und kataleptischen, der geringste sinnliche in der somnambulen Phase, ruft in der Hypnotisierten starke Reaktionen hervor. Das Ballen der Faust erzeigt den heftigsten Zornausbruch – die bloße Betrachtung eines Bildes veranlasst die Schlafende, die auf demselben dargestellten Stellungen und Gebärden mit einer auffallenden Treue und Schärfe nachzuahmen (imitation automatique) [...]. Nicht der gewiegteste Schauspieler, geschweige denn irgend ein bezahltes 79 Ebd., S. 58. 80 Vgl. Bronfen: Das verknotete Subjekt; Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie; Schade: „Charcot und das Schauspiel des hysterischen Körpers“. 81 Dessoir: Psychologische Gesellschaft in München, S. 2, 6.
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Modell [...] ist imstande, die eingegebenen oder spontan erzeugten Stimmungen in Mienenspiel und Gebärde mit so packender Naturwahrheit darzustellen oder gar einige Zeit festzuhalten [...].“82 Diese Beobachtungen auch künstlerisch zu nützen war bereits in Carl du Prels in der Sphinx vom Januar 1887 abgedruckten Gründungsprogramm der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ zum Ausdruck gebracht worden: Der Künstler wird vielleicht [beim beabsichtigten Studium der Psychologie; U.L.] leer auszugehen glauben; aber Gebärden und Mimik sind in hypnotischen und somnambulen Zuständen nicht nur dem Einfluss fremder Ideen zugänglich, sondern alsdann auch im höchsten, im Wachen kaum erreichbaren Grade ausdrucksvoll, wie sie eben von innen herausgearbeitet werden, während das heutige Modell des Künstlers nur äußerem Befehl gehorcht, oder nur mechanisch in Position gesetzt wird.83 Angeregt worden sei man bei der künstlerischen Verwertung des Hypnotismus, so Schrenck-Notzing in seinem Nachruf auf den Malerfreund Keller, durch die klassischen Untersuchungen Charcots und Richers (Paris), welche in einem Rückblick auf die Geschichte der Kunst gezeigt haben, dass die großen Meister des Pinsels und Meißels, wie Andrea del Sarto, Philippino Lippi, Domenichino, Rubens, Jordaens, Bernini, Sodoma Studien für ihre Bilder aus der Naturbeobachtung Hysterischer und Ekstatischer gewonnen haben [...].84 Er bezog sich hierbei auf die einschlägigen Werke des Mediziners Jean-Martin Charcot und des Professors für künstlerische Anatomie an der École des Beaux Arts, Paul Richer.85 Wohl ebenfalls Schrenck-Notzing bekannt waren die Fotografien Hysterischer aus der Pariser Salpêtrière.86 Auch weitere fran-
82 Schrenck-Notzing: „Telepathische Experimente“, S. 389. 83 Zitiert nach Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus, S. 261f. 84 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 198. 85 Gemeint waren Charcot/Richer: Les démoniaques dans l’art; dies.: Les difformes et les malades dans l’art. 86 Vgl. Bourneville/Regnard: Iconographie photographique de la Salpêtrière; Richer u.a.: Nouvelle iconographie de la Salpêtrière; darin auch Meige: „Les possédées des dieux dans l’art antique“.
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zösische Literatur87 über den Zusammenhang von ‚Mystik und Malerei‘, wie man damals über die Darstellung des ‚Übersinnlichen‘ sagte, zirkulierte in Münchner Künstlerkreisen.88 Ferner verwies Schrenck-Notzing auf den Hypnose- und Levitations-Forscher Albert de Rochas;89 denn der „lieferte vor einigen Jahren in einem wundervoll ausgestatteten Werk eine größere Anzahl photographischer Aufnahmen einer ebenfalls auf dramatische und musikalische Eindrücke reagierenden Somnambule und betonte den Wert dieser plastischen Stellungen für die Kunst“90. Und schließlich habe auch schon James Braid, der Vater der modernen Hypnose,91 die Meinung geäußert, die unübertroffene Schönheit griechischer Statuen sei durch die Verwertung „kataleptischer“ Stellungen hypnotisierter Bacchantinnen und anderer Modelle zu erklären.92 Schrenck-Notzing hatte in einem öffentlichen Vortrag der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ in München 1902 oder 1903 Über die künstlerische Bedeutung der Ausdrucksbewegungen in der Hysterie und Hypnose93 diese einschlägigen Arbeiten genannt und dabei darauf hingewiesen, dass solche Anstöße besonders dadurch an Bedeutsamkeit gewannen, dass Charcot und Richer damit anfingen, die Affektstudien nicht nur zeichnerisch, sondern auch fotografsch festzuhalten: „Erst als die genannten Pariser Forscher damit begannen, Hypnotisierte im Stadium der Katalepsie zu photographieren, bestand die Möglichkeit, den Ausdruck suggestiv zu regeln und die dramatische Situation nach Wunsch für die Photographie vorzubereiten.“94 Denn die durch den damaligen Stand der
87 Nämlich Richer: Études cliniques sur l’hystéro-épilepsie ou grand hystérie; Regnard: Les maladies épidémique de l’esprit. 88 Delius: „Das Übersinnliche auf der Münchener Internationalen Kunstausstellung“. 89 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 81. 90 Ebd., S. 10. Gemeint war Albert de Rochas: Les sentiments, la musique et le geste. 91 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 79; Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 204. 92 Preyer: Die Entdeckung des Hypnotismus, S. 27. 93 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 1: „Winter 1902“, S. 77: „November 1903“; in Schrenck-Notzings Bibliographie (Grundfragen der Parapsychologie, S. 363ff.) wird keine Druckfassung genannt. 94 Ebd., S. 77. Nach Georges Didi-Hubermans Analyse hat die Fotografie darüber hinaus überhaupt erst die „Erfindung der Hysterie“ hervorgebracht: „indem er [also Didi-Huberman; U.L.] die technische Bedingung ihrer Möglichkeit betont, die Instantan- und Serienphotographie, durch die sie in der von Charcot und Richer synoptisch veranschaulichbaren Form überhaupt erst sichtbar geworden ist; erst ihre photographische Vergegenständlichung hat die hysterischen Symptome im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn reproduzierbar, klassifizierbar und hier-
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Fototechnik noch sehr hohen Belichtungszeiten entstandenen Probleme konnten dadurch gelöst werden, dass mit Hilfe der hypnotisch induzierten Katalepsie die jeweils gewünschte Pose auf das Negativ fixiert werden konnte. Der Hauptinteressent für solche künstlerisch-hypnotischen Experimente in der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ war – neben SchrenckNotzing und Carl du Prel – der Maler Albert von Keller. 1885 hatte er nach umfangreichen Vorstudien95 sein erstes Hauptwerk Die Auferweckung der Toten (auch Auferweckung von Jairis Töchterlein genannt96) vollendet.97 In einigen der jahrelangen Vorarbeiten wird der Tote erweckende Jesus als Hypnotiseur imaginiert (vgl. Abb. 3).98
Abbildung 3: Albert von Keller, Farbstudie zur ‚Auferweckung‘ (1886).99
Nach dem Bekunden Schrenck-Notzings100 machten er und Keller erstmals 1886, also noch im Jahr der Gründung der ‚Psychologischen Gesellschaft‘, aufgrund der Anregung von Charcots Untersuchungen über Hysterie derartige hypnotische Versuche mit dem Medium ‚Lina‘ (Lina Matzinger) im Atelier Albert von Kellers: archisierbar gemacht“ (so Henke/Stingelin/Thüring: „Nachwort: Hysterie – Das Theater der Epoche“, S. 371). 95 Vgl. Müller: Albert von Keller [1988], S. 142ff.; ders.: Albert von Keller [1981], S. 75ff., 200f. 96 Frei nach Mt 9, 18-26, Mk 5, 22-45, Lk. 8, 41-56. 97 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 63, 65. 98 Vgl. ebd., S. 56, 61; Müller: Albert von Keller [1981], S. 76. 99 Ich entnehme die Abbildung Rosenhagen: Albert von Keller, S. 61. 100 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 73, 77f., 81; SchrenckNotzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 194ff.; dazu: Schrenck-Notzing: „Telepathische Experimente“.
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Es gelang mir, in demselben [Versuchsobjekt; U.L.] (vielleicht auch infolge der bestehenden hysterischen Dissoziation) die gewünschten Affekte suggestiv zu produzieren, die Hypnotisierte im Höhepunkt des Affekts kataleptisch zu machen und einer längeren Exposition der photographischen Platte auszusetzen (bis zu 15 Sekunden). Wir gewannen damals eine große Serie höchst interessanter Affektbilder (vgl. Abb. 4),101 die von mir bei dem ersten internationalen Psychologenkongresse (1889 in Paris) vorgelegt wurden. Prof. v. Keller benutzte einen Teil der Studien für einige seiner Werke (vgl. Abb. 5 und 6), namentlich das bekannte Gemälde ‚Hexenverbrennung‘ [‚Hexenschlaf‘; U.L.] (vgl. Abb. 13).102 In seinem Nachruf auf Keller brachte Schrenck-Notzing auch andere Gemälde Kellers mit den ‚physiognomischen Aufnahmen‘ des Mediums ‚Lina‘ in Verbindung, nämlich die Bilder Die Somnambule, Spiritistischer Apport eines Armbands, Mystische Krankenheilung, Märtyrerin im Mondenschein usw.103 Schrenck-Notzing fügte hinzu: Jedenfalls lässt sich mit dieser von Keller und mir bereits 1886 erfolgreich angewendeten Methode der Affektausdruck in allen Momenten und Stadien kataleptisch fixieren und mit Ruhe beobachten. Selbstverständliche Voraussetzung dabei ist die dramatische Ausdrucksfähigkeit in der Versuchsperson selbst.104
101 Die Redaktion der Sphinx hatte 1887/1888 die von Leutnant Maximilian Höhn (Mitglied der ‚Pychologischen Gesellschaft‘) in Albert von Kellers Atelier während drei Sitzungen gemachten einundzwanzig Fotos des Mediums ‚Lina‘ auch öffentlich vertrieben. Vgl. Schrenck-Notzing: „Telepathische Experimente“, S. 390; [Hübbe-Schleiden]: „Photographien zu den hypnotischen Experimenten“, S. 63. Der Preis für die einundzwanzig Fotos betrug vierzig Mark. 102 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 77f. Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 71; Müller: Albert von Keller [1981], S. 89; dazu Du Prel: „Die Hexen und die Medien“; Kiesewetter: „Der Hexenschlaf“. 103 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 61, 68, 89f., 97; Müller: Albert von Keller [1981], S. 83, 99. 104 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 204.
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Abbildung 4: Fotografische Affektstudien des Mediums ‚Lina‘ im Atelier Albert von Kellers (1886).105
Abbildung 5: Links Fotografie der hypnotisierten ‚Lina‘ (1886) und rechts Albert von Keller, Spiritistischer Apport eines Bracelets (1887).106
105 Ich entnehme die Abbildungen Schrenck-Notzing: „Telepathische Experimente“, S. 385, 409 bzw. deren Wiederabdruck in [Hübbe-Schleiden]: „Photographien zu den hypnotischen Experimenten“, S. 63f. 106 Ich entnehme die Abbildungen Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 200f.
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Abbildung 6: Links Fotografie der hypnotisierten ‚Lina‘ (1886) und rechts Albert von Keller, Die Somnambule (1886/1887).107
1886 begann also Kellers malerische Verarbeitung der bei hypnotischen Séancen mit einem weiblichen Medium gewonnenen Fotografien. Die Bekanntschaft mit der „somnambulen Gebärdenkunst“ der Magdeleine brachte dann 1904 einen weiteren Schub in diese Richtung.108 Denn, so Schrenck-Notzing, die Darbietungen Magdeleines bedeuten nichts anderes als die Fortsetzung der 1886 zuerst von Keller und mir mit dem Somnambulen ‚Lina‘ unternommenen Affektstudien im Zustande der Hypnose, nur mit dem Unterschied, dass die somnambule, choreographische und mimische Ausdrucksfähigkeit der Französin wohl als höchste Leistung dieser Art anzusehen ist, die in den letzten Jahren der Gegenwart bekannt wurde.109 Der Magnetopath Emile Magnin – „Professeur a l’École de Magnetisme de Paris“ – hatte die musischen Fähigkeiten der Bürgersfrau Magdeleine Guipet im April 1902 entdeckt, als diese wegen einer Migräne seine Praxis aufsuchte und er sie mittels Hypnose therapierte.110 Schrenck-Notzing lernte dann in der 107 Ich entnehme die Abbildungen ebd., S. 202f. 108 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 121. 109 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker”, S. 208. 110 Magnin: L’art et l’hypnose, S. 8f.
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französischen Hauptstadt über Magnin das Trancemedium kennen und als nachträgliche Bestätigung seiner einige Monate zuvor gehaltenen Ausführungen über die Künstlerische Bedeutung der Ausdrucksbewegungen in der Hysterie und Hypnose schätzen.111 1903 hätten sich bereits ziemlich alle bedeutenden Pariser Zeitungen sowie Kunst- und Musikzeitschriften mit ihr befasst, Gelehrte wie Charles Richet (Paris) und Théodore Flournoy (Genf) hätten ihre Vorstellungen besucht.112 Sie sei in Auguste Rodins Atelier ebenso aufgetreten wie auf der Bühne der Opéra comique. Im gleichen Jahr sei eine Vielzahl von „im kataleptischen Zustand aufgenommenen Photogrammen“ der „Traumtänzerin“ entstanden, welche er der ‚Psychologischen Gesellschaft‘ vorlegte und diese wiederum zu der Einladung der Tänzerin und ihres Impressarios Magnin nach München veranlasst habe.113 Zur Zeit ihrer Münchner Wirksamkeit lagen bereits an die eintausend solche Fotos vor, die der geschäftstüchtige Magnin in Zusammenarbeit mit dem bekannten Genfer Fotohaus der Boissonnas114 – in diesem Falle war es Frédéric Boissonnas – hergestellt hatte und vertrieb (vgl. Abb. 7): „Dieselben sind“, schrieb Schrenck-Notzing, „durch jede Kunsthandlung käuflich zu beziehen sowohl in Kabinettformat wie in Vergrößerungen“.115 Und er fügte hinzu: Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die von der Schlaftänzerin gelieferten Aufnahmen das Höchste darstellen, was auf dem Gebiete dramatischer Darstellung durch menschliche Ausdrucksmittel im Bilde erreicht worden ist.116 Aus den Fotos könne dann jeder Künstler „die für den speziellen Studienzweck passenden Posen auswählen“.117
111 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 1. 112 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 82f. 113 Ebd., S. 1. 114 Bouvier: Boissonnas; Les Boissonnas. 115 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 79 Anm. 1; Nennung von Fotomotiven und Fotoserien auf S. 118f.. 116 Ebd., S. 80. 117 Ebd., S. 118.
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Abbildung 7: Magdeleine Guipet, Ein Hoffnungsschimmer, Foto ATAR (Genf).118
Während der Münchner Privatséancen 1904 wurden zahlreiche weitere solche Affekt-Fotos der hypnotisierten Magdeleine unter Beihilfe Kellers gemacht,119 auch wenn das blendende volle Licht der elektrischen Scheinwerfer gewiss für die Tänzerin irritierend war.120 Keller malte damals – nach Angabe wiederum
118 Ich entnehme diese Abbildung Magnin: L’art et l’hypnose, S. 133. 119 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 210. 120 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 73.
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Schrenck-Notzings121 – unter Heranziehung dieser Fotos zwanzig Bildnisse der ‚Traumtänzerin‘ (vgl. Abb. 8 und 9).122
Abbildung 8 und 9: Albert von Keller, Magdeleine Guipet (um 1904).123
Zudem gingen diese Fotos in sein Gemälde Kassandra124 ein, für das er zuvor zehn Skizzen anfertigte.125 Weitere persönliche Begegnungen mit Magdeleine folgten: 1905 sahen Schrenck-Notzing und Albert von Keller Magdeleine Guipet erneut während eines Parisbesuchs; sie trat dort auch bei der Cousine von Kellers Frau, der Baronin Marie D’Eichthal, auf.126 Weitere von SchrenckNotzing mit Magdeleine in Zusammenhang gebrachte Werke sind: 121 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 210. 122 Vgl. Magnin: L’art et l’hypnose, S. 259, 263, 267, 271; Rosenhagen: Albert von Keller, S. 114f; Müller: Albert von Keller [1981], S. 84f. 123 Ich entnehme diese Abbildungen Magnin: L’art et l’hypnose, S. 267, 263. 124 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 114f.; Müller: Albert von Keller [1981], S. 84 unten. 125 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsycholge und Metapsychiker“, S. 210. 126 Keller: [Autobiographische Aufzeichnungen].
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Die aus der Gebärdenkunst der Traumtänzerin Magdeleine geschöpften Studien hat A. v. Keller auch noch bei späteren Werken, z. B. beim ‚Tod der Antigone‘127 sowie in den Gemälden ‚Mutter und Sohn‘ (Maria vor dem Gekreuzigten)128 verwertet (vgl. Abb. 10 und 11). Die weiblichen schmerzerfüllten Figuren sind typische Magdeleine-Darstellungen mit offenbarer Benützung von photographierten Vorbildern kataleptischer Affektstellungen, wie sie von uns zahlreich angefertigt worden sind […] Im Nachlass Kellers dürften sich die photographischen Vorlagen für seine farbigen Studien dieser Art vorfinden. Allerdings wird die Bedeutung der Kellerschen Kunstwerke durch dieses Hilfsmittel keineswegs verkleinert.129
Abbildung 10 und 11: Links Albrecht von Keller, Magdeleine Guipet (Gemälde nach einer Photographie) (um 1904) und rechts Albert von Keller, Mutter und Sohn (1909).130
Die Magdeleine Guipet reüssierte also kurz nach 1900 im modernen Pariser Künstlermilieu; die Presse berichtete, teilweise mit Reproduktionen der Fotos, die ihr Manager aus Reklamegründen in großer Zahl vertrieb. Ebenfalls nach 127 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 125; Müller: Albert von Keller [1981], S. 104f.; ders.: Albert von Keller [1988], S. 221ff. 128 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 118; Müller: Albert von Keller [1981], S. 92f., 106ff. 129 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 213. Die Fotos haben sich offenbar erhalten: Müller: Albert von Keller [1981], S. 19. 130 Ich entnehme die Abbildungen Magnin: L’Art et l’Hypnose, S. 259; Rosenhagen: Albert von Keller, S. 137.
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Pariser Vorbild, dem der Salpêtrière, wurden in der Münchner ‚Psychologischen Gesellschaft‘ seit 1886 fotografische Studien von hypnotisierten somnambulen Medien gemacht und als Ausgangspunkt von Kellers malerischen ‚mystischen Visionen‘ genützt. Alle diese Medien-Stränge wurden schließlich anlässlich der Vorstellungen der Magdeleine in München 1904 zusammengeführt: Magnin vertrieb seine Werbefotos, die ‚Psychologische Gesellschaft‘ produzierte Experimentalfotos, Madeleine produzierte sich, und Münchner Künstler wie Albert von Keller oder Friedrich August von Kaulbach goutierten die Vorstellungen und malten danach – ausgehend von den Fotos – Porträtstudien des Mediums, deren Reproduktionen schließlich Magnin wiederum als zusätzliche Werbemittel, zusammen mit dem von ihm selbst produzierten Fotos und Abdrücken der Zeitungsartikel über die Vorstellungen, in sein 1905 veröffentlichtes Buch L’art et l’hypnose. Interprétation plastique d’œuvres littéraires et musicales über die Magdaleine aufnahm.131 Keller dienten die Fotos außerdem als Bild-Findungs-Mittel, also als Vorlagen bzw. Anregungen für seine (prä)symbolistischen Bildschöpfungen nach der Jahrhundertwende.132 Wie hat nun Keller selbst, der bisher – nicht zuletzt aufgrund der geringen Zahl autobiographischer schriftlicher Quellen133 – noch gar nicht zu Wort kam, die Bedeutung des weiblichen Mediums und der von ihm benützten technischen Medien verstanden? Der ehemalige Literaturkritiker der Münchener Neuesten Nachrichten und dann Chefredakteur der in Georg Hirths Verlag herausgegebenen Jugend, Fritz von Ostini hat in einem Nachruf auf Keller 1920 dessen lebhaftes „Interesse an allen ‚mediumistischen und okkulten Dingen‘“ betont und in diesem Zusammenhang Kellers Satz überliefert: Ich habe durch die hierbei hervorgerufenen Nerven- und Gemütszustände der [Versuchs-]Objekte und besonders durch deren ins Wunderbare gesteigerte Ausdrucksfähigkeit einen außerordentlichen Reichtum von Erfahrung über Erscheinung und Darstellung psych-
131 Magnin: L’art et l’hypnose. 132 Zuordnung Albert von Kellers zum Präsymbolismus: Buhrs/Ludwig: Die Münchner Secession 1892-1914, S. 152-181; dazu: Ehrhardt/Reynolds: SeelenReich. 133 Keller: „Künstlerisches Gutachten“; ders.: [Autobiographische Aufzeichnungen]; Kollektion Albert von Keller; Magnin: L’art et l’hypnose, S. 392f.; Berlepsch: „Alfred Keller“. Weitere Informationen über erhaltene und vernichtete schriftliche Nachlassteile bei Müller: Albert von Keller [1981], S. 8, 164; ders.: Albert von Keller [1984], S. 16f., 30, 41.
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ischer Affekte [von Schrenck-Notzing als ‚Gemütsbewegungen‘ übersetzt; U.L.] des Menschen gesammelt.134 Keller dankte Magnin im Dezember 1904 ausdrücklich für die aus den Affektausdrücken der Magdeleine gezogene Inspiration für eine psychisch vertiefte Porträtkunst, d.h. einer beseelten Malerei.135 Carl du Prel hatte bereits im ersten Kapitel seines Werkes Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften – das Kapitel ist überschrieben mit Die seelische Thätigkeit des Künstlers – durchaus eine Beschreibung der Malerei gegeben, welche Kellers Auffassung nahe stand: Diese „seelische Thätigkeit“ liege „an der Grenzscheide zwischen Bewusstsein und Unbewusstem“ (letzteres sei die „Seele“). Der höchste Gegenstand der Kunst sei das Seelenleben des Menschen. Sie könne aber „das Seelenleben des Menschen nur soweit darstellen, als sich dasselbe äußerlich ausdrückt“. Anders gesagt, dem Künstler stelle sich das Problem, „Inneres durch Äußeres auszudrücken“. Die Seele äußere sich in „Mienen und Gebärden“. „Empirisch“ werde die Seele aber vor allem „in den mystischen Erscheinungen“, als da sind „Somnambulismus“ und „Hypnotismus“.136 Die Kulturtheorie hinter dieser psychologischen Malerei wiederum hat Schrenck-Notzing unter Berufung auf die Forschungen von Joseph Breuer, Sigmund Freud und Willy Hellpach formuliert: Der moderne Kulturmensch benimmt sich selten so, wie ihm zu Mute ist. Unsere Zeit liebt es, ihre innersten Gefühle zu verstecken. Außerdem wirkt eine Unterdrückung der Ausdrucksbewegungen als Mäßigung auf den Grad der Gemütsbewegung zurück, ebenso wie andererseits der ungehemmte Ablauf einer Emotion den Affekt steigert. Es wäre für uns geradezu eine Überraschung, wenn eine wohlerzogene erwachsene Person sich ihrem Schmerz, ihrer Freude rückhaltlos hingeben würde. Die Rücksicht auf unsere Nebenmenschen spielt dabei gewiss eine mitbestimmende Rolle. Die Aufgabe der Erziehung ist es, die einem Gefühlserlebnis zugeordneten psychogenen Erscheinungen auf ein kleineres Maß herabdrücken zu lernen. Bei den unberechenbaren Folgen ungehemmter Entladung der Affekte in den psychogenen Ausdruckserscheinungen ist die Beherrschung derselben eine Notwendigkeit […]. Wir sind gebunden, gehemmt durch soziale 134 Ostini: „Albert von Keller †“, auch zitiert bei Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 204. 135 Magnin: L’art et l’hypnose, S. 392f. 136 Du Prel: Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften, Bd. 1, S. IV, 1ff.
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Rücksichten, durch bereits ererbte Gewohnheiten und der Ausdruck unseres Gemütslebens ist verkümmert. Kein Wunder, dass unsere bildende und darstellende Kunst darunter zu leiden hat […]. Angesichts der vorstehenden Erwägungen bedeutet die Anwendung der hypnotischen Methode, um Affektausbrüche photographisch zu fixieren, einen großen Fortschritt.137 Aus gesellschaftlicher Rücksicht verdrängte Affekte ließen sich nach damaliger Vorstellung dramaturgisch inszenieren, jedoch nicht im üblichen Theaterbetrieb, weil dort der Schauspieler nur angelernte Gefühle spiele, aber nicht seine eigenen wirklich auslebe.138 Erst das von Charcot in der Salpêtrière erfundene neue Hypnose-Theater ermöglichte den ungehemmten Gefühlsausbruch insbesondere bei weiblichen Medien, wobei Schrenck-Notzing aber im Falle der Magdeleine deutlich von Charcots ‚Erfindung der Hysterie‘ abrückte. Waren die Hypnotisierbarkeit und Trance für diesen Mitbegründer der neuen französischen Psychopathologie Ausdruck der Hysterie,139 so hielt sich SchrenckNotzing ebenso wie Keller an die Revision dieser Pathologisierung durch den Genfer Psychologen Théodore Flournoy:140 In der Trance konnten sich die kreativen Kräfte des Unbewussten entfalten, die oft weit schöpferischer waren als die im bewussten Zustand geäußerten.141 Die ‚Traumtänzerin‘ nutzte die in diesem ärztlich sanktionierten gesellschaftlichen Freiraum nicht nur mögliche, sondern sogar erwartete Chance zur Selbstexpression wie einst schon die spiritistischen Trancemedien bei ihren Séancen.142 Gleichzeitig modernisierte sie den traditionellen spiritistischen Mediumismus (Beschwörung der Geister der Toten) durch Verbindung der hypnotisch induzierten Trance mit dem modernen Ausdruckstanz. Und der Maler Albert von Keller fand, angeregt durch die ästhetische Theorie von Du Prel – über das technische Medium der angeblich im kataleptischen Zustand produzierten Fotgrafien – einen Weg zu einer die konventionelle Porträtkunst sprengenden psychischen Expressivität. Er baute dabei fotografische Zitate aus dem Mediumismus und Tanz in seine Gemälde ein. Er verwandelte so die Gestalt des Mediums: vom Tanz über die Fotografie zum psychologisch vertieften Bildnis.
137 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 74ff. 138 Ebd. 139 Vgl. Gilles de la Tourette: Die Hysterie. 140 Vgl. dessen Vorwort zu Magnin: L’art et l’hypnose, S. XIII-XV; Flournoy verfasste ferner Choréographie somnambulique: le cas de Magdaleine G. (1904). 141 Shamdasani: „Encountering Hélène“. 142 Edelman: Voyantes, guérisseuses et visionnaires en France.
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Kellers psychologische Erneuerung der Malerei beruhte jedenfalls ganz wesentlich auf persönlich erlebten und fotografisch fixierten Affektstudien an hypnotisierten weiblichen Medien. Während Maler wie Lenbach oder Stuck mehrere tausend Porträt-Fotos im Arbeitsprozess einsetzten,143 arbeitete Keller bei seinen Porträts ohne solche technische Hilfsmittel.144 Die einzige Ausnahme waren die Fotos von Hypnotisierten, sozusagen einem Spezialbereich der Fotografie des Okkulten.145 Dabei trachtete er danach, die bei der Hypnose zutage tretenden flüchtigen psychischen Vorgänge auf dreifache Weise zu fixieren: durch die bei den Trancemedien hypnotisch ausgelöste Katalepsie mit Hilfe des Hypnotiseurs, durch die Fotografie dieses kataleptischen Zustandes mit Hilfe des Fotografen und schließlich durch die Umsetzung von Erlebnis und Fotos in seinen eigenen Bildvisionen. Insgesamt aber misstraute Keller der Fotografie und bevorzugte Naturstudien. So betonte er, für seine Auferweckung habe er ausführliche Vorstudien in der Münchner Anatomie gemacht (vgl. Abb. 12).146
Abbildung 12: Albert von Keller, Studie einer weiblichen Leiche (1885).147
143 Raff: Modell und Maler; Drude: „Das ‚Lichtwunder‘ in der ‚Malfabrik‘“; Danzker: Franz von Stuck und die Photographie. 144 Zu Ausnahmen: Müller: Albert von Keller [1981], S. 19. 145 Dichter: The Message; Chéroux/Fischer: The Perfect Medium; Fischer/Loers: Im Reich der Phantome; Krauss: Jenseits von Licht und Schatten. 146 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 54f. 147 Ich entnehme die Abbildung Rosenhagen: Albert von Keller, S. 55. Vgl. auch oben Abbildung 3.
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Er habe dort für eine 1895 (recte 1894) entstandene Kreuzigung148 (vgl. auch Abb. 11) eigenhändig eine Leiche an ein von ihm bestelltes Kreuz genagelt und dort sechs Tage lang ohne Unterbrechung – bis zur „Dekomposition und Defiguration des Originales“ – sechs große Vorstudien149 verfertigt: „Das ist nicht angenehm, aber das Arbeiten vor einer Leiche degoutiert mich nicht in dem Maße, als das Schaffen eines Bildes, das ich, wie es heutzutage manche Größen machen, mit Hilfe von Photographien, Gipsabgüssen und den sonst üblichen Hilfsmitteln zusammengequält hätte.“ Das sei „Schwindel“.150 Er sah die Fotografie auch als Konkurrentin der Malerei und als schließliche Siegerin über diese: „Man erfinde die farbige Fotografie, und die Maler sind gewesen.“151 Mitte der 1930er Jahre kamen die ersten Farbfilme auf den Markt; der begnadete Kolorist Albert von Keller hat es nicht mehr erlebt. Aber es gibt noch eine andere Pointe: Alfred von Keller verdankte seine Berühmtheit als Maler nicht zuletzt der Fotografie! In Die Kunst für Alle wurden umfangreiche monografische Artikel über ihn veröffentlicht, ergänzt mit zahlreichen fotografischen Reproduktionen seiner Kunstwerke.152 Veranlasst durch deren Verleger Friedrich Bruckmann spielte in dieser bürgerlichen Kunstzeitschrift erstmals die Reproduktionsfotografie eine zentrale Rolle.153 Und Bruckmanns Münchner Verlag war es auch, der 1899 das großformatige Werk mit zwanzig „Photogravüren“ von Kellers Gemälden herausgab.154 Preislich war das allerdings keine „Kunst für Alle“.155
5.
Das ‚Zeitalter der Nervosität‘ und der Okkultismus eines ‚Metapsychikers‘
War das, was dieser Maler mit dem „Innenleben des Träumers“ und dem „Hang zu mystischer Versenkung“ – so Kellers Freund Hugo von Haber-
148 Vgl. ebd., S. 95; Müller: Albert von Keller [1981], S. 87 oben. 149 Vgl. Rosenhagen: Albert von Keller, S. 92f. 150 Berlepsch: „Albert Keller“, S. 197. 151 Brief Albert von Kellers an Fritz von Ostini, zitiert bei Müller: Albert von Keller [1981], S. 164. (Die Orthographie des Zitats wurde wohl von Müller modernisiert.) 152 Berlepsch: „Alfred Keller“; Ostini: „Albert von Keller. Zum 60. Geburtstage“; ders.: „Albert von Keller. Zum siebzigsten Geburtstag des Künstlers“. 153 Meister/Brantl: Ein Blick für das Volk. 154 Keller: Zwanzig Photogravüren [1899, 1900]. 155 „Folioformat, in elegantem Lederband 60 Mk.“ (Albert von Keller: Zwanzig Photogravüren [1900], S. 1).
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mann, Präsident der Münchner Secession, bei der Grabrede 1920156 – in den Fotos der Trancemedien und in den sie verarbeitenden Gemälden suchte, noch die unsterbliche Seele, welcher auch die Spiritisten und Carl du Prel nachspürten, oder nur die suggestiv induzierte Äußerung von Triebaffekten? War das künstlerische Ergebnis eine ‚religiöse Malerei‘? Ein Zeitgenosse wie der Kunstschriftsteller Alfred Rosenberg hat das uneingeschränkt bejaht.157 „Kirchliche Kreise, die in der religiösen Kunst alles Hinausgehen über das Hergebrachte ängstlich perhorreszieren, feinden Kellers Christusbilder […] an […].“158 Hans Rosenhagen, Kellers Biograph, hielt den Maler lediglich für abergläubisch und wunderte sich, dass der „so freidenkende und skeptische Mann“ unerschütterlich „an mediumistische Offenbarungen und die Auskünfte von Wahrsagerinnen“ glaubte – habe er sich doch in Paris von der Chiromantin Freya die Zukunft vorhersagen lassen, in München von der Baronin Perfall, und die Prophezeiungen für wahr gehalten.159 Der langjährige Freund Schrenck-Notzing schrieb im Nachruf auf den „Malerpsychologen und Metapsychiker“ Keller: Philosophische Probleme und Grenzfragen des Seelenlebens interessierten ihn seit der Studentenzeit; sein intuitives, grüblerisches, ja träumendes und visionäres Wesen führte unwillkürlich zu seelischer Vertiefung und zu dem Streben, eigenartige, schwierige psychologische Probleme zu bearbeiten.160 Im Gegensatz zu Schrenck-Notzing war er nicht am heftigen ärztlichen Streit über Schwindel oder Echtheit der ‚experimentellen‘ Hypnose-Vorgänge interessiert.161 Im Namen der Münchner Künstlerschaft dankten u.a. Friedrich August von Kaulbach, Franz Stuck und Albert von Keller der Traumtänzerin nach ihrem Münchner Auftritt öffentlich „für die außerordentliche Fülle von 156 Habermann: Grabrede für Albert Ritter von Keller. 157 Rosenberg: Die Münchener Malerschule, S. 80. 158 Ostini: „Albert von Keller. Zu seinem 60. Geburtstage“, S. 352. 159 Rosenhagen: „Erinnerungen an Albert von Keller“, S. 202. Doch war dieser ‚Aberglaube‘ bei Keller durchaus ironisch gebrochen. So erklärte er bei dem Festbankett, das die von der Münchner Secession 1908 veranstaltete Ausstellung seines malerischen Lebenswerkes eröffnete, launig: „Ihr hättet mir vielleicht nicht das Fest von heute bereitet, wenn ihr gewusst, was ich weiß: Eine Somnambule hat mir 100 Jahre verheißen“ (Popp: „Alfred von Keller“, S. 168). 160 Schrenck-Notzing: „Albert von Keller als Malerpsychologe und Metapsychiker“, S. 193. 161 Er gab dazu nur ein ‚künstlerisches‘ Gutachten ab: Keller: „Künstlerisches Gutachten“.
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ästhetischer Anregung und Genuss, welche uns durch die Gelegenheit der Beobachtung ihres Reichtums an Ausdrucksfähigkeit und herrlichen Bewegungen zuteil wurde“.162 Denn Keller ließ sich im Schwebezustand der ‚Illusion‘ malerisch inspirieren. So meinte Fritz von Ostini in seinem Nachruf, Keller habe den Dingen des Lebens gegenüber den „beneidenswert glücklichen Standpunkt des genießenden, nicht streng kritisierenden Zuschauers“ gehabt, „der sich seine Illusionen wahren will“. Und als Beispiel führte er als eigene Worte Kellers an: ‚Ich bin auch dem Theater gegenüber so nachsichtig wie möglich – und zwar aus Egoismus. Ich glaube dem Dichter und seinen Interpreten alles, wehre mich mit allen Kräften dagegen, mich durch Mängel des Werkes oder der Darstellung aus der Illusion reißen zu lassen, glaube, dass ich es mit der Wirklichkeit zu tun habe, ganz wie ich bei mediumistischen Dingen und Darstellungen alles glaube – dadurch verlebe ich Stunden des gespanntesten Interesses und fesselnder Erlebnisse und Erregungen.‘163 Es verwundert demnach nicht, dass Schauspielerinnen ihn faszinierten: Die letzte ernsthafte Liebe seines Lebens war Camilla Eibenschütz vom Deutschen Theater in Berlin [unter Max Reinhardt; U.L.], das vor etwa dreizehn Jahren im Münchner Künstlertheater gastierte […]. Er hat sie in der Rolle der Myrrhine in des Aristophanes ‚Lysistrata‘ gemalt,164 versäumte keine Vorstellung, in der sie auftrat, und äußerte die feste Absicht, sie zu heiraten. Es scheint, dass sein Antrag entweder schließlich nicht gestellt oder ausgeschlagen wurde. Die Eibenschütz war ein Traum dieses leidenschaftlichen Träumers, der sich nicht erfüllt hat.165 Mit seinem Glauben an die ‚Illusion‘ wurde Keller wohl der Mischung von Schein und Sein bei den Medien – vom Trancemedium bis zur Fotografie – und dem Wesen der Kunst zwischen Abbild und Täuschung am ehesten gerecht. Seine Kunst sollte die ‚Seele‘ darstellen – ebenso göttlich wie flüchtig und deshalb nur durch die Fotografie von hypnotisierten Medien festzuhalten – und ihr Wesen in dunklen ‚mystischen Bildern‘ enthüllen. Dabei moderni162 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G., S. 101. 163 Ostini, „Albert von Keller †.“ 164 Vgl. Müller: Albert von Keller [1981], S. 136 (Myrrhine erwartet ihren Geliebten), 232. 165 Rosenhagen: „Erinnerungen an Albert von Keller“, S. 203.
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sierte er traditionelle christliche Themen (Golgatha, Märtyrer/innen- Kreuzigungen, Hexenverbrennungen, Stigmatisierungen, Wunderheilungen und Totenerweckungen) durch Psychologisierung und symbolische Verallgemeinerung.166 Er vermochte so in der Malerei auf seine Weise das damals auch in der Kunst in Entdeckung befindliche ‚Unbewusste‘ darzustellen.167 Es blieb dabei schon einigen von Kellers Zeitgenossen nicht verborgen, dass sein ‚Okkultismus‘ sehr viel mit dem ‚Zeitalter der Nervosität‘ zu tun hatte, ja den Zeitgeist kulturpsychologisch widerspiegelte.168 Er sei, hieß es etwa, „ein Schilderer nervöser Überkultur und exzentrischer Lebensäußerungen“.169 Dies galt sowohl für seine schon damals gerühmten „Damen“-Bildnisse170 – von heutigen Kunst- und Kulturwissenschaftler/inne/n grob unterschätztes Spiegelbild gesellschaftlicher Zustände und Prozesse171 – wie für seine einst vielfach abgelehnten ‚metaphysischen‘ Bilder. Keller, so schon ein Zeitgenosse, „gibt die Dame als Kulturausdruck“: „Ihre Psyche ist […] ein Nervensprühen […], ihr Schmelz besteht im Sensitiven“. Und: Ihre Caprice und Unberechenbarkeit gibt sie gern als Gefühl aus; das Sensationelle bereitet ihr ein geheimes Behagen. Ihr Lebenselement ist das gesellschaftliche Raffinement, die Finesse, mit der sie bald erkünstelte Naivität, bald ein pointiertes ‚Nil admirari‘ zur Schau trägt, den fasziniert und jenen abstoßt, um vor einem dritten die wild pochenden Pulse unter erzwungener Gleichgültigkeit zu verbergen.172 Vergessen wir es nicht: Auch seine ‚okkultistischen‘ Bilder stellen ausschließlich Frauen dar, hypersensitiv, aus dem Unbewussten schöpfend, so wie er
166 Zänker: Crucifixae; Wildenbruch: Claudias Garten. Zu Unrecht hat die marxistische und feministische Literatur deren ‚pornographische‘ Deutung bevorzugt: Bronfen: Over Her Dead Body; Dijkstra: Idols of Perversity; Hamann/Hermand: Naturalismus; ferner Karentzos: Kunstgöttinnen; Stelz: Hexenwelt. Richtig ist, dass auch Keller von gegensätzlichen Geschlechter-Stereotypen ausging: So äußerte er in einem Gespräch in seinen letzten Lebensjahren: „Nun ich in die Jahre gekommen bin, möchte ich Männerporträts malen: etwas Starkes, Einfaches, Menschliches und Gesundes“ (Elias: „Albert von Keller“, S. 319). 167 Corradini: „Die Erforschung des Unbewussten“. 168 Radkau: Das Zeitalter der Nervosität; Eckert: „‚Die wachsende Nervosität unserer Zeit‘“. 169 Elias: „Albert von Keller“, S. 318. 170 Rüttenauer: „Albert Keller als Frauenmaler“; dazu: Muyers: Das bürgerliche Portrait im Wandel, S. 138ff. 171 Zur Bedeutung des Salons vgl. Treichler: Die stillen Revolutionen. 172 Popp: „Alfred von Keller“, S. 144.
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selbst als Künstler auch „jene starke Neigung zum Ergründen und Ausdeuten verborgenster Seelenregungen“ besaß sowie die Fähigkeit, ‚automatisch’ aus seinem Unbewussten bildliche ‚Visionen‘ zu schöpfen:173 Zu fast noch größerer Höhe aber steigern sich sein koloristisches Können und dessen stimmungsgebendes Ausdrucksvermögen in den zahlreichen Darstellungen, in denen er das Gebiet des Mystischen und Übersinnlichen betritt, die Wollust des Leidens in dem lächelnden Hinsterben von Märtyrerinnen; die Auferweckung vom Tode und das dämmernde Wiedererwachen zum Bewusstsein, das verzückte Schauen der Hellseherin und mehr oder weniger verwandte, geheimnisvoll verschleierte Zustände eines der Sphäre des täglichen Lebens entrückten, nervös erregten seelischen Daseins mit seltener Kunst psychologischer Beobachtung und Charakteristik schildert. […] so scheint es fast selbstverständlich, dass für eine derartig angelegte Künstlernatur das Weib im Mittelpunkt seines Schaffens steht (vgl. Abb. 13).174 Auch Kellers ‚mystische‘ Religiosität bzw. sein ‚okkultistischer Aberglauben‘ gehörten zum ‚Zeitalter der Nervosität‘: In Keller äußert sich durchaus der moderne Subjektivismus, der hinter allen derartigen [traditionellen religiösen Themen; U.L.] Erscheinungen das Problematische spürt und sie um dessentwillen zum Gegenstand seines Studiums, seiner Vertiefung und künstlerischen Gestaltung macht. Der dogmatische Gehalt wird in das Menschliche übertragen, das Erbauliche weicht dem Interessanten, das Innerliche dem Geistreichen oder allgemein Gefühlmäßigen; das Mystische erhält einen Stich ins Okkultistische.175 Kellers Malerei war mit dieser Psychologisierung religiöser Sujets Ausdruck einer „Religion im Umbruch“ um 1900.176 In seinen Bücherschränken standen u.a. die Bibel, die parapsychologische Literatur von Du Prel und SchrenckNotzing, Ludwig Büchners Kraft und Stoff sowie Darwins Werke!177
173 Fendler: „Albert von Keller“, S. 518. Dazu Linse: „The ‚transcendental‘ Painting of Albert von Keller“. 174 Ebd., S. 516ff. 175 Popp: „Alfred von Keller“, S. 162. 176 Nipperdey: Religion im Umbruch. 177 Müller: Albert von Keller [1984], S. 27f., 42.
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Abbildung 13: Albert von Keller, Hexenschlaf (1888).178
Sowohl für die Kunst wie den Okkultismus dieses ‚Metapsychikers‘ war aber bedeutsam, dass hier weibliche Trancemedien und ihre Fotografien eine zentrale Rolle spielten. Damit belegt die vorliegende Studie erneut Sonu Shamdasanis Aussage über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Was in den Séancen vor sich ging, schlug die führenden Köpfe der Zeit in ihren Bann, und hatte entscheidende Auswirkungen auf viele der bedeutsamsten Aspekte der Psychologie, Linguistik, Philosophie, Psychoanalyse, Literatur und Malerei des 20. Jahrhunderts […].179 Inzwischen ist die Bedeutung des ‚Okkultismus‘, des Mediumismus und der so genannten Gedankenfotografie für die ‚Dematerialisation‘ in Wassily
178 Ich entnehme die Abbildung Rosenhagen: Albert von Keller, S. 71. 179 Shamdasani: „Encountering Hélène“.
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Kandinskys Malerei während seiner Münchner und Murnauer Zeit (seit 1896 bis 1914) erforscht.180 Kandinsky selbst hatte ausdrücklich in seiner für den Künstlerkreis ‚Der blaue Reiter‘ (ab 1911) programmatischen Schrift Über das Geistige in der Kunst (1911/12) auf den bedeutsamen Beitrag von Spiritismus und Theosophie, von Hypnose und Vereinigungen wie der Pariser ‚Société des Ètudes psychique‘ für die erhoffte „geistige Wendung“ hingewiesen.181 Durch diese Anstöße sollten in der Kunst „unkörperliche“, „übersinnliche“ „Seelenvibrationen“ eine neue „Epoche des großen Geistigen“ heraufführen.182 Wir konnten nun zeigen, dass sich in der Münchner Kunstszene schon ab 1886, also bereits zu Beginn, nicht erst am Ende der Prinzregentenzeit (Prinzregent Luitpold von Bayern, 1886-1912) bei Albert von Keller mittels seiner Rezeption der mediumistischen Fotografie ein Durchbruch hin zu einer ‚beseelten‘ Malerei ereignete. Hier werden also Kontinuitäten in den Theorien und Praktiken der damaligen künstlerischen Avantgarde sichtbar, die vor dem Hintergrund von ‚Münchens okkultistischem Netzwerk‘183 während des Kaiserreichs verständlicher werden.
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Literatur Ackermann, Marion: „‚Eine Sprache, die besser wirkt als Esperanto‘ – Überlegungen zum Einfluss des Spiritismus auf Kandinsky“, in: Baßler, Mo180 Zimmermann: „Der Bauhaus-Künstler Kandinsky“; Ackermann: „‚Eine Sprache, die besser wirkt als Esperanto‘“; Loers: „‚Das Kombinieren des Verschleierten und des Blossgelegten‘“. 181 Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, S. 45ff; über modernen Tanz vgl. ebd., S. 127ff. 182 Ebd., S. 50, 123 Anm. 2, 136, 147. 183 Loers/Witzmann: „Münchens okkultistisches Netzwerk“.
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Parapsychologische und psychiatrische Konstruktionen des Mediumismus um 1900 Ab den 1880er Jahren kam es zu zahlreichen Gründungen parapsychologischer Gesellschaften im europäischen Raum und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die bekannteste, bis heute existierende britische Society for Psychical Research wurde 1882 gegründet, die US-amerikanische in den Jahren 1884-85.1 Ziel dieser Gesellschaften war die wissenschaftliche Erforschung der außergewöhnlichen Phänomene, die anlässlich der Séancen spiritistischer Medien oder bei hypnotisierten bzw. magnetisierten Personen auftraten: automatisches Aufschreiben der Mitteilungen vermeintlicher Geister, Materialisationen, Fernbewegungen, Gedankenübertragung, Hellsehen, Wahrträume, unmittelbare Krafteinwirkungen zwischen Magnetiseuren und Magnetisierten (‚Rapport‘). Viele dieser Phänomene waren bereits von den Magnetiseuren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachtet und beschrieben worden. Da sie zumeist in Zusammenhang mit der hypnotischen Trance bzw. dem Somnambulismus auftraten, wurden sie für Forscher, die sich ab den 1880er Jahren mit der Hypnose befassten, ein zentraler Untersuchungsgegenstand. Zudem wurde eine wachsende Öffentlichkeit Zeuge der medialen Produktionen: zahlreiche Bühnenmagnetiseure bereisten Europa und die zunehmende Kommerzialisierung des Spiritismus ging mit der Veranstaltung (halb)öffentlicher Vorträge und Séancen mit Medien einher.2 Die meisten Ärzte waren durch öffentliche Schaustellungen zum ersten Mal mit der Hypnose konfrontiert worden. So lösten die Auftritte des Bühnenmagnetiseurs Carl Hansen (1833-1897) zu Ende der 1870er Jahre in Deutschland und Österreich eine regelrechte Forschungsphase bei einer Reihe von Medizinern aus. Die öffentlichen Darbietungen stießen allerdings auch auf behördlichen Widerstand: der preußische Kultusminister ließ 1881 von der ‚Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen‘ ein Gutachten über die Veranstaltungen Hansens erstellen. Gestützt auf die Studien des Physiologen Rudolf Heidenhain (1834-1897), der die Echtheit der hypnotischen Phänomene (wie Muskelstarre oder Halluzinationen) bestätigte, jedoch unter Negierung der Existenz eines magnetischen Fluidums rein physiologisch erklärte, kam die Deputation zu dem Ergebnis, dass gesundheitliche Schädigungen der
1
Das genaue Gründungsdatum ist unklar.
2
Sawicki: Leben mit den Toten, S. 337.
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Hypnotisierten nicht auszuschließen seien. Im Jahr 1881 erließ das Innen- und Kultusministerium ein Verbot der öffentlichen Vorstellungen Hansens oder anderer „sogenannter Magnetiseure“.3 Dabei wurde nicht nur das Argument der Gesundheitsschädigung angeführt, sondern auch Störungen von ‚Ruhe und Ordnung‘ sowie die Beförderung von Aberglauben. Diese behördlichen Bedenken hatten bereits bei den Auseinandersetzungen mit dem animalischen Magnetismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle gespielt. Ein neues Argument kam hinzu: eine mögliche Verleitung zum Missbrauch. Man befürchtete, den Hypnotisierten könnten Verbrechen suggeriert werden.4 Das deutsche Pendant zur Londoner Society for Psychical Research waren die 1886 gegründete Psychologische Gesellschaft in München, unter der Leitung des Privatgelehrten und Philosophen Carl du Prel (1839-1899) und des Arztes Albert von Schrenck-Notzing (1862-1929) sowie die 1888 gegründete Gesellschaft für Experimental-Psychologie in Berlin, zu deren Mitgliedern die Ärzte Max Dessoir (1867-1947) und Albert Moll (1862-1939) sowie der Philosoph Eduard von Hartmann (1842-1906) zählten.5 Eine Besonderheit des ‚wissenschaftlichen Okkultismus‘6 in Deutschland war, dass sich die wichtigsten Experimentatoren – Max Dessoir, Albert Moll und Albert von SchrenckNotzing – zugleich um die Etablierung der ärztlichen Hypnose als Behandlungsverfahren bemühten. Sie waren Anhänger der französischen HypnoseSchule von Nancy, deren Leiter, Hippolyte Bernheim, 1884 die psychologische Suggestionstheorie zur Erklärung der Hypnose eingeführt hatte. Damit erklärte er, dass die an der Pariser Salpêtrière beobachteten physischen Phänomene des Hypnotismus, die berühmten drei Hypnose-Phasen von Charcot7, die Kontrakturen, der magnetische Transfert der Symptome, aber auch die Effekte des Magnetismus ausschließlich durch die Suggestion, d.h. die Vorstellung des Hypnotisierten, zustande kamen.8 Ab dem Ende der 1880er Jahre distanzierten sich die deutschen HypnoseÄrzte Schrenck-Notzing und Dessoir von ihrer ursprünglichen Absicht, durch 3
Teichler: ‚Der Charlatan strebt nicht nach Wahrheit, er verlangt nur nach Geld‘, S. 160.
4
Freytag: ‚Zauber-, Wunder-, Geister- und sonstiger Aberglauben‘, S. 282f.
5
Das Publikationsorgan der beiden Gesellschaften war die von Hübbe-Schleiden 1886 begründete Zeitschrift Sphinx, die sich mit Okkultismus, Spiritismus und Theosophie befasste.
6
Der von Max Dessoir 1889 eingeführte Begriff ‚Parapsychologie‘ etablierte sich erst in den 1920er Jahren.
7
Katalepsie (Muskelstarre), Lethargie (Muskelerschlaffung), Somnambulismus (tiefe Trance).
8
Bernheim: Die Suggestion und ihre Heilwirkung, S. XIVf.
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eine experimentelle Überprüfung etwa der Gedankenübertragung eine Unabhängigkeit der Seele nachzuweisen und dadurch eine ‚experimentelle Metaphysik‘ zu begründen.9 Dies entsprach den ursprünglichen Programmen der Münchener Psychologischen Gesellschaft und der Berliner Gesellschaft für Experimental-Psychologie. 1889 wurde das Programm der Berliner Gesellschaft unter Lossagung von der ‚Transzendental-Psychologie‘ revidiert. Im selben Jahr kam es zu einer Spaltung der Münchener Gesellschaft, bei der die ‚metaphysische‘ Gruppe um Carl du Prel austrat und der Rest der Münchener Gruppe um Schrenck-Notzing mit der Berliner Gesellschaft fusionierte. 1890 wurde eine Psychologische Gesellschaft mit Zweigstellen in München und Berlin gegründet. Als Anhänger der Hypnose-Schule von Nancy stimmten Dessoir, Moll und Schrenck-Notzing darin überein, dass die Lehre des Magnetismus mit ihrem unsichtbaren Fluidum weitgehend durch die Suggestions-Formel überwunden sei.10 1892 veröffentlichte Albert Moll die Ergebnisse der von ihm durchgeführten Untersuchungen zur Überprüfung des magnetischen Rapports (der von den Mesmeristen angenommenen spezifischen Beziehung zwischen dem Magnetiseur und der magnetisierten Person, die durch eine unmittelbare Kraft- oder Willenseinwirkung charakterisiert war).11 Obwohl er einige erstaunliche positive Ergebnisse erzielt hatte, bei denen Versuchspersonen magnetisierte Wassergläser und Spielkarten identifizierten, fiel sein Fazit negativ aus; das Rapport-Phänomen erklärte er ausschließlich durch die Suggestion. In seinem Lehrbuch zum Hypnotismus betonte Moll, dass das Aufdecken von Fehlerquellen im Beweismaterial der Okkultisten die „wahre Aufklärung“ gegen Aberglauben, Schwindel und Scharlatanerie fördere.12
9
1892 gründete Hübbe-Schleiden in Berlin die theosophische Vereinigung, deren Publikationsorgan die Sphinx wurde (bis zum Ende ihres Erscheinens 1896). Vgl. Kurzweg, Die Geschichte der Berliner ‚Gesellschaft für Experimental-Psychologie‘, S. 254-269; Bauer: „Spiritismus und Okkultismus“.
10 In den Jahren 1889 bis 1891 engagierten sich Schrenck-Notzing, Dessoir und Moll gemeinsam für den ärztlichen Hypnotismus und für die Einführung der Suggestionslehre der Schule von Nancy in Deutschland. Vgl. Moll: Ein Leben als Arzt der Seele, S. 277ff. 11 Moll: Der Rapport in der Hypnose. 12 Als Beispiel nannte er die psychologische Erklärung des automatischen Schreibens durch die Untersuchungen von Frederic Myers, Pierre Janet, Max Dessoir u.a., die dem Spiritismus eine wichtige Stütze entzogen habe. Vgl. Moll: Der Hypnotismus, S. 322f.
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Andere in der Hypnose engagierte Ärzte wie Eugen Bleuler, August Forel oder Leopold Löwenfeld äußerten sich weniger skeptisch.13 Die Möglichkeit einer ‚übersinnlichen‘ Gedankenübertragung wurde nicht geleugnet, wenngleich sie das Phänomen für äußerst selten hielten. Bezüglich einer Interpretation waren sie eher zurückhaltend. Einig waren sie sich in der Ablehnung einer spiritistischen Erklärung; vielmehr waren die Ärzte davon überzeugt, dass sich die Ursache eines Tages im Kontext naturwissenschaftlicher Kausalgesetze finden ließe. Es fällt auf, dass bei den Erklärungen häufig auf Neuentdeckungen und Entwicklungen im Bereich der Technik Bezug genommen wurde, so brachte man die Telepathie mit dem Telefon oder der drahtlosen Telegraphie in Zusammenhang. Der Nachweis unsichtbarer Strahlen zu Ende des 19. Jahrhunderts (die Entdeckung der Röntgen-Strahlen, Hertz’ Nachweis elektromagnetischer Wellen, die Erfindung der praktikablen drahtlosen Telegraphie) machte eine physikalische Grundlage für die Phänomene der Telepathie und Hellsichtigkeit plausibel. Mit den Bemühungen, die Hypnose als therapeutische Methode in die Medizin zu integrieren, wuchs auch der Widerstand in den Reihen der orthodoxen Medizin, vor allem ab dem Ende der 1880er Jahre. Er äußerte sich vor allem in einer heftigen Debatte um die Schädlichkeit der Hypnose.14 Die Hypnoseärzte bemühten sich nachzuweisen, dass die Hypnose als Behandlungsmittel und experimentelle Methode in den Händen von medizinischen Experten zu keinerlei Schädigung führe. Zugleich stimmten sie mit ihren Gegnern darin überein, dass von den Laien (Schauhypnotiseuren, Magnetopathen, Spiritisten) durchaus eine Gefahr ausging. Besonders Moll und Dessoir verfassten aufklärerische Schriften zu ‚okkulten‘ Themen (Telepathie, Hellsehen, Spiritismus), die sie mit der Suggestionsformel und dem Hinweis auf bewussten oder unbewussten Betrug entzauberten.15 Um die Hypnose in der Wissenschaft zu etablieren, mussten sie sich von echtem oder vermeintlichem Mystizismus abgrenzen. Insbesondere Moll, aber auch Schrenck-Notzing, engagierte sich im Kampf gegen die Laienhypnotiseure und -magnetiseure und forderte strenge Gesetze gegen öffentliche Hypnose-Schaustellungen sowie ein ärztliches Mo-
13 Bleuler: „Der Hypnotismus“; Forel: Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psychotherapie, S. 46-77; Löwenfeld: Somnambulismus und Spiritismus. 14 Schott/Wolf-Braun: „Zur Geschichte der Hypnose und der Entspannungsverfahren“, S. 145f. 15 Moll: Gesundbeten; ders.: „Kurpfuschertum und Suggestion“; ders.: Hypnotismus, Tierischer Magnetismus, Spiritismus; ders.: Prophezeien und Hellsehen; Dessoir: „Gespenster Lebender“, ders.: „Zur Psychologie der Taschenspielerkunst“.
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nopol für hypnotische Behandlungen.16 Allerdings schätzte Schrenck-Notzing zu diesem Zeitpunkt die Ergebnisse der telepathischen Forschung wesentlich positiver ein als Dessoir und Moll. Er hatte gerade die Studien zur Gedankenübertragung und zum Hellsehen des französischen Physiologen Charles Richet (18501935) ins Deutsche übersetzt und in einem Vorwort die Forschungsergebnisse im In- und Ausland dargestellt.17 Die Versuche Richets ermöglichten zwar noch keine endgültigen Schlüsse, dennoch gebe es eine große Zahl überzeugender positiver Resultate und die zahlreichen negativen Ergebnisse widerlegten kein einziges positives Experiment. Zugleich bedauerte er, dass das Gebiet in Deutschland „noch nicht einer ernsteren Untersuchung gewürdigt worden sei“.18 Schrencks Abrücken von den metaphysischen Deutungen des Münchner Kreises um Carl du Prel hing wohl mit der Übernahme der positivistischen Einstellung Richets zusammen. Dieser hatte in seinem Schlusswort betont, dass aus dem Studium der „Geheimwissenschaften“ eine „wirkliche Wissenschaft“ auf der Basis des Experiments entstehen müsse. Es gehe vordringlich um die Feststellung von Tatsachen, bevor man irgendwelche Theorien aufstelle. Die Spiritisten, Theosophen, Magnetiseure und Mystiker hätten mit ihren voreiligen Spekulationen dieser Wissenschaft sehr geschadet.19 Die Übernahme dieser Einstellung konnte Schrenck-Notzing nur zu einer Distanzierung von den Spekulationen du Prels und der übrigen Theosophen der Münchner Psychologischen Gesellschaft führen. Zugleich wird hier die zersplitterte Lage der zeitgenössischen Parapsychologie in Deutschland sichtbar: Selbst die drei wichtigsten Experimentatoren waren sich in ihrer Einschätzung der telepathischen Experimente nicht einig. Für Schrenck-Notzing gab es zahlreiche überzeugende positive Ergebnisse, für Dessoir nur einige wenige, Moll zufolge mussten selbst bei den gut kontrollierten positiven Studien noch unerkannte Fehlerquellen vorliegen. Andere Mitglieder der beiden parapsychologischen Gesellschaften in München und Berlin wie Carl du Prel oder Hübbe-Schleiden rückten vom Experiment ab und befassten sich in erster Linie mit metaphysischen Fragestellungen. Somit gab es in Deutschland ab den 1890er Jahren keine wissenschaftliche parapsychologi-
16 Schrenck-Notzing: „Die gerichtliche Bedeutung und mißbräuchliche Anwendung des Hypnotismus“; Moll: „Über Heilmagnetismus und Heilmagnetiseure in forensischer Beziehung“. 17 Richet erhielt 1913 den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Anaphylaxie. Parallel zu seiner medizinischen Forschungsarbeit engagierte er sich für die Parapsychologie in Frankreich. 18 Richet: Experimentelle Studien auf dem Gebiete der Gedankenübertragung und des sogenannten Hellsehens, S. 13. 19 Ebd., S. 253.
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sche Gemeinschaft mehr, die einen programmatischen Konsens bezüglich der Themen, der Theorien, der Methoden und der Beurteilungskriterien hergestellt hätte. Wie sehr experimentelle hypnotische Untersuchungen und Darbietungen außerhalb des ärztlichen Sprechzimmers in Verruf geraten waren, zeigt die zum Teil massive Ablehnung der öffentlichen Auftritte der ‚Schlaftänzerin‘ Magdeleine Guipet, die 1904 auf Einladung von Schrenck-Notzing für mehrere Monate im Münchener Schauspielhaus aufgetreten war. Albert Moll und Wilhelm Wundt sprachen von der Gefährlichkeit solcher Auftritte für die Hypnotisierten.20 Trotz einer allmählichen Anerkennung war der Hypnotismus noch weit davon entfernt, in die medizinische Ausbildung integriert zu werden. Staatliche Behörden und zahlreiche Kommentatoren sahen sowohl im Hypnotismus als auch im Okkultismus eine soziale Gefahr für die öffentliche Ordnung, zumal wenn sich breitere Bevölkerungsschichten damit befassten. In einem 1889 vor der Akademischen Gesellschaft zu Freiburg gehaltenen Vortrag über Gedankenübertragung diagnostizierte der Psychologe und Wundt-Schüler Hugo Münsterberg (1863-1919) den wirtschaftlichen Rückgang mancher ländlicher Gebiete, „weil die Bevölkerung ganz dem Spiritismus verfallen“ sei. An manchen Orten würden sich Arbeiter, Bauern, Schuljungen wechselseitig so häufig hypnotisieren, dass sie schließlich durch den kleinsten Anlass von selbst in Trance gerieten.21 Zweifelsohne herrschte in Deutschland (und nicht nur dort) ab den 1890ern ein Klima, in dem sich junge Wissenschaften wie die akademische experimentelle Psychologie oder der experimentelle und therapeutische Hypnotismus nur behaupten konnten, wenn sie sich von okkulten Grenzgebieten kritisch distanzierten. Insofern verwundert es nicht, dass sich Schrenck-Notzing, Dessoir und Moll – vermutlich zum Teil auch aus taktischen Gründen – in den 1890er Jahren von einem Forschungsprogramm, das die Untersuchungen des Mesmerismus, Somnambulismus und Spiritismus umfasste, zurückzogen bzw. Deutungen dieser Phänomene entwickelten, die sich in den wissenschaftlichen Diskurs einfügen ließen. Bei Schrenck-Notzing war dieser Rückzug allerdings nur von kurzer Dauer, denn ab 1894 begann er sich für die physikalischen Phänomene des Mediumismus zu interessieren.22 Die wirtschaftliche Unab20 Schrenck-Notzing: Die Traumtänzerin Magdeleine G.; Moll: „Von einer Schlaftänzerin...“; ders.: „Sachverständige über die öffentliche Schlaftänzerei“. Vgl. auch den Beitrag von Ulrich Linse in diesem Band. 21 Münsterberg: ‚Gedankenübertragung‘, S. 12. 22 Zusammen mit Richet und anderen experimentierte er mit dem Medium Eusapia Palladino. Vgl. Walther: „Dr. med. Albert Feiherrr von Schrenck-Notzing“.
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hängigkeit durch die 1892 erfolgte Heirat mit Gabriele Siegle, der Tochter des Industriellen und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Gustav Siegle, mag hier eine wichtige Rolle gespielt haben.23 1914 veröffentlichte er seine Untersuchungen mit Eva C. zu den Materialisationsphänomenen, die einige Entrüstung auslösten.24 Bis zu seinem Tod im Jahr 1929 war Albert von SchrenckNotzing der prominenteste Vertreter der Parapsychologie in Deutschland.
1.
Psychiatrische Deutungen des Mediumismus um 1900
Im Vergleich zu den angloamerikanischen Ländern wurde der Mediumismus in Zentraleuropa erst mit einigen Jahrzehnten Verspätung zu einem Untersuchungsgegenstand der Psychiatrie – und dies nur am Rande. Besonders in Deutschland findet man kaum psychiatrische Stellungnahmen zu dem Themenbereich Okkultismus/Spiritismus. Eine der wenigen Darstellungen stammt von Richard Henneberg, und sie wurde durch gerichtliche Aufträge für Gutachten über kommerziell auftretende Medien veranlasst.25 Möglicherweise war die Zurückhaltung der Psychiater dadurch begründet, dass Medien selten als Patienten in psychiatrische Anstalten aufgenommen wurden, worauf Henneberg auch hinweist. Vielleicht bestanden zudem Kontaminierungsängste, vergleichbar mit jenen, die Sigmund Freud äußerte, als er seine Schüler C. G. Jung und Ferenczi vor einer Beschäftigung mit dem Gebiet warnte, um nicht die Psychoanalyse in Verruf zu bringen.26 Hingegen hatte die anglo-amerikanische Psychiatrie den Mediumismus wie auch die Hypnose bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in einen pathologischen Kontext gestellt und im Sinne eines medizinischen Materialismus als Symptome körperlicher Genese, wie Epilepsie oder Autointoxikation durch physiologische Fehlfunktion, Hysterie und/oder als Ergebnis erblicher Degeneration interpretiert.27 So waren für den führenden Psychiater der viktoriani23 Die finanzielle Unabhängigkeit der Forscher war ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der Parapsychologie in Deutschland, da es keine öffentliche Förderung gab und da – im Gegensatz zu England, Frankreich und den USA – kaum private Initiativen vorhanden waren. 24 Schrenck-Notzing: Materialisations-Phaenomene. 25 Siehe unten Abschnitt 4. 26 Zur Zurückhaltung der zeitgenössischen Psychiatrie gegenüber Auseinandersetzungen mit dem Okkultismus siehe Müller: „Die Psychiatrie und das Phänomen der ‚Erscheinungen‘ im späten 19. Jahrhundert“. 27 Vgl. die Kritik von William James am zeitgenössischen medizinischen Materialismus in den Gifford Lectures on the Varietes of Religious Experiences (1901); siehe dazu Brown: „Neurology and Spiritualism in the 1870s“.
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schen Zeit, Henry Maudsley, die ekstatischen Visionen von Mohammed, Saul und Swedenborg auf epileptische Anfälle zurückzuführen; spirituelle Eingebungen und vermeintliche ‚übernatürliche Kräfte‘ sah er als Ergebnis abnormer nervöser Funktionen. Im Folgenden sollen zwei produktive Deutungsansätze des Mediumismus dargestellt werden, die einen – wenn auch nur schwachen – Einfluss auf spätere psychiatrische Interpretationen in Deutschland hatten: die Studien von Pierre Janet und Théodore Flournoy.
2.
Pierre Janet und der Mediumismus
Der französische Arzt und Psychotherapeut Pierre Janet (1859-1947) hatte seine Neurosenlehre auf der Untersuchung hysterischer und somnambuler Patienten und Patientinnen wie auch spiritistischer Medien aufgebaut. Dabei konnte er die simultane Existenz abgespaltener Persönlichkeitsteile nachweisen, die er mittels Hypnose, automatischem Schreiben und Sprechen oder Kristallsehen sowohl explorierte als auch behandelte. Janet bezeichnete den Mediumismus als pathologisch, da seine Phänomene durch eine ernsthafte Störung der Wahrnehmung gekennzeichnet seien, die er als psychologische ‚Desaggregation‘ bezeichnete („désagrégation psychologique“).28 Obwohl Janet den Mediumismus in Analogie zur Hysterie brachte, wies er darauf hin, dass vermutlich nicht jedes Medium hysterisch sei.29 Unter Umständen bestehe eine größere Nähe zu den normalen Phänomenen des Automatismus, also zur Zerstreutheit, zum Tagtraum, die im Leben eines jeden Menschen eine wichtige Rolle spielten.30 Der Mediumismus stelle jedenfalls das vollständigste Beispiel eines „psychischen Automatismus“ dar. Diesen charakterisierte Janet folgendermaßen: Erstens treten unwillkürliche, unbewusste jedoch intelligente Produktionen auf; und zweitens ereignen sich diese Produktionen, während das Denken und das Normalbewusstsein der Person intakt bleiben. Man konnte sich beispielsweise mit einer Person unterhalten oder sie Rechenaufgaben durchführen lassen, während sie gleichzeitig sinnvolle Texte automatisch niederschrieb. Zudem wies Janet darauf hin, dass nur der Kliniker, der über Erfahrungen mit
28 Zitiert nach Shamdasani: „Introduction“, S. XVII. 29 Janet: „Le spiritisme contemporain“. 30 Janet: Névroses et idées fixes, S. 393.
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hysterischen Patienten und mit Medien verfüge, in der Lage sei, die Phänomene adäquat zu bewerten.31 Janets Werk regte eine Reihe weiterer Forscher zu Untersuchungen an spiritistischen Medien an: Flournoy, Jung, Dessoir. Carl Gustav Jung, der 1902/1903 die Vorlesungen Janets in Paris besucht hatte, nahm an, die Seele des Menschen umfasse ein Reihe von ‚Unterpersönlichkeiten‘ (Janets ‚gleichzeitige psychische Existenzen‘).32 Insbesondere der Doyen einer akademisch verankerten Parapsychologie in Deutschland, Hans Bender, baute in den 1950er Jahren sein Konzept der ‚mediumistischen Psychose‘ auf Janets ‚psychologischen Automatismen‘ auf.33 Festzuhalten ist, dass diese zu einem neuen psychologischen Erklärungsparadigma für die mediumistischen Phänomene wurden. Der Arzt und skeptische Parapsychologe Max Dessoir, Mitglied der Berliner Gesellschaft für Experimental-Psychologie, veröffentlichte 1890 Ergebnisse eigener Untersuchungen mit automatischem Schreiben und wollte damit die Existenz eines Doppel-Ich, einer zweiten, unterbewussten Teilpersönlichkeit nachweisen.34 Damit machte er die Forschungen der französischen Autoren (Azam, Binet, Janet) und der britischen Society for Psychical Research (insbesondere Frederic Myers Untersuchungen) zu unterbewussten, intelligenten psychischen Aktivitäten bekannt. Dessoir ging davon aus, dass die unterbewusste Teilpersönlichkeit auch bei wechselnden Bewusstseinszuständen ständig präsent bleibt, allerdings ohne in einen dynamischen Austausch mit dem ‚Oberbewusstsein‘ zu treten; beide Teile blieben durch eine starre Grenze geschieden. Unter Bezug auf die Forschungen Pierre Janets zur Fernhypnose (von denen Janet sich später distanzierte)35 schloss er die Möglichkeit einer telepathischen Ausstrahlung und Empfänglichkeit des Unterbewusstseins nicht aus. Auch die Heilverordnungen der Somnambulen und die Krankheitsahnungen im Traum ließen sich durch ein Doppelbewusstsein und dessen Nähe zur leiblichen Existenz erklären. Zugleich wurde im Doppel-Ich eine Wende in Dessoirs Einstellung zum Okkultismus eingeleitet; erstmals distanzierte er sich von
31 Janet: L’état mental des hystériques, S. 365. Zur Auseinandersetzung Janets mit dem Mediumismus vgl. Le Maléfan: Folie et spiritisme, S. 80ff. 32 Zum Einfluss Janets auf die dynamische Psychiatrie vgl. Ellenberger: Die Entdekkung des Unbewußten, S. 555ff. 33 Bender: „Mediumistische Psychosen“. 34 Dessoir: Das Doppel-Ich. 35 Vgl. Wolf-Braun: Mesmerismus, Hypnotismus und die parapsychologische Forschung.
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der ‚transzendentalen Psychologie‘ um Carl du Prel.36 Dem Unterbewusstsein – dem ‚sekundären Ich‘ – entsprangen aber nicht nur die mediumistischen Phänomene, sondern auch Intuition, schöpferischer Prozess, Inspiration wie auch Ekstase. Es trete in Hypnose oder in automatischen Handlungen zutage, habe die Merkmale einer Regression auf eine frühere Bewusstseinsstufe, die sich als kindliche Gläubigkeit und Neigung, alles ins Sinnliche zu verwandeln, äußerten, also Eigenschaften, die dem Kind wie dem ‚Primitiven‘ zukämen. Dieser Topos von Assoziationen des Unterbewusstseins (bzw. Unbewussten) mit einer onto- bzw. phylogenetischen Regression, mit paranormalen Phänomenen, dem Künstler und Genie, mit dem Kind und Primitiven, findet sich in zahlreichen theoretischen Überlegungen zur Parapsychologie der 1920er Jahre (z.B. Freud, Kronfeld, Prinzhorn).
3.
Théodore Flournoy und die psychologische Deutung des Mediumismus
1899 erschien die Studie des schweizer Arztes, Psychologen und Philosophen Théodore Flournoy (1854-1920): Des indes à la planète Mars: Étude sur un cas de somnambulisme avec glossolalie. Sie stellt eine detaillierte Untersuchung der Phänomene einer multiplen Persönlichkeit dar, die das Medium Hélène Smith produzierte, verbunden mit einer konsequenten rein psychologischen Erklärung ihrer Phantasieprodukte. Flournoy hatte an ihr auch telepathische Phänomene beobachtet, die er nicht negierte, die ihn aber deutlich weniger zu interessierten schienen, als ihre imaginierten Reisen nach Indien oder auf den Mars. Er folgte den Spuren von Frederic Myers, dem Begründer der ‚subliminalen Psychologie‘ (Myers Bezeichnung für das Unbewusste), der das im Vergleich zum Bewusstsein höhere Potential des Unbewussten betont hatte. Myers, William James und Flournoy interessierten sich für die Einsicht in die menschliche Psyche durch die Untersuchung des Unbewussten, das sich in der Äußerung von ‚Geistern‘, in automatischem Schreiben, Kristallschau, Trancereden und Glossolalie zeigte.37 Für Myers wie für Flournoy repräsentierte das Medium eine Person, bei der (zumeist handle es sich um weibliche Wesen, wie Flournoy betonte) die Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem beson-
36 Du Prel unterschied zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Subjekt. Prophezeiungen und Ahnungen sah er als Produkt eines ‚organisierenden Seelenprinzips‘ (‚seelischer Monismus‘). Zu Dessoirs Doppel-Ich und dessen Rezeption, vgl. Kurzweg: Die Geschichte der Berliner ‚Gesellschaft für ExperimentalPsychologie‘, S. 151-183. 37 Vgl. Shamdasani: „Introduction“, S. XI-XLI.
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ders durchlässig sei, weshalb sie sich für die Untersuchung der Phantasietätigkeit besonders eigneten. Wie erwähnt hatten zur gleichen Zeit Vertreter der französischen Psychiatrie die mediumistische Trance mit der Hysterie gleichgesetzt. Im Kontext dieser psychopathologischen Sichtweise musste die Kultivierung der Dissoziation im Rahmen des Spiritismus zu schweren geistigen Störungen führen, und dies kennzeichnete die Haltung der Psychiatrie im Umgang mit Spiritismus und mit den mediumistischen Phänomenen. Flournoy war hingegen der Ansicht, dass es nicht ausreiche, den Mediumismus über die Phänomene des Hypnotismus, der Hysterie und der Dissoziation zu erklären. Vielmehr könne ein Medium auch vollkommen gesund sein und insofern lehne das Publikum völlig zu Recht die Ansicht ab, die Medien seien hysterisch oder stünden unter Autohypnose. Der entscheidende Schritt, den Flournoy vollzog, war, dass er im Gegensatz zu Janet das kreative Potential des Unbewussten betonte. Die Kryptomnesie (die im Unbewussten verborgene Erinnerung) war für Flournoy das wichtigste alternative Erklärungsparadigma zur spiritistischen Hypothese. Darüber hinaus stellte er fest, dass die mediumistischen Produktionen, die Geisterscheinungen, die ‚subliminalen Romane‘ von den Bedürfnissen, Erwartungen und inneren Konflikten der Medien und der Sitzungsteilnehmer geprägt waren, dass ihnen somit eine psychodynamische Bedeutung zukam. Diese produktive Sichtweise des sich im mediumistischen Trancezustand äußernden Unbewussten wurde jedoch von der deutschsprachigen Psychiatrie und Psychologie nicht weiter verfolgt, und dies lag sicherlich nicht nur an einer möglichen Unkenntnis der Arbeit von Flournoy. Das Werk war bereits ein Jahr nach Erscheinen in englischer Sprache publiziert worden, die deutschsprachige Übersetzung erschien jedoch erst 1914.38 Mit dem Hinweis auf die unbewusste Genese der spiritistischen Botschaften wollte Flournoy zugleich vor einer weiteren Ausbreitung der spiritistischen Praktiken „bis in intelligente und kultivierte Kreise“ warnen.39 Ohne die Praxis von vorne herein pathologisieren zu wollen, warnte er davor, dass völlig normale und gesunde Personen durch mediumistische Praktiken ihr psychisches Gleichgewicht gefährden könnten. Der Mediumismus sei kein Spiel, denn seine Phänomene beruhten auf einer mentalen Aufspaltung („désagrégation men-
38 C. G. Jung war von der Arbeit so beeindruckt, dass er Flournoy bat, es ins Deutsche übersetzen zu dürfen. Vgl. Shamdasani, „Introduction“, der die vorwiegend positive Rezeption in den Vereinigten Staaten untersucht hat; es wäre ein Forschungsdesiderat, die Rezeption in den deutschsprachigen Ländern zu prüfen. 39 Flournoy: „Génèse de quelques prétendus messages spirites“, S. 150.
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tale“).40 Mit anderen Worten gab es für Flournoy eine notwendige, stabilisierende Mediumität, die einer Kompromisshandlung gleichkam und eine gefährliche Mediumität.41 Der Historiker Sonu Shamdasani stellt einen deutlichen Rückgang des Interesses der psychologischen Forschung an Medien in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1900 fest. Er führt dies auf die Verbreitung der Psychoanalyse zurück, die die Trance nicht kultivieren, sondern ihr ein Ende habe setzen wollen (durch Auflösung der Übertragung). Ferner habe die Psychologisierung der Mediumität zum Modell der multiplen Persönlichkeit geführt; auch habe die Rückführung der Phänomene der mediumistischen Trance auf unterdrückte Sexualität das spezifische Interesse an den Medien verschüttet.42 Mit dem Schwinden des psychologischen Interesses an den Medien verlor die subliminale Psychologie ihren Gegenstand. Innerhalb der parapsychologischen Forschung kam es ab den 1930er Jahren unter der Führung von J. B. Rhine zu einem Paradigmenwechsel weg von der detaillierten Untersuchung der Medien hin zu kontrollierten experimentellen Laborversuchsreihen an ‚normalen‘ Versuchspersonen.43
4.
Richard Hennebergs Untersuchung über die Beziehungen zwischen Spiritismus und Geistesstörung
Die erste größere psychiatrische Arbeit in Deutschland über die Beziehungen zwischen Spiritismus und Geistesstörung verfasste der Psychiater Richard Henneberg (1868-1962) im Jahre 1902.44 Darin berichtete er über seine Beobachtungen an acht Personen an der Charité in Berlin. Dabei beschrieb er spiritistische Experimente, für die er einfache physikalische und psychologische Erklärungen gab. Bei entsprechender nervöser Veranlagung wirkten sich spiritistische Experimente negativ auf die Psyche aus. Bei einigen Kranken habe sich jedoch eine krankhafte Veranlagung nicht nachweisen lassen, d.h. ihr Zustand sei direkt durch die spiritistische Betätigung verursacht worden. Er betrachtete es daher als eine Pflicht der Ärzte, dem Spiritismus entgegenzutreten und besonders nervöse Personen vor derlei Praktiken zu warnen.
40 Ebd. 41 Vgl. Ebd. 42 Hall: „A Medium in the Bud“; zitiert nach Shamdasani, „Introduction“, S. XL. 43 Mauskopf/McVaugh: The Elusive Science. 44 Henneberg: „Über die Beziehungen zwischen Spiritismus und Geistesstörung“.
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In einer Rezension lobte Flournoy die Arbeit als exzellente Studie, die im Gegensatz zu einem unter Wissenschaftlern verbreiteten Vorurteil den Spiritismus nicht für das Auftreten jeglicher Wahnerscheinungen bei seinen Anhängern verantwortlich mache. Ebenso wenig stelle Henneberg spiritistische Überzeugungen an sich als Krankheitssymptom oder als Zeichen von Degeneration dar. Es sei sein Verdienst, auf die Gefahren der spiritistischen Praktiken hinzuweisen. Die insbesondere durch automatisches Schreiben ausgelösten geistigen Störungen reichten von der Hysterie (bereits der berühmte Pariser Neurologe Jean-Martin Charcot hatte den Spiritismus als einen Auslöser [‚Agent provocateur‘] des großen hysterischen Anfalls bezeichnet) über geistige Verwirrung, manische Erregung usf. Die Lektüre der Studie wird all jenen empfohlen, die den Mediumismus als harmloses Freizeitvergnügen propagieren und praktizieren.45 Ein Jahr später veröffentlichte Henneberg eine längere Abhandlung über die forensisch-psychiatrische Begutachtung spiritistischer Medien.46 Dabei betonte er, dass es bisher trotz der großen Anzahl an spiritistischen Medien zumindest in Deutschland nur selten zu einem gerichtlichen Verfahren gegen ein Medium bzw. zu einer psychiatrischen Untersuchung und Begutachtung gekommen war. Der erste größere Fall war der des populären ‚Blumenmediums‘ Anna Rothe, die 1902 wegen Betrugs (durch Vorführung ‚übernatürlicher Produktionen‘ gegen Entgelt) vor Gericht gestellt und von den Behörden in die ‚Irrenabteilung‘ der Charité zur Beobachtung und Begutachtung ihres Geisteszustandes überwiesen worden war.47 Sie arbeitete auch als Schreibmedium, Hellseherin und Heilerin, indem sie ihren Patienten in Trance Behandlungen verordnete. Einmal soll sie sogar ein ordnungsgemäßes Rezept apportiert haben. Im Rahmen ihres Aufenthalts in der Anstalt wurden unter dem Beisein zahlreicher Ärzte der Klinik Versuche zur Überprüfung ihrer mediumistischen Fähigkeiten durchgeführt. Auch Versuche mit Tischrücken wurden angestellt, bei denen zwei Sitzungsteilnehmer vorsichtige Bewegungen der Beine des Mediums bemerkt hätten. Es wurden zudem Experimente mit Gedankenlesen und Gedankenübertragung durchgeführt (Erraten von Zahlen, Erkennen von Figuren und Gegenständen in Papierhüllen u.ä.), wobei sich das Medium sowohl im Wachzustand als auch in Trance befand. Nach Henneberg führten die Experimente zu keinem bemerkenswerten Ergebnis.
45 Flournoy: „Dr. Henneberg, sur les relations entre le spiritisme et les troubles mentaux“. 46 Henneberg: „Zur forensisch-psychiatrischen Beurtheilung spiritistischer Medien“. 47 Corinna Treitel analysiert den Fall Anna Rothe im Kontext des deutschen Liberalismus um 1900 in ihrer Studie: A Science for the Soul, S. 165-191.
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Den mangelhaften Erfolg der Sitzungen, insbesondere das Ausbleiben der Blumenapporte, erklärte Anna Rothe durch ihren geschwächten Gesundheitszustand und durch die Ungläubigkeit der Anwesenden. Die Ärzte versetzten sie in Hypnose und versuchten sie dazu zu bringen, Betrug zuzugeben, was jedoch nicht gelang. Vor Gericht argumentierte Anna Rothe, dass sie ihre mediumistischen Leistungen in Trance durchgeführt habe und sich deshalb nicht an sie erinnere. Sie wurde wegen Betrugs in achtundvierzig Fällen und versuchten Betrugs in zwölf Fällen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht erachtete die Sitzungsteilnehmer für finanziell geschädigt, da sie die vertraglich versprochenen Vorführungen aus der Geisterwelt nicht erhalten hätten. Als strafmildernde (!) Gründe wurden die Hysterie des Mediums und die Leichtgläubigkeit der Spiritisten angeführt. In dem Gutachten der Charité wurde bei Anna Rothe keine „tiefer greifende Geistesstörung“ festgestellt.48 Sie sei eher intelligent aber von geringer Bildung, besitze eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis; ihr Verhalten sei das Ergebnis von Berechnung und kluger Überlegung. Sie leide mit Sicherheit nicht an „paranoischer Wahnbildung“ und ihre spiritistischen Überzeugungen seien nicht krankhaft bedingt.49 Allerdings weise sie einige leichte körperliche Störungen auf, u.a. einen „exquisit neuropathischen Blick“, der ihr ein etwas ungewöhnliches Aussehen verleihe, zudem sei sie sehr leicht hypnotisierbar.50 Es handle sich um Symptome, die man häufig bei „neuropathischen oder hysterischen Individuen“ vorfinde.51 Daraus lasse sich jedoch keine strafrechtliche Unzurechnungsfähigkeit ableiten. Der wichtigste Punkt für die Beurteilung war die Frage nach der Echtheit der Trancezustände, da das Medium behauptete, dass sie die Apporte, die Reden Verstorbener und die Geisterschriften in Trance produziert habe. Jedoch sei es fast unmöglich, zwischen echten und simulierten Trancezuständen zu unterscheiden. Die Ärzte hatten aufgrund ihrer Beobachtungen den Eindruck, dass sich bei ihr echte Zustände eingeengten Bewusstseins mit schauspielerischen Leistungen verquickten. Mit Sicherheit habe sie jedoch häufig Trancezustände vorgetäuscht. Wenn ein echter Trancezustand festgestellt wurde, bedeutete dies, dass keine freie Willensbestimmung bestand, analog zu hysterischen, epileptischen oder alkoholbedingten Zuständen.
48 Henneberg: „Zur forensisch-psychiatrischen Beurtheilung spiritistischer Medien“, S. 702. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 703f. 51 Ebd., S. 703.
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So hatte der Psychiater August Forel bereits bei spiritistischen Medien, die in Trance Straftaten begangen hatten, Unzurechnungsfähigkeit festgestellt. Der Spiritismus gründe auf psychischen Automatismen, auf unbewussten psychischen Tätigkeiten. Das mediumistische Klopfen, Schreiben, Sprechen und Tischrücken beruhe auf diesen Automatismen, die bei besonders veranlagten, hysterischen Personen leichter auftreten und durch Übung ausgebaut werden. Über andere Phänomene des Okkultismus könne man zur Zeit kein sicheres Urteil abgeben. Die Materialisationen und Dematerialisationen, Apporte und direkten Geisterschriften seien mit großer Wahrscheinlichkeit das Ergebnis von Betrug seitens der Medien. Die Aussagen zahlreicher Sitzungsteilnehmer sprächen dafür, dass Anna Rothe die Apporte in der Regel nicht in Trance produzierte.52 Zudem bedauert Henneberg die Einförmigkeit und Dürftigkeit der Produktionen von Anna Rothe, die ganz im Gegensatz zu dem Reichtum der Phantasieprodukte anderer Medien stünden, z.B. der von Flournoy beschriebenen Hélène Smith. Auch fände man keine Anzeichen einer Fortentwicklung der Inhalte, wie bei den Medien, die Flournoy und C.G. Jung beschrieben hatten. Sie habe außer „der ziemlich einfältigen Figur der kleinen Frieda nichts Beachtenswertes aus eigener Phantasie geschaffen“, eine „unbewusste Mehrleistung“ lasse sich folglich nicht nachweisen.53 Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Phänomene, die sie in den Sitzungen bot, durchweg auf bewusstem Betrug und Schauspielerei beruhten. Allerdings sei ein Übergang von echten somnambulen Zuständen zu bewusster Schauspielerei bei professionellen Medien nicht selten, wie dies auch Jung beobachtet habe.54 Dies sei psychologisch verständlich, da sie gezwungen seien, den Wünschen der Sitzungsteilnehmer entgegenzukommen. Der Übergang von echten Trancezuständen zur Schauspielerei war sowohl von den spiritistischen Autoren als auch von den Parapsychologen (z.B. Schrenck-Notzing) immer wieder beschrieben worden. Nach Henneberg hätten Medien eine günstige Prognose, es sei ihm bisher kein Fall chronischer schwerer Geistesstörung bei einem Medium bekannt geworden. Der echte spiritistische Mediumismus sei lediglich ein Ausdruck der hysterischen Konstitution unter dem Einfluss (der ‚Suggestion‘) der spiritistischen Annahmen. So wie früher Ärzte ihre hysterischen Patientinnen unter dem Einfluss bestimmter Untersuchungsmethoden und Forschungsrichtungen
52 Ebd., S. 705. 53 Ebd., S. 712. 54 Jung: Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene.
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„dressierten“, so würden die Medien von den Spiritisten systematisch „ausgebildet“.55 Das Interesse des Psychologen und Psychiaters sollte sich – so Henneberg – nicht nur auf die psychische Konstitution der Medien, sondern auch auf den Geisteszustand der Personen richten, die an die Wunder der Medien glaubten. Die Hauptverhandlung gegen Anna Rothe, bei der eine große Anzahl an Spiritisten als Zeugen vernommen wurde, habe hier „ein sehr lehrreiches Material“ geboten.56 Unter ihnen hätten sich keine im engeren Sinn als geisteskrank oder schwachsinnig zu bezeichnenden Personen befunden. Ein Teil der Zeugen bezeichnete sich als hellsehend, sie hätten in spiritistischen Sitzungen Dinge gesehen, die andere nicht wahrnehmen konnten. Die meisten Zeugen, die für Anna Rothe eintraten, seien auf Beobachtungsfehler hereingefallen, aufgrund der Wirkung der starken emotionalen Anteilnahme, der Erwartung und der Schwankung der Aufmerksamkeit. Interessant seien die Wahrnehmungen der Zeugen: sie sahen, dass sich die Blumen in den offenen Händen ‚bildeten‘, dass sie aus den Fingern des Mediums herauswuchsen. Manche Zeugen sahen nebelhafte Gebilde, die sich in der Nähe des Mediums verdichteten und dann zu Blumen, Apfelsinen u.ä. wurden. Die Grundlage für derartige Beobachtungsfehler bildeten das Bedürfnis und der Wunsch der Sitzungsteilnehmer, sich von der Realität der spiritistischen Wunder und von der Wahrheit der spiritistischen Lehre überzeugen zu lassen. Genau so verhalte es sich bei Forschern, die auf ihrem Gebiet Hervorragendes geleistet hatten und die für die Echtheit mediumistischer Phänomene eintreten. Dies bedeute, dass die Autorität dieser Wissenschaftler bei der Beurteilung der Phänomene nicht gelte, der einzig Kompetente für eine Bewertung sei der Kenner der Taschenspielertricks, worauf Wilhelm Wundt bereits hingewiesen hatte.57 Schließlich erwähnt Henneberg, dass das Urteil gegen Anna Rothe nach Meinung der Presse als zu hart empfunden wurde. Sie sei als willenloses Werkzeug des (geflohenen) Impresarios gesehen worden oder habe mit der Absicht, Gutes tun zu wollen, betrogen. Auch juristisch war das Urteil mehrfach beanstandet worden, u.a. mit dem Argument, dass hier kein Betrug vorliege, da es keine rechtliche Grundlage für Vorführungen aus dem Geisterreiche gebe. Dies setze allerdings voraus, wie Henneberg anmerkt, dass man davon ausgeht, 55 Henneberg: „Zur forensisch-psychiatrischen Beurtheilung spiritistischer Medien“, S. 713. Henneberg bezieht sich hier vermutlich u.a. auf die Untersuchungsmethoden des französischen Neurologen Charcot an seinen hysterischen Patientinnen, deren Reaktionen bereits von Bernheim als Ergebnis von Suggestion erklärt wurden. 56 Ebd., S. 720. 57 Wundt: Der Spiritismus, eine sogenannte wissenschaftliche Frage.
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dass es grundsätzlich keine Geistermanifestationen gibt, und diesen Standpunkt hatte das Gericht offenbar nicht eingenommen, indem es zahlreiche Entlastungszeugen vernahm, die unter Eid aussagten, dass bei den von ihnen beobachteten Phänomenen Betrug ausgeschlossen sei.58
5.
Parapsychologische Deutungen des Mediumismus: Albert von Schrenck-Notzing und die forensische Begutachtung eines Mediums
Als Beispiel für die Interpretation des Mediumismus aus der Sicht eines renommierten zeitgenössischen Vertreters der Parapsychologie soll ein forensisches Gutachten des Nervenarztes Albert von Schrenck-Notzing herangezogen werden: 1910 hielt er vor der Psychologischen Gesellschaft zu München einen Vortrag über den Prozess gegen den Geschäftsführer einer Kosmetikfirma (der so genannten Bombastuswerke), der im Rahmen spiritistischer Sitzungen angeblich von Geistern, besonders durch den Geist des Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim, daher die Bezeichnung: Bombastuswerke), Rezepte übermittelt bekam.59 Die Sitzungen wurden übrigens ganz wie bei Franz Anton Mesmer durch Harmoniumspiel eingeleitet. Der Geschäftsführer, Herr B., verfiel dann in einen Trancezustand, in dem er nach Anleitung der Geister Weisungen für die Geschäftsführung des Werkes erteilte. Er war wegen Betrugs angeklagt und von mehreren Sachverständigen, u.a. auch von Schrenck-Notzing, auf Zurechnungsfähigkeit untersucht worden. Die Untersuchung ergab, dass der Angeklagte zu Halluzinationen auf allen Sinnesgebieten neigte. Er sei außergewöhnlich leicht hypnotisierbar und verfalle in tiefen Somnambulismus mit Amnesie nach dem Erwachen. Darüber hinaus wurde bei ihm Hysterie diagnostiziert, es handle sich um Erscheinungen eines hysterischen Somnambulismus, der ihn dazu befähige, die verborgensten Wünsche der Zirkelteilnehmer zu erkennen. Der Zirkel spiele also die Rolle des Hypnotiseurs, des Agenten; das Medium diejenige des Hypnotisierten oder Empfängers. Die geistigen Produkte der Sitzungen setzten sich aus Erinnerungsbildern, Phantasievorstellungen und andressierten automatisierten Fähigkeiten des Mediums und aus bewussten und unbewussten Einwirkungen der Zirkelteilnehmer zusammen. In einzelnen Fällen könne es hier zu außergewöhnli58 Henneberg: „Zur forensisch-psychiatrischen Beurtheilung spiritistischer Medien“, S. 723. 59 Schrenck-Notzing: „Der Prozess der Bombastuswerke und andere Beiträge zur forensischen Beurteilung spiritistischer Medien“.
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chen geistigen oder künstlerischen Leistungen kommen, dazu gehöre jedoch auch Begabung. Nach Schrenck-Notzing stellten die tiefen Trancezustände des B. eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit dar, wodurch die freie Willensentscheidung ausgeschlossen sei. Allerdings sei er für die in Halbtrance vorgenommenen Handlungen verantwortlich zu machen, da er die Entschlüsse dazu vorher im Wachzustand gefasst habe. Der Angeklagte war vom Betrug freigesprochen worden, da das Gericht diesen nicht nachweisen konnte. Der Autor schließt mit der Feststellung, dass die meisten spiritistischen Medien hysterisch seien, und dass die mediumistische Tätigkeit das Nervensystem schädige. Die Leistungen der in Deutschland beobachteten Medien gingen fast nie über deren Leistungen im Wachzustand hinaus; spiritistische Sitzungen hätten keinerlei kulturellen Wert. Die Parapsychologen sahen also, analog zu den Vertretern der Schulpsychiatrie, eine gewisse Verwandtschaft zwischen Mediumismus und Hysterie. Es gebe zwar Medien, die seelisch gesund sind, dennoch herrschten in der Regel das Triebhafte, Phantastische, eine gewisse Hemmungslosigkeit, rascher Stimmungswechsel, Verletzbarkeit usf. vor.60 Nach einer Definition des eher kritisch eingestellten (Para-)Psychologen Richard Bärwald sind Medien Personen, deren Unterbewusstsein sich leicht verselbstständigt. Sie bringen ihr Unterbewusstsein zum Ausdruck, indem sie die „Steigrohre des Unbewussten“ benutzen, wie automatisches Schreiben, Planchette, Kristallvisionen oder indem sie in einen Zustand der Autohypnose (Trance), des Nachtwandelns und Dämmerzustands treten.61 Die Schilderung des damals 20-jährigen physikalischen (also physikalische Phänomene produzierenden) Mediums Willi Schneider durch SchrenckNotzing liest sich wie ein psychiatrisches Gutachten, man erkennt in ihr deutlich seine Sozialisation als Nervenarzt: Charakterlich ist er labil, geistig im ganzen ohne Störung, weichherzig, impulsiv, leicht beeinflußbar. Affektive Reizbarkeit. Häufig grundloser Stimmungswechsel. Gemütliche Depression, Launenhaftigkeit, Furchtsamkeit, mangelnde Wahrheitsliebe, große Verschwendungssucht, Hang zu flottem Leben und zur Renommisterei [...]. Träumerisches Wesen, Mangel an Selbstdisziplin, Idiosynkrasien, starke Sympathien und Antipathien. Unzuverlässigkeit und Empfindlichkeit, Eigensinn, Pseudologia phantastica (Neigung zu phantastischem Lügen). Motorische Unruhe. [...] Kein Autosomnambulismus. Keine
60 So z.B. Messer: Wissenschaftlicher Okkultismus, S. 88. 61 Bärwald: Okkultismus und Spiritismus und ihre weltanschaulichen Folgerungen, S. 135.
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nachweisbare Abnormität des noch nicht völlig entwickelten Sexuallebens. Wenn Willy auch im ganzen als normale Persönlichkeit angesehen werden kann, so ist doch mit Rücksicht auf seine labilen Stimmungen, auf seine Unberechenbarkeit, auf den Mangel an sozialer Anpassung und Pflichtgefühl eine hysterische Anlage seines Charakters nicht zu verkennen.62 Auch den Hang zu bewusstem oder unbewusstem Schwindel, der vor allem bei den „physikalischen Medien“ zu beobachten war, brachte er in Analogie zur Simulation der Hysterika: der „Trieb zur Täuschung“ sei „ein häufig vorkommendes Symptom der Medienschaft, wie die Simulation sich als Symptom der Hysterie darstellt“.63 Um so mehr sei die „wohlwollende Fürsorge“ für die „krankhafte Persönlichkeit des Mediums“ Aufgabe des Experimentators.64
6.
Mediumität als Triebabfuhr
Vielfach wurde die Mediumität auch mit der sexuellen Entwicklung in Verbindung gebracht. So fänden sich nach Bärwald mediumistische Vorgänge besonders häufig in der Pubertät, im Klimakterium und während der Menstruation; geregelter ehelicher Geschlechtsverkehr lasse die mediumistische Kraft schwinden,65 ein unbefriedigtes Liebesleben scheine sowohl für mediumistische Leistungen als auch für das Kunstschaffen eine Vorbedingung darzustellen, beides sei ein Abreagieren sexueller Spannungen. Auch religiöse und künstlerische Ekstasen seien mit sexueller Erregbarkeit verbunden.66 Bereits 1909 hatte Hans Freimark dem Zusammenhang zwischen Okkultismus und Sexualität ein eigenes Werk gewidmet. Darin betont er u.a. die häufige gegengeschlechtliche Veranlagung der Medien: Männer wiesen teilweise sowohl seelisch als auch äußerlich eine gewisse Feminität und Weichheit auf, Frauen trügen mitunter harte, strenge, virile Züge. Zahlreiche bekannte Medien seien „sexuell abnorm veranlagt“: Slade, mit dem der Astrophysiker Zöllner experimentiert hatte oder Eusapia Paladino. Auch die Begründerin der Theo62 Zitiert nach Messer: Wissenschaftlicher Okkultismus, S. 89. 63 Ebd. 64 Schrenck-Notzing: Grundfragen der Parapsychologie, S. 101. Es handelt sich um den Abdruck eines programmatischen Aufsatzes von Schrenck-Notzing Zur Methodik bei mediumistischen Untersuchungen (1898). Siehe auch Bauer: „Spiritismus und Okkultismus“, S. 76. 65 Dies findet eine Entsprechung in der Empfehlung von Ärzten seit der Antike, Hysterie mit regelmäßigem Geschlechtsverkehr zu behandeln. 66 Bärwald: Okkultismus und Spiritismus und ihre weltanschaulichen Folgerungen.
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sophie, H. P. Blavatzky, die wegen eines Gebärmuttervorfalls angeblich gebärunfähig war, habe alle Züge eines „Mannweibs“ aufgewiesen.67 Wir erfahren auch, dass viele der Phänomene stark sexuell geprägt seien, aus diesem Grund werde darüber leider nicht offiziell berichtet. Deshalb habe bereits du Prel mit seiner psychologischen Gesellschaft aus Prüderie die Untersuchung der mediumistischen Erscheinungen mehr und mehr von der Tagesordnung abgesetzt, auch habe er mit seiner einige Jahre später begründeten Gesellschaft für Experimentale Psychologie unter den Verfolgungen der Polizei zu leiden gehabt.68 Schrenck-Notzing verglich die Produktion physikalischer Phänomene häufig mit dem Gebären. So schreibt er, dass die physiologischen Begleitvorgänge (Tremor der Körpermuskeln, Schweißausbruch, Pulsfrequenz, gesteigerte Respiration, Parästhesien) denen einer gebärenden Frau ähnelten.69 Auch Thomas Mann hatte die sexuellen Konnotationen der Sitzungen festgestellt. Er hatte bei Schrenck-Notzing an Séancen mit dem physikalischen Medium Willy Schneider teilgenommen. Er schrieb über das Medium: Der sexuelle Einschlag ist so unverkennbar, daß es mich nicht wunderte, nachträglich zu hören, daß Erektionen und selbst Spermaergüsse, die zuweilen aktiv herbeigeführt werden sollen, die psychophysische Arbeit und Produktion des jungen Menschen begleiten.70 Auffällig an diesen Darstellungen ist die stark biologistisch ausgerichtete Erklärung der Mediumität, die keinen Bezug auf eine psychologische Deutung des wechselnden Rollenspiels der Medien nimmt. Es wird nicht wahrgenommen, dass die Medien auch die Grenzen ihrer Geschlechterrollen sprengten, indem sie z.B. in Gestalt eines spirits eine gegengeschlechtliche Identität annahmen und damit Empfindungen und Verhalten äußern konnten, die normalerweise innerhalb der engen Grenzen der herrschenden Geschlechterstereotypien nicht gestattet waren. So zeigte Alex Owen in ihrer Studie über die Medien im viktorianischen Zeitalter, wie diese auf subtile subversive Weise zum Kampf der Frauen für mehr Autonomie und eine aktivere Rolle beitrugen.71
67 Freimark: Okkultismus und Sexualität, S. 46. 68 Ebd., S. 46. 69 Schrenck-Notzing: Die Entwicklung des Okkultismus zur Parapsychologie in Deutschland, S. 63. 70 Mann: „Drei Berichte über okkultistische Sitzungen“, S. 36. Zitiert nach Sawicki: Leben mit den Toten, S. 344. 71 Owen: The Darkened Room; siehe auch Braude: Radical Spirits.
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7.
Zusammenfassung
Es fällt auf, dass der Weg einer systematischen psychologischen, funktionalen Deutung des Mediumismus, wie ihn Flournoy beschritten hatte, in Deutschland weder von den Psychiatern noch von den Parapsychologen weiter verfolgt wurde. Die Vertreter des wissenschaftlichen Okkultismus waren vor allem mit dem Nachweis der paranormalen Phänomene befasst, mit dem Ringen um die richtige Versuchsanordnung, dem Ausschalten von Betrug, von Wahrnehmungstäuschungen und Fehlinterpretationen. Sie führten einen Kampf an zwei Fronten: gegen die scharfe Kritik der Gegner wie auch gegen die ihrer Ansicht nach mangelnde Kritik der ‚Offenbarungsspiritisten‘ bzw. Theosophen, die einen empirischen Nachweis weder für notwendig erachteten noch erwünschten. Es war auch ein Kampf um den Gegenstandsbereich von Wissenschaft, gegen den Ausschluss von Phänomenen, die unerklärbar und nicht in ein naturwissenschaftliches Weltbild zu passen schienen. Psychiatrische Untersuchungen an Medien wurden vor dem Ersten Weltkrieg in der Regel nicht durch psychische Auffälligkeiten veranlasst, sondern durch gerichtliche Maßnahmen. In diesem Kontext ging es in erster Linie um die Frage der Schuldfähigkeit, d.h. ob die Medien unter einer Geisteskrankheit litten oder ob sie in einem echten, tiefen Trancezustand waren, denn dann war davon auszugehen, dass die freie Willensbestimmung aufgehoben war. Die Medien wurden zwar als ‚neuropathisch‘ oder ‚hysterisch‘ bezeichnet, aber es wurde keine ernsthafte psychiatrische Erkrankung diagnostiziert. Man erkennt noch Reste des Postulats des französischen Neurologen Charcot, der die hypnotische Trance mit Hysterie gleichsetzte: Eine leichte Hypnotisierbarkeit wies auf das Vorliegen einer Hysterie hin. Zugleich wird hier eine Mischung aus psychologischer und (erb-)biologischer Erklärung des Mediumismus sichtbar: Er ist das Ergebnis psychischer Automatismen, Ausdruck einer hysterischen Konstitution unter der Suggestion der spiritistischen Annahmen. Den Medien wird teilweise bewusster wie auch unbewusster Schwindel unterstellt, eine Annahme, die mit der Psychologisierung der Hysterie ab der Jahrhundertwende einherging. Hysterischen Personen wurde grundsätzlich eine Tendenz zum Schwindel unterstellt. Darüber hinaus erfahren wir, dass im Rahmen der gerichtspsychiatrischen Untersuchungen parapsychologische Versuche unternommen werden, dass also die Frage nach der Echtheit der Phänomene noch völlig offen ist (analog zu den Versuchen, die in den 1920er Jahren im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren gegen Kriminaltelepathen durchgeführt wurden)72.
72 Vgl. den Beitrag von Uwe Schellinger in diesem Band.
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Zudem stellten sich beide Gutachter, Henneberg wie Schrenck-Notzing, die Frage, ob hier – unter Bezugnahme auf die Studien von Flournoy und C. G. Jung – eine unbewusste Mehrleistung der Phantasie vorliegt. Beide negierten dies. Schrenck-Notzing betonte zwar, dass es in einzelnen Fällen zu außergewöhnlichen geistigen und künstlerischen Leistungen kommen könne, dafür reiche jedoch der Trancezustand nicht aus, es müsse noch eine schöpferische Begabung hinzukommen. Beide Gutachter urteilten hier im Sinne des Kampfes gegen den Spiritismus als Laienbewegung, so sprach auch SchrenckNotzing spiritistischen Sitzungen jeglichen kulturellen Wert ab. Es geht nur um die künstlerische Bewertung nach eigenen ästhetischen Kriterien, (sozial-) psychologische, funktionale Analysen der Inhalte der mediumistischen Produktionen stehen nicht im Zentrum dieser Untersuchungen. Auffallend ist schließlich das hohe Strafmaß gegen Anna Rothe wie auch gegen andere Medien, ein Indiz für Klassenjustiz, denn die meisten Medien gehörten der Unterschicht an. Die Urteile sollten sicherlich abschreckend wirken und sie lösten einigen Protest in der Öffentlichkeit aus, wie auch später, in den zwanziger Jahren, bei der Verurteilung von Kriminaltelepathen. Ein neuer Aspekt tritt bei Henneberg hinzu: die Frage nach der (Psycho-) Pathologie der Sitzungsteilnehmer bzw. der parapsychologischen Forscher. Sie stellt ein zentrales Argument der Kritiker und Gegner der Parapsychologie in der Weimarer Republik dar.
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Globalisierung von Trance
Walter Bruchhausen
Wahnsinn oder Heilungsweg, Teufel oder Ahnen? Ostafrikanische Geistmedien unter deutscher und britischer Herrschaft Während sich im nordatlantischen Raum Untersuchungen zum Spiritismus vor allem auf einige mehr oder weniger prominente Medien konzentrierten und spiritistische Praxis mit ihren Zirkeln bei aller Popularität nur den kleineren Teil der Bevölkerung erfasste, bestanden in den neuen Kolonialgebieten von ganzen Gesellschaften getragene Formen des Kontakts mit einer Geisterwelt. Das gilt auch für jene Gebiete, die nach der Berliner Afrika-Konferenz von 1884/85 in einer wendungsreichen Geschichte zum ‚Schutzgebiet DeutschOstafrika‘ wurden. Da dieses geo- und ethnographisch sehr vielfältige Territorium schon zuvor von christlichen Missionsgesellschaften erfasst war und mit den deutschen Kolonialaktivitäten von zahlreichen Autoren beschrieben wurde, ergab sich hier ein breites Spektrum an unterschiedlichen interkulturellen Begegnungen auch für Fragen des Umgangs mit Geistern. Wir haben es damit auf europäischer wie auf afrikanischer Seite mit einer ausgeprägten kulturell-religiösen Vielfalt zu tun, die sich angesichts ihrer vergleichsweise jungen neuzeitlichen Entstehungsgeschichte als Aufsplitterung oder Differenzierung beschreiben lässt. Denn in diesem Zeitraum, seit dem Spätmittelalter und beschleunigt im 19. Jahrhundert, bildeten sich in Ostafrika und in Westeuropa als Folge nicht zuletzt politisch-sozialer Entwicklungen sehr unterschiedliche Lebensformen nebeneinander aus. Im östlichen Afrika entstanden vorwiegend regional, d.h. eher in unterschiedliche Gesellschaften differenziert (1) durch arabisch-islamischen Einfluss teilweise städtische Bevölkerungen an der Küste, während sich (2) im Gebiet der großen Seen wohl durch Verbindung mit nördlichen Hirtenvölkern stärker zentralisierte Königreiche etablierten und (3) in den Gebieten zwischen Küste und innerafrikanischem Hochland, die zumeist aufgrund ihrer landwirtschaftlichen Voraussetzungen und zunehmend auch Sklavenjagden keine weiträumige Gesellschaftsbildung begünstigten, ethnische Gruppen kleinerer und mittlerer Größenordnung mit Familienverbänden unter allen persönlich bekannten Führern bildeten und behaupteten (vgl. Abb. 1). In West- und Mitteleuropa hingegen hatten in eher gemeinsamen Großräumen oder Großgesellschaften konfessionelle Spaltung, Ausbildung von Regional- und Nationalkulturen, Urbanisierung und Industrialisierung sowie Erbschaften aus areligiösem wie neureligiösem Verständnis von Aufklärung in
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Wissenschaft und Politik eine große Verschiedenheit geistiger Milieus entstehen lassen. Diese führte insbesondere in Deutschland mit neuer räumlicher und sozialer Mobilität zu einem gesellschaftlichen Pluralismus, dessen intellektuelle und politische Dimension sich auch bei den Akteuren in den Kolonialgebieten deutlich zeigte: nationalistische Offiziere, liberale Verwaltungsbeamte, wissenschaftsgläubige Ärzte und theoretisierende Ethnologen in staatlichen Diensten, in den christlichen Missionen romtreue Katholiken volksfrommer wie theologisch-aufgeklärter Richtung aus Deutschland oder Frankreich und deutsche pietistische wie nationalkirchliche Protestanten. Damit waren wesentliche der so verschiedenartigen europäischen Einstellungen zu Geistern auch in Ostafrika vertreten, von der säkularisierten Leugnung ihrer Existenz im naturwissenschaftlichen Weltbild bis zur bibeltreuen Bekämpfung nichtgöttlicher Geister als Teufel, allerdings noch lange nicht die heute so dominierenden fundamentalistischen und charismatischen christlichen Bewegungen mit ihren expressiven Formen der Geistbesessenheit. Diese waren damals erst in den USA im Entstehen begriffen und erreichten wenig später über Nigeria, Ghana und Südafrika auch Afrika.
Abbildung 1: Die untersuchten Regionen Ostafrikas.1
Einer solchen Vielfalt kann ein einzelner Beitrag nicht gerecht werden, zumal sie von der bisherigen Forschung insgesamt kaum angemessen abgedeckt scheint. Die deshalb notwendige Auswahl soll durch Konzentration auf
1
Ich entnehme die Abbildung (mit Markierung der untersuchten Regionen) Bindseil: Ruanda und Deutschland seit den Tagen Richard Kandts, S. 17.
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Beispiele aus den drei verschiedenartigen ostafrikanischen Gesellschaften erfolgen. Dabei geben dann die jeweils hierfür verfügbaren europäischen Berichte vor, welche konzeptionellen Versatzstücke aus dem europäischen Deutungsrepertoire in diesem Zusammenhang analysiert werden. Gegenüber einer umgekehrten Vorgehensweise, wie sie in ethnologischen kulturhistorischen und systematischen Studien gängiger ist und bei der die Möglichkeit der exemplarischen Darstellung einer Ethnie durch den jeweils behandelten ethnologischen Ansatz bestimmt, welche Ethnien in einer Studie vertreten sind, ist dies sicher schwieriger und theoretisch fragmentarischer. Aber angesichts meiner größeren Vertrautheit mit eben diesen Regionen bleibt dies der authentischere Weg als die afrikaweite Suche nach geeigneten Beispielen. Auf diese Weise, bei der häufige Brüche und Ebenenwechsel unumgänglich sind, möchte ich einheimische afrikanische Praktiken zugleich mit den auf sie angewendeten europäischen Diskursen behandeln, die Veränderung lokaler Besessenheitsvorstellungen unter äußerem Einfluss ebenso darstellen wie die Veränderung der vorwiegend deutschen Perspektive auf sie.
1.
Arten von Besessenheit
Von den vielen Funktionen, die Geister in den Vorstellungen Ostafrikas haben können, soll es vor allem um ihre Verkörperung in einem Menschen gehen, weniger um ihre Verursachung von Krankheit und ihre Austreibung. In der vorwiegend anglophonen Terminologie wird es also um „mediumistische“ Besessenheit, auch „mediale“ oder „mediative“ genannt, gehen, und nicht um „affliktive“ Besessenheit, also ihren eventuellen Unglückscharakter als „affliction“.2 In der frankophonen Welt wird das mit einem mischsprachlichen Neologismus des belgischen Ethnologen de Heusch seit den 1970er Jahren gelegentlich als „Adorzismus“, also Herbeibeschwören, im Gegensatz zum „Exorzismus“ bezeichnet.3 Allerdings stellen austreibende Zeremonien den Gegenstand der ersten kolonialzeitlichen Beschreibungen und darüber hinaus Störungen durch Geister den Beginn fast aller Geistkontakte dar, so dass das affliktive Moment zwangsläufig den Ausgangspunkt wie auch einen bleibenden Referenzpunkt fast jeder Rede von Geistern in Ostafrika markiert.
2
Heintze: Besessenheits-Phänomene im mittleren Bantu-Gebiet, S. 4ff.
3
De Heusch: Pourquoi l’épouser?, S. 235.
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2.
Swahili-Küste: ‚Teufelstänze‘ und europäische Dämonologie
In der islamischen Küstenregion Ostafrikas wurden schon vor 1900 Geister in Menschen vor allem als etwas beschrieben, das es durch Exorzismus auszutreiben gilt, d.h. als affliktive Besessenheit. Das entspräche der offiziellen Auffassung monotheistischer Religionen, also sowohl der von beobachtenden christlichen Missionaren als auch – bei einer strikten Auslegung des Islam, die allerdings in Ostafrika damals im Gegensatz zur heutigen wahabitischen Missionierung seltener war, – der von muslimischen Heilern. Denn nach einem solchen Verständnis ist die Beherrschung eines Menschen durch andere Geister als den Geist Gottes immer ein Übel, von dem man ihn befreien muss. Auf diese Wertung deutet scheinbar auch hin, dass der aus dem Arabischen und dem Koran stammende Kiswahili-Begriff ‚shetani‘ (‚Satan‘, im Koran aber nicht nur der höchste Teufel ‚Iblĩs‘) eine der gängigen Bezeichnungen für die Geister darstellt. Deshalb schrieben deutschsprachige Autoren damals bevorzugt von ‚Teufelsbeschwörung‘, ‚Teufelstänzen‘ oder ‚Teufelsaustreibung‘. Häufigster und typischster Swahili-Name für die Geister war aber ‚pepo‘, das mit ‚upepo‘ (Wind) in etymologischer Beziehung steht – wie ja auch ruach, pneuma und spiritus als hebräische, griechische und lateinische Bezeichnungen für Geist ‚Wehen‘ bedeuten. „Fundi la pepo“,4 „Experte der Geister“, hießen die entsprechenden leitenden Ritualexperten, von deutschen Autoren meist ‚Zauberer‘ oder ‚Zauberdoktoren‘ genannt, weil sie Geister beherrschen konnten, nicht weil sie selbst von ihnen beherrscht wurden oder mit ihrer Hilfe wirkten. Die hier zu Tage tretende europäische Beurteilung der Konzepte und Praktiken, die außereuropäische Völker im Umgang mit Geistern aufweisen, reicht weit zurück. In Europa waren auch nach der Christianisierung die vorund außerchristlichen Geistervorstellungen lange vital geblieben und prägten in oft nur oberflächlich assimilierten Formen der Geisterkontaktierung das Leben breiter Bevölkerungskreise. Hingegen bildete für bestimmte Teile der theologischen Eliten, die manchmal nur eine spärliche Anhängerschaft in Kreisen geistlicher und weltlicher Herrschaft fanden, die alttestamentliche Absage an Geisterbeschwörung ein Anreiz zu einer anderen Haltung. Denn Deuteronomium (5. Mose) Kapitel 18 bestimmte, dass sich Israel im Gegensatz zu seinen Nachbarvölkern von der Befragung der Toten(-geister) fernhalten solle. Volksfromme und biblisch legitimierte Überzeugung von der Existenz der Geister und theologische, biblisch motivierte Ablehnung ihrer Kontaktierung und Nutzung bestanden also über Jahrhunderte in vielfältigen Bezügen nebeneinander her. Nachdem sich zu Beginn der Frühen Neuzeit im ‚gelehrten Hexen4
Becker: „Etwas über die Zauberer der Wasuahili“, S. 2.
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begriff‘ der intensivierte Glaube an nicht-göttliche Geister mit ihrer entschiedenen Ablehnung zu einer unheilvollen Dämonisierung verbunden hatte, war die Bewertung jedes außereuropäischen Umgangs mit Geistern einseitig vorgegeben. In den frühneuzeitlichen Reiseberichten zu afrikanischen Küsten erscheinen die einheimischen Geister als Teufel, für die ersten evangelischen Missionare, etwa den Pietisten Bartholomäus Ziegenbalg in Indien, waren einheimische Besessenheitsrituale, auch bei Göttern, ausdrücklich „Teufelstänze“.5
3.
Geister in ‚Askaris‘ und Schweinen
An der Swahili-Küste befielen die Geister gewöhnlich nicht den leitenden Ritualexperten, sondern nur die Kranken, aber auch eventuelle Mitwirkende, so genannte „Askari“ des „pepo“,6 also „Soldaten des Geistes“, oder „wateja“,7 eigentlich „Kunden“. Dies waren verheiratete und unverheiratete Frauen, die sich dem jeweils etwa eine Woche dauernden Dienst nicht wirksam widersetzen konnten. So schrieb der deutsche evangelische Missionar Bruder Becker von der Berliner Missionsgesellschaft im Jahr 1893 in die Heimat: Nach der Ansicht der Zauberer ziehen nun die Geister aus dem Kranken in die tanzenden Frauen über, in jede je einer und zwar in ihren Kopf. Haben sie den Kranken verlassen, so giebt der Zauberer seinen Askari eine Medizin ein, durch welche der Geist sie wieder verläßt. Einmal beobachtete ich acht, ein anderes Mal fünfzehn solcher tanzenden Frauen; der Kranke war demnach von acht bzw. 15 Geistern besessen. Es sollen aber bis zu dreißig Frauen zu gleicher Zeit tanzen. Der Anblick einer solchen Zaubergesellschaft, und besonders der Frauen, ist ein unheimlicher. Man sieht es den Angesichtern der armen Gebundenen an, dass hier auch der letzte Rest des heiligen Geistes, der dem natürlichen Menschen doch noch geblieben ist, immer mehr schwindet, und an seiner Stelle wirklich ein anderer Geist einkehrt, wenn auch nicht, wie sie meinen der pepo, so doch des Fürsten des Abgrundes, dessen Lust es ist, Menschenseelen zu verderben.8
5
Schömbucher-Kusterer: Wo Götter durch Menschen sprechen, S. 53ff.
6
Becker: „Etwas über die Zauberer der Wasuahili“, S. 4.
7
Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über die Rechtsgewohnheiten der Suaheli, S. 182f.
8
Becker: „Etwas über die Zauberer der Wasuahili“, S. 4.
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Wie auch in anderen Berichten von der islamischen Küste fällt auf, dass der Geist in den Kopf steigt. Dies scheint die gängige Lokalisation bis heute zu sein. ‚Kupandisha‘, ‚aufsteigen lassen‘, ‚besteigen lassen‘ ist der heutige Swahiliterminus technicus dafür,9 der oder die Besessene ist damals10 wie heute ‚kiti‘, ‚Sitz‘ oder ‚Stuhl‘ des Geistes. Die mittanzenden Frauen sind für diesen protestantischen Missionar allenfalls Medien, in die Geister hinein und hinaus, also hindurch müssen, um endgültig vertrieben zu werden, nicht aber Medien für Botschaften der Geister. Man fühlt sich unwillkürlich an die 2000 Schweine erinnert, in die nach dem Markus-Evangelium, Kap. 5, Jesus die Legion unreiner Geister hineinfahren ließ. Dieser Bericht ist der einzige, der von einem direkten Hineinfahren der Geister aus dem Kranken heraus in die Tanzenden hinein spricht. In allen anderen Berichten wird der Ort, zu dem Geister von Kranken aus hinfahren, entweder nicht erwähnt oder aber z.B. mit Objekten wie hohlen Bäumen,11 Holzfiguren12 oder auch Holzschiffchen angegeben, auf denen ein ausgetriebener Geist zu seinem Herkunftsort im Meer zurückkehren soll.13 Die Singularität dieses Missionarsberichts legt den Verdacht nahe, dass hier vielleicht die angesprochene neutestamentliche Assoziation eine Rolle spielen könnte. Dennoch ist die Annahme, dass sich in der einheimischen Vorstellung dieselben Geister in den Kranken wie in den Mitgliedern der Kultgruppe manifestieren, gängig. Eine Identität von Geistern im Kranken und in den Medien des Kultes sehen auch andere zeitgenössische14, spätere und heutige Beobachtungen der Vorstellungen und Praktiken. Allerdings erfolgt in diesen Vorstellungen der Weg nicht direkt aus den Kranken in die Tanzenden, und das Auftauchen der Geister in den Tanzenden dient nicht unbedingt ihrer endgültigen Austreibung. Vielmehr ist die Aufnahme der Geister durch solch geübtes Personal wie die Kultangehörigen oft nötig, um mit den Geistern besser Kontakt aufnehmen zu können. Dies dient dann dazu, ebenso wie die
9
Kupandisha; Kausativ von (transitiv und intransitiv) kupanda: steigen (auch Fieber); aufsteigen; besteigen, für Tiere (und despektierlich Menschen) auch im sexuellen Sinne.
10 Z.B. Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über die Rechtsgewohnheiten der Suaheli, S. 192. 11 Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“, S. 69f. 12 Vgl. Weule: „Volksmedizin und Aberglaube bei der Küstenbevölkerung in der Umgebung von Daressalam“, S. 153. 13 Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über die Rechtsgewohnheiten der Suaheli, S. 198. 14 Z.B. ebd., S. 183.
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Vorbereitung des Kranken selbst durch die tagelangen Trommelzeremonien und Räucherungen, den Geist eindeutig durch sein eigenes gesprochenes Bekenntnis identifizieren und seine Wünsche, etwa nach Tänzen oder Opfergaben, erfahren und so befriedigen zu können. Insofern stellen Kranke und Ritualassistentinnen durchaus Medien in Trance dar, deren Geisterbotschaften allerdings nur die Interessen des Geistes ausdrücken und den Menschen allenfalls insofern nützen, als durch Erfüllung seiner Wünsche die Belästigung durch den Geist zumindest vorübergehend beendet werden kann. Die so beschriebene pepo-Besessenheit erscheint also als stark selbstreferentiell, die selbstsüchtigen Interessen aus der Geisterwelt dominieren.
4.
Geister als Stimme Verstorbener
Doch selbst diese affliktive Besessenheit kann auch den Lebenden dienen. Denn dass krankheitserregende Geister nicht einfach ein zufälliges, unerklärliches Unglück darstellen, sondern wichtige soziale Rollen haben können, demonstriert ein anderer Bericht aus selber Zeit und Gegend, doch bezeichnenderweise nicht der Feder eines Missionars. Der deutsche Philologe und Swahili-Forscher Carl Velten beschrieb 1903 eine besondere Funktion des Auftauchens ein und desselben Geistes in den Köpfen verschiedener, aber verwandter Menschen. Eltern einer kranken jungen Frau halten einen pepo für die Ursache des Fiebers, denn sie hätten ihr als Kind den pepo ihrer Großmutter in den Kopf steigen lassen und zu dem pepo gesagt: ‚Sorge für die Erziehung und das Wachstum dieses Kindes, später, wenn sie einen Mann bekommt, werden wir dir deine Mulde (mit Geschenken) geben. Die Großmutter ist jetzt gestorben, und da der pepo seine Mulde haben will, hält er sich an ihre Enkelin.‘15 Statt pepo und andere Besessenheitsgeister vorschnell als Teufel zu klassifizieren, vermochten Velten – trotz seiner Schlagworte „Die bösen Geister“ und „Teufelsaustreibungen“ oder der durchgängigen Rede von „Austreibung“ bei diesem und anderen pepo16 – und noch mehr der erkennbar von akademischer Ethnologie geprägte protestantische Missionar Klamroth17 mit ihrer hermeneutischen Annäherung zumindest hier der einheimischen Sichtweise gerechter
15 Ebd., S. 176. 16 Z.B. ebd., S. 177-206. 17 Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“.
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zu werden. Der Geist ist nicht das schlechthin Böse, sondern jemand, der Interessen hat und ihm Zustehendes einklagt. Er sichert, wie die Ahnen es ganz allgemein sollen, die soziale und moralische Ordnung in der Generationenfolge und kann auch Schutzgeist sein. Die Alten und Ahnen dienen dem Wohlergehen der Jungen und Lebenden, wofür sie Verehrung und materielle Unterstützung erhalten. Es besteht auch der Gedanke, dass man nicht-menschliche Geister wie anderen Familienbesitz erbt und dann erkrankt, wenn man ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird.18
5.
Besessenheit als Beleg für Animismus und Schamanismus
Eine solche Einordnung der verkörperten Geistkontakte in die großen ethnologischen Themenkomplexe von Ahnenverehrung, Ahnenkult und Totemismus erfolgte jedoch für die ostafrikanische Küste zu dieser Zeit gewöhnlich nicht.19 Die große Ausnahme bildet Klamroth, der schon damals für den Ostafrikaner in der „Ahnenverehrung“ die „Grundlage fast seiner ganzen religiösen Betätigung“ sah und entsprechend die Herkunft aller Geister aus den Ahnenvorstellungen nachzuweisen suchte.20 Ein ethnologischer Fachwissenschaftler hingegen, der Leipziger Völkerkunde-Professor Karl Weule, suchte, gestützt auf das Material des katholischen Benediktiner-Missionars Ambros Mayer, beide Geisterarten ausdrücklich zu unterscheiden: „mapepo“ (Plural von pepo) „stehen zum Teil höher als die Ahnengeister“.21 Dabei beschreibt er: Der Kult ist folgender. Einer der mapepo befällt den Menschen. Das geschieht z.B. wenn es ihm schlecht geht, sei es durch Krankheit oder 18 Werner: „The Bantu Element in Swahili Folklore“ mit Verweis auf Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über die Rechtsgewohnheiten der Suaheli. 19 So formuliert die britische Ethnographin Alice Werner über die Swahili-Geister sehr vorsichtig: „I hardly dare use the word totem, but I cannot help thinking that the kinyamkera, dungumaro, and the rest of them are nothing else but totems, whose real meaning has been forgotten, though their hold is too strong for them to be got rid of altogether, and who, under the influence of Islam, have become mere sheitans to be exorcised with drums and dances“ (Werner: „The Bantu Element in Swahili Folklore“, S. 437). Auch Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“, S. 125, hält es für „verfrüht“, die lokalen Vorstellungen „als Totemismus anzusprechen“ . 20 Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“, S. 44. 21 Weule: „Volksmedizin und Aberglaube bei der Küstenbevölkerung in der Umgebung von Daressalam“, S. 151.
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durch Hunger. Dann entsinnt sich der Neger seiner vernachlässigten Pflichten gegen den mpepo, besonders gegen den ihm zunächststehenden. Er fühlt sich von ihm besessen und geht nunmehr zum Mganga. Dieser Mganga entspricht vollkommen dem Schamanen der Arktiker, dem Piäje der Indianer, den Urpriestern der übrigen Erdteile. Er ist Priester und Arzt zugleich. In Afrika tritt er als Wanderarzt auf und, wie in der Arktis, in männlicher und weiblicher Gestalt. Wie bei uns gibt es Spezialisten und Universalärzte. Vieles von ihrem Getue ist Hokuspokus: anderes beruht auf echtem Wissen.22 Der akademische Ethnologe ordnet also, beruhend auf offenbar weniger vorschnell klassifizierenden und abwertenden Missionarsaufzeichnungen und nach nunmehr bereits zwei Jahrzehnten von Beschreibungen aus DeutschOstafrikas Küstengebiet, die ‚Suaheli‘-Rituale statt in ein christliches Bewertungsschema des Heidnischen in eine postulierte universale Religionsgeschichte ein. Dabei dient auch die Unterscheidung von ‚Hokuspokus‘ einerseits und ‚echtem Wissen‘ andererseits dazu, eine naturwissenschaftliche Perspektive als höchsten Entwicklungsstand zu beanspruchen, und bekräftigt so das evolutionistische Erklärungsmodell eines universalen Fortschritts von der Magie zur Wissenschaft. Das wird besonders an der neben ‚Priester und Arzt‘ weiteren Rolle des Mganga deutlich: Eine vom Patienten geforderte dritte Funktion ist die des mtschavi [modernes Swahili: ‚mchawi‘; W.B.], des Zauberers oder, wie es hier wohl die Regel ist, Giftmischers. Seine Funktion stellt ihn etwa in die Mitte zwischen den Präanimismus und den Animismus. Solche um 1900 dominierenden evolutionistischen Vorstellungen sahen im so genannten Animismus, nach dem alles in der Welt beseelt oder belebt und deshalb entsprechender Beschwörung zugänglich ist, eine frühe Stufe der Menschheitsentwicklung, in der die jeweiligen Völker verblieben wären. Somit böten die ostafrikanischen Beobachtungen keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse über den Menschen, sondern lassen die Suaheli als weitere Beispiele in die Gruppe der genannten außerafrikanischen und außereuropäischen Gruppen einstufen. Aus der angeblich beobachteten Entsprechung zwischen ostafrikanischem Mganga und sibirischem Schamanen wurde später, über die Zugehörigkeit zu den animistischen Vorstellungen hinaus, ein gemeinsames Phänomen konstruiert, der Schamanismus. Dabei hatte Klamroth schon 1910 für Ostafrika gewarnt: „Der Ausdruck [Schamanismus; W.B.] selbst führt uns
22 Ebd.
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aber nicht weiter, im Gegenteil sogar leicht irre.“23 International verbanden sich seit der Zwischenkriegszeit ältere russische und jüngere schwedische Studien zum nordasiatischen Schamanentum mit dem allgemeinen religionswissenschaftlichen und psychologischen Interesse.24 Vor diesem Hintergrund erfuhren auch afrikanische Phänomene als angebliche Formen des Schamanismus neue Aufmerksamkeit und eine gewisse Aufwertung,25 wobei die damaligen Strömungen von Kulturpessimismus, Zivilisationskritik und antichristlicher Esoterik erkennbare Einflüsse darstellen. Ab dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erforschung des Schamanismus ausdrücklich auch unter parapsychologischen Gesichtspunkten betrieben, insbesondere durch den Italiener Ernesto Bozzano, der sein Interesse von Spukphänomenen auf – so die deutsche Übersetzung des Buchtitels – Übersinnliche Erscheinungen bei Naturvölkern verlagerte. Dabei gab es auch warnende Stimmen. Einer der produktivsten Autoren zum Schamanismus, Hans Findeisen, warnte 1957, dass Schamanen nicht zur Erforschung der „spiritistischen Hypothese“, d.h. der wissenschaftlichen Überprüfung, ob die Phänomene „echt“ wären, geeignet seien, da die angeblich herbeigerufenen Vorfahren, ihre Sprache und andere kulturbedingte Umstände dem europäischen Beobachter weitaus weniger bekannt seien als bei seinen „eigenen Medien“.26 Zurück zum Ende der deutschen Kolonialzeit: In der evolutionistischen Perspektive des akademischen Ethnologen konnte es – im Gegensatz zur streng monotheistischen Sicht – nicht mehr nur um Austreibung gehen. Vielmehr wurde in Weules Darstellung die ngoma für den Kranken dem pepo „zu Ehren“27 veranstaltet. Denn zumindest einige mapepo, „Kinyamkera, Kilima und Yini“ [modern: ‚jini‘; W.B.], haben positive Funktionen: „Dient man ihnen richtig, so schützen sie gegen Krankheit und Not und bewirken vor allem eine glückliche Niederkunft.“28 Für die Frage des Mediumismus erscheint bemerkenswert, wie der Geist als Krankheitsursache und sein Wunsch nach ‚Opfer und Opfertanz‘ festgestellt werden. Dies geschieht nämlich nicht als Äußerung des Geistes durch die 23 Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“, S. 52. 24 Findeisen: Schamanentum dargestellt am Beispiel der Besessenheitspriester nordeurasiatischer Völker, S. 16f. 25 Dietschy: „Medizinmann und Schamanismus in Afrika“; Friedrich: Afrikanische Priestertümer, S. 292-325. 26 Findeisen: „Das Schamanentum als spiritistische Religion“, S. 192f. 27 Weule: „Volksmedizin und Aberglaube bei der Küstenbevölkerung in der Umgebung von Daressalam“, S. 152. 28 Ebd.
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Stimme eines menschlichen Mediums – des Kranken selbst oder anderer Kultteilnehmer –, sondern durch das technische Medium des Orakels, sei es als Sandorakel durch Zeichen des Mganga in Asche oder Sand, sei es als Wasserorakel mit von ihm hinein gespuckten Holzlosen.29
6.
Expansionen und Moden affliktiver Besessenheit
Beschreibungen solcher affliktiver Bessenheitsrituale liegen für die frühe Kolonialzeit nur aus islamischen Gegenden vor. Denselben Fragenkatalog u.a. nach „Teufelsbeschwörungen“ beantwortend, enthalten gleichartige Berichte von Sanitätsoffizieren um 1895 über einheimische Medizinpraxis anderer Regionen Deutsch-Ostafrikas derartige Angaben nicht oder schließen entsprechende Bräuche sogar ausdrücklich aus.30 Es handelt es sich wohl tatsächlich nicht – wie im Evolutionismus postuliert – um eine lange Zeiten und die Ethnien übergreifende Konstante in Ostafrika, sondern ein sich rasch wandelndes historisches Phänomen.31 Denn wir haben verschiedene Hinweise darauf, dass sich diese speziellen Formen von Besessenheit und ihrer Behandlung damals als Bewegung aus den stärker und länger islamisierten Gebieten im Norden und an der Küste – also im heutigen Äthiopien und Kenia – in den Süden und Westen ausbreiteten. Einem deutschen Benediktiner-Missionar erschien schon kurz nach 1900 die Besessenheit durch einen pepo „Modekrankheit“ zu sein, die vor allem bei jungen Mädchen und Frauen auftritt.32 Ab dem Ersten Weltkrieg stellten verschiedene Autoren aus Mission und Kolonialverwaltung fest, dass diese Geister-Rituale ins Landesinnere vordrangen, zunächst vorwiegend in Städten und Dörfern mit ihrer islamischen Händler- und Handwerker-Einwohnerschaft.33 Möglicherweise ist diese neue Aufmerksamkeit für Verbreitung allerdings auch mit dem damaligen Umdenken in der wissenschaftlichen Ethnologie ver-
29 Vgl. ebd.; Klamroth: „Beiträge zum Verständnis der religiösen Vorstellungen der Saramo im Bezirk Daressalam“, S. 38ff. 30 Vgl. o.V.: „Heilverfahren bei afrikanischen Völkerschaften“. 31 Vgl. zur älteren Geschichte Heintze: Besessenheits-Phänomene im mittleren Bantu-Gebiet, S. 67. 32 X.: „Ngoma “, S. 184. 33 Vgl. Kotz: Im Banne der Furcht, S. 193, S. 210f. Die beiden besten Kronzeugen für die räumliche Dynamik dieses Prozesses stellen zwei Beobachter in britischen Diensten dar, der Verwaltungsbeamte R. Skene an der islamischen Küste Kenias 1917 und der aus Österreich stammende Regierungs-Ethnologe Hans Koritschoner, später Hans Cory genannt, im nördlichen Tanganyika in den 1930er Jahren.
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bunden. Denn kulturhistorische Ansätze, die sich nach 1905 in der Kulturkreislehre zu einer auch missionstheologisch unterstützten Bewegung formierten und in der Kulturmorphologie der Schule Leo-Frobenius’ eine gewisse Fortsetzung fanden, interessierten sich eher für Ausbreitungsprozesse als für Spekulationen über Entwicklungsstufen. In den ehrgeizigsten dieser Hypothesen wurden die ostafrikanischen Geistervorstellungen als Erbe aus dem afroasiatischen Grenzgebiet gesehen – wodurch dann auch Verbindungen zu den ausgeprägten Besessenheits- und Beschwörungsvorstellungen des antiken Mesopotamiens bestehen könnten.34
7.
Zwischensee-Gebiet: ‚Inspirative‘ als ‚mediumistische‘ Besessenheit
Neben den bisher behandelten islamisierten Formen, in denen Besessenheit vorwiegend als Störung erschien und allenfalls bei den Heilungszeremonien in den Kranken, Heilern und ihren Assistentinnen mediumistische Phänomene ins Spiel kamen, herrschte im landesinneren Gebiet der großen Seen ein ganz anderer Typ von Geistbesessenheit vor. Er erhielt in den 1930er Jahren den Namen „inspirative Besessenheit“,35 weil es hier stärker um die Botschaften als um das Schicksal des besessenen Menschen geht. In hierarchisch organisierten Gesellschaften dienten Geistmedien häufig dazu, verstorbenen Königen oder anderen Führern ihre Stimme zu leihen, um so etwa im Rat vertreten zu sein und frühere Erfahrungen, also den Gesichtspunkt der Tradition einzubringen. In den zentralafrikanischen Königstümern, wie sie vor allem im Nordwesten des damaligen Deutsch-Ostafrika, heute Gebiete von Ruanda, Burundi (‚Urundi‘) und der tansanischen Provinz Bukoba (‚Kiziba‘) bestanden, geschah dies oft nicht so sehr als Beratung des Königs, sondern indirekter zur Sicherung der staatstragenden religiös-kultischen Ordnung. Denn hier vergegenwärtigten und verehrten Männer und Frauen, die diese Fähigkeit zumeist vom Vater geerbt hatten, sagenhafte, schon vergöttlichte Gründergestalten des Kult(bund)es als Garanten des Wohlergehens, wobei Biergenuss eine große Rolle spielte. Solche Gruppen fanden als ‚Imandwa‘ und ‚Ababandwa‘ (Ruanda), ‚Wabandwa‘ (Kiziba) oder ‚Iviranga‘ (Urundi) häufigere Erwähnung in ethnographischen Schriften (vgl. Abb. 2).36 Offenbar gab es hier – den Beob34 Hovorka/Kronfeld: Vergleichende Volksmedizin, S. 892. 35 Friedrich: Afrikanische Priestertümer, S. 369. 36 Johanssen: Ruanda; Rehse: Kiziba; Arnoux: „Le culte de la société secrète des imandwa au ruanda“; Gaßldinger: „Hofball bei Junker Satan“; Meyer: Die Barundi; Czekanowski: Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet.
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achtern nicht immer bewusst – regionale und funktionelle Unterschiede zwischen dem am sozialen Status orientieren Inititiationsbund einer „Art Freimaurerloge“37, der auch Differenzen von Geschlecht, „Häuptlingschaften“, Clan und ethnisch-sozialer Gruppe („Rassenscheidung“ in Abahutu, Abtutsi und Abatwa) zu überbrücken vermochte,38 und eigentlich priesterlichen Funktionen mit Personifikation eines Gottes in einem veränderten Bewusstseinszustand. Neben gemessen-würdevollen Auftritten kamen auch Verkörperungen mit tierischen Verhaltensweisen wie Löwengebrüll, Beißen, Gehen auf allen Vieren und Trinken aus einem Trog vor.39 Im Vergleich mit den Geisterkulten an der Swahili-Küste sind zwei auffallende Ähnlichkeiten zu beobachten:40 Krankheit durch Geister, die nicht als tranceartige Besessenheit geschildert wurde, stellte häufig, jedoch hier nicht immer den Grund zur Einweihung in den Bund dar, bildete aber anschließend kein wichtiges Moment mehr. Und auch hier geschah die Entscheidung über die Kontaktaufnahme mit den Geistern und damit die Initiation durch Orakel, z.B. die Hühnereingeweideschau oder das Verhalten schwimmender Gegenstände, nicht aber durch eine sprachliche Äußerung im Besessenheitszustand. Diese Geheimbünde waren keineswegs die einzigen Experten für die Beziehung zur unsichtbaren Welt: für fast alle Probleme, nicht zuletzt gesundheitliche, gibt es die ‚aba(p)fumu‘, als ‚Zauberer‘, ‚Medizinmänner‘, ‚Magier‘, ‚Ärzte‘ oder ‚Wahrsager‘ übersetzt, die keine Zustände eigener Besessenheit kennen.
37 Meyer: Die Barundi, S. 127. 38 Ebd., S. 129; Czekanowski: Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet, S. 305. 39 Vgl. Friedrich: Afrikanische Priestertümer, S. 368. 40 Czekanowski: Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet, S. 306, 308; Meyer: Die Barundi, S. 126.
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Abbildung 2: Wabandwa um 1910.41
8.
Kultische Imitation, Besessenheit oder psychischer Defekt?
Die europäische Deutung der bandwa-Phänomene schwankte zwischen lediglich kultischer Imitation der Gründergestalten und tranceartiger Besessenheit durch sie42 – abgesehen von der bereits behandelten wortwörtlichen ‚Verteufelung‘, in diesem Fall durch einen süddeutschen katholischen Missionar, den Weißen Vater Joseph Gaßldinger. Er bemühte in seinem posthum 1913/14 unter dem Titel Hofball bei Junker Satan erschienen Beitrag durchgängig das Bild des Hexensabbats, mit einschlägigen Zitaten aus Goethes Faust.43 Die in Urundi verehrten und verkörperten Götter oder Heroen, allen voran Kiranga, setzte er mit „Teufel“, „Satan unter einem anderen Namen“ oder sogar „Satan namentlich“ gleich, spricht von der Zeremonie des Kubandwa, was er mit „feierlich den Teufel an[zu]beten“ übersetzt, als „Teufelsverehrung“ und „Teufelsritus“, bezeichnet die Teilnehmenden als „Teufelsanbeter“ oder „Verehrer des Kiranga, d. h. des Teufels“, die auf ihn wie „Flüchtlinge aus der Hexenküche“ wirken, und jemanden, der einen Heroen verkörpert, als „Hierophant, der Stellvertreter Satans“ oder „Darsteller Satans mit Bauchrednerstimme“ bzw. bei einer Frau „Satanshexe“ oder „Darstellerin Satans“.44 Weitaus weniger voreingenommen, legte der katholische frankophone Missionar Alexandre Ar41 Ich entnehme die Abbildung Vix: „Beitrag zur Ethnologie des Zwischenseengebiets von Deutsch-Ostafrika“, S. 503. 42 Vgl. Friedrich: Afrikanische Priestertümer, S. 368f. 43 Gaßldinger: „Hofball bei Junker Satan“. 44 Ebd., S. 307-317.
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noux, ebenfalls Weißer Vater, 1912 seine sehr ausführliche Beschreibung dieser Kulte eher religiös-zeremoniell oder ‚liturgisch‘ als Einweihung und rituelle Nachahmung der Heroen an, mittels einiger Begriffe aus dem christlichen Gottesdienst wie ‚Konfirmation‘, ‚Kollekte‘ oder ‚Einlösung von Gelübden‘ und einem ausdrücklichen Vergleich mit antiken Initiationsreligionen wie dem Mithraskult.45 Ebenso sprach 1917 der polnische Ethnologe Jan Czekanowski vom Berliner Völkerkundemuseum, gestützt auf eigene Interviews während der Deutschen Zentralafrika-Expedition 1907-1908 und ebenfalls katholische Missionarsberichte46, nur davon, dass menschliches Verhalten hierin die Anwesenheit der göttlichen Heroen „vorstellen“, „vertreten“, „bezeugen“ oder „darstellen“ sollte, und charakterisierte lediglich das Verhalten der Gruppe mit „Tobsucht“ und „wie Besessene“.47 Hingegen hatte der deutsche protestantische Bethel-Missionar Ernst Johanssen für diese Praktiken schon 1912 die Kategorisierung „Spiritismus“ gewählt und das zugehörige Verb „wandgwa“ u.a. mit „Medium werden“, „in Verkehr treten mit der Geisterwelt“, sich „von ihnen [den Geistern; W.B.] inspirieren“ lassen und „in Extase“ geraten übersetzt.48 Allerdings war diese Verbindung zu einem Geist nicht notwendig mit Tanz verbunden: Der Zustand des Mediums ist eine Art Extase, oft mit Tanz begleitet, und zwar immer bei größeren Festversammmlungen. Aber nicht der Tanz als solcher ist wandgwa, sondern dies findet auch ohne Tanz statt, wenn etwa in der Hütte des Totengeistes der Opfernde sich dadurch zum Medium macht, dass er in seinem Gebaren sich stellt, als sei er der Geist des Ryangombe oder des Binego oder des Maschira u.a.49 Auch der Geograph und Forschungsreisende Hans Meyer, Mitherausgeber des gleichnamigen Konversationslexikons, entschied sich 1916 in seiner Ethnographie der Barundi für das Wortfeld von „Medien“ und sprach von einem „spiritistisch-mediumistischen Zustand“.50 Um hieraus schon charakteristische Unterschiede zwischen katholischen (französischen wie polnischen) Autoren mit einer rituellen Metaphorik und protestantischen (norddeutschen) Autoren mit
45 Arnoux: „Le culte de la société secrète des imandwa au ruanda “, S. 774. 46 Czekanowski: Forschungen im Nil-Kongo-Zwischengebiet, S. VIf. 47 Ebd., S. 310, 313. 48 Johanssen: Ruanda, S. 97ff. 49 Ebd., S. 100. 50 Meyer: Die Barundi, S. 123f.
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spiritistischen Assoziationen herauszulesen, dürfte die Zahl von jeweils zwei Beispielen zu klein sein. Bei den Erklärungsversuchen der Besessenheitszustände war eine psychodynamisch-psychiatrische Perspektive vorherrschend. Meyer schrieb von „hysterischen durch Autosuggestion entstehenden Anfällen“ als Ursache der Phänomene bei den Ababandwa.51 Der deutsche Kolonialarzt Vix hatte 1911 ihre Besessenheitsmomente als „Produkte suggestiver Beeinflussung“ gesehen, aber nicht ausgeschlossen, dass „tatsächliche psychische Zustände vorliegen, die als ‚doppeltes Bewusstsein‘ im Sinne der Psychiatrie aufzufassen sind.“52 Dieser wissenschaftsgläubige Mediziner war weiterhin eher einem Evolutionismus verhaftet, denn er glaubte, die Einsicht, dass die Idee der zeitweiligen Besessenheit der Realität entbehrt, [dürfe] selbst dem intelligentesten inmitten seiner Volksgenossen lebenden Neger als eigener Erwerb nicht zugetraut werden, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er doch mit einem Wust mehr oder weniger unklarer Vorstellungen von übersinnlichen Dingen belastet ist und dass bei ihm, wie alle Kenner der Negerpsyche übereinstimmend erklären (cf. auch Ratzel, Völkerkunde) [,] das Unterscheidungsvermögen zwischen Wahrheit und Phantasieprodukt ebenso wie bei unseren Kindern oder manchen hysterischen Individuen wenig entwickelt ist.53 Obwohl es den Einheimischen bei der Besessenheit der Königs- und Kultmedien gerade nicht um Krankheit ging, sah die europäische Wahrnehmung hier also fehlenden Realitätssinn und psychische Krankheit – während es umgekehrt an der Küste den Missionaren beim pepo-Phänomen um moralischreligiöse Sünde ging, obwohl die einheimische Sicht hier Krankheit empfand. In der deutschen Wissenschaft interessierte letztlich nicht die Situation vor Ort mit ihrer je eigenen Bewältigung von Herausforderungen der conditio humana, sondern die weltweit gleichartige Krankheitsverursachung.
51 Ebd., S. 124. 52 Vix: „Beitrag zur Ethnologie des Zwischenseengebiets von Deutsch-Ostafrika“, S. 510. 53 Ebd., S. 511.
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9.
Südost-Tansania: Von Ahnen- und lokalen Schadensgeistern zu Geistmedien
Die deutlichsten Hinweise darauf, dass es sich bei den pepo-Tranceritualen nicht um eine allgemeine oder zumindest seit Jahrhunderten weit verbreitete Praxis handelt, sondern an den meisten Orten um einen Import in der Kolonialzeit, liefert der Befund in meiner Feldforschungsregion im Südosten, bei den Mwera, Makua, Makonde und Yao. Während die heutigen Trommeltänze für Geister in dieser Region recht weitgehend den kolonialzeitlichen Berichten von der islamischen Küste entsprechen, erzählen die sehr gründlichen Ethnographien von Benediktiner-Missionaren, dem späteren Abt-Bischof P. Joachim Ammann und dem Ethnologen P. Meinulf Küsters vom Münchener Völkerkundemuseum, aus dem südöstlichen Landesinneren der Zwischenkriegszeit noch von ganz anderen Bräuchen. Demnach unterschied man hier, wie auch in anderen Regionen, strikt zwischen Ahnen- und Schadensgeistern, also Geistern, die einmal Menschen gewesen waren, und solchen, die als Geistwesen erschaffen waren. Ahnengeist wurde jeder etwas bedeutendere Vorfahr, der sich nach seinem Tod in die Geschicke der Lebenden einmischen wollte. Insofern waren diese Geister moralisch wie die Menschen. Sie konnten – wenn wohl gesonnen – das Wohlergehen fördern. Waren sie böswillig, verbittert, erzürnt, vermochten sie das Leben auch zu beeinträchtigen. Man konnte sie um Schutz und Hilfe anrufen, ihre Unterstützung durch Bier- und Mehlopfer sichern und sie nötigenfalls damit auch um Versöhnung bitten. Sehr selten, auch im innerafrikanischen Vergleich,54 äußerten sich Ahnengeister durch Besessenheit eines Menschen, und wenn, dann gewöhnlich, um Opfer zu erreichen.55 Die übliche Weise ihrer Äußerung waren Orakel und Traum56: Blieb z.B. am Grab eines Vorfahren das Mehltürmchen unter einem Korb über Nacht stehen, war dies ein gutes Zeichen. Die Schadensgeister führten im Gegensatz zu den Ahnengeistern wohl häufiger zu Besessenheit, die mit Trance-Phänomenen verbunden war. Wer von einem solchen Schadensgeist besessen gewesen war und dies bewältigt hatte, wurde dann selbst zu einem der Heilungsexperten für diesen Geist, al-
54 Heintze: Besessenheits-Phänomene im mittleren Bantu-Gebiet, S. 100; Erdtsieck: Spirit, S. 83. 55 Weule: Wissenschaftliche Ergebnisse meiner ethnographischen Forschungsreise in den Südosten Deutsch-Ostafrikas, S. 64. 56 Ammann: Sitten und Gebräuche bei den Wamwera, S. 88; Interview mit der sehr alten Makua-Heilerin H. C., Nangomba, 7. November 2001.
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lerdings nur zu einem der unbedeutenden.57 Die bedeutenderen Experten waren für die Ermittlung von anderen Ursachen als von Geistern zuständig: Ursachen für Tod, Sachschäden, Reproduktionsprobleme. Damit muss die Zahl der Geister, die durch Besessenheit Krankheit erzeugen können, sehr begrenzt gewesen sein, da es ansonsten nicht für jeden einen entsprechenden Experten geben könnte. In der Tat waren es ursprünglich sogar nur vier, wovon wiederum nur die Hälfte Besessenheit erzeugt.58 Die anderen schädigen auf andere Weise wie z.B. Lähmung durch Berührung. Bemerkenswert ist nun, dass Tanz unabhängig von der konkreten Form der Geisteinwirkung ein geeignetes Mittel gegen Schaden durch Geister darstellt. Die missionarischen Ethnographen lassen offen, was genau sie unter Besessenheit verstehen, aber man darf vermuten, dass es mit Phänomenen wie Ekstase, Trance und fremdartigem Reden einhergehen muss und nicht einfach nur in der Berührung durch einen Geist besteht, denn sonst wäre der Unterschied zwischen solchen Schadensgeistern, die Besessenheit verursachen, und anderen, die dies nicht tun, unsinnig. Davon, dass der Geist in den Kopf steigt, ist zu dieser Zeit und in dieser Region nicht die Rede. Diese Geister, die für den Südosten in der Zwischenkriegszeit erwähnt wurden, sind heute allenfalls noch sehr alten Informanten vage bekannt. Die begrenzte Zahl an Schadensgeistern einer Ethnie mit jeweils spezifischen Krankheitsbildern, aber auch die zentrale Bedeutung der Ahnengeister gehörten schon bald der Vergangenheit an. Neue Arten und Funktionen der Geister kamen unter dem Einfluss der islamischen Küste auf: Sowohl Missionare als auch einheimische Männer interpretieren bestimmte Geister, meist als mizuka bezeichnet, als eine Möglichkeit für Frauen, von ihren Männern Zugeständnisse zu erlangen: Die mizuka äußern Wünsche nach etwas, z.B. bestimmte Getränke, Speisen oder Kleidung, das den Frauen bisher verwehrt wurde und nun von den Ehemännern zu bezahlen ist. Die offenbar schon immer gegebene weibliche Dominanz bei den Nutzerinnen der Geisterrituale wirkt sich nun auch auf deren Leitung aus. In meiner Feldforschungsregion waren jedoch nicht nur die Leiterinnen von Ngoma überwiegend weiblich, sondern sogar fast 90 % aller Heilungsexperten, zu denen wir uns mit dem gängigen, geschlechtsneutralen Begriff für ‚traditionelle Heiler‘ durchgefragt haben. Diese Heilerinnen waren alle ausnahmslos Geistmedien im eigentlichen Sinne. Denn sie erzählten, dass sie Heilerinnen geworden wären, weil sie selbst an ihrem Geist erkrankt waren und dies der einzige Ausweg, nämlich Wille des Geistes war. Eigene Kenntnisse und Kompetenzen
57 Ammann: Sitten und Gebräuche bei den Wamwera, S. 21. 58 Ebd., S. 89.
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zu Gesundheitsproblemen und deren Behandlung besäßen sie nicht, sondern könnten nur durch ihren Geist oder auch ihre verschiedenen Geister wirken. Denn der Geist benennt, wenn von ihnen gerufen, die Ursache des Problems eines Klienten und wählt die Mittel zur Abhilfe aus. Die Verbreitung dieser Geisterarten über ganz Ostafrika mit Verdrängung bisheriger lokaler Vorstellungen und Praktiken spiegelt die weitgehende Auflösung der alten Gesellschaftsordnung entlang ethnischer Grenzziehungen wieder. Die eigenen meist wohlwollenden Ahnen und örtlichen Schadensgeister spielen eine immer geringere Rolle. Krankheitserfahrungen und -deutungen, Bewältigungsangebote entsprechen dafür zunehmend einem überregionalen, auf Ostafrika zugeschnittenen Muster. Die ostafrikanischen Besessenheitskulte, deren partieller Eingang in die charismatischen, zunehmend pfingstlerischen unabhängigen afrikanischen christlichen Kirchen hier nicht behandelt werden kann, sind also ein Produkt der Moderne, aber eine funktionelle Differenzierung der Moderne, die hier keine überwiegend naturwissenschaftlich-technische, sondern spirituelle Bewältigung von Leben und Leid anbietet.
10.
Dramatisierung, Inszenierung, Verbalisierung
Vergleicht man frühere und heutige ethnographische Befunde aus dem Südosten, ergibt sich eine Tendenz zur stärkeren Dramatisierung und Inszenierung der Botschaften von Geistern. Zuvor konnten Geister entweder potentiell helfende Ahnengeister oder eher unerwünschte Schadensgeister sein, auch stören ohne in eine Person einzudringen, angerufen werden und daraufhin ohne weitere Antworten helfen oder im Traum Ratschläge geben, eventuell auch unbemerkt durch Orakel über Nacht. In den ursprünglicheren ostafrikanischen Vorstellungen verursachen einige Geister verschiedene körperliche Beschwerden, etwa Kältegefühl, Schwäche, Krämpfe, Lähmungen oder Schmerzen, direkt, als ihre primäre Wirkung. Was der Geist will, äußert er nicht unbedingt sprachlich. Man errät es aus Gesten der Tanzenden, einem Orakel oder Traum, dem ererbten Wissen, dass ein bestimmter Geist durch eine bestimmte Musik oder bestimmte Heilpflanzen besänftigt wird. Heute hingegen treten Geister hauptsächlich in Personen verkörpert in Aktion, Ahnenverehrung und Krankheitsverursachung durch Geister treten dagegen in den Hintergrund. Die Kranken werden häufiger klar als Besessene erkennbar; gegenüber somatischen Beschwerden, die auch weiterhin die Anfangsstadien einer Besessenheit bilden können, treten zunehmend psychische
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Ausnahmeerscheinungen in den Vordergrund.59 Die Besessenen schlüpfen – wie in den klassischen Swahili-Ritualen – in Rollen identifizierbarer Arten von Tieren (Löwe, Rind, Esel, Huhn) und Menschen (Araber, Somalis, Massai, Ngoni/Mafiti). Die Geister geben durch den Mund von Menschen ihr Verlangen, Ursachen von Problemen und mögliche Abhilfen kund60 und steigen immer in den Kopf auf. Die wachsende Bedeutung des Verbalen gegenüber dem Ritual bzw. der Wirkung des Geistes im Kopf gegenüber dem Befall anderer Körperteile könnte auf verschiedene moderne Entwicklungen zurückzuführen sein. Es mag die größere Bedeutung des Wortes gegenüber dem Ritus in Schriftreligionen widerspiegeln und damit vorwiegend islamischer Herkunft sein. Es entspräche aber auch der europäischen Idee, dass die einzigen Einwirkungsmöglichkeiten eines oder des Geistes auf den Körper über das Gehirn laufen, worin sich die ältere christliche Vorstellung von Krankheit als Folge der Sünde in die medizinisch-alchemistischen Konzeptionen von Einbildung und Imagination in der Frühen Neuzeit, vor allem aber die medizinisch-psychologischnaturwissenschaftlichen von Hypnose und Suggestion im 19. Jahrhundert als Einfallstor für auch organische Störungen fortsetzt. Bei einigen Geistern gab es aber auch nach Einführung sprechender Geister keine Kontaktaufnahme durch Sprache, so beim Eselsgeist, vom biomedizinisch geschulten Beobachter als Tetanus diagnostiziert, bei dem die Behandlung nur in Tränken und Rauch, das Ziel nur in der Austreibung bestand. Befall durch einen Geist ist also auch weiterhin nicht immer mit Reden in Trance verbunden, obwohl letzteres immer mehr zum Gipfelpunkt jeder Besessenheit wurde. Insgesamt ist zu beobachten, dass Geister, die sich nicht sprachlich äußern, heute kaum noch eine Rolle spielen. Die ihnen früher zugeordneten Krankheitsbilder werden offenbar leichter biomedizinischen Kategorien zugeordnet. Die einzige prominente Ausnahme sind die Fieberkrämpfe bei kleinen Kindern, die einem Geist namens Degedege zugeschrieben wurde, was aber heute eher als Krankheitsnamen ohne besonderen Bezug zu einem Geist verwendet wird. Offenbar stand es bei kleinen Kindern nie zur Debatte, die sprachliche Äußerung eines Geistes durch sie selbst zu erreichen.
59 „Das ganze Vorgehen [der Befragung; W.B.] scheint das Ziel und Ergebnis zu haben, eine psychische Beziehung zwischen Heiler und seiner Patientin zu etablieren.“ (Koritschoner: „Ngoma ya Shetani“, S. 216). 60 „to make the pepo speak“ (Skene: „Arab and Swahili Dances and Ceremonies“, S. 432).
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11.
Vom Opfer der Geister zu ihrem Medium
Für den Südosten Tansanias ist es offenkundig, dass die kolonialzeitliche Situation, in der ein Geist vorwiegend Krankheitsverursacher und eventuell lebenslanger Begleiter zur ausschließlichen Hilfe für alle von ihm selbst Besessenen war, sich zur heutigen Praxis veränderte, in der Geister verbal, durch den Mund der Heilerin (die freilich auch selbst einmal krankhaft Besessene gewesen sein muss) alle Probleme diagnostizieren und eine Lösung für sie empfehlen können. Doch damit stellt sich die Frage, wann, wie und warum es zu dieser wachsenden Bedeutung des Mediumismus kam, denn sie ist – angesichts des noch stärker von der Vorstellung affektiver Besessenheit geprägten Charakters auch der Swahili-Geisterrituale um 1900 – nicht alleine durch die Islamisierung im 20. Jahrhundert zu erklären. Einhergehend mit der Verschiebung vom technischen Orakel zur personalen Prophetie, von der Legitimation der Heiler durch (zunehmend aufgelöste) Sippen- und Dorfgemeinschaften hin zu einer durch selbstgewählte Kultgruppen, von männlicher zu vorwiegend weiblicher Leitung der Geisterituale, ist die plausibelste Erklärungsmöglichkeit der homogenisierende Trend zum ‚Allround-Experten‘. Früherer ‚großer Experte‘ für die Diagnose von allem und ‚kleine Experten‘ für Geister fusionierten zu einem neuen Heilertyp, der die prinzipielle Zuständigkeit für alle Arten von Problemen und Lösungen mit der Legitimation durch die von ihm verkörperten Geister verbindet. Eine moderne Tendenz zu einem einheitlichen Heilertyp würde übrigens auch der Entwicklung in Europa entsprechen, wo ja erst im 19. Jahrhundert die vielfältige Heilerlandschaft aus Ärzten, Wundärzten und vielen nicht registrierten Anbietern von Gesundheitsversorgung einem vom Zugang her einheitlichen Arztberuf gewichen ist. Eine solche allgemein bekannte und anerkannte Grundlage für heilende Tätigkeit bietet dann in Ostafrika die Berufung auf einen prominenten Geist, für dessen Kompetenzen die (vorwiegend) Heilerinnen nur das Medium darstellen.
12.
Ostafrikanische Geistmedien und multiple Modernen
Mangels ausreichender Quellen lässt sich nicht sicher entscheiden, ob der für den Südosten Tansanias angenommene Übergang von Geistern vorwiegend als Schadens- und Segensquelle hin zu Geistern als Informationsquelle durch den Mund von Heilerinnen nun tatsächlich oder nur scheinbar – etwa aufgrund geänderter Interessen der europäischen Beobachter – stattfand, inwieweit er durch Veränderungen im religiösen Weltbild oder der sozialen Ordnung, durch neue Geschlechter-Domänen oder eine gewandelte Heiler-Rolle verursacht ist.
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In jedem Fall sind jedoch sowohl die Funktion der Geister als auch die europäische Wahrnehmung gewandelt. Damit handelt es sich bei den Geistmedien in Afrika sicher nicht um ein archaisches Residuum im Sinne des evolutionistischen survival, vielmehr um ein charakteristisches Produkt von Modernisierung. Diese Form des Mediumismus ist jedoch wohl kaum durch nennenswerten Einfluss des nordatlantischen Spiritismus und Okkultismus, eher schon durch monotheistische Grundanliegen in islamischen und christlichen Traditionen sowie den aktuellen Gesundheitsmarkt zustande gekommen. Auch der anti-magische Monotheismus und eine säkularisierende Medialisierung können so, wie andere Importe aus der islamischen und europäischen Entwicklung ebenso, zu ‚multiplen Modernen‘ führen.
Ungedruckte Quellen Ammann, Joachim: Sitten und Gebräuche bei den Wamwera, unveröff. Typoskript 1955 (zur Verfügung gestellt und zur Veröffentlichung vorgesehen durch Maria Kecskési, Museum für Völkerkunde München). Küsters, Meinulf: Die Wamuera, unveröff. Typoskript 1931 (zur Verfügung gestellt und zur Veröffentlichung vorgesehen durch Maria Kecskési, Staatliches Museum für Völkerkunde München).
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Eine Stimme der Moderne – Der Dibbuk als Medium von ‚Tradition‘ Im Gefolge intensiver Diskussion um die Modernisierung des Osteuropäischen Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter jüdischen Intellektuellen aus Warschau, Krakau, Kiev, St. Petersburg, Vilna, Odessa oder Moskau gibt es eine Figur, die quasi exemplarisch zu zeigen vermag, welche Affinität zwischen den als überkommen deklarierten oder bedrohten Resten der Tradition einerseits und zeitgenössischen Modernisierungsbestrebungen andererseits bestehen kann: Ich denke hier an die Figur des Dibbuk (jiddisch Dibek, russisch Dibuk, polnisch Dybuk) und seine Präsenz in Texten, auf der Bühne, im Film und in Feuilletons von 1915-1937.1 Das Drama Der Dibbuk wird in Theaterrezensionen der 1920er Jahre als „anachronistisch“, exotisch oder primitiv beschrieben:2 Bernhard Diebold spricht von einem „Vampyr und Incubus“3 und Arnold Zweig beschwört in Bezug auf das ganze Drama Parallelen zu den „Vorformen des Dramatischen“, also zu Kult, Spiritualismus, Maskentanz und den „urtümlichen Beschwörungswelten“ „der primitiven Völker“4. Noch 2006 schreibt ein Literaturwissenschaftler über das Theaterstück: „the tradition of the primitive came to life almost on its own, without estranged theatrical reflection“.5 Diese auf den ersten Blick esoterische und abseitige Figur des Geistes eines Verstorbenen, der von einem lebenden Menschen Besitz ergreift, gewinnt in der jüdischen Kultur Ostmitteleuropas zu einem Zeitpunkt symbolische Wirkung, als die jüdische Intelligencija in den osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Hauptstädten von einer geistigen Krise der ‚Jüdischkeit‘ (Yiddishkeyt) spricht und darüber diskutiert, wie man eine moderne jüdische Kul1
Ich möchte Martin Zillinger sehr herzlich für zahlreiche wichtige Literaturhinweise danken. Ein weiterer Dank geht an Konrad Klejsa, der mir bei der Literatursuche und der technischen Einschätzung von Michaâ Waszyľskis Film Dybuk (Der Dibbuk) von 1937 half.
2
Charles Dobzynski spricht zum Beispiel vom „umfassenden Anachronismus“ (son total anachronisme) des Films (siehe Dobzynski: Le monde yiddish, S. 290).
3
An-Ski: Der Dibbuk, S. 167.
4
Zweig: „Großer Erfolg der Habimah“.
5
Safran/Zipperstein: The Worlds of S. An-sky, S. 372. Es handelt es sich um die Einführung von Vladislav Ivanov in die wiederaufgefundene russische Zensurversion des Stückes.
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tur und Nation erschaffen könne, nachdem der „talmudische Bezugrahmen“ (Karady), die Halacha (die jüdische Aufklärung) und das rabbinische Judentum in Zeiten der Nationalstaatlichkeit, die auch die Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn erfasst hat, nicht mehr genug bindende Kraft besitzen.6 Um die Juden aus dieser kollektiven Krise herauszuführen, werden verschiedene Szenarien, Wissensfelder und Lösungsvorschlage formuliert und durchdiskutiert, darunter ethnographische Modernität (Volkstradition und Folklore), Zionismus, Orthodoxie oder Sozialismus. Der Dibbuk übernimmt eine wichtige Rolle in diesem Krisenszenario. Semen Akimoviÿ An-skij (mit jiddischem Namen Shloyme-Zanvl Rappoport) (1863-1920) verfasst sein Drama Der Dibbuk 1915 zumeist in russischer Sprache. Diese russische Version gibt er an die Zensurbehörde weiter, welche sie mit einigen Veränderungen akzeptiert. Zudem liest er den Dramentext in verschiedenen Künstlerzirkeln und bei Freunden vor (vgl. Abb.1).7
Abbildung 1: Leonid Pasternak, An-skij liest im Sommer 1918 beim Verleger A. Stybel den Dibbuk vor. 8
Nach Hinweisen und Vorschlägen von Kollegen, darunter der Regisseur Konstantin Stanislavskij, überarbeitet er den Dibbuk und übersetzt ihn schließlich ins Jiddische. Diese jiddische Version publiziert er nach Ausbruch der Revolu6
Karady: Gewalterfahrung und Utopie, S. 17ff.
7
Zur Chronologie siehe Safran/Zipperstein: The Worlds of S. An-sky, S. xxxvixxix.
8
Die Abbildung 1, 2, 3 und 5 entnehme ich Safran/Zipperstein: The Worlds of S. An-sky, S. 165, 204, 208 und 233.
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tion 1919 in Vilna, wo sie 1920, kurz nach An-skijs Tod, von der Vilnaer Gruppe uraufgeführt wird. 1922 inszeniert Evgenij Vachtangov den Dibbuk in der hebräischen Übersetzung von Chaim Bialik mit dem Habima-Theater. Beide Aufführungen sind Riesenerfolge in ganz Europa, so dass weitere Produktionen in europäischen Ländern und Sprachen folgen.9 Neben dem Stummfilm Tkies Kaf aus dem Jahre 1920, der sich lose an An-skijs Drama anlehnt10, wird das Drama schließlich 1937 von Michaâ Waszľyski in Warschau verfilmt. Neben den russischen und jiddischen Textversionen gibt es also mehrere Inszenierungen und sogar zwei Verfilmungen des Dramas in der Zwischenkriegszeit. Die Leser, Zuhörer und Zuschauer rezipieren dabei den Dibbuk in den Dramenlesungen der 1910er Jahre, in den Theaterinszenierungen der 20er Jahre und im Film von 1937 zumeist als eine ‚authentische‘, wiedergewonnene Stimme der jüdischen Volkstradition, weil sie im Stück etwas über chassidische Legenden und Gerechte (Zaddik), über das rabbinische Gericht, über die Rolle von Amuletten und Seelenwanderung, über Talmud und Kabbala erfahren, aber auch weil sie chassidische Musik und Tänze oder ein Exorzismusritual erleben können und dies alles in einem in der Regieanweisung genau beschriebenen Shtetl mit alter Synagoge. Zu dieser Aufnahme als Stück mit authentischer Yiddishkeyt trug bei, dass An-skij nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Ethnograph bekannt war. 9
Vgl. Ivanov: „An-sky, Evgeny Vakhtangov, and ‚The Dybbuk‘“. Das Drama Dibek tsvishn tsvey veltn (Der Dibbuk. Zwischen zwei Welten) war Steinlauf zufolge (vgl. hierzu und im Folgenden Steinlauf: „Fardibekt!“) in den 20er Jahren eine große Erfolgsgeschichte. Es wird am 9. Dezember 1920 im Elizeum Theater in Warschau von der Vilnaer Truppe auf Jiddisch in der Inszenierung von Dovid Herman uraufgeführt. Steinlauf beschreibt die enthusiastischen Reaktionen in der Warschauer Presse der 1920er Jahren und versucht sie nachgerade als Verdibbukisierung Warschaus zu fassen. Von Warschau aus wird es dann in fast allen Bühnen und Städten im Zwischenkriegspolen aufgeführt, gelangt danach in die Repertoires von Theaterkompanien, Amateuren, nicht-jüdischen und jüdischen Kompanien in die ganze Welt. Zur Globalisierung des Dramas hat Michael Steinlauf zufolge die hebräischsprachige Version und Aufführung des Habima-Theaters in Moskau 1922 (inszeniert von Evgenij Vachtangov) beigetragen, so dass das Stück nach den jiddischen und hebräischen Aufführungen in Polnisch, Ukrainisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Dänisch, Schwedisch und Bulgarisch aufgeführt wurde. Der Dibuk wurde mehrmals verfilmt und kam als Ballett und Oper auf die Bühne. Auch Alban Berg und Antonin Artaud planten Adaptionen des Stoffes. Bis heute fungiert der Dibbuk als Symbol des Habima-Theaters, das mittlerweile das israelische Nationaltheater ist.
10 Der Film beruht eigentlich auf einem Stück von Perets Hirshbeyn aus dem Jahr 1907. Vgl. hierzu Hoberman: Bridge of Light, S. 80ff. Zum Film Dybuk allgemein siehe: Gross: Film ůydowski w Polsce und Mazur: Dybuk.
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Im 20. Jahrhundert wird er hin und wieder sogar als ‚Vater der russischjüdischen Ethnographie‘ bezeichnet, weil er im Juli 1912 bis 1913 nach langer Vorbereitung und zusammen mit Musikwissenschaftlern und Folkloreforschern die erste ethnographische Expedition in den jüdischen Ansiedlungsrayon unternahm.11 Im Folgenden möchte ich der Neuverhandlung von Tradition im Rahmen einer ethnographisch hergestellten Modernitätsvorstellung nachgehen. Im Mittelpunkt steht dabei die Figur des Dibbuk, der als eine Figur der Besessenheit das angeblich verschwindende Wissen des Ansiedlungsrayons schockartig darstellt, ohne es eigentlich zu erklären. An-skij entwickelt sich parallel dazu durch den Einsatz neuer Medien in Technik und Kunst selbst zu einem personalen Medium von Traditionsvermittlung, das das kollektive jüdische Wissen des ‚Volkes‘ (Folklore) aus der Peripherie des Russischen Reiches in die Städte trägt.
1.
Der Dibbuk im Kontext der ethnographische Expedition
Nach Aufzeichnungen An-skijs, die er drei bis fünf Jahre nach seiner Expedition publizierte, besuchte er ca. 70 Städte im Ansiedlungsrayon und sammelte dabei neben ungefähr 700 Objekten der materiellen Kultur, ca. 2000 Volkserzählungen (chassidische Legenden), 1500 Volkslieder, 1000 Melodien sowie Sprüche, Parabeln und Beschreibungen von Aberglauben.12 1914 wird das ethnographische Programm Der mentsh (Der Mensch) mit 2087 Fragen publiziert, das von dem bekannten russischen Ethnologen Lev Šternberg (18611927) herausgegeben wird. Dieser Fragenkatalog (Questionnaire) möchte das religiöse Imaginäre, d.h. Magie und Aberglauben der jüdischen Kultur der Chassidim einfangen. Darin finden sich beispielsweise Fragen wie „Weint die Seele, wenn sie den Körper verlässt“, „Glauben die Menschen, dass Engel die Beerdigung eines Zaddik begleiten, während Dämonen einen bösen Menschen in sein Grab werfen“? oder „Essen und trinken Menschen im Paradies?“13 Anskij plante eine große Dokumentation dieser Reise mit über 40 Bänden, die letztendlich wegen Weltkrieg, Oktoberrevolution, Bürgerkrieg und seinem ei-
11 Siehe hierzu Kugelmass: „The Father of Jewish Ethnography?“ 12 Hier und im Folgenden siehe Lukin: „An-ski Ethnographic Expedition and Museum“. 13 Beispiele aus dem Fragenkatalog finden sich in Neugroschel: The Dybbuk and the Yiddish Imagination, S. 53ff.
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genen Tod im Jahre 1920 nicht mehr zustande kam.14 An-skij und sein Team sind dabei die ersten Ethnographen, die einen Phonographen verwenden. Das Ergebnis dieser technischen Anwendung moderner Speichertechniken sind 500 Wachszylinder (siehe Abb. 2 und Abb. 3).
Abbildung 2: Juli Ėngel’ und Solomon Judovin untersuchen den bei der Expedition verwendeten Phonographen.
Abbildung 3: Einige Parkettleger kurz vor einer Gesangsaufnahme.
Ziel und Anlass der Expedition ist die ethnographische ‚Rettung‘ der chassidischen Kultur im Ansiedlungsrayon des Russischen Reiches kurz vor ihrer völligen ‚Korruption‘ durch die moderne Welt: 14 Siehe hierzu Zemtsovsky: „The Musical Strands of An-sky’s Polish Legacy“, S. 208.
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Mit jedem sterbenden alten Mann, mit jedem ausbrechenden Feuer, mit jedem zu bestehenden Exil verlieren wir ein Stück unserer Vergangenheit. Die besten Zeugnisse unseres traditionellen Lebens, unsere Gebräuche und unser Glaube verschwinden, die alten poetischen Legenden, die Lieder und Melodien werden bald schon vergessen sein; die alten, wunderschönen Synagogen zerfallen zu Ruinen oder werden angezündet. [...] Kurz: unsere Vergangenheit [...] wird bald vergessen sein.15 Hier sind alle Topoi vorhanden, die James Clifford mit dem Begriff ‚salvage ethnography‘ bezeichnet hat.16 Die ganze ethnographische Expedition verstand sich in einem ersten Schritt als Rettungsprojekt und in einem zweiten Schritt als Projekt einer Neudefinition von Yiddishkeyt. An-skijs Sammlertätigkeit war keine neutrale, nur archivierende Tätigkeit, sondern ein genau abgestimmter Akt, Wissen und Traditionsvermittlung neu zu organisieren. Er suchte dabei absichtlich bestimmte Details und folkloristische Bruchstücke (Chassidismus, Besessenheit) heraus, um eine kulturalisierende Narration, die auf eine säkulare jüdische Nation zielte, wirkungsvoll, kohärent und plausibel zu machen. Deswegen lässt sich an der Person und den Texten An-skijs sehr gut die Dynamik des sich als Sammler und Retter begreifenden Ethnographen ablesen, der zugleich eine narrative Strategie der (Neu-)Kulturalisierung des Judentums verfolgt: Jüdisches Volks-heritage sollte der Ausgangspunkt für die jüdische Avantgardekunst,17 das Lieblingskind einer sich als modern verstehenden Gesellschaft, werden, und als Vehikel dieser Vermittlung diente der Dibbuk mit seinen besonderen medialen und pathischen Fähigkeiten.18 An-skij stand mit seinem Interesse an einer volkstümlichen Kultur, einer ‚mündlichen Tora‘ – wie er dies in Anspielung an die angebliche orale Kultur der Chassidim (und die klassische orale Tora, sprich: den Talmud) nennt – nicht alleine da. In seinem programmatischen Essay Lampa Aladdina (Alladins
15 Dieses Zitat stammt aus Dos yidishe etnografishe program (Das jüdische ethnographische Programm), der jiddisch geschriebenen Programmschrift von An-skijs Expedition, das nur noch in einigen Exemplaren an wenigen Bibliotheken erhalten ist, wovon mir leider kein Exemplar im Original zugänglich war. Ich zitiere hier deswegen den englischen Text in eigener Übersetzung, siehe Ansky: The Dybbuk and Other Writings, S. xxiv. Wenn nicht anders angegeben stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin. 16 Vgl. Clifford: „Über ethnographische Allegorie“. 17 Siehe Ėfros: „Lampa Aladdina“. 18 Für die Idee der besonderen pathischen Eigenschaften des Dibbuks beziehe ich mich auf Busch/Därmann: „Einleitung“.
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Lampe) aus dem Jahre 1918 beschreibt Abram Ėfros mit Blick auf An-skijs Tätigkeit, man müsse, um die jüdische Kunst zu befördern, ein neo-folkloristisches und primitivistisches Programm der modernen Kunst verfolgen, auch wenn man im Vergleich zu anderen Nationen dabei verspätet sei.19 Die magische Lampe aus 1001 Nacht ist Ėfros Symbol für ein Relikt, ein Überbleibsel aus der alten Zeit, dessen Geist – im arabischen Text ein Djin – nun in einem künstlerischen ‚Polierakt‘ so aufbereitet wird, dass seine Magie wieder wirkt und arbeitet. Auch hier bei Ėfros ist das zur Veranschaulichung herangezogene Bild ein alter Geist, der die Vermittlungsarbeit zwischen der Vergangenheit und der Neueinrichtung der Gegenwart durch direkte Ansteckung leisten soll. An-skijs Interesse an ‚primitiver‘ Religion, Magie, Schamanismus und Aberglauben war kein isoliertes Phänomen im Russischen Reich um 1900. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es im Gefolge des Narodniÿestvo (Volkstümler-Bewegung) verstärkt Studien zu besessenen Frauen (klikuši), Dämonen, Besessenheit bei den russischen Bauern, die zum Teil als religiöspsychische Epidemien klassifiziert wurden, hervorgerufen durch primitive sexuelle Praktiken und frühe Heirat der 1861 der aus der Leibeigenschaft entlassenen Landbevölkerung.20 Der schon erwähnte Betreuer und Verfasser des ethnographischen Programms Der mentsh, Lev Šternberg, veröffentlicht 1904 eine Abhandlung über die Religion der Giljaken, worin auch seine Beobachtungen über Schamanen und ihre Techniken der Hypnose und Autosuggestion festgehalten sind.21 Auch andere wichtige russische Ethnologen wie Vladimir Bogoraz (1865-1936), der die Tschukschen und Korjaken erforscht, und Vladimir Iochel’son (1856-1937), der über die Jukagiren arbeitete, studierten mit Šternberg ostsibirische Völker, was das Interesse von Franz Boas erregte. Alle drei verbindet mit An-skij, dass sie aus der gleichen Generation und aus revolutionärem Umfeld oder der Narodniÿestvo-Bewegung kommen und ihre Arbeiten deswegen zum Teil in der Verbannung (Šternberg, Bogoraz) begonnen haben. Chassidim, Schamanen, russische Bauern wurden dabei alle unter dem Vorzeichen des Primitivismus gelesen.22 19 Siehe Ėfros: „Lampa Aladdina“, S. 217. 20 Worobec: Possessed, S. 180-187. 21 Kohl/Feest: Hauptwerke der Ethnologie, S. 450ff. Andrei Znamenski schreibt über die erstaunliche Tatsache, dass diese Autoren nur durch ihre unfreiwillige Erfahrung im sibirischen Feld zu Ethnographen wurden. Znamenski: The Beauty of the Primitive, S. 72. 22 Vgl. hierzu auch Safran: „Jews as Siberian Natives“, die gleich zu Beginn ihres Aufsatzes auf den „paradoxical status“ der Juden als ‚Volk des Buches‘ und ‚Primitive‘, die in Ostmitteleuropa ihre patriarchales Leben bewahrt haben, verweist (S. 35). Yoram Bilu sieht darin auch den Grund für die Zurückhaltung innerhalb der Judaistik, anthropologische und ethnologische Kriterien für die judaistische For-
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Die Institutionalisierung der russisch-jüdischen Ethnographie beginnt 1889 mit der Gründung der Jüdischen Historisch-Ethnographischen Kommission der Gesellschaft für die Verbreitung von Kultur unter den Russischen Juden in St. Petersburg.23 1901 bringen Saul Ginzburg und Petr Marek die ersten jüdischen Volkslieder (Evrejskie narodnye pesni) heraus, die sie noch nicht selber im Feld sammeln, sondern durch einen Aufruf zugesendet bekommen. 191214 wird dann mithilfe der Jüdischen Historisch-Ethnographischen Gesellschaft (1908-1919) die erste Expedition ins Feld durch An-skij unternommen. In Polen versucht vor allem die Gruppe um den Schriftsteller Yitskhok L. Perets, darunter Y.L.Cahan, Folklore zu sammeln. Aber auch zwei weitere Kreise um Noah Pryâucki und Shmuel Lehmann sowie Pinkhes Graubard arbeiten abseits institutioneller Anbindung sehr erfolgreich. Vor allem die unter dem Pseudonym M. Vanvild entstandene Sammlung Bey undz yidn. Zamlbukh far folklor un filologye (Bei uns Juden, Warschau 1923) gilt heute als epochemachende Sammlung von Meisterdiebstahlgeschichten, Unterweltfolklore, Kinderreimen und Purimspielen. 1925 erfolgt dann in Vilnius die Gründung des Jüdischen Wissenschaftlichen Institutes YIVO (Yidisher visnshaftlekher institut), was den Folkloresammlern und Philologen ein Netzwerk und institutionelle Anbindung gibt, so dass ab Ende der 1920er Jahre Handbücher und Ausbildungsprogramme für Folkloristen entstehen. Ohne eine völlige Kontextualisierung von An-skijs Forschungsinteressen und ethnographischer Arbeit leisten zu können, scheint es mir wichtig festzuhalten, dass Der Dibbuk auf dem Höhepunkt des Zuflusses von Legenden aus dem Ansiedlungsrayon in den 1920er und 1930er Jahren seine Erfolge auf dem Theater und auf der Bühne feiert – was auch eine zeitgenössische Karikatur vermittelt (Abb. 4).
schung zu verwenden, d.h. „to equate the ‚primitive‘ religious systems of ‚savage‘ societies with concepts and rituals pertaining the oldest monotheistic religion“ (Siehe Bilu: Dybbuk and Maggid, S. 341). Zum Primitivismus allgemein vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. 23 Hier und im Folgenden vor allem Kirshenblatt-Gimblett: „Folklore, Ethnography, and Anthropology“, S. 522 und Gottesmann: Defining the Yiddish Nation.
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Abbildung 4: Buchumschlag von „Yiddishist“ des Satirikers Der Tunkeler.24
Neben dieser ethnographischen Kontextualisierung von An-skijs Dibbuk möchte ich exemplarisch auf bekannte literarische Texte in dieser Zeit hinweisen, die ebenfalls das Besessenheitsphänomen aufgreifen: Zu nennen wären hier Fedor Dostoevskijs Brat’ja Karamazovy (Brüder Karamazov, 1880-1), Andrej Belyjs Serebrjanyj golub’ (Silberne Taube, 1909) und Valerij Brjusovs Ognennyj angel (Der Feurige Engel, 1908), die alle besessene Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten und Kontexten thematisieren.25 Der Dibbuk steht in konzeptueller und in intertextueller Nähe zu diesen und anderen wichtigen Werken der symbolistischen Moderne (Belyj, Brjusov und Andreev), weswegen An-skij das Drama auch zuerst auf Russisch schrieb.26
24 Quelle: Gottesmann: Defining the Yiddish Nation, S. 92. 25 Siehe hierzu auch Worobec: Possessed, S. 136ff. Der Erzähler berichtet in Dostoevskijs Brüder Karamazov im ersten Buch ausführlich von einer „klikuša“ (Besessenen) und liefert die zeitgenössische Interpretation der Oberschicht noch mit dazu, dass alles eine Verstellung sei bzw. dass es eine furchtbare Frauenkrankheit sei, die vom schweren Los der Bäuerinnen in Russland zeuge. 26 Diese Nähe zur russischen Literatur und zum Theater des silbernen Zeitalters untersucht Wolitz: „Inscribing An-sky’s Dybbuk in Russian and Jewish Letters“.
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Welche Besessenheitsgeschichte wird nun aber in Der Dibbuk inszeniert? Die Handlung spielt in einer unbekannten Zeit irgendwo im Ansiedlungsrayon, immer wird auf das Alter der Dinge und der Architektur verwiesen (zum Beispiel in der Regieanweisung des Stückes) – und dieses zeitliche othering fügt sich natürlich in das Programm einer Darstellung traditionellen Lebens im Sinne Johannes Fabians ein.27 An-skij verbindet eine fast kitschig anmutende Liebesgeschichte mit jüdischer Mystik. Im Mittelpunkt steht die verhinderte Liebe zwischen Lea (Leye) und Khonen (Khonon), weil der Vater statt des armen Yeshive-Schülers einen Bräutigam aus reicher Familie bevorzugt. Als Khonen es trotz all seiner häretisch-kabbalistischen Bemühungen, trotz des Fastens und wiederholten Ritualbädern nicht schafft, die Ehe zu erzwingen, stirbt er an den Folgen dieser häretisch-kabbalistischen Versuche. Als drei Monate später die Heirat Leas mit dem jungen Menashe stattfinden soll, erscheint die Braut, die auf dem Friedhof bei ihrer Mutter war, völlig verändert, so dass der Vater seine Tochter schließlich für „wahnsinnig“ (meshuge) hält. Den erläuternden, letzten Satz spricht der Mittler und Sendbote (meshulekh): Er zieht das Fazit, dass ein Dibbuk (Khonons Seele) in die Braut gefahren sei („in der kale iz areyn a dibek“) womit das Drama seinen ersten Höhepunkt erreicht.28 Lea besitzt jetzt eine fremde Stimme (Xenoglossie), die von außerhalb der Welt her spricht.29 Die folgenden Szenen kreisen vor allem um die Frage, warum der Dibbuk sich gerade Lea ausgesucht hat und auf welche Weise bzw. von wem er ausgetrieben werden könnte. Der Zaddik von Miropol erfährt beim Exorzismus schließlich die Gründe, warum der Dibbuk-Khonen in Lea gefahren ist und sich weigert, diese zu verlassen: Die Väter von Lea und Khonen hatten die Kinder einst einander versprochen, Khonens Vater starb und verlangt nun als Geist ebenfalls Gerechtigkeit. Er wird deswegen vor das rabbinische Gericht geladen. Nachdem der Dibbuk schließlich Leas Körper verlassen hat, stirbt sie, indem ihre Seele sich mit der Seele Khonens vereint. Das Stück wendet sich an ein nicht mehr mit den jüdischen Gesetzen vertrautes und nach ihnen lebendes Publikum. Nicht zuletzt deswegen fügt Anskij auf Stanislavskijs Anraten hin eine Vermittlergestalt – den meshulekh (Bote, Mittler) – in das Stück ein. Er und andere Nebenfiguren erzählen im Stück Legenden chassidischer Zaddikim, erläutern chassidische Bräuche, das Alltagsleben (byt) und den Aberglauben. Zudem werden Tänze aufgeführt, der Musikethnologe Juli Ėngel’ steuerte die passende Musik bei, das Exorzismus-Ritual wird genau beschrieben und Formeln zitiert (shofar, minjan) – all dies sind die
27 Vgl. Fabian: Time and the Other. 28 An-ski: Dibek, S. 61. 29 Alexander: „Love and Death in Contemporary ‚Dybbuk‘ Story“, S. 313
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Gründe dafür, warum Arnold Zweig das Stück als „vordramatisch“ beschreibt.30 Auch eine der An-skij zufolge ältesten Legenden, die er im Ansiedlungsrayon immer wieder erzählt bekommen hat, findet einen prominenten Platz im Stück: die Legende vom Heiligen Brautpaar, das unter der Chupe (Hochzeitsbaldachin) von den Kosakentruppen Bogdan Chmelnickijs 1648 niedergemetzelt wurde. An manchen Stellen erscheint das Stück als Ansammlung grob aneinander gefügter ethnographischer Textfunde und undramatischer Erläuterungen zu kabbalistischen Details. Das ganze funktionierte aber erfolgreich als Theaterstück, weil die undramatische Handlung durch Tänze, Gesang und mystische Szenen, die die avancierten Verfahren des modernen russischen Theaters in die Aufführung integrierte, zu einem multimedialen und ansteckenden Bühnenereignis wird. Arnold Zweig vermisste deshalb in der Habima-Aufführung „schmerzlich“, dass es Evgenij Vachtangovs „Anschaulichkeit“ nicht „schaffte, dass […] erst die Seele Nissans, dann Chanans […] wirklich sichtbar in Erscheinung trete – irgendwie ganz einerlei mit welchen Mitteln“.31 Zweigs Ruf nach dem Einsatz von spiritistischen Mitteln erfüllt schließlich erst der Filmregisseur Waszyľski elf Jahre nach Vachtangov mit seiner Verfilmung, wenn er Khonens Seele durch Überblendungstechnik als Geist über den Friedhof schreiten lässt.
2.
Beobachtung und mediale Vermittlung von Tradition
An-skij wurde in der Absicht, eine Antwort auf die konstatierte Krise des Judentums zu geben, mit seinem Dibbuk und anderen Texten zu einem Legendenerzähler, der neue jüdische Basis-Narrative entwarf, die sich einerseits das folkloristische Material selbst, andererseits die Entstehungsumstände solcher Legenden in Zeiten der Krise zum Vorbild nahmen.32 Er zeichnet auf seiner Expedition nicht nur wirkungsvolle orale Legenden für seine Texte auf, sondern schaut sich auch deren Verwendung in Krisenzeiten ab. Da der erste Weltkrieg eine Fortsetzung der ethnographischen Expeditionen unmöglich macht, reist An-skij von 1915-1917 als Rot-Kreuz-Offizier nach Galizien und besucht zum Teil die gleichen Städte, die er vorher ethnographiert hat. Er beobachtet dort, wie die Juden, die im Ersten Weltkrieg zwischen die Fronten geraten, den konkreten und imaginären Bedrohungen des Krieges (v.a. Spionagevorwürfe) mit Gegenerzählungen und Wunderlegenden begegnen. An-skij 30 Zweig: „Großer Erfolg der Habimah“. 31 Ebd. 32 Der Dibbuk entstand selbst im Umfeld der Ritualmord-Anklage gegen Menachem Bejlis 1913 in Kiev, die viel Presseaufmerksamkeit erfahren hat.
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sammelt seine Erlebnisse in der dreibändigen Galizienchronik Khurbn Galitsye: der yidisher khurbn fun Poyln, Galitsye un Bukovina, fun togbuch 1914-1917 (Die Zerstörung Galiziens: die jüdische Zerstörung Polens, Galiziens und der Bukowina, aus dem Tagebuch der Jahre 1914-17), die postum 1921 erscheint. Neben der Beobachtung und Beschreibung von Zerstörung bricht hier An-skijs Aufmerksamkeit gegenüber Formen oraler Narration durch. Er zeichnet aus seinem ethnologischen Interesse an Alltagserzählungen heraus sehr ausführlich die mündlichen Zeugnisse, Gerüchte und Kriegslegenden der unterschiedlichen Gruppen auf. Immer wieder ist er erstaunt, wie viele Menschen diesen Gerüchten Glauben schenken, er versucht ihre Herkunft zu klären oder sie psychologisch zu durchdringen. Wir finden lange Passagen, in denen seine Informanten (Polen, Russen, Juden, Frauen und Männer, Soldaten und Zivilisten) von diesen Gerüchten berichten. Der Dibbuk, den er 1913 beginnt, ist ein Ergebnis beider Tätigkeiten Anskijs, sowohl der ethnographischen, als auch der kriegsberichterstatterischen. Die Folklore soll die essentialistische Basis dieser Narrative bilden: Statt auf den talmudischen Bezugsrahmen setzt er ganz im romantischen Sinne den Schwerpunkt auf eine Kultur, deren Ethnizität auf der mystischen Volkskultur der chassidischen Juden aus dem russischen Ansiedlungsrayon und Galiziens beruhen soll. Der Dibbuk ist eine Gegenerzählung, die auf Assimilationsaufforderungen, Marginalisierung und das Abhandenkommen von Kultur im Moment der Beobachtung antwortet. Wie arbeitet aber dieses Gegennarrativ und warum wurde es im Vergleich zu anderen Narrativen, die einen ähnlichen Ansatz haben, so erfolgreich? Um dieser Frage nachzugehen, möchte ich noch einen Blick auf den Erwerb von Information durch An-skij werfen und auf die Vermittlung folkloristischen Wissens. An-skij selbst agierte nämlich als Medium folkloristisches Wissen unter anderen Intellektuellen in Warschau, Kiev oder Petersburg. In seinen Erinnerungen an einen der wichtigsten jiddischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Yizkhok Leybush Perets (1852-1915), den Initiator der Wendung zur Folklore,33 beschreibt An-skij dieses Zirkulieren von mündlicher Folklore und ihrer Wiedererfindung in der Schriftkultur durch sein mündliches Nach(-Erzählen). Nokh ershtarkt hot zikh unzer freyndshaft mit a yohr drey-fir tsurik, bes ikh hob organisirt di yidishe etnografishe ekspeditsie, ongehoybn arumfahren iber shtedt un shtedtlekh un zamlen folks-mayses, legendes, lider, nigunim ukhdoyme [etc.]. Perets un Dinezon zenen geven enttsikt fun derdoziger unternemung. Yedes mol, ven ikh bin geven in 33 Kiel: „Vox populi, vox dei“.
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varshe, flegt perets mir ‚aniderzetsen‘ dertsehlen ihm khsidishe mayses. Oftmol flegt ikh sheh’n lang zitsen un dertsehlen ihm eyn mayse nokh der anderer. Er hot tsugehert un nisht gekont zikh onzetigen. Derbey hob ikh gehat di meglikhkeyt tsutsuzehn, vi es kumt for di sheferishe arbeyt fun Perets’s geyst. Do gufe, beys ikh hob nokh di mayse dertsehlt, hot Perets zi shoyn oyfgenumen, azimilirt, aroysgevorfen fun ihr di nisht kinstlerishe shtrikhen, tsugegeben neye, tsuzamengebunden mit protim fun an’anderer mayse. Un ikh hob nokh keyn tseyt nisht gehat tsu endigen, vi Perets hot shoyn mir dertsehlt di eygene mayse an’ibergearbeyte in a ‚folkstimlikher geshikhte‘, velkhe iz geven azoy veyt fun dem ershten nusekh, vi a geshlifener briliant fun a nor-vos oysgegrobenem briliant-shteyndel. Oyf morgen iz eyne aza mayse geven ongeshriben un in a for teg arum gedrukt mit der vidmung ‚An-ski’n: dem zamler‘.34 Unsere Freundschaft wurde vor ungefähr drei, vier Jahren noch intensiver, als ich die Jüdische Ethnographische Expedition organisierte und anfing, durch Städte und Städtchen zu fahren, um Volkserzählungen, Legenden, Lieder, Melodien etc. zu sammeln. Perets und Dinezon waren von diesem Unternehmen begeistert. Jedes Mal, wenn ich in Warschau war, wollte er, dass ich mich zu ihm ‚hinsetze‘ und chassidische Geschichten erzähle. Sehr oft saß ich lange Zeit bei ihm und erzählte eine Geschichte nach der anderen. Er hörte zu und konnte nicht genug bekommen. Währendessen hatte ich die Möglichkeit zu beobachten, wie die schöpferische Tätigkeit von Perets Geist vor sich geht. Während ich noch die Geschichte erzählte, nahm sie Perets schon auf, eignete sie sich an, verwarf die unkünstlerischen Teile, fügte neue hinzu, verband sie mit Einzelheiten einer anderen Geschichte, und ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, zu Ende zu erzählen, als Perets mir schon meine eigene Geschichte [mayse] als überarbeitete ‚volkstümliche Geschichte [geshikhte]‘ wiedererzählt, die so weit von der ersten Version entfernt war, wie ein geschliffener Brillant von einem gerade eben ausgegrabenen Brillantstein. Am anderen Tag wurde eine solche Geschichte niedergeschrieben und vier Tage später mit der Widmung gedruckt: An-skij, dem Sammler. An-skij ist für die zwei bekannten jiddischen Schriftsteller der Informant der traditionellen (hier: chassidischen) Lebenswelt mit ihrer oralen Kultur. Der eigentliche Erzähler oder Informant im Ansiedlungsrayon tritt nicht mehr in Erscheinung. An-skij wird von Perets wie eine Art unsichtbarer Vermittler ge34 Ans-ki: Y. L. Perets, 166f. Ich verwende für die hebräischen Buchstaben die am Englischen angelehnte YIVO-Umschrift, allerdings habe ich die Orthographie Anskis beibehalten und nicht dem heutigen YIVO-Standard angepasst.
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braucht, der ihm Zugriff gewährt auf die ‚volkstümlichen‘35 Stoffe und Motive, die den Ausgangspunkt seiner Sammlung Folkstimlekhe geshikhtn (Volkstümlicher Geschichten) bilden wird, die David Roskies zurecht als Texte bezeichnet, die eine kulturelle Tradition so gut imaginieren, dass sie bis heute als authentische Erzählungen der osteuropäischen jüdischen Kultur rezipiert werden – und die ja auch tatsächlich medial umgewandelte orale Texte modellieren.36 An-skij und seine Mitarbeiter haben eine große Zahl solcher oralen Legenden aufgezeichnet und verschriftlicht. An-skij trägt sie nun in der Stadt mündlich vor und bewundert danach die rasche, zuerst ‚mündliche‘ Umarbeitung der Erzählungen durch Perets und seine darauf folgende Verschriftlichung. Nach der schriftlichen Niederschrift der mündlichen Quelle der Ethnologen und der mündlichen Wiedergabe durch den „zamler“ (Sammler) An-skij folgt also die ästhetische mündliche Bearbeitung durch den Schriftsteller Perets und schließlich wiederum eine erneute, zweite Niederschrift. Die Erzählung hat medial gesehen mehrere Verwandlungen erfahren, trotzdem fällt auf, dass An-skij nicht befürchtet, die Authentizität, das Volkstümliche der Erzählungen könnte durch die abschließende künstlerische Bearbeitung verloren gehen. Der ‚individuelle‘ Kunstraum wird vielmehr als eine Art Erfüllungsraum der ‚kollektiven‘ Volkslegenden betrachtet. Das unterstreicht, dass sein Ziel als Ethnograph nicht nur darin bestand, die chassidischen Erzählungen zu sammeln, sondern über ihre Wieder- oder Nacherzählung Kulturalisierungsprozesse in Gang zu setzen. Ähnlich sah Ėfros ‚Volkskunst‘ in Lampa Aladdina hierarchisierend als Material für den eigentlichen Kunstakt: „Volkskunst wird für uns nur dann zu einer lebensspendenden und wundertätigen Quelle, wenn sie künstlerisch umgearbeitet und nicht imitierend übernommen wird“.37 Imitation und Mimesis werden als poetologische Prinzipien ausgeschlossen, dabei orientiert sich An-skij selbst bei der Vermittlung seiner Geschichten, insbesondere des Dibbuk, an der ethnographischen Situation, in der er ethnographisches Wissen aufzeichnet: An-skij liest wiederholt an verschiedenen Orten in Petersburg, Moskau, Kiev, Odessa und Vilna Künstlern, Theaterleuten, Schriftstellern das Drama Der Dibbuk vor, bevor es aufgeführt wird (Abb. 5 ).
35 Zur Etymologie des Wortes siehe Roskies: The Jewish Search for a Usable Past, S. 371. 36 Roskies: A Bridge of Longing, S. 5f. und 99-146. 37 Ėfros: „Lampa Aladdina“, S. 235: ɇɚɪɨɞɧɨɟ ɢɫɤɭɫɫɬɜɨ ɫɬɚɧɟɬ ɞɥɹ ɧɚɫ ɠɢɜɢɬɟɥɶɧɵɦ ɢ ɱɭɞɧɵɦ ɢɫɬɨɱɧɢɤɨɦ ɬɨɥɶɤɨ ɬɨɝɞɚ, ɤɨɝɞɚ ɨɧɨ ɛɭɞɟɬ ɬɜɨɪɱɟɫɤɢ ɩɟɪɟɪɚɛɚɬɵɜɚɬɶɫɹ, ɚ ɧɟ ɩɨɞɪɚɠɚɬɟɥɶɧɨ ɩɟɪɟɧɢɦɚɬɶɫɹ.
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Abbildung 5: An-skij liest den Dibbuk bei der Vilnaer Theatertruppe.
Diese Leseabende sind seine ersten Proben, den Dibbuk auf seine dramatische Tauglichkeit und als Traditionsvermittler und Sprachrohr zu testen und diese Szenen kann man – das fällt bei längerer Betrachtung der Bilder auf – als eine Art Umkehrung der ethnologischen Situation im Feld lesen, als einen Chiasmus der Akteure: Sehen wir bei der Expedition (siehe Abb. 2 und 3) An-skij oder seine ethnographischen Kollegen als Zuhörer und als Informationssammler, so erkennen wir auf der Fotografie und auf Pasternaks Gemälde (Abb. 1 und 5) An-skij als Ethnologen und Verbreiter von ethnologischem Wissen in Form eines künstlerischen Textes. An-skij spiegelt damit seine ethnologische Praktik in der künstlerischen. Ein zweiter Beleg für die Spiegelung oder Inversion38 von An-skijs Erfahrungen im Ansiedlungsrayon findet sich im Bericht Avrom Rekhtmans, Jüdische Ethnologie und Folklore. Erinnerungen an die von An-skij geleitete ethnologische Expedition, die dieser in den 1950er Jahren in Argentinien verfasst. Rekhtman gibt als Expeditionsteilnehmer Auskunft darüber, dass An-skij und seine Kollegen, um von Heilerinnen oder Rabbis Zaubersprüche etc. zu erhalten, vorgespielt hätten, in einer existentiellen und ökonomischen Krise zu sein, da man ihnen als Ethnologen keine Sprüche gegeben hätten, um diese nicht unwirksam zu machen.39 An-skij täuscht also ökonomische Krisensymptome vor, während er eigentlich unter kulturellen Krisensymptomen leidet. Weil er aber die Bewoh-
38 Hier beziehe ich mich auf Fritz Kramers Idee einer Ethnologie kultureller Konversion, siehe Behrend: Geist, Bild und Narr, S. 7. 39 Rekhtman: Yidishe etnologie un folklor, S. 290ff. Den Hinweis auf diese wichtige Stelle bei Rekhtman entnehme ich Kugelmass: „The Father of Jewish Ethnography?“, S. 351.
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ner des Ansiedlungsrayons als krisenhaft identifiziert hat und nicht sich selbst, hält er die Vortäuschung für ein legitimes Verfahren bei der Rettung des kulturellen Erbes. Trotz der Vortäuschung nimmt er Medizin und Zaubersprüche aus dem Ansiedlungsrayon mit, die er dann gegen die kollektive Krise der Intelligencija in den Städten und seine eigene kulturelle Krise einsetzt. Die Ethnologen um An-skij fuhren also in den Ansiedlungsrayon, um Mystik, rituelle Praktiken und Besessenheit zu erforschen oder Kinderreime zu sammeln. Sie nehmen dabei ihre eigenen Kulturtechniken mit und unterstellten „die Objekte ihrer Untersuchungen literarischen, ikonologischen und medialen Ordnungen, […] während sie hofften, von diesen gerade erlöst zu werden“.40
3.
Dibbuk als Figur der Geistbesessenheit
Als letzten Schritt möchte ich nun die Rolle der Figur des Dibbuk in diesem Spannungsfeld nachzeichnen. Dabei zeigt sich, dass der Dibbuk sich von einer religiös-rituellen, sprich vor allem synchronen Figur der Geistbesessenheit seit dem 17. Jahrhundert, zu einer diachronen Figur der Tradition wandelt, indem die Figur aus einem religiös-rituellen in ein ethnographisch-folkloristisches bzw. künstlerisches Feld gerät, in welchem der Dibbuk als mediale Stimme der Modernität erscheint.41 Der Gebrauch des Wortes Dibbuk ist Gershom Scholem zufolge erst für das 17. Jahrhundert belegt.42 Tamar Alexander verweist präzise auf ein jiddisches Dokument aus Volhynien aus dem Jahre 1680 – An-ksijs Expeditionsfeld.43 Ein Dibbuk ist eine Seele oder ein Geist, die in einen menschlichen oder tierischen Körper fährt und von diesem Besitz ergreift.44 Scholem zufolge ist der Dibbuk im Unterschied zu anderen kabbalistischen Seelenwanderungsvorstellungen wie „ibbur“ und „gilgul“ mit Folklore und damit nichtrabbinischem Judentum verbunden – Scholem unterscheidet schon hier zwischen Religion (wobei er hier die Kabbala zur Religion zählt) und zum Aberglauben neigenden Volksglauben bzw. Magie:
40 Holl: Kino, Trance & Kybernetik, S. 125. 41 Der Titel dieses Aufsatzes nimmt bewusst Bezug auf Baumann/Briggs: Voices of Modernity. 42 Die folgenden Ausführungen zur (Begriffs-)Geschichte von „Dibbuk“ folgen Scholem: La kabbale, S. 528ff. Diese Ausgabe Scholems versammelt die Artikel aus der Encyklopedia judaica. 43 Alexander: „Love and Death in Contemporary ‚Dybbuk‘ Story“, S. 309 44 Vgl. hierzu neben Scholem auch Chajes: Between Worlds.
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In der jüdischen Folklore und im Volksglauben wird ein böser Geist oder eine verlorene Seele, die in einen lebenden Menschen eindringt, sich an seine Seele hängt und mentale Störungen hervorruft, durch seinen Mund spricht und eine andere und fremde Persönlichkeit offenbart, Dibbuk genannt.45 Der Terminus findet sich Scholem zufolge weder im Talmud noch in kabbalistischen Schriften, wo dieses Phänomen mit „böser Geist“, „ibbur“ oder „ruah tezazit“ benannt wird. Der Terminus wurde somit erst von aschkenasischen Juden eingeführt und kann mit Besessenheit gleichgesetzt werden.46 Dibbuk (dibbuq) bezeichnet eigentlich den Akt des „Anhaftens“ einer Seele an einen Körper, weil „davok“ das hebräische Verb für „anhaften“ ist. Aus dem Prozess entwickelt sich eine Bezeichnung für den Geist selbst, den man als „Anhafter“ übersetzen könnte. Die Figur des Dibbuk ist dabei eng verknüpft mit der im 16. Jahrhundert in Safed entwickelten Vorstellung von Metempsychose (Seelenwanderung, in der immer die gleiche Generation verschwindet und wiedergeboren wird).47 Es gibt somit auch in der religiösen Sphäre traditionsvermittelnde Effekte der Seelenwanderung; allerdings werden diese Phänomene mit dem Begriff „gilgul“ (Wiedergeburt) und „ibbur“ (Schwängerung) be-
45 Scholem: La kabbale, S. 528. 46 Scholem schreibt von zahlreichen Dibbukfällen vor dem 17. Jahrhundert – auch wenn hier die Bezeichnung Dibbuk anachronistisch verwendet wird: also in der Zeit des zweiten Tempels und der talmudischen Zeit. Sehr viel seltener finden sich Besessenheitsfälle im Mittelalter. Ab 1560 gibt es dann scheinbar wie aus dem Nichts zahlreiche überlieferte Zeugnisse und belegte Fälle in Jiddisch und Hebräisch (Scholem: La kabbale, S. 530). Genau an diesem Punkt setzt J. H. Chajes Arbeit (Chajes: Between Worlds) von 2003 an, die zum einen die Parallelen zu christlichen Besessenheitsfällen (etwa die Hexenverfolgungen) in Spanien und Italien untersucht und zum anderen die These vertritt, dass vor 1540 die Fälle nicht aufgezeichnet wurden, aber durchaus vorhanden waren. Erst ab 1540 gab es zwei Verschiebungen, die die Fallbeschreibungen in Gang setzten. Erstens gab es einen „shift in literary conventions“ (S. 3), der die Verschriftlichung vorantrieb. Zweitens gab es eine Neukonzeptualisierung von Besessenheit im 16. Jahrhundert in Safed, insofern ein Geist nicht mehr länger ein Dämon sein musste, sondern auch eine Seele eines verstorbenen Menschen sein konnte – wie bei An-skij. Besessenheit wurde Chajes zufolge so zu einer Unterform der Seelenwanderung, während es bei den Christen und Muslimen meist ein Dämon blieb. Tamar Alexander verweist auch auf die Koexistenz von oralen Dibbukerzählungen und den niedergeschriebenen Fällen. Sie untersucht vor allem erstere (vgl. Alexander: „Love and Death in Contemporary ‚Dybbuk‘ Story“). 47 Vgl. hierzu Necker: Einführung in die lurianische Kabbala; Goldish: Spirit Possession in Judaism; insbesondere aber Alexander: „Love and Death in Contemporary ‚Dybbuk‘ Story“, S. 310ff.
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zeichnet. Es finden sich Fälle, in denen ein Rabbiner in einem jungen Mann wiedergeboren wird oder ein Gerechter, ein Zaddik (zaddiq), einem lebenden Menschen eine zeitlang einwohnt bzw. schwängert, damit er ein bestimmtes Gebot erfüllt.48 Helmut Zander verweist auf den Zaddik von Opatow, der sich an zehn Reinkarnationen erinnern will, darunter Moses.49 Die Wiedergeburt oder Schwängerung eines lebenden Menschen durch einen Geist erzeugt so Wissensakkumulation, Erinnerungspotenzierung und natürlich autoritative Legitimation für die chassidischen Höfe. Die Seelenwanderung wird hier zum Generationenpakt, um die Autorität von Dynastien zu stärken. Die große Mehrheit der Besessenen waren Frauen, die nach einem entblößenden öffentlichen Ritual an Macht innerhalb der Gemeinde gewannen, weil sie von einem männlichen Dibbuk besessen waren und damit eine zeitweilige geschlechtliche Transgression erfahren, die ihnen mehr Macht verleiht;50 aber auch die Rabbis vermochten ihren Einfluss im performativen Schauspiel des Exorzismus beweisen, an dem auch die Gemeinde teilnahm. Beide Seiten, Besessene und Exorzisten, konnten ihre mimetischen Fähigkeiten nutzen, um Krisenzeiten in jüdischen Gemeinden innerhalb der ost(mittel)europäischen Vielvölkerreiche zu bewältigen. Der Rabbi entlockte dem Geist Erzählungen über Verstöße und Gesetzesüberschreitungen, wobei das Offenlegen dieser Erzählungen vor der Gemeinde dann persönliche oder kollektive Krisen meistert und Autorität neuinstalliert. Wenn ein mächtiger Rabbi oder gar Kabbalist den Exorzismus ausführt, ist das aus der Sicht des Dibbuk sogar positiv, da er seinen Zustand und die Aufmerksamkeit ihm gegenüber nur verbessern kann. Als Beispiel für den Autoritätsgewinn von besessenen Frauen möchte ich auf den bekannten Fall der so genannten Jungfrau von Ludmir verweisen, bei der eine besessene junge Frau später zur einzigen bekannten Rabbinerin in Ostmitteleuropa aufsteigt. Allerdings scheinen solche Fälle nicht sehr häufig gewesen zu sein, aber zumindest konnten viele Frauen nach dem Exorzismus als Heilerinnen gelten. An-skij hat sich auf seiner Expedition für die so genannte Jungfrau von Ludmir interessiert. Nathaniel Deutsch zufolge gibt es in den Legenden um diese Rabbinerin einige Parallelen zu An-skijs Drama.51 Aber letztendlich stirbt Lea im Stück, weil es An-skij nicht mehr um diese synchronen Effekte innerhalb einer Gemeinde geht, sondern um diachrone, die helfen sollen, Traditionen in Zeiten von Nationalisierungsprozessen neu zu verhandeln.
48 Necker: Einführung in die lurianische Kabbala, S. 148f. 49 Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa, S. 194f. 50 Chajes: Between Worlds, S. 27 und 98-118. 51 Siehe hierzu Deutsch: „An-sky and the Ethnography of Jewish Women“, S. 269ff.
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Während „ibbur“ eine negative oder positive Konnotation haben konnte, besitzt der Begriff Dibbuk nur eine negative.52 Diese wurde insbesondere durch An-skijs Stück weit verbreitet, so dass Dibbuk-Besessenheit im Hebräischen und Jiddischen geradezu sprichwörtlich wurde.53 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Dibbuk in den chassidischen Legenden eine verlorene Seele ist, die gegen eines oder mehrere der 613 Gesetze (Mitzvot) verstoßen hat und in eine unschuldige Seele dringt. Der den Exorzismus ausführende Zaddik erlöst diese Seele zugleich durch ein Tikkun (Erlösung oder Heilung), wobei diese Heilung durch Beschwörung, Kerzenanzünden, Schlagen und in hartnäckigen Fällen auch durch Drohung mit Exkommunikation verbunden ist. Weitere rituelle Teile, mit denen der Exorzismus vollzogen wird, sind Schofarblasen und die Beteiligung der Gemeinde (Rezitation von Psalmen etc., Anziehen von Gebetsmänteln [tallitot]).54 Tamar Alexander spricht von einem „Sacred Theater“ mit vier bzw. fünf teilnehmenden Gruppen: Opfer, Geist, Exorzist, Gemeinde (und Erzähler).55 Was bleibt von diesen Phänomenen bei An-skijs Dibbuk und seinen medialen Umwandlungen auf der Bühne und im Film? Khonen, der sich als verlorene Seele Lea anhaftet, hat gegen kein unmittelbar einsehbares Gesetz verstoßen, er hat nur auf häretische Weise die Kabbala zum Zwecke der Manipulation verwendet, was aber beim Exorzismus nicht zur Sprache kommt. Den eigentlichen Verstoß hat Sender, Leas Vater, begangen, als er einen Schwur – der allerdings wiederum selbst gegen ein jüdisches Gesetz verstößt – nicht eingehalten hat. Wir haben also keine Geistbesessenheit mehr, die im Zusammenhang mit dem jüdischen Alltagsleben und dem talmudischen Bezugsrahmen steht: Es gibt keine eigentliche Schuld des Dibbuk bei An-skij. Es bleibt nur das Phänomen der Geistbesessenheit, die bekannten Akteure (besessene Frau, männlicher Dibbuk, exorzierender Rabbi, Gemeinde), eine Geschichte, die der Dibbuk enthüllt (Treuebruch Senders) und das Austreiben des Dibbuks. Statt die Besessenen in die Gemeinde zu reinstallieren und den Dibbuk durch ein Tikkun zu erlösen, stirbt Lea und der Dibbuk bleibt ohne Heilung. Authentisch im Sinne der überlieferten historischen Fallbeispiele und oraler Geschichten ist die Dibbukgeschichte An-skijs also keinesfalls. An-ksijs Der Dibbuk ist kein Resultat einer Gesetzesübertretung, sondern ein Medium zur Bindung eines Kollektivs, zur Überwindung von An-skijs Krise und zur Vermittlung von Yiddishkeyt. Mit dem Sprung aus dem religiös52 Alexander: „Love and Death in Contemporary ‚Dybbuk‘ Story“, S. 309. 53 Ebd. Zahllose Beispiele finden sich in den Romanen Isaac Singers. 54 Tamar Alexander spricht in ihrer Analyse einer zeitgenössischen Dibbukgeschichte von einem dreiteiligen Exorzismus der ‚Volkserzählungen‘ (ebd., S. 307). 55 Ebd., S. 312f.
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chassidischen in die ethnographische Aufzeichnung und danach in den künstlerischen Kontext hat der Dibbuk seine synchrone Rolle innerhalb des Rituals verloren. Mir scheint es an diesem Punkt wichtig, der Frage nachzugehen, warum An-skij aus den „Versatzstücken, Flicken und Fetzen des Alltagslebens“ (Homi Bhabha) gerade den Dibbuk für seine kulturelle bricolage (Lévi-Strauss) auswählt.56 Warum sucht An-skij gerade das Sujet der Geistbesessenheit aus, um sein Erzählen über eine ethnische Gemeinschaft wirkungsvoll und plausibel zu machen? Mit anderen Worten, welche ‚Wahlverwandtschaft‘ gibt es zwischen der Geistbesessenheit und dem Anliegen An-skijs? Meines Erachtens fällt seine Wahl auf den Dibbuk, weil dieser eine Affinität zu den neuen Medien (Phonograph, Foto) und ihrer pathischen Kraft besitzt. Der Dibbuk vermittelt nicht-diskursiv auf hypnotische Weise Tradition. Er ist fähig, Botschaften zu vermitteln und auf die Zuschauer unmittelbar überspringen zu lassen, so dass der Eindruck einer Ansteckung erfolgt. Nicht nur die enthusiastischen Aufnahmen der zwei berühmten Aufführungen aus den 1920er Jahren und des Films scheinen auf solche Rückkopplungseffekte zu verweisen, sondern auch die bis heute anhaltende, anscheinend unmittelbare hypnotische Medialität der Dibbuk-Figur, die noch moderne Kritiker affiziert. So beschreibt Ira Konigsberg 1997 in ihrem mehrmals publizierten Aufsatz zu Waszyľskis Film Dybuk (1937) die rätselhafte Wirkung des Films in Bezug auf ein amerikanisches Publikum und die verwickelte Geschichte der Versionen, indem sie ein Mysterium der Wirkung beschwört, geradeso als sei man als Zuschauer unwillentlich, passiv einer mysteriösen, affekterzeugenden Kraft ausgesetzt:57 If we consider the fact that most viewers will read the film through the titles on the screen, then in the United States, for example, we approach that part of the film that is directly taken from the play through the English, which is a translation of the Yiddish, which is a translation of the Hebrew, which is a translation of the Yiddish, which is a translation of the Russian. Like a dream, the film’s power and significance reside in the images which we approach through the webs and layers of verbal associations. The Dybbuk is a mystery to be solved,
56 Hier und im Folgenden zitiert nach Benhabib: Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, S. 22. 57 An-skij schrieb das Stück zuerst auf Russisch, danach auf Jiddisch. Bialik schuf hingegen eine hebräische Version, die An-skij, der in den Revolutions-und Bürgerkriegswirren sein jiddisches Original verlor, wiederum verwendete, um eine Rückübersetzung ins Jiddische zu schreiben
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a world hiding other worlds, a tapestry of symbols and enactment of rituals that we decipher by penetrating the layers of language.58 Konigsberg unbewusster Verweis auf die pathische Repräsentationskraft des Dibbuk unterscheidet sich hier gar nicht sehr von Kafkas Rezeptionsvorschlag für das jiddische Theater von 1911. Auch Kafka versucht hier wie eine Art Hypnotiseur seine ebenfalls assimilierten jüdischen Zuhörer zu überzeugen, dass in ihnen passiv „noch Kräfte tätig sind und Anknüpfungen von Kräften, welche [Sie] befähigen, Jargon fühlend zu verstehen“ – ohne Jargon, also Jiddisch, zu können.59 Waszyľskis Verfilmung verdoppelt schließlich die pathischen Effekte des Dibbuk noch, indem er Tanzszenen einführt, in denen Lea wie in Trance einen Hochzeitstanz tanzt, der zu einem Totentanz wird. Neben Lea erhalten auch Khonen und der Mittler Attribute von Trance oder Ekstase zugeschrieben. Allgemein unterstützen die vielen verschiedenen Tanzszenen eine ansteckende Wirkung des Films und scheinen europäische Versionen der Ritualtänze aus den Kolonien zu sein. Diese Parallelisierung macht die Chassidim zu Primitiven an der Peripherie Europas. Ästhetisch ließen sich zudem viele Parallelen zum deutschen Expressionismus und genauer noch zu Robert Wienes Film Das Cabinet des Dr. Caligari (1919/20) ziehen, etwa wenn man die starre Mimik der besessenen Lea mit dem somnambulen Blick des aus dem Schlaf erwachenden Cesare vergleicht. Ich möchte am Schluss noch einmal die Gründe zusammenfassen, warum An-skij gerade den Dibbuk auswählte und warum gerade diese Figur – mehr noch als etwa der Golem – so gut als Medium von Tradition funktionierte, dass sie enthusiastisch in Theaterproduktionen und Filmen, Balletts und Opern aufgenommen wurde. Dabei möchte ich auch dem scheinbaren Widerspruch zwischen einem archaischen Motiv und den modernen Medien nachgehen. 1. Der Dibbuk wird zu einem diachronen Medium jüdischer (und zum Teil sogar nicht-jüdischer Tradition), weil die Figur aus dem engen Kreis der chassidischen Gemeinden herausgenommen, globalisiert und im Kontext eines ethnographischen Modernitätsverständnisses und von auf Tournee gehenden Theaterkompanien recodiert wurde. An-skijs Dibbuk wird zu einer kreolisierten, globalisierten Figur von Besessenheit, die Muster aus dem deutschen expressionistischen Film, aus symbolistischen Dramen und dem europäischen Literaturkanon verbindet. Das Stück verknüpft so zum Beispiel romantische Liebesmuster mit religiösen Bausteinen, indem der Dibbuk ein Liebender ist – 58 Konigsberg: „The Only ‚I‘ in the World“, S. 23. 59 Kafka: Beschreibungen eines Kampfes und andere Schriften aus dem Nachlaß, S. 150.
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unmöglich in klassischen Geschichten. Damit sprach An-skij ein säkularisiertes aschkenasisches, aber auch nicht-jüdisches interessiertes Publikum in ganz Ostmitteleuropa, Mitteleuropa, in Amerika und später auch Israel gleichermaßen an. 2. An-skij betrachtete Geistbesessenheit, Exorzismus und chassidisches Legendenschaffen als Bewältigungsstrategien für Krisensituationen traditioneller Gesellschaften im Ansiedlungsrayon.60 Diese Techniken schaute er sich – obwohl sein Ethnographen-Team unter dem Motto einer ‚salvage ethnography‘ dorthin fuhr – bei den Menschen als Krisenbewältigungsstrategie ab, um letztendlich die kulturelle Krise der städtischen Intelligencija und damit seine eigene zu heilen. Der Dibbuk avanciert dabei zu einer Schwellen-Figur, welche die gefühlte Auseinandersetzung zwischen Moderne und Tradition, Tod und Leben, Magie und Psychologie, Säkularisierung und Religion – alles klar abgetrennte Phänomene und Wissensgebiete, die man als moderner Mensch glaubte, genau trennen zu können61 – artikulierte und ins Bild bannte. Der Untertitel seines Dramas – Tsvishen tsvey weltn (Zwischen zwei Welten) – verweist auf diesen Zusammenhang. 3. Betrachtet man den Dibbuk in einem breiteren europäischen Kontext, so zeigt das Auftauchen dieses Besessenheitsphänomens in prominenten künstlerischen Texten in Europa seit den 20er Jahren, dass ‚Besessenheit‘ nicht einfach das Resultat eines Abwehrkampfs einer residualen religiösen Medienverwendung ist, sondern dass der Dibbuk mit Modernitätskonzepten und Modernisierungsstrategien Hand in Hand geht. Nicht umsonst ist es gerade das überraschende Zusammenkommen des Axioms von Modernität und Tradition, das zusammen mit der hypnotischen, nicht-diskursiven Wirkung des Dramas immer wieder als Besonderheit der Dibbuk-Inszenierungen herausgestellt wurde: Inszeniert nicht einer der russischen Regisseure der Avantgarde, Evgenij Vachtangov, den Dibbuk erfolgreich für das Habima, obwohl er weder Jiddisch, noch Hebräisch versteht oder spricht; und warum sucht sich Michaâ
60 Ute Holl weist mit Bezug auf Maya Deren darauf hin, dass das Hysterie-Symptom in der europäischen Medizin als Folge individueller Konflikte gedeutet wird, während Besessenheit zum Beispiel in afrikanischen oder karibischen Gesellschaften „als Ausdruck kritischer oder besser krisenhafter kollektiver Prozesse anerkannt wird, in denen sogar mögliche Lösungen offenbar und öffentlich werden können. Die Zustände werden, in analytischeren Worten, als Krankheit entweder des Imaginären – in Europa – oder des Symbolischen – in Afrika und der Karibik betrachtet, und entsprechend wird immer nur das eine oder das andere therapiert“ (Holl: Kino, Trance & Kybernetik, S. 115). 61 Diese Prozesse beschreibt viel ausführlicher Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen.
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Waszyľski, einer der profiliertesten und technisch avanciertesten Regisseure Polens gerade das Dibbuk-Sujet für seinen Film von 1937 aus? Moderne Regietechnik in Theater und Film inszenieren ein als archaisch eingestuftes Motiv, so dass die Dibbuk-Versionen zu den Gründungsstücken und vielzitierten Höhepunkten der jiddischen bzw. hebräischen Film- und Theatergeschichte zählen.62 Der Dibbuk kann meiner Meinung nach so exemplarisch zeigen, welches zeitliche Andere sich Modernität in ihrem Selbsterzeugungsakt erschafft. Das Phänomen der Geistbesessenheit avanciert in einer Zeit, in der ein solches Phänomen in der Sowjetunion und in Polen mit einer kurzen Handbewegung von aufgeklärten Medizinern, Ethnologen und Psychologen als Krankheit beschrieben wird – im künstlerischen Bereich zu einem Emblem der Traditionsvermittlung authentischer jüdischer Kultur. 4. In den 1910er Jahren findet die Figur des Dibbuk Eingang in die kulturelle Symbolik des osteuropäischen Judentums (auch bei den Auswanderern in Übersee) und verlässt nach einem filmischen Höhepunkt 1937 dieses Symbolfeld über das ganze 20. Jahrhundert nicht mehr – auch wenn der Dibbuk nach der Shoah bei Hanna Krall und Isaac Singer selbstverständlich noch einmal eine ganz andere Bedeutung erhält.63
62 Yerushalmi (The Habimah ‚Dybbuk‘, S. 1) spricht zum Beispiel davon, dass die Dibbuk-Inszenierung des Habima 1922 die Geburt des hebräischen Theaters symbolisiert („symbolized the birth of Hebrew theatre“). Das israelische Nationaltheater feierte deswegen im Jahr 2008 sein Jubiläum mit diversen Dibbukproduktionen. 63 Insbesondere in Hanna Kralls Erzählung Dybuk in Dowody na istnienie (Existenzbeweise, 1995) steht der Dibbuk für das Trauma des Holocaust, das der einzelne Überlebende in sich trägt. In der Erzählung geht es konkret um den ermordeten Bruder Avram von Adam S., der als Dibbuk Adams Körper bewohnt und mit ihm auf Polnisch spricht, obwohl er diese Sprache nicht kann.
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Tonfilm, Trance, Totaler Krieg Gottfried Benns primitivistische Religionsphysiologie und King Vidors Film Hallelujah „In Krieg und Frieden, in der Front und in der Etappe, als Offizier wie als Arzt, zwischen Schiebern und Exzellenzen, vor Gummi- und Gefängniszellen, an Betten und Särgen, im Triumph und im Verfall verließ mich die Trance nie, daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe.“1 Im Lebensweg eines Intellektualisten (1934) leitet Gottfried Benn mit diesem Satz den autobiographischen Rückblick auf die dem eigenen Verständnis nach künstlerisch produktivste Periode seines Lebens ein: Die während des Ersten Weltkriegs in Brüssel verbrachten Jahre, wo er am Prostituierten-Krankenhaus St. Gilles für die venerologische Gesunderhaltung der kaiserlichen Besatzungstruppen zuständig ist und nebenbei privat als Expressionist praktiziert (vgl. Abb. 1). Auch wenn das Zitat Trance als eine Form der Realitätsausschaltung für jede Gelegenheit einführt, lässt die Aneinanderreihung von Krieg und Frieden, Front und Etappe, Betten und Särgen, von Offizieren, Ärzten, Schiebern und Exzellenzen zumindest vermuten, dass hier eine spezifischere (und noch zu diskutierende) Beziehung zwischen Trance und Krieg gemeint sein könnte. Demgegenüber stellt sich die Beziehung zwischen Trance und Kunst etwas eindeutiger dar: Beide koinzidieren darin, dass sie – um mit Robert Musils Ansätzen zu einer neuen Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925) zu sprechen – eine „Gleichgewichtsstörung des Wirklichkeitsbewußtseins“ sind.2 Das gilt insbesondere für die um 1930 ausformulierte Poetologie Benns. Sie möchte mittels punktueller Regression – durch Traum, Rausch, Wahnsinn oder Primitivität – auf vermeintliche evolutionäre Frühstadien der Menschheitsgeschichte den Rationalitäts- und Normierungsdruck der Moderne aushängen und den Körper als phylogenetisches Archiv für die Textproduktion nutzbar machen. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass das Wort ‚Trance‘ bereits vor dem Jahr 1934 gelegentlich in der Lyrik Benns auftaucht, so in der unfreiwillig komischen Schlussstrophe des Gedichtes Zwischenreich (1927), die künstlerische Wochenendarbeit im Grunewald propagiert: „nach Arbeitstagen, / wenn der Sonntag naht, / sollst du dich tragen / in den Forst der Stadt, / die Massenglücke / sind schon
1
Benn: „Lebensweg eines Intellektualisten“, S. 163.
2
Musil: „Ansätze zu einer neuen Ästhetik“, S. 1140.
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tränennah, / bald ist die Lücke / für die Trance da.“3 Im Folgenden möchte ich drei Fragen klären: Erstens, ob die personalen und/oder metaphorischen Trancen Benns etwas mit den um 1900 auftretenden neuen technischen Medien zu tun haben oder nicht; zweitens, welche Einsichten die Benn-Lektüre in die allgemeine Beziehung zwischen Trancemedien und neuen Medien um 1900 gewährt; sowie drittens, inwieweit man gerade im Falle Benns von einer – recht unerwarteten, weil mitten im Zweiten Weltkrieg stattfindenden – ‚Globalisierung‘ der Trance sprechen kann.
Abbildung 1: Gottfried Benn um 1916 in Brüssel.4
Die erste Frage ist relativ schnell zu beantworten. Anders als bei Musil, dessen Essay Ansätze zu einer neuen Ästhetik den Medienbezug schon im Untertitel ausweist und der sich in Form einer Rezension von Béla Balász’ Stummfilmtheorie Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) mit dem Potential dieses neuen technischen Mediums auseinandersetzt, das „normale Totalerlebnis“ aufzusprengen und Menschen in „den ‚anderen Zustand‘“ zu versetzen;5 an3
Benn: „Zwischenreich“, S. 210. Eine weitere Trance-Stelle enthält das Gedicht Die hyperämischen Reiche (1928): „aber die Übergänge / mit monistischem Ziel: / Schnecken aus Blutgedränge, / Äol im Trancespiel“, S. 213.
4
Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N.
5
Musil: „Ansätze zu einer neuen Ästhetik“, S. 1145.
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ders also als bei Musil existiert in Benns Werk keine derart offensichtliche Kommentierung der neuen Graphien von 1900, auch wenn Benn immer wieder von Friedrich Kittlers Mediengeschichtsschreibung in den Zeugenstand gerufen worden ist.6 Eine partielle Ausnahme stellt das Radio dar, denn es ist das einzige neue technische Medium, mit dem Benn am Ende der 20er Jahre produktionsästhetisch in direkten Kontakt kommt und das – wie Klaus Theweleit überzeugend nachgewiesen hat – eine wesentliche Voraussetzung für sein politisches Engagement auf Seiten der Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1934 gewesen ist.7 Statt beim Offensichtlichen möchte ich an einer kurzen und unscheinbaren Stelle in einem ziemlich entlegenen Text ansetzen, der historisch gesehen vom alleräußersten Ende der Datierung ‚um 1900‘ stammt: Gemeint ist der im März 1943 abgeschlossene Essay Provoziertes Leben, den Benn für eine zunächst wohl eher erträumte denn geplante Nachkriegspublikation mit dem Titel Ausdruckswelt. / (gleichzeitig Beiträge zur Klinik des Deutschtums.) verfasst hat und der sich meiner Meinung nach für eine Fallstudie der Beziehungen zwischen Trance, Krieg, Kunst und den neuen technischen Medien anbietet.8 Benn befindet sich im März 1943 noch in Berlin, wo er als Bürokrat im Sanitätswesen der Wehrmacht tätig ist – zwar in subalterner Stellung, aber dank seiner aus gemeinsamen Studientagen an der Kaiser Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen stammenden Verbindungen bestens und illusionsfrei über die militärische Lage zwei Monate nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad informiert. Nach dem Scheitern des Versuchs, durch vorauseilende Selbstgleichschaltung zum Cheflyriker des Dritten Reiches aufzusteigen, hatte sich Benn 1935 ernüchtert von der Wehrmacht reaktivieren lassen, um sowohl seiner schlecht gehenden Arztpraxis als auch der beginnenden Verfolgung als ‚entarteter‘ Künstler zu entgehen. Die Rückkehr in die Armee fällt dem bald 50jährigen Künstler nicht leicht; in seiner Korrespondenz klagt er vor allem über die Disziplinierung des Körpers: Der „Stahlhelm [...] sieht interessant aus, ist aber furchtbar schwer u drückt, daß man Migräne kriegt“9; „die Uniform [...] ist die Kralle um die Kehle“10 und „gestaltet einen mehr um,
6
Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 246ff.; oder Kittler: „Benns Gedichte“; siehe dazu Hahn: „Assoziation und Autorschaft“, S. 294f.
7
Vgl. Theweleit: Buch der Könige.
8
So der Typoskripttitel vom Dezember 1943, den Benn nach dem Zweiten Weltkrieg aus Rücksicht auf die westdeutsche Verdrängungsmentalität zu Ausdruckswelt. Essays und Aphorismen (1949) abgeschwächt hat.
9
Benn: Briefe an Tilly Wedekind 1930-1955, S. 122.
10 Benn: Briefe an Elinor Büller 1930-1937, S. 106.
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als ich dachte. Sie ist ein sehr raffiniertes psychologisches System!“11 Obwohl Benn 1936 öffentlich denunziert und 1938 mit einem Schreibverbot belegt wird, gelingt es seinen Gönnern im Sanitätskorps gemeinsam mit einem von Hanns Johst bei SS-Chef Himmler erwirkten Protektionsbrief, Benn im institutionellen Schutzbereich der Armee zu halten. Das führt dazu, dass Benn nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg weitgehend in der Etappe verbringt, d.h. auf Inseln relativer Ruhe wie Brüssel oder Landsberg an der Warthe, wohin seine Dienststelle im August 1943 infolge der heftiger werdenden alliierten Luftangriffe auf Berlin ausgelagert wird. Ähnlich wie zwischen 1914 und 1917 große Teile des Frühwerks in Brüssel verfasst werden, nimmt zwischen 1943 und 1945 das Spätwerk in Berlin und in einer Landsberger Militärkaserne Gestalt an: Zwar stöhnt Benn darüber, dass „2mal Weltkrieg [...] zuviel“ sei, aber im Windschatten des Krieges hat er so viel Zeit zum Schreiben wie nie zuvor (vgl. Abb. 2).12
Abbildung 2: Gottfried Benn 1935 in Wehrmachtsuniform.13
Die Duplizität der Situationen ist Benn sehr bewusst gewesen und man kann das an der Wiederbelebung des Novellenheldens der Brüsseler Jahre, des ner11 Benn: Briefe an F. W. Oelze 1932-1945, S. 80. 12 Soerensen: Mein Vater Gottfried Benn, S. 56. Zu den biographischen Hintergründen vgl. Grimm: „Brussels 1916: Gottfried Benn’s Urerlebnis“. 13 Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N.
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venschwachen Hurenarztes Werff Rönne, in der Korrespondenz mit dem Bremer Vertrauten Friedrich Wilhelm Oelze erkennen, die sich nicht allein mit der Absicht erklären lässt, die Briefzensur der Gestapo zu überlisten. In der Chiffrierung der eigenen Texte – u.a. des Manuskriptes der Ausdruckswelt – gegenüber Oelze als der „Nachlass jenes Dr. Rönne [...], der bei Stalingrad fiel“, steckt auch eine identifikatorische Beschwörung, die bei der Bewältigung der Tatsache helfen soll, dass selbst in der Etappe zehn Meter vom eigenen Schreibtisch entfernt der Krieg mit tödlicher Wucht zuschlagen kann.14 Das jedenfalls ergibt sich aus dem Frontbericht, den Benn am 28. März 1943 aus Berlin an Oelze schickt: Beim Luftangriff am 1. III lagen wir in der Mitte von zwei Hauptzerstörungscentren, dem Prager u. dem Innsbrucker Platz; zwei Blindgänger 10 m. von meinem Schreibtisch ab, an dem ich sass, statt im Keller zu sein, im Vorgarten unseres Hauses [. Sie] zerstörten zwar die Gardinenstangen neben mir, aber Tisch u. Denker blieben unzerstört. Von Rönne erwarten Sie nicht zuviel! Er arbeitete, schrieb er mir noch kurz vor seinem Untergang, dienstlich täglich 9-10 Stunden, erst dann kam er zu sich selbst u. seinen Gedanken. [...] Trotzdem ist ein Satz in seinen Betrachtungen, der mir gefällt, Schlusssatz einer der Studien u. fast ein zufälliger Schlusssatz, nämlich: ‚Deutlich neigt sich Plato herüber; endogene Bilder sind die letzte uns gebliebene Erfahrbarkeit des Glücks‘.15 Das Selbstzitat stammt aus der gerade fertig gestellten ‚Studie‘ Provoziertes Leben, einer ästhetizistischen und hoffnungslos romantischen, darum aber nicht weniger radikalen Kritik des von Propagandaminister Goebbels sechs Wochen zuvor ausgerufenen ‚Totalen Krieges‘. In diesem Essay führt Benn den Krieg in letzter Instanz und gut idealistisch auf ein abendländisches Begriffsproblem zurück: „Mit der Bildung des Begriffs ‚Wirklichkeit‘“ habe die „Krise“ begonnen, nämlich die Etablierung des „hellenisch-europäische[n] Prinzip[s] des Agonalen, der Überwindung durch Leistung, List, Tücke, Gaben, Gewalt“, und er stellt ihm jene anderen, im medizinischen Sinne ‚provozierten‘, d.h. künstlich hervorgerufenen Zustände gegenüber, die durch „Ritenund [...] Rhythmus-Trancen“ oder durch „pflanzenentbundene Steigerer und Rauscherzeuger“ wie Koffein, Kokain oder Opium induziert würden.16 Statt die „Lebensbejahung im Sinne von Betriebsverwendbarkeit“ solle der Staat
14 Benn: Briefe an F. W. Oelze 1932-1945, S. 328. 15 Ebd., S. 329. 16 Benn: „Provoziertes Leben“, S. 313f. und S. 310.
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vielmehr den „Ausbau visionärer Zustände, etwa durch Meskalin oder Haschisch“, fördern; statt das Aufputschmittel „Pervitin [...] Bomberpiloten und Bunkerpionieren einzupumpen“, könnte es „zielbewußt für Zerebraloszillationen in höheren Schulen angesetzt werden.“17 Das Lob der Drogen ist ein seit Thomas De Quinceys Confessions of an English Opium-Eater (1821) vertrautes Motiv der europäischen Literatur, das häufig als diskursive Umlenkstelle zwischen Religion und Kunst funktioniert hat: Die zunächst ausschließlich religiösen Kategorisierungen der Trance- und Rauscherlebnisse werden in den Bereich des Ästhetischen übertragen und säkularisiert, während im Gegenzug auf diesen ein Abglanz des Sakralen fällt.18 Das Verfahren ist dem Pastorensohn Benn natürlich nicht fremd, dennoch betont er in Provoziertes Leben eher die Kontinuität der „alte[n] und neue[n] Menschheitserfahrung“, durch Körpertechniken der Trance wie „[d]as systematische ‚Atemholen‘ Buddhas, die rituellen Gebetshaltungen der altchristlichen Hesychasten, Loyolas Atemholen mit je einem Wort des Vaterunsers, die Derwische, die Yogas, die Dionysien, die Mysterien“ oder durch „Rhythmus“, „Droge“ und „das moderne autogene Training“ die „Spannungen [...] zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit“ zu überwinden.19 Die „Religionsphysiologie“ ist in diesem Essay deshalb annähernd bruchlos in die Physiologie der Kunst übersetzbar, die „provozierte Religion“ geht in einem „provozierte[n] Leben“ auf, d.h. in den Verkettungen „endogene[r] Bilder“, die im Berliner März 1943 „die letzte [...] gebliebene Erfahrbarkeit des Glücks“ darstellen.20 Nach diesem allgemeinen Überblick lautet die nächste, in den Problemzusammenhang der Trancemedien überleitende Frage, woher der Text sein Wissen über die anderen Zustände bezieht. Was das Wissen über Drogen angeht, so beutet Benn zum einen das populärwissenschaftliche Standardwerk Phantastica (1924) des deutschen Toxikologen Louis Lewin, zum anderen die unter dem Titel Der Meskalinrausch (1927) publizierten Versuchsprotokolle des Psychiaters und Experimentalpharmakologen Kurt Beringer aus, der Mitte der 20er Jahre das Personal der psychiatrischen Anstalt Heidelbergs unter Meskalin gesetzt und den Versuchspersonen einen Verschriftlichungsbefehl erteilt hat-
17 Ebd., S. 316f. 18 Vgl. als Überblick Kupfer: Die künstlichen Paradiese; und Hiepko: „Pharmakopoiesis“. Speziell zu Benn vgl. u.a. Modick: „Formenpräger der weißen Spur“; sowie Bendix: Rauschformen und Formenrausch. 19 Benn: „Provoziertes Leben“, S. 317. 20 Ebd., S. 317f. und S. 320
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Marcus Hahn | Tonfilm, Trance, Totaler Krieg
te.21 Für unseren Kontext ist allerdings eine andere, in dem oben erwähnten kurzen und unscheinbaren Passus genannte Quelle weitaus interessanter, wobei die besagte Stelle bei näherem Hinsehen selbstverständlich den Schein der Unscheinbarkeit verliert – um so mehr, als es sich um den Anfang von Provoziertes Leben handelt: Vor Jahren lief in Berlin ein Film, ein Negerfilm ‚Hosiannah‘, in dem sah man Schwarze dadurch, daß sie gemeinsam sangen, in Rausch geraten. Die Anlage dazu lag in ihrer besonderen Natur, der Vorgang selbst geschah sinnlich wie bewußt. Von den Indianern wird Ähnliches erzählt, der ‚Große Nachtgesang‘ ist eines ihrer Hauptfeste, die Männer fassen sich an, bewegen sich rhythmisch und geraten in Trance. Primitiv ist offenbar die Nähe von Rausch und einem nahen Übergang in ein kollektiv gesteigertes Existenzgefühl. Die Versammlung provoziert den Übergang durch Riten, Bewegungen, bestimmte uralte Lieder. Es ist ein Ruf der Rasse. Sein Wesen ist religiös und mythisch, eine erregende, das Einzelwesen steigernde Kommunion mit dem All.22 Das Wissen über Trance verdankt Benn also u.a. einem so genannten Negerfilm, der vor Jahren – um genau zu sein: 1930 – in Berlin lief und dessen Titel nicht Hosiannah, sondern Hallelujah lautet. Die Berufung auf einen Film als paradigmatische Erfahrung des „Übergang[s] in ein kollektiv gesteigertes Existenzgefühl“ und der religiös-mythischen „Kommunion mit dem All“ ist genauso ungewöhnlich für Benn wie der in Frage stehende Film King Vidors selbst.23 Nicht ganz so ungewöhnlich dürfte hingegen der Umstand sein, dass sich ein fast vollständig isolierter, dissidenter deutscher Intellektueller zwischen Durchhalteparolen und Bombenteppichen wehmütig an einen Kinoabend in
21 Vgl. Lewin: Phantastica; und Beringer: Der Meskalinrausch. Für die deutsche Drogenliteratur stellt Benns Essay die Brücke zwischen dem Kokainismus der Zeit um 1920 und der Psychedelik um 1960 dar. 22 Benn: „Provoziertes Leben“, S. 310. 23 Ebd. 1916 wird in der Rönne-Novelle Die Reise ein Kinofilm als Inbildsetzung veralteter Psychologie persifliert und 1928 sind Gerüchte über einen britischen Weltkriegsfilm Anlass für einen Ausflug Benns ins Journalistische (vgl. Döring/Schütz: Benn als Reporter), der ihn im Dritten Reich vor dem Schlimmsten bewahren wird. Erst ab 1935 überfällt den nach Hannover exilierten Avantgardisten die „Kinolaufstimmung“ (Benn: Briefe an Tilly Wedekind 1930-1955, S. 74) regelmäßiger und er erträgt „schauerliche Rassenpropagandafilm[e]“ (Benn: Briefe an Elinor Büller 1930-1937, S. 209) im Vorprogramm, weil ihm „[e]in Schlagerlied aus einem amerikanischen Revuefilm [...] mehr“ sagt „als die tiefen Gedanken der Geschichte u. der deutschen Zeit“ (Benn: Briefe an F. W. Oelze 1932-1945, S. 171).
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der Weimarer Republik zurückerinnert, den man dank eines Tagebucheintrags von Thea Sternheim sogar auf den Tag genau datieren kann: Sie geht am Abend des 2. Oktober 1930 mit einer Freundin ins Mozartsaalkino, wo die Premiere des King Vidor’-schen Negerfilms ‚Halelujah‘ [sic!] läuft. Beim Hineingehen treffen wir Benn, der schon wieder dickergeworden einen äusserst linkischen und leicht zerrütteten Eindruck macht. [...] Welch ein Ereignis aber der Film! Ich sitze hingerissen, den Atem verhaltend.24 Bei dem 1929 in den USA uraufgeführten Film Hallelujah handelt es sich in der Tat um ein Ereignis. Ungewöhnlich ist bereits, dass ein großes HollywoodStudio – MGM – einem etablierten Hollywood-Regisseur – King Vidor, der zuvor u.a. den Weltkriegsfilm The Big Parade (1926) und vor allem The Crowd (1928) gedreht hatte, eine bahnbrechende Darstellung der modernen Massengesellschaft, und der nachher noch das Melodrama Stella Dallas (1937) und die Tolstoi-Verfilmung War and Peace (1956) drehen wird; ungewöhnlich ist also, dass MGM Vidor einen der ersten Hollywood-Filme mit schwarzer Besetzung finanziert. Keiner der in Hallelujah mitwirkenden Schauspieler ist vorher auf der Leinwand zu sehen gewesen und dementsprechend erstaunt haben die Studioarbeiter bei MGM während der Dreharbeiten reagiert: „large numbers of black actors and actresses showing up at the gates with passes.“25 Der Grund für dieses Staunen liegt auf der Hand: Bis 1929 sind alle afroamerikanischen Hauptrollen von kostümierten Weißen gespielt worden; die einzige Ausnahme waren die so genannten ‚race movies‘, miserabel produzierte Billigfilme von Schwarzen für Schwarze.26 So ist es auch weder ein Wunder, dass der weiße Regisseur von Hallelujah, King Vidor, für einen Oscar nominiert wird, aber keiner der schwarzen Darsteller, noch, dass die Premiere des Films in New York aus Apartheidsgründen in zwei Kinos stattfindet: Downtown im Embassy für das weiße Publikum, das den Film interessiert beklatscht, und in Harlem im Lafayette Theatre für das schwarze Nordstaaten-Publikum, das den Film und die darin gezeigte, vermeintliche Rückständigkeit der Anverwandten aus dem amerikanischen Süden ausbuht.27 Da seine Aufführung zudem von der Southern Theatre Federation und damit de facto in den Südstaaten verboten 24 Benn/Sternheim: Briefwechsel und Aufzeichnungen, S. 64. 25 Bogle: Bright Boulevards, Bold Dreams, S. 91. Die afroamerikanische Zeitung The California Eagle zwingt MGM außerdem dazu, Schwarze als Kameramänner anzustellen (ebd.). 26 Vgl. als Überblick Bogle: Blacks in American Films and Television, S. 1ff. 27 Vgl. Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 30; und Baxter: King Vidor, S. 42.
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wird, scheitert der Film als kommerzielles Unternehmen – erst Jahre später wird mit Green Pastures (1936) der Versuch wiederholt, einen schwarzen Hollywood-Film zu etablieren. Die Handlung von Hallelujah ist schnell erzählt: Der Baumwollpflücker Zeke (Daniel Haynes) bringt die Ernte in die Stadt, wo er erst der Tänzerin Chick (Nina Mae McKinney) verfällt und dann vom Kartenbetrüger Hot Shot (William Fountaine) um sein Geld gebracht wird. Beim Versuch es zurückzuerlangen, erschießt Zeke versehentlich seinen eigenen Bruder. Von Trauer überwältigt verwandelt er sich in den wiedertäuferischen Wanderprediger Zekiel. In dieser Gestalt trifft er Chick wieder, bekehrt und tauft sie im Rahmen einer Massenzeremonie, bevor sie ihn erneut vom Pfad der Tugend abbringt. Als sie gelangweilt mit Hot Shot durchbrennen will, kommt Chick bei der anschließenden Verfolgungsjagd zu Tode, während Hot Shot von Zeke im Sumpf erwürgt wird. Nach Verbüßung seiner Strafe kehrt er geläutert in den Schoß seiner Familie zurück. Die – so Donald Bogle – „operatic absurdity“28 des melodramatischen Plots ist ein Charakteristikum des Films, ein anderes ist der von Vidor intendierte und für damalige Hollywood-Verhältnisse ungewöhnliche Realismus, mit dem beispielsweise das Pflücken der Baumwolle und ihre maschinelle Weiterverarbeitung gezeigt werden29. Doch damit beginnt erst das Realismus-Problem des Films, vor allem was seine Rezeption in Deutschland betrifft. Der Filmkritiker Hans Wollenberg jedenfalls hält 1930 dafür, dass Vidor „Hollywoods gesamten Starhimmel beiseite“ gelassen habe, um „zu den Negern selbst“ zu gehen, „die er enträtseln wollte“, und man daher vor einem „Spiel- und Kulturfilm zugleich“ stehe, in dem die „schauspielerische Gesamtleistung [...] schon nicht mehr ‚Schau-Spiel‘“ sei, sondern gleichsam ein völkerkundliches Dokument.30 Vidor selbst scheint der Deutung Hallelujahs als Kulturfilm zumindest für den deutschen Markt kräftig Vorschub geleistet zu haben, denn im Illustrierten Film-Kurier wird er folgendermaßen zitiert: ‚Hallelujah ist kein Produkt der dichterischen Phantasie. Der Film zeigt Vorgänge, wie sie in den Negerbezirken alltäglich sind, er zeigt die Neger, wie sie wirklich sind [...]. [...] Viele dieser Neger gehören der Sekte der Wiedertäufer an, und die Szenen der Bekehrung, der Taufe, der Jubelfeier sind alle getreu der Wirklichkeit aufgenommen. Als wir
28 Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 29. 29 „So convincing are the scenes of black life in the South, shot around Memphis, Tennessee, that footage of cotton-picking and the loading of a river boat from lines of bale-laden-wagons have been mistaken for newsreel“ (Baxter: King Vidor, S. 41). 30 Wollenberg: „Hallelujah“, o.S.
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diese Szenen drehten, wurden die Mitwirkenden von einem hysterischen Taumel erfaßt, gegen den wir machtlos waren. Für unsere Amateurschauspieler waren diese Ritualszenen Wirklichkeit, sie gerieten in eine religiöse Raserei, die nichts mehr mit ‚Filmen‘ zu tun hatte. Wir konnten nichts tun als unsere Kameras [...] aufstellen und das drehen, was für die Neger fanatisches Erlebnis war.‘31 Bekannt ist, dass Vidor bei den Außenaufnahmen in Tennessee und Arkansas auf die Hilfe der „local black residents and ministers for technical advice on everything from river baptismal services to revival meetings“ angewiesen war, obwohl er während seiner in Texas verbrachten Jugend selbst in Kontakt mit der afroamerikanischen Kultur gekommen ist. In seiner Autobiographie A Tree Is a Tree (1952) erinnert er sich daran, dass er zwar „several river baptism ceremonies as a boy“ beigewohnt habe, „but when it came to staging one for Hallelujah I found my technical knowledge quite hazy“.32 Doch beteiligen sich nicht nur bestellte lokale und zugereiste Experten wie „Arabella“, „a lady choir leader who [...] was the best-informed person in the vicinity on baptism ritual“, „Professor and Madame de Knight“ oder „Reverend Jackson“, der mit seinen Händen „mouthpiece and receiver of a telephone instrument“ nachahmt, um sich in „a long two-way conversation with his Deity“ die Teilnahme seiner Gemeinde an den Dreharbeiten genehmigen zu lassen, an der Gestaltung und Umgestaltung der Filmszenen – es gibt auch spontane Einwände von Statisten gegen allzu offensichtliche orthopraktische Fehler des Amateurs aus Hollywood: Sunday morning I arrived at the river location and climbed the high camera platform that had been erected to encompass the two hundred white-robed candidates that stood in line to receive immersion. With the utmost self-assurance I gave orders over the loudspeaker to the waiting group. No seasoned minister ever directed his flock with more confidence than I. [...] I was just about to call ‚Action‘ when I noticed a commotion near the head of the lines. I asked my assistant stationed near the group for an explanation. He came to the bottom of the camera platform and called up, ‚We have four ordained Baptist preachers among the extras and they say you are completely wrong in the way you are staging the scene.‘ [...] I couldn’t deny the authority of the four preachers.33
31 o.V.: Illustrierter Film-Kurier, zitiert nach Benn: „Provoziertes Leben“, S. 700f. 32 Vidor: A Tree Is a Tree, S. 120. 33 Ebd., S. 120f.
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Ohne die Instruktion dieser Experten hätte Vidor also die fraglichen Szenen entweder gar nicht oder nicht ‚realistisch‘ genug drehen können. Was dem weißen Regisseur in seiner apokryphen Äußerung im Illustrierten Film-Kurier als wirkliche religiöse Raserei erscheint, die nichts mehr mit ‚Filmen‘, sprich: Inszenierung zu tun hat, könnte aus Sicht der beteiligten religiösen Experten, die sich über die medienpolitische Bedeutung des Films wahrscheinlich bewusster waren als Vidor, und eingedenk der Tatsache, dass ein Film als Kollektivkunstwerk die intentionale Beschränktheit seines Regisseurs überschreiten kann, durchaus ein wiedertäuferisches Re-enactment avant la lettre gewesen sein. Vielleicht lässt sich so erklären, warum Hallelujah auch heute noch zu faszinieren vermag, d.h. trotz der zahlreichen Stereotypen, die – wenig überraschend für die Zeit – in den Film eingegangen und die an dieser Stelle von Interesse sind, weil sie sich mit dem Trance- und Mediendiskurs um 1900 überlappen. Wollte man wenigstens zwei der hinter den Stereotypisierungen stehenden diskursiven Strategien benennen, so würden es erstens die Strategie der Psychopathologisierung und zweitens die Strategie der Archaisierung sein. Während Benn Trance eher archaisiert – die „Nähe von Rausch“ und „kollektiv gesteigerte[m] Existenzgefühl“ sei „primitiv“ und es bedürfe „bestimmte[r] uralte[r] Lieder“ zu ihrer Herbeiführung34 –, neigt Vidor – wie schon der oben aus dem Illustrierten Film-Kurier zitierte Vergleich mit der Hysterie zeigt – eher zur Psychopathologisierung: „‚Sie [die Neger; M.H.] sind primitiv wie die Kinder, ihr Haß und ihre Liebe sind animalisch, ihre ethischen Begriffe gehen auf eine Religion zurück, die auf einer Massenhypnose basiert.‘“35 Und wem diese Aussage aufgrund der unklaren Überlieferungsgeschichte zu apokryph ist, der sei noch einmal an Vidors Autobiographie verwiesen: For several years, I had nurtured a secret hope. I wanted to make a film about Negroes, using only Negroes in the cast. The sincerity and fervor of their religious expression intrigued me, as did the honest simplicity of their sexual drives. In many instances the intermingling of these two activities seemed to offer strikingly dramatic content.36 Damit benennt Vidor auch das Thema seines Films, nämlich den Konflikt zwischen Religion und Sexualität, der zugleich die typische Problemkonstellation eines jeden Melodrams darstellt – in Hallelujah zusätzlich kombiniert mit dem populären Western-Topos vom Gegensatz zwischen der ehrlichen Land- und
34 Benn: „Provoziertes Leben“, S. 310. 35 o.V.: Illustrierter Film-Kurier, zitiert nach Benn: „Provoziertes Leben“, S. 701. 36 Vidor: A Tree Is a Tree, S. 119.
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der betrügerischen Stadtbevölkerung.37 Diese genrebedingte Stereotypisierung – so wieder Bogle – habe „Vidor’s directional approach, that of the white visitor rather than the black inhabitant“, durch die Konstruktion einer „idealized, isolated world“ schwarzer Baumwollfarmer noch weiter verschlimmert.38 Das Argument ist kaum von der Hand zu weisen, denn im ganzen Film kommt kein einziger Weißer vor – weder als Landbesitzer noch als Gefängniswärter.39 Die Behandlung von Religion und Sexualität in Hallelujah wird in der filmwissenschaftlichen Forschungsliteratur bemerkenswert einmütig beurteilt: Während die religiöse Seite der Konversions-, der Tauf- und der in eine Gruppentrance mündenden Gottesdienstszene als „somewhat hysterical“ gilt oder man ihr unterstellt, eher „show business than soul saving“ zu sein,40 wird die erotische Seite derselben Filmszenen ob ihrer Explizität gewürdigt: „During the mass baptismal sequence, Nina Mae McKinney’s been such a hot little number that we know she’s being dunked in the water not so much to purify her as to cool her down.“41 Diese Würdigung fällt vermutlich deshalb so deutlich aus, weil die Darstellung schwarzer Sexualität in Hallelujah heute sehr einfach als rassistisches Stereotyp zu erkennen ist (vgl. Abb. 3 und 4) – ganz im Gegensatz zu den primitivistischen Klischees über religiöse Trance. Das sexuelle Stereotyp, d.h. der Afroamerikaner als „highly emotional animal“42 und moralisch unsteuerbarer sensorischer Automat, ist am greifbarsten in der von Nina Mae McKinney (1913-1967) gespielten Figur der Chick, diesem – so der Zeitgenosse Wollenberg – „kleinen Biest mit den einzigartigen Augen und dem beredten Körper, das der Suggestion der religiösen Ekstase erliegt und deren Weibsinstinkt schließlich doch wieder das Stärkere wird“43. Mae McKinney hat als ‚light skin woman‘ neben dem sattsam bekannten Geschlechterstereotyp des leichten Mädchens auch noch das „tragic mulatto theme“ zu spielen, d.h. die Rückführung eines angeblichen moralischen Fehlverhaltens auf gemischtes Blut: „The white half of her represented the spiritual; the black half, the animalistic“ – und genau dafür, d.h. für die wiederholte sexuelle ‚Aggression‘ gegenüber einem Prediger, wird sie am Ende des Films symbolisch mit dem Tode 37 Vgl. Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 98. 38 Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 30. 39 Vgl. Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 98. 40 Ebd., S. 102 und S. 108. 41 Bogle: Blacks in American Films and Television, S. 102. 42 Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 31. 43 Wollenberg: „Hallelujah“, o.S. Den bürgerlichen Namen des beredten Körpers von Mae McKinney hat der Mannsinstinkt allerdings falsch memoriert: Wollenberg verwechselt ihn mit dem Namen Victoria Spiveys, der Darstellerin der Missy Rose.
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bestraft.44 Es ist offensichtlich, dass Benn die primitivistischen Stereotypen Vidors übernommen hat – neben einigen anderen, die eher den Topos vom ‚edlen Wilden‘ fortschreiben, so zum Beispiel die Entgegensetzung der „hellenisch-europäische[n] Prinzip[ien] [...] der Überwindung durch Leistung, List, Tücke, Gaben, Gewalt“ und der idyllisch-sanften „indisch-javanische[n] Kunst“.45 Und es ist ebenso offensichtlich, dass Benn den Film Vidors im Einklang mit der deutschen Filmkritik als quasi-ethnographischen Beitrag über die „besondere Natur“ der Schwarzen verstanden hat: „Rausch“ und „Trance“ seien – so heißt es mit Blick auf die NS-Biologie – „[n]icht Überdruß am Ende einer Rasse“ oder „Entartung“, sondern etwas menschheitsgeschichtlich „Primäres“ – „es sind ja frühe Völker“.46
Abbildung 3: Chick während der Taufszene, Screenshot (Hallelujah, USA 1929).
44 Bogle: Toms, Coons, Mulattoes, Mammies, and Bucks, S. 31 und S. 33. Zum weiteren Schicksal der zu Drehbeginn 16jährigen Mae McKinney, die nach Hallelujah von MGM zwar einen Fünfjahresvertrag, aber keine Hauptrolle mehr erhält vgl. ebd. S. 33f.; und Bogle: Bright Boulevards, Bold Dreams. S. 91ff. 45 Benn: „Provoziertes Leben“, S. 313f. 46 Ebd.
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Abbildung 4: Zeke tauft Chick, Screenshot (Hallelujah, USA 1929).
Angesichts der eher spärlichen Andeutungen in Provoziertes Leben über die durch gemeinsamen Gesang in Rausch geratenen Schwarzen kann man nur darüber spekulieren, ob Benn eine bestimmte Szene aus Hallelujah vor Augen gestanden hat oder nicht. Die wahrscheinlichste Kandidatin dafür ist die oben erwähnte, von Vidor für religiöse Raserei gehaltene Szene eines nächtlichen Gottesdienstes, der in eine doppelte Trance mündet: die religiöse Trance der Gemeinde und die erotische Trance, in die Chick und Zeke geraten. Zu Beginn der Szene steht Zeke auf einem Podium, predigt über den Kampf mit dem Teufel und vollzieht ihn durch Boxschläge in die Luft mimetisch nach. Nach dem Ende der Predigt wird ein Gospel angestimmt: Die Gemeinde klatscht erst rhythmisch in die Hände, wirft sie dann in die Höhe und beginnt schließlich wild im Saal zu tanzen (vgl. Abb. 5). Während einige sich in konvulsivischen Zuckungen am Boden wälzen, andere von Helfern nach draußen getragen und unter einer Wasserpumpe abgekühlt werden, tanzt sich Chick an Zeke heran, zieht ihn nach kurzem Widerstand vom Podium herab unter die tobenden Körper, beißt ihn erregt in die Hand (vgl. Abb. 6) und verschwindet mit ihm im dunklen Wald.47 In ihrer instruktiven Interpretation haben Raymond Durgnat und Scott Simmon darauf hingewiesen, dass die Verführungsmächte im Film durchaus reziprok angelegt sind: „So Chick is as much a victim of seduction by the whole revivalist situation as Zeke is by her sexual presence.“48
47 Hallelujah (USA 1929, Regie: King Vidor), 01:13:40ff. 48 Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 108.
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Abbildung 5: Massentrance, Screenshot (Hallelujah, USA 1929).
Abbildung 6: Liebesbiss, Screenshot (Hallelujah, USA 1929).
Dass – so Durgnat und Simmon weiter – mit Chick die Frau für die Vermischung von Religion und Sexualität bestraft werde, während Zeke am Ende in seine Baumwollidylle zurückkehren dürfe, zeige Vidors zeittypische Affirmation der „values of the family, the land, the rural community, and (at least in its emphasis on diligence, frugality, hard work, and family individualism) the puritan ethic – mediated through an Afro ethnicity.“49 Diese Deutung klingt so stereotyp wie man es dem gedeuteten Filmgenre – dem Melodram – gemeinhin unterstellt. Deshalb – und mit einem Seitenblick auf den entlaufenen Protestanten Benn – ist es wichtig, wie Durgnat und Simmon den Puritanismus Vidors näher qualifizieren. Der durch sein der Christian Science-Bewegung ver49 Ebd., S. 98.
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pflichtetes Elternhaus mit ekstatischen Formen des Protestantismus vertraute Regisseur habe den „grim, original Puritanism“ abgelehnt, „whereby only a repressive theocracy – and work considered as a curse, a curb, a duty, as well as redemption – can save man from his total depravity“, d.h. nicht an „Calvin’s double predestination“, sondern an die durch den „direct access to the spirit“ verbürgte „[l]iberty of escape“ geglaubt.50 Trotz der von der melodramatischen Konvention eingeforderten, vermeintlich ‚moralischen‘ Trennung von Religion und Sexualität (bzw. ihrer ‚Aufhebung‘ in der Familie) bleibe in Vidors Filmen seine Sozialisation in einem weißen, sektiererischen, optimistischen und sinnlichen protestantischen Umfeld spürbar: In Hallelujah, the personal is religious, the religious is erotic-physical. Orthodox religions are uncomfortable with that idea, seeking to control the physical in religion (shifting blood sacrifice to symbols, fertility rites to chastity, initiation to ceremony...). Vidor kept something wild and nervous. His films make every ideology [...] physical, and that’s why they can look so coarse to cerebral-liberal critics. Vidor’s physicality brings the spiritual with it.51 Benn, der 1905 die väterlicherseits angeordnete Priesterlaufbahn für ein Medizinstudium aufgegeben hatte, übersetzt also 1943 die religiöse ‚Physikalität‘ des als ethnographisch missverstandenen Vidor-Films in sein literarisches und antimilitaristisches Programm einer Religionsphysiologie, d.h. er ‚globalisiert‘ oder besser: er kreolisiert bereits durch Vidor kreolisierte afroamerikanische Trancepraktiken, die selbst das Ergebnis eines weiteren Kreolisierungsprozesses sind, nämlich der Übernahme des weißen Protestantismus durch US-amerikanische Plantagensklaven und seiner Verschmelzung mit afroamerikanischer Kultur. Dass sich Benn mitten im Zweiten Weltkrieg und in einer offenbar zu personalen Trancen disponierenden oder durch das Wort ‚Trance‘ zu kategorisierenden biographischen Situation an einen Kinoabend im Oktober 1930 erinnert und eingangs seines Essays verwendet, bliebe eine mehr oder weniger bedeutende Fußnote aus dem weiten Feld der Intermedialität, würde die Erinnerung an Hallelujah nicht auch eine Erinnerung an den bedeutendsten Medienumbruch der Zwischenkriegszeit sein, der sich allen spiritistischen und postspiritistischen Interferenzen zwischen Trancemedien und neuen Medien an die Seite stellen lässt: die Umstellung vom Stumm- auf den Tonfilm. Hallelujah ist
50 Ebd., S. 112. Vidors erster Feature-Film (und Hollywood-Eintrittskarte) The Turn in the Road (USA, 1919) behandelt die Christian Science. 51 Ebd., S. 110f.
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einer der ersten Tonfilme und es ist der erste Tonfilm des bis dato als Stummfilmregisseur erfolgreichen King Vidor, der nicht – wie Wollenberg glaubt – „durch den Tonfilm den Neger [...] entdeck[t]“, sondern umgekehrt durch den ‚Neger‘ den Tonfilm gefunden hat.52 Vidor’s long-cherished project about southern black life could only be realized when the advent of sound, the Broadway success of Mamoulian’s Porgy, and word of a similiar project at Fox (Hearts in Dixie) persuaded MGM to gamble on the popularity of spirituals and jazz as the film’s accompaniment.53 Dieser Bedingungszusammenhang ist häufig übersehen oder auf den durch Ton vermeintlich gegebenen größeren ‚Realismus‘ der filmischen Diegese verengt worden. Es sei Vidor nun endlich möglich gewesen, „the devil he saw in nature“54 eine Stimme zu verleihen und ganz einfach – um noch einmal Vidors apokryphe Kulturfilm-Selbstdeutung zu zitieren – „‚nichts zu tun als unsere Kameras und Mikrophone auf[zu]stellen und das [zu] drehen, was für die Neger fanatisches Erlebnis war‘“55. Gerade die vom Regisseur selbst eingeräumten enormen technischen Schwierigkeiten zu Beginn der Tonfilmära zeigen, wie chimärisch das Realismus-Argument ist: Da kein mobiles Aufnahmegerät verfügbar war, sind die Bild- und die Tonspur von Hallelujah getrennt aufgenommen und erst später in mühevoller Bastelarbeit am Schneidetisch zusammengefügt worden. The difficulty of matching sound tracks recorded in the studio with scenes made on location in Tennessee proved almost insurmountable. Negro sermons and baptisms were photographed without benefit of sound equipment. Later, in the studio, a wild recording was made.56 Das Resultat dieser handgemachten Bild-Ton-Synchronisation ist natürlich nicht Realismus, sondern – so das Urteil Durgnats und Simmons – ein „striking expressionism“.57 Ähnlich expressionistisch dürfte auf den ersten Blick die These wirken, dass die Durchsetzung des Tonfilms als „historisch erste[s] technisch reproduzierende[s] audiovisuelle[s] Massenmedium“ auch ein Ergebnis
52 Wollenberg: „Hallelujah“, o.S. 53 Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 97. 54 Baxter: King Vidor, S. 41. 55 o.V.: Illustrierter Film-Kurier, zitiert nach Benn: „Provoziertes Leben“, S. 701. 56 Vidor: A Tree Is a Tree, S. 123. 57 Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 101.
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der angesprochenen Interferenz zwischen Trancemedien und neuen Medien ist.58 Sie wird durch die Mediengeschichte dennoch nahe gelegt: The Hollywood studios realized talking films needed sound, movement, rhythm. And, of course, who could be more rhythmic than the American Negro? Consequently, in 1929 there appeared two alltalking, all-singing, all-colored major studio productions, Hearts in Dixie and King Vidor’s moody and often moving Hallelujah.59 Ironischerweise ist der erste Tonfilm überhaupt, The Jazz Singer (1927), die eine berühmte Ausnahme, durch welche die Regel bestätigt wird, denn dieser ‚Negerfilm‘ ist zugleich der letzte, in dem ein kostümierter Weißer – der jüdische Entertainer Al Jolson – die schwarze Hauptrolle spielt.60 Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, sich mit Hilfe Corinna Müllers die konkreten medienhistorischen Rahmenbedingungen des Bennschen Kinoabends vom 2. Oktober 1930 etwas genauer anzuschauen. Lässt man das schwierige Problem der „‚Tonfilmpause‘“, also der Stagnation zwischen den Tonbildern von 1900 und dem Tonfilm der späten 1920er Jahre, d.h. die „gewissermaßen zweifache ‚Erfindung‘“ des Mediums außer Acht, und konzentriert sich auf die Situation in Deutschland, so fällt eine Besonderheit ins Auge: Während in den USA zur Umstellung vom Stumm- auf den Tonfilm zwischen 1927 und 1935 fast zehn Jahre vergehen, wird in Deutschland der Medienumbruch mit – so Rudolf Arnheim – „‚affenartige[r] Geschwindigkeit‘“ vollzogen.61 Schon zu Beginn des Jahres 1930 kann man deutschsprachige Tonfilme im Kino sehen, beispielsweise Die Drei von der Tankstelle oder Luis Trenkers Der Sohn der weißen Berge, im April folgt Der blaue Engel. Schon Ende September ist Deutschland nach Müllers Rekonstruktion flächendeckend vom Tonfilm durchdrungen (und zum Leidwesen eines Großteils des Publikums wie der Filmtheoretiker Balász und Arnheim vom Stummfilm verlassen – insbesondere die Berliner Premierenkinos), d.h. dieser Medienumbruch spielt sich „mit einer Geschwindigkeit ab, die in der Mediengeschichte bis zum 21. Jahrhundert beispiellos ist“ und den Zeitgenossen „wie ein Überfall erscheinen“ musste und „etwas Gewaltsames“ hatte, „das Abwehr provozierte“.62 Die ökonomischen Ursachen für die überstürzte Einführung des neuen Mediums interessieren in diesem Zusammenhang weniger als eine sehr spezielle Folge des für die Über58 Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 385. 59 Bogle: Blacks in American Films and Television, S. 2. 60 Vgl. Durgnat/Simmon: King Vidor, American, S. 26. 61 Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 14 und S. 12. 62 Ebd., S. 26f.
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stürzung mitverantwortlichen deutsch-amerikanischen Patentrechtsstreites: Erst nach dem Abschluss des so genannten „‚Pariser Tonfilmfrieden[s]‘“ vom 22. Juli 1930 hatten US-Filme überhaupt wieder Zugang zum deutschen Kinomarkt.63 Das ist der Grund, warum Hallelujah erst an jenem 2. Oktober 1930 Deutschland-Premiere hat – in einer Art Nachholprogramm, denn über ein Jahr lang durften von einzelnen Ausnahmen abgesehen – erneut: The Jazz Singer – keine amerikanischen Tonfilme gezeigt werden. Das ist die erste Fremdheit. Die zweite Fremdheit besteht in der für ein Stummfilm-Publikum von den ersten Tonfilmen ausgehenden „‚Überwältigungsästhetik‘“; die dritte Fremdheit (um von den anderen zu schweigen) liegt in einer Aufführungspraxis, die noch keine Untertitel oder Synchronisation kennt, weil Stummfilme kein bzw. ein anders gelagertes Übersetzungsproblem stellten: Hallelujah ist als „ausländische[r] Tonfilm in der unbearbeiteten Originalfassung ohne Eingriffe und Übersetzungen“ gezeigt worden – Benn konnte kein Englisch, geschweige denn den im Film gebräuchlichen Südstaaten-Slang.64 Das war aus Sicht der Filmindustrie das geringere Problem und es „wurden anfangs sehr viele Musikfilme gemacht, weil man sich – zu Beginn der europäischen Tonfilmära nicht zu Unrecht – sagte, dass Musik international und die Verständlichkeit von Liedern nicht so wichtig sei“.65 Musik statt Wörter – das war das Krisenmanagement der Filmindustrie, denn die Aufführung handlungsdominierter fremdsprachiger Tonfilme konnte unter Umstand die öffentliche Ordnung stärker bedrohen als afroamerikanische Trancen: „[B]ei der Aufführung ausländischer Filme in der Originalsprache“, berichtet Müller, „kam es des öfteren zu Tumulten – in Paris sogar zu so heftigen, dass die Polizeipräfektur eine Aufführung ausländischer Tonfilme nur noch mit der Auflage zuließ, dass der Dialog auf irgend eine Weise ins Französische übersetzt wurde.“66 Die aus der Geschichte des Spiritismus bekannte Interferenz (oder Affinität) zwischen Trancemedien und neuen Medien, die um 1900 dazu führt, dass spiritistische Trancemedien und ihre Organisatoren ständig neue und zukünftige technische Medien wie Telegraphie, Telefon, Film, Fernsehen zum Vergleich bemühten;67 dass sie neue mediale Gebrauchsweisen wie die Geisterfotografie erfanden und nutzten;68 und dass sie durchaus auch mit der Entwurfs63 Ebd., S. 36. 64 Ebd., S. 17 und S. 294. Zur Frage, ob Kino jenseits der spezifischen Effekte der Hallelujah-Aufführung generell als Trance kategorisiert worden ist und werden kann vgl. Holl: Kino, Trance & Kybernetik. 65 Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, S. 71. 66 Ebd., S. 291. 67 Vgl. Andriopoulos: „Okkulte und technische Television“. 68 Vgl. Hessenbruch: „Science as Public Sphere“; und Chéroux: The Perfect Medium.
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und Erfindungsgeschichte von neuen technischen Medien wie Funk und Radio verbunden waren69 – diese Interferenz (oder Affinität) findet im Medienumbruch vom Stumm- zum Tonfilm eine Fortsetzung und in Benns Essay vom März 1943 ein spätes Echo: die Trance, in die man durch Gospel fallen kann, wird erst durch ein neues technisches Medium seh-, hör- und erinnerbar. Ebenso ein Echo findet die Tatsache, dass sich diese Interferenz (oder Affinität) im Zeichen des imperialistischen Globalisierungschubes am Ende des 19. Jahrhunderts ereignet, dessen kulturell intensivsten Folgen erst mit einer gewissen Phasenverschiebung in der Zwischenkriegszeit erkennbar werden. Trance- und Medienerfahrungen werden in diesem Zeitraum als Erfahrung von etwas räumlich und/oder zeitlich Fremdem konzeptualisiert – als etwas, das von einer tatsächlichen oder (im Falle der USA) gefühlten kolonialen Peripherie stammt oder als ein pathologischer Rückfall in ein archaisches Stadium gilt, und für das folgerichtig die Ethnologie als anthropologische ‚Auslandswissenschaft‘ (zusammen mit der Volkskunde als ihrer Inlandsverwandten) und die Psychiatrie als ‚Inlandswissenschaft‘ (mit ihren kolonialen ‚Auslands‘Implementierungen und ihrer popularisierten Überschneidung mit der Massenpsychologie) der Fremderfahrung zuständig sind. Die Rezeption von Hallelujah bei Benn und jenseits von Benn demonstriert das nachdrücklich: der Film wird als ethnographisches Dokument wahrgenommen, die darin gezeigten religiösen Trancen werden als hysterisch eingeschätzt. Man kann diese zum Diskursmassiv des modernen Primitivimus gehörenden Stereotypen heute, im Globalisierungsschub um 2000, leichter erkennen und entlarven (und muss das vielleicht auch tun). Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass Primitivismus – oder, im Anschluss an Erhard Schüttpelz: die im Primitiven gespiegelte Moderne70 – durchaus als Erkenntnisinstrument funktionieren kann – wenn auch nicht immer freiwillig. Ein Beispiel dafür liefert einmal mehr der HallelujahRezensent und Tonfilm-Propagandist Wollenberg71: „Der Neger, auch der in den Bezirken amerikanischer Zivilisation beheimatete, ist der primitive Mensch schlechthin. [...] [H]ier entscheiden Impulse des Blutes, wenn man will, mystische Bedingtheiten. Nicht Logos, sondern Rhythmus“.72 Genau.
69 Vgl. Rowlands/Wilson: Oliver Lodge and the Invention of Radio. 70 Vgl. Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. 71 Vgl. Wollenberg: Der Tonfilm. 72 Wollenberg: „Hallelujah“, o.S. Bei den ‚mystischen Bedingtheiten‘ dürfte es sich um eine Anspielung auf die von dem französischen Ethnologen Lucien LévyBruhl entworfene und im Deutschland der 1920er Jahre populären Theorie der mystischen Partizipation handeln; vgl. Levy-Brühl: Das Denken der Naturvölker.
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Film Hallelujah (USA 1929, Regie: King Vidor).
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Technische und personale Medien
Eva Johach
Kollektiv der Psychographen Trance und Medialität in den Experimentalpraktiken des Tischerückens An einer berühmten Stelle im ersten Band des Kapitals (1867) hat Karl Marx bekanntlich den Fetischcharakter der Waren in der kapitalistischen Zirkulation damit erklärt, dass die Dinge ein eigenartiges Eigenleben entwickeln. Sein Beispiel ist ein schlichter Holztisch: Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.1 Mit Marx als Fetische gedeutet, zeigen die Waren eine quasi-natürliche, zugleich aber geradezu übernatürliche Bewegungsform, die sich aus ihrer Transformation von schlichten Dingen in Waren ergibt.2 Die Wahl des Beispiels suggeriert: Waren im Kapitalismus stellen eine Veralltäglichung jener Tische dar, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter den Händen zahlloser Zirkelteilnehmer zu rücken und zu klopfen beginnen und Marx zu seinem Bonmot inspiriert haben. Während die Eigenbewegungen tanzender Tische aber immerhin noch zu Verwunderung Anlass geben, hätte doch – so das Marxsche Argument – gerade die alltägliche Magie von Dingen, die zu Waren und damit zu Fetischen gemacht werden, unsere Aufmerksamkeit verdient. Gerade sie sind es, die uns ‚beunruhigen‘ sollten, und doch muss ihr mindestens ebenso unheimlicher Charakter erst ins Bewusstsein gerufen werden. Das Eigenleben von Dingen verdankt sich nach Marx ihrer Einbettung in soziale Interrelationen, deren bedeutungs- und realitätsstiftender Charakter nicht mehr erkannt, sondern als natürlicher status quo hingenommen wird. Dass
1
Marx: Das Kapital, S. 85.
2
Mit der bezeichnenden Tatsache, dass Marx’ Texte von Gespenstern und Wiedergängern bevölkert sind, hat sich u.a. Jacques Derrida beschäftigt; vgl. Derrida: Marx’ Gespenster.
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Waren „sinnlich übersinnliche Dinge“ sind, ist für Marx gleichbedeutend damit, dass sie „gesellschaftliche Dinge“ sind,3 die kollektiv generierte Bedeutungszuweisungen in sich aufgenommen haben und diese als scheinbares Eigenleben zurückspiegeln. Ein Eigenleben als Waren besitzen sie also nur unter der Voraussetzung, dass diese gesellschaftlichen Relationen nicht ‚erkannt‘ werden. „Die in die Dinge investierte Macht erscheint als die Macht der Dinge zurück.“4 Wenn Gegenstände in den Besitz einer autonomen Handlungsfähigkeit gelangen können: Stehen die Dinge unseres täglichen Gebrauchs (und dazu sind die Tische ja zweifelsohne zu zählen) dann unter Einflüssen, die nicht anders als magisch zu nennen sind? Oder sind wir etwa selbst in der Lage, tote Dinge mit vitalen Kräften aufzuladen, so dass sie uns tanzend und sprechend gegenüber treten? Mit solchen Fragen sahen sich in den 1850er Jahren auch die Experimentalisten des Tischerückens konfrontiert, die zu ihrem eigenen Erstaunen in den Besitz der Fähigkeit gelangten, schwere Holztische in Bewegung zu versetzen.5 Die ungeklärte und doch eins ums andere Mal bestätigte Phänomenalität hat zu einer Vielfalt an Deutungen Anlass gegeben und so ein ganzes Spektrum an innerweltlichen und transzendenten Erklärungshypothesen entfaltet. Während die einen die Existenz einer ‚Geisterwelt‘ bzw. das Weiterleben nach dem Tode nun experimentell beweisen wollen, geht es anderen darum, das Beobachtete mit ‚wissenschaftlichem Geist‘ zu durchdringen und Tatsachen von ‚Humbug‘ zu trennen – ein in diesem Zusammenhang viel verwendeter Ausdruck, der sogar als Lehnwort Eingang ins Englische findet. Die Initialzündung für die Modewelle des Tischerückens in den 1850er Jahren kommt aus Übersee. Im Frühling des Jahres 1853 berichtet der Bremer Kaufmann Karl Andrée in einer telegraphischen Depesche, die von zahlreichen deutschen Zeitungen aufgegriffen wird, von den erstaunlichen Phänomenen des table moving in Amerika. In New York sei er Zeuge eines „unerhörten Experiments“ geworden, bei dem ein Tisch durch bloßes Auflegen der Hände in kreisende Bewegung versetzt worden sei. Er selbst sei ersucht worden, zusammen mit sieben anderen Personen beiderlei Geschlechts an einem schweren Mahagoni-Tisch Platz zu nehmen. Nach einer Weile habe einer der Teilnehmenden mitgeteilt, er spüre „eigenthümliche Strömungen“ im rechten Arm, die sich allmählich auch auf den linken übertragen hätten, eine andere
3
Marx: Das Kapital, S. 85f.
4
Böhme: Fetischismus und Kultur, S. 319.
5
Konzise Darstellungen finden sich bei Heimerdinger: Tischlein rück’ dich; Sawicki: Leben mit den Toten, S. 229-253; Bohley: „Klopfzeichen, Experiment, Apparat“.
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Teilnehmerin musste die Kette verlassen, weil ihr diese Strömungen Übelkeit verursachten. Einige Zeit später ist es dann soweit: Erst fing die Platte des Tisches an, sich langsam hin und her und auf und ab zu neigen; dann begann der Tisch sich selbst zu rücken; die Umstehenden zogen den Sieben von der Kette, welche diese geschlossen halten mussten, rasch die Stühle weg und nun lief der Tisch, welchen vierzehn Hände lose berührt hielten, sich nach Norden fortrückend und zugleich um sich selbst kreisend, reichlich vier Minuten auf dem Teppich so rasch umher, dass die Kette kaum folgen konnte. Auf den Rath eines der Zuschauer berührten mehrere von der Kette einander mit Armen und Kleidern und flugs blieb der Tisch stehen. […] Am Ende ließ die Kette, weil sie ermüdet war, ihn stehen und man trug ihn wieder an seinen alten Platz vor dem Sopha, wo er sich fortan ruhig verhielt und wieder mit seinem Teppich bedeckt ward.6 Ausgehend von Bremen verbreitet sich die Nachricht wie ein Lauffeuer und sorgt dafür, dass sich diese gesellige Experimentalpraxis nach Art einer wahren ‚Manie‘ oder ‚Epidemie‘ über die deutschen Länder ausbreitet. Schon bald allerdings begnügen sich die Zirkel nicht mehr damit, dem Spektakel tanzender Tische beizuwohnen, sondern beginnen diese Tische für die Beantwortung von Fragen in Dienst zu nehmen. Die Erklärungsmodelle, die als theoretisches Begleitprogramm dieser Experimentalkultur entwickelt werden, zeigen sich häufig um eine Abgrenzung zum Spiritismus bemüht. Es muss nämlich betont werden, dass das Tischerükken um 1850 keineswegs eine ausschließlich spiritistische Angelegenheit ist. Zwar ist diese Verbindung schnell hergestellt – insbesondere dann, wenn sich das reine Bewegungsszenario in ein psychographisches setting verwandelt, bei dem es um den Empfang von Botschaften aus einer vermeintlich jenseitigen Welt geht. Neben geistergläubigen Spiritisten haben jedoch auch andere Zirkel Interesse für jene kollektiven Situationen entwickelt, in denen es zu ‚automatischen‘ Schreibprozessen kam, die scheinbar von keinem der Anwesenden intendiert waren. Sofern aber der ‚Geisterverkehr‘ als Kausalursache ausscheidet, müssen stärker immanente Erklärungen gefunden werden, und um diese soll es im Folgenden gehen. Im Vorfeld der breiten Konjunktur, die spiritistische Sitzungen um 1900 erleben, entwickelt sich hier eine vielfältige Experimentalkultur, die im Hinblick auf den konstitutiven Zusammenhang von Trancezuständen und der Epistemologie moderner Medien mindestens ebenso ergiebig
6
Andrées Bericht an die Allgemeine Zeitung vom 4. April 1853, zitiert nach Rechenberg: Die Geheimnisse des Tages, S. 201.
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ist wie der Diskurs um den so genannten ‚wissenschaftlichen Okkultismus‘ um 1900. Wie ich zeigen möchte, kann das Tischerücken in den 1850er Jahren nicht nur als letztes hoffnungsvolles Testfeld für die Plausibilität lebensmagnetischer Hypothesen gelten. Es stellt sich vielmehr als ein Experimentalraum dar, in dem die Fährte eines ‚Unbewussten‘ aufgenommen wird, das aus der Mitte des Kollektivs emergiert. Lange bevor sich die Gruppenpsychologie eine neue kollektive Entität schafft und sich den unintendierten ‚Übertragungen‘ widmet, die dort stattfinden können, erkunden die Zirkel der Tischerücker Mitte des 19. Jahrhunderts die emergente Qualität psychischer Kräfte, die scheinbar mühelos zwischen Dingen und Menschen ausgetauscht werden und in erstaunlichen Verschriftlichungen Gestalt annehmen können. Gegenläufig zum Spiritismus werden hier also die immanenten Fähigkeiten der Psyche erprobt, die nicht nur als ‚Aufnahmeapparat‘ für Stimmen aus dem Jenseits, sondern selbst als Quelle von Botschaften fungiert. Mit Helmut Zander kann demnach von einem Prozess der „Immanentisierung“ gesprochen werden, in dem nach (wissenschaftlich haltbaren) Alternativen zum ‚Geisterverkehr‘ gesucht wird.7 Wenn es nun aber nicht vorrangig darum geht, zu beweisen, dass Geister ihre Hand im Spiel haben – welches (offensichtlich intelligente) Agens ist es dann, das sich den Anwesenden mitteilt? Zahlreiche Versuche zeugen davon, dass die vermeintlich „magnetischen Zustände“ innerhalb des Zirkels den Rahmen für Gedankenübertragungen zwischen den Sitzungsteilnehmern schaffen. Einer Experimentalgruppe aus Saarbrücken gelang es, „stumme Mitteilungen“ zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern für alle hörbar zu machen. Justinus Kerner gibt die Schilderungen wie folgt wieder: Vorgestern wurde in einem hiesigen Hause das Experiment des Tischerückens versucht, wobei die überraschendsten Resultate […] erzielt worden sind. 5 Personen, darunter drei Herren von 49, 30 und 16 Jahren und zwei unverheirathete Frauenzimmer von 18 und 16 Jahren, bildeten die Kette an einem auf einer 3füßigen Säule stehenden runden Tische mit einer unpolirten Platte von Eichenholz […] und kamen gleich am Beginne des Experiments darin überein, daß einer unter ihnen damit die Willenskraft der Theilnehmer einen Concentrirungspunkt habe und sich nicht zersplittere, gleichsam die Oberleitung übernehmen, indem alle zu beantwortende Fragen, sowohl der
7
Zander: „Spiritismus in Deutschland“, S. 85.
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Mitglieder der Kette, als der Umstehenden, nur durch sein Organ gestellt werden sollten.8 Der mit der „Oberleitung“ betraute Herr entwickelt nun die folgende Hypothese: Wenn es möglich sei, „daß ein in einem Mitgliede der Kette hervorgegangener, vollständig ausgeprägter Gedanke durch die Kette dem leblosen Holze des Tisches sich mittheile“, so müsse sich dieser Gedanke doch umso eher „auch den übrigen lebenden Mitgliedern der Kette mittheilen“. Die Gruppe geht zu einem entsprechenden Experiment über. Einer der Herren bildet einen Gedanken in sich aus und erhält von einem der jungen Frauenzimmer kurz darauf „die alles frappirende Antwort in deutlicher, sehr verständlicher, wohlklingender Aussprache: ‚Beatus ille, qui procul negotiis‘“. Diese Textstelle aus einer Ode des Horaz an den Maecenas lässt keinen Zweifel daran, dass hier ein offensichtlich „innervationsmächtiger“ Bildungsbürger imstande war, einem weiblichen Medium mit wenig mehr als „Elementarschulbildung“ die fehlerfreie Wiedergabe eines lateinischen Zitates zu entlocken, obwohl dies „Alles diesem Mädchen spanische Dörfer sind“.9 Der wundersame Kontrast zwischen Unwissenheit und Illiteralität im ‚wachen‘ und Kenntnisreichtum und scheinbarer Allwissenheit im ‚magnetischen‘ Zustand verweist auf ein Kernelement, das für den naturphilosophischen Diskurs über den Somnambulismus kennzeichnend ist: Die wiederkehrende Verwunderung über die exorbitanten Leistungen, die ungebildete, oft weibliche Medien im Zustand des Somnambulismus hervorzubringen in der Lage sind. Die von romantischen Ärzten wie Justinus Kerner, Joseph Ennemoser oder Christian Gottfried Nees von Esenbeck untersuchten Somnambulen zeigten häufig gesteigerte mathematische oder sprachliche Fähigkeiten und eine Ausweitung der Sinne auf entfernte Orte in Raum und Zeit, die sie auch zu prophetischen Vorhersagen befähigte. In den Zirkeln der Tischerücker lässt sich nun jedoch ein weiteres Phänomen beobachten: Anders als in den anderen Zuständen somnambuler Personen betrifft der Zugewinn ungeahnter Fähigkeiten nicht mehr nur einzelne, besonders begabte ‚Medien‘, sondern ein ganzes Ensemble, das sowohl Menschen, aber auch Dinge und Apparate umfasst. Was hierbei als unbekannter ‚Aktant‘ auf den Plan tritt, ist nicht das Unbewusste schlechthin, sondern ein in besonderem Maße unerforschtes Terrain: ein kollektives Unbewusstes, das keinem einzelnen Akteur, sei es im Diesseits oder im Jenseits, zugeordnet werden kann. Noch handelt es sich um etwas Unbenennbares. Die Umrisse eines solchen kollektiven Mediumismus lassen 8
Aus einem Bericht aus Saarbrücken zitiert nach Kerner: Die somnambülen Tische, S. 29f.
9
Ebd., S. 31.
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sich jedoch zumindest ansatzweise aufspüren, und zwar in den lebensmagnetischen Hypothesen über das Phänomen des Tischerückens. Dies lässt sich beispielhaft an einem Artikel über Lebensmagnetismus und Magie erkennen, den der romantische Arzt und Naturphilosoph Carl Gustav Carus 1855 für die deutsche Enzyklopädie Die Gegenwart schrieb.10 Darin ordnet er die Phänomene des Tischerückens und das (von ihm so bezeichnete) „Psychographenwesen“ unmittelbar dem Gebiet des Mesmerismus zu. Von der grassierenden Mode, die sich nach Ostern 1853 wie eine „Influenza“ ausgebreitet habe, fühle er sich persönlich merkwürdig berührt – hatte er sich doch kurz zuvor in einem Vortrag mit den Geistes-Epidemien der Menschheit (1852) beschäftigt. Darin argumentiert Carus, die Menschheit könne – analog zu einem Organismus – von endemischen Krankheiten befallen werden. Was wir bei einem einzelnen Geisteskranken eine „fixe Idee“ nennen, könne auf den Geist ganzer Volksstämme übergehen, wodurch diese Vernunftpredigten nicht mehr zugänglich seien. „Beschwörungsformeln“, von Sektierern in einem quasi-somnambulen Zustand vorgetragen, hätten zu bestimmten Zeiten ansteckend gewirkt und sich per Nachahmung, epidemieartig ausgebreitet.11 Einem solchen Effekt verdanke sich z.B. die Hexenverfolgung. Das Tischerücken bestätigt die in diesem Text vertretenen Ansichten für Carus sogar in zweifacher Hinsicht: Zum einen durch seinen eigenen Charakter als grassierende Epidemie, zum anderen durch die Gesetze lebensmagnetischer Körperströme und deren Zirkulation, die sich in diesen Experimenten manifestiert. Wie schon der Somnambulismus als Ausdruck der ‚Nachtseite‘ des menschlichen Seelenlebens stößt auch das Tischerücken in den 1850er Jahren bei einer bereits abtretenden Generation naturphilosophischer Ärzte auf intensives Interesse. Von dieser Fraktion von Naturforschern werden die rätselhaften Phänomene, die der Tisch unter dem vitalen ‚Einfluss‘ einer um ihn versammelten Menschenkette hervorbringen kann, mit den intensiv erforschten Phänomenen des Somnambulismus parallelisiert. Bekanntlich hatte dieses Paradigma einen erheblichen Anteil daran, dass die Handlungen eines Individuums nur mehr zu einem Bruchteil als Ergebnis bewusst gefasster Intention gelten konnten. Ein neues Experimentierfeld tut sich jedoch dann auf, wenn die Frage in den Blick rückt, ob unbewusste Seelenzustände auch auf tote Dinge übergehen können. 10 Carus: „Lebensmagnetismus – Magie“. Dieser Artikel ist in die folgenden Abschnitte unterteilt: Der so genannte Lebensmagnetismus nach seinen Zuständen, Manipulationen und Wirkungen; Die magnetischen Pendelschwingungen und die Rhabdomantie; Das Tischerücken und so genannte Geisterklopfen oder Psychographenwesen. 11 Carus: Ueber Geistes-Epidemien der Menschheit, S. 45, 16.
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Diese Position ist unter anderen von Justinus Kerner vertreten worden. Autor einer der berühmtesten Fallgeschichte somnambuler Medien, der Seherin von Prevorst (1829),12 gehörte auch er zu jenen romantischen Ärzten, die in der Konjunktur des Tischerückens eine Möglichkeit sahen, das Paradigma des Lebensmagnetismus noch einmal zu reaktivieren. In seiner größtenteils kompilatorischen Schrift Die somnambülen Tische (1853) vertritt Kerner die Ansicht, die Manifestationen seien das Werk der vitalen Körperströme, die in den Tisch überfließen und diesen magnetisieren. Die basale Annahme ist also, dass sich – vermittelt über ein körpereigenes vitales Fluidum, den so genannten Nervengeist – der somnambule Zustand auf tote Gegenstände, hier Tische, übertragen lässt. Es war seine berühmte Seherin, die den Begriff des Nervengeistes entwickelt und damit ein Medium bezeichnet hatte, das die menschliche Seele zugleich in einem physischen Körper verankert und mit höheren, geistigen Sphären des Jenseits verbindet. In dieser Perspektive handelt es sich bei den vitalen Körperströmen nicht um eine ausschließlich körperimmanente Lebenskraft, sondern um eine psychische Potenz, die den Kontakt mit transzendentalen Sphären vermittelt. Dass sich der Nervengeist in den „magnetischen“ Zuständen des Somnambulismus von seiner körperlichen Hülle ein Stück weit ablösen kann, wurde für die Seherin Friederike Hauffe zur Voraussetzung für ein spirituelles Läuterungsprogramm, das sich an den physischen Tod anschließt. Die Aufzeichnungen der Seherin von Prevorst reihen sich also ein in eine – stark durch Swedenborg geprägte – Tradition des Spiritismus, in der die verschiedenen Zustände des Somnambulismus zugleich als Entwicklungsstufen seelischer Reinigung gelten. Dieser Nervengeist geht mit der Seele […] nach dem Tode über und ist unzerstörbar. […] Je reiner des Verstorbenen Seele wird auf höheren Stufen des Zwischenreiches, desto mehr verläßt sie diesen Nervengeist. Zum Körper des Menschen kehrt er nach seiner Lösung immer wieder zurück. Er ist durch keine andere Kraft gestört, bleibt bei der Hülle als Auferstehungskeim.13 Entgegen diesen metaphysischen Deutungen, in denen sich das Nerven-system noch deutlich als Sitz bzw. Instrument einer christlichen ‚Seele‘ zu erkennen gibt, lassen sich die lebensmagnetischen Einsichten in das Wesen des Somnambulismus jedoch auch für immanente Deutungen der rätselhaften Übertragungsphänomene in Anspruch nehmen. In der Anwendung auf das deutlich 12 Vgl. hierzu die Studie von Gruber: Die Seherin von Prevorst. 13 Zitat der Seherin von Prevorst in Kerner: Die somnambülen Tische, S. 55.
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‚profanere‘ Phänomen des Tischerückens treten religiöse Deutungen hinter einer Auffassung zurück, wonach die Charakteristika somnambuler Zustände von der menschlichen Seele in die Dinge übergehen, also externalisiert werden können. Kerner sieht hier ein Agens am Werk, das „höher, als Nerve ist“. Durch die „Ladung“ mit menschlichem Nervengeist werde der Tisch „gleichsam somnambül“ und gelange in den Besitz von Fähigkeiten, die den außergewöhnlichen Gaben Somnambuler entsprechen.14 Jetzt, wo das zweite Phänomen, das sogenannte Geisterklopfen, ein im Tisch versteckter Prophet, sich immer mehr auch als eine Thatsache erweist, muß man desto mehr zur Erkenntnis kommen, daß hier eine höhere Potenz als Electricität und Galvanismus, eine mehr seelische, das Agens ist; und es ist diese Potenz allerdings ein Geist, aber kein anderer, als der aus der menschlichen Hand sich entbundene, in den Tisch übergeströmte menschliche Nervengeist, derselbe, der, wie wir in magnetischen Zuständen so oft sehen, gerade in seiner Lösung, die Erscheinungen des Wirkens außer Raum und Zeit, des Fernfühlens, Voraussagens u. s. w. […] zeugt.15 Die Kerner’sche Deutung macht eine Bewegung der Immanentisierung deutlich, die sich in der Übertragung des Somnambulismus-Konzeptes von lebenden Menschen auf tote Tische vollzieht. Das medizinisch-naturphilosophische Paradigma des Somnambulismus stellt die Annahme bereit, dass gerade in den unbewussten Zuständen jene Anteile des Nervensystems in Aktion treten, die die menschliche Seele in besonders intensiven Kontakt mit der Außenwelt bringen können – sei es, dass sie für Botschaften aus einer jenseitigen Welt empfänglich wird oder aber ihre psychischen Energien in die Dinge überströmen lässt. Im Hinblick auf das von Marx aufgeworfene Problem einer inmitten der modernen Gesellschaft anwesenden Magie der Dinge lässt sich an Kerners Somnambulismus-These festhalten: Es ist das vitale Fluidum menschlicher Körperströme, das dem Tisch seine Eigenbewegung verleiht – bis hin zur Fähigkeit, prophetische Botschaften zu ‚äußern‘. Auch wenn sich seine vitalen Äußerungen scheinbar verselbständigen, bleiben diese, so Kerner, gleichwohl mit ihrer menschlichen Quelle verbunden. Die rätselhafte Kraft, die ihn zum Tanzen und zum Sprechen bringt, haftet also nicht am Tisch, sondern an den Menschen, die ihn mithilfe ihrer Nervenkraft magnetisieren. Mit eben jenen
14 Ebd., S. 53f. 15 Ebd., S. 53.
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steht nun auch der „Geist“, der sich durch den Tisch mitteilt, „in innerem seelischem Zusammenhange“ – auch wenn diese Verbindung „dem äußeren Menschen unbewußt“ sei.16 In den Experimentalräumen des Tischerückens Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnet sich ‚das Unbewusste‘ also als ein Agens ab, das sich dem ‚Willen‘ der Akteure entzieht, zugleich aber von ihnen hervorgebracht wird. Es ist jedoch die kollektive Dimension dieses Unbewussten, die auch in den vitalistischen Konzepten von Rapport und Übertragung keinen konzeptuellen Ort bekommt.
Apparaturen und Manuale Zur Experimentalkultur des Tischerückens gehört auch die Entwicklung und der Einsatz von Apparaten, von denen der so genannte Psychograph oder ‚Seelenschreiber‘ auch zu einer wirkungsmächtigen Metapher für ‚automatische‘ literarische Produktivität wurde.17 So unterschiedlich sie auch sind, so dienen die hier entwickelten Apparaturen doch vor allem einem Zweck: ‚psychographische Aufzeichnungen‘ herzustellen. Die verschiedenen Methoden der Psychographie lassen sich typologisch unterscheiden: Im einfachsten Fall geht es darum, ‚direkte Schrift‘ aufzuzeichnen, die der Hand eines personalen Mediums entströmt. Hierzu dient etwa die so genannte Planchette (vgl. Abb. 1). Was als Schreibapparatur fungiert, ist die Hand des Mediums selbst, während die Vorrichtung der Planchette in gewisser Weise dazu dient, die Hand erst zu einem ‚Medium‘ zu machen, indem sie von der Intentionalität ihres Besitzers entkoppelt wird. Wie gut dies zu gelingen scheint, drückt sich in wiederkehrenden Verweisen darauf aus, im welchem Maße sich die Handschrift des Mediums unter der Einwirkung vermeintlicher Geister verändert. Die meisten Apparate dagegen dienen der Aufzeichnung von Zeichenketten und basieren auf dem Grundprinzip der Buchstabenwahl. Apparaturen wie der Psychograph, entworfen von Musikdirektor A. Wagner in Berlin,18 oder der von David Hornung entwickelten ‚Emanulektor‘ ermöglichen es, den Bewegungen des Tisches alphabetische Zeichen zuzuordnen, so
16 Ebd. 17 Breton: „Auftritt der Medien“. Zu den spiritistischen Anleihen in Bretons Konzept des automatischen Schreibens vgl. Starobinski: „Freud, Breton, Myers“. 18 Forstner: Der Psychograph oder Seelenschreiber des Musikdirektors A. Wagner in Berlin. Erstmals erschien diese Darstellung in der Bremer Zeitschrift Die wandernden magnetisierten Tische und die Klopfgeister. Wegen des großen Interesses an diesen ‚merkwürdigen Erscheinungen‘ habe er die Schrift mit einem neuen Anhang nochmals gesondert abdrucken lassen.
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dass eine – zunächst noch recht ‚rohe‘ Buchstabenfolge entsteht (vgl. Abb. 2). Um solche ungegliederten und fehlerhaften Zeichenketten lesbar zu machen, sind nachträgliche Korrektur- und Übertragungsvorgänge nötig.
Abbildung 1: Planchette.19
Abbildung 2: Psychographische Botschaft.20
Damit ein Rapport ohne Unterbrechung gewährleistet ist, müssen mehrere ‚Medien‘ nahtlos ineinandergreifen. Wie der Name des ‚Emanulektors‘ bezeichnend deutlich macht, ist es in allen Apparaten die menschliche Hand, die für das ‚Ineinandergreifen‘ belebter und unbelebter Teile der medialen Apparatur sorgt. Um mit Armin Schäfer zu sprechen, fungiert die Hand dabei als ein „lebendes Dispositiv“; in der Verschaltung mit vitalen Körperströmen, Apparatur und Schriftzeichen kommt ihr eine ambivalente Zwischenstellung zwi-
19 Ich entnehme die Abbildung Geßmann: Aus übersinnlicher Sphäre, S. 253. 20 Ich entnehme die Abbildung Forstner: Der Psychograph oder Seelenschreiber des Herrn Musikdirektors A., S. 14.
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schen Subjekt und Objekt, Akteur und ausführendem Organ zu.21 Die eigentlichen „Manuale des Stroms“22, denen die ‚Induktion‘ der Phänomene zu verdanken sind, bestehen aus einer Mensch-Ding-Schnittstelle: einer Holzplatte, deren Aufgabe darin besteht, das magnetische Fluidum aufgelegter Hände aufzunehmen und in jene Apparatur einzuspeisen, die Bewegungen in semantische Botschaften übersetzt. Diese Platte, die einen elementaren Bestandteil aller Psychographen darstellt, bildet gewissermaßen den Tisch noch einmal als Miniatur nach und ist mit einem empfindlichen Zeiger verbunden, der wiederum die Schnittstelle zu einer alphabetischen Zeichentafel herstellt. Hornungs Emanulektor (‚Leser aus der Hand‘) etwa besteht im Wesentlichen aus einem Ziffernblatt, auf dem die Buchstaben des Alphabets, Zahlen und etliche Interpunktionszeichen in zwei Reihen angeordnet sind, sowie einer Säule mit beweglichem Zeiger (vgl. Abb. 3). In Bewegung gesetzt wird dieser dadurch, dass ein bis zwei Hände auf die zwischengeschaltete Holzplatte aufgelegt werden und deren Bewegung den Zeiger bestimmte Buchstaben auswählen lässt. Er soll sich dabei nicht durch mechanische, sondern durch „dynamische (magnetische) Kraft“ bewegen.23
ȱ Abbildung 3: Emanulektor.24
21 Schäfer: „Lebendes Dispositiv: Hand beim Schreiben“. Schäfer entwickelt diese Überlegungen allerdings nicht an den Schreibpraxen des Spiritismus, sondern denen der Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts, die eine neue Wissenschaft – die Graphologie – auf den Plan rufen. 22 Den Ausdruck borge ich von Rieger: „Manuale des Stroms“. 23 Hornung: Neue Geheimnisse des Tages, S. 89. 24 Ich entnehme die Abbildungen Geßmann: Aus übersinnlicher Sphäre, S. 294.
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Beantwortet werden können auf diese Weise die Fragen aller Personen, die sich mit der handauflegenden Person, dem „Medio“ in Rapport setzen. Auf diesem Wege entstehen, ohne des Medii Zuthun und Denken dessen, was psychographiert wird, Erzählungen, Sentenzen, Gedichte über beliebige Themata, selbst Lösungen arithmetischer und anderer Aufgaben. Ist das Medium Komponist, so würden auch musikalische Kompositionen, ohne bewußt selbst zu komponieren, in größerer oder geringerer Vollkommenheit herzustellen zu sein.25 Die so empfangenen Botschaften sind mal mehr, mal weniger spektakulär. Sie reichen von frommen Volksweisheiten wie „Morgenstunde hat Gold im Munde / Lobsinget ihm dafür aus vollem Herzensgrunde“26 und Versatzstücke eines bildungsbürgerlichen Zitatenschatzes über Gebete bis hin zu Gedichten verstorbener Poeten. Unter anderem Heinrich Heine ließ sich dazu bewegen, einer Runde von Tischerückern eine Serie grauenhafter Gedichte in den Psychographen zu diktieren. Unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass das Ensemble zur Aufzeichnung psychographischer Botschaften gelangt, ist ein vitaler ‚Strom‘, der zur ‚Ladung‘ der unbelebten Teile der Apparatur dient. Die komplexe Anordnung macht deutlich, dass die Übertragung zwischen den Komponenten der Assemblage (Körper, Tisch, Apparat, Zifferntafel) nur durch ein im wahrsten Sinne des Wortes flüssiges Medium bewerkstelligt werden kann, das auch die Zwischenräume des Ensembles durchdringt. Nur wenn lebensmagnetisches Fluidum im Spiel ist, lassen sich Körperströme in Schriftverkehr transformieren.27 Angesichts der Komplexität dieser Aufzeichnungsapparate stellt sich die Frage nach den Quellen dieser Psychographien freilich umso dringlicher. Was teilt sich hier eigentlich mit? Für die Spiritisten versteht es sich von selbst, dass hinter den Botschaften personalisierte Sender stehen: Geister aus dem Jenseits, die die Apparate nutzen, um mit den Zirkelteilnehmern in ‚telegraphischen‘ Austausch zu treten. Der Experimentalraum des Tischerückens zeigt sich in dieser Frage jedoch offen. Die ungeklärte Kausalität und damit auch die Frage, welcher ‚Sender‘ sich hinter den Botschaften verbirgt, gehört auch zu jenen Fragen, die an den Apparat selbst gerichtet und damit der ‚automatischen‘ Be-
25 Ebd., S. 90. 26 Zitiert im Anhang von Forstner: Der Psychograph, S. 12. 27 Zu diesen Wechselverhältnissen unverzichtbar Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Auf die Praktiken des Spiritismus wird hier freilich nicht eingegangen.
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antwortung überlassen werden. Ausgiebige psychographische Dokumentationen hierüber finden sich etwa in der Sammlung Neue Geheimnisse des Tages, die der „Rendant“ und Sekretär des Berliner „Magnetischen Vereins“, David Hornung 1857 herausgab.28 Zahlreiche Geister stellen sich hier der Frage aller Fragen: „Wer spricht aus dem Psychographen?“ und geben ihre Antworten dem Emanulektor zu Protokoll, den der Herausgeber selbst entwickelte.29 Die Frage wird in mehreren Sitzungen gestellt. In der ersten Antwortserie gibt der Pychograph zu verstehen, dass er kein Sprachrohr irgendeines Geistes sei, sondern in seinem eigenen Namen (Franz oder Fränzelchen) antworte. Nach Angaben Hornungs beantwortete er in dieser Sitzung die Frage ganz konsequent damit, „daß diese Manifestationen nur von den Operirenden ausgehen und daß entkörperte Geister dabei nicht im Spiele seien“.30 In einer anderen Sitzung tut der Psychograph kund, dass ein Geist, nämlich ein gewisser Otto Seifert durch ihn spreche. Gefragt, in welcher Weise die Geister mit dem Aufzeichnungsapparat in Kontakt treten, gibt dieser den Sitzungsteilnehmern zur Antwort: Durch magnetisches Zusammenströmen; die Kraft schwingt sich in das Instrument, die Geister aber suchen in den Emanulektor zu dringen; deshalb strömt die Kraft zur Emma [dem Medium; E.J.] zurück, wenn kein Geist da ist, der sich mit dem Emanulektor vereinigen kann. […] Der Psychograph aber leitet den Strom nach der Spitze, in dieser strömt er aus und findet dann leicht einen ähnlichen Geistesstrom.31 Eine unvoreingenommene Haltung demonstrierend, dokumentiert Hornung die Antwortserien, ohne eine definitive Entscheidung zu treffen, ob die Botschaften dem Zirkel tatsächlich von Geistern oder aus dem Unbewussten einer anwesenden Person zuströmen. Er unterbricht die Darstellung durch Kommentare, in denen er etwa angesichts außergewöhnlich informierter Antworten über das Wesen von Elektrizität und Magnetismus die Vermutung äußert, „dass dort ein Arzt oder Physiolog zugegen gewesen sei und wissentlich oder unwissentlich auf diese Antworten Einfluß geübt habe“.32 Ausdrücklich meint er damit keinen Geist aus dem Jenseits, sondern hat einen der Anwesenden im Verdacht. 28 Hornung: Neue Geheimnisse des Tages. 29 Ebd., S. 70ff. 30 Ebd., S. 73. 31 Ebd., S. 85. 32 Ebd., S. 79.
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Obwohl Hornung nicht ausschließen will, dass sich über den Psychographen auch die Seelen Verstorbener äußern können, kommt er in seinem abschließenden Kommentar zu folgendem Resultat: Was sich über den Apparat mitteilt, sei nichts anderes als „der Gedanke der Fragenden, die sich unbewußt, selbst die Antworten geben, sich etwas erzählen, rechnen u.s.w.; es ist die höhere Geisteskraft des Menschen, die ohne es zum Bewusstsein des Individuums gelangen zu lassen, all diese Operationen vollbringt“.33 Dies erscheint umso erstaunlicher, als der vom ihm 1854 entwickelte Emanulektor gerade durch seinen komplizierten Aufbau die Annahme plausibel machen sollte, dass nur ‚intelligente Geister‘ erfolgreich über ihn kommunizieren könnten. Die von ihm zusammengestellten Sitzungsberichte zeigen nun aber offenbar, dass sein Emanulektor sich sowohl von Intelligenzen aus dem Diesseits wie aus dem Jenseits in Bewegung setzen lässt. So bleibt von den Vorsichtsmaßnahmen, die auch die Konstruktion des Pease’schen ‚Spiritoskops‘ geprägt haben (vgl. Abb. 4), also nur, dass die physische Manipulation der Bewegung durch das personale Medium ausgeschlossen werden soll.
Abbildung 4: Spiritoskop oder Pease’scher Apparat.34
Was die Apparatur hingegen ermöglichen soll, ist die Aufzeichnung einer entkörperlichten, psychischen Kraft. Dass hierfür nicht nur per se entkörperlichte Akteure wie Geister in Frage kommen, sondern auch die unbewussten psychischen Fähigkeiten der anwesenden Lebenden, ist das Ergebnis eines immanent 33 Ebd., S. 456. 34 Ich entnehme die Abbildung Hare: Experimentelle Untersuchungen über GeisterManifestationen, Abbildungstabelle II.
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gewordenen Experimentalismus. Die mit den rückenden Tischen kombinierten Apparate stellen die Bedingung für die Übertragungen einer rätselhaften ‚Intelligenz‘ bereit, deren Ursprungsort sich nicht klar zuordnen lässt und die dennoch als Spur in die Aufzeichnung der Apparatur eingeht. In den Zirkeln des Tischerückens wird ein Experimentalismus praktiziert, der die Lücke der Kausalität in unterschiedlicher Weise zu füllen versucht – und dabei in neue Wissensfelder vorstößt. Das romantische Paradigma des Somnambulismus schließt nicht aus, dass die psychographischen Manuale des Tischerückens durch das Einwirken von Geistern in Bewegung gesetzt werden. Mitte des 19. Jahrhunderts besitzt das Unbewusste gewissermaßen noch jene entgrenzte Qualität, die ihm seit der Romantik eigen ist. Die unbewussten Anteile der Psyche sind zu Kommunikationsleistungen in der Lage, die sowohl zu Gedankenübertragungen wie zum Geisterverkehr befähigen. Was an den stets aufs Neue gelingenden Manifestationen frappiert, ist jedoch nicht das reine Phänomen der Gedankenübertragung, sondern gerade die Tatsache, dass die ‚Fernwirkung‘ der Psyche selbst physische Dinge in ihre Gewalt bringen kann. Das unbekannte seelische Agens, dem diese Experimentalzirkel auf der Spur sind, besitzt die erstaunliche Eigenschaft, physische Wirkungen erzielen zu können. In einen besonderen magnetischen Zustand versetzt, kann gerade der unbewusste menschliche ‚Wille‘ einem Ding ‚Befehl‘ sein. Dieser Befund stellt auch die Vertreter einer (erst im Entstehen begriffenen) experimentellen Psychologie vor eine Herausforderung. In Opposition zum naturphilosophisch-vitalistischen Paradigma des Somnambulismus gilt es, diese Fernwirkungen der Psyche im Einklang mit einer ‚mechanistischen Physik‘ und ohne Rekurs auf ein mesmeristisches Fluidum zu erklären. Der englische Psychologe William Carpenter bringt hierzu sein Konzept der ideomotorischen Kraft ins Spiel. Eine Reihe „verwirrender“ Phänomene („numerous phenomena which have been a source of perplexity to many“), die von vielen seiner Zeitgenossen noch irrtümlich auf lebensmagnetische Kräfte zurückgeführt würden, seien in Wahrheit Resultate „erwartungsvoller Aufmerksamkeit“ („expectant attention“) auf Seiten des Ausführenden, dessen bewusster „Wille“ vorübergehend die Kontrolle über seine Muskeln verloren habe und – dies ist der entscheidende Punkt – ein Resultat antizipiere: „the anticipation of a given result being the stimulus which directly and unvoluntarily prompts the muscular movements that produce it.“35 Auch für diese dezidiert antivitalistisch gelagerten Theorien gilt freilich, dass sie den eigentlich rätselhaften Kern nicht eliminieren. Der neue wissenschaftliche Terminus des ‚Ideo-Motorischen‘ vermag das Phänomen zwar leid35 Carpenter: „On the Influence of Suggestion in Modifying and Directing Muscular Movement“, S. 153.
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lich zu entzaubern – sobald es jedoch nicht nur um Bewegungsphänomene geht, bleibt nach wie vor nur der Betrugsvorwurf an die in die Apparatur eingespannten menschlichen Medien, um semantische Übertragungen zwischen Gruppenmitgliedern aus dem Kreis der ideo-motorischen Phänomene auszuschließen.
Medien des Kollektiven – Kollektive Medialität Was all die psychographischen Apparate auszeichnet, ist aber nicht nur ihre komplexe Konstruktion, sondern auch ihre Strukturähnlichkeit mit avancierten Apparaten der Telekommunikation. Wie es aus späteren Phasen des Spiritismus bekannt ist, werden diese gerne mit denen der Telegraphie verglichen. Die Kombination zwischen Manual und Typenrad macht es zum Beispiel nahe liegend, den Emanulektor mit dem Hughes’schen Typendruck-Telegraphen zu analogisieren (vgl. Abb. 5).36
Abbildung 5: Typendrucktelegraph.37
Das notorische Wiederkehren solcher Analogiebildungen verdankt sich jedoch nicht nur der Tatsache, dass der Vergleich mit den avancierten modernen Technologien den fragwürdigen Experimentalpraktiken eine wünschenswert ‚fortschrittliche‘ Note verleiht. Die beschriebenen Exkursionen ins Unbewuss36 Vgl. Geßmann: Wie werde ich ein Schreib- und Zeichenmedium?, S. 112. 37 Ich entnehme die Abbildung Urbanitzky: Die Elektrizität im Dienste der Menschheit, S. 1165.
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te laufen der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien nicht einfach parallel oder kompensieren gar eine ‚Entzauberung‘, die durch die Technisierung der Lebenswelt entstanden ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass gerade die experimentellen Auseinandersetzungen mit den ‚Fernwirkungen‘ des Nervensystems – besonders den Zuständen des Somnambulismus – auch in die epistemologische Basis Neuer Medien Eingang gefunden haben. Wenn die neuen Kommunikationsmedien (allen voran die Telegraphie) im Modell des Nervensystems konzipiert werden, dann sind sie gerade dadurch mit jenen psycho-physiologischen Diskursen um den Somnambulismus verbunden, in denen das kommunikative Potenzial der Psyche sowohl in immanenter wie in transzendenter Weise entfaltet wird. Im Experimentalismus des Tischerückens werden demnach zentrale Fragen aufgeworfen, die für den Zusammenhang von Trancezuständen und der Epistemologie moderner Medien von einiger Bedeutung sind. Die an den Spiritismus grenzenden und sich von diesem zugleich abgrenzenden Experimentalpraktiken, in denen die ‚telepathischen‘ Fähigkeiten des Nervensystems erkundet werden, lassen sich dann nicht als ‚Reflex‘ auf eine unabhängig stattfindende Technikentwicklung begreifen, sondern müssen als epistemologischer Rahmen begriffen werden, der durch vielfältige Wechselverhältnisse zwischen medizinischen, wissenschaftlichen und okkulten Diskursen um ‚Medialität‘ bestimmt ist. Wenn in dieser Hinsicht also die ‚okkulten‘ Experimentalräume des Tischerückens nicht in Opposition zur Moderne bestimmt werden können, so erschließt sich ihre Tragweite doch erst in einer medienepistemologischen Perspektive.38 Vor diesem Hintergrund betrachtet, erlauben die Experimente des Tischerückens die Erkundung von vitalen Einwirkungen, die ihre Ursprünge nicht in einem Jenseits der Geister, sondern in den Tiefen des Unbewussten haben. Hinter den beobachtbaren Phänomenen der Medialität zeichnen sich bislang unbekannte Übertragungs- und Vermittlungswege ab, die zwischen unserem Unbewussten und der Welt der Dinge bestehen, und aufgrund ihres außergewöhnlich rätselhaften Charakters gerne für Geistererscheinungen gehalten werden. Es sind demnach strukturell verwandte Fragen, die zeitgleich mit Marx’ erstem Kapital-Band an zahlreichen Tischen im Rahmen von Experimenten verhandelt werden, die sich im Unschärfebereich zwischen wissen38 In diese Richtung geht auch das Plädoyer von Geppert/Braith: „Moderne Magie: Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880-1930“: „Begreift man Epistemologie keineswegs als kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern als archimedischen Punkt der zeitgenössischen übersinnlichen Praktiken und Diskurse […], so werden plötzlich Frontverläufe und Einsätze in den Auseinandersetzungen mit Religion und Wissenschaft, die zentrale Rolle des Experiments oder die Bedeutung von wortwörtlich Zeugnis ablegenden Augenzeugenberichten aktiv Beteiligter sehr viel deutlicher begreifbar als zuvor“ (S. 27).
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schaftlichem Experiment und geselligem Spiel bewegen. Durch den Psychographen strömen Mitteilungen an die Zirkelteilnehmer zurück, die sich in der Interaktion ihrer je unbewussten Seelenanteile ausformen. Sofern die ‚kollektive‘ Ursache dieser Schreibvorgänge ernst genommen würde, hätte jene Quelle, nach der gesucht wird, keine zentrierte, sondern eine dezentrierte, zerstreute Form. Das psychographische Kollektiv als solches zu denken, müsste eine radikale Infragestellung von Subjektivität zur Konsequenz haben: im medialen und künstlerischen Sinne von Autorschaft, im physikalischen Sinne von Kausalität. Dieser konsequente Schritt bleibt jedoch sowohl in der Theoriebildung über das Tischerücken, als auch in den künstlerischen Aneignungen der écriture automatique, mit denen automatische Schreibpraktiken bis heute in erster Linie verbunden sind, offenbar aus. Dass die in den Experimentalräumen des Tischerückens aufgezeichneten ‚Automatismen‘ nicht schon früher in Verbindung mit gruppenpsychologischen Phänomenen gebracht worden sind, dazu hat in der Folge womöglich auch die Inszenierung des individuellen Mediums beigetragen, die für die Séancen des Spiritismus um 1900 kennzeichnend ist. Von diesen unterscheidet sich die frühe Experimentalpraxis gerade darin, dass das psychographierende Medium im Grunde ein gewöhnlicher Bestandteil der Gruppe ist.39 Zwar wird von den Experimentalisten häufig betont, dass ohne die ‚Innervation‘ einer medial begabten Person die Phänomene nicht in Gang kommen und keine ‚echten‘ Psychographien erzielt werden können.40 Das Schreibmedium zeichnet sich zwar durch eine besondere magnetische ‚Sensitivität‘ aus, nimmt jedoch innerhalb des Zirkels und auch in der Inszenierung der Phänomene keine herausgehobene Position ein. Zudem ist kein tiefer hypnotischer Schlaf erforderlich, um quasi-somnambule Eigendynamiken zu initiieren. Beides unterscheidet diesen Experimentalraum der 1850er Jahre von jenen spiritistischen Séancen, die um 1900 besondere Konjunktur haben und gerade von der Inszenierung singulärer Medien leben. So kommen innerhalb der Experimentalkultur des Tischerückens auch erst vergleichsweise spät Schilderungen auf, die das ‚automatische Schreiben‘ oder andere Formen so genannter ‚Manifestationen‘ vor allem als personalisierte Leistung eines Mediums erscheinen lassen. Exemplarisch sei aus einer in den 1920er Jahren erschienenen Kompilation zitiert, die sich zugleich als Rat-
39 So schreibt auch Sawicki: „Séancen waren eher Gemeinschaftserlebnisse, bei denen, sofern ein Psychograph verwendet wurde, die gleichzeitige Beteiligung gleich mehrerer der Anwesenden als Medien möglich und vorgesehen war“ (Leben mit den Toten, S. 248). 40 So z.B. Hornung: Neue Geheimnisse des Tages, S. 457.
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geber für alle versteht, die ihre medialen Fähigkeiten ausbauen und optimieren wollen. Der dem spiritistischen Erscheinungsgebiete Fremde kann, wenn er einmal Gelegenheit findet einer sog. ‚Seance‘ beizuwohnen, eine ganz eigentümliche Erscheinung beobachten. Selbe äußert sich darin, dass plötzlich einer der Teilnehmer des Zirkels aus einer gebildeten Kette ausscheidet, eine Bleifeder ergreift und zu schreiben oder zu zeichnen beginnt. Vielfach verrät das Aussehen des Betreffenden, sein starrer Blick, das krampfhafte Zucken der Arme vor Beginn seiner Tätigkeit, dass er sich in einem nicht ganz normalen Zustande befindet. Die Spiritisten nennen diesen Zustand, der eine Art von Somnambulismus ist: ‚Trance‘.41 Gerade weil aber in diesen frühen Experimentalräumen das personale Medium mehr oder minder gleichrangiger Teil der Gruppe ist und ‚leichte‘ somnambule Zustände für das Hervorrufen der Phänomene ausreichend sind, besitzt die Trance hier eine andere Qualität. In der vitalen Verschaltung von Dingen, Menschen, Apparaten und geheimnisvollen Körper- bzw. Nervenkräften konfiguriert sich ein mediales Setting, das auf der Voraussetzung eines kollektiven somnambulen Zustands beruht. Die um den Tisch versammelte Menschengruppe ist damit, so meine These, nichts anderes als ein Trance-Kollektiv. Wenn also versucht wird, die Aufschreibesysteme konsequent aus dem Geltungsbereich spiritistischer Annahmen herauszulösen, hört das in der Gruppe befindliche Medium (mitsamt dem Apparat, mit dem es verkoppelt ist) auf, ein ‚Organ der Geister‘ zu sein. Dies wiederum bedeutet, dass jene ‚Fühlfäden ins Jenseits‘, über die das Medium in trancehaften Zuständen verfügt, ins Innere der Gruppe verlegt werden müssen. Die Hand des Mediums wäre dann nicht mehr ein Manual des Geisterverkehrs – das heißt: ein Instrument in der ‚Hand‘ von Geistern – sondern ein ‚Gruppenorgan‘. Indirekt kam dies in einem bereits zitierten Sitzungsbericht zum Ausdruck, in dem das zum Medium erwählte Kettenmitglied als „Concentrierungspunkt“ für die Willenskraft der Teilnehmer bezeichnet wurde.42 Untrennbar mit dem Kollektiv der Psychographen verschaltet, ist das Schreibmedium eben gerade nicht das Instrument mitteilungsbereiter Geister, sondern der Knotenpunkt unbewusster Mitteilungen, die von der Gruppe als Kollektiv ausgehen. Sofern sich nicht ein Einzelner mit seinen Gedanken durchsetzt und die Autorschaft der an anderer Stelle in der Kette aufgezeichneten oder ausge-
41 Geßmann: Wie werde ich ein Schreib- und Zeichenmedium?, S. 30. 42 Kerner: Die somnambülen Tische, S. 30.
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sprochenen Mitteilung übernimmt, muss diese als eine Botschaft der Gruppe an die Gruppe gelten. In gewisser Weise ist das Kollektiv der Tischerücker damit sogar selbst ein Neues Medium: ein Medium, das nicht aus einem ‚Sender‘ und einem ‚Kanal‘ besteht, über den die Botschaften dieses Senders verbreitet werden. Die Gruppe, das ‚psychographische Kollektiv‘ selbst ein hybrides Ensemble, das sich aus mehreren Medien zusammensetzt und auf diese Weise zum Medium kollektiv generierter Botschaften wird. Wie der immer wieder gewählte Vergleich des magnetisierten Tisches mit einem Mesmer’schen Baquet verdeutlicht, wird davon ausgegangen, dass durch den geistigen Rapport unter den Teilnehmern ein Aggregat entsteht. Aus der Konzentration unbewusster psychischer Energien entsteht ein kollektiver ‚Wille‘, der in den Dingen ein Eigenleben entfalten kann. Dieser allerdings ist bislang nur zwischen den Zeilen psychographischer Botschaften entzifferbar. Damit übernimmt der Tisch tatsächlich eine ähnliche Funktion wie jener Warenfetisch, dem er bei Marx Pate stand: Er kommuniziert Botschaften, deren kollektive soziale Verfertigung allenfalls geahnt werden kann. In den Botschaften der Tische manifestiert sich nicht nur die Eigenbewegung eines verdinglichten ‚Willens‘, der gegenüber dem bewussten Willen der Sitzungsteilnehmer autonom ist. Vielmehr gibt sich dieser, obgleich von keinem bewusst gewollt, als eine Botschaft zu lesen, die sich kollektiv herstellt. Seine Eigenbewegungen verdanken sich unbewussten Übertragungsprozessen innerhalb der Gruppe, die – eben weil diese unerkannt und unbenennbar bleiben – vielfach zu Geisterwerk erklärt werden. Magisch kann dies nur jenen erscheinen, die soziale Prozesse nicht als psycho-physische Bewegungsursachen erkennen können und die Welt der Dinge in der Hand von Geistern wähnen.
Literatur Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006. Bohley, Johanna: „Klopfzeichen, Experiment, Apparat. Geisterbefragungen im deutschen Spiritismus der 1850er Jahre“, in: Rupnow, Dirk u.a. (Hrsg.): Pseudowissenschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 100-126. Breton, André: „Auftritt der Medien“, in: Desnos, Robert: Die Abenteuer des Freibeuters Sanglot, München 1973, S. 171-185. Carpenter, William B.: „On the Influence of Suggestion in Modifying and directing Muscular Movement, independently of Volition“, in: Royal Institution of Great Britain. Weekly Evening Meeting, 12. März 1852, S. 147-153.
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Kerner, Justinus: Die somnambülen Tische. Zur Geschichte und Erklärung dieser Erscheinung, Stuttgart 1853. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I, in: ders./Engels, Friedrich: Werke, Bd. 23, Berlin 1972. Rechenberg, F. W.: Die Geheimnisse des Tages. Geschichte und Wesen der klopfenden Geister und tanzenden Tische, von der ersten Wahrnehmung ihrer Existenz an bis auf die neueste Zeit. Ein Blick in das Dunkel der Geisterwelt und das verborgene Walten ungeahnter Naturkräfte. Nach Henry Spicer’s ‚Sights and Sounds‘ und auf Grund anderer englischer, amerikanischer und deutscher Autoritäten, so wie unter Hinweisung auf einschlagende Stellen der heiligen Schrift, Leipzig 1853. Rieger, Stefan: „Manuale des Stroms. Der Elektromagnetismus und die Induktion des Wissens“, in: Lachmann, Renate/Rieger, Stefan (Hrsg.): Text und Wissen. Technologische und anthropologische Aspekte, Tübingen 2003, S. 45-72. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn u.a. 2002. Schäfer, Armin: „Lebendes Dispositiv: Hand beim Schreiben“, in: Borck, Cornelius/Schäfer, Armin (Hrsg.): Psychographien, Zürich/Berlin 2005, S. 241-265. Starobinski, Jean: „Freud, Breton, Myers“, in: Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 139-155. Urbanitzky, Alfred Ritter von: Die Elektrizität im Dienste der Menschheit. Eine Darstellung der magnetischen und elektrischen Naturkräfte und ihrer praktischen Anwendungen, Wien u.a. 21895. Zander, Helmut: „Spiritismus in Deutschland“, in: Aries. Journal for the Study of Esoterism, 3. Jg., Nr. 1, 2003, S. 82-93.
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Medientechniken der Trance Eine spiritistische Konstellation im Jahr 1872 1. Das Phänomen ‚Spiritismus‘ zerfällt für das 19. Jahrhundert durch neuere Forschungen in verschiedene Spiritismen und ihre lokalen nekromantischen Praktiken und Begründungen.1 Damit ist allerdings das Trugbild einer internationalen Bewegung namens ‚Spiritismus‘, die mit einem lokalen Gründungsereignis (den Klopfzeichen der Fox Sisters) verbunden wurde und in der zweiten Jahrhunderthälfte vor allem durch reisende Medien und ihre Aufnahme in autodidaktischen und akademischen Schichten verbreitet wurde, keineswegs erledigt. Gerade durch die neuerliche Erforschung regionaler und divergenter spiritistischer Praktiken gewinnt diese internationale Bewegung wieder Kontur, und zwar, wenn man so will, als eine transatlantische ‚Verkehrssprache‘, also als ein Übersetzungsidiom oder eine internationale Pidgin-Sprache, die an verschiedenen Orten verschieden ‚kreolisiert‘ werden konnte. Der transatlantische Spiritismus besteht in einer solchen Sicht aus einer Umsetzung verschiedener lokaler Praktiken in das Vokabular und in die Mobilität einer internationalen ‚Verkehrssprache‘ und umgekehrt, Übersetzung in mehrerlei Hinsicht. Zum einen begriff bereits Podmore die unwahrscheinliche Wirkung des spiritistischen ‚Gründungsereignisses‘, den Aufbruch der Klopfgeister aus der obskuren New Yorker Provinz mithilfe ihrer Verbreitung durch Massenmedien und Medien-Tourneen, als Resultat eines transatlantischen Tranfers.2 In Kontinentaleuropa bereits länger verbreitete, aber in den angelsächsischen Ländern erst seit kurzem debattierte mesmeristische Körpertechniken einer ‚induced trance‘ seien in den USA – und zwar durch Ereignisse, die man bis dahin vor allem ‚Poltergeistern‘ zugerechnet hätte – als Mittel der Nekromantik entdeckt worden, und konnten in dieser Form als Neuigkeit und Sensation über Großbritannien nach Europa zurückkehren, als Mode des Tischerückens und als Teil der Moderne. Diese Auffassung muss zweifelsohne stark modifiziert werden, trotzdem bleibt die Entstehung des Spiritismus auch in den
1
Vgl. Sawicki: Leben mit den Toten.
2
Podmore: Modern Spiritualism.
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neuesten Darstellungen3 ein transatlantischer Transfer hin und zurück, ein ‚Ghost Atlantic‘, der über Europa auch in die Kolonien und nach Südamerika (u.a. durch den Kardecismus) und Afrika (durch Swedenborgs Hochschätzung afrikanischer Geister und deren afrikanische Anverwandlung) führen konnte. Zum anderen stand in den neugewonnenen Praktiken die Übersetzung der Geisterbotschaften im Zentrum, eine Übersetzung, die seit den Fox Sisters immer wieder als eine Recodierung und als eine Frage der Medientechnik begriffen wurde. Die Klopfzeichen und ihr unsemantisches Gepolter wurden verständlich, als man ihre jeweilige Anzahl als Abzählung des Alphabets entschlüsselte; daher lag der amerikanische Vergleich mit der Telegraphie und ihren Morsezeichen nahe, ‚The Spiritual Telegraph‘. Mit dem transatlantischen Spiritismus verbindet sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die ständige Erwartung neuer Medientechniken des Geisterverkehrs, und sie bewahrheitet (und falsifiziert) sich dabei sowohl in der Entwicklung der heute noch existierenden Nachrichtentechniken oder ‚Neuen Medien‘ (z.B. der Fotografie, z.B. der Erfindungsgeschichte von Funk und Radio), als auch in der ständigen Sorge um die ‚Recodierung‘ der empfangenen Botschaften, deren erste Übersetzung zugleich im Riss zwischen personalem Medium und Apparat und in beider Untrennbarkeit vorgenommen werden musste. ‚Keine Geisterbotschaft ohne ein personales Medium‘ blieb das Axiom des Spiritismus, auch dort, wo der Automatismus von Apparaten eine persönliche Vermittlung überflüssig zu machen schien. Die minimale Bedingung des Spiritismus blieb daher – egal wie ausgefeilt die Kosmologie war, die mit dieser Bedingung verbunden wurde –, eine Trennung von personalen und technischen Medien nicht mitzumachen oder neue Nachrichten- und Körpertechniken zu finden, die sie außer Kraft setzten. Und zum dritten besteht das ‚Gründungsereignis‘ des transatlantischen Spiritismus weniger im Gewinn neuer Geister und ihrer Botschaften, sondern seine Stilisierung zum Gründungsereignis verdankt sich der erfolgreichen Etablierung einer ständigen Debatte und damit einer ständigen Übersetzungsleistung zwischen strittigen Versionen – zwischen Anhängern und Gegnern, gläubigen Suchern und skeptischen Entlarvern, mit Übergängen und Konversionen –, einer Debatte, die mit der ersten Publikation einsetzte und auch die Fox Sisters selbst zu Gefangenen eines lebenslänglichen Regimes von Beschwörungen und Entlarvungen machte, bis zur späten Selbstentlarvung und deren Widerruf. Im transatlantischen Spiritismus hat es daher keinen Sinn, eine unstrittige oder zugrunde liegende spiritistische Praxis isolieren zu wollen, denn die Strittigkeit des Spiritismus, die Debatte um die Möglichkeit der To3
Vgl. die Beiträge von Johannes Dillinger/Nicole Longen, Michael Hochgeschwender und Helmut Zander in diesem Band.
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tenkommunikation, ist der Spiritismus selbst. Oder genauer – um dieser Spielart einen absichtlich modernistischen Namen zu geben – diese Debatte ist der ‚International Style‘ des Spiritismus.4 Im ‚International Style‘ findet man keine Praktiken und keine Medien, die sich der Spannung von Entlarvung und Beschwörung entziehen können, ebenso wenig einen Raum außerhalb der Massenmedien: es ging (seitdem die Fox Sisters das Podium betreten hatten) um die Publizierbarkeit der Totenkommunikation. Die internationale Debatte spielt sich daher in einer ständigen Oszillation zwischen Privaträumen und Massenmedien ab, und beide fallen durch die Publikation von Séance-Protokollen und anderen Dokumenten zusammen: die Privaträume rechnen bereits mit einer regelmäßigen Berichterstattung in bestimmten Genres. Ein Grund mehr, die Aussagebedingungen dieser Konstellation zwischen Massenmedien und Innenräumen genauer zu studieren, und die Spielregeln der spiritistischen Kontroverse so darzustellen, dass die Handlungsmöglichkeiten von Anhängern und Gegnern, aber auch die Handlungsmöglichkeiten eines Rollenwechsels plausibler werden. Im Folgenden werde ich zu diesem Zweck den allgemeinen ideologischen Konsens von Anhängern und Gegnern des Spiritismus rekapitulieren (2.), die eigenartige – und andernorts eher unwahrscheinliche – Konzentration auf eine ‚Referenz‘ der Totengeister diskutieren, die zwischen Anhängern und Gegnern in den Mittelpunkt rücken konnte (3.), die Rolle des Betrugsvorwurfs von mehreren Seiten beleuchten (4.) und die Hauptstrategien im ungleichen Kampf zwischen Anhängern und Gegnern des Spiritismus charakterisieren (5.). Nach der Bestimmung dieser allgemeinsten Aussagebedingungen werden diese am Ablauf einer persönlichen – und für eine größere Öffentlichkeit stellvertretend ausgefochtenen – (antispiritistischen) Kampfsituation, und am Ablauf einer medialen (spiritistischen) Innovation überprüft und exemplifiziert. Diese beiden Situationen und ihre spiritistisch-antispiritistischen Praktiken haben sich im Jahr 1872 abgespielt, und waren durch die Zirkulation von technischen und personalen Medien miteinander verflochten. Es trafen aufeinander: die Etablierung der britischen Ethnologie, der Import amerikanischer Geistmedien, die Adoption der Geisterfotografie in Großbritannien, und die Erfindung einer neuen Spielart von Serienfotografie.
4
Versuche einer monographischen Zusammenfassung dieses ‚International Style‘ geschahen im 19. Jahrhundert durch den Skeptiker Podmore: Modern Spiritualism; sowie durch den Spiritisten Aksakow: Animismus und Spiritismus.
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2. Damit eine Debatte entsteht und mit einer gewissen Heftigkeit oder Zähigkeit anhält, muss es schon eine Basis von Gemeinsamkeiten oder Selbstverständlichkeiten zwischen den jeweiligen Gegnern geben. Erst wo diese Gemeinsamkeiten oder Selbstverständlichkeiten nicht mehr wirksam sind, ermattet die Debatte, transformiert sich oder verschwindet. Diese Selbstverständlichkeiten bleiben oft genug unsichtbar, einfach deshalb, weil die Gegner sich auf eine (bis zum Stereotyp abgeschliffene) Betonung ihrer Differenzen – und damit auf eine bestimmte Form der Übersetzbarkeit zwischen verschiedenen Versionen derselben Phänomene – verständigt haben. Und auch historisch ist die Gemeinsamkeit oft das unwahrscheinlichste und unbekannteste Element einer Debatte. So auch im ‚International Style‘. Pointiert gesagt: zwischen Spiritisten und ihren Gegnern war die Beschaffenheit des Jenseits und die Lebensweise der Toten gar nicht strittig; daher bleibt diese Unstrittigkeit in der Kontroverse auch unthematisiert, und wo sie thematisiert wird, wird sie nicht zum Streitthema. Denn der Wunsch und der Versuch, die Kommunikationsfähigkeit der Totengeister ganz praktisch zu beweisen und zu inszenieren, kam – was seine ideologische Grundlage betrifft – keineswegs von den religiösen oder wissenschaftlichen Rändern, sondern entstand aus dem breiten Konsens des sich als progressiv verstehenden Jenseitsglaubens des späten 18. und gesamten 19. Jahrhunderts. Wie Lang und McDannell dargestellt haben, hatte der progressive Jenseitsglaube – der moderne Himmel – das Jenseits dem Diesseits idealisierend angeglichen, durch einen „anthropozentrischen Himmel“, der nicht mehr um Gott kreiste, sondern um die tätige Sympathie und die fortschreitende Zusammenarbeit von Mitmenschen: Lebenden im Diesseits, Toten im Jenseits.5 Das Jenseits war in einer solchen Sicht eine Fortsetzung des Diesseits unter idealen Bedingungen, und verlangte einen ganz analogen Fortschrittsglauben, der sich durch Kommunikation – tätige Zusammenarbeit und bewiesene Sympathie – verwirklichte. Auf diese Weise hatten sich Diesseits und Jenseits nicht nur angeähnelt, sondern auch angenähert, und alles, was der Spiritismus behauptete, war, dass die Werte dieser Annäherung oder Konjunktion, die nach allgemeinem Konsens sowohl zwischen den Lebenden als auch zwischen den Toten herrschten oder idealerweise und moralischerweise herrschen sollten (im Diesseits) – fortschreitendes Wissen und gegenseitige Besserung durch gemeinsame Tätigkeit, Sympathie und Kommunikation –, nun auch zwischen Lebenden und Toten zur Geltung kommen konnten.
5
Lang/McDannell: Der Himmel.
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Die besondere Nekromantik des ‚International Style‘ beruht daher auf dem Axiom (das an anderen Orten der Totenkommunikation, in Europa wie außerhalb, ganz unsinnig wirken musste), dass eine angstfreie und sentimentalische Sympathie zwischen Toten und Lebenden nicht nur ganz praktisch zu beweisen, sondern in jeder Kommunikation zwischen Lebenden und Toten bereits vorauszusetzen sei: aufgrund der idealen sympathetischen Beschaffenheit des Jenseits und seiner individuellen Geisterseelen. Es ging daher (im Vergleich mit vielen anderen Heimsuchungen durch Tote und Untote) um äußerst ‚befriedete Tote‘, unbefriedet und auch unbefriedbar blieb allein die Form der Kommunikation. Genauer gesagt: nicht einmal die Form der Kommunikation mit den individuellen Toten, ihre sentimentalische und sympathetische Gestalt, war unbefriedet – auch bei den Gegnern und Entzauberern des Spiritismus findet man nur selten eine Bezweiflung der Tatsache, dass wenn individuelle Totengeister erscheinen könnten, sie ganz analog handeln würden –, sondern unbefriedet blieb allein die Existenz der Kommunikation, und das heißt, der Nachweis der individuellen Anwesenheit eines Totengeistes. Aber auch in der unbefriedeten Form dieser Debatte scheint es einen breiten Konsens gegeben zu haben, sie selbst als eine angstfreie Debatte zu verstehen, und zwar, weil hier mehrere Normen von Angstfreiheit zusammentrafen: bei den Anhängern aufgrund der vorausgesetzten und zu beweisenden Sympathie zwischen Lebenden und Toten – wenn das Unheimliche auf den Plan trat, dann weil es in Sympathie aufzulösen sein sollte; bei den Gegnern hingegen aufgrund der ständigen Vermutung, es ginge um Formen des Betrugs und Selbstbetrugs – die zwar Aggressivität und Ekel auslösen konnten, aber als Betrug eigentlich nichts waren, wovor man Angst haben muss; und zwischen Gegnern und Anhängern, sobald man sich einigen konnte, die Untersuchung aufgrund wissenschaftlicher Kriterien und der Glaubwürdigkeit von Zeugen zu führen – eine solche Untersuchung war ‚keine Sache der Angst‘, sondern eine Sache ‚vorurteilsloser Prüfung‘ von Personen, Argumenten und Ereignissen. (Vermutlich entsprach dieser offiziellen Angstlosigkeit eine ganze Unterseite verschiedenster Ängste, die mit diesen drei Normen nicht zur Deckung kommen konnten: Angst vor den Toten und ihrem Spuk, Angst vor dem eigenen Versagen und möglichen Konversionen und Gesichtsverlusten, Angst vor schwerwiegenden Enttäuschungen und Desorientierungen. Aber in der Debatte selbst konnte man sich auf diese Ängste und ihre Erfahrungen nicht als Indizien oder Begründungen berufen.)
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3. Wenn man diesen elementaren Konsens zwischen Gegnern und Anhängern zusammenrechnet, wird auch der allgemeine technische Konsens zwischen Gegnern und Anhängern der Geisterkommunikation verständlicher. Zwischen Anhängern und Gegnern strittig war weder die Beschaffenheit des Jenseits noch der Totengeister, noch der gemeinsame Vorsatz, Angst aus einer Prüfung der Phänomene möglichst auszuschließen, strittig war einzig und allein die Kommunikation selbst, also der Beweis, dass eine Kommunikation mit individuellen Totengeistern stattfand. Es entspricht daher dem ideologischen und auch einem affektiven Konsens zwischen Anhängern und Gegnern, dass sowohl die Entlarvung als auch die Beschwörung – die Séance – sich in ihrem jeweiligen Kern als ein angstfreies Tribunal der individuellen Referenz des Totengeistes verstehen konnten. Die Minimalbedingung einer entsprechenden spiritistischen Séance (im ‚International Style‘) besteht darin, dass zumindest dieses Tribunal der Referenz zustande kommt, dessen Frageform oft genug aus dem Herbeizitieren vor Gericht herbeizitiert zu sein scheint. Manches spricht dafür, dass die anonymen und unidentifizierten Geisteräußerungen‘, im Rahmen einer Séance und außerhalb sehr viel häufiger waren als die namentlich und individuell zugeordneten; bezeichnend für die spiritistische Debatte des ‚International Style‘ blieb, dass zwischen Anhängern und Gegnern des Spiritismus das Tribunal der individuellen Referenz von Totengeistern im Mittelpunkt stand. Diese ständige Konzentration auf eine Referenz war vermutlich die wichtigste Einschränkung der Aussagemöglichkeiten für Trancemedien und ihre Anhänger und Entzauberer, und ein Grund für das, was bereits im 19. Jahrhundert als die besondere Unkreativität oder sentimentale Dürftigkeit der Geister-Äußerungen wahrgenommen wurde – zumindest soweit sie sich im offiziellen Rahmen des ‚International Style‘ bewegten. Man kann sich schließlich auch eine etwas andere Geisterkommunikation vorstellen, in der eine Anwesenheit von ‚Geist‘ (und die Medialität der personalen Medien) und der Nachweis, um welchen individuellen Geist es sich handelt, nicht oder zumindest nicht in jedem Einzelschritt zusammenfallen müssen. Eine typische afrikanische Initiation in Besessenheitskulte etwa sieht vor, dass zuerst – aufgrund bestimmter Symptome wie Niedergeschlagenheit, asozialem Verhalten und unkontrollierten Ausbrüchen – auf die Besessenheit durch einen Geist geschlossen wird, und dann in einem ausführlichen Verfahren (durch andere Medien) festgestellt und beigebracht wird, um welchen Geist es sich handelt. Demgegenüber fällt auf, dass die transatlantische Besessenheitsform des ‚International Style‘ zumindest offiziell die Initiation von Medien durch andere Medien kaum erwähnt (was vermutlich auch damit zusammenhängt, dass solche Initiationen einen Betrugsverdacht genährt hätten) – die In-
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itiation erfolgt (der Darstellung nach) spontan durch einen Totengeist, der sich selbst namentlich identifiziert: die Initiation erfolgt durch eine Autobiographie des Geistes. Und im Vergleich mit anderen Orten der Geisterbeschwörung fällt auf, mit welcher eigenartigen Fixierung die Diagnose, dass es sich um einen Totengeist handelt, und der Nachweis, um welchen individuellen Geist es sich handelt, zusammenfallen sollen – zumindest innerhalb der spiritistischen Debatte zwischen Gegnern und Anhängern. Diese Fixierung beweist sich anhand der keineswegs selbstverständlichen Gegenprobe: dass wenn man einen Geist nicht identifizieren kann oder seine eigenen Aussagen nicht mit seiner behaupteten Identität zur Deckung bringen kann, auch bewiesen hat, dass es sich um keine echte Geistbesessenheit gehandelt hat. Diese Folgerung wäre an den meisten Orten einer Untersuchung von Geistbesessenheit ein ‚non sequitur‘; in der spiritistischen Kontroverse schien sie plausibel. Selbstwiderspruch schien Nicht-Existenz zu beweisen, was sich bei der Entlarvung von Medien noch steigern ließ, indem man ihnen einen fiktiven Totengeist plausibel machte, der dann schon durch das Faktum seiner Beschwörung auf Betrug schließen lassen sollte. Daher konzentriert sich die Entlarvung und ihre jeweilige Theorie der spiritischen Phänomene oft auf eine reine Definition dessen, was in der betreffenden spiritistischen Medientechnik als ‚Widersprüchlichkeit‘ zu werten wäre. Gefordert wurde insbesondere eine strikte Gleichzeitigkeit und physische Nicht-Einwirkung von Medium und Geistererscheinung. Im Bereich der Fotografie etwa genügte den Gegnern des Spiritismus der Nachweis, dass (und wann) es sich um ‚Doppelbelichtungen‘ handelte. Ungleichzeitigkeit der Aufnahmen, Nicht-Existenz des Geistes und Nachweis fotografischen Betrugs fielen in einer solchen Übersetzung zusammen, weil man den Zusammenhang der fotografischen Elemente analog zur Widersprüchlichkeit der Selbstaussagen eines Totengeistes verstand: als ‚Selbstabbildung‘ einer Situation durch Belichtung eines Negativs, die im Fall einer ‚Doppelbelichtung‘ ausfällt. Eine ‚widerspruchsfreie‘ fotografische Aufnahme sollte gleichzeitig entstanden sein, auch und gerade im Auseinanderklaffen von Auge und Apparat. Auffällig bleibt, dass auch die Anhänger des Spiritismus sich auf diese Argumentation – trotz alternativer Möglichkeiten – meistens einließen; vermutlich deshalb, weil das Axiom ‚keine Geisteräußerung ohne personales Medium‘ sich in eine solche Auffassung der Referenz übersetzen ließ. Eine Standardmöglichkeit der spiritistischen Fotografie blieb daher die Abbildung des Mediums mit einem (ihm bei der Aufnahme bewussten oder unbewussten) Totengeist; sie sollte eine Gleichzeitigkeit und eine gemeinsame Referenz der Situation des Fotografiertwerdens beweisen. Ihre Aufnahme wie deren Überprüfung, die Beschwörung wie die Entzauberung solcher Aufnahmen verstanden sich in solchen Fällen wechselseitig als ein Tribunal der individuellen Referenz.
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4. Die Gegner des Spiritismus wollten behaupten und beweisen, dass eine Kommunikation mit Toten unmöglich oder so nicht möglich war; daher blieb jede neue Behauptung auch neu zu widerlegen, und als schlagende Widerlegung galt allein der Nachweis von Betrug und/oder Selbstbetrug. Man konnte versuchen, diesen Betrugsverdacht auf eine einzige Entlarvung pro Medium und pro angewandter Medientechnik zu konzentrieren, durch ein ‚experimentum crucis‘ und eine alles entscheidende Schwächung der Glaubwürdigkeit eines Mediums oder einer Technik. Das Tribunal der Referenz des Totengeistes verstand sich daher von Seiten der Gegner vor allem als Identifizierung des Tricks, die ideale Entlarvung (und damit Geisteraustreibung) war eine Beschwörung und Phänomenalisierung des Tricks, der die scheinbaren Geister zur Erscheinung gebracht hatte. Dementsprechend besteht die gegnerische Bestimmung der Geisterfotografie aus einer Aufzählung der entsprechenden fotografischen Tricks; man erfährt aus ihr nichts oder nur sporadisch etwas über den zugrunde gelegten Geisterglauben. Die Anhänger des Spiritismus hingegen brauchten die Möglichkeit von Tricks, Betrug und Selbstbetrug gar nicht zu verneinen, und die breite Zone ihrer Existenz wird in allen entsprechenden Texten ohne weiteres zugestanden, denn ihnen ging es allein um die real existierende Möglichkeit der Totenkommunikation, und diese Möglichkeit konnte sich auch als ein ungeklärter – und stetig wachsender – Rest (oder Schatten) der Entlarvungen und Widerlegungen behaupten. Und man konnte den gesamten Nachweis der Betrugsmöglichkeiten auch als eine unaufhörliche Läuterung des Spiritismus verstehen, durch die eine Sphäre des vorsätzlichen Handelns (des möglichen Betrugs) von der Sphäre der Geistereinwirkung und ihres Nachweises fortschreitend abgehoben würde, eine Vertiefung der Kluft zwischen menschlichem Handeln und Geisterkommunikation. Der Nachweis der Unmöglichkeit der Totenkommunikation verstand sich als ein Nullsummenspiel – der andere verliert oder ich –; der Nachweis ihrer spiritistischen ‚Möglichkeit‘ hingegen als ein Nicht-Nullsummenspiel – beide Parteien können gewinnen, und auch vom Gewinn der anderen. Dieser logischen Konstellation zwischen Unmöglichkeitsnachweis und Möglichkeitsbehauptung – Hase und Igel der spiritistischen Debatte – entspricht eine in den Protokollen belegte Ungezwungenheit und Gelassenheit zwischen Gegnern und Anhängern, sobald es um die Erörterung einzelner Betrugsverdächtigungen geht. Auch in der Fotografie. Am 23. November 1872 trafen sich Edward Tylor, der Begründer der akademischen cultural anthropology, und William Stainton Moses, das angesehenste Medium des britischen Spiritismus, vor einer Séance.
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The next morning we spent about the grounds, & I had a long talk with Moses in the afternoon, on the question of the spirit photographs, of which on the whole his talk, though professing scepticism, tended to confirm the reality in certain instances. He showed us fotos, taken with blurs of white, behind, which he suggested however might have been made by waving a white handkerchief.6 (Diese Beschreibung „taken with blurs of white“ erinnert an die im Sommer 1872 aufgenommenen Fotos von Beattie,7 die zwar erst 1875 veröffentlicht wurden, aber seit ihrer Herstellung in spiritistischen Kreisen diskutiert wurden.) Wie Stainton Moses gab es für Spiritisten insgesamt keinen Grund, sich der skeptischen Begutachtung nicht anzuschließen – „professing scepticism“ –, ohne die grundsätzliche ‚Möglichkeit‘ – „the reality in certain instances“ – damit zu verneinen.
5. Außerdem ging es wie in jeder Debatte um die Hoffnung, den Gegner auf die eigene Seite zu ziehen, und das hieß: die Hoffnung, das Betrugsexperiment in eine gelungene Geisterbeschwörung, und die Geisterbeschwörung in einen gelungenen Betrugsnachweis zu verwandeln. Aber auch: die Anhänger und Medien in Gegner und sogar Entzauberer zu verwandeln (die Fox Sisters selber ließen sich am Ende ihrer Karriere zu diesem Rollenwechsel herbei), und die Skeptiker und Entzauberer zu Anhängern und Medien zu machen. Alle diese Konversionen sind aus der spiritistischen Debatte reichlich belegt – was sind ihre allgemeinsten Spielregeln? Eine Konversion beinhaltet insbesondere die Erfahrung, dass eine Situation, auf die man sich bis dahin verlassen hat, sich auf einmal umkehrt oder kippt. Eine solche Konversion kann eine reine Desillusionierung sein, und auf einen solchen Effekt zielten die zahlreichen Versuche der Gegner des Spiritismus, die Glaubwürdigkeit der spiritistischen Medien, Anhänger, Argumente und Verfahren so eklatant zu schwächen oder auszuhöhlen, dass eine Desillusionierung bei den Gegnern eintreten konnte. Die Form dieser Konversionen scheint relativ leicht verständlich – bis man in den spiritistischen Protokollen nachzulesen beginnt, dass es umgekehrt selbst erklärten Gegnern des Spiritis-
6
Tylor: „Notes on Spiritualism“, S. 99.
7
Zur britischen Einführung der Geisterfotografie vgl. Fischer: „‚A Photographer of Marvels‘“; ders.: „‚The Most Disreputable Camera in the World‘“.
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mus während einer Séance schwer fiel, sich nicht der Gewalt oder besser Gewaltlosigkeit der Situation zu beugen. Wilhelm Wundt hat dieses mögliche Kippen der Beobachtungssituation – die Grundlage einer spiritistischen Konversion – 1878 nach Besuch einer Leipziger Séance des Mediums Henry Slade folgendermaßen beschrieben, in polemischer Absicht und mit erkennbarem Widerwillen: Die erste Bedingung zum Gelingen der Versuche ist die, dass alle Anwesenden ihre Hände auf einem Tisch zusammenlegen, und dass kein Beobachter sich ausserhalb des Kreises befindet. Dadurch ist ein grosser Theil des Operationsfeldes den Blicken der Beobachter entzogen. Herr Slade setzt sich zwar, wie aus den Berichten hervorgeht, zuweilen so, dass seine Beine sichtbar werden; aber wann dies geschieht, liegt im Belieben des Herrn Slade, nicht in demjenigen der Beobachter. So ist es überhaupt das Medium, welches bestimmt, wann eine Erscheinung eintritt, und ob sie eintritt. Die Beobachter schlagen Versuche vor, das Medium führt sie aus. Kommt ein neuer Vorschlag, so antworten die Geister: ‚we will try it,‘ und zuweilen gelingt der Versuch, zuweilen auch nicht. Gelegentlich werden dann aber die von den Beobachtern gewünschten Erscheinungen durch andere völlig unerwartete gekreuzt. Schon hierdurch wird die Aufmerksamkeit in einer für exacte Beobachtungen höchst störenden Weise hin- und hergeworfen. Ebenso geschieht dies durch rein subjective Erscheinungen, die das Medium zu haben scheint: bald sind es Lichterscheinungen an der Decke des Zimmers, auf die es die Anwesenden aufmerksam macht, und von denen diese nichts sehen, bald geräth es in plötzliche Zuckungen, welche nothwendig die Aufmerksamkeit ablenken müssen. Nach allem diesem finde ich den Ausdruck, den auch Sie gebrauchen, es seien mit oder an Herrn Slade Experimente gemacht worden, nicht correct. Vielmehr hat Herr Slade die Experimente gemacht, und wenn sie überhaupt an Jemandem gemacht sind, so sind sie an denjenigen gemacht worden, die seinen Manifestationen beiwohnten.8 Wundts Beschreibung ist als Polemik gemeint: so kann eine wissenschaftliche Überprüfung nicht funktionieren. Und durch diese polemische Zuspitzung gelingt es ihm, den entscheidenden Faktor zu benennen: die Situation einer Beobachtung kann kippen, und zwar durch eine Umkehrung der Beobachtung, und die Form der Séance ist darauf angelegt, diese Umkehrung zu provozieren. Das hieß im Besonderen folgendes: ein Entzauberer oder Skeptiker besuchte eine Séance in der Absicht oder Auffassung, deren Überprüfung oder Entlar8
Wundt: Der Spiritismus, S. 14.
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vung durchzuführen, sich außerhalb des Rahmens der Séance als Beobachter aufzuhalten. Doch die Séance kannte kein solches Außerhalb, zwang ihn zur teilnehmenden Beobachtung und zur von Wundt beschriebenen Situation, „dass kein Beobachter sich ausserhalb des Kreises“ der Beschwörung befindet. Sobald das Medium oder der Verlauf der Séance nun diesen Beobachter in den Mittelpunkt stellte, hatte sich die Situation gedreht oder umgestülpt: der Skeptiker oder potentielle Novize wurde auf seine medialen Fähigkeiten und auf seinen medialen Widerstand getestet, hatte sich zum Klienten des Mediums oder der Geister gemacht – ob ihm dies weiterhin als Hokuspokus erschien oder nicht. An die Stelle und als Erwiderung des feindlichen Angriffs der Entlarvung trat daher in der Séance eine ganz andere Angriffsform, die I. M. Lewis „spirit attack“ genannt hat:9 der freundschaftliche und sympathetische Angriff der Geister, ein Angriff durch eine (von den Skeptikern meist unerwartete) Sympathie und noch relativ unbestimmte Fremderfahrung – denn schließlich ging es um fremde (tote) Einzelpersonen, die zuerst von den Medien durch Trance oder bestimmte Signalübertragungen Besitz ergriffen, und durch die Medien sich an die Anwesenden adressierten. Selbst Wundts Stellungnahme verrät noch etwas von der Energie dieser Adressierungen oder besser: von dem Aufwand, gegenüber diesen Adressierungen dichtzumachen. Mehrmals während der Sitzung gerieth Herr Slade in krampfhafte Zuckungen und fragte mich, der neben ihm sass, ob ich nichts fühlte, was jedoch nicht der Fall war. Die anderen Anwesenden fühlten gelegentlich Stösse gegen die Beine, und die Tafel, die sie in der Hand unter dem Tisch hielten, wurde gewaltsam fortgestossen; mir selbst widerfuhr dies nicht. [...] Unserm Wunsch, einige der Experimente in Anwesenheit eines ausserhalb des Kreises stehenden Beobachters auszuführen, konnte Herr Slade nicht entsprechen. Er erklärte, unter dieser Bedingung gehorchten ihm die spirits nicht; er sei übrigens selbst vollkommen passiver Beobachter und müsse den Bedingungen sich fügen, die er zufällig als günstig für die Anstellung seiner Experimente entdeckt habe. Gelegentlich machte uns noch Herr Slade Mittheilung über unsere eigene mediumistische Begabung; mir erklärte er, ich sei ein Medium ‚of a strong power‘. Wie er zu dieser Kenntniss gekommen sei, theilte er nicht mit. Mir selbst sind, wie ich zu erwähnen nicht versäumen will, niemals in meinem Leben Erscheinungen begegnet, welche diese Diagnose zu rechtfertigen vermöchten.10
9
Lewis: Ecstatic Religion.
10 Wundt: Der Spiritismus, S. 16.
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6. Edward Tylors Tagebuch aus Séance-Protokollen und ihren Dokumenten von 1872 enthält zwei der interessantesten Beschreibungen eines analogen ‚Geisterangriffs‘ („spirit attack“), auch weil sie ein ganz entsprechendes anthropologisches Interesse und einen ähnlichen Widerwillen wie bei Wilhelm Wundt zum Ausdruck bringen. In den von Tylor besuchten Séancen kommen jeweils zwei „oldcomers or believers“ auf einen „newcomer or sceptic“, und unter den Skeptikern und mitunter auch Novizen befinden sich auffallend viele Akademiker mit anthropologischen Fragestellungen, darunter der Mitbegründer der Evolutionstheorie, Alfred Wallace, der Museumsgründer Pitt Rivers (dessen Museum Tylor später einmal leiten sollte), Angehörige der Familie Howitt – Ethnographen Australiens –, und mehrere Mediziner. Am 4. September 1872 besuchte Tylor eine erste Séance von Mrs. Jenny Holmes, „a stout pasty-faced half-educated American with a black bush of curls“, zu deren Repertoire die Erscheinung von indianischen Totengeistern gehörte, was in den amerikanischen 1870ern keineswegs ungewöhnlich war. The medium was then possessed by a little Indian girl-spirit named Rosie, who talked a kind of negro jargon, speaking of Mrs Holmes as my squaw, my medy (short for medium) etc. A favourite joke was to say ‚you stand under me‘ for you understand, etc.11 Tylors Reaktion auf diese hybride Fremdheit und Zumutung – das spiritistische tote Mädchen, das eine Indianerin sein soll und schwarze Folklore („nigger melodies“) und verschiedene andere Gesänge hören lässt – eine Mischung verschiedener sozialer Grenzen Nordamerikas – wird von ihm im Tagebuch mit Befriedigung vermerkt. Er macht im Dunkeln eine lange Nase in Richtung des Mediums und schreibt dazu: Jenny Holmes reproved me for keeping one leg crossed over the other, which she declared she saw in the dark. [...] She did not, however, appear to see the free hand which I occupied in making the long nose for a good time in her direction.12 Die Komik dieser Szene bleibt dank Tylors Protokoll auch heute noch aufschlussreich: die Fremdgeister erscheinen – aber auf eine unmögliche, kindische, lächerliche Weise; der Experte wehrt sich durch eine ebenso kindische
11 Tylor: „Notes on Spiritualism“, S. 93. 12 Ebd.
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Verspottung des Mediums. Erst gegen Ende des Tagebucheintrags findet Tylor zu einer Reaktion, die auch einer wissenschaftlichen Überprüfung der Geisterbehauptungen gleichkommt. Auch hier beginnt die Auseinandersetzung mit einem Angriff, und zwar einer Spielart des „spirit attack“: das tote Indianermädchen ‚Rosie‘ erklärt Tylor zu einem geeigneten Medium. Rosie declared that she saw light about my face and that I was highly mediumistic. She did not mind my being what she called a skepatic, because this does not interfere with truth. Rosie talked what she called Ojibwy Indian and I call gibberish. I asked her the word for stone, which was nothing like the real word.13 Tylors Protokoll seiner Begegnung mit ‚Rosie‘ gliedert sich auf diese Weise in eine Abfolge von Angriff und Gegenangriff: zu Beginn der Séance wurde er gewarnt, nicht die Beine zu kreuzen, vermutlich weil dies den Kreis der Sitzenden durch einen Widerstand unterbricht, daraufhin bekräftigte er diesen Widerstand mit einer aggressiven Geste, die zumindest in sein eigenes Protokoll aufgenommen wurde; am Ende der Séance wird ihm selbst Medialität und mediumistisches Licht nachgesagt, Tylor kontert mit einem ebenso professionellen Gegenangriff, der auf eine Entlarvung der von Rosie angesprochenen ‚Wahrheit‘ durch Selbstwiderspruch hinausläuft: der Geist behauptet seine Identität als Ojibway-Mädchen und kennt noch nicht einmal das Wort für ‚Stein‘. Die Logik dieser Auseinandersetzung liegt offen zutage. Tylor versteht diese Auseinandersetzung als Nullsummenspiel und zieht es entsprechend durch, die Gegenseite nicht: sie setzt auf die Möglichkeit des Seitenwechsels und auf gemeinsame Werte. „She did not mind my being what she called a skepatic, because this does not interfere with truth.“14 Tylor hingegen verbucht seine Auseinandersetzung als Sieg, zusammen mit einem Künstler und einem Rechtsanwalt macht er sich auf den Nachhauseweg, alle drei sind sich zum Verlauf des Tribunals einig: „our verdict was simply imposture. I should say the most shameful and shameless I ever came across.“15 Auch der Besuch der nächsten vier Séancen, darunter ein Auftritt eines der prominentesten Medien des modernen Spiritismus, Kate Fox, stellte für Tylor keine wirkliche Herausforderung dar. Erst das Ende der Serie, eine Art Gipfeltreffen zwischen britischer Kulturanthropologie und britischem Gebildetenspiritismus, zwischen Tylor und Stainton Moses (Pseudonym in weltweiten spiritistischen Veröffentlichungen: „M.A. Oxon.“), stellte sich als eine un13 Ebd., S. 94. 14 Ebd. 15 Ebd.
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erwartete Probe heraus, vielleicht auch deshalb, weil in ihr jeder Verweis auf eine nicht-europäische Sitte, Gruppe oder Religion ausblieb, und weil die Trance hier echt und ganz in England und der besten Gesellschaftsschicht zuhause zu sein schien. William Stainton Moses war ein erst im Sommer 1872 zum Spiritismus konvertierter Geistlicher und Privatschullehrer. Es gelang ihm bereits 1872 wie auch späterhin als das vielleicht einzige weithin bekannte britische Medium aufzutreten, das keiner Entlarvungskampagne unterzogen wurde, auch weil er seine geistliche Kompetenz und seine Autobiographie wirkungsvoll als Grundlage und Beweismittel der Geisterwirkungen nutzte. At our first talk he jumped at the idea of experimental tests. [...] On Nov. 15 I saw him again at the school & he told me about his life, how he was a sickly boy & sleepwalker, did an essay in his sleep which had weighed on his mind when awake, & got prize for it. He would have got honours at Oxford, for he was always at head of class, but broke down with brain fever just before examinations. He described himself as sensitive in the extreme, only sleeps 4 hours, has mysterious senses of future things.16 Die Form des ‚Geisterangriffs‘, dem sich Tylor durch Moses ausgesetzt sieht, läuft parallel zum freundschaftlichen Angriff durch ‚Rosie‘, doch das Resultat ist verschieden. Die erhöhte Glaubwürdigkeit des Mediums, und das heißt in diesem Fall insbesondere die soziale Nähe (der somnambule Schulaufsatz) und der Beweis einer besonderen Krankheitsanfälligkeit und Empfindlichkeit, scheint das wesentliche Kriterium gewesen zu sein. Und vielleicht war es auch die längere Einstimmung auf die Séance durch Betrachtung und lange Diskussion der Geisterfotos „with blurs of white“, die der Séance unmittelbar vorherging und bei Tylor eine stärkere Affiziertheit auslöste. Das Protokoll Tylors vom 23. November 1872 verzeichnet ein geradezu paradoxes Vermögen des Mediums und seines Kreises, die Situation zum Kippen zu bringen, indem der Widerstand des Skeptikers (oder Entzauberers) zur besonderen medialen Empfindlichkeit umgedeutet wird. Und Tylor versucht im Gegenzug – auch wenn ihm dies während der Sitzung anscheinend nicht mehr gelang – den Beweis der Empfindlichkeit wieder gerade zu rücken, indem er die modernen Topoi der Entzauberung durchmustert, um sich ihnen zu subsumieren. One characteristic of the evening was that it came to be gradually opined that my presence was injurious, & when I absented myself for a while I was informed on returning that more moving & noise had happened than the whole time of my presence. In fact the mani16 Ebd., S. 99.
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festations had been violent. Moses expressed strong belief that as similar followed on his early sittings with Herne and Williams whose manifesting force he almost neutralised, so I, being a powerful but undeveloped medium, was absorbing all the force. In the course of the evening Moses ‚became entranced,‘ yawning gasping & twitching & falling into a comatose state. Then his hand twitched violently, & a pencil and paper being put into it he wrote rapidly in large letters, ‚We cannot manifest through the medium‘ or something of the kind. I think it was genuine, & afterwards, I myself became drowsy & seemed to the others about to go off likewise. To myself I seemed partly under a drowsy influence, and partly consciously shamming, a curious state of mind which I have felt before & which is very likely the incipient stage of hysterical simulation. It was a kind of tendency to affect more than I actually felt.17 Diese Zeilen bilden den paradoxen Höhepunkt von Tylors Séancen, deren Besuch er kurz nachher abbricht und im Tagebuch mit einer forcierten biblischliterarischen Formel der Ungläubigkeit – „Blessed are they that have seen, and yet have believed“18 – abschließt. Das Protokoll demonstriert, wie gerade der Widerstand des skeptischen Beobachters umgedeutet werden konnte, bis die Situation kippte und eine andere psychische und psychosomatische Bereitschaft entstand.19 Die Form einer logischen Paradoxie wird ganz explizit erreicht, ihre Manifestation ist der Kipp-Punkt: die Geister können sich nicht durch das Medium manifestieren, aber dass nicht, das schon. Die Geister kommunizieren: ‚Wir kommunizieren nicht‘, „we cannot manifest through the medium“. Diese geschriebene Botschaft geht an Tylor: er absorbiert – sei es durch seine mediale Veranlagung, sei es durch seinen Widerstand – alle Kraft. Moses verweist auf eine analoge Erfahrung, die er als Novize mit zwei bekannten britischen Medien (die als Gruppe auftraten) machte. Der Beobachter wird durch eine solche Erzählung zum Novizen, indem ihm zugleich durch eine minimale öffentliche Meinung nahe gebracht wird, der Rollenwechsel sei bereits vollzogen: „it was gradually opined that my presence was injurious“. Man kann davon ausgehen, dass eine solche Zuspitzung Tylor (und jedem skeptischen Beobachter) zumindest seine eigene Blockade bewusst machte, und ihn ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte: er stand quasi auf dem Prüfstand. 17 Ebd., S. 100. 18 Ebd. 19 Jede psychagogische Technik muß solche Verfahren entwickeln; es wäre nicht verwunderlich, wenn die Psychoanalyse in ihrer Bearbeitung des ‚Widerstands‘ diese sehr prinzipielle spiritistische Bearbeitung eines persönlichen Widerstands beerbt hätte.
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Eine allgemein anerkannte Umkehrung der Situation hat sich auf diese Weise vollzogen, ohne dass sich Tylor groß gegen sie wehren konnte (denn selbst seine zwischenzeitliche Abwesenheit wurde gegen ihn verbucht): er wird ab jetzt auf seine mediale Veranlagung hin beobachtet (statt nur das Medium zu beobachten), und die öffentliche Meinung hat ihn bereits zum potentiellen Novizen gemacht. Und ist es nicht auffällig, dass gerade die äußerste Zuspitzung von Tylors Widerstand, seine Objektivierung zur paradoxen Geisterbotschaft eben diesen Widerstand zu brechen scheint? Zum ersten (und einzigen) Mal reagiert er auf die Trance des Mediums (und der paradoxen Botschaft), indem er selbst in eine Trance abdriftet. Was er – der Situationsumkehrung entsprechend – durch die öffentliche Meinung der Séance – vermerkt: „I myself became drowsy and seemed to the others to go off likewise.“ Die Beobachtungssituation ist bereits gekippt; und in diesen Sätzen lässt sich nachlesen, dass auch die Attribution jetzt auf der Kippe steht. Für die anderen Teilnehmer spricht nichts dagegen, Tylors Verhalten jetzt als das Verhalten eines spiritistischen Mediums zu interpretieren; und diese Umdeutung und mögliche Konversion entstand, wenn man die Zusammensetzung der Teilnehmer berücksichtigt, ganz empirisch und spontan aus der Situation und aus dem Verhalten Tylors.
7. Wenn Tylor dieser ansatzweise verfestigten öffentlichen Meinung nicht nachgeben wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf sich selbst zumindest einige Topoi der Entlarvung als Betrug oder als Selbstbetrug anzuwenden, die er für mediale Veranlagung – und im Weltmaßstab: für Magie – bereithielt. In Primitive Culture heißt es vom Magier: „The sorcerer generally learns his timehonoured profession in good faith, and retains his belief in it more or less from first to last; at once dupe and cheat, he combines the energy of a believer with the cunning of a hypocrite.“20 Tylors Selbstentlarvung läuft mit einer gewissen Analogie darauf hinaus, „at once dupe and cheat“ gewesen zu sein: seine Trance-Anwandlung habe zum einen auf Schläfrigkeit beruht, also auf einem Aussetzen des Bewusstseins, zum anderen aber auf bewusster Vortäuschung („consciously shamming“), die bei den anderen mehr bewirkte als ihr zugrunde lag („to affect more than I actually felt“). Wenn die Klischees der spiritistischen Empfindlichkeit eine breite Wirkung der literarischen Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts voraussetzen, so gilt dies im Gegenzug auch für Tylors Selbsteinschätzung, denn er rekurriert auf die nicht-authentische Seite 20 Tylor: Primitive Culture, Bd. I, S. 134.
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eben jener Empfindsamkeit. Er konstatiert an sich Affektiertheit statt Affekt, „the incipient stage of hysterical simulation“ – jene im 18. Jahrhundert vor allem am weiblichen Geschlecht konstatierte Verbindung von Hysterie, schauspielerischer Unechtheit und affektiver Selbstinduzierung,21 die zwar in die Pathologie führt, aber durch Selbsterkenntnis normalisiert werden kann („a curious state of mind which I have felt before“). Auf diese Weise gelingt es Tylor im Nachhinein, seine Séance-Erfahrung in die Welt der eigenen Intentionalität zu übersetzen – durch Introspektion („To myself I seemed“) – und sie als Erfahrung einer selbstinduzierten Simulation aufzufassen. Wenn man ihm diese Herleitung und Rückübersetzung noch abnehmen will – denn es stellt sich bei einer Lektüre von Tylors Sätzen die Frage, worin eigentlich die geschilderte Simulation besteht: darin, dass diese Erfahrung als Form der (Selbst-) Simulation entstand, oder darin, dass sie im nachhinein für einen selbst als Form der (Selbst-) Simulation simuliert wird? Und das Protokoll hält einen recht elementaren Vorgang fest (ut moveamur ipsi): dass die Trance-Erfahrung vom Medium und von den anderen beobachtet zu ihm überspringt („I [...] seemed to the others about to go off likewise“), und dass Tylor ihr in diesem Moment seiner intentionalen Gerichtetheit entgegengesetzt unterliegt. Tylors Protokoll seines ‚Kipp‘-Moments, die momentane Ununterscheidbarkeit von einer Geisterbeschwörung – führt sie schon zur Initiation in die Welt der Medien? bleibt die psychologische Selbst-Entlarvung noch überzeugend? – demonstriert vielleicht besser als jede Theorie, worin die Übersetzbarkeit von Séance und Entlarvung bestand, und auf welche Weise sie im Zentrum der Séance – in der Adressierung durch Geister – aussetzen musste. Den Entzauberern ging es darum, durch Handlungen spiritistische Intentionen zu entlarven, Handlungen des Betrugs und eine Einstellung und Selbstinduzierung zum Selbstbetrug. Den Spiritisten hingegen ging es darum, die Welt menschlicher Handlungen und die Welt einer bestimmten medialen Empfindlichkeit für Geistereinwirkungen im Verlauf einer Séance auseinanderklaffen zu lassen. Diese besondere (oder eher ganz minimale) Empfindlichkeit springt von den anderen Teilnehmern einer Séance zu einem über, wird (z.B. durch die Bildung eines körperlichen Kreises und seiner überraschenden, aber rückgekoppelten Bewegungen) erfahrbar; und sie springt über, indem man bestimmte Einwirkungen (und Nicht-Handlungen) als ‚Signale‘ interpretiert und – wiederum durch Einwirkungen und nicht durch Handlungen – re-codiert (recodieren lässt). Die Vorbereitung und Inszenierung einer Séance (Abdunkelung, Isolation, Kreisbildung usw.), aber auch jedes weiteren spiritistischen Mediengebrauchs dienen zumindest dazu, die gewünschte Empfindlichkeit zu 21 Geitner: „Passio Hysterica“.
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erhöhen. Die Welt der Handlungen und die Welt der Einwirkung sollen spiritistisch auseinanderklaffen, und Tylors Protokoll hält fest, dass dieses Auseinanderklaffen während einer Séance auch und gerade bei Skeptikern (und zwar paradoxerweise durch ihren Widerstand) eintreten konnte. Man machte die Erfahrung, um es mit Godfrey Lienhardts präzisen Worten zu sagen, dass das „Selbst als Subjekt der Erfahrung“ und „was-nicht-dasSelbst-ist als Objekt der Erfahrung“ zweierlei sind, oder dass der Bereich der handelnden Intentionalität und das Erleiden von Einwirkungen (ganz banaler oder schmerzhafter Natur) nicht zusammenfallen.22 In der Vertiefung der Kluft zwischen diesen beiden Bereichen konnten während einer Séance die Geister eintreten, und die Vertiefung dieser Kluft und ihres Erfahrungspotentials wurde ihnen als ganzes zugeschrieben. Dieser Attribution und ihrer Identifizierung einer ichfremden Erfahrungswelt mit der Welt einer Einwirkung von Totengeistern entspricht etwa der Aufbau von Aksakows später Synthese des ‚International Style‘: sehr übersichtlich werden alle Symptome durchgemustert, die eine ichfremde Erfahrungswelt23 ausmachen, und dann alle Indizien, die für die Einwirkung namentlich identifizierter Totengeister24 sprechen. Das Buch selbst bildet daher ganz didaktisch die Form eines spiritistischen ‚Geisterangriffs‘ ab, kein Wunder, denn der Spiritismus beruht auf dieser operativen Form. Wenn man diese Rekonstruktion für einen Moment akzeptiert, wird die spiritistische Begegnung zwischen Anhängern und Entzauberern, so wie sie sich im 19. Jahrhundert im ‚International Style‘ abgespielt hat, plausibler. Das heißt im Besonderen: man versteht die Schwierigkeiten der Entlarver, sobald sie diese Kluft thematisieren mussten; man versteht, warum die Anhänger Hoffnungen auf neue Apparate und auf die Techniken der Entlarvung setzen konnten (bis zur späteren Entwicklung von Labortechniken); und man versteht besser, dass jeder Mediengebrauch, personaler Medien und technischer Medien, in der Ungetrenntheit beider geschehen musste und allein in der Hoffnung auf einen gelungenen ‚Geisterangriff‘ geschah. Die Anhänger konnten hoffen, dass sich eine spiritistische Sphäre der medialen Passivität von den immer eingeräumten Handlungen des Betrugs und selbstinduzierten Äußerungen der Medien isolieren ließe; es gab keinen Grund, die Betrugsexperimente aus dieser Untersuchung auszuschließen. (Die Verwunderung, dass sich Medien und Spiritisten zu Betrugsuntersuchungen herbeiließen, die man in der Sekundärliteratur immer wieder findet, geht am Phänomen vorbei.) Allerdings
22 Lienhardt: „Modes of Thought“, S. 103; Übersetzung E.S. 23 Aksakow: Animismus und Spiritismus, S. 338ff. 24 Ebd., S. 655ff.
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musste die Bedingung gewahrt bleiben, dass die erwünschte Sensitivität von den Medien auf weitere Teilnehmer überspringen konnte – denn dieses mögliche Überspringen bildete den Kern der spiritistischen Sozialbeziehungen (von Medien und Klienten). Daher findet man in den Verhandlungen zwischen Entzauberern und Medien über Betrugsexperimente immer wieder die Klage, dass die Bedingungen soweit verschärft werden, dass ein solches Überspringen und damit eine Grundbedingung der Séancen nicht mehr möglich war. Eine dann erfolgende Unterbrechung des Experiments durch das Medium nährte zwar den Betrugsverdacht der Gegenseite; allerdings wäre es für Spiritisten unplausibel gewesen, die Bedingungen eines gelungenen Empfangs beliebig auszudehnen: die Gestaltung des Empfangs ließ sich nur durch eine noch mögliche Erhöhung der Sensitivität während der Sitzung bestimmen, nicht durch deren stetige Abschwächung. Daher konnte sich das Interesse beider Seiten treffen (z.B. in der Erfindung des Rundfunks25), sofern es darum ging, eine neue apparative Sensitivität zu testen, also die apparative und personale Sensitivität zu erhöhen; und es musste in Konflikt geraten, sobald die Sensitivität der personalen Medien herabgesetzt oder neutralisiert werden sollte. Außerdem kann man postulieren, dass die Behauptungen der Entzauberer im Kernbereich der psychologischen und psychosomatischen Aussagen für Spiritisten und andere Teilnehmer einer Séance unplausibel bleiben mussten. Die Welt des Handelns und die Welt des Erleidens klafften auseinander – das war empirisch erfahrbar, und die erfahrene Kluft ließ sich empirisch vergrößern; die Gegenseite stand daher nicht nur vor der Aufgabe, nachzuweisen, dass es keine Totengeister waren, die für diese Kluft verantwortlich waren, sondern diese Kluft – wenn möglich – ganz zu schließen, und das hieße ja: „the self as subject of experience“ und „what is not the self as object of experience“ wirkungsvoll zu identifizieren.26 Dies gelang für ausgewählte Tricks, aber etwa für den Bereich der Trance-Erfahrungen konnte es nicht gelingen. Nur sehr wenige Konzepte konnten versprechen, die Schließung der Kluft zwischen Handlung und Einwirkung für diese anderen Erfahrungen quasi schlagartig zu leisten (sie führte seit dem Mesmerismus in eine Gemengelage verschiedenster Theorien), insbesondere der von Tylor favorisierte Selbstbetrug der Medien („at once dupe and cheat“). Allerdings lässt sich auch bei Tylor nachlesen, dass diese Taxierung zwar das Medium sozial brandmarken konnte und sollte, aber die Erinnerung einer Erfahrung des Überspringens dieser Kluft nicht abschließend bereinigen konnte: „So that our talk ended with more reference to simulating hysteria, & the way in which even occasional
25 Rowlands/Wilson: Oliver Lodge. 26 Lienhardt: „Modes of Thought“, S. 103.
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fraud spoils the evidence of psychic force, tho’ in wonder at Moses’s spiritual gifts.“27
8. Die spiritistische Fotografie war Teil dieser Kontroversen und ihrer Praktiken von Entzauberung und Beschwörung. Man erwartete aus ihr sowohl eine (möglichst endgültige) Entlarvung bestimmter Spiritisten und ihrer Techniken – die ruchlos genug waren, das neue Medium der Referenz zu missbrauchen –, als auch neue und schlagende Formen des ‚Geisterangriffs‘. Das Bindeglied und gemeinsame Vokabular lag in der internationalen Debatte um die Geisterfotografie seit 1872 im trügerischen Stichwort der ‚Materialisierung‘. In Großbritannien (bei der Kreolisierung der internationalen Hilfssprache des Spiritismus) waren die ‚Materialisierungen‘ zeitgleich mit den Geisterfotografien im großen Jahr 1872 erschienen, seitdem blieb die Diskussion beider ineinander verschränkt. Diesem gemeinsamen (britischen) Ursprung entspricht als historischer Nachklang, dass sie in den abschließenden Synthesen des ‚International Style‘ durch Podmore und Aksakow, d.h. in den kanonischen Lehrbüchern der Entzauberer und der Anhänger ebenfalls gemeinsam behandelt werden: die spiritistische Fotografie ist dort ein Teil der ‚Materialisierungsphänomene‘, und sie ist deren elementare Steigerung, weil sie verspricht, eine (flüchtige) Materialisierung auf Dauer zu stellen, d.h. sie als Bild publizierbar zu machen. Daher findet man umgekehrt in den Kapiteln über ‚Materialisierungsphänomene‘ ständig Verweise auf die Beweiskraft der Geisterfotografie. Wenn man sich das Wort der ‚Materialisierung‘ genauer ansieht, scheint es zwischen Anhängern und Gegnern des Spiritismus in ein bloßes Homonym zu zerfallen: Fotografie war das sich selbst ‚materialisierende Bild‘ einer momentanen Belichtung; ‚Materialisierung‘ definierte sich spiritistisch als „the presentation of a visible and palpable figure, purporting to be a spirit form temporarily materialised for the occasion“, in Großbritannien seit Januar 1872.28 Zugleich lässt sich erkennen, dass eine besondere Licht-Empfindlichkeit der Fotografie und des Spiritismus diese Homonymie noch beförderte: die fotografische Materialisierung geschah durch Belichtung eines Negativs; und spiritistisch war eine mediumistische Begabung mit besonderen Lichterscheinungen verbunden, und die ‚Materialisierung‘ war zumindest dies: eine Lichterscheinung. Wie Aksakow betont, geschah die spiritistische ‚Materialisierung‘ unter der Fotografie eher abträglichen Bedingungen: das Fotografieren verlangte 27 Tylor: „Notes on Spiritualism“, S. 100. 28 Podmore: Modern Spiritualism, S. 95.
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(damals) viel Licht, die Materialisation nahezu kein Licht, damit ihr eigenes Licht im Dunkeln zur Geltung kam.29 Aber gerade diese Unverträglichkeit konnte den Charakter bestimmter Fotos und die Fragilität der Aufnahmen und ihrer Betrachtung – die gewünschte Sensitivität des Empfangs und die Störungsanfälligkeit der Aufnahmen – erklären. Außerdem kam den Spiritisten entgegen, dass zwischen Auge und Apparat ein Riss klaffte, in dem auch das fotografiert werden konnte, was dem Auge im Moment der Aufnahme entgangen war, so dass gerade die fotografische Aufnahme sich dem ‚schwachen Licht‘ der Materialisierungsphänomene zuwenden konnte, die dem Auge entgingen: „viele Dinge sind des Photographirtwerdens fähig, welche dem leiblichen Auge ganz unsichtbar sind.“30 Diese drei Momente zusammen scheinen auszureichen, um das Phänomen der spiritistischen Fotografie innerhalb der Debatte zwischen Anhängern und Gegnern plausibel zu machen: der (gemeinsame) Glaube, dass sich in der Fotografie etwas materialisiert (hat), was (eine dem Auge potentiell unsichtbare) Materie war, und zwar durch Belichtung, also durch ein dem Auge teils sichtbares, teils unsichtbares Licht, das durch die Aufnahme, also im Riss zwischen Auge und Apparat eine Referenz – ein Einzelding, z.B. eine Einzelperson – zur Erscheinung bringt. Und wenn man die obige Theorie der Dissoziation bedenkt, also die spiritistische Kluft zwischen einer Welt menschlicher Handlungen und einer Welt der (Geister-) Einwirkung und medialen Empfindlichkeit, wird außerdem plausibel, dass gerade der Akt der fotografischen Aufnahme, und d.h. der Riss zwischen den Handlungen des Fotografen und den Einwirkungen der Fotografie, zwischen seinem Hinblicken, Fokussieren und Bildauslösen, und der ausgelösten Einwirkung auf das Negativ, seiner Belichtung, Entwicklung und späteren Betrachtung (dem Einwirkenlassen der geschehenen Belichtung) zu einer eben solchen Kluft und deren Vertiefung beitragen konnte. Die Aufnahme, aber auch die Betrachtung einer Fotografie konnte sich in dieser Affinität zwischen fotografischem Riss und spiritistischer Dissoziation als ein Pendant der Séance verstehen, und so erscheint sie auch in einer Formulierung Podmores zu den Bedingungen halluzinatorischen Sehens: „quasi-hallucinatory faces superimposed upon the faint outlines presented or suggested to the sense of sight at a dark séance or in a spirit photograph“.31 Dunkelheit und Fotografie setzen die Reizschwellen der Betrachtung herab, erhöhen die gewünschte Empfindlichkeit, aber auch die Störungsanfälligkeit der Fotografie, Erscheinungen können folgen.
29 Aksakow: Animismus und Spiritismus, S. 222. 30 Ebd., S. 87. 31 Podmore: Modern Spiritualism, S. 250.
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9. Diese Betrachtungen erhöhen ihrerseits die Empfindlichkeit oder das Verständnis für bestimmte Homonyme von Licht, Materie und fotografischem Riss zwischen Anhängern und Gegnern des Spiritismus, die sich aus den Akten durchgängig belegen lassen. Allerdings drückt sich eine solche Rationalisierung durch die bloße Plausibilität der ohnehin unbestrittenen Tatsache, dass eine ‚spiritistische Fotografie‘ entstand, um die zugegeben sehr viel schwierigere Frage, was eine spiritistische Fotografie eigentlich abbildet. Worin bestand die Beziehung von Geist und Bild? Nur selten versuchten Entzauberer, diese Frage zu beantworten. Eine Ausnahme findet sich in gewissem Sinne bei einem der großen Entzauberer des Spiritismus, bei Edward Tylor, und zwar weil seine Religionstheorie versuchte, eine bestimmte europäische Auffassung der ‚Geisterseele‘ oder ‚ghost-soul‘ zu präzisieren (und auf die gesamte außereuropäische Welt anzuwenden). Tylor schrieb zu ihrer Definition: It is a thin unsubstantial human image, in its nature a sort of vapour, film, or shadow; [...] capable of leaving the body far behind to flash swiftly from place to place; mostly impalpable and invisible, yet also manifesting physical power, and especially appearing to men waking or asleep as a phantasm separate from the body of which it bears the likeness; able to enter into, possess, and act in the bodies of other men, of animals, and even of things.32 Die ‚Geisterseele‘, auch in einer solchen säkularen Umschrift, war ein eigenartiger Zwitter zwischen Bildern und ihren Verkörperungen (Besessenheit war eine dieser Verkörperungen); Geisterfotografie konnte selbst in dieser ganz trockenen Fassung als eine buchstäbliche Manifestation der ‚Geisterseele‘ erscheinen: „a thin unsubstantial human image, in its nature a sort of vapour, film, or shadow“. Zumindest wird in einer solchen Auffassung (wie gesagt, einer Art Zusammenfassung des europäischen Geister- oder GespensterKonsens) plausibel, dass wenn ein derartiger Geist erscheint, er die Natur eines Bildes und seines „vapour, film, or shadow“ anzunehmen beliebt. Doch erst wenn man die Geisterfotografie als eine Form der Séance, und ihr Gelingen als eine Form des ‚Geisterangriffs‘ betrachtet, kommt man zu der schwierigeren Frage, warum diese ‚Materialisierung‘ so sehr erwünscht und warum ihr Gelingen mit solchen Zeichen der Rührung aufgenommen wird. Denn um Rührung geht es: man erkennt verstorbene Verwandte und freund-
32 Tylor: Primitive Culture, S. 387.
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schaftliche Fremde, und man erkennt die Existenz eines sich materialisierenden Jenseits an, dem man in gewissem Sinne bereits selber angehört. In welchem Sinne? In dem Sinn, dass man eine unsterbliche Seele besitzt, die als ‚Geist‘ weiterlebt, also eine ‚Geisterseele‘, und deren Form man in der Erscheinung der spiritistischen Geister und in deren ‚Materialisierungen‘ ansichtig werden kann – mehrfach gebrochen und trügerisch, zweifelsohne, aber doch so, dass man durch solche Verfahren eine Form des Wiedererkennens auslösen kann, eines sympathetischen und daher rührenden Wiedererkennens, einer empfindsamen Anagnorisis, nämlich einer Materialisation der eigenen, den Lebenden und den Toten gemeinsamen Form, die Rührung durch das eidolon einer – unsterblichen – Seele.
10. Wenn man eine solche Affinität von Bild und Geist voraussetzt, worin bestand dann für praktizierende Spiritisten ihre fotografische Grundlage? Von Seiten der Entzauberer darf man in dieser Angelegenheit keine großen Aufschlüsse erwarten. Schließlich ging es ihnen allein um den Nachweis, dass alle Aufnahmen mit natürlichen Dingen zugegangen seien, und das hieß insbesondere: um den Nachweis von Doppelbelichtungen. Und dieser Fixierung schlossen sich im Übrigen (zumindest im Großbritannien des Jahres 1872) auch Spiritisten an, sofern sie sich dem Betrugsverdacht unterzogen oder ihn an anderen Medien überprüften. Die ersten britischen Geisterfotografien geschahen durch das Medium der ersten ‚Materialisationen‘, Mrs. Guppy, mithilfe des Fotografen Hudson. Sie wurden allerdings bald angezweifelt, und zwar auch durch Spiritisten selbst. The editor of the Spiritualist, W.H. Harrison, himself a practical photographer, another Spiritualist photographer, Beattie, and other persons soon ascertained that fraud had been used. It was observed, on a close scrutiny of the pictures, that in some cases the medium had dressed up to play the part of ghost. In many there were signs of double exposure, the pattern of the carpet and other parts of the background showing through the legs of the sitter, as well as through those of the ghost. Inspection of the actual negatives again revealed that in some cases they had been tampered with in the attempt to erase these tell-tale marks.33
33 Podmore: Modern Spiritualism, S. 118.
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Interessanterweise entwickelte sich im Gegenzug zumindest ansatzweise eine spiritistische Theorie der Geisterfotografie, die auch mit Doppelbelichtungen zurechtgekommen wäre, wenn sie sich durchgesetzt hätte. Geister selber gaben die Erklärung: The explanation of the curious duplication of the pattern of the carpet and other marks of double exposure which found most favour with believers was of a suffiently ingenious kind. The spirits explained that these suspicious appearances were due to refraction; the spirit aura, the presence of which was essential to the success of the experiment, differing apparently in density and refracting power from the ordinary terrestrial atmosphere.34 Die Beziehung zwischen Geist und Geist-im-Bild wird hier bereits etwas komplizierter: nicht der Geist wird abgebildet, sondern eine seiner ‚Refraktionen‘, d.h. die Brechung eines unsichtbaren Lichts (und, sofern Licht aus Partikeln besteht, einer unsichtbaren Materie) im sichtbaren Spektrum (und in der Belichtung der fotografischen Platte). Die physikalischen Details dieser Refraktion blieben spekulativ, z.B. durch den Verweis auf ultraviolette Strahlung; die physikalische Grundlage der ‚Refraktionen‘ lag in der unbestrittenen Geltung von Äthertheorien. Auf diese gemeinsame Basis und eine noch mögliche Weiterentwicklung entsprechender physikalischer Größen konnte sich daher die Verteidigung der Möglichkeit von Geisterfotografien zurückfallen lassen. Sowohl die fotografische Aufnahme als auch deren Betrachtung konnten daher als Analoga einer Séance oder zur Inszenierung einer Séance dienen, auch zur Inszenierung eines Betrugsexperiments, das sich dann als gelungene spiritistische Fotografie-Sitzung herausstellte, also das Betrugsexperiment in eine Séance, und die Entzauberer in Zeugen der spiritistischen Fähigkeiten des Fotografen verwandelte – oder umgekehrt. Und zumindest im Falle des Fotografen Beattie traf 1872 beides zusammen: er betätigte sich als Entzauberer anderer Fotografien, und als Fotograf einiger der spektakulärsten spiritistischen Fotografien oder Geisterbilder.
11. In der engen Verbindung zwischen spiritistischer Fotografie und spiritistischer ‚Materialisation‘ blieb eine unaufgelöste Zweideutigkeit erhalten, die sich zumindest von den britischen Anfängen bis zu den Synthesen von Podmore und
34 Ebd., S. 119.
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Aksakow nachweisen lässt: ist die Geisterfotografie und damit ihr Bild einfach eine ‚Materialisation‘ unter bestimmten Bedingungen, oder ist sie das Bild einer (dem Auge unsichtbaren) Materialisation, die bereits als (sichtbar gemachtes) ‚unsichtbares Bild‘ zu verstehen ist? Aksakow schreibt, wie bereits zitiert: „viele Dinge sind des Photographirtwerdens fähig, welche dem leiblichen Auge ganz unsichtbar sind“, und zieht daraus die Konsequenz: „Deshalb ist das Photographiren eines unsichtbaren Bildes, ob dieses Bild nun ein Geist oder ein Stoffklumpen ist, wissenschaftlich nicht unmöglich.“35 Es war der Bristoler Fotograf Beattie, der die radikalsten Konsequenzen aus dieser Zweideutigkeit zog, also das Fotografieren einer Materialisation ganz konsequent als Fotografieren eines ‚unsichtbaren Bildes‘ begriff – eines Bildes, das zwar durch Geister verursacht wurde, aber keineswegs die Behauptung zwingend machte, die Fotografie würde (Toten-) Geister abbilden. Der Riss zwischen Auge und Apparat, der in Beatties fotografischen Séancen zugleich einer Trance und Dissoziation des fotografierten Mediums synchronisiert war, war zugleich ein ganz expliziter Riss zwischen einer (dem Auge weiterhin unzugänglichen) Verursachung und ihrer (dem Auge zugänglich gemachten) Bildherstellung. Was das Auge in Beatties Geisterfotografien zu sehen bekommt, ist daher eine Art Belichtung der sichtbaren Materie durch Geisterhand: man sieht, wie ein Bild nach und nach innerhalb einer fotografischen Serie entsteht; doch die Geister selber bekommt man nirgendwo zu sehen, nur die Bilder, die sie in der vorübergehenden Materialisation geschaffen haben und in ihrer fotografischen Abbildung erscheinen können. Und eine seltsame Konsequenz dieser schlagenden Auffassung von Geisterfotografie besteht darin, dass das von den Geistern geschaffene Bild nur durch die Serie konstruierbar wird, in keinem Einzelfoto erscheint, sondern nur zwischen ihnen – und andererseits dieses Bild nirgendwo sonst sichtbar wird, denn es war innerhalb der fotografischen Séance ein ‚unsichtbares Bild‘. Zur Wirkung von Beatties Fotos gehörte, dass ihre Aufnahme durch eine regelgerechte Séance geschah. Ein Trance-Medium, das in den Fotos zusammen mit den Minimalbildern erscheint, beschrieb während der Aufnahme für die Teilnehmer der Séance ‚Erscheinungen‘, die dann im nachhinein mit den aufgenommenen Fotos verglichen werden konnten. Angestrebt war daher eine möglichst vollständige Beglaubigung der hergestellten Fotografien, die mit der bewussten Unterbestimmtheit der Resultate kontrastierte und auch kollidierte: die Ungetrenntheit von Medium und (unsichtbarer) Materialisation sollte im Foto erscheinen, und die – äußerst fragile und wechselhafte – Gestalt der Minimalbilder sollte gleichzeitig protokolliert werden können. Die Sensitivität der fotografischen Platte und die Sensitivität des Trance-Mediums sollten einander 35 Aksakow: Animismus und Spiritismus, S. 87f.
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auf diese Weise wechselseitig beglaubigen, und den unterbestimmten Charakter der Geisterbilder konterkarieren: durch eine gemeinsame Referenz im Foto und durch eine gemeinsame Prädikation während der Séance. Das Medium sieht, so Beattie, ‚ein Licht hinter sich, das aus dem Fussboden emporstieg.... Es erhebt sich, und zwar über den Armen einer anderen Person, und kommt wie aus seinem eigenen Stiefel.... Jetzt steigt eine andere Säule in die Höhe durch den Tisch hindurch!‘36 Beatties Ausführungen zu seiner fotografischen Séance-Technik betonen 1872 die wechselseitige Empfindlichkeit des Trance-Mediums und der Fotoplatte, sie versuchen eine beiden gemeinsame Durchlässigkeit zu fixieren, die gemeinsame Basis von medialer und apparativer Sensitivität. ‚Alles, was in meinem Falle bewiesen worden ist, ist einfach Folgendes: – dass es ein Fluidum oder einen Aether in der Natur giebt, welcher unter gewissen Bedingungen sich verdichtet und in diesem Zustand Sensitiven sichtbar wird; und dass, wenn seine Ausstrahlung eine sensitiv gemachte Platte trifft, die Schwingung seiner Vibrationen eine solche ist, dass sie eine kräftige chemische Tätigkeit bewirkt, so wie solche nur dem stärksten Einflusse der Sonne zuzuschreiben sein würde.... Diese Substanz wird von unsichtbaren intelligenten Wesen aufgenommen und in Formen gestaltet gleichwie Thon in der Hand des Künstlers, welche Gestalten, wenn durch eine Linse aufgenommen, photographirt werden können, mögen sie nun Ebenbilder menschlicher Wesen oder von sonst Etwas sein. Durch Personen, deren Netzhaut von diesen Gestalten beeindruckt werden kann, können sie genau beschrieben werden, bevor sie dem gewöhnlichen Auge durch Entwickelung sichtbar gemacht werden.‘37
12. Man wird Beatties fotografische Methode von heute aus vielleicht als Störungsfotografie apostrophieren, einfach weil sie auf die für damalige Fotografie ungünstigsten Bedingungen spekulierte. Wie Aksakow zusammenfasste, waren die Bedingungen einer gelungenen ‚Materialisation‘ und die Lichtbedingungen
36 Zitiert nach Aksakow: Animismus und Spiritismus, S. 61. 37 Zitiert nach ebd., S. 60.
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einer gelungenen Fotografie quasi entgegengesetzt.38 Beatties Fotos bewegten sich daher in einer Zone erhöhter Störungsanfälligkeit, und peilten ganz bewusst den Grenzwert an, an dem überhaupt noch eine Belichtung und damit ein Foto zustandekam: ‚Jeder, der die vollständige Reihe dieser Fotografien durchforscht hat, muss bemerkt haben, dass in den meisten von ihnen die dargestellten Formen durch eine Art von allmählicher Entwickelung zu gehen scheinen, welche mit einer kleinen leuchtenden Oberfläche beginnt, die allmählich an Ausdehnung zunimmt und sich gleichzeitig einer Modifikation in der Gestalt unterzieht, wobei diese letztere Verwandlung oft verursacht wird durch die Vermischung von zwei ursprünglich gesonderten Abtheilung en. [sic!] – Während unserer Experimente bemerkte Mr. Beattie oft die Plötzlichkeit, mit der diese Gestalten auf den Platten erschienen, sobald der Entwickler angewendet wurde, indem dieselben oft sehr lange vor dem gewöhnlichen Eindruck auf den Platten erschienen. [...] Häufig fanden wir gegen den Schluss der Tages-Experimente, wenn das Licht schon sehr schwach geworden war, dass beim Entwickeln kein anderer Eindruck auf den Platten vorhanden war, als nur die Formen dieser unsichtbaren Ausströmungen, was uns zeigte, dass die auf den Platten einwirkende Kraft, obgleich unfähig, unsere Augen zu afficiren, dennoch eine starke war. In der That photographirten wir durchaus im Dunkeln, da das von den Gegenständen im Zimmer reflectirte sichtbare Licht auch nur im geringsten die sensitive Haut zu afficiren verfehlte.‘39 Die Entwicklung dieser fotografischen Technik – ihre Suche nach spirituellen Minimalbildern unter Lichtbedingungen, bei denen gerade noch eine gelungene Fotografie zustande kam (oder auch nicht mehr) – folgte, so kann man zusammenfassen, ganz konsequent einer spiritistischen Auffassung apparativer und medialer Empfindlichkeit. Sensitivität und Störungsanfälligkeit erhöhen sich gemeinsam; und zugleich gilt: wenn die Sensitivität zu stark gereizt wird, tritt die Störungsanfälligkeit derartig hervor, dass gar keine Séance stattfindet; d.h. die Séance – und die Aufnahme – findet in einem Bereich statt, in dem Sensitivität und Störungsanfälligkeit noch gemeinsam steigerbar sind. Diesen medialen Bereich versuchte Beattie für die Fotografie zu erobern, und daher kann man zusammenfassend feststellen, dass Beattie durch diese Bilder eine neue Technik und eine neue Séance des ‚Geisterangriffs‘ geschaffen hat, eine neue spiritistische Technik, deren Innovationskraft durchaus an die
38 Ebd., S. 222. 39 Thomson, ein Teilnehmer der Séancen Beatties, zitiert nach ebd., S. 54f.
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Erfindung der Klopfzeichen durch die Fox Sisters erinnern konnte. Als eine solche Erfindung wurden Beatties Fotos 1872 auch in den Photographic News annonciert, in einer Kurzdarstellung, die man als spiritistische ‚Genreskizze‘ charakterisieren kann: ‚Mr. Beattie ist, wie viele von unseren Lesern wissen, ein alter und im Portraitfache durchaus erfahrener Photograph, und ein Gentleman, dessen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit ebenso wie seine Geschicklichkeit Niemand bezweifeln zu wollen auch nur träumen würde. Am Spiritualismus interessirt und angeekelt von der durchsichtigen Betrügerei der unter seine Beobachtung kommenden ‚Geister-Photographien,‘ entschloss er sich, den Gegenstand experimentell zu erforschen. [...] Der Erfolg war von einem ganz unvorhergesehenen Charakter, und die Bilder waren total unähnlich den so sorgfältig in den falschen Geisterbildern nachgeahmten gewöhnlichen Erscheinungen. Was die Quelle oder den Ursprung der Bilder betrifft, so können wir keine Muthmassung oder Theorie aufstellen.‘40 Wenn sich Beatties Innovation und vor allem seine Theorie der Geisterfotografie allgemein durchgesetzt hätten, wäre ein großer Teil der Kontroverse um die Geisterfotografie hinfällig geworden. Denn in Beatties Fotos und seiner Theorie gibt es kein Tribunal der (individuellen) Referenz eines Totengeistes mehr; und auch die Frage der Doppelbelichtung ist durch seine Handhabung der ätherischen Materialisation eines ‚unsichtbaren Bildes‘ mehr oder minder neutralisiert. Selbst Podmores abschließender Darstellung des ‚International Style‘ gelang es nicht, Beatties Fotos überzeugend zu entlarven oder technisch hinreichend zu bestimmen; ein deutlicher Beleg dafür, dass die klassischen Verfahren der fotografischen Entlarvung hier nicht recht zur Geltung kommen konnten. Beatties Fotos versprachen daher – zumindest im Jahr 1872 – einen möglichen Ausweg aus den gemeinsamen Fixierungen der spiritistischen Debatte, einen neuen Grundstein der Materialisation innerhalb der Fotografie. Und so erschien Beatties Fotografie auch in der Synthese des ‚International Style‘ durch Aksakow: „weil ich die durch ihn erhaltenen Resultate als den Grundstein des ganzen phänomenalen Gebietes der mediumistischen Materialisation im Allgemeinen und der transcendentalen Photographie im besonderen betrachte“.41 Beim Lesen von Aksakows und Podmores Ausführungen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der größte Reiz von Beatties Fotos darin bestand, sowohl technisch als auch epistemologisch unterbestimmt zu sein – 40 Zitiert nach ebd., S. 50f. 41 Ebd., S. 67.
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was ja gerade hieß, dass sie der Minimalbedingung des Spiritismus entgegen kamen, die Empfänglichkeit des Betrachters oder Teilnehmers weder zu überreizen noch kalt zu lassen, sondern sie während eines Verlaufs (hier: durch die fotografische Serie und deren Nachvollzug) zu erhöhen. Beatties Einlösung dieser Forderung für die Fotografie war einleuchtend: statt der unüberzeugenden Darstellung individueller Toter, „den falschen Geisterbildern“, optierte er für die fotografische Herstellung minimaler, aber unvorhersehbarer Bilder, und begründete ihre Erscheinung durch folgende Formulierung: Die nebelartigen Formen von bestimmter Gestalt und Charakteristik zeigen Länge, Breite und Dicke; sie sind selbstleuchtend und werfen keinen natürlichen Schatten; die Gestalten verrathen eine Absicht; sie sind so beschaffen, dass sie leicht genug nachgeahmt, aber schwerlich von irgend Jemandem ausgedacht werden könnten.42 Wie im Falle der Fox Sisters war es keineswegs die besondere Ausgefeiltheit der spiritistischen Technik, auf die Beatties Innovation abzielte, sondern eher die Gewinnung einer ganz elementaren und sogar möglichst ‚minimalen‘ ReCodierung, hier: von (fotografischen) Bildern durch (von Geisterhand geschaffene) Bilder. Kein Mensch würde sich diese Minimalbilder ausdenken oder sie bewusst ‚schaffen‘, andererseits wäre ihre Nachahmung eine bloße Banalität – sehr präzise sagt Beattie, dass diese Minimalbilder einem Raum diesseits oder jenseits der individuellen Phantasie – und Geschmacksbildung – entstammen. Und in dieser frappierenden Eigenschaft liegt vermutlich der Grund dafür, dass Beatties Fotos zu Recht eine Revolution der Geisterfotografie versprechen konnten – eine Revolution, deren Ursprung Aksakows spätere Darstellung noch einmal zu beschwören suchte, ohne ihn wieder einholen zu können –, dass diese Revolution im populären Maßstab des 19. Jahrhunderts allerdings ohne weitere Folgen ausblieb. Edward Tylors antispiritistische und John Beatties spiritistische Intervention des Jahres 1872 gerieten rasch an die Grenzen ihrer Aussagebedingungen. Edward Tylors Tagebuch, ein selbstbewusster Versuch, seine kulturanthropologische Theorie des ‚Animismus‘ und der ‚Survivals‘ durch eine Autopsie des Spiritismus zu belegen, blieb unveröffentlicht; und John Beatties Innovation konnte sich nicht als neuer Maßstab der Geisterfotografie etablieren. Dieses Scheitern hat auf vielen Umwegen zum heutigen kanonischen Status seiner Dokumente beigetragen. Edward Tylors Tagebuch wird auch in Zukunft zur ethnographischen und ethnologiehistorischen Revision einladen, und Beatties Fotoserien haben – unter anderem durch Alexander Aksakows Vermittlung – 42 Ebd., S. 66f.
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seit dem Zweiten Weltkrieg in eine ganze Reihe von künstlerischen Serienfotografien Eingang gefunden. „Was die Quelle oder den Ursprung der Bilder betrifft, so können wir keine Muthmassung oder Theorie aufstellen.“
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Abbildung 1: John Beattie, Serien von Geisterfotografien (1872).43 43 Ich entnehme die Abbildungen 1 bis 4 Aksakow: Animismus und Spiritismus, Tafel I bis IV.
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Abbildung 2: John Beattie, Serien von Geisterfotografien (1872).
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Abbildung 3: John Beattie, Serien von Geisterfotografien (1872).
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Abbildung 4: John Beattie, Serien von Geisterfotografien (1872).
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Erhard Schüttpelz | Medientechniken der Trance
Literatur Aksakow, Alexander N.: Animismus und Spiritismus, Leipzig 1890. Geitner, Ursula: „Passio Hysterica. Die alltägliche Sorge um das Selbst“, in: Berger, Renate (Hrsg.): Frauen – Weiblichkeit – Schrift, Berlin 1985, S. 130-144. Fischer, Andreas: „‚A Photographer of Marvels‘. Frederick Hudson and the Beginnings of Spirit Photography in Europe“, in: Clément Chéroux (Hrsg.): The Perfect Medium. Photography and the Occult, New Haven 2005, S. 29-43. Fischer, Andreas: „‚The Most Disreputable Camera in the World‘. Spirit Photography in the United Kingdom in the Early Twentieth Century“, in: Clément Chéroux (Hrsg.): The Perfect Medium. Photography and the Occult, New Haven 2005, S. 72-91. Lang, Bernhard/McDannell, Colleen: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens [1988], Frankfurt a.M./Leipzig 1996. Lewis, I. M.: Ecstatic Religion, Harmondsworth 1970. Lienhardt, Godfrey: „Modes of Thought“, in: Evans-Pritchard, Edward E. (Hrsg.): The Institutions of Primitive Society. A Series of Broadcast Talks, Oxford 1954, S. 95-107. Podmore, Frank: Modern Spiritualism. A History and a Criticism, 2 Bde., London 1902. Rowlands, Peter/Wilson, J. Patrik (Hrsg.): Oliver Lodge and the Invention of Radio, Liverpool 1994. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770-1900, Paderborn u.a. 2002. Tylor, Edward: Primitive Culture, Bd. 1, New York 1871. Tylor, Edward: „Notes on Spiritualism“, in: Stocking, George: „Animism in theory and practice. E.B. Tylor’s unpublished ‚Notes on Spiritualism‘“, in: Man (N.S.), Bd. 6, 1971, S. 88-104. Wundt, Wilhelm: Der Spiritismus. Eine sogenannte wissenschaftliche Frage, Leipzig 1879.
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Uwe Schellinger
Trancemedien und Verbrechensaufklärung Die ‚Kriminaltelepathie‘ in der Weimarer Republik Können Trancemedien durch ihre besonderen Fähigkeiten Verbrechen aufklären? Zumindest scheint der Glaube oder auch die Überzeugung, man könne unter Zuhilfenahme von personalen Medien Kriminalfälle aufklären, da diese über weiterreichendere Informationskanäle als die üblicherweise bekannten verfügten, eine historische Konstante darzustellen.1 Geradezu Konjunktur hatten solche Ideen in den Jahren der Weimarer Republik, als in ganz Deutschland – wie es der Journalist Cornelius Tabori später ausdrückte – ein „okkultes Fieber“ um sich griff und breite Kreise der Öffentlichkeit, aber auch der Wissenschaft erfasste.2 Es kristallierte sich in diesen Jahren schnell das Schlagwort von der ‚Kriminaltelepathie‘ heraus.3 Die enorme Verbreitung und die Vehemenz der damit zusammen hängenden Debatten weisen darauf hin, dass es sich hier gewiss um mehr als nur ein „skurriles Schlaglicht“ auf den Umgang der Kriminalisten mit neuen, oft naturwissenschaftlichen Ermittlungsmethoden handelte.4 In der Forschung wurde die Praxis der Kriminaltelepathie als einer von mehreren ‚okkulten Doppelgängern‘ interpretiert, die in den 1920er Jahren neben neuen Wissenschaftszweigen auftauchten, und ihr dadurch eine
1
Siehe als Überblick Schetsche/Schellinger: „‚Psychic Detectives‘ auch in Deutschland?“.
2
Tabori: My Occult Diary, S. 53. Eine umfassende Darstellung der Geschichte von Okkultismus und Parapsychologie in der Weimarer Republik steht noch aus. Eine Lücke in der chronologischen Darstellung offenbart in dieser Hinsicht auch das viel diskutierte Überblickswerk von Doering-Manteuffel: Das Okkulte. Am weitaus ausführlichsten erweisen sich Treitel: A Science for the Soul sowie Wolffram: On the Borders of Science: Psychical Research and Parapsychology in Germany, c. 1870-1939. Leider unveröffentlicht gelieben ist Wolf-Braun: Parapsychologie, Psychiatrie und medizinische Psychologie in der Weimarer Republik. Siehe auch Bauer: „Periods of historical development of Parapsychology in Germany: An Overview“, S. 27ff. sowie Geppert/Braidt: „Moderne Magie: Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880-1930“.
3
Im Folgenden werden Begriffe wie Kriminaltelepathie, Kriminaltelepath/in, Medien, Medium, Hellseher/in, nicht mehr eigens in Anführungszeichen gesetzt, obwohl es sich um inhaltlich stets umstrittene Zuschreibungen handelt.
4
Dies die Einschätzung bei Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher, S. 102.
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kleine Rolle im Formierungsprozess der Moderne zugestanden.5 Im Wissen um die weit über den hier betrachteten Zeitraum hinaus reichende Ausübung der Kriminaltelepathie, muß es allerdings zukünftigen Studien überlassen bleiben, den Charakter und die genaue Funktion dieser umstrittenen Praxis umfassend zu untersuchen. Für die Weimarer Republik ist belegbar, dass sich Verantwortliche in den Polizeidienststellen des öfteren auf unorthodoxe Methoden wie Hellsehen und Telepathie einließen, vor allem zur Lösung schwieriger Fälle und nicht selten in privater Mission. Dem entsprachen unzählige Beispiele, in denen aus der Bevölkerung Anfragen an Hellseher oder Telepathen mit der Bitte um Hilfe bei Verbrechensfällen ergingen. Es gab in diesem Kontext durchaus ernsthafte Überlegungen, ob es möglich und sinnvoll sei, diese wissenschaftlich noch ungeklärten Vorgänge in die polizeiliche Ermittlungsarbeit zu integrieren. Solche Konzepte waren selbstverständlich vehementer Kritik ausgesetzt. Als gegen Ende der Weimarer Republik schließlich auch das Interesse der Filmindustrie am Phänomen der Kriminaltelepathie erwachte, sahen sich die staatlichen Instanzen zum Einschreiten veranlasst.
1.
Geister-Detektive um 1900
Die Vorstellung, man könne mit übersinnlichen oder hellseherischen Fähigkeiten Verbrechensfälle aufklären, wurde erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausdrücklicher formuliert und zur Diskussion gestellt. Eine wichtige Referenz war der Münchner Gelehrte, Philosoph, Hypnoseforscher und Okkultist Carl du Prel.6 Mit einem Somnambulismus und Polizeiwissenschaft genannten Kapitel in seinem Werk Das hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung wollte du Prel bereits 1889 unter Beweis stellen, dass es neben den Verbrechen, die durch hypnotische Einwirkungen entstehen, auch solche Fälle gebe, wo Personen im hypnotisierten Zustand zur Aufklärung von Verbrechen imstande wären. Um dies zu belegen, beschrieb er fast vierzig ihm bekannt gewordene Fäl-
5
Grundlegend hierfür Treitel: A Science for the Soul, S. 132-161. Als weitere ‚okkulte Doppelgänger‘ führt sie an: im Bereich der angewandten Psychologie okkulte Methoden der Charakterologie wie Astrologie, Graphologie, Chirologie, siderisches Pendeln; im Bereich der Forensik zudem die Verwendung der Wünschelrute und schließlich den gesamten Bereich der okkulten Medizin. Treitels Begrifflichkeit geht zurück auf Leahey/Leahey: Psychology’s Occult Doubles: Psychology and the Problem of Pseudoscience.
6
Zu dem in vielerlei Hinsicht einflussreichen Carl du Prel (1839-1899) siehe Kaiser: Zwischen Philosophie und Spiritismus.
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le aus den Jahren seit 1846, allerdings überwiegend aus Frankreich und England. Er kam zu dem Schluss: Ein Jurist aber, der ohne Voreingenommenheit, sich das folgende Verzeichnis ansieht, könnte immerhin zu der Ansicht gelangen, daß die Polizei, welche den Somnambulismus verfolgt, statt ihn in ihrem eigenen Interesse zu verwalthen, einem Menschen gleicht, der […] auf der Straße seinen besten Freund umrennt.7 Du Prel war deshalb der Ansicht, „dass die Polizei in ihrem eigenen Interesse handeln würde, wenn sie den Somnambulismus weniger verfolgen als mehr verwerthen würde.“8 Von Vertretern der Strafverfolgungsbehörden gab es ebenfalls schon Anregungen in diese Richtung. So gab der Münchner Staatsanwalt Franz Riss 1901 zu verstehen: „Wenden wir uns der Frage zu, ob der Somnambulismus den Zwecken der Strafrechtspflege nutzbar gemacht werden könne, so springt in die Augen, dass sie entschieden bejaht werden muss. Welche Hilfe kann nicht durch Hellsehen zur Aufklärung von Strafthaten geboten werden!“ Der Jurist plädierte deshalb ausdrücklich für die Konsultation hellseherisch Begabter im Rahmen der Verbrechensaufklärung: Vielleicht kommt noch die Zeit, da man nicht einsieht, dass diese Unterstützung so lange nicht benutzt wurde. Selbstverständlich könnte allerdings nicht auf die Angabe einer hellsichtigen Person ohne Weiteres ein Beweis gestützt, also etwa ein Angeklagter verurtheilt werden […]. Aber: diese Angabe kann Anhaltspunkte zur weiteren Verfolgung des angeregten Gedankens bieten. […] Ebenso kann möglicherweise durch die bestimmte Erklärung einer hellsehenden Person, wer die That begangen habe, die Untersuchung in eine Richtung geleitet werden, an die niemand vorher dachte.9 Ähnliche Ideen kursierten auch im Umfeld der um 1900 in Deutschland sehr präsenten spiritistischen Bewegung.10 Im Herbst 1890 hielt der Jurist Eg-
7
Du Prel: Das hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung, S. 57.
8
Ebd., S. 92.
9
Riss: „Strafrecht und Okkultismus“, S. 25f.
10 Siehe aus der inzwischen stark angewachsenen Forschungsliteratur zum deutschen Spiritismus Bauer: „Spiritismus und Okkultismus“; Linse: „Der Spiritismus in Deutschland um 1900“; Sawicki: Leben mit den Toten; Zander: „Spiritismus in Deutschland“; Pytlik: Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900.
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bert Müller, einer der Wortführer der Berliner Spiritisten, einen vielbeachteten Vortrag mit dem Titel Der Spiritismus und die Criminal-Polizei, dem zur Genugtuung des Vortragenden offenbar sogar der Leiter der Berliner Kriminalpolizei sowie zahlreiche weitere „Criminalisten“ beiwohnten. Diesen erteilte Egbert Müller den Rat: „Möchte die Criminal-Polizei auf die Möglichkeit hin, ein neues Mittel zur Vollführung ihrer hohen Aufgabe zu gewinnen, dem Spiritismus näher treten wollen.“ Es sei deshalb wünschenswert, „dass die Criminal-Polizei wirklich […] mit Medien experimentieren möchte.“ Zur Begründung gab Müller an, dass den Jenseitswesen ja bekanntlich „Mittel und Wege zu Gebote [stehen], die uns gänzlich versagt sind“; sie hätten „zweifellos die Möglichkeit, mehr und schneller Kunde, auch über Irdisches zu erlangen, als wir Menschen.“ Einer von Gott eingesetzten Obrigkeit bzw. einer obrigkeitlichen Behörde wie der Kriminalpolizei gegenüber würden die Geister sicherlich bereitwillig Auskunft erteilen. Der überzeugte Spiritist stellte sich somit die Geistwesen als Detektive aus dem Jenseits vor.11 Bei diesen Positionen, seien sie wie bei Egbert Müller aus spiritistischen Absichten erwachsen, seien sie stärker an den Fähigkeiten einzelner Sensitiver orientiert wie bei Staatswanwalt Riss oder Carl du Prel, handelte es sich jedoch lediglich um vereinzelte Stellungnahmen und Vorschläge aus dem Zeitraum um 1900. Die Diskurse über die Beteiligung von personalen Medien an der kriminalistischen Ermittlungsarbeit vermehrten sich jedoch schlagartig in der Weimarer Republik und erreichten schnell eine hohe Intensität.
2.
Das Leipziger Experiment vom Sommer 1919
Ein erstes ernsthaftes Experiment zur Verwendung von hellseherischen Medien bei der Verbrechensaufklärung fand in Leipzig statt und gelangte wegen seines spektakulären Ansatzes sogar auf die Titelseite der Berliner Illustrierten Zeitung.12 Durchgeführt wurde der Versuch im Sommer 1919 durch Polizeirat Carl Gustav Ernst Engelbrecht, einem leitenden Beamten der Leipziger Kriminalpolizei. Engelbrecht wollte in Eigeninitiative erproben, ob man möglicherweise „neue Mittel und Methoden zur Aufdeckung von schweren Verbrechen“ finden könne, das Experiment wurde von ihm deshalb „um des wissenschaftlichen Interesses […] willen“ organisiert.13 Die vorliegenden Quellen und spärlichen Angaben zur Biographie von Engelbrecht liefern allerdings kei11 Müller: Der Spiritismus und die Criminal-Polizei, S. 10, 16. 12 Berliner Illustrierte Zeitung, 3. August 1919, Titelseite sowie o.V.: „Telepathie und Kriminalpolizei“, S. 290f. 13 Engelbrecht: „Telepathie und Kriminalpolizei“, Sp. 303, 306.
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nen Anhaltspunkt, warum gerade er sich für dieses Thema besonders interessierte. Offenbar war Engelbrecht zum Zeitpunkt des Experiments erst seit kurzem in der Leipziger Polizeibehörde angestellt, möglicherweise wollte er sich durch neue Methoden berufliches Profil verschaffen. Um die Jahrhundertwende hatte er sich schon einmal in Leipzig zum Studium aufgehalten. Ob die damals in Sachsen besonders ausgeprägte spiritistische und okkultistische Bewegung Einfluss auf ihn nahm, kann hier nur vermutet werden.14 Engelbrecht hatte für das neuartige Experiment ein Raubmord-Szenario fingiert und forderte einen damals offenbar bekannten Telepathen mit Künstlernamen ‚Kara Iki‘ auf, diesen inszenierten Fall zu lösen. An dem Versuch waren neben Engelbrecht, dem Telepathen und ausgewählten Pressevertretern zwei Staatsanwälte, ein Kriminalkommissar sowie ein Gerichtspsychiater beteiligt, die mit ihrer Amtskompetenz dafür sorgen sollten, dass alles mit rechten Dingen zuging. Tatsächlich gelang es Kara Iki während der Fahrt im Polizeiauto durch Leipzig, sowohl den Tatort, die Leiche, die Person des Mörders, die geraubte Beute sowie die Tatwaffe (alles natürlich fingiert) zu entdecken. Während der gesamten Zeit hatte keiner der Beteiligten ein Wort zu dem Telepathen gesprochen, das möglicherweise einen weiterführenden Hinweis hätte geben können. „Damit war die gestellte Aufgabe von dem Telepathen Kara Iki in allen Teilen richtig gelöst worden“, berichtete Engelbrecht.15 Das Experiment hatte sich, so der Kriminalbeamte, „mit geradezu bewundernswerter Sicherheit und außerordentlicher Schnelligkeit [entwickelt] und gelang in einem Zeitraume von alles in allem nur wenig mehr als einer Stunde.“16 Engelbrecht kam aber nun zur Überzeugung, dass er persönlich es war, der als Mittelsperson – gewissermaßen als ‚Medium‘ – den Telepathen an die richtigen Orte geleitet hatte. Diese Erkenntnis war gleichzeitig Engelbrechts wissenschaftlicher Kritikpunkt: denn in einem regulären Falle würde ja in der Regel zunächst diejenige Person fehlen, die über die genauen Kenntnisse der Ereignisse verfügt – gerade diese Person suchen die Ermittler ja meistens. Gedanken und Wille einer solchen Mittelsperson seien aber die entscheidenden Faktoren, denn Telepathie beruhe bekanntlich auf dem Kontakt zwischen zwei Personen. Demzufolge resümierte Polizeirat Engelbrecht: Nach alledem wird man als das Ereignis dieser telepathischen Untersuchungen und Versuche feststellen müssen, dass die Telepathie als 14 Carl Gustav Ernst Engelbrecht wurde am 9. September 1878 in Dresden geboren. 1919 wurde er als Polizeirat Bürger der Stadt Leipzig; vgl. Stadtarchiv Leipzig, E 597. Ich danke zudem Gerd Müller (Leipzig) für seine Auskünfte. 15 Engelbrecht: „Telepathie und Kriminalpolizei“, Sp. 302. 16 Ebd., Sp. 303.
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solche […] nicht geeignet ist, in der kriminalistischen und besonders kriminalpolizeilichen Praxis nutzbringend verwertet zu werden.17 Das Leipziger Experiment endete demzufolge positiv und negativ zugleich. Der Vorgang beinhaltet jedoch verschiedene in der Folge immer wiederkehrende kontextuelle Elemente der Kriminaltelepathie: zunächst das persönliche Interesse und die grundsätzlich offene Haltung eines Polizeibeamten am Thema, dann die enorme Pressewirksamkeit aufgrund des ungewöhnlichen Charakters solcher Versuche, und schließlich die sofort einsetzende Kritik, zumal aus den Reihen des eigenen Berufsstandes. In diesem Fall erfolgte sie umgehend von Engelbrechts Berliner Kollegen Bernhard Weiß, stellvertretender Leiter der dortigen Kriminalpolizei. Regierungsrat Weiß gab zu bedenken, bei kriminalistischen Methoden dürfe es sich stets nur um das Ergebnis einwandfreier Wissenschaft handeln. […] Auf bunten Varietébühnen, in eleganten Salons mag daher der Telepath seine kriminalistischen Fähigkeiten erweisen […], in der nüchternen Welt der wirklichen Verbrecher wollen wir uns weiterhin lieber an die bewährte Kriminalbeamtenschaft halten.18
3.
Das Institut für Kriminaltelepathische Forschung in Wien 1921/1922
In Wien operierte seit dem Frühjahr 1921 unter Billigung der Justizbehörde für einige Monate ein ‚Institut für Kriminaltelepathische Forschung‘.19 Diese spezielle Einrichtung baute im Grund auf die Aktivitäten dreier Personen auf. Begründet wurde es durch den ursprünglich aus Rumänien stammenden Wiener Rechtsanwaltsanwärter Leopold Thoma. Dieser galt selbst als sogenanntes ‚telepathisches Phänomen‘ und war solchermaßen von dem Wiener Hochschullehrer und Psychiater Wagner-Jauregg in die Gelehrtenwelt eingeführt worden. Thoma hatte sich daraufhin als Hypnotiseur bei öffentlichen Veranstaltungen äußerst erfolgreich gezeigt, so dass das Wiener Landgericht ihn als ‚ersten gerichtlichen Sachverständigen für Telepathie‘ verpflichtete. Der Hypnotiseur 17 Ebd., Sp. 304. 18 o.V.: „Telepathie und Kriminalpolizei“, S. 290f. 19 Die Geschichte des Wiener Instituts ist im Detail noch nicht erforscht. Nur wenige Notizen sind zu finden bei Heindl: Die Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie, S. 27. Jessica Scherneck (Freiburg) arbeitet im Rahmen einer Magisterarbeit an einer ausführlichen Geschichte des Instituts. Ihre Studie ist für Ende 2008 zu erwarten.
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gründete mit Hilfe eines vermögenden Wiener Verlegers umgehend ein eigenes Forschungsinstitut. Für die entsprechenden Experimente engagierte er das aus Wien stammende 20-jährige Trancemedium ‚Megalis‘, die mit bürgerlichem Namen Karoline Steininger hieß. Eine wichtige Rolle spielte für das Institut schließlich der in der Stadt weithin bekannte Jurist und Polizeikommissar Ubald Tartaruga (eigentlich: Edmund Otto Ehrenfreund), der zu dieser Zeit verstärktes Interesse an paranormalen Phänomen zeigte.20 Tartaruga hatte sich vor allem als Autor humoristischer und spektakulärer Kriminalgeschichten einen Namen gemacht und ließ sich nun als ‚Pressereferent‘ für die publizistische Aufarbeitung der Ergebnisse des Kriminaltelepathischen Instituts einbinden.21 In seinen nachfolgenden Publikationen plädierte er für eine unvoreingenommene Erprobung einer nun „Kriminaltelepathie“ genannten Forschungsrichtung im Rahmen der polizeilichen Ermittlungsarbeit: Für mich ist jeder Zweifel ausgeschlossen., dass echte [Telepathie] und Beobachtungstelepathie seit jeher hochwichtige Faktoren im kriminalistischen und forensischen Dienste gewesen sind, daß wir es aber als Gebot der Zeit bezeichnen müssen, die diesfälligen Erfahrungen zu sammeln, zu sichten, in ein logisches System zu bringen und daraus einen ‚Kriminaltelepathie‘ betitelten Zweig der Kriminalwissenschaft zu machen.22 Das Wiener Institut kann als erster Versuch der systematischen Beschäftigung mit der Kriminaltelepathie im deutschsprachigen Raum angesehen werden. Mehrere Wochen erschien im Neuen Wiener Journal regelmäßig die Rubrik Aus den Protokollen des Wiener Instituts für Kriminaltelepathische Forschung, so dass für Öffentlichkeitswirkung gesorgt war.23 Allerdings scheiterte die Institutstätigkeit schon nach wenigen Monaten, zum einen aufgrund massiver Angriffe und Kritik von außen, vor allem aber an Konflikten zwischen dem eigenwilligen Leopold Thoma und dem in der Sache skeptischer gewordenen Tartaruga. Dieser kam angesichts der durchgeführten Experimente zur Schlussfolgerung, dass kriminalistische Versuche mit Trancemedien „zur ständigen Eingliede20 Vgl. Tartaruga: Okkultistisches Skizzenbuch; ders.: Aus dem Reiche der Mystik und Magie. Zur Biographie von Ubald Tartaruga (1875-1941), der später im KZ Dachau ums Leben kam, siehe nun Enne: Ubald Tartaruga (1875-1942) [sic!]. 21 Tartaruga: Kriminal-Telepathie und -Retroskopie; ders.: Das Hellseh-Medium Megalis in Schweden. 22 Tartaruga: „Die Telepathie im Dienste der Kriminalistik“, S. 386. 23 In diesem Zusammenhang hatte auch der Journalist Cornelius Tabori, Vater von Paul und George Tabori, Gelegenheit, die Arbeitsweise des Instituts im Sommer 1921 persönlich zu beobachten. Vgl. Tabori: My Occult Diary, S. 55ff., 59ff.
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rung in den behördlichen Kriminaldienst dermalen und wohl auch in Zukunft ungeeignet“, als „Teilgebiete des Gesamtbodens für Hellsehversuche aber ganz besonders zu empfehlen“ seien.24
4.
Kriminaltelepathie in Deutschland
Trotz zahlreicher kritischer und warnender Stimmen sollte sich die Hinzuziehung von Hellsehern und Medien für die polizeiliche Ermittlungsarbeit in den folgenden Jahren auch in Deutschland auf ungeahnte Weise verbreiten.25 Kaum ein spektakulärer Kriminalfall ging jetzt ohne einen Rekurs auf den möglichen Nutzen hellseherischer Medien über die Bühne.26 Vermehrt tauchten in Deutschland Frauen und Männer mit vermeintlich paranormalen Fähigkeiten auf, die Privatleuten und den Ermittlungsbehörden ihre Dienste als Hellseher oder Telepathen anboten oder sogar eigene Auskunfts- bzw. Detektiv-Büros eröffneten. Nicht selten traten die Kriminaltelepathen dabei als Gespann auf: der Hypnotiseur und das Medium. Hypnotiseure wie der Bernburger Volksschullehrer August Drost, Hellseher wie Curt Münch aus Sachsen oder ‚Savary‘ aus Hannover, Trancemedien wie Elsbeth Günther-Geffers (vgl. Abb. 1) und natürlich auch der ebenso berühmte wie umstrittene Hermann Steinschneider alias ‚Hanussen‘ waren mit der Aufklärung Hunderter von Verbrechensfällen befasst, verfügten dadurch über einen erheblichen öffentlichen Bekanntheitsgrad und beschäftigten mit ihren Aktionen die Presseredaktionen.
24 Tartaruga: Kriminal-Telepathie, S. 186. Tartaruga führte sein Interesse an paranormalen Phänomenen danach als Geschäftsführer des ‚Wiener Parapsychischen Instituts‘ fort. 25 Siehe als frühe Zusammenfassungen Hellwig: Okkultismus und Strafrechtspflege sowie die medizinische Dissertation von Hornung: Die forensische Bedeutung des Hellsehens und der Gedankenübertragung. 26 Siehe beispielsweise den Fall der ‚Heidelberger Bürgermeistermorde‘ 1921 oder die spektakulären Morde im bayerischen Hinterkaifeck 1922. Vgl. zum ersten Fall Generallandesarchiv Karlsruhe, 242/2204 und 242/2205 bzw. Gruhle: „Die Verwendung der Hypnose und die Mitwirkung von Medien in der Rechtspflege“ und Hellwig: Okkultismus und Strafrechtspflege, S. 56ff. Zum zweiten Fall, den von Andrea Maria Schenkel in dem Bestseller Tannöd (2007) auch literarisch verarbeiteten Morden in Hinterkaifeck, vgl. http://www.hinterkaifeck.net, 12.11.2008 sowie Leuschner: Der Mordfall Hinterkaifeck.
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Abbildung 1: Das Trancemedium Elsbeth Günther-Geffers im Einsatz.27
Innerhalb der Berliner Kriminalpolizei hatte man diesbezüglich schon zu Anfang der 20er Jahre eine eigene Abteilung damit beauftragt, entsprechende Hellseher-Fälle zu sammeln und zu analysieren.28 Auf privater Basis gründete sich 1921 ein ‚Bund Deutscher Kriminal-Okkultisten‘ mit dem Ziel der ‚Unterstützung der staatlichen und behördlichen Sicherheitsorgane im Kampfe gegen jegliches Verbrechertum‘. Zu diesem Zweck sollte eine „theoretische und praktische Ausbildung von Kriminal-Okkultisten und Medien“ erfolgen.29 Offenbar von Wien aus hatte sich für das Phänomen der Begriff ‚Kriminaltelepathie‘ in den deutschen Debatten festgesetzt, die sich nun auf breiter Front in den Kreisen von Wissenschaft, Polizei und Justiz entwickelten. Den Hintergrund hierfür lieferten verstärkte Professionalisierungsbemühungen innerhalb des Polizeiapparates der Weimarer Republik. Diese waren verbunden mit der Erprobung und Einführung neuer kriminaltechnischer Methoden. Diese Entwicklung traf in den 1920er Jahren auf einen beträchtlichen Aufschwung des so genannten ‚wissenschaftlichen Okkultismus‘, der nunmehr eine große Anzahl von Experten verschiedenster Profession generierte. Die zunehmende Bedeutung der Kriminaltelepathie ist nur vor dem Hintergrund dieses doppel27 Ich entnehme die Abbildung Hellwig: Okkultismus und Verbrechen, Bg. 9, S. 128/129. 28 Schreiben von Regierungsrat Dr. Hagemann vom Polizeipräsidium Berlin an die Staatsanwaltschaft Heidelberg, 26. Juli 1921 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 242/2205); vgl. auch einen entsprechenden Bericht in den Kriminalistischen Monatsheften sieben Jahre später (o.V.: „o.T.“, S. 45). Geleitet wurde diese Stelle von Max Hagemann (1883–1968), der später in der Bundesrepublik zum ersten Leiter des Bundeskriminalamts avancierte. 29 Staatsarchiv München, PD München 5611.
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ten Verwissenschaftlichungsprozesses zu erklären. Nicht nur in der Tagespresse sowie im parapsychologischen Kontext, sondern auch in kriminologischen und polizeipraktischen Fachorganen kam es nun zu intensiven Debatten darüber, ob und in welcher Weise hellseherische oder telepathische Fähigkeiten in der polizeilichen Ermittlungsarbeit eine Rolle spielen dürften. Befürworter und Gegner lieferten sich diesbezüglich heftige Wortgefechte. Als einer der streitlustigsten Kritiker der Kriminaltelepathie tat sich über mehrere Jahre der Potsdamer Landgerichtspräsident Albert Hellwig hervor, der umfangreiche Materialsammlungen dazu anlegte und zwischen 1923 und 1933 eine Fülle von Publikationen vorlegte, in denen er eindringlich vor der „Gemeingefährlichkeit der Kriminaltelepahie“ warnte.30 Vertreter des wissenschaftlichen Okkultismus wie Traugott Konstantin Oesterreich, Rudolf Lambert, Otto Seeling oder Walther Kröner waren hingegen von den Fähigkeiten der Hypnotiseure und Trancemedien überzeugt und boten ihm in der Sache Paroli. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fanden schließlich mehrere groß angelegte Prozesse gegen die bekanntesten Protagonisten der Kriminaltelepathie statt, die auf Betrugsvorwürfen beruhten. Diese pressewirksamen Verfahren lieferten sowohl dem Thema als auch den im Mittelpunkt stehenden Hypnotiseuren und Medien eine zusätzliche Plattform.31 Auf diese Weise wurde der Streit um die Kriminaltelepathie stellvertretend zur exponierten Arena für die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern und den Gegnern okkulter Phänomene sowie für den Konflikt zwischen der Justiz und der okkultistischen Bewegung. Gerade im Rahmen der Gerichtsprozesse prallten die Kontrahenten mit ganzer Wucht aufeinander.32
30 Hellwig: „Die Gemeingefährlichkeit der Kriminaltelepathie“. Dieser Beitrag aus der Zeitschrift Die Polizei befindet sich als undatierter Sonderdruck im Nachlass Hellwigs (Bestand 10/4) im Archiv des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Freiburg (im Folgenden: IGPP-Archiv). 1923 erschien ein erster Beitrag Hellwigs zum Thema. Siehe ders.: „Telepathie und Kriminalistik“. Als Hauptwerk Hellwigs gilt sein Buch Okkultismus und Verbrechen. Eine Einführung in die kriminalistischen Probleme des Okkultismus für Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte, Psychiater und Sachverständige (1929). Eine eingehende Darstellung der Biographie und beruflichen Wirkung von Albert Hellwig (1880-1951) ist ein dringendes Forschungsdesiderat. 31 Siehe exemplarisch zum Fall Friedrich und Mathilde Gern, eines württembergischen Hellseher-Ehepaars, Brieschke: ‚Ein so klägliches Bild ist von keinem Kriminaltelepathen bekannt‘. Weiterhin vgl. Wolf-Braun: Parapsychologie, Psychiatrie und medizinische Psychologie in der Weimarer Republik, S. 94-104; Wolffram: „Parapsychologists in the Gerichtssaal during the Weimarer Republic“. 32 Vgl. Treitel: A Science for the Soul, S. 143ff.; Wolffram: On the Borders of Science, S. 227-269.
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5.
Kriminaltelepathie und Neue Medien
In den aufgeregten Debatten um die Kriminaltelepathie spielten die Neuen Medien anfänglich keine Rolle. Den Schwerpunkt der medialen Aufbereitung bildete eindeutig die Berichterstattung in der Presse sowie in den Druckschriften. Allerdings dürfte die Thematik verschiedentlich in Rundfunksendungen besprochen worden sein, wie sich zumindest aus Auskünften Albert Hellwigs schließen lässt. Bei seinem Antrag auf Mitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer gab Hellwig im August 1942 an, er sei früher als Experte bei verschiedenen Sendungen zur „Aufklärung über den Okkultismus“ der Deutschen Welle beteiligt gewesen.33 Da Hellwig sich in den zwanziger Jahren hauptsächlich mit der Kriminaltelepathie befasste, kann angenommen werden, dass dies auch Thema in den erwähnten Rundfunksendungen war. Als jedoch die publikumswirksamen Schauprozesse in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Probleme der Kriminaltelepathie einer größeren Öffentlichkeit vor Augen führten, wurden sie auch für die Filmindustrie der Weimarer Republik interessant. Im neuen Medium Kino hatten okkulte Inhalte seit der Jahrhundertwende, vor allem aber in der Weimarer Republik große Verbreitung gefunden, dabei oft argwöhnisch von der Filmzensur beobachtet.34 Die Universum Film AG, kurz: UFA, lud im November 1925 mit dem Bernburger Volksschullehrer August Drost eine der schillerndsten Persönlichkeiten unter den Kriminaltelepathen in ihre Berliner Filmstudios ein.35 Drost hatte seit Ende des Ersten Weltkriegs eine gewisse regionale Bekanntheit erlangt und verfügte über einen großen ‚Kundenstamm‘; der gegen ihn angestrengte Prozess vor dem Landgericht Bernburg erregte schließlich weit darüber hinaus Aufmerksamkeit. Im Oktober 1925 wurde das Gerichtsverfahren unter großem Publikumsinteresse verhandelt und endete für Drost mit einem Freispruch. Der Prozessverlauf und vor allem die begleitende Presse- und Publikationsmaschinerie machten ihn zu einer nationalen Berühmtheit.36 Schon 33 Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Zentralkartei: „Hellwig, Albert Dr.“. 34 Zum Medium Kino als neue Möglichkeit für die Verbreitung des Okkulten seit der Jahrhundertwende siehe Geppert/Braidt: „Moderne Magie: Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880-1930“, S. 13ff sowie Andriopoulos: Besessene Körper. 35 August Drost (1873–1955) fungierte eigentlich als Hypnotiseur und arbeitete mit verschiedenen männlichen und weiblichen Medien, die er in Trance versetzte und befragte. 36 Siehe zeitgenössisch Seeling: Der Bernburger Hellseher-Prozeß und das Problem der Kriminaltelepathie; Hellwig: Okkultismus und Verbrechen, S. 88-246. Weiterhin: Kaul: Es knistert im Gebälk, S. 183-196; Erichsen: „Kriminaltelepathie: Der
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einen Monat nach Prozessende wollte man in der ‚Kulturabteilung‘ der UFA eigene Experimente mit dem berühmt gewordenen Kriminaltelepathen durchführen und diese in einem Lehrfilm dokumentieren. August Drost sollte dazu zusammen mit einem seiner Medien „vor dem Kurbelkasten telepathische und hellseherische Versuche in Gegenwart eines Notars […] machen“, wie es Hellwig ausdrückte. Anwesend bei den Versuchen in den UFA-Studios waren verschiedene Notare und Sachverständige sowie Vertreter der Filmgesellschaft. Die gestellte „kriminaltelepathische Aufgabe“ konnte von Drost allerdings nicht aufgelöst werden. Der allseits gegenwärtige Hellwig schrieb dazu: Die Versuchsbedingungen waren einwandfrei. Ebenso einwandfrei aber misslangen auch selbst die einfachsten Versuche. Ja, noch mehr: Es ergaben sich gewichtige Momente, die nicht gerade geeignet waren, einen für Drost und seine Medien einzunehmen. Drost und seine Mitarbeiter verschwanden. Der Bildstreifen blieb in den Archiven der Ufa.37
Vom Film Die Hellseherin (1928) zu Somnambul (1929)
6.
Weniger aufklärerisch-dokumentarisch als der gescheiterte UFA-Lehrfilm, sondern dem Unterhaltungsgenre zuzurechnen ist ein Kinofilm mit dem Titel Die Hellseherin, der drei Jahre später in Berlin entstand und in besonderen Maße von dem seinerzeit weithin berühmten Trancemedium Elsbeth GüntherGeffers inspiriert wurde. Die Diskussionen um diesen Film markierten 1928/1929 einen ersten Abschluss der scharfen Auseinandersetzung um die Kriminaltelepathie in der Weimarer Republik. Noch einmal trafen hier wichtigste Protagonisten aufeinander. Produziert wurde der Film durch die in Berlin ansässige ‚Essem-Produktionsgesellschaft’, den Verleih sollte die ‚Vereinigte Star-Film’ organisieren. Drehbuchschreiber waren Herbert Juttke und Georg C. Klaren, Regie führte der jüdische Regisseur Adolf Trotz, der zwar nicht zu den bekanntesten Ver-
Fall August Drost“; Wolf-Braun: Parapsychologie, Psychiatrie und medizinische Psychologie in der Weimarer Republik, S. 94ff.; Wolffram: On the Borders of Science, S. 250ff. Sebastian Brandt (Freiburg) arbeitet derzeit an einer Magisterarbeit über Biographie und Wirkung des Kriminaltelepathen August Drost. Die Studie stützt sich u.a. auf die überlieferten Sammlungen Albert Hellwigs im IGPPArchiv. Die Arbeit ist für Anfang 2009 zu erwarten. Ich danke Sebastian Brandt für verschiedene Auskünfte. 37 Hellwig: „Kriminaltelepathie im Film“. Der Artikel ist – leider ohne Herkunftsangabe und Datierung – enthalten in IGPP-Archiv 10/4/III, 5s.
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tretern seines Faches zählt, aber bei der Umsetzung populärer und für ein breiteres Kinopublikum vorgesehener Stoffe durchaus Erfolg hatte.38 Regisseur Trotz dürfte bei der Umsetzung des Filmplots vermutlich auf Ideen eines bekannten Experten in Sachen Kriminaltelepathie zurückgegriffen haben. Die Initiative zu einem Kinofilm mit Elsbeth Günther-Geffers in einer Hauptrolle ging wahrscheinlich von dem durch das ‚Institut für Kriminaltelepathische Forschung‘ bekannten Hypnotiseur Leopold Thoma aus. Thoma zuvor war im Prozess gegen Günther-Geffers als Gutachter aufgetreten und hatte in diesem Zusammenhang im Insterburger Gerichtssaal auch ein verblüffendes Trance-Experiment mit dem Medium durchgeführt. In Thoma begegnet man einem erstaunlichen Multifunktionalisten: er war offenbar nicht nur als Hypnotiseur tätig und trat nicht nur als Experte und Gutachter in Sachen Kriminaltelepathie in Erscheinung, sondern er war auch als Schauspieler, Schriftsteller und Drehbuchautor aktiv und hatte zur Theater- und Filmszene passable Kontakte.39 Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Thoma ein Bühnenstück mit dem Titel Medium geschrieben, dass in London aufgeführt worden sein soll und danach auch in Berlin gezeigt wurde. Inhaltlich ging es in der Szenenfolge um den „Missbrauch der Hypnose zu kriminellen Zwecken.“40 Thoma soll in dieser Zeit auch das Drehbuch für den von der Zensur verbotenen Film Das verlorene Ich – Gefahren der Hypnose verfasst haben, in dem es ebenfalls um Verbrechen in Zusammenhang mit der Hypnose geht.41 Seit Anfang der 1920er Jahre galt Thoma zudem als maßgeblicher Förderer und Mitarbeiter des berühmt-berüchtigten Magiers ‚Hanussen‘, für dessen Präsentationen er sich in späteren Jahren verschiedene technische Neuerungen überlegte.42 In Wien war Leopold Thoma die treibende Kraft hinter dem bereits beschriebenen ‚Institut für Kriminaltelepathische Forschung‘ gewesen. Der ins38 Die Filmografie von Trotz umfasst zwischen 1920 und 1933 fünfundzwanzig Produktionen. Vgl. http://www.deutsches-filminstitut.de/dt2tp0129.htm, 13.11.2008. Siehe auch Prawer: Between Two Worlds, S. 82ff. 39 Thoma schrieb Drehbücher für die Filme Das verlorene Ich – Gefahren der Hypnose (Österreich/Deutschland 1922 oder 1923), Ja, ja, die Frauen sind meine schwache Seite (Deutschland 1929) und Tänzerinnen für Südamerika gesucht (Deutschland/Österreich 1930); als Darsteller wirkte er mit in Knock-out (Österreich 1923). 40 o.V.: „Strafrecht und Hypnose“, Sp. 297. 41 Das verlorene Ich – Gefahren der Hypnose (Österreich/Deutschland 1922 oder 1923; Regie: Hugo Werner Kahle). Siehe http://www.deutsches-filminstitut.de/filme/f0 35498.htm#zensur, 17.11.2008; http://www.kinotv.com/page/film.php?filmcode =18801, 17.11.2008. 42 1933 verfasste Thoma auch ein Buch über ‚Hanussen‘. Siehe ders.: Hanussen. Zu Thoma vgl. Kugel: Hanussen; Gordon: Erik Jan Hanussen: Hitler’s Jewish Clairvoyant.
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gesamt undurchsichtig wirkende Thoma kann als eine der wichtigsten Hintergrundfiguren in den Debatten um die Kriminaltelepathie gelten – und er war das Bindeglied zwischen der umstrittenen Welt des Mediumismus und der Welt des neuen Mediums Film. Unter der Obhut von Ludwig Thoma hatte sich die Kriminaltelepathin Elsbeth Günther-Geffers schon bald nach Ende ihres Prozesses nach Berlin begeben, um dort an einem Spielfilmprojekt mitzuwirken. Der von Thoma mitgeplante Film trug anscheinend zunächst den Arbeitstitel Die Seherin von Königsberg und hatte in Günther-Geffers seine Hauptdarstellerin.43 Die am 11. Juli 1871 in Gumbinnen geborene Elsbeth Günther, geborene Geffers, war zu diesem Zeitpunkt das wohl bekannteste weibliche Kriminalmedium der Republik.44 Die Tochter eines Postdirektors musste in ihrer Jugend mit ihren Eltern mehrfach umziehen und dadurch Schulen in verschiedenen Städten besuchen. Mit fünfzehn Jahren verließ das oft kränkliche Mädchen die Schule. Schon in ihrer Kindheit will Elsbeth Geffers außergewöhnliche Fähigkeiten bei sich entdeckt haben. Im Alter von sechsundzwanzig Jahren heiratete sie und zog mit ihrem Mann, einem Kaufmann, nach Königsberg. Ihr Mann, mit dem sie drei Kinder hatte, arbeitet zunächst als Direktor einer Landwirtschaftlichen Schule, später dann als Gutsverwalter. Es ist davon auszugehen, dass das Ehepaar dadurch ein gewisses finanzielles Polster ansammeln konnte. In der Inflationszeit ging jedoch ihr gesamtes Vermögen verloren. Seit 1922 trat Elsbeth Günther-Geffers vor allem in Ostpreußen als ‚Detektivin mit besonderer Befähigung‘ in Erscheinung, unterstützt von einem Königsberger Privatdetektiv. Im Frühjahr 1927 wurde sie wegen Betrugs in fünfundzwanzig Fällen vor dem Schöffengericht in Insterburg angeklagt. Der Prozess gegen die Kriminaltelepathin endete jedoch mit einem Freispruch, da man ihr keinen wissentlichen Betrug nachweisen konnte. In seinem Urteilsbeschluss gab das Gericht zu verstehen: Es kann nicht Aufgabe des Gerichts sein, zu entscheiden, ob es Hellseherei, bezw. telepathische Zustände u. dergl. überhaupt gibt. Das muß der Wissenschaft überlassen bleibe, die auf diesem Gebiet bis jetzt noch zu keinem einhelligen Ergebnis gekommen ist. Infolgedessen musste es auch von einer Erörterung der Frage, ob die Angeklagte
43 o.V.: „Frau Günther-Geffers gegen Dr. Hellwig“. 44 Steffen Böhm (HU Berlin) arbeitet derzeit im Rahmen einer Magisterarbeit über die Biographie und Wirkung der Kriminaltelepathin Elsbeth Günther-Geffers. Die Studie stützt sich zu großen Teilen auf das umfangreiche Material aus den Sammlungen Albert Hellwigs im IGPP-Archiv. Die Arbeit ist für Anfang 2009 zu erwarten. Ich danke Steffen Böhm für verschiedene Auskünfte.
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Günther-Geffers Fähigkeiten auf dem Gebiete der Hellseherei tatsächlich aufweist, abgesehen werden.45 Man konnte nicht eindeutig feststellen, ob Günther-Geffers sich fäschlicherweise als Hellseherin ausgab, obwohl sie selber über ihre Unfähigkeit auf diesem Gebiet Bescheid wusste. Ein Jahr später folgte ein weitaus aufwändigeres Berufungsverfahren am gleichen Gerichtsstandort. Der „Insterburger ‚Hexen‘Prozeß“ gegen Elsbeth Günther-Geffers wurde im April und Mai 1928 als groß angelegter Schauprozess geführt und durch eine ausgesprochen intensive Presseberichterstattung begleitet. Im Verlauf der Verhandlung, bei der erneut zahlreiche Zeugen auftraten und mehrere Gutachter ihre Stellungnahmen präsentierten, wurden im Insterburger Gerichtssaal auch Experimente mit dem Trancemedium veranstaltet (vgl. Abb. 2).
Abbildung 2: „Frau Günther-Geffers im Trance-Zustand“.46
Auch das Berufungsverfahren wurde durch das Gericht schließlich mit einem Freispruch abgeschlossen: „Der Nachweis des bösen Glaubens der Angeklagten ließ sich bei dem unzuverlässigen Zeugenmaterial und der Schwierigkeit des Problems nicht erbringen.“47
45 Zenz: Ist Hellsehen möglich?, S. 21f. 46 Ich entnehme Abbildung und Bildunterschrift ebd., S. 63. 47 Ebd., S. 218. Vgl. zum Prozess aus verschiedenen Blickwinkeln zudem Pelz: Die Hellseherin; Winterberg: Der ‚Insterburger Hellseher-Prozeß‘; Hellwig: „Der In-
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Der Film war unter dem Titel Die Hellseherin mit der frei gesprochenen Elsbeth Günther-Geffers im Dezember 1928 mit folgender Handlung fertig gestellt worden: Ein vermögender Fabrikant namens Bingen, gespielt von Fritz Kortner, führt in seinem Haus ein strenges Regiment. Unter seiner mürrischen und verschlossenen Art leiden seine Frau Helga, gespielt von Erna Morena und sein Sohn Kurt, gespielt von Veit Harlan, sehr. Um der harten Hand seines Vaters zu entfliehen, verläßt Kurt das Elternhaus. Wütend über den Ungehorsam seines Sohnes verhindert Bingen durch seinen Einfluss daraufhin, dass Kurt eine berufliche Anstellung findet. Vom Vater verstoßen und ohne Arbeit, gerät Kurt bald in zwielichtige Kreise. Eines Tages lernt er Myra kennen, das Medium eines Schwindel-Telepathen namens ‚Spirelli‘, gespielt von Julius Falkenstein. Hingerissen von ihrer Schönheit, vergisst Kurt seine eigentliche Braut Amélie und läßt sich von Myra überreden, seinen Vater ein letztes Mal um Geld zu bitten. Als dieser jedoch ablehnt, bricht Kurt in seiner Not eines Nachts in die elterliche Wohnung ein und stiehlt aus dem Schreibtisch seines Vaters Geld. Zur Zeit des Einbruchs besucht das Ehepaar Bingen eine mediumistische Seance bei einer Hellseherin, gespielt von der Kriminaltelepathin Elsbeth Günther-Geffers. Die Mutter Helga Bingen ist Schlafwandlerin und wurde durch ihren Hausarzt an die Hellseherin verwiesen. Am Morgen nach der Sitzung bei der Hellseherin wird Fabrikant Bingen ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Der Verdacht fällt sofort auf den Sohn Kurt, der daraufhin zwar den Diebstahl zugibt, den Mord an seinem Vater aber entschieden bestreitet. Doch alle Indizien sprechen gegen ihn. Es kommt zur Gerichtsverhandlung, in deren Verlauf Kurt Bingen wegen Mordes an seinem Vater zum Tode verurteilt wird. In ihrer Verzweiflung wendet sich seine Mutter erneut an die schon in die Handlung eingeführte Hellseherin. Diese, an den Tatort geführt, sieht in einer Trance: Es war nicht der Sohn, sondern Helga Bingen selbst, die im somnambulen Zustand ihren Mann erschossen hat. Tief entsetzt über ihre Tat, von der sie nichts ahnte, begeht Helga Bingen am Ende des Filmes Selbstmord. Ende Dezember 1928 wurde Die Hellseherin nach Weisung des Reichslichtspielgesetzes von 1920 der Ersten Kammer der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt – und von dieser am 29. Dezember 1928 verboten.48 Zur Begründung des Aufführungsverbotes gab die Prüfstelle folgendes zu verstehen: sterburger Hellseherprozess“; Lambert: „Der Insterburger Prozeß gegen die Hellseherin Frau Günther-Geffers“. 48 Siehe http://www.deutsches-filminstitut.de/filme/f015051.htm, 11.11.2008. Der Film Die Hellseherin bzw. Somnambul war exemplarischer Bestandteil eines von 1997 bis 2001 durchgeführten Projekts des Deutschen Film-Instituts in Frankfurt a.M. zur Edition der Zensurentscheidungen der Berliner Filmprüfstellen aus den Jahren 1920 bis 1938 (Projekttitel: Verbotene Bilder, manipulierte Filme). Vgl. http://www.
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Im vorliegenden Bildstreifen ist […] ein Fall konstruiert, der die Aufdeckung des Mörders (der Mörderin) durch eine Hellseherin darstellt und dem Zuschauer die Ueberzeugung aufdrängt, dass ohne Letztere ein Justizirrtum begangen werden würde und ein Unschuldiger sein Leben eingebüsst hätte. Die Botschaft des Films, „dass es vermöge Hellseherei tatsächlich möglich ist, Verbrechen aufzuklären“, sei nicht nur eine „Irreführung des Publikums“, sondern es entstehe auch „eine grosse Rechtsunsicherheit, durch die die Tätigkeit der zur Aufklärung von Verbrechen berufenen Behörden gestört, wenn nicht gehindert“ würde. Diese Inhalte, verbunden mit der Reklame für eine Hellseherin mit gleichzeitiger Kritik an der Polizeiarbeit, brächten die Gefahr mit sich, „die öffentliche Ordnung zu gefährden.“49 Als polizeilichen Sachverständigen hatte die Prüfstelle mit Kriminalpolizeirat Ernst Gennat den prominenten Leiter der Berliner Mordkommission geladen. Der außergewöhnlich erfolgreiche Ermittler, wegen seiner enormen Körperfülle ‚Buddha‘ oder ‚Der volle Ernst‘ genannt, zählt zu den schillerndsten Gestalten in der Geschichte der Berliner Polizei und war durchaus für innovative und unorthodoxe Vorgehensweisen bekannt.50 In diesem Fall erteilte Gennat der Prüfungskommission jedoch die Auskunft, es sei nach seinem Wissen „bisher noch nicht ein Fall festgestellt worden, in dem die Angaben der sogenannten Hellseher in einem Strafverfahren sich als wahr herausgestellt hätten.“51 Kommissar Gennat berief sich dabei auf die Ergebnisse des fachwissenschaftlichen Dezernats in der Berliner Polizeibehörde, das entsprechende Fälle aufbereitete. Aufgrund des Einspruchs durch die Filmproduktionsfirma wurde einige Tage später bei der nächsten Instanz, der Film-Oberprüfstelle, ein zweites Mal verhandelt. Als Sachverständige waren erneut Ernst Gennat sowie ein Vertreter des Reichsgesundheitsamtes anwesend. Für die Beschwerdeführer nahm in
deutsches-filminstitut.de/dframe12.htm, 11.11.2008. Zur Struktur und Tätigkeit der staatlichen Filmzensur in der Weimarer Republik siehe Keitz: „Filme vor Gericht. Theorie und Praxis der Filmprüfung in Deutschland 1920 bis 1930“. 49 http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398zb.pdf, 11.11.2008. Laut schriftlicher Auskunft des Deutschen Film-Instituts in Frankfurt a.M. (DIF) vom 12. August 2008 (Christof Schöbel) befinden sich die Originaldokumente der Zensurentscheidungen der Filmprüfstelle und Filmoberprüfstelle Berlin im Besitz bzw. im Archiv des DIF. 50 Siehe zu Ernst Gennat (1880–1939): Wagner: Volksgemeinschaft ohne Verbrecher; Nummert: „Budhha oder Der volle Ernst. Der Kriminalist Ernst Gennat (1880–1939)“; Stürickow: Der Kommissar vom Alexanderplatz. 51 http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398zb.pdf, 11.11.2008.
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der Sitzung der Berliner Arzt Walther Kröner Stellung. Der vor allem der Homoöpathie zugewandte Mediziner ist als einer der profilitiertesten und publikationsfreudigsten Vertreter des ‚wissenschaftlichen Okkultismus‘ in der Weimarer Republik anzusehen.52 Kröner war Vorsitzender der Potsdamer Mitgliedergruppe der ‚Deutschen Gesellschaft für wissenschaftlichen Okkultismus‘, aktives Mitglied in der ‚Berliner Ärztlichen Gesellschaft für Parapsychologie‘ und Autor zahlreicher Schriften zum wissenschaftlichen Okkultismus.53 Insbesondere wirkte er stets als Befürworter kriminaltelepathischer Versuche und forderte in diesem Zusammenhang die Berliner Polizei auf, mehr in diese Richtung zu agieren, während ihn mit einem Okkultismus-Kritiker wie Albert Hellwig eine giftige Feindschaft verband.54 Zusammen mit Leopold Thoma hatte Walther Kröner als wohlwollender Gutachter das Medium Elsbeth Günther-Geffers beim Insterburger Prozess begleitet, den Fall publizistisch aufbereitet und sich damit einen Expertenstatus verschafft.55 Seine Verweise auf angebliche Erfolge der Hellseherin bei einem konkreten Kriminalfall zeigten bei der Film-Oberprüfstelle allerdings nicht die erhoffte Wirkung. Diese zeigte sich unter dem Vorsitz von Oberregierungsrat Ernst Seeger dem Filmprojekt ebenfalls ausgesprochen kritisch gegenüber und wies die eingereichte Beschwerde nach ausführlichen Beratungen am 10. Januar 1929 zurück. Man vertrat erneut die Position, dass der Film die Bevölkerung dazu verleiten könnte, „zur Aufklärung von Verbrechen sich, statt an die Polizei, an Hellseher zu wenden.“ Oberregierungsrat Hesse vom Reichsgesundheitsamt war sogar der Ansicht, die Inhalte des Filmes könnten gesundheitliche Schäden hervorrufen. Der Sachverständige vermutete, „dass durch Hellseherei und andere okkultistische Dinge die schwersten Erkrankungen herbeigeführt werden könnten, auch wenn es sich nicht einmal um besonders sensible Personen handelt.“ Da man zudem wissenschaftlich noch keine sicheren Erkenntnisse über Phäno52 Eine eingehende biographische Darstellung zu Walther Kröner (1890-?) fehlt. In der okkultistischen Bewegung der Weimarer Zeit hatte er verschiedene Funktionen, u.a. als Mitherausgeber der wichtigsten parapsychologischen Fachzeitschrift Psychische Studien. Kröner war später maßgeblich an den Bestrebungen beteiligt, die Parapsychologie als rein biologische Wissenschaft in das System des nationalsozialistischen Staates einzugliedern. Ich entnehme die Informationen Wolf-Braun: Parapsychologie, Psychiatrie und medizinische Psychologie in der Weimarer Republik, S. 27ff. 53 Als Monographien waren vor 1929 erschienen: Kröner: Mediale Diagnostik (Befunderhebung durch Fernfühlen); ders: Das Rätsel von Konnersreuth und Wege zu seiner Lösung. Vgl. das Schriftenverzeichnis bei Wolf-Braun: Parapsychologie, Psychiatrie und medizinische Psychologie in der Weimarer Republik, S. 30ff. 54 Siehe Kröner: „Kriminalpolizei, Kriminaltelepathie und Parapsychologie“. 55 Siehe Kröner: „Der Insterburger Hellseherprozess“.
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mene wie Telepathie oder Hellsehen habe, argumentierte die Oberprüfstelle abschließend, ständen die gezeigten filmischen Inhalte in allzu großer Diskrepanz zur „abwartenden Haltung der Forschung“ in der Sache. Eine „Gefährdung der öffentlichen Ordnung“ sei nicht auszuschließen.56 Die Entscheidung der Filmzensurstellen blieb nicht ohne Reaktionen und Kritik. Das Presseecho war enorm (vgl. Abb. 3).57
Abbildung 3: Film-Kurier vom 1. Februar 1929.58
Unverständnis zeigte etwa ein Autor in der Berliner Börsen-Zeitung, der die Zensurentscheidung in einen größeren Zusammenhang stellte und einen Anschlag auf die freie Wissenschaft vermutete: Der tiefere, den Richtern unbewusst gebliebene Grund des bedauerlichen Urteils ist die beabsichtigte Verdammung der parapsychologi56 http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398z1.pdf, 13.11.2008. Siehe auch o.V.: „o.T.“, S. 45f. sowie Hellwig: „Kriminaltelepathie im Film“. 57 Einige Beiträge aus Zeitschriften wie dem Film-Kurier, dem Kinematograph oder dem Reichsfilmblatt liefert die entsprechende Dokumentation unter http://www. deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398k.pdf (1-9), 11.11.2008. 58 Ich entnehme die Abbildung http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb 398k.pdf (8), 11.11.2008.
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schen Wissenschaft.[…] Es handelt sich um eine Etappe des Kampfes der materialistischen Weltanschauung gegen die geistig orientierte. In diesem Kampfe hat die Filmoberprüfstelle zugunsten der ersteren gegen die letzte Stellung genommen. Es handelt sich um einen Angriff gegen die Freiheit der Wissenschaft.59 Zu Wort meldete sich auch noch einmal der Regisseur des Films, Adolf Trotz. Er habe die Regiearbeit zu dem Film übernommen, weil er von der „Aktualität der Themas“ überzeugt gewesen sei. Für ihn sei die Frage der Möglichkeit des Hellsehens eines der brennenden Probleme der Zeit. Trotz verteidigte zudem das Engagement der realen Hellseherin Elsbeth Günther-Geffers als Schauspielerin: Wenn man aber schon einmal das Problem der Hellseherei hineinbezog, so konnte wohl für die Rolle der Hellseherei nur ein Medium in Frage kommen. Denn eine noch so vollkommene Schauspielerin dürfte wohl kaum den naturalistisch echten Ausdruck einer in Trance handelnden Person finden können. Durch die Verwendung einer Somnambulen konnte zum mindesten eine wahre Darstellung möglich gemacht werden.60 Regisseur Trotz wollte ebenso wie die Produktionsgesellschaft den umstrittenen Film unbedingt herausbringen. Deshalb wurde der Streifen in kür-zester Zeit an entscheidenden Stellen umgearbeitet und danach ein weiteres Mal den Zensurinstanzen präsentiert. Am 24. Januar 1929 genehmigte die Filmprüfstelle die Ausstrahlung des völlig veränderten Kinofilms, obwohl die kritischen Sachverständigen wie Gennat und Hesse auf ihren Positionen beharrten. Die Wirkung der im Film auftauchenden Hellseherin wird in der neuen Version nun als „völlig belang- und ergebnislos“ beurteilt.61 Sie versagt bei einer mediumistischen Sitzung und sieht in Trance schlussendlich nur den Einbruch, nicht aber den eigentlichen Mordtathergang. Der Einbruch war aber ohnehin schon durch die Polizei aufgeklärt. In der neuen Version ist die Tätigkeit der Hellseherin nur noch dramaturgisches Beiwerk und in keinster Weise mehr bedeutsam für die Aufklärung des Falles. Die Kriminaltelepathin Günther-Geffers spielt in dem Film somit keine Hauptrolle mehr, sondern nur noch einen Nebenpart. Im Gegensatz zur ersten Version kritisiert die Film59 Ueberhorst: „Filmoberprüfstelle contra Wissenschaft. Zum Verbot des HellseherFilms“. 60 Zitiert nach dem Reichsfilmblatt (Nr. 3, 1929, S. 16) unter http://www.deutschesfilminstitut.de/zengut/df2tb398k.pdf (3), 11.11.2008. 61 http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398z2.pdf, 13.11.2008.
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handlung nun eher die Tätigkeit der Hellseherin, die mit ihren Aussagen stets falsch liegt. Albert Hellwig merkte zu dieser Wende spöttisch an: Ich muß sagen, wenn ich mich für einen erfolgreichen Kriminaltelepathen halten würde, so würde ich es mir höchstlichst verbitten, wenn mir zugemutet würde, eine so jämmerliche Rolle in einem Filmdrama zu spielen.62 Nicht die Hellseherin, sondern der zuständige Kommissar und der Arzt klären den Fall auf, so dass die Botschaft vermittelt wird, dass nur solide Polizeiarbeit weiter hilft. Es wird peinlichst vermieden, die Tätigkeit von Hellsehern als zuverlässiges kriminalistisches Hilfsmittel zu präsentieren. Der Selbstmord der Ehefrau erfolgt schließlich nicht aufgrund der Aussage der Hellseherin, sondern wegen des gegen sie ausgesprochenen Haftbefehls. Um jeglichen Zweifel zu beseitigen und jede Werbung für die Hellseherei auszuschließen, ordnete die Film-Oberprüfstelle darüber hinaus an, dass der Filmtitel Die Hellseherin in Somnambul umzuändern sei (vgl. Abb 4).
Abbildung 4: Filmprogramm von Somnambul (1929).63
62 Hellwig: „Was aus dem Günther-Geffers-Film geworden ist“. 63 Die Abbildung zeigt das Titelblatt des Programmhefts Illustrierter Film-Kurier (Nr. 1992, 11. Jg., 1929) zum Film Somnambul. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags für Filmschriften, Christian Unucka (Hebertshausen, www.unucka.de).
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Bei all dem ließ die Zensurstelle in ihrem abschließenden Urteil vom 31. Oktober 1929 wissen, dass es „nicht grundsätzlich versagt werden kann, das Problem der Hellseherei […] im Rahmen einer filmischen Darstellung zu behandeln.“ Es müsse aber unbedingt vermieden werden, „in bejahendem Sinne zu ihm Stellung zu nehmen.“64 Schon Anfang Februar 1929 hatte Somnambul im Tauentzien-Filmpalast in Berlin seine Premierenaufführung. Durch die Berichte über die vorausgegangenen Zensurverhandlungen war das Publikum neugierig geworden, „den so heiß umstrittenen Film nun selbst kennenzulernen“, wie die Licht-Bild-Bühne schrieb. Vor der eigentlichen Vorführung trat im Filmpalast ein alter Bekannter auf: Leopold Thoma, „Spezialist auf kriminal-telepathischen Gebiet“ hielt einen einleitenden Vortrag.65 Die Filmkritik zeigte nach der Erstaufführung geteilte Meinungen: Die einen vertraten die Ansicht, der Film behandle ungeklärte, aber wichtige Fragen, die in der gegenwärtigen „seelisch aufgewühlten Zeit von vorneherein besonderem Interesse begegnen“, etwa nach dem Charakter von Phänomenen wie „Somnambulismus“ oder „Hellsehen“.66 Andere waren der Meinung, dass der umgestaltete Film auf solche Probleme ohnehin nicht mehr einginge und es nur bei Andeutungen bliebe. Der Film Somnambul ist heute offenbar nur noch in einer einzigen fragmentarischen Kopie im russischen Filmarchiv Gosfilmofond in Moskau erhalten.67
7.
Zusammenfassung
Die so genannte Kriminaltelepathie – die Verbrechensaufklärung mit Hilfe personaler Medien – war in den Jahren der Weimarer Republik wie kaum ein anderes Feld dazu geeignet, ideologisch besetzte Themen wie Okkultismus, Spiritismus und Mediumismus sowie Phänomene wie Hellsehen und Telepa64 http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398z2.pdf, 13.11.2008. Siehe auch o.V.: „o.T.“, S. 69ff. 65 H. w-g.: „Somnambul“; zitiert nach http://www.deutsches-filminstitut.de/zengut /df2tb398k.pdf (7), 11.11.2008. 66 Einige Beiträge aus Zeitschriften wie dem Film-Kurier, dem Kinematograph oder dem Reichsfilmblatt liefert erneut die entsprechende Dokumentation unter http://www. deutsches-filminstitut.de/zengut/df2tb398k.pdf (1-9), 11.11.2008. 67 Schriftliche Auskunft vom 11. September 2008 per E-mail, Gosfilmofond of Russia (Valery Bosenko, Head of Scientific Data Handling). Trotz mehrfacher Nachfragen gelang es bislang leider noch nicht, eine Arbeitskopie zu erhalten. Für Unterstützung bei der Recherche und Hinweise auf die Existenz dieser Kopie danke ich Petra Löffler (Wien) und Matthias Knop (Filmmuseum Düsseldorf).
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thie in eine größere Öffentlichkeit zu transportieren. Seit Anfang der 1920er Jahre sahen sich Kriminologie und Wissenschaft mit zahlreichen Fällen konfrontiert, in denen bekannte Spezialisten ihres ‚Fachs‘ – Hypnotiseure und Trancemedien – von privater Seite, aber auch von Polizisten konsultiert wurden. Man reagierte auf dieses Phänomen in unterschiedlicher Weise, etwa mit wissenschaftlichem Interesse oder mit scharfer Ablehnung. Intensiv gestritten wurde vor allem im Kontext von spektakulären Gerichtsprozessen gegen Kriminaltelepathen und -telepathinnen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre. Vertreter verschiedenster Disziplinen und Professionen – beteiligt waren Ärzte und Psychologen, Okkultisten und Juristen, Polizisten und Kriminologen – schalteten sich in die Debatten ein, aus denen oft scharfe Auseinandersetzungen der bestellten Experten und Gutachter resultierten. Als besonders brisant erwies sich schließlich die vorgesehene Ausstrahlung eines öffentlichkeitswirksamen Kinofilms wie Die Hellseherin, wurde darin doch die Arbeit der Polizei als inkompetent, die Tätigkeit eines Trancemediums hingegen unverblümt als hilfreich dargestellt. Die zuständigen Filmzensurstellen sahen in dem Film Potential für eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung, wollten aber ebenso wie vorher die jeweiligen Gerichtsinstanzen selbst kein Urteil über die Qualität der berichteten Phänomene abgeben. Vielmehr delegierte man diese Aufgabe an die ‚Wissenschaft‘, ohne festzulegen, wer in diesen Fällen damit eigentlich gemeint sei. Der Polizeiapparat konnte sich jedoch keine öffentliche Darstellung eines Autoritätsverlusts erlauben, intervenierte erfolgreich gegen die ursprünglichen Filminhalte und erzwang deren grundlegende Umgestaltung. Während sich Polizei und Justiz in den Jahren zuvor zuweilen durchaus auf inhaltliche Debatten zur Sache einließen, wurde die Rezeption im Massenmedium Kinofilm als ein zu großes Gefahrenmoment betrachtet. Am 3. April 1929, rund drei Monate nach den Berliner Zensurverhandlungen um den Film Die Hellseherin, sah sich das Preußische Ministerium des Innern dazu gezwungen, seinen Beamten per Erlass nunmehr endgültig zu untersagen, „Hellseher, Telepathen u. dgl. zur Aufklärung strafbarer Handlungen heranzuziehen, oder sich an Maßnahmen zu beteiligen, welche eine Aufklärung vermittels parapsychischer Fähigkeiten bezwecken.“ Wie aus dem Erlasstext hervorgeht, hatte die Beschäftigung mit der Kriminaltelepathie in den Jahren zuvor offenbar eine solch große Verbreitung innerhalb des Polizeiapparates entwickelt, dass man eine solche Anweisung für dringend erforderlich hielt. Gleichzeitig wurden die Polizeibeamten aber dazu angehalten, alle ihnen bekannten Tatspuren in der geeigneten Weise nachzuprüfen und ihnen gegebenenfalls selbstständig nachzugehen, auch wenn diese
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das Ergebnis eines von dritter Seite vorgenommenen parapsychologischen Experiments […] sind. In diesem Fall würden die Beamten aber „auf eigene Verantwortung“ handeln.68 Trotz des kategorischen Charakters dieser Anweisung führte möglicherweise die Offenheit in der Formulierung dazu, dass die Praxis und Problematik der Kriminaltelepathie auch in der Folge nicht von der kriminalistischen Bildfläche verschwanden.
Ungedruckte Quellen Bundesarchiv Berlin, NSDAP-Zentralkartei: „Hellwig, Albert Dr.“. Generallandesarchiv Karlsruhe, 242/2204 und 242/2205. Staatsarchiv München, PD München 5611. Stadtarchiv Leipzig, E 597.
Literatur Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München 2000. Bauer, Eberhard: „Spiritismus und Okkultismus“, in: Loers, Veit (Hrsg.): Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915. Ausstellungskatalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a.M. 1995, S. 6081. Bauer, Eberhard: „Periods of Historical Development of Parapsychology in Germany: An Overview“, in: Proceedings of the 34th Annual Convention of the Parapsychological Association. Presented Papers, Heidelberg 1991, 18-34. Brieschke, Angelika: ‚Ein so klägliches Bild ist von keinem Kriminaltelepathen bekannt‘. Ein Hellseher-Prozeß in Württemberg in den 1920er Jahren, Universität Tübingen 2001 (Magisterarbeit).
68 o.V.: „Verbot der Beschäftigung von sogenannten Kriminaltelepathen“, in: Kriminalistische Monatshefte, 3. Jg., 1929, S. 113; siehe auch Seeling: „Verbot der Beschäftigung von sogenannten Kriminaltelepathen“.
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Doering-Manteuffel, Sabine: Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung. Von Gutenberg bis zum World Wide Web, München 2008. Du Prel, Carl: Das hypnotische Verbrechen und seine Entdeckung, München 1889. Engelbrecht, [Carl Gustav Ernst]: „Telepathie und Kriminalpolizei“, in: Deutsche Strafrechts-Zeitung, Jg. 6, Nr. 9/10, 1919, Sp. 301-306. Enne, Martin: Ubald Tartaruga (1875-1942) [sic!]. Edmund Otto Ehrenfreund – Eine Biographie, Universität Wien 2006 (Diplomarbeit). Erichsen, Philipp: „Kriminaltelepathie: Der Fall August Drost“, in: Stemmle, Robert A. (Hrsg.): Hexenjagd. Der Fall Nielsen-Hardrup und sechs weitere internationale Kriminalfälle, München u.a. 1969, S. 149-170. Geppert, Alexander C. T./Braidt, Andrea B: „Moderne Magie: Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen, 1880-1930“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 13. Jg., Nr. 4, 2003, S. 7-36. Gordon, Mel: Erik Jan Hanussen: Hitler’s Jewish Clairvoyant, Los Angeles, CA 2001. Gruhle, Hans W.: „Die Verwendung der Hypnose und die Mitwirkung von Medien in der Rechtspflege“, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Jg. 82, 1923 (= Festschrift Eugen Bleuler), S. 82-92. Heindl, Gerhard: Die Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften 1927-1963 mit einem statistischen Anhang bis 1997, Frankfurt a.M. 1998. Hellwig, Albert: Okkultismus und Verbrechen. Eine Einführung in die kriminalistischen Probleme des Okkultismus für Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte, Psychiater und Sachverständige, Berlin 1929. Hellwig, Albert: „Der Insterburger Hellseherprozess“, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Jg. 86, Nr. 2, 1929, S. 177-236. Hellwig, Albert: „Was aus dem Günther-Geffers-Film geworden ist“, in: Königsberger Hartungsche Zeitung, 5. Februar 1929. Hellwig, Albert: Okkultismus und Strafrechtspflege. Über die Verwendung von Hellsehern bei Aufklärung von Verbrechen, Bern/Leipzig 1924 Hellwig, Albert: „Telepathie und Kriminalistik“, in: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform, Jg. 14, Nr. 417, 1923, S. 200-202.
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Uwe Schellinger | Trancemedien und Verbrechensaufklärung
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Wolfgang Hagen
Manfred von Ardennes ‚Gedanken hören‘ Ob man noch Manfred von Ardenne kennt, – den stalinpreis-gekrönten Mitentwickler der sowjetischen Atombombe, Jahrgang 1907? In der DDR wurden nach ihm Schulen, Strassen und Plätze benannt. Einige existieren noch. Manfred von Ardenne war Physiker, Pionier der elektronischen Fernsehtechnik, Entwickler eines Uran-Isotopen-Projekts für die Nazis, Sozialist, Volkskammer-Abgeordneter der DDR und Betreiber des republikweit einzigen privaten Forschungsinstituts bis zu ihrem Ende. Sein erstes Radiopatent erhielt Ardenne mit sechszehn, das war 1923. Mit zwanzig verließ er die Uni, um mit einundzwanzig Jahren und seinem gesamten Erbe ein Forschungslabor zu gründen, in dem er arbeitete, forschte und entwickelte, bis 1945 die von ihm angeblich ersehnten sowjetischen Panzer vor der Türe standen. Danach, wie gesagt, baut von Ardenne Atombomben für die Sowjets, kehrt zurück in die DDR und gründet ein Institut, das im medizinischen Gerätebau bis zum Ende der DDR führend bleiben wird. Mit Blick auf seine Karriere im Dritten Reich, in der Sowjetunion und der DDR bleibt nur zu sagen: Manfred von Ardenne – ein deutscher Ingenieur vom besten Schrot und Korn. Vielleicht deshalb plante der einzige Historiker der deutschen Untererde, Heiner Müller, noch zu DDR-Zeiten über Manfred von Ardenne einen Dokumentarfilm zu drehen. Müller hatte nämlich heraus gefunden, dass Ardenne während des Krieges Zwangsarbeiter in einem Arbeitslager bei Sachsenhausen beschäftigt hatte, vermutlich indirekt, aber gleichermaßen verantwortungslos wie zur nämlichen Zeit Wernher von Braun im berüchtigten Dora-Bau. Heiner Müller jedenfalls wurde die Weiterarbeit an seinem Filmprojekt verboten. Daran gemessen wird das Folgende einer vergleichsweise belanglosen Sache nachgehen. Es geht um Manfred von Ardennes erste Veröffentlichungen nach der Gründung seines Forschungsinstituts aus dem Jahr 1928. Kann man Gedanken hören ist der Aufsatz übertitelt, in schönsten Sütterlin-Lettern auf Seite 1 der Funkschau-Juli-Ausgabe von 1928 (vgl. Abb. 1). Aus der Tatsache, dass bei besonders hierfür geeigneten Individuen eine Gedankenübertragung auch dann möglich ist, wenn die beiden Beteiligten sich nicht im gleichen Räume befinden, kann geschlossen werden, dass es sich bei der Gedankenübertragung um einen Vorgang handelt, bei dem elektromagnetische Wellen eines bestimmten Bereichs mitwirken.
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Wolfgang Hagen | Manfred von Ardenne
Dieser erste Satz ist wahrhaft pointiert. Ardenne aber beruhigt den Leser gleich danach mit folgender Einschränkung. Die Tatsache ferner, dass wissenschaftlich einwandfreie Experimente bei Gedankenübertragungen selten über Entfernungen von 15 Meter hinaus geglückt sind, bestärkt die Vermutung, dass bei der Gedankenübertragung das Gehirn ähnlich wie ein kleiner Sender ein schwaches Hochfrequenzfeld ausstrahlt, das von einem geeigneten Empfänger aufgenommen wird.1
Funkschau, Juli 1928
12
Abbildung 1: „Kann man Gedanken hören?“2
Mit diesem Satz erweist sich der junge von Ardenne als guter Kenner der zeitgenössischen spiritistischen Diskussion, insbesondere als Kenner von Oliver Lodge und dessen Arbeiten in der ‚Society for Psychical Research‘ in den 1880 und 1890er Jahren. In seinen zahlreichen Accounts of Experiments In Thought Transference, die Oliver Lodge im Rahmen der Society for Psychical Research zwischen 1882 und 1890 durchgeführt hat, steht niedergeschrieben, was Ardenne jetzt in der Funkschau propagiert: „It may be within the reader’s knowl-
1
Ardenne: „Kann man Gedanken hören?“, 209f.
2
Ebd.
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Wolfgang Hagen | Manfred von Ardenne
edge that I regard the fact of genuine ‚thought-transference‘ between persons in immediate proximity (not necessarily in contact) as having been established by direct and simple experiment.“ Und hat dann auch gleich eine physikalische Erklärung parat: That the brain is the organ of consciousness is patent, but that consciousness is located in the brain is what no psychologist ought to assert; for just as the energy of an electric charge, though apparently on a conductor, is not on the conductor, but in all the space around it; just as the energy of an electric current, though apparently in the copper wire, is certainly not all in the copper wire […]; so it may be that the sensory consciousness of a person, though apparently located in his brain, may be conceived of as also existing like a faint echo in space, or in other brains, though these are ordinarily too busy and pre-occupied to notice it.3 Kein Physik-Interessierter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kannte Oliver Lodge nicht. Schon in den 1890er Jahren hatte sich Hermann von Helmholtz selbst dafür eingesetzt, dass seine Frau Anna und Du Bois Reymonds Frau Estelle gemeinsam das Grundlagenbuch Neueste Anschauungen über die Elektrizität von 1896 auf Deutsch übersetzen. Danach waren fast alle wichtigen Bücher von Lodge auf Deutsch erschienen. Leben und Materie (1908), Der Weltäther (1911), Radioaktivität und Kontinuität (1914) und viele mehr. Heinrich Hertz hatte gesagt, wenn nicht er, so hätte Oliver Lodge die Radiowellen gefunden. Eingeschoben sei hier eine kleine Fußnote zum Thema: ‚Wissenschaftsgeschichte versus Spiritismusgeschichte‘. Ein Teil der Briefe zwischen Hertz und Lodge ist nach wie vor nicht zugänglich. Heinrich Hertz hatte ab 1890 mit Oliver Lodge konferiert, weil Lodge ein direkter Schüler von James Clerk Maxwell war, dessen Theorie Hertz mit seinen Experimenten von 1887/88 verifizieren konnte. Diese Theorie ist es, die unter anderem besagt, dass ein elektrischer Strom nicht ‚in‘ einem Kupferdraht fließt, sondern in sich verschiebenden Wechselfeldern um diesen Kupferdraht ‚herum‘. Dieses war zu ihrer Zeit eine so verwegene, wilde und auch unglaubwürdige Theorie, dass selbst Hertz sich, nachdem er sie bewiesen hatte, erst einmal an sie gewöhnen musste. Ein Teil des Briefwechsels, den Oliver Lodge mit Heinrich Hertz geführt hat, liegt immer noch irgendwo in Norddeutschland, in einer etwas größeren Schuhschachtel im Schrank einer späten Anverwandten von Heinrich Hertz. Niemand hat sie bislang genau gelesen oder transkribiert, auch nicht inventari3
Lodge: „A Record of Observations of Certain Phenomena of Trance, Part I“, S. 451.
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siert. Die Frau ist in ihren 80ern und nicht bereit, die Briefe aus der Hand zu geben. Von der Existenz dieser Briefe (und weiterer Manuskripte4) wissen wir durch Albrecht Fölsing, den besten Biografen von Heinrich Hertz, der nicht zur offiziellen ‚History of Science‘-community gehört, sondern ein Fernsehjournalist ist. Er hat sich zwei Jahre freistellen lassen, um die Hertz Biografie zu schreiben5 und war klug und empfindsam genug, die alte Dame aufzutun, und hat die Briefe einsehen dürfen. Ein offizieller Übergabetermin mit Mitarbeitern des Max Planck Instituts für Wissenschaftsgeschichte scheiterte, weil die Verantwortlichen seitens des Instituts nicht erschienen waren.6 In dem Briefwechsel zwischen Hertz und Lodge, der also zum Teil veröffentlicht ist, geht es unter anderem auch um seine Mitgliedschaft in der ‚Society for Psychical Research‘, die Lodge dem Entdecker der maxwellschen Wellen 1891 offenbar nachdrücklich angetragen hatte. In der offiziellen Ausgabe der Briefe von Hertz an die Maxwellianer gibt es zu diesem Thema nur einen etwas pikierten abschlägigen Brief von 1891. Tatsächlich aber erscheint Heinrich Hertz im Jahre 1892 auf der Liste der ‚Corresponding Members‘ der Society, so dass man vermuten darf, dass Heinrich Hertz’ Interesse an und Beschäftigung mit den spiritistischen Neigungen der Maxwellianer, insbesondere von Oliver Lodge, der Grund dafür gewesen sein mag, warum Ende der 1890er Jahre die Familie diesen Teil der Korrespondenz zurück gehalten hat. Ende der Fußnote und zurück zu Ardenne. Bei diesen bekannten Verhältnissen ist der Gedanke sehr nahe liegend, das Hochfrequenzfeld, das hiernach wahrscheinlich beim Denken entsteht, elektrisch abzunehmen, die Resultierende dieses Feldes durch einen Röhrenverstärker zu verstärken und die verstärkten Energien [einem; W.H.] zweiten Gehirn wieder elektrisch zuzuführen. Damit in dem zweiten Gehirn die gleichen Gedanken ausgelöst würden, wäre es notwendig, dass der Verstärker das bei der ungeheuren Vielseitigkeit der Gedanken entsprechend vielseitige Frequenzgemisch ganz gleichmäßig verstärken würde.7 Es kam dem jungen Ardenne letztlich nur auf eines an: Nämlich auf den Einsatz seines so genannten Multifrequenz-Verstärkers, den er in Gestalt der be-
4
Albrecht Fölsing hat in der Zwischenzeit aus diesem bislang unbekannten Nachlass einen außerordentlich wichtigen Text von Heinrich Hertz transkribiert und ediert. Vgl. Hertz: Die Constitution der Materie.
5
Fölsing: Heinrich Hertz.
6
Mündliche Mitteilung von Albrecht Fölsing an den Autor.
7
Ardenne: „Kann man Gedanken hören?“, 209f.
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rühmten Loewe-Mehrfachröhre noch im Jahr zuvor mitentwickelt hatte. Da war er noch nicht mal zwanzig Jahre alt. Mit dieser Röhre konnte man mehrere Frequenzen zugleich verstärken und ein geradezu sensationelles Ein-RöhrenRadiogerät bauen, den berühmten Ortsempfänger OE 333. Prinzipbauweise und Machart dieses Empfängers war so einfach, viel einfacher und überschaubarer als die des sechs Jahre später in Marsch gesetzten Volksempfängers. Die Einfachheit der Verstärkerröhre wiederum berauscht ihren Erfinder so, dass er in der Funkschau von 1928 nun folgendermaßen abhebt: Würde es einmal gelingen, den Vorgang bei der Gedankenübertragung so auf elektrischem Wege zu verstärken, dass beim Abhören von Gedanken nicht nur Ergebnisse mit besonders hierfür empfindlichen Menschen erzielt werden, sondern dass jeder Mensch hierzu in der Lage ist, so würden sich für das private Leben, wie vor allem für die Kriminalistik unabsehbare Möglichkeiten ergeben. Beim Arbeiten in Massenfabrikationen könnten die Denkvorgänge durch die die Betätigung der verschiedenen Muskeln erfolgt, automatisch von einem ‚Vordenker‘ ausgelöst werden. Die Arbeit würde dann in einer Art Trance-Zustand erfolgen. Eine besondere Bedeutung würde die Lösung dieses Problems für Lehrzwecke haben. Vielleicht würde es auf diesem Wege möglich sein, das in lebenserfahrenen Menschen aufgespeicherte Wissen unmittelbar der Nachwelt zu erhalten und somit die Entwicklung der Menschen zu beschleunigen. Auf diesem Wege würde es dann möglich sein, das ‚Brache Land‘ im Gehirn, das die fast unbegrenzt erscheinende Aufnahmefähigkeit des Gehirnes bedingt, ebenfalls zu beackern und auszunutzen.8 Dieser hörbar präfaschistoide und zugleich zutiefst techno-spiritistische Diskurs Manfred von Ardennes muss nicht näher kommentiert werden. Das Ende seiner Geschichte kreist wieder um den Mehrfachverstärker und seine Möglichkeiten. Leider ist es nun bisher noch nicht gelungen, irgendwelche elektrischen Felder bei Denkvorgängen nachzuweisen. […] Nach diesem negativen Ergebnis trotz der empfindlichen Apparate ist zu vermuten, daß die Frequenzen elektrischer Schwingungen bei Denkvorgängen […] bei noch wesentlich höheren Frequenzen liegen.9
8
Ebd.
9
Ebd.
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Ich will es dabei bewenden lassen. Es ging darum Einblick zu nehmen in ein kleines Kapitel spiritistischer Physik der späten 1920er Jahre, geschrieben von einem großen und hochgeehrten deutschen Elektroingenieur, veröffentlicht in einer besonders von Experten aus der Arbeiterradio-Bewegung beliebten technischen Zeitschrift. Im gleichen Jahr 1927 kommt an ganz anderer, aber ebenfalls eng mit dem Radio verbundener Stelle die erste Lieferung einer Serie von Artikeln heraus, die der Redakteur der Münchner Radioillustrierten, Richard Kolb mit Namen, verfasst hatte. 1932 kommen diese Aufsätze unter dem Titel Horoskop des Hörspiels in Buchform heraus und ihre Kernsätze lauten: Die Funkwellen sind wie der geistige Strom, der die Welt durchflutet. Jeder von uns ist an ihn angeschlossen, um von ihm die Gedanken zu empfangen, die die Welt bewegen. [...] Der unsichtbare geistige Strom aber, der vom Ursprung kommt und die Welt in Bewegung brachte, ist seinerseits in Schwingung versetzt, geleitet vom schöpferischen Wort, das am Anfang war und das den Erkenntniswillen seines Erzeugers in sich trägt. [...] Die elektrischen Wellen treffen den Menschen, und es wäre nicht absurd zu denken, daß der Mensch Nerven hätte, die die Wellen unmittelbar aufnähmen und im Gehirn zur Wahrnehmung brächten. Da uns ein solches Sinnesorgan fehlt, müssen wir außerhalb von uns einen geschlossenen, auf Influenz des freien elektrischen Stromes fein reagierenden Stromkreis aufstellen, der mittels einer Membrane die in elektrische Schwingungen transformierten Worte zurückverwandelt und sie auf diese Weise mittelbar über das Ohr zum menschlichen Gehirn führt.10 Kolb expliziert in diesem Text die Theorie von der Radio-‚Stimme als körperlosen Wesenheit‘, die zumal in der deutschen Radiopraxis bis weit in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein der explizite Maßstab für die Hörspielarbeit im Radio wurde. Die verquaste Urmythologie des Worts, die Kolb hier technospiritistisch mit einem popularisierten Ausgabe des Lodgeschen Gedankenübertragungsmodells zusammenzwingt, diese technizistisch aufgeladene Urmythologie passte sehr gut zu den blinden physiologistischen Normierungen der Radiostimme durch tatsächlich bis in die 1960er Jahre hinein existierenden Vorschriften der deutschen Rundfunkaussprache, die mit rollenden Rrrs und gezogenen Iiis und dem Wohllaut der vokalen Eigenfrequenzen der Radiostimme einen weiteren Ursprungsmythos verordneten. Kolbs Theorie vom Radio ist die technosublimierte Replikation des Modells von Gedankenüber-
10 Kolb: Horoskop des Hörspiels, S. 52.
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tragung, wie es Lodge beschrieben hat und Manfred von Ardenne auszuführen suchte. Vielleicht spielt es keine Rolle, vielleicht aber doch: Richard Kolb war ein bekennender Nazi der ersten Stunde, mit an der Seite Hitlers beim Münchner Bürgerbräukeller-Putsch und als Sendeleiter der Funkstunde im Februar 1933 genau der Mann, der unter Missachtung sämtlicher Vorschriften und bis dahin geltender Rundfunkgesetze den Siegesmarsch der SA am 30. Januar 1933 im Rundfunk live übertragen ließ. Dieser Januaraufzug zu später Abendstunde war die erste politische Demonstration der Weimarer Republik überhaupt, die vom Rundfunk übertragen wurde. Was nämlich bis dahin strikt verboten war. Der Rundfunk musste frei von Parteipolitik sein und durfte keine aktuellen Reportagen bringen. Ob Strassenschlachten am Alexanderplatz und ein Großbrand im Grunewald – der Weimarer Rundfunk durfte davon live nichts berichten. Das alles missachtete Sendeleiter Richard Kolb an diesem 30. Januar 1933 und kam schon deshalb ungeschoren davon, weil wenige Wochen später Goebbels sein Chef wurde und ihn zum Intendanten der Funkstunde machte. Goebbels völlig unspiritistische Politik des Radios ist sehr deutlich nachvollziehbar. Er weiß nämlich nicht, wie das Radio, nunmehr von allen Verordnungsfesseln und Zensurvorschriften befreit, tatsächlich funktioniert. Deshalb organisiert er, sozusagen als Testfall für das Kommende, den so genannten Massenappell im April 1933: vierzehntausend SA- und SS-Leute stehen vor Hitler selbst und weitere achthunderttausend SA-Leute im Reich vor Lautsprechern still. Für die Historik einer Radiogenealogie ist der SA-Appell vom 8. April 1933 nicht nur deshalb wichtig, weil es sich vermutlich um den größten Massenappell in der militärischen Geschichte der Welt bis dahin handelt. Wichtiger ist: Mit diesem Ereignis, wenige Monate nach der Machtübernahme von Goebbels inszeniert, evolviert das Medium Radio zum Massenmedium in Deutschland. Ab April 1933 wird das Radio in Deutschland zum Massenmedium, weil ein Faktor seiner Entwicklung sichtbar wird, der bis dahin keine Kontur hatte: Die Formation einer parasozialen Funktion der Zustimmung in der medialen Rezeption. Alle Programme des Reichsrundfunk waren an diesem Tag gleichgeschaltet, dazu alle Programme im insofern bereits angeschlossenen Österreich. Ein in die Millionen gehendes Radiopublikum, zum ersten Mal live mit einem einzigen Ereignis verbunden. Dazu: achthunderttausend SA-Uniformierte, die zeitgleich überall im Reich paradieren. Vom Norden bis zum Süden, von Flensburg bis Innsbruck stehen sie vor Lautsprechern stramm, in Sälen und auf freien Plätzen noch in den kleinsten Städten des Reichs. Sie tun das, um vor Hitler, Röhm und Goebbels, in Wirklichkeit aber vor Lautsprechern, zugleich Haltung anzunehmen und die Fahnen zu schwenken, und den Worten des Führers zu lauschen. Das war das er-
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ste Live-Massenhörspiel des Radios unter der Ägide des jungen, frischgebackenen Propagandaministers Josef Goebbels. Und insofern es die tätige Inszenierung der Hörerschaft einschloss, nämlich das Strammstehen und das ‚Rührt Euch‘ seitens der übers Radio verschalteten Hörerschaft, auch das radiohistorisch einzige und einmalige Radioschauspiel über solche Entfernungen und räumliche Dimensionen. Meines Wissens ist ein Radio-Schau-Hörspiel dieses Ausmaßes in keinem anderen Land der Welt, weder in Amerika noch in Europa, je wieder inszeniert worden.
Literatur Ardenne, Manfred von: „Kann man Gedanken hören?“, in: Funkschau Juli 1928, S. 209-212. Fölsing, Albrecht: Heinrich Hertz. Eine Biographie, Hamburg 1997. Hertz, Heinrich: Die Constitution der Materie: eine Vorlesung über die Grundlagen der Physik aus dem Jahre 1884, hrsg. v. Albrecht Fölsing, Berlin u.a. 1999. Kolb, Richard: Horoskop des Hörspiels, Berlin-Schöneberg 1932. Lodge, Oliver: „A Record of Observations of Certain Phenomena of Trance, Part I.“, in: Proceedings of the Society for Psychical Research, Jg. VI, 1890, S. 443-650.
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Zur Entstehung der Medientheorie
Michael Gamper
Charisma, Hypnose, Nachahmung Massenpsychologie und Medientheorie Charles Mackay, damals in London als Journalist tätig, zählte zu den „Extraordinary Popular Delusions“ und zur „Madness of Crowds“, die er in seinem 1841 publizierten voluminösen Buch dieses Titels behandelte, auch das Phänomen der „Magnetisers“. In diesem Kapitel, das die Geschichte des Animalischen Magnetismus von Paracelsus bis zum Abbé Faria und des damit verbundenen „rage“ erzählt,1 wird auch berichtet von „delirium“ und „convulsions“,2 also von tranceähnlichen Zuständen, welche die Patientinnen erfasse, aber auch von der neuartigen „connexion“, die das Medium des Fluidum mit Gott und anderen übernatürlichen Wesen erlaube.3 Mackay verfolgte mit seinem Buch keine theoretische Ambitionen und beschränkte sich, wenn von ‚Beschränkung‘ bei einem 724 Seiten starken Buch überhaupt die Rede sein kann, auf Beschreibungen von Massenwahn anhand historischer Beispiele, doch treten dabei narrativ wiederholt Komponenten in Beziehung, die im thematischen Zusammenhang dieses Bandes von Interesse sein können und nun Thema dieses Textes sein werden: nämlich eben der Gegenstand der ‚Masse‘, weiter die Zustände von menschlichem Außersichsein und dann schließlich die Verbindungsweisen, die in diesen außergewöhnlichen Situationen zwischen den einzelnen Massengliedern wirken. Der thematische Zusammenhang, der nach 1890 in den Schriften Gabriel Tardes, Scipio Sigheles und Gustave Le Bons, den herausragenden Protagonisten der Massenpsychologie, auf die Bühne der Theoriegeschichte der Menschenmenge tritt, figuriert sich in seinen Konturen also bereits rund 50 Jahre zuvor. Und er findet sich auch schon, allerdings noch weit verstreuter, bereits 100 Jahre früher in den Berichten über die revolutionären Menschenmengen von Paris, deren außergewöhnliche, an den Wahnsinn grenzende Verfassung oft betont wird und wo auch schon über Ursachen der rätselhaften Übertragungen von Mensch zu Mensch spekuliert wird.4 1
Mackay: Extraordinary Popular Delusions and The Madness of Crowds, S. 304345, hier S. 323.
2
Ebd., S. 325, 328.
3
Ebd., S. 320.
4
Siehe dazu Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 135-169. Für die Massenpsychologie besonders folgenreich war Hippolyte Taines rewriting und wissenschaftli-
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Michael Gamper | Charisma, Hypnose, Nachahmung
Dass damit das Nachdenken über das ‚Masse‘-Phänomen schnell auch auf Konstellationen des Medialen und der Trance stößt, lässt sich so belegen. Inwiefern aber lässt sich aus diesen Kontexten eine ‚Medien-Theorie‘ gewinnen? Der vorliegende Vorschlag sieht vor, die Bemühungen französischer und italienischer Kriminologen, Juristen und Soziologen der 1890er Jahre um Begriffe und Konzepte, die das Verhalten von Menschenmengen erklären sollen, als eine Proto-Medientheorie zu verstehen – und zwar als eine Proto-Medientheorie, die sich in besonderem Maße auch um Verhaltensformen kümmert, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle anzusetzen sind und historisch in religiösen, okkultistischen und spiritistischen Kontexten anzutreffen waren. In gewissem Sinne stellen diese Überlegungen der Massenpsychologen eine Medientheorie dar, weil sie sich hauptsächlich mit Phänomenen der Übertragung beschäftigen, also mit der Frage, wie eine Verbindung Einzelner zu einer kompakten Menschenmasse zustande kommt und welche Transfers welcher Art dabei zwischen den beteiligten Personen vor sich gehen. Da wiederum die ‚Trance‘ selbst ein Vorgang der Übertragung, des Übergangs vom einen Zustand in einen anderen darstellt, ergeben sich dadurch strukturelle Homologien, die es erlauben werden, die Bezüge im Dreieck von Massenpsychologie, Trancegeschichte und Medientheorie eng zu knüpfen. Dass diese Medientheorie jedoch eine Proto-Medientheorie genannt wird, hängt damit zusammen, dass diese Form der Theoriebildung unterschieden werden soll von einer den Begriff ‚Medium‘ prägenden und auf das mediale Phänomen zentrierten Disziplin, die sich während der 1940er Jahren in den USA als Sozialforschung zu mass media herausbildete und dann zunehmend auch einen auf den ‚Medien‘-Begriff zentrierten theoretisch-philosophischen Diskurs führte. Die Massenpsychologie lieferte einen derjenigen Diskurse, die in den Entstehungsherd der eigentlichen Medientheorie gehören und dort Begriffe und Konzepte prägten, die sich einige Jahrzehnte später dann zur Disziplin ‚Medientheorie‘ verfestigten.5
1. Eröffnet wurden die Versuche einer Formalisierung der Massenpsychologie 1890 von Gabriel Tarde in seiner Philosophie pénale. Tarde wandte sich dort den sozialen Ursachen des Verbrechens und dabei auch dem „seltsamen Phänoche Kontextualisierung dieser Schilderungen in Les origines de la France contemporaine (1875-1893); siehe dazu ebd., 358-372. 5
Siehe dazu die instruktive Einleitung der Herausgeber in Kümmel/Löffler: Medientheorie 1888-1933, S. 11-18, hier besonders S. 14ff.
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men“ der „Masse“ („foule“) zu, das für den Tatbestand der Kollektivverbrechen, der Straftaten bei Aufruhr, Demonstrationen oder durch Bandenkriminalität, wesentlich war. Er richtete sich damit gegen die positivistische italienische Rechtsschule von Cesare Lombroso und Enrico Ferri und gegen deren Tendenzen, Verbrechen in Vererbung und Psychophysiologie der Täter begründet zu sehen.6 Tarde interessierte sich dabei vor allem für den Vorgang der Vergemeinschaftung der Menge, wenn sich in einem „Haufen von heterogenen Elementen, die einen den anderen unbekannt“, eine „Art von unerwarteter, spontaner Organisation“ herstelle: Aus Inkohärenz wird Kohäsion, aus Lärm wird Stimme, und diese Tausende von zusammengepferchten Menschen bilden nur noch eine einzige und unvergleichliche Bestie, ein scheußliches und monströses Raubtier, das mit einer unwiderstehlichen Bestimmtheit sein Ziel verfolgt.7 Diese Einswerdung der Menge blieb trotz der anschaulichen Beschreibung an dieser Stelle aber letztlich ein rätselhaftes Geschehen, und der rhetorische Aufwand kaschierte ein eklatantes Nicht-Wissen über die Vorgänge unter den Bedingungen der Menschenversammlung. Es sind lediglich Vergleiche und Metaphern, die Hinweise geben, in welcher Art sich die vermuteten Übertragungsbewegungen vollziehen. So ist von einem „Funken von Leidenschaft“ die Rede, der „dieses Durcheinander elektrisiere“, und von einem „Explodieren“ („éclater“), das einem „großen Gewitter“ gleiche und die „Präsenz von atmosphärischer Elektrizität“ anzeige. Neben diesen vagen physikalischen Vergleichen, die zudem sich noch auf ein Phänomen beziehen, dessen exaktes Zustandekommen bis zum experimentel-
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Siehe dazu die Auseinandersetzung Tardes mit der italienischen Schule anläßlich der Besprechung von Sicipio Sigheles La Folla Delinquente (1891) in Tarde: „Etudes criminelles et pénales“, v.a. S. 505f.: „[V]ous verrez que leurs [cyclones sanglants ; M.G.] vraies causes n’ont rien à voir avec la température, et qu’il faut les chercher dans l’atmosphère morale de l’époque, dans un confluent de circonstances historiques, de fleuves d’exemples et de traditions qui sont venus déboucher à la Révolution française.“
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Tarde: La philosophie pénale, S. 324: „Une foule est un phénomène étrange: c’est un ramassis d’éléments hétérogènes, inconnus les uns aux autres; pourtant dès qu’une étincelle de passion, jaillie de l’un d’eux, électrise ce pêle-mêle, il s’y produit une sorte d’organisation subite, de génération spontanée. Cette incohérence devient cohésion, ce bruit devient voix, et ce millier d’hommes pressés ne forme bientôt plus qu’une seule et unique bête, un fauve innommé et monstrueux, qui marche à son but, avec une finalité irrésistible.“ Übersetzung wie auch sonst, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser dieses Aufsatzes.
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len Nachweis der Elektronen durch Joseph John Thomson 1897 unklar war, verwies Tarde auf ein weiteres wichtiges Gebiet, in dem im ausgehenden 19. Jahrhundert über Übertragung nachgedacht wurde, nämlich auf die medizinische „Ansteckung“ („contagion“) und damit die Bakteriologie.8 Es sei das „Fieber von einigen“, formulierte Tarde, das „schnell das Herz aller erobere“ und sich schließlich zum kollektiven „Taumel“ („délire“) auswachse.9 Dass die Ansteckung ausgerechnet „das Herz“, also dasjenige Organ, das seit dem 18. Jahrhundert als Kreuzungsfeld von körperlichen und seelischen Vorgängen verstanden wurde, befalle, ist dabei symptomatisch für das ‚Ansteckungs‘Konzept des späten 19. Jahrhunderts, das physische und psychische Prozesse wechselseitig ineinander übergehen ließ. Den metaphorisch anzitierten Übertragungstechniken der Elektrizität und der bakteriellen Ansteckung stand in der Philosophie pénale eine weitere Erklärungsweise zur Seite, die mit den beiden genannten über strukturelle Homologien, metaphorische und metonymische Verbindungen und wissenschaftsgeschichtliche Traditionen vage in Beziehung stand. Denn Tarde erklärte die Formierung der Masse zum Tier als Konsequenz intensivierter ‚normaler‘ sozialer Interaktion. Die „wechselseitige Nachahmung“ in der Menge ergebe eine „Vervielfachung der eigentlichen Intensität von Glaubensüberzeugungen“, wenn sie sich „auf gleiche Glaubensüberzeugungen bei ähnlichen psychischen Zuständen“ beziehe.10 Mit dieser Aussage verwies Tarde auf sein Buch Les lois de l’imitation, in dem er die kulturbildende Kraft der Gesellschaft mit der suggestiven Wirkung der „Nachahmung“ („imitation“) erklärt hatte. Dieser implizite Verweis ist insofern von Wichtigkeit, als Tarde im ebenfalls 1890 erschienenen Hauptwerk ein weiteres aktuelles Feld des Übertragungswissens der Zeit heranzog und „den sozialen Menschen als echten Somnambulen“ betrachtete; es sei, so Tarde, die „Illusion des Somnambulen wie des sozialen Menschen […], Ideen, die er ausschließlich suggeriert bekommt, für spontan zu halten“.11 Die Geschichte der menschlichen Gesellschaft erklärte sich demnach durch hypnotische Beziehungen, wobei Entwicklung und Veränderung sich durch unterschiedliche Strukturformen der Hypnose ergeben hätten. Denn während in früheren autokratischen Kulturen die „Magnetisierung“ sich einseitig vollzogen habe, unterscheide sich die „heutige europäische Gesellschaft“ dadurch, 8
Zur diskursgeschichtlichen Relevanz der Bakteriologie siehe Sarasin u.a.: Bakteriologie und Moderne.
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Tarde: La philosophie pénale, S. 324.
10 Ebd., S. 325. 11 Tarde: Die Gesetze der Nachahmung, S. 100; die in Klammer hinzugesetzten französischen Begriffe aus dem Original entstammen der Ausgabe Tarde: Les lois de l’imitation.
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dass hier die „Magnetisierung sozusagen gegenseitig“ geworden sei.12 Auf diese Weise werde ein Mensch zum „Medium“ („médium“) eines anderen, der wiederum ein „Medium“ für einen weiteren sei u.s.w. Es war dieser fortgesetzte „Somnambulismus“, bei dem der Mensch und sein psychophysisches Ausdrucksvermögen als Übertragungsmedium fungierten, der für Tarde „das soziale Leben“ definierte.13 Trotz dieser Abschwächung der Intensität der Suggestionen in den modernen Demokratien auf Grund der Vielfalt der Einflüsse, die dem Einzelnen auch Wahlmöglichkeiten einräume, verblieben aber letztlich auch diese Menschen im „dogmatischen Schlummer“.14 Es sei gerade die Häufigkeit der Sozialkontakte und damit auch der Suggestionen, die den Städter zu einem „Somnambulen“ machten, für den „das Treiben und der Lärm der Straßen“ die „Wirkung von magnetischen Strichen“ habe. Es liege so ein „magischer Zauber“ („charme magique“) über den Menschen, der letztlich aber seine Soziabilität begründe und garantiere, weshalb Tarde gesellschaftsgewandte Menschen als „Schlafwandler ersten Ranges“ bezeichnete.15 In der Menschenmenge aber steigere sich dieser allgemeine Hypnotismus des Sozialen in einer Weise, dass ein beängstigendes neues gesellschaftliches Wesen entstehen könne, eben jenes kollektive „Raubtier“ der „Masse“, die sich so leicht zur „folie guerrière“, zum „Kriegswahnsinn“, hinreißen lasse.16 Mit diesen Überlegungen führte Tarde den heterogenen und traditionsreichen Komplex der Hypnose in die Sozialtheorie ein, ohne dabei zwischen ‚Somnambulismus‘, ‚Magnetismus‘ und ‚Hypnotismus‘ zu unterscheiden. Ihn interessierte an diesem Zusammenhang offensichtlich die suggestive Einflussnahme, weniger aber die Art und Weise der Übertragung, für die von Mesmer über Puységur und Braid bis Charcot und Bernheim unterschiedliche Konzepte vorgeschlagen worden waren.17 Im 1892 publizierten Aufsatz Les crimes des foules wandte sich Tarde dann nochmals der ‚Masse‘ unter kriminologischem Aspekt zu und kam dabei wieder auf seine Imitations-Theorie zu sprechen. Dieses Mal betonte er aber nicht 12 Ebd., S. 101. 13 Ebd., S. 108 (frz. S. 144). 14 Ebd., S. 106. 15 Ebd., S. 108 (frz. S. 144), 110. 16 Tarde: La philosophie pénale, S. 325f. 17 Zur Konzeptgeschichte des Animalischen Magnetismus siehe Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewussten, S. 89-256. Zur Kulturgeschichte des Mesmerismus siehe Darnton: Mesmerism and the End of the Enlightenment in France; Ego: ‚Animalischer Magnetismus’ oder ‚Aufklärung’; Barkhoff: Magnetische Fiktionen; Gruber: Die Seherin von Prevorst.
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die „wechselseitige Nachahmung“ der Massenglieder, sondern die „unilaterale Nachahmung“ des Führers durch die Vielen, die zur Eigentümlichkeit der Masse, zu ihrer „Einstimmigkeit“, führe: Die Einstimmigkeit [im Original „unanimité“; eigentlich: die „Einseeligkeit“; M.G.] ist immer eine Frucht der einseitigen Nachahmung, einer Handlung, ausgeführt durch einige Führer ohne jede Wechselseitigkeit, während die komplexere Harmonie einer zivilisierten Nation das Produkt eines Austausches von vielseitigen Einflüssen zwischen Erfindern und Nachahmern ist.18 Erst nach dieser Herstellung der Einheitlichkeit der Menge würden dann die wechselseitigen Reflexe innerhalb der Menge dazu führen, dass die einseitigen Gefühle sich so gewaltig verstärken würden.19 Dabei sei es „die Energie des Willens“ und keinesfalls die Intelligenz, die den Führern jenen Einfluss und das Prestige verschaffe, ganz ähnlich, wie auch geistig mittelmäßige Leute in besonderem Maße die Gabe der Hypnose besitzen würden.20 Damit war auch im Kontext der diskursiven Einführung der Führer-Figur erneut von Hypnose die Rede, doch auch hier war dieses Verfahren nur eines von mehreren erwähnten Übertragungs-Konzepten. Tarde erwähnte erneut „Ansteckung“ („contagion“), „Fieber“ („fièvre“) und „Epidemie“ („épidémie“)21 sowie die „magnetische Kette“ („chaîne magnétique“) und „Elektrizität“ (électricité“).22 Diese konzeptuelle Vielursprünglichkeit der Massenbindung findet sich gar noch verstärkt betont in Sigheles La Folla Delinquente von 1891, einem Werk, dass die Theoriebildung zur Menschenmenge im Wesentlichen über das Zusammentragen und die Verknüpfung bestehender Wissenselemente betrieb.23 Sighele zitierte dort die einschlägige Stelle aus Tardes Philosophie pénale und damit auch die Erklärungsansätze durch Elektrisierung und Ansteckung;24 18 Tarde: „Les crimes des foules“, S. 361: „[L]’unanimité est toujours le fruit de l’imitation unilatérale, de l’action exercée par quelques meneurs sans nulle réciprocité, tandis que l’harmonie plus complexe d’une nation civilisée est produite par un échange d’influences diverses entre inventeurs et imitateurs.“ 19 Ebd. 20 Ebd., S. 367. 1893 hat Tarde die Rolle des Führers in einem weiteren Text noch ausführlicher beschrieben; vgl. Tarde: „Les foules et les sectes criminelles“, S. 146ff. 21 Tarde: „Les crimes des foules“, S. 355, 356, 365. 22 Ebd., S. 354, 369, 370. 23 Genauer zur Textkonstitution von Sigheles Werk: Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 419ff. 24 Sighele: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, S. 43.
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vor allem „die Hypothese eines seelischen Kontagiums“ vertiefte Sighele dann anhand weiterer Zitate und einer ganzen Literaturliste, welche die Popularität des Ansteckungs-Konzepts für physische und psychische Prozesse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts belegt.25 Eine Konkretisierung der Idee des „seelischen Kontagiums“ erkannte Sighele in Tardes Suggestions-Theorie, die als Theorie der hypnotischen Übertragung in der Lage sei, sich zu den „Wahnsinns-Epidemieen“ der Massenaufläufe auszuwachsen.26 Um diese Einsichten in die Nachahmung durch Suggestion weiter abzusichern, fügte Sighele dann noch eine Stelle aus Alfred Espinas’ Des societés animales von 1878 bei, wo dies am Verhalten der Wespen erläutert und die entscheidende Bedeutung des Nervensystems für solche Vorgänge betont wird.27 Das Beispiel der Wespen, wo die Tiere erregt würden, weil sie andere erregte Tiere sähen, führte Sighele mit Espinas’ Hilfe schließlich zu einer wiederum auf zahlreiche Belege gestützten pathognomischen Theorie der seelischen Übertragung durch affektiven Ausdruck, die so den sozialen Vorgang der Suggestion genauer beschrieb.28 Doch auch dieses Erklärungsmodell bleibt eines von mehreren, wenn dazwischen wieder vom „Bacillus des Bösen“ die Rede ist, der in der Menge sich leicht entwickle.29 Bei Sighele war es nicht die analytische Schärfe, sondern die Menge der Belege und Konzepte und deren assoziative beziehungsweise metonymische oder metaphorische Kopplung, die Plausibilität herstellen sollten. Gemeinsam aber war den zu diesem wirkungsmächtigen Konglomerat zusammengeschriebenen Theorieversatzstücken, dass sie von Übertragungsvorgängen handelten, die das Bewusstsein unterliefen, die also die Menschen nicht als denkende und vernunft- bzw. verstandesmäßig handelnde Wesen adressierten – von Übertragungsvorgängen zudem, die deshalb auch in der Lage waren, die erfassten Objekte in Trance-Zustände zu versetzen. Die ‚Masse‘ war damit nicht nur in der phänomenologischen Beschreibung, sondern auch in der theoretischen Konzeptualisierung als Trance-Phänomen spezifiziert, das in der europäischen Moderne seit der Französischen Revolution seine Ausbreitung gefunden hatte.
25 Ebd., S. 51ff. 26 Ebd., S. 54ff., das Zitat S. 61. 27 Ebd., S. 70ff. 28 Ebd., S. 93-106. 29 Ebd., S. 79.
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2. 1895 publizierte Gustave Le Bon die Psychologie des foules, ein rund 150 Seiten starkes Büchlein, das praktisch ganz ohne Verweise auf andere Autoren auskommt, sich aber auf die skizzierte Diskussion und deren diskursive Vorgaben bezieht. Das „Erscheinen der besonderen Wesenszüge der Masse“ schrieb Le Bon ebenfalls der „geistigen Übertragung“, der „contagion mentale“, zu.30 Ja, die Möglichkeit fast unbegrenzter und beliebiger Übertragbarkeit machte Le Bon zufolge geradezu das Spezifikum der Masse aus: „In der Masse ist jedes Gefühl, jede Handlung übertragbar, und zwar in so hohem Grade, daß der einzelne sehr leicht seine persönlichen Wünsche den Gesamtwünschen opfert.“31 Verstehbar würden diese Vorgänge, wenn man sich die „Entdeckungen der Physiologie“ vergegenwärtige, die schon Tarde seiner Gesellschaftstheorie zu Grunde gelegt hatte, denn: Sorgfältige Beobachtungen scheinen nun zu beweisen, dass ein einzelner, der lange Zeit im Schoße einer wirkenden Masse eingebettet war, sich alsbald – durch Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache – in einem besonderen Zustand befindet, der sich sehr der Verzauberung nähert, die den Hypnotisierten unter dem Einfluß des Hypnotiseurs überkommt. Da das Verstandesleben des Hypnotisierten lahmgelegt ist, wird er der Sklave seiner unbewußten Kräfte, die der Hypnotiseur nach seinem Belieben lenkt.32 So konnte Le Bon als „Hauptmerkmale des einzelnen in der Masse“ folgende Eigenschaften benennen: Schwinden der bewußten Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und Übertragung in der gleichen Richtung, Neigung zur unverzüglichen Verwirklichung der eingeflößten Ideen.33 In der Masse war der Mensch deshalb „Automat, dessen Betrieb sein Wille nicht mehr in der Gewalt hat“, oder auch „Barbar“, der „mehrere Stufen von der Leiter der Kultur hinab“ gestiegen sei; er unterlag also wahlweise totaler
30 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 15; die französischen Zitate aus Le Bon: Psychologie des foules, S. 17. 31 Ebd., S. 15.f. 32 Ebd., S. 16. 33 Ebd., S. 17.
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mind control oder zivilisationsgeschichtlicher Regression.34 Ähnlich wie Charcot die Anwendung der Hypnose nur bei kranken Menschen für möglich gehalten hatte, schränkte auch Le Bon deren soziale Bedeutung im Vergleich zu Tarde, der sich vor allem an Bernheim orientiert hatte, zunächst stark ein, indem er sie nur auf das Verhalten des Einzelnen in der Masse bezog; dies aber nur, um sie sogleich machtpolitisch wieder massiv auszudehnen, indem er feststellte, dass in seiner Gegenwart die „Macht der Massen die einzige Kraft“ sei, „die durch nichts bedroht“ werde, und dass deshalb das „Zeitalter der Massen“ bevorstünde.35 Besonders beunruhigend war dabei, dass der Grund für den hypnoseartigen und hochsuggestiblen Zustand der vereinigten Menschenmenge ungeklärt war; es konnten eben „Ausströmungen, die von ihr ausgehen, oder sonst eine noch unbekannte Ursache“ sein, die diesen Zustand herbeiführten. Le Bon wies so schon darauf hin, woraus 26 Jahre später Sigmund Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse die Notwendigkeit seiner eigenen Schrift bezog: nämlich, dass an der Hypnose, die ja das Masseverhalten erläutern sollte, selbst „vieles […] als unverstanden, als mystisch anzuerkennen“ sei,36 dass mithin die Massenpsychologie mit dem Theorieangebot der Hypnose auch deren NichtWissen übernommen hatte und damit zwar zu plausibel erscheinenden, stets aber in ihrem Kern unerklärten Ergebnissen kommen musste.37 Dieses Nicht-Wissen, welches das epistemologische Zentrum der Massenpsychologie betraf, war dem Erfolg der Theorie allerdings eher förderlich als hinderlich. Wie schon bei Tarde und Sighele bemerkt, ermöglichte dies den Autoren Anschlüsse an verschiedene prominente Diskurse der Zeit, und die Texte blieben auch leicht verständlich, weil sie eher auf rhetorisch aufgeladene Beschreibungen als begriffliche Prägnanz oder umständliche theoretische Argumentationen setzten. Die wichtige Rolle, die Schilderungen der Schriftsteller Maupassant, Horaz, Manzoni, Lessing, Zola und Sue etwa bei Sighele zukam, belegt diese Tendenz;38 und umgekehrt beweist auch das Interesse der Literatur und später des Films an diesem Gegenstand, dass gerade die konzeptuelle Unbestimmtheit des Phänomens für die künstlerische Produktion fruchtbar gewesen ist.39 34 Ebd. 35 Ebd., S. 2. 36 Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 127. 37 Darauf weist auch Andriopoulos: „Die Revolution und der Kinematograph“, S. 33, hin. 38 Vgl. Sighele: Psychologie des Auflaufs, S. 41ff., 213; 71; 89ff.; 96f.; 145f, 212f.; 152. 39 Siehe dazu die Beispiele in Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 435-509.
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Le Bon selbst führte diese Verlegenheit zu einer Beschreibung der Masse, die vor allem durch ihre funktionelle Prägnanz bestach, die also zeigte, wie sich die Masse zusammenfügte, wie sie sich verhielt und was sie antrieb, ohne aber letzte Gründe des Warum angeben zu können – und dies alles, um dem „Staatsmann“ ein Wissen an die Hand zu geben, das ihn zwar, so die Formulierung Le Bons, nicht befähige, die Massen zu „beherrschen“ – das sei „schwierig geworden“ – das ihm aber zumindest erlaube, „nicht allzu sehr von ihnen beherrscht [zu] werden“.40 Le Bon versprach so ein Machtwissen, das nicht auf eine Überwindung der zerstörerischen Kraft im Herzen der Zivilisation zielte,41 sondern deren Kontrolle intendierte. Zu diesem Zweck versuchte er die Funktionslogik jener „Automaten“ und „Barbaren“ zu beschreiben, die in ihren tranceartigen Zuständen zunächst so unberechenbar erschienen. Zentral war für Le Bon dabei die Macht der Bilder: „Sie [die Masse; M.G.] denkt in Bildern, und das hervorgerufene Bild löst eine Folge anderer Bilder aus, ohne jeden logischen Zusammenhang mit dem ersten.“ Vor dem Richterstuhl der Vernunft konnte die „Zusammenhangslosigkeit dieser Bilder“, die Vermengung von „Persönliche[m]“ und „Sachliche[m]“ nur als „Entstellung“ von kausallogischen Verhältnissen erscheinen, für die Masse aber waren sie „Wirklichkeit“.42 Die Masse brachte so gemäß Le Bon eine eigene Realität hervor, sie verfügte aber auch über eine eigene „Massenlogik“, die nach Kriterien der „Ähnlichkeit“, der (zufälligen) „Aufeinanderfolge“ und der „vorschnelle[n] Verallgemeinerung von Einzelfällen“ urteilte, womit die Möglichkeit, „Wahrheit und Irrtum voneinander zu unterscheiden und ein scharfes Urteil abzugeben“, ausgeschlossen war.43 Es war dabei die „Ansteckungskraft“ der Bilder, die sich wie „Mikroben“ in einer Herde verbreiteten und so „Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren“ verteilten.44 Die Massen befänden sich dabei „ungefähr in der Lage eines Schläfers, dessen Denkvermögen im Augenblick aufgehoben ist, so daß in seinem Geist Bilder von äußerster Heftigkeit aufsteigen“. Die Masse begründete so einen fiktiven gesellschaftlichen Zu-
40 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 6. 41 Vgl. ebd., 4f.: „Bisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar in diesen großen Zerstörungen der alten Kulturen. […] Vermöge ihrer nur zerstörerischen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei.“ 42 Ebd., S. 23. 43 Ebd., S. 42f. 44 Ebd., S. 89.
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stand, indem sie den „Schein“ dem „Sein“, das „Unwirkliche“ dem „Wirklichen“ vorziehe.45 Das Wissen um die Macht der Bilder war Le Bon zufolge in der rhetorischen Übertragungstheorie niedergelegt. Diese war ein Wissen, das die Disposition des Publikums, den „Zustand gespannter Aufmerksamkeit“, mit dem adäquaten Mittel, der „Suggestion“, bearbeitete, um ein optimales Ergebnis, nämlich „Kollektivtäuschungen“, hervorzurufen.46 Und es war ein Wissen, dass um die passenden Techniken der „Übertragung“ wusste, nämlich um „Behauptung“, „Wiederholung“ und „Ansteckung“, die bei der versammelten Menschenmenge die größten Effekte erzeugten.47 Umgesetzt wurde dieses Wissen aber durch den „Führer“, der einerseits diese Verfahren kannte, andererseits aber auch über eine besondere Eigenschaft verfügte, nämlich das „prestige“.48 Das „prestige“ war eine Gabe, die der Führer besitzen musste, um auf die Umgebung eine „fascination“ auszuüben, welche die „kritischen Fähigkeiten“ ausschaltete und die „Seelen mit Staunen und Ehrfurcht“ erfüllte.49 „Die Gefühle, die so hervorgerufen werden“, so Le Bon weiter, seien „unerklärlich“, aber „wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion, der ein Hypnotisierter unterliegt“.50 Er bezeichnete diese Wirkungsweise auch als „une fascination véritablement magnétique“ und sprach dem „prestige“ eine „ansteckende[ ] Wirkung“ zu.51 Rudolf Eisler übersetzte „prestige“ und „fascination“ mit „Nimbus“ und „Zauber“, möglich wäre aber auch, hier den Weberschen Begriff des ‚Charismas‘ einzusetzen, der mit seiner Wortgeschichte ebenfalls auf einen religiösen Zusammenhang zurückverweist und damit den alle Alltäglichkeit und institutionellen Bindungen überschreitenden Charakter dieser Anlage der Führer herausstreicht.52 Deutlicher als mit „prestige“ und „fascination“ wird in diesen Übersetzungsversuchen betont, was Le Bon sonst klar herausarbeitete: dass nämlich dem abgründigen Irrationalismus der Massen und ih45 Ebd., S. 43f. 46 Ebd., S. 25. 47 Ebd., S. 88 sowie S. 88ff. 48 Le Bon: Psychologie des foules, S. 108-118. 49 Ebd., S. 109; Le Bon: Psychologie der Massen, S. 93. 50 Ebd. 51 Le Bon: Psychologie des foules, S. 111; Le Bon: Psychologie der Massen, S. 99f. 52 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 654-687; Weber unterscheidet sich von der Massenpsychologie prinzipiell durch seinen herrschaftssoziologischen Ansatz, auch er betont aber stark die genannten Faktoren der Nicht-Alltäglichkeit, des Anti-Institutionellen und des Transzendenten als typisch für diesen Herrschaftstypus (vor allem, S. 654ff.). Zur Begriffsgeschichte von ‚Charisma‘ siehe Mühlmann: „Art. Charisma“, zu ‚Nimbus‘ siehe Gerst: „Art. Nimbus“.
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rem aus allen gewöhnlichen Bindungen heraus gelösten Zustand bei ihren Führern ähnliche Qualitäten des Vernunft- und Kontrollverlusts entsprechen. So seien die „Führer keine Denker, sondern Männer der Tat“, sie hätten „wenig Scharfblick“ und seien vorwiegend „unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten“ zu finden. Bei dieser auffallenden Übereinstimmung der Eigenschaften von Massen und Führern erstaunte es auch nicht, dass der Führer oft „zuerst ein Geführter“ war, „der selbst von der Idee hypnotisiert war, deren Apostel er später wurde“. Diese habe „ihn so sehr erfüllt, daß neben ihr alles verschwand und daß ihm nun jede gegenteilige Anschauung als Irrtum und Aberglaube“ erscheine. Ein Beispiel hierfür sei Robespierre gewesen, „der von seinen wunderlichen Ideen so hypnotisiert war, daß er sich zu ihrer Verbreitung der Mittel der Inquisition bediente“.53 Dies alles aber implizierte, dass ‚Führer‘ und ‚Masse‘ keine voneinander trennbaren Entitäten waren; vielmehr waren sie Elemente eines sich selbst organisierenden Systems, dessen Merkmal ein Zustand instabiler und durch keine äußeren Richtlinien vorgegebener Kontrolle war. Deshalb war der Führer für die Funktionsordnung kein notwendiges Glied; die ohnehin starken autopoietisch organisierten phantasmatischen Kräfte der Masse konnten auch von einem „Werk“, einer „Idee“, von „Toten“ oder „Gottheiten“ angeregt werden, denen Le Bon ebenfalls „Nimbus“ zusprach.54 Der Führer konnte aber, so Le Bon, auch durch „Zeitungen“ ersetzt werden, „die ihren Lesern Meinungen anfertigen und Redensarten bieten, welche alles Denken ersparen“.55 Dieser Hinweis auf das führende Massenmedium der Zeit war aber nicht der einzige, der das Massenverhalten mit medialen Arrangements in Beziehung setzte. Denn zur Verdeutlichung der Funktionalität der Menschenmenge bezog sich Le Bon wiederholt auf verschiedene historische Medienformen. So war es zunächst die „Legende“, die als fiktionalnarratives Verfahren die „Entstellung“ von Tatsachen durch die Masse verdeutlichen sollte.56 Le Bon nutzte dabei die Eigenheit der Legende, einzelne unverbundene Episoden zu einer Erzählung wunderbarer Begebenheiten zusammenzufassen, um sie mit der Bilderassoziation der Masse zu vergleichen. Beiden narrativen Ordnungen ist gemeinsam, dass sie eine Minimalisierung der Wirklichkeitsbindung ihres Konstrukts mit einer Maximalisierung der Effekte auf die Zuhörer beziehungsweise Leser verbinden. Auf Grund dieser narrativen Fiktionslogik konnte Le Bon behaupten, dass es die „legendären Helden,
53 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 83. 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd., S. 85. 56 Ebd., S. 23.
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nicht die wirklichen Helden“ gewesen seien, die „Eindruck auf die Massen“ machten; er verdeutlichte damit, dass die Einzelbilder erst in der Aufbereitung durch die narrative Technik der Legende Aufnahme in der „Massenseele“ fanden.57 Um die Vorbedingungen der narrativen Funktionsweise der Massenphantasie nach dem Vorbild der Legende deutlich zu machen, nämlich den Umstand, dass „[k]ein Band logischer Übereinstimmung oder Folgerichtigkeit“ die „Vorstellungsbilder“ der Masse miteinander verbinde, suchte Le Bon nach einem weiteren prägnanten Medienvergleich. Er fand ihn in der Projektionstechnik der Laterna magica, welche den Mechanismus der Einbildungskraft veranschaulichen sollte. Die Bilder in der „Massenseele“, so Le Bon, „können einander vertreten wie die Gläser der Laterna magica, die der Vorführer der Schachtel entnimmt, in der sie übereinandergeschichtet lagen“.58 Auch dabei ging es um die Umsetzung einer willkürlichen virtuellen Präsenz von Bildern im Raum in eine zeitliche Folge dieser Bilder, die eine zufällige räumliche Ordnung aktualisierte und ihr damit auch eine narrative Struktur gab. Dasjenige Medium aber, das die Massen am meisten ergreife, war laut Le Bon das Theater. „Theatervorstellungen, die das Bild in seiner klarsten Form geben“, hätten „stets einen ungeheuren Einfluß auf die Massen“, denn hier würden „[a]lle Versammelten […] gleichzeitig dieselben Gefühle“ empfinden, „und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen, so geschieht das nur, weil auch der unbewusste Zuschauer nicht im Zweifel sein kann, daß er das Opfer einer Täuschung ist und über eingebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat“. Manchmal aber, gerade im „Volkstheater“, würde das Gefühl für das „Unwirkliche“ des Theaters verschwinden, und es sei schon vorgekommen, dass der „Schauspieler, der den Verräter spielte, nach Schluß der Vorstellung“ geschützt werden musste, „um ihn den Angriffen der über seine vermeintlichen Verbrechen empörten Zuschauer zu entziehen“.59 Es ist nahe liegend: Die montageartige Narration der Legende plus die Vorführungstechnik der Laterna Magica plus das raum-zeitliche Arrangement des Theaters ergibt: das Kino.60 Es erstaunt denn auch nicht, dass die Massen57 Ebd., S. 29. Der Begriff „Massenseele“ bildet den Titel des ersten Kapitels von Le Bons Buch. 58 Ebd., S. 39. 59 Ebd., S. 44. 60 Stefan Andriopoulos („Die Revolution und der Kinematograph“, S. 34ff.) und Nicolas Pethes (Spektakuläre Experimente, S. 30) haben darauf bereits hingewiesen, wobei beide die Bildmedien Laterna Magica und Theater, nicht aber das Sprachmedium Legende erwähnen. Damit wird die Proto-Medientheorie Le Bons einseitig auf zukünftige Entwicklungen bezogen, wobei deren traditionelle, auf ‚alte‘ Medien abgestützte Züge verdeckt bleiben.
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psychologie fruchtbar gemacht wurde, wenn es darum ging, „das eigenartig Faszinierende, welches man bei der Wirkung des Kinematographen auf die Masse beobachten kann, einigermaßen zu erklären“.61 Schon der Begriff des „Faszinierenden“, den Hermann Duenschmann 1912 in seiner „sozialpolitischen Studie“ Kinematograph und Psychologie der Volksmenge verwendete, nahm die Wirkung des „prestige“ auf, die Le Bon dem Führer zusprach und die Duenschmann nun auf den kinematischen Vorführungsapparat übertrug. Nach einer kurzen Zusammenfassung der wichtigsten Theoreme Le Bons pointierte Duenschmann die Spezifik des Kinos innerhalb des massenpsychologischen Modells, wobei ihm hierbei die Le Bonsche Einsicht in die Bilderfixiertheit der „Volksmenge“ entscheidend schien, die er im Fall des Kinos in zweierlei Hinsicht zusätzlich gesteigert sah. Zum einen ging Duenschmann davon aus, dass das gesprochene Wort stärkere Bildwirkungen erzielen könne als das geschriebene, dass aber „das Beispiel“ beide noch übertreffe. Deshalb sprach er der „Pantomime“ und dem „Lichtspielbild“, die beide sich ganz auf die visuelle Darbietung konzentrieren würden, eine allen anderen Medien überlegene „suggestive Wirkung auf die Einbildungskraft der Menge“ zu; selbst das Theater müsse hier nachstehen, weil das gesprochene Wort die reine visuelle Kraft der Bilder mindere.62 Schon bei Le Bon war eine Tendenz festzustellen gewesen, die Wirkungskraft visueller Bilder derjenigen der sprachlichen vorzuziehen,63 Duenschmann allerdings radikalisierte diese Haltung angesichts der neuen Apparatur des Kinos. Zum anderen führte Duenschmann „die Möglichkeit der mechanischen Vervielfältigung“ des Films an, die „eine numerisch nahezu unbegrenzte Steigerung der Massenwirkung“ zulasse. Wenn man „bestimmte Films […] gleichzeitig oder rasch hintereinander in den zahlreichen Lichtspielbühnen der großen Städte vorführen“ lasse, so könne man „eine prompte suggestive Beeinflussung der Massen erreichen […], wie dies in ähnlicher Stärke in gleicher Ausbreitung und Schnelligkeit sich durch keinen Leitartikel, keine gesprochene Rede, keine Oper, kein Drama erzielen“ lasse.64 War Le Bon noch skeptisch gewesen bezüglich einer konsistenten Kontrolle und einer präzisen Steuerung der Masse, so meinte Duenschmann in der intensivierten Wirkungsweise und der effizienten Distribuierung des Films die Möglichkeit zu erkennen, die Volksmenge „demagogisch zu beeinflussen“.65 Die anarchische Trance der
61 Duenschmann: „Kinematograph und Psychologie der Volksmenge“, S. 89. 62 Ebd., S. 90f. 63 So in seinen Ausführungen zum Theater; Le Bon: Psychologie der Massen, S. 44. 64 Duenschmann: „Kinematograph und Psychologie der Volksmenge“, S. 91. 65 Ebd., S. 92.
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Masse war damit durch den Apparat des Kinematographen diszipliniert; die phantasmatischen Energien waren in eine Richtung gedrängt und politisch nutzbar gemacht. Noch deutlicher formulierte Hugo Münsterberg diesen Zusammenhang vier Jahre später aus psychotechnischer Sicht in seiner Studie The Photoplay: Der Nachdruck, mit dem die Lichtspiele das Publikum in ihrem Bann halten, kann nicht ohne starke soziale Auswirkungen bleiben. Selbst von auftretenden Sinneshalluzinationen und Illusionen ist berichtet worden; Neurastheniker neigen besonders dazu, Berührungs-, Temperatur-, Geschmacks- oder Geräuscheindrücke vom auf der Leinwand Gesehenen zu beziehen. Da sich das Bewußtsein so vollständig auf die bewegten Bilder fixiert, werden die Assoziationen lebhaft wie Realitäten. […] Nun leuchtet es aber ein, daß ein derart durchdringender Einfluß mit Gefahren verbunden ist. Je intensiver sich die Eindrücke unserem Bewußtsein aufdrängen, desto eher müssen sie zu Ausgangspunkten der Nachahmung und anderer motorischer Reaktionen werden. Der Anblick von Verbrechen und Laster kann sich dem Bewußtsein mit verhängnisvollen Folgen aufnötigen. Die normale Widerstandskraft bricht zusammen, und das moralische Gleichgewicht, das auf Grundlage der verinnerlichten Stimuli des engeren Routinelebens gehalten werden könnte, kann unter dem Druck realistischer Suggestionen verloren gehen.66 Auch wenn Münsterberg dem Bewusstsein einen höheren Stellenwert einräumte als Le Bon und Duenschmann, erkannte auch er die Gefahr des Zusammenbruchs des Wirklichkeits-Gefühls unter dem Eindruck suggestiver Kinobilder. Ähnlich wie Duenschmann, der sich von staatlicher Kontrolle der Filmproduktion und -distribution eine günstige Entwicklung erhoffte,67 antizipierte Münsterberg mögliche positive massenpsychologische Effekte durch das Kino. Da „täglich Millionen im Bann der Vorführungen auf der Leinwand“ stünden und auch der „hohe Grad ihrer Suggestibilität während der Stunden im dunklen Haus […] als erwiesen angenommen werden“ könne, habe der „zuträgliche Einfluß, der vom Lichtspiel ausgeht“, auch eine „unvergleichliche Macht, wenn es um die Formung und den Aufbau der nationalen Seele“ gehe.68 In der spezifischen Fassung der suggestiven Übertragung durch das Medium Kino hatte sich damit der Effekt auf die Trance-Kollektive gegenüber Le 66 Münsterberg: Das Lichtspiel, S. 99f. 67 Duenschmann: „Kinematograph und Psychologie der Volksmenge“, S. 93-95. 68 Münsterberg: Das Lichtspiel, S. 100.
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Bons Befürchtungen förmlich verkehrt. Die launische „Masse“ als „Spielball der äußeren Reize“,69 dieses höchst unzuverlässige politische Subjekt einer unsicheren Gegenwart und einer katastrophischen Zukunft in „verworrener Anarchie“,70 war nun durch die Kontrollinstitution Kino zum Objekt gouvernementaler Praktiken geworden, welche die Vielen zur stabilen sozialen Einheit der Nation zusammenschweißen sollten. Trance-Zustände, die Situationen des Außersichseins der Massenmenschen, waren damit nicht mehr Merkmale der ungelenkten Selbstverfügung eines chaotischen Kollektivs, vielmehr dienten sie nun staatlicher organisierter mind control. An diese Äußerungen aus dem historischen Diskursraum der massenpsychologischen Proto-Medientheorie lassen sich zwei weiterführende thesenhafte Überlegungen anschließen. Zum einen zeigt sich in den Äußerungen von Le Bon, Duenschmann und Münsterberg, dass die visuell einwirkenden Bildmedien im massenpsychologischen Diskurs stärker als steuernd verstanden wurden, während, wie sich an der konstitutiven Bedeutung der Legende für Le Bons eher anarchisch-chaotisches ‚Masse‘-Konzept zeigen lässt, Sprachmedien als der Einbildungskraft der Subjekte mehr Raum lassend und daher eher als eine Selbstorganisation des Sozialen ermöglichend eingeschätzt wurden. Und zum anderen könnte man, freilich eher spekulativ, behaupten, dass das „prestige“ des Massenführers in der Kino-Debatte in den Projektionsapparat eingehe und auf der Leinwand als Charisma des ‚Stars‘ wieder als Bild erscheine.
3. Der skizzierte Diskursstrang, der von Le Bons massenpsychologischen Übertragungs-Konzepten in eine frühe Theorie des Kinos führt, versteht unter ‚Masse‘ prinzipiell eine versammelte Menge; die Autoren gehen also von einem zeit-räumlichen Kontinuum aus, in dem sich die Szenarien suggestiver Trance abspielen. Diese Voraussetzung gilt aber nicht mehr, wenn man sich der ‚Masse‘-Theorie von Tarde nach 1892 zuwendet. Schon 1893 unterschied Tarde in seiner Schrift Les foules et les sectes criminelles die Wirkung eines Führers, der „um sich herum“ („autour de soi“) wirke, von demjenigen, der „auf Distanz“ („à distance“) Einfluss ausübe.71 In dieser Weise differenzierte er zwischen Mengen, die einer „Nahwirkung“ („action de près“) oder einer „Fernwirkung“ („action à distance“) ausgesetzt seien.72 Diese Unterscheidung wiederum bilde69 Le Bon: Psychologie der Massen, S. 19. 70 Ebd., S. 4. 71 Tarde: „Les foules et les sectes criminelles“, S. 174. 72 Ebd., S. 175.
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te den Kern von Tardes neu formierter Gesellschaftstheorie, die er 1898 in Le public et la foule vorlegte. Im Vorwort zu L’opinion et la foule, jener Textsammlung also, in der 1901 Le public et la foule wiederveröffentlicht wurde, postulierte Tarde Sozialwissenschaft als „Kollektivpsychologie“ („psychologie collective“) beziehungsweise „Sozialpsychologie“ („psychologie sociale“), die sich mit den „interspirituellen“ („inter-spirituelle“) Beziehungen der Menschen und dem „Austausch der Geister“ („les rapports mutuels des esprits“) befasse.73 Tarde verfolgte also weiterhin eine soziologische Theoriebildung, die sich gegen Emile Durkheims empirisch und statistisch basierte Soziologie wandte und sich mit der Kommunikation von bewussten und unbewussten geistigen Kräften befasste, einem Gebiet also, dem sich auch hermetische und okkultistische Traditionen, mesmeristische Bewegungen und der Spiritismus mit großem Interesse zugewandt hatten.74 Zwar distanzierte sich Tarde von jeder „mysterienhaften Konzeption“ („conception mysterieuse“) solcher Verhältnisse, doch er befand sich weiterhin auf einem Feld, das einer empirischen Methodologie nicht zugänglich und von einem fundamentalen Nicht-Wissen über das Wie, Was und Warum der Verhältnisse durchzogen war, wie dies Le Bon konstatiert hatte und später Freud feststellte. Tardes neuer Gegenstand war nun „le public“, ein Gegenstand, der in seiner Semantik zwischen den deutschen Wörtern ‚Publikum‘ und ‚Öffentlichkeit‘ schwankt. „Le public“ unterscheidet sich von der „Masse“, von „la foule“, indem es eine „verstreute Masse“ („foule dispersée“) darstellt, „bei der der wechselseitige Einfluss der Geister eine Fernwirkung geworden ist, und zwar über immer größere Entfernungen hinweg“.75 „Le public“ ist damit „ein rein spirituelles Kollektiv“, eine „Verstreuung physisch getrennter Individuen“, deren „Zusammenhalt nur mental“ ist. Das Gemeinsame dieses Kollektivs, die „Meinung“ („opinion“), kommt deshalb, im Gegensatz zur „Masse“, durch „Suggestionen“ zustande, ohne dass sich die Menschen „berühren“, „sehen“ oder „hören“ würden.76 Damit wurden die Formen der suggestiven Übertragung nochmals neu verhandelbar; sie waren nun zu definieren für Individuen, die keinerlei direkte körperliche Kontakte hatten, die sich womöglich nicht einmal kannten. Entscheidend für die Übertragungsleistungen im „public“ waren Tarde zufolge die technischen Errungenschaften. Die Massenpresse war dabei das meh-
73 Tarde: L’opinion et la foule, S. 29. 74 Vgl. Davis: The Philosophy of Spiritual Intercourse. 75 Tarde: L’opinion et la foule, S. 30. 76 Tarde: „Le public et la foule“, S. 31f.
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rere technische Innovationen verkoppelnde Beispiel, an dem Tarde den Fernwirkungs-Funktionalismus am besten erläutern konnte, womit Sprache und Schrift neuerdings zu kollektivpsychologischen Leitmedien wurden. Die durch das Zeitungswesen distribuierten Suggestionen wirkten dabei aber nicht einfach vom Journalisten auf den Leser; Tarde insistierte darauf, dass es das unbewusste Wissen des Zeitungslesers sei, dass er „diese Idee oder diesen Willen im gleichen Moment mit einer großen Zahl anderer Menschen“ teile, die zur suggerierten „Meinung“ führe. Es war also erneut die für die Zivilisation so grundlegende wechselseitige Nachahmung, die auch im Fall der Übertragungen im „public“ entscheidend war.77 Dass eine solche „rein ideale Suggestion“ und damit eine „vergeistigte Masse“ („foule spiritualisée“) möglich werden konnte, setzte, so Tarde, allerdings ein jahrhundertelanges elementareres soziales Leben voraus, bei dem Nah-Suggestionen („suggestion à proximité“) ausgetauscht worden waren.78 Die „publics“ sind so evolutionär aus den „foules“ hervorgegangen, sie waren aber wiederum bis in die Gegenwart auch immer wieder Ausgangspunkt von Massenbildungen.79 Insofern waren „public“ und „foule“ zwar in ihrer Organisationsform und Charakteristik unterscheidbare Sozialformen, die aber wechselseitig ineinander überführbar waren. Für die Entwicklung der „publics“ waren neben der Massenpresse weitere technische Entwicklungen wichtig, die den Transport des Denkens über Distanzen hinweg beförderten. Das „Denken“ („pensée“) war für Tarde die „soziale Kraft schlechthin“ („force sociale par excellence“),80 und deswegen gehörten Druckerpresse, Eisenbahn, Telegraph und Telephon zu den entscheidenden Errungenschaften, die dessen rasche Zirkulation über große Entfernungen hinweg ermöglichten.81 Die Welt der „publics“ war also die Welt der zuerst mechanischen, dann thermodynamischen und schließlich elektromagnetischen Übertragungsmedien, welche die eigentlichen Träger des suggestiven Austauschs in diesen sozialen Einheiten waren. Mit der Durchsetzung des „Zeitalters des public“ („ère du public“), wie Tarde explizit und polemisch gegen Le Bon formulierte,82 veränderten sich im Wechsel der Übertragungs-Formen aber auch die Qualitäten des Sozialen. Ein wesentlicher Unterschied, so Tarde, sei, dass man gleichzeitig mehreren „pub77 Ebd., S. 32f. 78 Ebd., S. 34. 79 Ebd., S. 38, 48. Tarde nennt die Bartholomäusnacht und die Septembermorde als historische Beispiele, in denen Massengräuel von „publics“ vorbereitet worden seien (S. 68f.). 80 Ebd., S. 35. 81 Ebd., S. 38. 82 Ebd.
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lics“ angehören könne, aber immer nur einer „foule“. Der „Gewalt ohne Gegengewicht“, die das Wesen der Masse ausmache, sei deshalb der Angehörige eines „public“ nicht ausgeliefert; bei der „Vereinigung der Ideen und Leidenschaften“ würde mehr Spielraum bestehen für individuelle Differenzen, was insgesamt einen „Fortschritt in der Toleranz“ bedeute.83 Auffallend an Tardes Text von 1898 ist der aufgehellte Grundton dieser soziologischen Skizze gegenüber den früheren kulturkritischen Arbeiten zur „Masse“. Explizit räumte Tarde ein, er wolle seinen Aufsatz nicht mit einer „pessimistischen Überlegung“ schließen und verlieh seiner Zuversicht Ausdruck, dass „die sozialen Veränderungen, die wir der Presse schulden, im Sinne der Vereinigung und letztlich der Befriedung ausfallen werden“.84 Die „Umformung aller sozialen Gruppen in publics“ begriff Tarde als Intellektualisierung, die sich letztlich mildernd auswirken sollte, auch wenn er zugestehen musste, dass auch die „publics“ „intolerant, hochmütig, eingebildet und selbstgefällig“ seien und „das intensive kollektive Leben“ auf das „Gehirn“ wie ein „schrecklicher Alkohol“ wirke.85 Solche Äußerungen weisen darauf hin, dass auch im sozialen Geflecht der „publics“ weiterhin jene hypnotische Kraft wirkte, die schon den Massen ihre gefährlichen Suggestionen zugetragen hatte. Jede Zeitung habe ihre spezifische publizistische „Attraktion“ („clou“), welche „die Aufmerksamkeit aller Leser fessle, die durch diesen glänzenden Gegenstand hypnotisiert“ seien.86 Diese hypnotische Gewalt, verbunden mit den strukturellen Eigenschaften der „publics“, barg aber auch die erhöhte Gefahr des Missbrauchs moderner sozialer Formationen. Diese bestand in den verbesserten Gelegenheiten für herausragende Individuen, sich in den „publics durchzusetzen“, beziehungsweise in der erweiterten Möglichkeit von individuellen Meinungen, sich zu verbreiten.87 Denn der „Publizist“ („publiciste“) wirke zwar „zu einem gegebenen Zeitpunkt viel weniger intensiv“ auf sein „public“ ein, sein „Einfluss“ sei durch seine „Dauerhaftigkeit“ („continuité“) aber „mächtiger als der kurze und vorübergehende Anstoß“ des „Führers“ („conducteur“) einer Masse. Zudem werde der Publizist unterstützt durch die in die gleiche Richtung zielenden wechselseitigen Einwirkungen der Leser untereinander.88 Während die „Masse“ gar häufig ihren „Führer“ („chef“) leite oder gar erschaffe, sei der
83 Ebd., S. 38f., 48. 84 Ebd., S. 70. 85 Ebd., S. 55, 54f. 86 Ebd., S. 42. 87 Ebd., S. 44. 88 Ebd., S. 40.
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„große Journalist“ der Erfinder seines „public“. Dies war nicht zu verstehen als völlige Verfügung des Publizisten über seine Leser, aber als klare Lokalisierung der Initiative sozialer Prozesse auf Seiten des aktiven Individuums. So könne der Publizist durch seinen „Agitationsversuch“ auf einen „weit verstreuten Geisteszustand“ („état d’esprit disséminé“) wie beispielsweise den „Antisemitismus“ treffen, der aber noch „ganz individuell, wenig intensiv, noch kaum ansteckend, unbewusst seiner selbst“ sei und erst durch die erhobene Stimme des Publizisten zur „kollektiven Kraft“ werde. Daraus schloss Tarde, dass „die individuelle Prägung des Geistes ihres Urhebers eine Öffentlichkeit stärker kennzeichne als der nationale Geist“, ein Verhältnis, das sich bei der „Masse“ gerade umgekehrt darstelle.89 Diese starken Einflussmöglichkeiten des Einzelnen, die sich bis zum „Despotismus der großen Publizisten“ steigern könne, waren deshalb so gravierend, weil sie auf ein prinzipiell zu außerordentlicher Einheitlichkeit befähigtes Kollektiv ausgeübt wurden.90 Tarde schilderte die Angleichung von Zeitung, Publizist und Leserschaft als Prozess wechselseitiger Selektionen und Abstoßungen, der schließlich zur Herausbildung einer „homogenen Gruppe“ führe, in der den „Vorurteilen“ und „Leidenschaften“ der Leser geschmeichelt werde und der Journalist eine leicht zu führende „folgsame und leichtgläubige“ Leserschaft vorfinde.91 Genau darin bestehe die „Gefahr der neuen Zeiten“: Die geschlossene Struktur gewisser „publics“ erlaube dem Publizisten, mit großer „Kraft“ und „Verlässlichkeit“ auf seine Leser einzuwirken.92 Die „publics“ selbst seien zwar nicht zu direkten Handlungen in der Lage, könnten aber ihren Willen den Politikern aufdrängen, die diesen dann ausführen müssten.93 So könne es zu „Verbrechen und Vergehen der Öffentlichkeiten“ kommen, die sich gegenüber denen der „Masse“ dadurch auszeichneten, dass sie erstens „weniger abstoßend“, zweitens „weniger aggressiv und gewalttätig, aber eigensüchtiger und schlauer“, drittens „in weiterem und längerem Umfang unterdrückend“ und viertens „ihrer Straffreiheit sicherer“ seien.94 In „gewissen kritischen Momenten im Leben der Völker“, wenn etwa eine „nationale Gefahr“ heraufziehe, könne die Übereinstimmung der „Öffentlichkeiten“ zu einer „Meinung“ („opinion“) „fast vollständig“ und damit eine ganze „Nation“ zu einem „großen Bündel fiebriger Leser“ werden.95 In diesen Situationen, etwa 89 Ebd., S. 40f. 90 Ebd., S. 44. 91 Ebd., S. 41. 92 Ebd., S. 42. 93 Ebd., S. 62. 94 Ebd., S. 65.
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in Zeiten des Kriegs, könnten dann die Einwirkungen einzelner Publizisten besonders gravierend sein. Tarde hat in Le public et la foule den Aufstieg der Massenpresse ab Mitte des 19. Jahrhunderts und Eindrücke der Dreyfus-Affäre verarbeitet;96 sein Konzept der „Öffentlichkeit“ als dominanter sozialer Gruppierungsform weist aber weit über den damals aktuellen Kontext hinaus und bietet eine eigenwillige Interpretation moderner Soziabilität. Tarde hat die medientechnische Entwicklung und die funktionale Differenzierung der Gesellschaft als wesentliche Motoren des sozialen Lebens begriffen und in diesen Tendenzen die Genese einer neuen Qualität des Sozialen erkannt. Der Einzelne ist bei Tarde als Angehöriger von „publics“ stets den Suggestionen der anderen ausgesetzt und trägt damit seine ‚Massenhaftigkeit‘ unabhängig von einer konkreten Versammlung als „Masse im Hirn“ („foule cérébrale“) stets in sich.97 Dadurch ist auch er unabhängig vom konkreten Zusammenkommen in Auflaufmassen hypnotischen Suggestionen ausgesetzt und bleibt so stets Glied eines Trance-Kollektivs. Die Neuformierung der Massenpsychologie als Theorie der „publics“ macht dieses Wissen aber auch adaptierbar für medientheoretische Überlegungen jenseits der Kino-Debatte. Die Tardesche Theorie, entwickelt an der Beobachtung der Massenpresse der Zeit, bietet Anschlussmöglichkeiten für die Diskussion anderer medialer Arrangements, die auf der „verstreuten Masse“ als Adressaten beruhen, also etwa für diejenigen des Radios oder des Fernsehens. Dass die deutsche Fernsehdebatte in den 1950er Jahren, wie Christina Bartz gezeigt hat, sich nochmals wesentlich auf massenpsychologische Theoreme beziehen konnte, hängt auch mit dieser Neuorientierung Tardes zusammen – auch wenn sein Name in diesem Zusammenhang selten fällt.98 Und Tarde bietet darüber hinaus auch das theoretische Rüstzeug, um avancierte zeitgenössische Verkopplungen von „public“ und „foule“ als medientechnisch gestützte hypnotische Organisation von Trance-Kollektiven zu begreifen, nämlich etwa die zum public viewing zusammengekommenen Fan-Massen bei den Übertragungen von Fußball-Großereignissen.
95 Ebd., S. 47f. 96 Tarde hat die Anspielungen auf Geschehnisse seiner Gegenwart minimiert, um nicht in Polemiken hineingezogen zu werden, die von seinen wissenschaftlichen Anliegen ablenken würden. Gleichwohl hat er die Dreyfus-Affäre in seinem Text, wenn auch in einem nebensächlichen Zusammenhang, erwähnt (ebd., S. 39). Zur Zeitbezogenheit von Tardes Ansatz siehe Ginneken: Crowds, Psychology, and Politics 1871–1899, S. 204-222. 97 Tarde: „Etudes criminelles et pénales“, S. 504. 98 Bartz: Massenmedium Fernsehen.
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Schwindel, Hysterie, Zerstreuung Zur Archäologie massenmedialer Wirkungen „Bezaubert zu sein ist der Höhepunkt der Zerstreuung. Es bedeutet, gegenüber der Welt, wie sie ist, wunderbar gleichgültig zu werden. Doch diese Gleichgültigkeit stützt sich, wenn man so sagen kann, auf die Gegenstände, die sie übersieht.“1
Schwindel, Hysterie und Zerstreuung gelten als krankhafte subjektive Zustände, die im medizinischen Diskurs mit Störungen bzw. Schwankungen der Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht und von daher gern einer Pathologie des aufgeklärten bürgerlichen Subjekts, seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seines Bewusstseins zugeordnet werden. Diese Zuschreibung beruht auf einer Vorstellung von Normalität, die abweichende psychische Zustände als Krankheit begreift. Jonathan Crary hat jedoch in seiner Studie Suspension of Attention „Gegenformen der Aufmerksamkeit“ untersucht und herausgearbeitet, dass Aufmerksamkeit kontinuierlich „in Zustände der Zerstreuung, des Wachtraums, der Bewußtseinsspaltung und der Trance“ übergeht und daher „mitnichten mit dem modernen Traum von Autonomie“ zusammenfällt.2 Die Trennung zwischen ‚normalen‘ und ‚krankhaften‘ Zuständen ist demnach – wenn überhaupt – nur graduell möglich.3 Sie bildet eine diskursive Grauzone, in der das Wissen vom Menschen immer wieder aufs Neue verhandelt wird. Folgt man dieser Fährte, dann fächert sich die Sicht auf die genannten Phänomene geradezu panoramatisch auf. Zunächst einmal wird in dieser Perspektive deutlich, dass sich das vermeintlich Normale nur durch die Markierung pathologischer Ränder bestimmen lässt, ja dass diese Ränder eine Unterscheidung zwischen Normalem und Pathologischem überhaupt erst ermöglichen und diese zugleich permanent der Überprüfung und Neudefinition überantworten. Darüber hinaus gerät in den Blick, in welchem Maße Schwindel, Hysterie und Zerstreuung Effekte in gleicher Weise massenmedialer wie kultu1
Starobinski: Das Leben der Augen, S. 6.
2
Crary: Aufmerksamkeit, S. 15, 45.
3
Vgl. zur graduellen Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen im medizinischen Diskurs und ihre ‚gesellschaftstheoretische‘ Strahlkraft: Canguilhem: Das Normale und das Pathologische.
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reller Praktiken sind; darüber hinaus wird die Rolle der institutionellen Rahmung dieser Praktiken deutlich. In dieser Perspektive stehen nicht mehr die Defekte einzelner Subjekte im Vordergrund als vielmehr deren epidemisches Auftreten.4 Es wird also im Folgenden insbesondere darum gehen, die genannten Zustände weniger als pathologisierbare Abweichungen einzelner Subjekte zu verstehen, sondern ihren diskursiven Zusammenhang mit den Wirkungsweisen und intersubjektiven Rezeptionsformen von Massenmedien zu analysieren. Die These, die im Folgenden erprobt werden soll, lautet deshalb: Schwindel, Hysterie und Zerstreuung stehen im Zusammenhang mit kulturellen Praktiken einer provozierten Mediennutzung und lassen sich als ihre Wirkung beschreiben. Wenn in diesem Zusammenhang von Trance gesprochen werden kann, dann im Sinne eines kalkulierten Medien-Effekts. Um diese Argumentation plausibel zu machen, soll zunächst der Wissensstand um 1800, insbesondere in seiner Bedeutung für massenmedial provozierte Aufmerksamkeitsstörungen, beleuchtet werden, bevor über einen kurzen Zwischenschritt der Medialisierungsschub um 1900 analysiert werden kann. Es wird damit ein möglicherweise nicht ganz schwindelfreier Tour d’ horizon entlang von drei Konstellationen verfolgt, die eine gemeinsame Perspektive auf die Verschaltung von Trance und Medien erlauben. Die Titel gebenden Phänomene benennen jeweils solche historisch spezifischen Konstellationen. Dabei werden sich – hoffentlich – diskursive Zusammenhänge zeigen, die Bausteine für eine Archäologie massenmedialer Wirkungen liefern können.
1.
Schwindel
In der Einleitung zu ihrem Band Schwindelerfahrungen. Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Phänomens betonen die Herausgeber Rolf-Peter Janz, Fabian Stoermer und Andreas Hiepko die prekäre Stellung des Schwindels „zwischen Taumel und Täuschung“ und verweisen auf „die technologisch immer rasanter beschleunigten Kommunikationsprozesse und die Simulationsmacht der neuen Medien ebenso wie neoliberale Programme der Deregulierung, die neue Unübersichtlichkeit der Globalisierung oder die Überwältigungsstrategien der Vergnügungsindustrie“, welche „Herausforderungen für unseren Gleichgewichtssinn und unser Orientierungsvermögen bereit“ hielten.5 Schwindel 4
Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass der moderne Subjektbegriff seine stabile Verwendung der experimentellen Psychologie verdankt, wo er anonyme Probanden einer Testreihe bezeichnet. Vgl. Danziger: Constructing the Subject.
5
Janz u.a.: Schwindelerfahrungen, S.7.
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wird in dieser Perspektive sowohl zu einem Signum der Moderne als auch zu einem Symptom postmoderner Globalisierungsschübe – zu einem Faktum, das sich in der Architektur ebenso wie in der Politik oder im Film beobachten lasse. Gegen diese sehr weit gefasste Auffassung von Schwindelphänomenen soll im Folgenden eine stärker medienarchäologisch argumentierende verfolgt werden, die genauer die historischen Schaltstellen zwischen verschiedenen Diskursen, Medien und kulturellen Praktiken bestimmt. Zunächst soll daher ihr diskursives Erscheinen schlaglichtartig beleuchtet werden. Wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt der Schwindel mit dem Aufkommen der Physiologie im 18. Jahrhundert. Julien Offray de La Mettrie führt ihn in seinem Traité du vertige von 1737 ausschließlich auf somatische Ursachen, insbesondere die schlechte Durchblutung des Körpers, zurück und legt damit einen Grundstein für seine populäre Auffassung des Menschen als Körper-Maschine.6 1786 legt Marcus Herz seinen Versuch über den Schwindel vor, in dem er den Drehschwindel als einen durch die unnatürliche Absonderung des so genannten Nervensafts hervorgerufenen „Zustand der Verwirrung, in welchem die Seele wegen der zu schnellen Folge der Vorstellungen sich befindet,“ beschrieb. Der Arzt und Philosoph legt in seinem Versuch im Unterschied zu La Mettries Traité das Hauptaugenmerk auf die psychischen (Begleit-)Erscheinungen des Schwindels.7 Immanuel Kant verbindet an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht das physiologische und das psychologische Erklärungsmodell miteinander. Der Drehschwindel umfasst für ihn sowohl physische als auch psychische Wirkungen. An Herz anschließend definiert er ihn als „einen schnell im Kreise wiederkehrenden und die Fassungskraft übersteigenden Wechsel vieler ungleichartigen Empfindungen“ und rückt ihn in die Nähe der Ohnmacht.8 Kants Unentschiedenheit zwischen einer physiologischen und einer psychologischen Interpretation von Schwindelphänomenen ist sicher einerseits seinen erkenntnistheoretischen Vorbehalten gegenüber dem Projekt einer Anthropologie als Wissenschaft geschuldet, markiert andererseits aber genau die Ursache für das gestiegene Interesse, das dem Schwindel im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu wissenschaftlicher Weihe verholfen hat: Die Unsicherheit, um
6
La Mettrie hat 1736 seine medizinische Dissertation Epistolaris de Vertigine Dissertatio vorgelegt. In der erweiterten französischen Fassung, die 1737 in Rennes erschien, gibt er auch eine Beschreibung der kataleptischen Hysterie. Auf dieser Ausgabe beruht die Pariser Auflage des Traité von 1738.
7
Herz: Versuch über den Schwindel, S. 110. Gleichwohl diskutiert auch Herz die Rolle des Blutkreislaufes, besonders in Zuständen des Rausches, der Raserei oder des Fiebers (vgl. S. 143-145).
8
Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 465.
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nicht zu sagen: die Unkenntnis über die Ursachen des Schwindels erzeugt geradezu einen Foucaultschen ‚Willen zum Wissen‘. Erste experimentelle Selbstversuche führt der tschechische Physiologe Johann Evangelista Purkinje durch, der in seinen 1820 erstmals vorgelegten Beyträgen zur näheren Kenntniß des Schwindels aus heautognostischen Daten zahlreiche Schwindelarten benennt, zwischen Raumschwindel und Zeitschwindel unterscheidet und bereits auf die Untersuchungen von Marie-Jean-Pierre Flourens über die Auswirkungen von Störungen des Nervensystems auf die Motorik reagiert. Purkinje bestimmt den Schwindel wiederum psychologisch als Sinnestäuschung, als „eine durch subjective Zustände bedingte Scheinbewegung der Sinnenerscheinungen, die durch eine Täuschung aufs Objective übertragen wird“.9 Seine auf Selbstbeobachtung und -erkenntnis beruhenden Analysen folgen der gewachsenen Einsicht in die Subjektivität des Sehens und seine Täuschbarkeit.10 Diese Untersuchungen decken, wie Paul Vogel rückblickend in seinen Studien über den Schwindel hervorhebt, „eine eigentümliche Dynamik zwischen Subjekt und Außenwelt, zwischen Ich und Fremden auf“ – eine Dynamik, die „eine Erschütterung der ganzen Person“ herbeiführe.11 Dieses Moment der Erschütterung betrifft ausdrücklich nicht nur das Verhältnis des Subjekts zur Welt, sondern auch zu sich selbst. Schon Herz spricht dezidiert von einem „Zustand der Verwirrung“, der eigentlich den Schwindel ausmache und die Seele „selbst in einen taumelnden Zustand ihres Bewusstseins“ reiße,12 und versetzt damit den Schwindel in die Nähe zur Geistesverwirrung – einem damals verbreiteten und viel diskutierten Krankheitsbild. Sofern der zur rauschhaften Verwirrung führende Schwindel auf einer Sinnestäuschung beruht, verleite er das erkennende Subjekt auch zu Fehlurteilen. So definiert Purkinje den Zeitschwindel in Anlehnung an Herz als Desorientierung des Selbstbewusstseins in Folge einer zu schnellen oder zu langsamen Aufeinanderfolge von Vorstellungen, die „das Individuum in Verwirrung des Urtheils über die Identität seines Selbst, und über die Dauer seiner Thätigkeit in der realen Zeit“ stürzen.13 Dieser „Gedankenschwindel“ trete im Zustand der Berauschung ebenso auf wie im Traum und im Wahnsinn; ihnen gemeinsam sei, dass das Subjekt außer sich ist: „Ein Gedankensturm treibt mit 9
Purkinje: „Beyträge zur näheren Kenntniß des Schwindels aus heautognostischen Daten“, S. 80.
10 Vgl. zu diesem Paradigmenwechsel von einer Physiologie zur Psychologie der Wahrnehmung: Crary: Techniken des Betrachters. 11 Vogel: „Studien über den Schwindel“, S. 8. 12 Herz: Versuch über den Schwindel, S. 174f. 13 Purkinje: „Beyträge zur näheren Kenntniß des Schwindels aus heautognostischen Daten“, S. 117.
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fremder Gewalt das sich selbst vergessende und wiederauffassende Selbst herum, bis es sich in der Traumwelt und in der Bewußtlosigkeit einer tiefen Ohnmacht verliert.“14 Das ohnmächtige, geistesabwesende Subjekt erlebe im Schwindel die Grenzen von Bewusstsein und selbst bestimmtem Handeln – nicht von ungefähr bezeichnet Kant die auf den Drehschwindel folgende Ohnmacht als „Vorspiel von dem Tod“15. Der Schwindel untergräbt also nicht nur die konsistente Wahrnehmung der Dinge in Raum und Zeit, sondern gefährdet auch die Selbstwahrnehmung. Von daher erscheint es nur konsequent, wenn bereits Herz insbesondere sensiblen bzw. nervenschwachen Gemütern eine Anfälligkeit für den Schwindel attestiert: „Je empfindsamer das Nervensystem ist, je leichter die Nerven von geringen Gegenständen verändert und in Thätigkeit gesetzt werden, desto leichter die Entstehung des Schwindels; und so umgekehrt.“16 Die individuell unterschiedliche Reizbarkeit der Nerven bezeichnet die Ausgangslage physiologischer wie psychologischer Forschungen über den Schwindel. Reizbarkeit benennt im medizinischen Verständnis der Zeit genau den Umstand einer ins Pathologische weisenden Be- und Überlastung der Nerven, deren Begriff der schottische Arzt Robert Whytt wenige Jahre zuvor populär gemacht hatte. Reizbarkeit galt der Zeit als Grundmodus des Lebens, dem jedoch stets die Gefahr einer Zerrüttung des Geistes drohte.17 Bedenkt man die Gefahren, die Schwindelerfahren im Verständnis der Zeit für das bürgerliche Subjekt bedeutet haben, so wird man erwarten, dass sich ihnen kein Mensch freiwillig ausgesetzt habe. Doch genau das ist nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil: Schwindelerfahrungen sind immer wieder gesucht, auf jede nur erdenkliche Weise hergestellt und gesteuert worden. Und auch die Wissenschaft hat das Phänomen nicht losgelassen. In der weiteren Erkundung spielten physiologische Untersuchungen des gestörten Gleichgewichtssinns eine bedeutsame Rolle. Dabei traten mehr und mehr die labyrinthischen Bogengänge im Innenohr als ‚Organ‘ des Schwindels hervor, dessen Funktion als Schaltstelle zwischen Innen und Außen sein komplizierter Aufbau entsprach.
14 Ebd., S. 117, 119. 15 Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 465. 16 Herz: Versuch über den Schwindel, S. 112. 17 Vgl. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 30. Für Radkau kulminiert diese Angst im Krankheitsbild der Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt auftretenden Neurasthenie. Es spricht allerdings einiges dafür, in der gehäuft auftretenden Geisteszerrüttung um 1800 ein ebenso relevantes gesellschaftliches Phänomen zu sehen.
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Untersuchungen der Bogengänge führten vor allem Prosper Menière (1861), Friedrich Goltz (1870), Ernst Mach und Josef Breuer (ab 1873) durch.18 Der wissenschaftlichen Erforschung von Schwindelphänomenen müssen deshalb Debatten zur Seite gestellt werden, in denen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert konkrete Schwindelerfahrungen und ihre Orte verhandelt wurden. Purkinjes Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitschwindel lässt sich auf die Bühnen der bürgerlichen Kultur und insbesondere ihrer Freizeitvergnügungen mühelos übertragen. Freizeit entwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die zeitökonomische Abtrennung der Arbeit zu einer eigenständigen Sphäre, die im Zuge industriell organisierter Freizeitvergnügungen wie den seit 1851 ausgerichteten Weltausstellungen zunehmend zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor wird. Gleichzeitig vollzieht sich der Übergang von individuellem Müßiggang zu massenhafter Zerstreuung.19 Purkinje führt selbst in seiner Auflistung von Schwindelphänomenen das „Ringelspiel“ genannte Karussell und die Schaukel als „Volksbelustigung“ an, die anfangs angenehme Gefühle wie erleichtertes Atmen und erst allmählich Ekel und Erbrechen auslösen würden.20 Der Höhenschwindel, auch er eine Variante des Raumschwindels, ist nicht zuletzt durch die zwischen Angst und Lust changierenden Beschreibungen von Turmbesteigungen und durch den beginnenden Alpentourismus längst in das kulturelle Bewusstsein eingedrungen. Johann Wolfgang Goethe etwa, der seit dem April 1770 wie viele seiner Zeitgenossen gleich mehrfach das Straßburger Münster erklommen hat, um seine Höhenangst zu bemeistern, erinnert sich noch nach mehr als vierzig Jahren, dass ihn eine „gewisse Reizbarkeit“ schwindelanfällig gemacht habe.21 Das gilt auch für den Walzer, der als Gesellschaftstanz in Mode kam, die fortwährende schnelle Drehbewegung zum Richtmaß der Tanzkunst erhob und die
18 Vgl. Janz u.a.: Schwindelerfahrungen, S. 14. 19 In diesem Sinne argumentiert Walter Benjamin: „Der Müßiggang kann als eine Vorform der Zerstreuung oder des Amusements betrachtet werden. Er beruht auf der Bereitwilligkeit, eine beliebige Abfolge von Sensationen allein auszukosten. Sobald aber der Produktionsprozeß große Massen ins Feld zu führen begann, entstand in denen, die ‚frei hatten‘, das Bedürfnis, sich massenweise gegen die Arbeitenden abzusetzen. Diesem Bedürfnis entsprach die Vergnügungsindustrie“ (ders.: Das Passagen-Werk, S. 967.) 20 Purkinje: „Beyträge zur näheren Kenntniß des Schwindels“, S. 89f. Purkinje diskutiert den Schwindel darüber hinaus auch als Begleiterscheinung krankhafter Zustände wie der Hysterie (S. 116). 21 Goethe: Dichtung und Wahrheit, S. 374. Vgl. zur Ambivalenz von Goethes Turmbesteigung und seiner keineswegs durchweg geglückten Immunisierung gegen den Höhenschwindel: Jagella: „Bürgerlicher Schwindel und seine medizinische Fassung“.
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Paare in einen Bewegungsrausch riss, wie wiederum Goethe in seinem Werther zu berichten weiß.22 Auch der Zeitschwindel genießt im Umfeld der Forschungen zum „ersten optischen Massenmedium im strengen Sinn“,23 dem Panorama, einige Geltung. Stephan Oettermann hat in seiner Studie die Schwindelerfahrung, von der insbesondere Panoramabesucherinnen immer wieder berichteten, mit der Angstlust von Karussellfahrern und dem Höhenschauer bei Turm- und Bergbesteigungen verglichen und damit das kulturelle Fundament einer wissenschaftlichen Konzeption von Schwindel benannt. „Es scheint auch kein Zufall zu sein,“ so führt Oettermann diesen Gedanken aus, dass die Karussells – auf ihnen ließ sich symbolisch der Horizont bereisen – gerade um diese Zeit zum ersten Mal so in Mode kamen, und, sehr zum Erstaunen und zum Verdruß der daneben stehenden Wahrer von Sitte und Anstand, gerade von den Damen bis zum Erbrechen befahren wurden.24 Oettermann stellt einen Zusammenhang her zwischen modernen Seherfahrungen wie der Entdeckung des Horizont, die, so Wolfgang Schivelbusch analog über die Eisenbahnreise, zu einer „panoramischen Wahrnehmung“ geführt habe,25 und einer Entgrenzung des subjektiven Sehens, die zugleich – Stichwort: Übelkeit und Erbrechen – pathologisiert wird. Was solche Schwindelerfahrungen zum Testfall humanwissenschaftlicher Beobachtungen macht, ist ihre instabile Subjekt-Objekt-Beziehung: Beim Karussell- wie beim Eisenbahnfahren verschwimmen dem Subjekt des Sehens die Konturen der weniger entfernten Dinge durch seine permanente Ortsverlagerung. Nicht von ungefähr werden Subjektivität und Täuschbarkeit des Sehvorgangs gleichzeitig zum beliebten Untersuchungsgegenstand der Humanwissenschaften. Was diese Befunde aus einer medienarchäologischen Perspektive so interessant macht, ist der Umstand, dass der Schwindel um die Wende zum 19. Jahrhundert programmatisch wird. Der Schwindel und das nervöse Subjekt werden miteinander verkoppelt und provozierte Schwindelerfahrungen als lustvoll besetzte Gefahren angesehen. Wie Oettermann berichtet, wurden Schwindel auslösende „Sensationen freiwillig und begierig“ gesucht. Dies bringt ihn zur Annahme einer „SEH-Krankheit“ von epidemischem Ausmaß – ein Phänomen, das in der Bezeichnung Panoramasucht bzw. Panoramakrank22 Goethe: Die Leiden des jungen Werther, S. 24f. 23 Oettermann: Das Panorama. S. 9. 24 Ebd., S. 13. 25 Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise.
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heit angeschrieben wird: „Die sich im Schwindelgefühl manifestierenden Grenzen körperlicher Belastbarkeit waren auch Grenzen des Blicks.“26 Es handelt sich hier um Grenzen, die das rahmenlose Panoramabild durch seine panoptische Sehordnung und seine als „illusion totale“ beschworene Mimesis torpedierte.27 Die detailgetreue, mannigfaltige Wiedergabe von Stadtansichten oder Landschaften in der Rundumsicht gestattete dem zahlreich ins Panorama strömenden Publikum eine kontrollierte Deregulierung des gewohnten Blickregimes, indem es ihm zeitweise sowohl die Möglichkeit einer selbst kontrollierten Distanz und Aufmerksamkeitslenkung als auch die Ordnung des Gesehenen zu einem Ganzen verwehrte. „Mengen ohne Ordnung [...] machen ganz verschiedene Einzelheiten aus, zwischen denen jenes Erleichterungsmittel der Seele auf ihrem Fortgange, die Wiederholung von einerley Vorstellung, nicht Statt findet,“ bemerkte schon Marcus Herz.28 Auch Christina von Braun hat in ihrem auf Herz’ gleichnamige Schrift zurückgreifenden Versuch über den Schwindel die Lust am Schwindel mit einem zeitlichen Index versehen: Ab 1800 ist eine aktive Teilnahme am passiv erlittenen Schwindel zu beobachten – sei es in der Form der Bereitschaft oder der Beteiligung an den Schwindel- und Täuschungsübungen selbst. Der Schwindelnde trägt dazu bei, daß ihm schwindlig wird.29 Diese Lust verdanke sich, wie von Braun betont, „den Techniken der Eroberung des Raums wie denen der Simulation – des verübten Schwindels“ also.30 Panorama und Diorama ebenso wie die ebenfalls um 1800 in Mode gekommenen Phantasmagorien von Laterna Magica-Vorführungen verbinden die visuelle Eroberung des Raums mit der inszenierten Lust an der Ohnmacht des erobernden Blicks. Sie resultiert aus der Bereitschaft, sich der Erfahrung des Schwindels durch eine Zerstreuung der Sinne auszusetzen. Johann August Eberhards Handbuch der Aesthetik von 1803 verdanken wir eine detaillierte Beschreibung der unangenehmen Medienwirkungen des Panoramas, insbesondere der Destabilisierung der räumlichen Orientierung des Betrachters: „Denn das Gemählde umgiebt alle Wände des runden leeren Raumes, und wird nur von oben her sehr schwach beleuchtet, von unten aber
26 Oettermann: Das Panorama, S. 13. 27 Buddemeier: Panorama, Diorama, Photographie, S. 17. 28 Herz: Versuch über den Schwindel, S. 87. 29 Braun: Versuch über den Schwindel, S. 17f. 30 Ebd., S. 33.
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so bedeckt, daß man den Boden des Zimmers nicht sehen kann.“31 Zwei „etwas nervenschwachen“ Freunden Eberhards sei die Täuschung nach einiger Zeit „unerträglich“ geworden, habe Beklemmung und schließlich „Schwindel und Übelkeit“ ausgelöst.32 Für Eberhard ist die Schwindel erregende Wirkung des Panoramas jedoch nicht etwa vom Verlust des Gleichgewichtsgefühls, sondern von der Verwirrung der Vorstellung angesichts des illusionistischen Rundbildes abhängig. Diese trete ein, weil die Wahrnehmung des Panoramabesuchers im Widerstreit zwischen Täuschung und Enttäuschung liege, was letztlich zu Übelkeit und Schwindel führe: Ich schwanke zwischen Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, zwischen Natur und Unnatur, zwischen Wahrheit und Schein. Meine Gedanken, meine Lebensgeister erhalten eine schwingende, hin und her gestoßene, schaukelnde Bewegung, die eben so wirkt, wie das Herumdrehen im Kreise und das Schwanken des Schiffs. Und so erkläre ich mir den Schwindel und die Übelkeit, die den unverwandten Anschauer des Panorama überfällt.33 Der von Purkinje beschriebene ‚Gedankenschwindel‘ als Variante des Zeitschwindels wird auch von Eberhard mit der Desorientierung des Subjekts im Raumschwindel, konkret dem Drehschwindel und der Nausea, analogisiert: Ihre körperlichen Symptome und Funktionszusammenhänge setzt sein Handbuch der Aesthetik einander gleich. Drehschwindel und Übelkeit werden in dieser Perspektive durch eine Fixierung des Blicks auf unzählige Einzelheiten ausgelöst, die direkt zur Überforderung der Aufmerksamkeit führt. Während das bürgerliche Subjekt gerade diese Überforderung seiner Nerven zu suchen scheint, um sich, wie Albrecht Koschorke vermutet hat,34 einem freiwilligen Test seiner Wahrnehmungsleistung zu unterziehen, liegt mit der Geisteszerrüttung zeitgleich ein komplexes Krankheitsbild vor, in dem die notorische Überforderung der Aufmerksamkeit, ausgelöst durch die vielfältigen Anforderungen einer beschleunigten Modernisierung, ganz im Gegenteil zur Selbstermächtigung des bürgerlichen Subjekts, als psychopathologische Urszene markiert wird.
31 Eberhard: Handbuch der Aesthetik, 1. Theil, S. 164. 32 Ebd., S. 165. 33 Ebd., S. 168f. 34 Koschorke: „Das Panorama“. Koschorke interpretiert das Ausloten von Wahrnehmungsmöglichkeiten im Panorama als Einübung in das technische Zeitalter und an die wachsenden Anforderungen in einer zunehmend industrialisierten Umwelt (Verkehr, Urbanität, Konsumgesellschaft).
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Das Panorama und der Jahrmarkt waren demnach nicht die einzigen Orte, an denen Schwindelphänomene zu beobachten waren und zur Unterhaltung und Zerstreuung genutzt wurden. Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert formiert sich vielmehr, im Anschluss an erfahrungsseelenkundliche Bemühungen, eine sowohl wissenschaftlich als auch praktisch ausgerichtete Psychologie, die sich den Erkrankungen der Seele mit neuem therapeutischem Elan zuwendet. Das Auftreten von Schwindelphänomenen wird dabei in aller Deutlichkeit mit einer Überlastung des optischen Sinns korreliert, wie der Erfahrungsbericht des Schweizer Arztes Samuel-Auguste Tissot deutlich macht: Wenn nach einem Anfall von Fieber, oder irgend einer anderen Unpäßlichkeit, es sich zuträgt, daß ich ehe ich wieder zu Kräften gelanget, einen gleichen Gegenstand lange Zeit betrachte, so befällt mich Schwindel, Reiz zum Erbrechen, und ich verspüre in dem ganzen Leib eine schmerzhafte Empfindung von Müdigkeit und Entkräftung.35 Das beständige Sehen auf einen Punkt, das Starren, ermüdet nicht nur das Auge, wie Tissots Fallbeschreibung belegt, sondern löst auch Schwindel und Brechreiz aus und führt schließlich in den hypnoseähnlichen Zustand der Geistesabwesenheit. Schwindel und Brechreiz sind jedoch nicht nur Symptome einer überforderten Aufmerksamkeit und damit Anzeichen eines taumelnden Selbstbewusstseins, sondern werden zugleich ins Programm der unter anderen von Johann Christian Reil entwickelten psychischen Kur als therapeutische Werkzeuge aufgenommen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Der Schwindel wird hier eingesetzt, um am Geist zerrüttete Patienten zu heilen, und dies geschieht programmatisch, mit experimenteller Präzision und nach erkennbaren Regeln. Das biopolitische Fundament dieses Therapiemodells wird daran deutlich, welche Bedeutung der Selbstbeobachtung des Patienten, der Eigenregulierung seiner Geisteskräfte beigemessen wird. Wie Schillers Vorstellung des Theaters als moralischer Anstalt ist die Heilanstalt psychischer Kranker vor allem ein Ort der Selbstdisziplinierung. Dabei greift die psychische Kur auf die um 1800 populäre, wenn auch nicht unbestrittene Erregungslehre des schottischen Arztes John Brown zurück, die den Ausgleich von Spannung und Entspannung predigt. So empfiehlt Brown zur Behandlung der athenischen Hypochrondrie, die sich durch eine „unverwandte Aufmerksamkeit des Geistes“ und durch eine Neigung zum Grübeln auszeichne, „den Kranken munter und fröhlich zu erhalten, durch
35 Tissot: Von der Gesundheit der Gelehrten, S. 56 (meine Hervorhebung, P.L.).
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angenehme Gesellschaft, aufgeweckte Gastmahle, und durch eine Reise, um ihn durch die mannigfaltigen Scenen, welche Natur und Kunst darbiethen, zu zerstreuen.“36 Der Zerstreuung im Sinne von ‚sich zerstreuen‘ werden in dieser Perspektive heilende Kräfte zugesprochen, da sie Ablenkung von selbst zerstörerischer Grübelei verspricht. In Johann Christian Reils 1803 veröffentlichten Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen werden dementsprechend Zerstreuung und Vertiefung als gegensätzliche „Anomalieen der Besonnenheit und Aufmerksamkeit“ aufgefasst: „Der Zerstreute will alles beachten, faßt daher das Nothwendige nicht auf und kann keinen Gegenstand hinlänglich festhalten.“ Im Gegensatz dazu ist die Vertiefung ein einstweiliger Zustand, der durch ein so festes Anheften aller Seelenkraft auf einen Gegenstand entsteht, daß außer demselben weder Sinneseindrücke noch Erinnerungen unserer Pflichtverhältnisse zum klaren Bewußtseyn kommen.37 Bemerkenswert ist, dass für Reil durch die Kombination beider Anomalien der Aufmerksamkeit eine Steigerung im Grad der Zerstreuung erreicht wird: „Doch kann der Mensch beides zugleich, zerstreut und vertieft seyn. Er ist eingeschränkt auf einen gewissen Bezirk von Gegenständen, faßt aber innerhalb derselben nirgends festen Fuß.“ – Dies führe zuletzt „zur unbegrenzten Zerstreuung“.38 Reil beschreibt hier nichts anderes als die medizinische Blaupause für ein Verständnis der Schwindelerfahrung von Panoramabesuchern: Auch deren Sehen ist einerseits durch das Rundbild begrenzt und wandert dort andererseits wegen der multiperspektivischen Ansicht von Gegenstand zu Gegenstand – es ist vertieft und zerstreut zugleich. ‚Zerstreuung‘ erhält damit einen doppelten Index: enger gefasst als Deregulierung der menschlichen Sinne, weiter gefasst als moderne Form der Unterhaltung. Die diskursive Verschränkung dieser beiden Bedeutungen lässt sich an der psychischen Kur Reilscher Prägung ablesen. Sie macht es sich zur Aufgabe, das in Unordnung geratene „Räderwerk der Organisation“ wieder zum Laufen zu bringen.39 Sie findet in der psychiatrischen Anstalt eine Institution, die zu36 Brown: System der Heilkunde, S. 339f. Browns Medicinae Systemata erschien zuerst 1780. Reils Ueber die Erkenntniss und Cur der Fieber (1799) ist von Brown beeinflusst. 37 Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 107ff. 38 Ebd., S. 110. Auch der Hypnotismus ist durch die konzentrierte Aufmerksamkeit auf einen verengten Wahrnehmungsbereich bei gleichzeitiger Ausweitung der unbewussten Wahrnehmung geprägt (vgl. Crary: Aufmerksamkeit, S. 60). 39 Ebd., S. 51.
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gleich ein „Ort der Konfrontation“ des Kranken mit seiner Krankheit darstellt.40 Ziel der psychischen Kur ist die Anregung der Aufmerksamkeit: „Wir bringen so starke und interessante Objekte in die Sphäre der Sinnlichkeit des Kranken, daß sie ihn nöthigen, sie anzuschauen“.41 Die Therapie bewegt sich hier ganz in den Bahnen der Brownschen Erregungslehre: Beruht die positive Heilmethode auf der Erregung, besteht die negative Heilmethode in der Beruhigung der zerrütteten Nerven. Zu dieser zählt Reil auch die Methode der „Gemüthszerstreuung“, die eingesetzt wird, um entweder „den habituell Zerstreuten zu sammeln und an einen bestimmten Gegenstand zu ketten,“ oder „den Kranken, der einer fixen Idee leidenschaftlich nachhängt, von derselben abzuleiten“.42 Dabei wird entweder „eine ununterbrochene Folge von Objekten, wie die Bilder einer magischen Lampe, vor den Sinnorganen vorübergehn, bey deren Anschauung die Seele sich passiv verhält,“ oder „nur ein Object“ dargeboten, das die Einbildungskraft des Patienten dauerhaft anregt.43 Die psychische Kur bedient sich bewusst des zeitgenössischen Arsenals provozierter optischer Sensationen, aus denen die wandelnden Bilder der Laterna magica und das Starren auf ein Bildobjekt herausstechen. In erster Linie kommen Eindrükke auf Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn, auf Auge und Ohr in Betracht, die auf die bereits gefügig gemachten Patienten einwirken und bei ihnen „Furcht oder Hoffnung erregen“ bzw. „durch ihre Größe und Majestät die Aufmerksamkeit anziehn“ sollen.44 Dieses Arsenal provozierter Sensationen gipfelt in dem Vorschlag, ein Theater einzurichten, „das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre“.45 Zweck eines solchen Theaters sei es, bei den Patienten „entgegengesetzte Leidenschaften“ hervorzurufen, „Furcht, Schreck, Staunen, Angst, Seelenruhe“ zu erregen, um der „fixen Idee des Wahnsinns begegnen“ zu können.46 Das Theater – traditionell ein Ort gemeinschaftlicher Unterhaltung und Zerstreuung, das die Aufmerksamkeit seiner Besucher künstlich erregt und fesselt – erfüllt hier die Rolle eines „therapeutischen Orts“, an dem dem Patienten „die Komödie seines eigenen Wahn40 Foucault: „Die psychiatrische Macht“, S. 834. Im Verständnis der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts obliegt es dem ärztlichen Willen, den Willen des Kranken zu brechen, um ihn in einer Art Duell von seiner Krankheit zu heilen. 41 Reil: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 164. 42 Ebd., S. 173. 43 Ebd., S. 199. 44 Ebd., S. 200. 45 Ebd., S. 209. 46 Ebd., S. 210.
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sinns“47 vorgespielt und damit der Entlarvung anheim gestellt wurde. An diesem Ort kommt es zu einer Vermischung sonst getrennter sozialer Institutionen, die über die therapeutische Indienstnahme der Zerstreuung in Konjunktion treten. Immer wieder betont Reil die Bedeutung von derartigen kulturellen Praktiken der Zerstreuung für die Behandlung unterschiedlicher Geisteskrankheiten und in den verschiedenen Stadien der Kur. Um den Schwindel gezielt als therapeutisches Werkzeug der Aufmerksamkeitserzeugung einsetzen zu können, wurden um 1800 sogar eigene Konstruktionen wie die Drehschaukel entwickelt und am Patienten erprobt, die den Schwindel apparativ induzierten. Von einem solchen Einsatz an einer jungen Patientin berichtet Joseph Mason Cox in seinen Praktischen Bemerkungen über Geisteszerrüttung, die Reil übersetzt und 1811 veröffentlicht hat. Als letzter Heilversuch wird die Schaukel gegen den Widerstand der Kranken allmählich in Drehung versetzt und bald darauf die Bewegung beschleunigt. Die Ärzte beobachten genau die dabei auftretenden körperliche Reaktionen: Doch weder die Blässe des Gesichts noch das Zucken der Lippen interessieren die Mediziner sonderlich. Vielmehr bemerken sie, dass „einige nahe Gegenstände“, gleich nachdem die Schaukel plötzlich gestoppt wurde, die Aufmerksamkeit der Patientin auf sich gezogen hätten. Auch bei der Wiederholung des Experiments zeigt sich, dass die Patientin, „obwohl ihr die benachbarten Gegenstände in der kreisenden Schaukel undeutlich und verworren erscheinen mussten“, sie trotzdem ihre Aufmerksamkeit erregt hätten.48 Die in der Drehbewegung künstlich zerstreute Wahrnehmung fungiert in diesem Experiment als Analogon der (asthenischen) Geisteszerrüttung, die wiederum durch die Induzierung einer äußerlichen Zerstreuung des Blicks und seine dadurch provozierte Disziplinierung therapiert werden soll. Die solcherart bewerkstelligte Reizung der Nerven dient als Heilmittel, um Geisteszerrüttung zu kurieren, das heißt, um die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegenstände überhaupt erst wieder herstellen zu können. In Krankheitsbildern wie der so genannten Geisteszerrüttung und deren Heilmethoden wird ins Pathologische gewendet, was im Panorama massentauglich inszeniert wird: die regulierte Deregulation von Aufmerksamkeitstechniken.49 Hier wird bereits das 47 Foucault: „Die psychiatrische Macht“, S. 833. Zunächst war die Natur der anerkannte therapeutische Ort; sie hatte die Macht, „den Irrtum zu zerstreuen und die Trugbilder zu verscheuchen“ (S. 822f). 48 Cox: Praktische Bemerkungen über Geisteszerrüttung, S. 190f. 49 In diesem Sinne hat Michel Foucault den Einsatz der Drehschaukel – hier Rotationsmaschine – durch Cox u.a. interpretiert: „Nicht mehr der Präsenz des Wahren ordnet sich die Kur unter, sondern einer funktionalen Norm. In dieser Neuinterpretation der alten Methode wird der Organismus nicht mehr in Beziehung zu sich selbst und zu seiner eigenen Natur gebracht [...]. Wenn man hinzufügt, daß die Ro-
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diskursive Feld bereitet für eine dispositive Verschaltung von Schwindel und Zerstreuung einerseits und apparativen bzw. medialen Praktiken ihrer Induzierung andererseits. Die Versuchungen des Geistes bzw. seine Abwesenheit in Zuständen der Trance wird über den Rahmen von Körpertechniken hinaus an mediale Inszenierungen delegiert, die solche Zustände kalkulierbar machen sollen. Ihre Geschichte ist auch die Geschichte von gesellschaftlich sanktionierten Blicktechniken, ist mithin Teil der Geschichte kollektiver Wahrnehmungsmodi und deren provozierten Suspendierung. Der Schwindel, so lässt sich schlussfolgern, tritt als epistemisches Objekt erst durch die Verbindung von medizinischer Symptomatologie, wissenschaftlichem Experiment und kultureller Praxis hervor und erweist sich zugleich als Instrument biopolitischer Anstrengungen, die auf eine Aussteuerung und Erweiterung subjektiver Wahrnehmungsfähigkeiten zielen.
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Hysterie
Im Laufe des 19. Jahrhunderts avanciert Zerstreuung zu einem diskursiven Knotenpunkt, an dem medizinisches Wissen in andere Diskursbereiche übergeht. Nicht von ungefähr sah der italienische Psychiater Cesare Lombroso die „Zerstreutheitsstörungen“ Ende des Jahrhunderts auf dem Vormarsch.50 Auch der Schwindel erlebt eine Konjunktur. Siegmund Freud beschäftigt sich im Umfeld seiner Neurosenlehre dezidiert mit Schwindelphänomenen.51 Von daher erstaunt es wenig, dass auch in der Medizin der Zeit Schwindelexperimente wieder Konjunktur haben. Der Arzt Paul Vogel stützt seine bereits erwähnten Studien über den Schwindel auf eine Reihe von experimentellen und klinischen Befunden, die ihren Bezug zu Praktiken der psychischen Kur um 1800 keineswegs leugnen:
tationsmaschine sehr bald als Droh- und Strafmittel eingesetzt wurde, sieht man, wie die schweren Bedeutungen, die die therapeutischen Methoden während des ganzen klassischen Zeitalter getragen haben, sich verflüchtigt haben“ (Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, S. 326). Vgl. zum strittigen Einsatz der Drehmaschine: Kaufmann: „Schmerz zur Heilung des Selbst“. 50 Lombroso: „Verbrechen und Wahnsinn im XXI. Jahrhundert“, S. 53 (zit. nach Radkau: Zeitalter der Nervosität, S. 20). 51 Vgl. Freuds Schrift Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomkomplex als ‚Angstneurose’ abzutrennen (1895). Freud bezeichnet den Schwindel als hervorragendes Symptom der Angstneurose und fasst insbesondere den Höhenschwindel als Korrelat der neurotischen Ablenkung sexueller Erregung auf. In psychoanalytischer Lesart werden Raumphobien als Individualitätskonflikte interpretiert.
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Als die alten Irrenärzte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert dazu übergingen, Geisteskranke in alle nur erdenklichen Drehmaschinen und Karusselapparate zu setzen und [sic!] sie schwindlig zu machen, da war neben der Absicht, den erregten Kranken in dieser Weise bequem zu bändigen, auch die Meinung in ihnen wirksam, daß der Schwindel als seelische und körperliche Krise die Kranken psychophysisch umstimmen könne.52 Der therapeutische Einsatz des Schwindels wird auch von Vogel durch die angenommene kathartische Wirkung einer das Subjekt physisch und psychisch bedrohenden Krise begründet. Das Interesse am Phänomen der Zerstreuung lässt sich auch an einem anderen Krankheitsbild belegen, das in der zweiten Jahrhunderthälfte zu einer seltenen und seltsamen Prominenz gelangt – der Hysterie. Hier sollen jedoch nicht Charcots öffentliche Vorführungen von Hysterikerinnen, Bernheims spektakuläre Hypnoseexperimente oder die Studien Breuers und Freuds im Vordergrund stehen, sondern die Untersuchungen über hysterische Anästhesien, die Pierre Janet unter anderem an Charcots Salpêtrière durchgeführt und seit 1889 veröffentlicht hat. In seiner Schrift L’automatisme psychologique hat er, wie Jonathan Crary unterstreicht, „verschiedene Typen perzeptueller Dissoziation“, die er désagrégation nennt, beschrieben und nachgewiesen, „daß ein dynamisches Oszillieren des perzeptuellen Bewußtseins und leichte Formen der Bewußtseinsspaltung ein Teil dessen war, was als normales Verhalten galt.“53 In diesem Zusammenhang widmet sich Janet ausdrücklich der Zerstreuung, die bei hysterischen Patienten als Anästhesie in Erscheinung trete. Die Unempfindlichkeit sieht er in Abhängigkeit von der Ablenkung der Aufmerksamkeit, das heißt, die Anästhesie wird durch Zerstreuung des Bewusstseins hervorgebracht, die zudem durch bestimmte Suggestionen verstärkt werden kann. Der Automatismus besteht für Janet genau darin, dass die Probanden mehrere Dinge gleichzeitig tun, also zerstreut sind, und dass ihr Tun dabei wie exemplarisch beim automatischen Schreiben zum Teil unterbewusst abläuft und dadurch das Bewusstsein spaltet.54 Janet hat in seinen langjährigen Studien vor allem die Veränderlichkeit von Empfindungslähmungen an hysterischen Patienten in verschiedenen Zuständen (hysterischer Anfall, Schlaf) und nach der Verabreichung verschiedener
52 Vogel: Studien über den Schwindel, S. 21f. 53 Crary: Aufmerksamkeit, S. 82. 54 „[...] la distraction semble scinder le champ de la conscience en deux parties: l’une qui rest consciente, l’autre qui semble ignorée par le sujet“ (Janet: L’automatisme psychologique, S. 245).
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narkotisierender Substanzen (Trunkenheit, Chloroformschlaf, Morphiuminjektion) untersucht, die er in seiner Hysterie-Studie „Vergiftungszustände“ nennt.55 Das Vermögen der Aufmerksamkeit spielt für ihn eine wichtige Rolle bei der Klärung der schwankenden Sensibilität hysterischer Patienten. Hysteriker müssen, so Janet, als systematisch zerstreut betrachtet werden, denn ihre Aufmerksamkeit sei „schwer festzuhalten“ und viele könnten sie „überhaupt nicht auf einen bestimmten Punkt lenken“.56 Durch verschiedene Strategien gelingt es ihm jedoch, die Aufmerksamkeit auf die anästhetischen Körperteile zu lenken und somit die Empfindungsfähigkeit für kurze Zeit zu wecken. Solche Experimente „steigern, fixiren oder unterdrücken die Anästhesie“, wie Janet beobachtet hat.57 Er diskutiert die hysterische Empfindungslähmung in Anlehnung an Ernest-Charles Lasègue als eine Art geistiger Verwirrung. Insbesondere bei der Amaurose, einer psychisch bedingten Blindheit eines Auges, oder bei der Achromatopsie bzw. Farbenblindheit wird durch Experimente mit optischen Instrumenten wie der Newtonsche Scheibe die psychische Dysfunktion erkannt. Bemerkenswert ist, dass sie etwa im binokularen Sehen durch ein Stereoskop überhaupt nicht auftritt. Janet vertritt gegen die Schule Bernheims die These, dass die hysterischen Stigmata wie die Anästhesie nicht Hemmungsphänomene sind, sondern Erschöpfung anzeigen und betrachtet sie – wiederum in Anschluss an Lasègue – als „bestimmte Form des ‚Zerstreutseins‘“.58 Für ihn sind diese Anästhesien nichts weiter „als zusammengesetzte Zustände psychischer Ablenkung (Zerstreutheit).“59 Über die komplementär gebrauchten Begriffe Erschöpfung und Zerstreuung sind die hysterischen Anästhesien mit dem früheren Krankheitsbild der Geisteszerrüttung verknüpft. Mit dem Begriff der Zerstreuung organisiert Janet auch das Verhältnis zwischen normalen und pathologischen Befunden neu: „Die Zerstreutheit ruft thatsächlich beim gesunden Menschen Erscheinungen hervor, die denen der hysterischen Anästhesie gleichwertig sind.“60 Zerstreuung steht auch für ihn in einem Verhältnis zum Selbstbewusstsein, genauer in einem Verhältnis umgekehrter Proportion: die Zerstreutheit wachse mit zunehmender „Schwäche der Ich-Wahrnehmung“.61
55 Janet: Der Geisteszustand der Hysterischen, S. 18. 56 Ebd., S. 21. 57 Ebd., S. 22. 58 Ebd., S. 29. 59 Ebd., S. 45. 60 Ebd., S. 30. 61 Ebd., S. 43.
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Janets Forschungen befestigten implizit die Vorstellung einer Subjektivität, die „nur noch ein provisorisches Ensemble aus beweglichen und wandelbaren Komponenten ist“.62 Um diesen Befund zu erhärten, gibt Janet ein äußerst beredtes Beispiel der anästhetisierenden Zerstreuung, womit er gleichzeitig den Rahmen seiner klinischen Fallstudien verlässt: „Im hochentwickelten Zustand ist sie die Ursache, dass der Soldat in der Hitze des Gefechts den Schmerz der Wunde nicht fühlt.“63 Temporäre und partielle Unempfindlichkeit sind auch hier Resultat einer zerstreuten Aufmerksamkeit – einer Aufmerksamkeit, die woanders ist, sich vom Ort und der Tatsache des Schmerzes abgewendet hat und seine Empfindung dadurch negiert. In dieser Perspektive erscheint Zerstreutheit jedoch nicht nur als ein körpereigener Schutzmechanismus, der in dem Augenblick verschwindet, „in dem wir unsere Aufmerksamkeit eine andere Richtung geben“.64 Er fungiert vielmehr als kollektives Armierungsversprechen, das ganze Armeen zu manipulieren vermag. Nicht von ungefähr bildet sich in dieser Zeit die Vorstellung des Kollektivkörpers als einer ‚kalten Persona‘ heraus.65 Trotz dieser Analogie beharrt Janet auf der Distinktion zwischen normalen und pathologischen Zuständen, denn die hysterische Anästhesie sei im Unterschied zur temporären Anästhesie Gesunder dauerhaft und von daher habituell. Die Angewöhnung psychischer Tics infolge einer dauerhaften Einengung des Bewusstseinsfeldes, die in diesem Fall die Muskel- und Tastempfindungen konsequent ausblendet, stellt für Janet den Moment dar, an dem die normale Zerstreutheit in die pathologische Anästhesie übergeht. Mit der Erklärung der hysterischen Anästhesien durch die Zerstreuung der Aufmerksamkeit hat Pierre Janet zugleich unbeabsichtigt eine wichtige Gelenkstelle zum Verständnis der intersubjektiven Wirkungsweise von Medien geliefert. Der einmal hergestellte Konnex lässt sich nämlich auch in umgekehrter Richtung verfolgen – als anästhesierende Wirkung von Zerstreuung. Diese Fährte soll nun abschließend im Diskurs über das frühe Kino aufgenommen werden.
62 Crary: Aufmerksamkeit, S. 82. 63 Janet: Der Geisteszustand der Hysterischen, S. 43. 64 Ebd. 65 Ich gebrauche den Begriff ‚kalte Persona‘ im Sinne von Helmuth Lethen, der ihn in seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte zur Charakterisierung moderner Lebensentwürfe um 1900 prägte.
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Joachim Radkau hat in seiner Abhandlung über Das Zeitalter der Nervosität die „quälende Zersplitterung der Aufmerksamkeit“ durch den Zuwachs an Individualisierung und Distanzierung bei gleichzeitiger Beschleunigung aller Lebensund Arbeitsprozesse erklärt.66 Bereits 1903 sprach Georg Simmel von einer „Steigerung des Nervenlebens“ aufgrund des „raschen und ununterbrochenen Wechsels äußerer und innerer Eindrücke“ in den modernen Großstädten.67 Diesen soziologischen Befund erhärtete Emilie Altenloh 1914 in ihrer soziologischen Studie über das Kinopublikum, wo sie betont, dass das Kino „in erster Linie für den modernen Menschen da“ sei, der unbewusst nach den Gesetzen der Gegenwart lebe.68 Das Kino und seine Besucher seien „typische Produkte unserer Zeit“, die „sich durch ein fortwährendes Beschäftigtsein und durch eine nervöse Unruhe“ auszeichne: Der tagsüber im Beruf angespannte Mensch befreit sich von dieser Hast selbst dann nicht, wenn er sich erholen will. Im Vorbeigehen sucht er im Kino für kurze Zeit Zerstreuung und Ablenkung und denkt dabei schon halb an das, womit er die nächsten Stunden ausfülle.69 Für den Kinozuschauer ist die Zerstreuung wie bei den von Janet beschriebenen Anästhesien gewissermaßen habituell geworden, sie stellt eine kulturelle Praktik dar, die, wie Siegfried Kracauer in den 1920er Jahren nicht müde geworden ist zu betonen, dem konsumorientierten Heer von Angestellten aufs Genaueste entspricht. Man weiß, dass sich Kracauer sehr genau für die spezifische Architektur dieser „Kultstätten des Vergnügens“ und ihre illusionierenden Effekte interessiert hat, für die dispositive Anordnung des Kinos, dessen „Prunk der Oberfläche“ die Massen anzieht.70 Zu diesem Dispositiv gehörten neben der architektonischen Anordnung von Kinoleinwand und Publikum, der Choreographie unterschiedlicher musikalischer, akrobatischer, tänzerischer Darbietungen, zahlreiche optische und akustische Effekte, die insgesamt das Kinoerlebnis formen: „Aus dem Kino ist ein glänzendes, revueartiges Gebilde herausgekro-
66 Radkau: Das Zeitalter der Nervosität, S. 21. 67 Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“, S. 192. 68 Altenloh: Zur Soziologie des Kinos. S. 94. 69 Ebd., S. 56. 70 Kracauer: „Kult der Zerstreuung“ S. 311.
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chen“, schreibt er am 4. März 1926 in der Frankfurter Zeitung über den „Kult der Zerstreuung“, den die Berliner Lichtspielhäuser betrieben, das Gesamtkunstwerk der Effekte. / Es entlädt sich vor sämtlichen Sinnen mit sämtlichen Mitteln. Scheinwerfer schütten ihre Lichter in den Raum, die festliche Behänge übersäen oder durch bunte Glasgewächse rieseln. Das Orchester behauptet sich als selbständige Macht, seine Leistungen werden von den Responsorien der Beleuchtung unterstützt. Jede Empfindung erhält ihren klanglichen Ausdruck, ihren Farbwert im Spektrum. Ein optisches und akustisches Kaleidoskop, zu dem das körperhafte szenische Spiel sich gesellt: Pantomime, Ballett. Bis zuletzt die weiße Fläche herabsinkt und die Ereignisse der Raumbühne unmerklich in die zweidimensionalen Illusionen übergehen. / Vorführungen wie diese sind heute in Berlin neben den echtbürtigen Revuen die entscheidende Attraktion. Die Zerstreuung gelangt in ihnen zu ihrer Kultur. Sie gelten der Masse.71 Tom Gunning hat diese Aufführungspraxis des „optischen und akustischen Kaleidoskops“, die ihre Wurzeln in den Unterhaltungsstätten des 19. Jahrhunderts hat, als „variety format“ bezeichnet.72 Dass diese Kultur der Zerstreuung die Angelegenheit einer selbst wiederum zerstreuten Masse mit unabsehbaren gefährlichen Folgen ist, wurde immer wieder in den Debatten um das neue Medium verlautbart. Insbesondere die „schädliche Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen“ wurde von Medizinern wie Albert Hellwig, Robert Gaupp oder Hermann Duenschmann angeprangert.73 Selten jedoch wurde die zerstreuende Wirkung des Films auf sein Publikum so auf den Punkt gebracht wie in Kurt Karl Eberleins 1928 veröffentlichtem Essay Januskopf und Maske: Ironie der schicksaligen Technik, daß gerade die sammelnde Linse die schauende Welt zentrifugal zerstreut, daß gerade der sammelnde gemeinschaftssuchende Film die Masse dezentralisiert, im Ungebundenen, Un-gebildeten bindet.74 Eberlein hebt die deregulierenden Auswirkungen des Filmsehens hervor und kommt auf die es kennzeichnenden Paradoxien zu sprechen. Als zentrale Dichotomie macht er in kulturkritischem Duktus die gegensätzlich wirkenden 71 Ebd., S. 312. 72 Gunning: „The Cinema of Atractions“, S. 60. 73 Siehe die entsprechenden Texte in Kümmel/Löffler: Medientheorie 1888-1933. 74 Eberlein: „Januskopf und Maske“, S. 285.
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Kräfte von zentrierender Projektion und zerstreuender Rezeption, von gemeinschaftlichem Kinoerlebnis und zerstreuter Masse aus. Seine an massenpsychologischem Gedankengut geschulte Analyse mündet in der Vorstellung einer im „Un-gebundenen“ gebundenen Masse. Diese ist in der Massenpsychologie des 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts Legion.75 Sie steht für ein Publikum, das sich etwa für Gustave le Bon, dessen Psychologie des foules 1895, also im Jahr der ersten öffentlichen Filmvorführungen erschienen ist, vor allem durch Bilder affizieren läßt. Während Le Bon die Vorstellung einer zerstreuten Masse unter anderem am Beispiel des Theaters entwickelt hat, bezieht Eberlein diese ganz selbstverständlich auf das Kino und sein Publikum. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er die Semantik der verstreuten Masse bzw. des zerstreuten Kinopublikums um einen wesentlichen Aspekt erweitert: Die Masse im Kino ist in seiner Vorstellung nicht nur im „Un-gebundenen“ gebunden, sondern auch im „Un-gebildeten“. Eberlein zielt einerseits ganz im Sinne massenpsychologischen Denkens darauf ab, dass die Masse ungebildet sei, andererseits meint der Begriff aber auch, dass das Kinopublikum selbst ein gestaltloses Gebilde darstelle, es also alles andere als ein „homogenes Weltstadt-Publikum“ sei, wie Kracauer imaginiert hatte.76 Verblüffend und faszinierend gleichermaßen ist für Eberlein vor allem, dass diese zerstreute Masse durch eine Apparatur diszipliniert wird, die sie überaus erfolgreich „bindet“. Dieser scheinbar irrationalen Faszination der Masse für die Filmapparatur hat bereits Alfred Döblin 1909 durch eine Beobachtung Ausdruck verliehen, in der er die Obszönität und Monstrosität der damals verbreiteten Ladenkinos beschrieben hat, die er in eine Reihe mit Anatomietheater und Panoptikum stellt: „Drin in dem stockdunklen, niedrigen Raum glänzt ein mannshohes Leinwandviereck über ein Monstrum von Publikum, über eine Masse, welche
75 In Auseinandersetzung mit den massenpsychologischen Thesen Gustave Le Bons, insbesondere mit seiner Behauptung eines ‚Zeitalters der Massen‘, hat Gabriel Tarde das Konzept eines Zeitalters der Öffentlichkeit bzw. der vielen Öffentlichkeiten entwickelt. In seinem 1898 veröffentlichten Aufsatz Le public et la foule definierte er den Terminus ‚public‘, der sowohl Öffentlichkeit als auch Publikum meint, als „une foule dispersée“, die sich besonders durch Fernwirkung beeinflussen lasse. Michael Gamper übersetzt Tards „foule dispersée“ als „verstreute Masse“ gemäß dessen Auffassung einer (durch die Presse) ferngelenkten Öffentlichkeit. Auch das auf Suggestion beruhende Kinoerlebnis lässt sich so als Fernwirkung auf eine anwesende und zugleich disperse Masse beschreiben (vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 477). 76 Kracauer: „Kult der Zerstreuung“, S. 313.
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dieses weiße Auge mit seinem stieren Blick zusammenbannt.“77 Für Döblin zwingt die Filmprojektion einerseits den Blick der Zuschauermassen, ununterbrochen auf das „weiße Auge“ zu starren: Insofern sind die Filmzuschauer Gaffer, die ihren Blick nicht von der Kinoleinwand abwenden können und durch diesen Blick zugleich diszipliniert werden. Andererseits wird ihre Aufmerksamkeit immer wieder neu angestachelt durch wechselnde Projektionen von Kriminalaffären, Verbrecherjagden, Melodramen und Aktualitäten. Zugleich wird ihre Aufmerksamkeit zerstreut, ist sie immer auch woanders, wenn die Zuschauer – wie Döblin selbst – in gleicher Weise die Spektakel im nur durch die Projektion erhellten Raum, die Techtelmechtel vor dem „weißen Auge“, verfolgen. In dieser Spaltung des Blicks ist Döblins Schilderung gefangen: Die Blicke der Vielen werden demnach im doppelten Sinne zerstreut, das heißt, sie werden gezwungen, ihre Aufmerksamkeit zugleich zu vertiefen sowie auf verschiedene Gegenstände zu verteilen. Ihre Zerstreuung ist ein durch und durch medialer Effekt. Als Kampfbegriff ist Zerstreuung in den 1920er und 1930er Jahren vor allem von Kracauer und Benjamin verwendet worden, die mit dieser Kategorie „die Anfänge einer neuen Kultur im Zusammenbruch der alten“ erfassen wollten.78 Beide Theoretiker der Moderne haben die Notwendigkeit erkannt, den Begriff der Zerstreuung im Sinne seiner Operationalisierbarkeit zu radikalisieren. Bei Benjamin hat Zerstreuung nichts mehr mit Sucht, sondern mit Medientechnik und Massenrezeption zu tun. Dabei schließt er durchaus an die Einsichten Döblins und Eberleins an, wenn er in seinem Kunstwerk-Aufsatz behauptet, nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen des Einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vornherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.79 Darüber hinaus führte Benjamin, wie Heide Schlüpmann unterstreicht, „Kracauers Postulat der Radikalisierung der Zerstreuung im Begriff einer durch die technische Struktur des Films bedingten ‚Schockwirkung‘ des Films weiter.“80 Folgt man aber der von Janet ausgelegten Fährte, dann lässt sich Benjamins
77 Döblin: „Das Theater der kleinen Leute“, S. 38. 78 Schlüpmann: „Kinosucht“, S. 46. 79 Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Zweite Fassung], S. 374. 80 Schlüpmann: „Kinosucht“, S. 50.
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Rede von der „Rezeption in der Zerstreuung“81 angesichts des Films auch als Vorgang einer temporären Anästhesierung verstehen, die anders als die von ihm favorisierte taktile Rezeption eine Immunisierung betreibt, die gerade darin besteht, der Deregulierung des Blicks, den Schwindel verursachenden Eindrücken selbst die therapeutische Rolle eines zeitweiligen Reizschutzes zuzuweisen.82 Im Begriff der Gewöhnung hat Benjamin eine solche Richtung angedeutet, denn „gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, daß sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist.“83 Zerstreuung hätte damit endgültig sein pathologisches Erbe abgestreift und könnte als induzierte Medienwirkung seine ganze Produktivität entfalten. Damit geriete sie zugleich in Frontstellung zur folgenschweren Anästhetisierung der Sinne, die der Faschismus im Namen seiner narzisstischen Allmachtsphantasien betrieben hat und die auf eine vollständige Panzerung des individuellen wie des kollektiven Körpers zielten.84 Denn die anästhetisierende Wirkung der zerstreuten Wahrnehmung verhindert gerade die Vorstellung eines gepanzerten Individuums wie einer homogenen Gemeinschaft. Für diese Zusammenhänge haben Filmregisseure wie Friedrich Wilhelm Murnau ein sehr genaues Gespür entwickelt. Sein in den USA gedrehter Spielfilm Sunrise (vgl. Abb. 1-8) ist nur ein Jahr, nachdem Siegfried Kracauers berühmter Essay Kult der Zerstreuung in der Frankfurter Zeitung erschienen war, in die Kinos gekommen. Das ist insofern kein Zufall, als sich hier ein bestimmtes Denken des Films zeigt, das die Möglichkeiten und Gefahren kultureller Praktiken der Zerstreuung auslotet. An Murnaus Film wird der archäologische Zusammenhang zwischen Schwindel, zerstreuter Wahrnehmung und modernen Massenmedien anschaulich. Tom Gunning hat die archäologische Beziehung zwischen den Vergnügungsstätten der westlichen Metropolen und der Herausbildung der Kinokultur um 1900 in seiner Konzeption des Cinema of Attractions betont.85 Murnau exerziert die medialen Verfahren der anästhesierenden Zerstreuung sowohl auf der Ebene der filmischen Darstellung als auch im bewussten Einsatz filmtechnischer Mittel durch. 81 Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Erste Fassung], S. 505. 82 Von der „Möglichkeit einer psychischen Impfung“ spricht Benjamin explizit angesichts „der Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus“ (ders. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Zweite Fassung], S. 377). 83 Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [Erste Fassung], S. 505. 84 Diesen archäologischen Zweig verfolgt Susan Buck-Morss in ihrem Aufsatz „Aesthetics and Anaesthetics“. 85 Vgl. Gunning: „The Cinema of Attractions“, S. 58.
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Abbildungen 1-8: Screenshots (Sunrise. A Song of two Humans, USA 1927).
Der Filmzuschauer bekommt so nicht nur die Möglichkeiten kommerzialisierter Zerstreuung vorgeführt, die ein zeitgenössischer Vergnügungspark liefert, sondern er wird selbst als Subjekt und Objekt der Zerstreuung adressiert, indem seine zerstreute Wahrnehmung in den filmischen Raum inkorporiert und
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dort gleichzeitig reflektiert wird. Dies lässt sich an der sorgfältigen Komposition der zentralen Szene im Vergnügungspark verdeutlichen, als dessen reales Vorbild das 1895 gegründete Coney Island angesehen werden kann. Das sich drehende Rad in Großaufnahme am Anfang der Filmsequenz stellt in seiner Ähnlichkeit zur menschlichen Iris den Vorgang einer Zerstreuung der Wahrnehmung aus, bevor der Filmzuschauer durch eine Kamerafahrt in den Strom der Besucher einbegriffen wird, der das Tor zur Welt des Vergnügens durchschreitet. Der Vergnügungspark erscheint in Murnaus filmischer Fiktion als Schauplatz individueller Sehnsüchte und kollektiver Wunschträume gleichermaßen und als ein Ort, an dem deren Verwirklichung und Vermittlung für einen kurzen Moment gelingt. Daran haben die Schwindel erregenden, anästhetisierenden Stimuli kollektiver Zerstreuung keinen geringen Anteil.
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Autoren Walter Bruchhausen, Studium der Medizin, Theologie, Philosophie und Ethnologie in Bonn, Würzburg und Glasgow; ärztliche Tätigkeit u.a. in Ruanda und Ost-Kongo. 2004 Habilitation für Geschichte, Anthropologie und Ethik der Medizin; derzeit Lehrstuhlvertreter am Medizinhistorischen Institut der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Medizin in Afrika (Kolonialmedizin, Missionsmedizin, medizinische Entwicklungszusammenarbeit, ‚traditionelle Medizin‘). Publikationen u.a.: (Hrsg.) Hexerei und Krankheit. Historische und ethnologische Perspektiven (2003); Medizin zwischen den Welten. Vergangenheit und Gegenwart des medizinischen Pluralismus im südöstlichen Tansania (2006); „Repelling and Cleansing ‚Bad People‘. The Fight against Witchcraft in Southeast Tanzania since Colonial Times“, in: Schmidt, Burghart/Schulte, Rolf (Hrsg.): Witchcraft in Modern Africa (2007), S. 130-152. Johannes Dillinger, Promotion in Trier, Stipendiat und Nachwuchsgruppenleiter im ‚Emmy Noether‘-Programm, Visiting Research Fellow am German Historical Institute Washington/Georgetown University. Privatdozent für Neuere Geschichte und Landesgeschichte; derzeit Senior Lecturer in Early Modern History, Oxford Brookes. Publikationen u.a.: ‚Böse Leute.‘ Hexenverfolgungen in Schwäbisch-Österreich und Kurtrier im Vergleich (1999); „‚Das Ewige Leben und fünfzehntausend Gulden.‘ Schatzgräberei in Württemberg 1606-1770“, in: Dillinger, Johannes (Hrsg.): Zauberer – Selbstmörder – Schatzsucher. Magische Kultur und behördliche Kontrolle im frühneuzeitlichen Württemberg (2003), S. 221-297; Hexen und Magie. Einführung in die historische Hexenforschung (2007). Michael Gamper, Assistent und Oberassistent am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Danach Habilitationsstipendiat des Schweizerischen Nationalfonds, Humboldtstipendiat an der Humboldt-Universität zu Berlin, Research Fellow am IFK Wien und Visiting Professor am German Department der Princeton University; hat derzeit eine SNF-Förderprofessur für Literaturwissenschaft an der ETH Zürich inne. Forschungschwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts, Literaturgeschichte des Experiments, politisches und soziales Imaginäres, Literatur und Medialität, Geschichte des (Nicht-)Wissens. Publikationen u.a.: (Hrsg.) Kollektive Gespenster. Die Masse, der Zeitgeist und andere unfaßbare Körper (2006); Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765-1930 (2007); Elektropoetologie. Fiktionen der Elektrizität 1740-1870 (2009).
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Trancemedien und Neue Medien um 1900
Wolfgang Hagen, Studium der Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin, danach im Merve-Verlag Berlin und bis 1975 als Geschäftsführer einer Buchhandlung in Berlin tätig. 1978 Kulturredakteur bei Radio Bremen, 19791984 Redakteur und Moderator der Sendung SFBeat des SFB, 1985-2002 erst Abteilungsleiter von ‚Kultur Aktuell‘ und Moderator von Drei nach Neun, dann Gründungs- und Programmchef von Radio Bremen Vier; derzeit Privatdozent für Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und Leiter der Abteilungen Kultur und Musik im Deutschlandradio Kultur. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Computers, des Radios, der digitalen Bildlichkeit und der Medien. Publikationen u.a.: Radio Schreber. Der ‚moderne Spiritismus‘ und die Sprache der Medien (2001); „Der Okkultismus der Avantgarde um 1900“, in: Schade, Sigrid/Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien (1999), S. 338-357; Das Radiobuch. Zur Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland/USA (2005). Marcus Hahn, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln, Stipendiat im Konstanzer Graduiertenkolleg ‚Theorie der Literatur und Kommunikation‘, danach im dortigen SFB 511 ‚Literatur und Anthropologie‘ tätig; derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen. 2009 Research Fellow am IFK Wien. Forschungsschwerpunkte: deutschsprachige Literatur vom 18. zum 20. Jahrhundert, Wissenschafts-, Medien- und Kulturgeschichte, Anthropologie. Publikationen u.a.: Geschichte und Epigonen. ‚19. Jahrhundert‘/‚Postmoderne‘, Stifter/Bernhard (2003); (Hrsg.) Disziplinen des Lebens. Zwischen Anthropologie, Literatur und Politik (2004); „Assoziation und Autorschaft. Gottfried Benns Rönneund Pameelen-Texte und die Psychologien Theodor Ziehens und Semi Meyers“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 80, 2006, S. 245-316. Michael Hochgeschwender, Studium der Geschichte, der Religionsgeschichte und der katholischen Theologie in Würzburg, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen; derzeit Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der USA in der Antebellum- und Bürgerkriegsepoche sowie in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg; Geschlechtergeschichte der USA; Geschichte des nordamerikanischen Katholizismus; Kulturgeschichte des Kalten Krieges. Publikationen u.a.: Freiheit in der Offensive? Die Deutschen und der Kongreß für kulturelle Freiheit (1998); Wahrheit, Einheit, Ordnung. Die Sklavenfrage und der amerikanische Katholizismus, 1835-1870 (2006); Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus (2007).
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Autoren
Eva Johach, Studium der Biologie, Chemie und Kulturwissenschaften, Promotion in Kulturwissenschaft mit einer Arbeit über medizinisch-politische Krebsmetaphorik. Danach Postdoktorandin am Graduiertenkolleg ‚Geschlecht als Wissenskategorie‘; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: menschliche und tierische Kollektive, Natur und Geschlecht, die Geschichte des Unbewussten, Krankheitstheorien und Sozialpathologien, Experimentalismus und Esoterik. Publikationen u.a.: „Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels“, in: von der Heiden, Anne/Vogl, Joseph (Hrsg.): Politische Zoologie (2007), S. 75-89; Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie (2008); (Hrsg.) Das Unbewusste. Wissen und Geschlecht (2009). Ulrich Linse, bis zur Pensionierung 2004 Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Hochschule München, Fakultät General Studies. Forschungsschwerpunkte: die Geschichte der alternativen sozialen Bewegungen vom deutschen Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland; Wissenschaftsgeschichte. Publikationen u.a.: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre (1983); Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter (1996); Die Insel Rhodos (Griechenland): Geologische Stratigraphie und politische Strategie – zweihundertfünfzig Jahre Forschungsgeschichte (1761-2008) (2008). Petra Löffler, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Slawistik in Erfurt und Köln. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am FK/SFB 427 ‚Medien und kulturelle Kommunikation‘ der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen, danach am Institut für Medien-, Informations- und Kulturwissenschaft der Universität Regensburg tätig, derzeit wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Archäologie der Medien, Diskurs- und Mediengeschichte des Gesichts, Bildtheorie, Early Cinema, Medienkulturen der Zerstreuung. Publikationen u.a.: (Hrsg.) Medientheorien 1888-1933. Texte und Kommentare (2002); Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik (2004); (Hrsg.) Gesichter des Films (2005). Nicole K. Longen, Studium der Geschichte, Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und der Germanistik in Trier, Promotionsstipendiatin im dortigen Graduiertenkolleg 846 ‚Sklaverei – Knechtschaft und Frondienste – Zwangsarbeit‘, danach wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt im Rahmen des ‚Emmy Noether‘-Programms; derzeit Lehrerin an der BlandineMerten-Realschule Trier. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Frondien-
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ste in der frühen Neuzeit, Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Geschichte der Fox-Schwestern. Publikationen u.a.: „Sterzinger, Ferdinand”, in: Richard Golden (Hrsg.): Encyclopedia of Witchcraft: The Western Tradition, Santa Barbara 2006, S. 1085f.; „Der Wandel der Wegebaufronen. Transformation der Dienstverpflichtungen in Stadt und Land im Trierer Raum, ca. 1716-1850“, in: Reichardt, Tobias/Kabadayi, M. Erdem (Hrsg.): Unfreie Arbeit. Ökonomische und kulturgeschichtliche Perspektiven, Hildesheim u.a. 2007, S. 200-229. Uwe Schellinger, Studium der Geschichtswissenschaft und Theologie in Freiburg, danach Stipendiat der ‚Kulturstiftung Offenburg‘, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg (Abteilungen Institutsarchiv / Kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Studien). Forschungsschwerpunkte: Jüdische Hellseher und Paragnosten im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der ‚Kriminaltelepathie‘ in Deutschland im 20. Jahrhundert; Hellseher, Medien und Wunderheiler im regionalen Kontext (Mittelbaden im 19. und 20. Jahrhundert). Publikationen u.a.: „Faszinosum, Filou und Forschungsobjekt: Das erstaunliche Leben des Hellsehers Ludwig Kahn (1873–ca. 1966)“, in: Die Ortenau. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 82, 2002, S. 429468; (gemeins. m. Gerhard Mayer) „Webers Hände. Wirken und Wirkungen des ‚Wunderheilers von Schutterwald‘“, in: Die Ortenau. Zeitschrift des Historischen Vereins für Mittelbaden, Jg. 86, 2006, S. 11-42; (gemeins. m. Michael Schetsche) „‚Psychic Detectives‘ auch in Deutschland? Hellseher und polizeiliche Ermittlungsarbeit“, in: Die Kriminalpolizei, Jg. 25, 2007, Nr. 4, S. 142-146. Erhard Schüttpelz, Studium der Germanistik, Anglistik und Ethnologie in Hannover, Exeter, Bonn, Oxford und Köln, Humboldt-Stipendiat an der Columbia University New York, Postdoktorand am Konstanzer Graduiertenkolleg ‚Theorie der Literatur und Kommunikation‘, wissenschaftlicher Mitarbeiter am FK/SFB 427 ‚Medien und kulturelle Kommunikation‘ der Universitäten Köln, Bonn, Bochum und Aachen. Im Anschluss Koordinator der Forschungsstelle ‚Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären‘ an der Universität Konstanz und Research Fellow am IFK in Wien; derzeit Professor für Medientheorie an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Sprach- und Medientheorie der Rhetorik, ‚postkoloniale‘ Literatur- und Mediengeschichte der globalisierten Moderne, Wissenschaftsgeschichte der Medientheorie und Ethnologie, Medienanthropologie und Kulturtechniken, Methoden der Medienforschung. Publikationen u.a.: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1870-1960) (2005); (Hrsg.) Schlangenritual. Der Transfer der Wissensformen vom Tsu’ti’kive der Hopi bis zu Aby Warburgs Kreuzlinger Vortrag
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Autoren
(2007); (Hrsg.) Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen (2008). Annette Werberger, derzeit wissenschaftliche Assistentin am Slavischen Seminar der Universität Tübingen, wo sie an einem Habilitationsprojekt zu ‚Dibbuk und Dämonen. Kulturalisierungsprozesse in den jüdischen Literaturen Ostmitteleuropas‘ arbeitet. Forschungsschwerpunkte: russische, jiddische und polnische Literatur, Semen An-skij, Paul Celan, Bruno Schulz, ostmitteleuropäische Narrative (Westukraine) und Weltliteratur. Publikationen u.a.: Postsymbolistisches Schreiben. Studien zur Poetik des Akmeismus und Osip Mandel’štams (2005); (Hrsg.) Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur (2009); (gemeins. m. Renata Makarska) „Die ethnographische Narration als mitteleuropäische Schreibweise“, in: Marszaâek, Magdalena/Sasse, Sylvia (Hrsg.): Geopoetik: Literatur und Geographie (im Druck). Barbara Wolf-Braun, Studium der Psychologie und Philosophie in Wien, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Senckenbergischen Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Ethik der Psychotherapie und der Alternativmedizin, Verhältnis von Okkultismus bzw. Parapsychologie und Medizin im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Publikationen u.a.: „‚Was jeder Schäferknecht macht, ist eines Arztes unwürdig.‘ Zur Geschichte der Hypnose im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik“, in: Hypnose und Kognition. Zeitschrift für die Grundlagen und klinische Anwendung von Hypnose und kognitiver Psychologie, Jg. 17, 2000, S. 135-152; „The Higher Order of the Natural Laws and the Wrong World of Hysterical Mediums: Medicine and the Occult ‚Fringe‘ at the Turn of the Nineteenth Century in Germany“, in: Jütte, Robert/Eklöff, Motzi/Nelson, Marie C. (Hrsg.): Historical Aspects of Unconventional Medicine. Approaches, Concepts, Case Studies (2001), S. 227-245; „Hexerei und Krankheit heute“, in: Walter Bruchhausen (Hrsg.): Krank durch Hexerei? Historische und ethnologische Perspektiven (2003), S. 219-244. Helmut Zander, Privatdozent für neuere und neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin; derzeit Postdoktorand an der interdisziplinären Graduiertenschule ‚Locating Media/Situierte Medien‘ der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Europäische Religionsgeschichte, religiöse Minoritäten, Anthroposophie. Publikationen u.a.: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute (1999); Abschied von der Nation? Historische Anregungen für die Aufräumarbeiten im Nationalstaat (2006); Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Milieus und gesellschaftliche Praxis, 1884 bis 1945, 2 Bde. (2007).
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Medienumbrüche Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip, Annegret März, Johanna Niesyto (Hg.) Politik mit dem Einkaufswagen Unternehmen und Konsumenten als Bürger in der globalen Mediengesellschaft 2007, 394 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-648-9
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Rainer Leschke, Jochen Venus (Hg.) Spielformen im Spielfilm Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne 2007, 422 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-89942-667-0
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3) ANZ1098.p 200518979168
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Ralf Schnell (Hg.) MedienRevolutionen Beiträge zur Mediengeschichte der Wahrnehmung 2006, 208 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-533-8
Jürgen Sorg, Jochen Venus (Hg.) Erzählformen im Computerspiel Zur Medienmorphologie digitaler Spiele April 2009, ca. 500 Seiten, kart., ca. 39,90 €, ISBN 978-3-8376-1035-2
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Medienumbrüche Manfred Bogen, Roland Kuck, Jens Schröter (Hg.) Virtuelle Welten als Basistechnologie für Kunst und Kultur? Eine Bestandsaufnahme Februar 2009, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1061-1
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