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German Pages 292 Year 1997
Traditionen der Lyrik
Traditionen der Lyrik Festschrift fur Hans-Henrik Krummacher
Herausgegeben von Wolfgang Düsing in Verbindung mit Hans-Jürgen Schings, Stefan Trappen und Gottfried Willems
Max Niemeyer Verlag
1997
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Traditionen der Lyrik : Festschrift für Hans-Henrik Krummacher / hrsg. von Wolfgang Diising. Tübingen : Niemeyer, 1997 NE: Düsing, Wolfgang [Hrsg.]; Krummacher, Hans-Henrik: Festschrift ISBN 3-484-10739-1 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 © für die Fotographie: Foto Rimbach, Mainz Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne die Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert Druck, Darmstadt
Inhalt:
Vorwort
1
Arbogast Schmitt Bukolik bei Theokrit — über den Ursprung einer europäischen Dichtungsgattung
3
Uwe Ruberg Gattungsgeschichtliche Probleme des geistlichen Tagelieds< — Dominanz der Wächter- und Weckmotivik bis zu Hans Sachs
15
Theodor Verweyen Thränen des Vaterlandes / Anno 1636 von Andreas Gryphius — rhetorische Grundlagen, poetische Strukturen, Literarizität
31
Hans Dietrich Irmscher Ein Blick auf Herders frühe Lyrik (1764-1770)
47
Hans-Jürgen Schings Im Gewitter gesungen — Goethes Prometheus-Ode als Kontrafaktur
59
Rolf Christian Zimmermann Wandrers Sturmlied von Goethe — eine Gelehrtendichtung in der Pindar-Tradition?
73
Gottfried Willems Klassische Lyrik? — über Goethes Römische Elegien und Venetianische Epigramme
87
Wolfgang Dtlsing Aspekte des Kunstbegriffs in Schillers klassischen Elegien
103
Manfred Dick Lyrische Deutung der Kunst in W. H. Wackenroders Wunderbarem morgenländischen Mährchen von einem nackten Heiligen
115
Franz Norbert Mennemeier Die Prosa mit der Lyrik verbinden — ein romantisches Projekt
127
VI Manfred Windfiihr »Religiöse Produktivität« — die biblisch-jüdischen Motive in Rilkes Neuen Gedichten
137
Ingrid Strohschneider-Kohrs Gesprächsformen als Konstituens lyrischer Struktur
151
Erwin Rotermund Gerhard Schumanns Sonettzyklus Die Reinheit des Reiches und sein Zeitgedicht Das Gericht — eine Skizze zur innerfaschistischen Opposition in der Lyrik des >Dritten Reiches
169
Theo Meyer Gottfried Benn und die lyrische Tradition
183
Hubert Ohl Peter Hüchels Italiendichtung
205
Bruno Hillebrand Ende des orphischen Gesangs — Gedanken zur Tonlosigkeit der deutschen Lyrik nach 1945
221
Hans-Otto Hügel Populäres als Kunst — Eigenständigkeit und Intentionalität im Musikvideo . . . .
237
RolfTarot Käte Hamburgers Lyriktheorie — eine Revision
257
Verzeichnis der Schriften von Hans-Henrik Krummacher
277
Verzeichnis der Beiträger
283
Tabula Gratulatoria
285
Vorwort
Lieber Herr Krummacher, die vorliegende Festschrift ist als Ehrung zu Ihrem 65. Geburtstag gedacht, ein literaturwissenschaftlicher Blumenstrauß, den ehemalige Schüler, Freunde, Kolleginnen und Kollegen zusammengestellt haben. Wir hatten dabei den Wunsch, einen Sammelband mit einer übergeordneten Thematik, aber auch mit einem Bezug zu Ihren Arbeiten zu präsentieren. Seit langem ist es das 17. Jahrhundert, dem Ihre besondere Aufmerksamkeit in Forschung und Lehre gilt. Dies dokumentieren viele Studien, vor allem Ihre Habilitationsschrift Der junge Gryphius und die Tradition und editorische Vorhaben wie die Anton Ulrich-Ausgabe. Aber diese und verwandte Arbeiten sollten den Blick nicht auf andere Schwerpunkte Ihrer Tätigkeit verstellen. Da ist vor allem Rilke zu nennen, dem Ihre Dissertation galt, und zu dem Sie noch in letzter Zeit mit einer Studie zurückkehrten. Es ist charakteristisch für Sie, daß Sie Ihren Forschungsgebieten die Treue halten. Ein weiteres großes Thema, das Sie seit Ihren Kölner Assistentenjahren bei Paul Böckmann intensiv beschäftigt, ist das Werk Eduard Mörikes. Dies dokumentieren mehrere Studien und Ihre kontinuierliche Arbeit für die große kritische Mörike-Ausgabe. Da Sie bei Mörike und Rilke wie auch bei vielen Autoren vom 17. bis zum 20. Jahrhundert immer wieder die Lyrik und die Lyriktheorie behandelt haben, da Sie mit dem geistlichen Lied und dem Epicedium auch die Entwicklung lyrischer Gattungen dargestellt haben und dieser Interessenschwerpunkt bei Ihnen bis heute besteht, lag es für uns nahe, den Ihnen zugedachten literaturwissenschaftlichen Strauß unter dem Titel »Traditionen der Lyrik« zusammenzufassen. Die Beiträge behandeln Themen von der Antike bis in die Gegenwart, von der klassischen, hermeneutischen Interpretation über die Analyse multimedialer Präsentation lyrischer Texte bis zur Konzeption einer Theorie der Lyrik. Die Vielfalt spiegelt die für Sie kennzeichnende Aufgeschlossenheit gegenüber dem breiten Themenspektrum des Faches wieder. Dankbar haben alle, die bei Ihnen promovierten oder sich habilitierten, Ihre grundsätzlich offene, tolerante Einstellung anerkannt. Ihre eigene Arbeit war jedoch seit jeher stärker von dem Bemühen geprägt, in Erinnerung zu rufen, daß angesichts einer sich immer selbstbewußter präsentierenden Moderne ganze Epochen der Vergangenheit hinter dem Horizont zu versinken drohen. Das Bewußtmachen verschütteter geistesgeschichtlicher Traditionen war und ist für Sie ein entscheidendes Motiv in Forschung und Lehre und führte Sie schon früh zu interdisziplinären Seminaren, die besonders das literarische Nachleben der Antike behandelten. Der eine oder andere Beitrag ist ein Echo auf diese Anregungen. Festschriften, die sachliche Darstellung mit einem persönlichen Aspekt verbinden, haben teil an dem »unsichtbaren Commercium der Geister und Herzen«, der »größten
2 Wohltat des Buchdrucks« (Herder). Da sich im Verlauf der Jahre mit den Ehrungen als Mitglied mehrerer Akademien auch die Verpflichtungen gemehrt haben, wünschen wir Ihnen für die Zukunft wieder etwas mehr Muße für das »unsichtbare Commercium«. Abschließend bleibt den Herausgebern noch die angenehme Pflicht, allen zu danken, die sich um den Band verdient gemacht haben, vor allem Birgitta Zeller vom Niemeyer Verlag, Matthias Altherr, M.A. und Angelika Kaul-von Bohr. Wolfgang Düsing, Mainz Hans-Jürgen Schings, Berlin Stefan Trappen, Mainz Gottfried Willems, Jena
Arbogast
Schmitt
Bukolik bei Theokrit — über den Ursprung einer europäischen Dichtungsgattung
Wie weit Vergils Bukolik von Ton und Geist der Empfindsamkeit der Schäfer-Dichtung des 18. Jahrhunderts entfernt ist, haben wir durch einige wichtige Arbeiten E.A. Schmidts genauer sehen gelernt.1 Dafl Theokrits bukolische Idyllen eher noch weniger mit den Intentionen neuzeitlicher Schäfer-Dichtung zu tun haben, läßt sich von vielen Aspekten her zeigen. Aber Schäfer-Dichtung sind auch viele Idyllen Theokrits, so daß die Frage berechtigt und auch nötig ist, was Theokrit bewegt hat, Dichtung in dieser Form und Gestalt zu betreiben, und welches Programm er damit verbunden hat. Für das Urteil der älteren Forschung, von dem sich aber auch viele Interpreten bis heute nicht völlig frei gemacht haben, war die Antwort auf diese Frage von der vor allem in der Romantik entwickelten Einschätzung des (von Droysen später sog.) Hellenismus als einer Art Moderne der Antike beeinflußt. Man sah im Hellenismus eine Art Spätzeit, hochreflektiert, artifiziell, vom Wissen um den Kulturbruch mit der Klassik (sc. des 5. Jhdts.) und von einem Gefühl der Dekadence geprägt. Den Ursprung der Schäfer-Dichtung suchte man dementsprechend in der Sehnsucht des der Natur entfremdeten Städters nach dem einfachen Leben, in der sentimentalen Hinwendung des in die Welt seiner rationalen Konstruktionen eingeschlossenen Subjekts zur Ursprünglichkeit und Naivität der reinen Empfindung des ländlichen Menschen. Eine Variante, keineswegs eine Überwindung dieser Postition ist die vor allem seit Snells Aufsatz über Das Spielerische bei Kallimachos und seit Ernst Richard Schwinges wichtigem Buch Künstlichkeit der Kunst1 maßgeblich gewordene ironische Theokrit-Interpretation. Im Sinn dieser Auslegung besteht der Bruch, den auch Theokrit gegenüber der Dichtung der Klassik mitvollzogen habe, in einer grundsätzlich ironischen Distanz, die die reflektiert gelehrte alexandrinische Dichtung ihren Gegenständen gegenüber einnehme: Nicht mehr das Gewicht der (heroisch großen) Gegenstände sei für die Dichter dieser Zeit bedeutend, sondern nur noch der artifizielle Umgang mit im Grunde beliebigen Gegenständen, die daher in der alexandrinischen Dichtung auch meist der (kleinbürgerlichen Alltagswelt entnommen seien. 3
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S. v.a. E m s t August Schmidt, Arkadien. Abendland und Antike, in: Antike und Abendland 21, 1975, 36—57. Schmidt zeigt hier, wie die sentimentalische Idealisierung der Hirtenwelt vor allem aus der Vergil-Rezeption Sannazaros kommt. S. auch Ulrich Tons, Sannazaros Acadia. Wirkung und Wandlung d e r vergilischen Ecloge, in: Antike und Abendland 23, 1977, 143—161.
2
S. Bruno Snell, Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft, in: ders., Die Entdeckung des Geistes, Göttingen 1986®, 257—274; Emst Richard Schwinge, Künstlichkeit der Kunst: Zur Geschichtlichkeit der alexandrinischen Poesie, München 1986. S. Verf., Ironie und Spiel bei Theokrit?, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, N F 15, 1989, 1 0 7 - 1 1 8 .
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Arbogast Schmitt
Für die Bukolik im besonderen hat dieses Theokritbild Bernd Effe in mehreren Untersuchungen aufgearbeitet. 4 Theokrit gehe es in seinen ländlichen Gedichten (ebenso wie in seinen städtischen) um eine »Spiegelung der Welt der kleinen Leute«, die sich »bei aller literarischen Stilisierung durchaus realistisch« vollziehe, »allerdings aus einer bestimmten Perspektive heraus: aus der Haltung distanzierter Ironie«, aus der heraus Theokrit diese Milieustudien »dem überlegenen Lächeln eines Literatenpublikums« präsentiere. 5 Beispiel für diese Art, tolpatschig grobe Hirten dem Amusement eines gebildeten Publikums quasi vorzuführen, ist für Effe etwa das fünfte Idyll Theokrits. In diesem Idyll, einem typischen Bukoliasmos, einem nach bestimmten Regeln ablaufenden Wettgesang, geht es in der Tat derb komisch zu. Aber es sind die Hirten selbst, die sich in heiterer Ironie auf den Arm nehmen und sich gegenseitig mit witzigen Revanchen zu übertreffen suchen. Auch wenn es Theokrits Anliegen gewesen sein sollte, ein überlegenes Literatenpublikum zu amüsieren, es könnte bei dieser Art zwar derben, aber raffinierten und gekonnten Witzes nur mitlachen. Der angebliche Kenner, der sich »von Menschen diesen Schlags« »ironisch distanzieren« würde, würde damit gerade unter Beweis stellen, daß er mit dem Witz und der Ironie, über die diese Hirten offenbar brillant verfügen, nichts anzufangen weiß. In der Tat scheint Theokrits Beschäftigung mit der Dichtung der Hirten nicht aus einer sich überlegen dünkenden Distanz zu kommen, sondern aus einem echten Interesse an Qualitäten, die Theokrit in der Hirtendichtung seiner Zeit vorgefunden hat, oder zumindest an poetischen Möglichkeiten, die sich in seinem Sinn aus dieser Dichtung entwickeln ließen. Leider sind uns außer einigen wenigen Notizen der Scholien kaum zuverlässige historische Angaben überliefert, die über die künstlerischen Intentionen der Bukolik und ihre poetische Umformung durch Theokrit zu einer, eigenen Gattung von Lyrik klare Auskunft gäben. Wir sind zur Erschließung der Gattungsmerkmale der theokritischen Bukolik daher weitestgehend auf den Text seiner sog. bukolischen Gedichte selbst angewiesen. Einige dieser Gedichte sollen im folgenden in Blick auf die konstitutiven Merkmale der Gattung Bukolik genauer interpretiert werden. Das Grundthema fast aller späteren Bukolik schlägt bereits das erste Idyll Theokrits an: das Thema Eros. Man kann sagen, daß dies nicht nur in diesem Gedicht so ist, sondern daß in der Tat das Denken und Singen der Hirten auch bei Theokrit vor allem um dieses Thema kreist. Die Verbindung >Schäfer und Liebe« ist also keine spätere Stilisierung, Idealisierung oder Maskerade, sondern gehört von Anfang an zu den Gattungsmerkmalen der Bukolik.
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S. v.a. Bernd Effe, Die Genese einer literarischen Gattung: Die Bukolik, Konstanz 1977; ders., Die griechische Literatur in Text und Darstellung, Bd. 4: Hellenismus, hrsg. v. Bernd Effe, Stuttgart 1985, v.a. S. 9—19, 46f. S. ebd. (»Hellenismus«, wie Anm. 4) S. 49.
Bukolik bei Theokrit — über den Ursprung einer europäischen Dichtungsgattung
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D i e Art, wie Theokrit dieses Thema behandelt, weicht allerdings so sehr von späteren Behandlungen dieses Themas, sogar schon von Vergils Umgang damit, ab, daß sie selten richtig gedeutet, ja oft gar nicht erst in ihrer Eigenart beachtet wurde, obwohl und das stellt vielen Interpreten kein gutes Zeugnis aus - Theokrits Liebesauffassung für griechisches Denken keineswegs ungewöhnlich ist, sondern in ihrem Kern sich bis in die frühgriechische Lyrik, etwa zu Sappho, zurückverfolgen läßt. Piatons berühmte Beschreibung der Natur des Eros in der Diotima-Rede des Symposions kann durchaus auch in diese Tradition gerechnet werden - das Symposion geht ja auch von der in der Gesellschaft der Zeit üblichen und traditionell gepflegten Form der (Knaben-) Liebe aus und sucht sie zu sublimieren - , so daß uns zu dieser Form des Eros-Verständnisses sogar eine begrifflich allgemeine >Aitiologie< vorliegt. Doch nun zum ersten Idyll Theokrits! Thema dieses Gedichts ist nicht einfach die Liebe, sondern das Liebesleid, die S/Xyea, die Schmerzen, die dem Hirten Daphnis durch den Eros widerfuhren. Die Gewohnheit, bei Liebesleid an eine unerfüllte, schmachtende Liebe zu denken, hat dazu geführt, bei Theokrit eine Auseinandersetzung mit gerade dieser Art von Liebesdarstellung zu suchen. Die ganz und gar nicht idealisierende, realistische Art der Darstellung bei Theokrit ist daher Anlaß, aus der richtigen Feststellung, daß es nichts Sentimentales, nichts Romantisches oder Schwärmerisches bei Theokrit gebe, den Schluß zu ziehen, Theokrit behandle dieses Thema >ironisch-satirischniedrige< Genos der Hirtendichtung benutzt haben, um an der Lächerlichkeit dieser natürlich-groben Figuren die Lächerlichkeit sentimentaler Liebeslyrik überhaupt ironisch destruieren zu können. Wie liest man eine derartige Intention in Theokrit hinein? Für das erste Idyll geht das so: »Und wie verhält es sich mit Daphnis im ersten Gedicht? Warum sträubt er sich gegen die Liebe? Sein Mädchen sucht ihn ja überall (V. 83). Welch seltsames Gelübde hat er gemacht (V. 97)? Hat er sich der liebeverachtenden Göttin Artemis verschworen? Kein Wunder, daß er so den Zorn der Liebesgöttin auf sich lenkte. Trotzdem möchte ihn Aphrodite noch retten (V. 138f.), mag er sich auch böse Vorwürfe gegen sie erlaubt haben (V. lOSf ). Aber es ist zu spät. Er war unbelehrbar, hat sich benommen wie ein törichter Geishirt, nicht wie ein vornehmer, selbstsicherer Rinderhiit (V. 85f.). Auch die Hilten alle, Hermes und Priapos, können nur den Kopf schütteln. Und wenn Daphnis kurz vor seinem Tode ausruft, die Disteln mögen künftig Veilchen tragen und die Pinien Birnen, und alles möge sich umkehren (V. 132f.), so kann uns das - trotz der Klage der Tiere (V. 71—75) - nicht
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S. Theokrit, Gedichte, griechisch-deutsch von F.P. Fritz, München 1970, S. 230f. Die in Fritz' Anhang zu seiner Übersetzung gegebene Deutung nimmt die spätere ironische Theokritinterpretation etwa durch Effe oder Horstmann (s. A.E. Horstmann, Ironie und Humor bei Theokrit, Meisenheim am Glan 1976) inhaltlich völlig vorweg, nur die sprachliche Formulierung ist naiver.
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Arbogast
Schmitt
traurig und sentimental stimmen. Denn ist solche Verkehrtheit nicht ein hübscher Scherz? Wer möchte nicht Birnen von Tannen pflücken? Verspottet Daphnis seine eigene Verkehrtheit mit solchen Verschwünschungen nicht selbst? Sänger und Zuhörer gehen am Ende des Liedes zur Tagesordnung über. Was soll man da klagen und bedauern?«7
Ich habe mir erlaubt, eine etwas längere Partie aus Fritz' Anhang zu seiner Tusculum-Übersetzung zu zitieren, weil hier in einer naiveren Sprache die Inhalte der gegenwärtigen dekonstruktivistischen Theokrit-Interpretation klar ausgesprochen sind. Der Hauptgedanke ist offenbar, daß Theokrit nichts von dem, was er vorträgt, wirklich ernstgenommen haben will, vor allem nicht die Qualen, die Daphnis durch seinen Eros erleidet. Aber kann das zutreffend sein? Ich rekapituliere zunächst nur den Grundablauf des Liedes von den Leiden des Daphnis. Thyrsis beginnt mit der Frage: »Wo wart ihr denn, als Daphnis dahinschwand, wo denn, ihr Nymphen?« (Id. 1, V. 66). Da Daphnis in seiner Liebesqual von vielen Mitleid und Hilfe erfährt - es beklagen ihn die Tiere seiner Umgebung, Hermes, die Rinder-, Schaf- und Ziegenhirten, Priapos, Pan, ja sogar Aphrodite persönlich sind um ihn bekümmert und suchen, ihm zu helfen - kann Thyrsis nicht nur meinen, Daphnis sei ein Liebling der Musen gewesen und hätte deshalb bei ihnen auf Anteilnahme hoffen können. Seine Aussage ist prägnanter: Von allen, die Daphnis zu helfen bereit waren, wären es allein die Musen gewesen, deren Hilfe ihn hätte retten können. Kann das von Theokrit so, wie es gesagt ist, auch gemeint gewesen sein, oder wollte er den ohne Musen in Liebesqual dahinschmelzenden Daphnis nur als Beispiel falscher Gefühlsduselei vorführen? Soviel kann man jedenfalls mit Sicherheit sagen, daß das Motiv, daß nur die Musen von den Qualen des Eros retten können, nicht nur ein häufig von Theokrit benutztes, sondern vor allem ein subtil und differenziert, mit vielen Inhaltsnuancen vorgetragenes Motiv ist. In den Thalysien z.B., dem 7. Idyll, singt der Hirtendichter Lykidas ein Lied, 8 von dem er sagt, es sei ein kleines, sorgfältig durchgearbeitetes Gedicht (V. 50f.), kein Riesenwerk, in dem Riesengegenstände aufeinandergetürmt seien (V. 45—48). In diesem Lied (V. 52—89), das also offenbar dem neuen Dichtungsideal der hellenistischen Dichter entsprach, berichtet Lykidas, wie er sich gegen den Eros zu einem Knaben schütze. Dazu schickt er den Knaben zunächst - in Gedanken - in weite Ferne und malt sich ein Fest aus, das er, wenn der Knabe erst einmal weg sei, feiern werde, um seinen heftigen Eros in ein mildes Gedenken zu verwandeln. Zu diesem Fest gehört neben einer geradezu zeremoniellen Gestaltung der Umgebung, fur die Lykidas nicht nur einen >locus
7 S. ebd. S. 228. * S. zu diesem Lied und zu den Thalysien insgesamt die wichtige und in der Theokrit-Forschung zuwenig beachtete Arbeit von Yuko Furusawa, Eros und Seelenruhe in den Thalysien Theokrits, Würzburg 1980 (zum Lykidas-Lied S. 35—51).
Bukolik bei Theokrìt — über den Ursprung einer europäischen
Dichtungsgattung
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amoenuss sondern auch ein Lager aus heilsamen und beruhigenden Pflanzen auswählt, neben gutem Wein und gutem Essen, vor allem Dichtung. Lykidas will sich dabei auch von Daphnis singen lassen, wie er an seinem Eros »dahinschmolz«. Hier ist die Funktion der Musen für den Umgang mit Eros eindeutig: Sie sollen Rettung bringen von seiner vernichtenden Kraft und diese Kraft auf eine milde Wirkung zurückführen. Das Mittel dazu ist eben die vollendet schöne >Durcharbeitung< (πόνος), die das Dichtungsideal des Lykidas auch im Formalen anstrebt. Aber es geht Lykidas nicht nur um ein formales >Ausfeilen< seiner Verse, sondern um die schöne Durchgestaltung seiner Lebenssituation insgesamt. Einen Teil davon bildet auch die im poetischen Lied vergegenwärtigte und vorgestellte Liebesqual des Daphnis - wie er dahinschmolz wie der Schnee unter dem hohen Haimos-Gebirge (V. 76). Mit dieser Gefahr vor Augen läßt sich Lykidas dann noch berichten, wie Komatas, der Liebling der Musen, von ihnen aus schlimmer Not gerettet worden war (V. 78—89). Was im 7. Idyll nur eine Figur des Gedichts vorführt, spricht Theokrit im 11. Idyll im eigenen Namen aus. Dieses Idyll handelt von dem Eros des jungen, gerade zum Mann werdenden Polyphem zu Galatea, genauer: davon, wie Polyphem diesen Eros so leicht wie möglich ertragen lernte (V. 7). Das tut Polyphem nicht etwa, indem er schmachtende Lieder auf Galatea singt, sondern ganz im Gegenteil, indem er sich durch die Unerfüllbarkeit seiner Liebe, die er von Anfang an erkennt, und durch die aviat, die belästigenden Qualen dieser Liebe in einem Gang durch alle seine Möglichkeiten quasi vollständig »durcharbeite^ bis ihm diese Qualen nicht nur intellektuell, sondern in seinem ganzen fühlenden Empfinden so präsent sind, daß er von seinem Eros nicht mehr wie von etwas Schönem angezogen wird. Von diesem »dichterischem Vorgehen des Polyphem sagt Theokrit in einer persönlichen Vorbemerkung, es sei ein Beispiel dafür, daß das einzige Heilmittel gegen den Eros von den Musen komme. Leicht und angenehm sei diese Arznei für die Menschen, zu finden sei sie aber nicht leicht (V. 1—4).9 Der Gedanke, daß Eros eine vernichtende Potenz hat, und daß gegen diese Macht nur die Musen helfen können, ist sicher nicht Gegenstand einer transzendentalen Buffonerie für Theokrit, es ist kein Gedanke, den er nur aufbaut, um ihn ironisch destruieren zu können, sondern er denkt über dieses Problem offenbar genau so, wie er es explizit sagt. D.h. aber, daß auch der Anfang des Thyrsis-Liedes im ersten Idyll ernstgenommen werden muß. Über das Unglück, daß Daphnis die Musen nicht helfend gegen den Eros zur Seite standen, soll sich der Leser nicht amüsiert erheben, sondern soll in ihm die Größe der Bedrohung, die von Eros ausgeht, mitempfinden. An was für einem Eros aber leidet Daphnis überhaupt? Über diese Frage gibt es viele Spekulationen in der Forschung. Das Gedicht selbst scheint wenige, fast gar keine Andeutungen darüber zu machen.
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S. dazu Verf., Ironie und Spiel bei Theokrit (wie Anm. 3).
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Arbogast Schmitt
Als Daphnis wegen der Abwesenheit der Musen an seinem Eros dahinsiecht, beklagen ihn zunächst die Tiere seiner Umgebung, dann kommt der Gott Hermes und fragt besorgt: »Wer reibt dich denn auf? Nach wem hast du denn einen so heftigen Eros?« (V. 77f.). Diese Frage hat immer wieder dazu geführt, zu vermuten, Daphnis leide an einer unerfüllten Liebe. Merkwürdigerweise kommt aber nach Hermes und nach den Hirtenkollegen auch Priapos zu Daphnis mit der Frage: »Daphnis, du unglücklicher, was siechst du denn dahin? Das Mädchen rennt von Quelle zu Quelle, von Hain zu Hain auf der Suche nach dir« (V. 82—85). In dieser Frage muß man eine ironische Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse erkennen, wenn Daphnis an der Unerfülltheit einer Liebe leiden soll. Eine solche Ironie, die schon die antiken Scholien vermuten, ist zwar grundsätzlich denkbar, sie ist an dieser Stelle aber fast eindeutig ausschließbar, weil sie nämlich genau die ironische Pointe, die Priapos gegenüber Daphnis im Sinn hat, verderben würde. Denn Priapos fährt in seiner Anrede noch weiter fort und sagt: »Ach, unfähig zum Eros bist du doch und verstehst dir nicht zu helfen. Du sollst ein Rinderhirt sein und gleichst ganz einem Ziegenhirten. Der Ziegenhirt, wenn er die Ziegen sieht, wie sie besprungen werden, zerfließt in Tränen, weil er nicht selbst Bock ist. Und auch du, wenn du die Mädchen siehst, wie sie lachen, zerfließt in Tränen, weil du nicht unter ihnen mittanzt« (V. 85—91). Der Spott, mit dem Priapos Daphnis zu helfen sucht, indem er ihn, den Rinderhirten, mit einem Ziegenhirten vergleicht, trifft natürlich nur, wenn Daphnis in der Tat dasselbe Leiden hat: daß der unfähig ist, sich zu helfen, weil er von einem so heftigen Eros umgetrieben ist, daß er das Unmögliche will. Beide Wünsche, der Wunsch des Ziegenhirten, selbst zum Bock zu werden, wie der Wunsch des Knaben Daphnis, Mädchen unter Mädchen zu sein, sind unerfüllbare Wünsche. Und diese Unerfiillbarkeit hat offenbar etwas mit der Heftigkeit dieses Eros zu tun. Denn Priapos vergleicht Daphnis ja nicht deshalb mit einem Ziegenhirten, weil er den »vornehmen, selbstsicheren Rinderhirten« gegen den »törichten Geishirt« ausspielen will, sondern weil er das erotische Verhalten der Hirten mit dem der von ihnen geweideten Tiere gleichsetzt. »Die Rinder sind sanft, die Ziegen wild«, so sagen schon die Scholien »und wie die Weidetiere so sind auch ihre Hirten« (Scholion zu V. 86, b). Daß Daphnis nicht einem Rinderhirt, sondern einem Ziegenhirt gleiche, zielt also auf die Heftigkeit seines Eros. Der Vergleich mit der Heftigkeit des Ziegeneros dient Theokrit immer wieder dazu, die Intensität, mit der jemand von Eros getroffen ist, zu beschreiben (s. z.B. Id.7, V. 9 6 - 9 7 ) . Es ist daher gewiß kein Zufall, daß zur Bezeichnung dieser völligen Hilfslosigkeit angesichts eines solchen Dranges der Ausdruck der αμηχανία (Amechania) gewählt ist, der seit der frühgriechischen Lyrik zum Topos menschlicher Hilflosigkeit gegenüber göttlicher Macht geworden ist. Daphnis in der Gewalt von Eros, dem άμήχανον ορπβδον (Schlange, gegen die es kein Mittel zur Hilfe gibt, Sappho 137 D = 130 L-P.), das ist es, wovon Priapos in seinen drastischen Bildern spricht. Seine Aussage, daß Daphnis δνσβρως (unfähig zum Eros) und αμήχανος (unfähig, sich zu helfen) sei, meint daher
Bukolik bei Theokrít — über den Ursprung einer europäischen Dichtungsgattung
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nicht einfach, daß er besonders stark verliebt sei, sondern daß sein Eros unstillbar und auf keine Weise heilbar ist. Priapos liefert damit selbst die Begründung, warum Daphnis keinen Versuch machen kann, seinen Eros durch ein Zusammensein mit dem Mädchen zu beruhigen. Das ist angesichts eines solchen Eros einfach nicht möglich. Sojedenfalls reagiert Daphnis auf Priapos* Spott: Er antwortet ihm gar nicht, sondern trägt, wie es heißt, seinen bitteren Eros bis zum Ende (V. 93—94). Nach Priapos kommt Aphrodite zu Daphnis, »sanft und lächelnd«, aber sie verbirgt ihr Lächeln und trägt Empörung zur Schau: »Du hast geprahlt, den Eros niederzuringen«, sagt sie, »bist du nun nicht selbst vom Eros, dem Schrecklichen, niedergerungen?« (V. 9 5 - 9 8 ) . Man hat aus dieser Frage der Aphrodite auf ein Keuschheitsgelübde des Daphnis geschlossen, ja man wollte in Daphnis sogar einen zweiten Hippolytos sehen. Aber das ist ganz ausgeschlossen. Hippolytos, wie er zum Beispiel in dem Euripideischen Drama Hippolytos gezeichnet ist, hat eine παρθέκιος ηδονή, eine leidenschaftliche Lust an einem artemisischen Leben, einem Leben in jungmännlicher Kameradschaft, und einen natürlichen Ekel und Abscheu vor allem Aphrodisischen.10 Im ersten Idyll Theokrits ist aber nicht nur von Artemis - und der Scheu vor der Unversehrtheit des Natürlichen, die sie einflößt - nirgends die Rede, Daphnis ist nicht nur nicht unempfänglich für Eros, er ist im höchsten Maß - »gleich einem Ziegenhilten« - anfällig für ihn. Deshalb lächelt Aphrodite heimlich, denn sie freut sich an der Macht, die sie über ihn ausübt," während sie Hippolytos' Verhalten ihr gegenüber als Anmaßung empfindet.12 Richtig ist aber, daß Daphnis offenbar nicht an einer bestimmten Liebe zu einer bestimmten Person leidet, sondern daß er Eros grundsätzlich als ein πάθος κακόν, als ein schlimmes Leiden empfindet und ihn deshalb nicht durch augenblicksgebundene Erfüllung lindern, sondern ihn grundsätzlich >niederringen< will, wie Aphrodite sich ausdrückt. Daphnis' Liebe ist also nach Theokrit deswegen eine unglückliche, verzehrende Liebe, weil sie ein zu unmittelbares, zu wenig vermitteltes Verlangen ist, in dessen Erfüllung Daphnis keine Erlösung von seiner Qual sehen kann. Da er dies weiß, versucht er nicht, mit der Geliebten zusammenzukommen, obwohl sie ihn, wie Priapos sagt, bereits überall sucht. Helfen könnten Daphnis nur die Musen, die imstande sind, den Blick auf das Schöne zu weiten und so die Fixierung auf ein einzelnes, unmittelbar gegenwärtiges Schönes zu lösen. Theokrits erstes Idyll läßt sich so verstehen als Darstellung eines Eros, auf den nicht genug Sorgfalt verwendet wurde, im Gegensatz zu einem durch die Musen kultivierten Eros.
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S. dazu Verf., Zur Charakterdarstellung des Hippolytos im Hippolytos von Eurípides, Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge 3, 1977, S. 17—42. S. Euripides, Hippolytos, V. 7—8: »Es gibt nämlich auch unter den Göttern dieses: wenn sie geachtet werden von den Menschen, freuen sie sich«. S. ebd. V. 9 - 2 1 .
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Arbogast Schmitt
Mit dieser Einschätzung des Eros und diesem Verhalten ihm gegenüber nimmt Daphnis keine bei Theokrit singulare Position ein, sondern tut etwas, was fast alle von Eros Getroffenen bei Theokrit tun. Neben Lykidas und Polyphem, auf deren Bestreben, sich mit Hilfe der Musen vom Eros zu befreien, ich oben schon verwiesen habe, kann man etwa auch Simichidas' Lied in den Thalysien beiziehen. Simichidas, hinter dem sich vielleicht Theokrit selbst verbirgt, ist als ein Dichter aus der Stadt, der mit dem vornehmsten Adel verkehrt und am Königshof selbst hoch angesehen ist, gezeichnet. Er ist aber nicht etwa in Opposition zu dem Dichter vom Land gezeigt, sondern es sind immer wieder die Aspekte der Gleichheit zwischen beiden, die betont werden: Beide sind die anerkannt größten Meister ihres Fachs in ihrem jeweiligen Bereich, beide vertreten gleiche Kunstprinzipien, und vor allem: beide handeln in ihren Liedern von derselben Sache und versuchen, in der gleichen Weise damit umzugehen. Diese Aspekte der Gleichheit werden wegen des angeblichen Stadt-Land-Gegensatzes, in dem die Hirtendichtung ihren Ursprung haben soll, viel zu wenig wahrgenommen. Simichidas geht es jedenfalls genau wie Lykidas um einen Weg zur Befreiung von der sengenden Qual des Eros. An einem Eros, der so heftig ist wie bei den Ziegen im Frühling, leidet er selbst (s. Id. 7, V. 97—98), es leidet aber vor allem sein Freund Arat, der vom Eros nach einem Knaben bis ins Mark glüht. Ihm möchte Simichidas helfen, und er tut dies in einer Reihe von Bitten an Pan und an die Eroten, von denen gleich die erste besonders aufschlußreich ist: Er bittet nämlich: »Lieber Pan...treib ihm (den so heftig Geliebten) mir ungerufen in seine lieben Arme, ob es nun Philinos ist, der zarte, oder irgend ein anderer« (V. 103—105). D.h.: Simichidas sagt ziemlich ungeschminkt: Es kommt gar nicht auf die Person des Philinos an, nur darauf, daß er jung, schön und zart ist. Er versucht also, den Blick seines Freundes darauf hinzulenken, daß dieser >Ziegen-Eros< gar keine persönliche Freundschaft ist, sondern eigentlich - wie es z.B. auch Piaton im Symposion sagt - nur das Verlangen ist, das von der Schönheit der Jugendblüte des Körpers ausgelöst wird. Von diesem Verlangen gibt es, das demonstrieren die nächsten Bitten an Pan, bestenfalls zeitweise Erlösung, aber unendliche Quälereien, wenn es sich nicht erfüllen läßt (V. 106-114). Dann aber wendet sich Simichidas - und das ist der für unsere augenblickliche Fragestellung wichtige Aspekt - an die Eroten selbst und bittet sie: »Schießt mir mit euren Pfeilen auf den begehrenerregenden Philinos, schießt nur, denn der Unglückselige hat kein Erbarmen mit meinem Freund« (V. 118f.). Simichidas sieht also in dem Getroffenwerden von den Pfeilen des Eros eine Strafe, die Philinos für sein mangelndes Entgegenkommen erleiden soll. Er gibt sogar noch eine Begründung, warum Philinos bereits in einer Verfassung ist, in der ihn diese Strafe leicht und bald ereilen kann: »Und wirklich ist er (Philinos) schon reifer als eine Birne, ja, die Frauen sagen schon: >Oh, weh, Philinos, deine schöne Blüte läuft dir davon«« (V. 120f.).
Bukolik bei Theokrit — über den Ursprung einer europäischen Dichtungsgattung
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Eros zu haben, ist also auch deshalb etwas Negatives, weil einen der Eros dann trifft, wenn man selbst die eigene Schönheit verloren hat. Denn Eros ist in den bukolischen Gedichten Theokrits immer das von der Schönheit ausgelöste Verlangen. So heißt es z.B. im 13. Idyll, V. 1—3: »Nicht uns als einzigen wurde Eros geboren, wie wir uns eingebildet haben,...nicht uns als ersten scheint das Schöne schön zu sein«. Dieses Verlangen aber hat (noch) nicht der, der selbst in der Blüte der Schönheit steht, sondern erst der, der diese Blüte verloren hat: »Und die Rose ist schön, und die Zeit läßt sie welken, und das Veilchen ist schön im Frühling und altert doch schnell [...], und die Schönheit des Knaben ist schön, aber sie lebt nicht lang, kommen wird der Augenblick, da wirst auch du lieben, da brennt dir das Herz und du wirst bitterlich weinen« (Id. 23, V. 28—34; vielleicht unecht, aber aus dem Umfeld Theokrits). Daß Liebhaber und Geliebter sich wechselseitig lieben, scheint dem Liebhaber aus dem 12. Idyll daher wie ein Zustand im goldenen Zeitalter: »Sie liebten sich gegenseitig in gleicher Verbundenheit. Ja, das war damals ein goldenes Geschlecht, als Gegenliebe gab der Geliebte« (Id. 12, V. 15f.). Das, was der Geliebte vom Liebhaber gewinnt, ist nicht Gegenliebe, nicht Erfüllung eines erotischen Verlangens, sondern Förderung, wie es etwa das 13. Idyll von Herakles und seinem Liebling Hylas berichtet: »Und er lehrte ihn alles, wie ein Vater seinem geliebten Sohn, alles das, was er selbst gelernt hatte und dadurch tüchtig und berühmt geworden war« (Id. 13, V. 9—10). In der Regel ist das, womit der Liebhaber um die Gunst des Geliebten wirbt, ein Appell an sein Mitgefühl und eine Erinnerung daran, daß er jetzt gefällig sein soll, damit auch er später zu Recht den Anspruch auf Entgegenkommen stellen könne: »Liebt die Liebenden, damit ihr, wenn ihr liebt, geliebt werdet« (Moschos, Frag. 2, 8). Natürlich ist in Theokrits bukolischen Gedichten nicht nur von Knabenliebe und ihrem ungleichen Verhältnis die Rede,13 aber sie dominiert doch bei weitem, weil eben die von Theokrit angenommene Ungleichheit des Verhältnisses von Liebendem und Geliebten in ihr am deutlichsten zum Ausdruck kommt: Diese Ungleichheit hat ihren Grund in der Unruhe, in die das Getroffenwerden durch die Schönheit versetzt, - eine Erfahrung, die schon in Sapphos berühmtem Gedicht Es scheint mir jener gleich den Göttern zu sein (Frag. 31 Voigt, Lobel/Page) formuliert ist, wenn Sappho sagt, daß der bloße Anblick der begehrenerregenden Schönheit eines Mädchen sie in solchen Schrecken versetzt hat, daß sie ihrer Sinne nicht mehr Herr sei.14 Sappho endet die Beschreibung ihres Liebespathos mit der Feststellung: »Aber alles kann man ertragen, da...« (leider fehlt die Fortsetzung). Genau darum aber geht es offenbar auch Theokrit: Wie kann die vernichtende Erfahrung des Eros in eine er-
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Zur besonderen Form der Päderastie bei den Griechen s. v.a. Harald Patzer, Die griechische Knabenliebe, 2. Aufl. Wiesbaden 1983; und Kenneth Dover, Greek Homosexuality, London 1978 (deutsch: München 1983). S. zu diesem Gedicht v.a. Joachim Lactacz, Realität und Imagination. Eine neue Lyrik-Theorie [...], Museum Helveticum 42, 1985, 67—94.
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Arbogast Schmitt
trägliche, die Ruhe der Seele nicht gefährdende Empfindung verwandelt werden? So endet auch Simichidas sein Lied für Arat mit dem Wunsch: (Lassen wir den aussichtslosen Kampf um Erfüllung des Eros, sondern:) »um Ruhe wollen wir uns kümmern, eine Alte aber stehe uns bei, die vor uns ausspuckt und so das Unschöne von uns fernhält« a d . 7, V. 126f.). In diesem Wunsch nach Seelenruhe, nach Freiheit von der zerstörerischen Kraft des heftigen Affekts stimmt Simichidas, wie wir gesehen haben, durchaus mit dem ganz und gar ländlichen15 Lykidas überein. Was Simichidas bei Lykidas sucht und findet, ist also nicht die ländliche Idylle, die reine, von keiner Künstelei getrübte Empfindung oder dergleichen, sondern er findet den Mann vom Land im gleichen Zustand innerer Zerrissenheit, in dem er auch selbst ist, und sieht, wie er in gleicher und gleich gekonnter Weise dagegen angeht. Wenn man nach den spezifisch hellenistischen Voraussetzungen der Bukolik Theokrits fragt, dann kann man aus diesen - und vielen analogen Gründen - nicht auf die angebliche Auflösung der alten Polis-Gemeinschaft16 und die aus der Entstehung von großstädtischem Leben kommende sentimentale Sehnsucht nach dem natürlichen Leben verweisen, auch nicht auf den Hiat von ratio und Empfindung in einer zuvor noch >plastischen< Welt17, wohl aber kann man an die großen hellenistischen Philosophenschulen und deren Grundanliegen denken, den Menschen von allen Belästigungen durch Lüste, Schmerzen und Ängste zu befreien und ihn zu einer völligen Freiheit von allen Gefühlserregungen zu führen. Was Theokrit freilich von den Tendenzen der Stoa und des Epikureismus unterscheidet, ist, daß wir in seinen Gedichten nirgends eine völlige Verwerfung der Affekte finden, nirgends das Streben nach einer absoluten Freiheit und Unberührtheit von der Gewalt der Gefühle. Was man findet, ist vielmehr das Bestreben, die von der unmittelbaren Berührung mit der Schönheit ausgehende überheftige Unruhe in eine andere, vermittelte Form der Schönheitserfahrung zu überführen. Genau in diesem Punkt aber knüpft Theokrit an die Dichtung und Musik der Hirten an. Dabei kann es gleichgültig sein, ob er das, was er den Hirten zuschreibt, in der ländlichen Dichtung seiner Zeit tatsächlich vorfand, oder ob er seine Hirten frei erfunden hat. Zu einem guten Teil sind die Hirtenlieder ohnehin Arbeit der >Feile< Theokrits. Die dichterische Erfindung kann aber kaum reine Fiktion gewesen sein, da sie sonst jede Glaubwürdigkeit verloren hätte und in der Tat nichts als eine, dann allerdings sinnlose," Ironie gewesen wäre. Wichtiger als diese Frage nach dem Maß an historischer Originalität, das in Theokrits bukolische Idyllen eingegangen ist, sind aber die Gründe und Intentionen, die zu einer
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S. die Beschreibung des Lykidas Id. 7, V. 13—19: »Er ist ganz unverwechselbar ein Ziegenhirt, das Bocksfell hängt von seinen Schultern, er riecht nach frischem Lab [...]«. Daß das so einfach nicht stimmt, hat die neuere Forschung vielfach zeigen können. Es gibt im 4. und 3. Jahrhundert eine breite restaurative Tendenz und ein großes, auf das S. Jahrhundert zurückschauendes Wir-Gefühl, das sich bis in die Erhaltung vieler Kult- und Rechtsinstitutionen ausgewirkt hat. Der Einbruch einer reflexiv technischen Rationalität war in der Sophistik erheblich stärker als im 4./3. Jahrhundert. Warum sollte man die Hirten mit etwas ausstatten, wovon jeder bei nur wenig Verstand sofort hätte sehen können, daß es ihnen nie zukommen könnte?
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derartigen künstlerischen Nachgestaltung einer spezifisch ländlichen Dichtweise geführt haben. Diese Gründe können im Sinne der Darstellung der Gedichte selbst nicht in der sentimentalen Suche des aufgeklärten Städters nach der unberührten Einfachheit, Stille der Natur, nach den Dryaden in jeden Baum und den Naiaden in den Strömen oder dgl. 19 gefunden werden, sondern darin, daß in den Augen Theokrits den Hirten in ihren Liedern etwas gelungen war, oder die Möglichkeit zu einem Gelingen angelegt war, auf das auch er großen Wert legte. In der Tat gibt es hier eine Verbindung von Natur, Liebe und Dichtung, die man zugleich als das eigentliche künstlerische Anliegen der Gedichte Theokrits ansehen kann. Der Umgang mit der Natur, den Theokrit seinen Hirten zuschreibt, zeugt nämlich von demselben πόνος, derselben ästhetischen Durchgestaltung bis ins kleinste Detail, die er sie für ihre Gedichte in Anspruch nehmen läßt. Denn die Natur der bukolischen Gedichte Theokrits ist nicht die Natur als Natur überhaupt - etwa in ihrer Freiheit von jeder Art Künstlichkeit - , es ist auch nicht die erhabene, große Natur (so wenig wie die Dichtung große, erhabene Dichtung ist), sondern es ist der >locus amoenuslocus amoenus< beschrieben und gerühmt als das Werk des vornehmsten und ältesten Adels von Kos (Id. 7, V. 4—9). Das Gedicht schließt auch mit der Beschreibung eines >locus amoenus«, und auch er ist nicht etwa reine oder gar wilde Natur, sondern eine vom Menschen kultivierte, freilich nicht artifiziell und beliebig veränderte, sondern eine zu ihrer eigenen Vollendung gelenkte, reich und üppig gebende Natur (V. 131—156). Nicht anders steht es mit den vielen schönen, als »angenehm« (άδϋ) bezeichneten Plätzen, die die Hirten sich zum Singen aussuchen, und eben nicht nur aussuchen, sondern mit erfahrener Kenntnis um die Wirkungen von Raum, Pflanze20 und Tier gestalten. Das Grundwort, das dabei regelmäßig und wiederholt gebraucht wird, ist »angenehm«. »Angenehm« ist die Wirkung der schönen Natur ebenso wie die Wirkung der schönen Dichtung. Dies ist es, was beide zu geeigneten Mitteln macht, die von der erotischen Schönheitserfahrung ausgehende Beunruhigung zu mildern und in einen wünschenswerten Zustand zu überführen, ohne daß - wie in einem kalten ethischen Rationalismus - die Empfänglichkeit und das Gefühl für das Schöne unterdrückt werden müßte. Im Unterschied also zu späterer Hirtendichtung geht es bei Theokrit nicht um die Darstellung von Liebeswerben- oder schmachten, nicht um den beseligenden oder trauernden Ausdruck persönlichen Liebesleids oder -glücks, nicht um die Hinwendung zur ländlichen Idylle und Naivität, nicht um die Befreiung vom Affekt überhaupt, sondern um die Verwandlung einer unselig erotischen Liebe zum Schönen in eine feste, ruhige, musische Beschäftigung mit ihm. In diesem Darstellungsziel scheint mir das eigentliche Anliegen Theokritischer Bukolik zu liegen.
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S. Schiller, Die Götter Griechenlands, 1. Fassung, V. 22—24. Ein Überblick allein über die Pflanzen in den Gedichten Theokrits zeigt, daß hier fast eine kleine Botanik zusammengetragen ist. S. K. Lembach, Die Pflanzen bei Theokrit, Heidelberg 1970.
Uwe Ruberg
Gattungsgeschichtliche Probleme des geistlichen Tagelieds< — Dominanz der Wächter- und Weckmotivik bis zu Hans Sachs
»Ein schone Tagweyß / von dem wort gottes« — so lautet in einem Nürnberger Fliegenden Blatt aus dem Jahr 1524 und in den Bergreihen (zuerst 1531) die >Ansage< eines Liedes von Hans Sachs, in Übereinstimmung mit der Titelgebung in Sachs' eigenem frühen geistlichen Achtliederbuch von 1525. »Ain schönen tagweyß gaistlich von unsser frawen« — so war auf einem etwas früheren, Hans Sachs vermutlich bekannten Augsburger Einblattdruck ein Martin Maier (von Reutlingen) zuzusprechendes Lied überschrieben. 1 In diesen und ähnlichen Titelvorgaben wird die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in die Literaturwissenschaft eingeführte Gattungsbezeichnung geistliches Tagelied< greifbar. Die Lyrikforschung konnte sich anhand dieses Begriffes in der Tat nicht nur eine systematisierende Kategorie, sondern auch eine in der historischen Konkretion durchgehaltene Verständigungstradition versprechen, denn bereits knapp zwei Jahrhunderte früher setzte der Verfasser der Limburger Chronik die Etikettierung »geistliches Tagelied< als ohne weiteres verständlich voraus: »Item in diser zit [sc. im Jahre 1356] sang man dit dagelit von der heiligen passien, unde was nuwe, unde machte ez ein ritter«.2 Die Annahme allerdings, das gemeinsame Rubrum >Tagelied, geistlich< garantiere für alle so bezeichneten Lieder identische gattungskonstituierende Merkmalsbündel, gar über verschiedene Jahrhunderte hin, wurde angesichts der heterogenen Faktur der Texte eines Besseren belehrt. Schon die semantischen Probleme innerhalb der Bedeutungsgeschichte von mhd. »tageliet« warnen davor, alle erreichbaren Belege strikt terminologisch in Anspruch zu nehmen. Als Argumente zur Rekonstruktion eines konsistenten, gattungsbindenden Erwartungshorizontes müssen sie daher erst ihre Tauglichkeit überprüfen lassen. Die geforderte philologische Scheidekunst wird dadurch nicht gerade einfacher, daß schon für das gattungsgeschichtliche Interesse am weltlichen Tagelied die Auswertung der »tageliet«- und »tagewise«-Belege manche Verwirrung teils vorfand, teils stiftete. Die Entdeckerfreude, auf der weiten Brache gattungspoetischer Terminologie innerhalb mittelalterlicher Literatur der Volkssprachen endlich eine bequem zu genießende Frucht
Nachweise zu den Überlieferungszeugnissen und den Editionen der beiden herangezogenen Lieder bei Gerhard Heilfurth, Erich Seemann, Hinrich Siuts u. Herbert Wolf (Hgg ), Bergreihen. Eine Liedersammlung des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1959, S. 57, 244; Frieder Schanze, Martin Maier (Martin von Reutlingen), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, 2. Aufl., hg. von Kurt Ruh u. a., Bd. 5, Berlin u. New York 1985, Sp. 1 1 6 7 - 1 1 7 2 , hier Sp. 1172. Es folgen Zitate aus Strophe 1 und 2 eines mit Peter von Arberg in Verbindung zu bringenden Liedes; Näheres bei Volker Mertens, Peter von Arberg, in: Verfasserlexikon (wie Anm. 1), Bd. 7, Berlin u. New York 1989, Sp. 426—429, hier Sp. 427; Theodor Kochs, Das deutsche Tagelied, Munster 1928, S. 58f.
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geerntet zu haben, wurde eher enttäuscht, jedenfalls führt die recht vielfaltige »tageliet«Verwendung nicht zu einer selbstredenden Eindeutigkeit. Innerhalb der deutschen Lyrik begegnen »tageliet« und »tagewlse«, weitgehend synonym, zuerst in Wolframs von Eschenbach Von der zinnen wil ich gên (Nr. IV, Wapnewski, 1,2) und in Waithers Friuntlichen lac ein riter (Lachmann 88,9), wo es heißt: »der wahter diu tageliet so lûte erhaben hät« (Strophe 3,5f.; aufgenommen Strophe 7,8). Bei beiden Dichtern bezeichnet »tageliet« den Morgengesang, das Wecklied als letzte Handlung des nächtlichen Wächters. Es entbehrt nicht forschungsgeschichtlicher Delikatesse, daß diese »tageliet«-Belege in (weltlichen) Tageliedern auftreten und (deshalb?) wenig überzeugend als schon transparent auf den heutigen, wissenschaftlich eingebürgerten Gattungsbegriff im Rahmen der Minnelyrik angesehen wurden. 3 Bemerkenswert bleibt immerhin, daß gerade dieses Lied Wolframs einen Typus >Wächterlied< deutlicher als seine anderen Tagelieder verwirklicht, indem es der Rede des Wächters die beiden ersten Strophen zumißt. Außer Frage steht gewiß, daß um 1255 Ulrich von Lichtenstein in seiner fiktiven Autobiographie als Minneritter und Lieddichter die Bezeichnung »tagewise« im Sinne eines Liedtyps auf dem Felde der Minnelyrik verwendet: Eines seiner in die erzählte >Vita< aufgenommenen Lieder ist überschrieben: »Daz ist ein tagewise«.4 Dieses und ein zweites Lied (Nr. 40), das Ulrich in seine vielzitierte »tageliet«-Erörterung einbindet (»Diu tageliet maneger gerne sanc«, Lachmann 513,27), entsprechen, scheinbar zwanglos, der üblich gewordenen literaturwissenschaftlichen >Definition< eines weltlichen Tagelieds: bei herangrauendem Tag Wecken und innigste Umarmung zweier heimlich Liebender nach ihrem Zusammensein im Schutz der Nacht, Dominanz der meist szenisch und dialogisch gestalteten Abschiedssituation, gesteigerter Schmerz durch die Gefahr der Entdeckung und die Not der Trennung, Zukunftshofftiung durch Treuegelöbnis, Wiederkehrversprechen und Abschiedssegen. Zu wenig beachtet wurde indes, daß Ulrich zwar »der minnaere klage« ins Sinnzentrum seiner Lieder stellt, daß sie als »tageliet« jedoch zweifellos den Begriff einer traditionellen Liedgattung >Wecklied des Wächters< voraussetzen: 509,10
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ich dâht an der minnaere klage, daz si Idagent von dem tage, wies der von herzenliebe ie schiet. dà von sang ich niuwe liet. Ich diht >min meister habent ê gesungen daz die wahter wê in mit wecken haben get&n ...geistlichen Tagelieds
höfisiert< das Wächter-Tagelied aus der lyrischen Tradition (für die Wolfram von Eschenbach und die romanischen Liedtypen der Alba und Aubade stehen können) noch durchgreifender, indem er die Rolle des standesniederen Zinnenwächters einschränkt (512,1 lf.) und ihn als Weckenden und Vertrauten der Liebenden durch die Zofe ablöst; 3 er behält jedoch für sein nun »mit niuwem sin« (509,8) ausgestattetes Lied die fiir den traditionellen Liedtyp eingeführte Bezeichnung »tageliet« bei. Die an der geänderten Figurenkonstellation ablesbare Variation soll unter dem Dach des gattungsgeschichtlichen Zusammenhangs geschehen, durch die Konvention des eingeführten Gattungsnamens gedeckt bleiben. Die programmatische Verschiebung wird, wohl bereits für das zeitgenössische Publikum, durch die für Tagelieder besonders wichtige Initialzeile schon signalisiert. Wie in der provenzalischen Alba oder ihrem französischen Gegenstück die Figur des Wächters (»gaita«) schon eingangs stichwortartig die Rezeptionserwartung des Publikums präformierte, 6 so auch bei Wolfram (und immer wieder bei späteren): »den morgenblic bî wahtaeres sänge erkös« (Lied Nr. I, Wapnewski); Ulrich dagegen beginnt sein Tagelied: »ein schoeniu maget sprach >vil liebiu frowe mîn, Wol ûf! ez taget«« (512,7ff.). Der Sprachgebrauch im Frauendienst, so ist weiterhin festzuhalten, führt für die Bedeutungszonen von »tageliet« nicht nur auf >Wecklied des Wächters« und >den Weckruf des Wächters sublimierende Gattung der Minnelyrik«, sondern noch auf eine dritte, auch in den späteren Jahrhunderten zu gewärtigende Bedeutung. Wenn Ulrich, Worte und Singweise unterscheidend, berichtet, daß er sein Tagelied Nr. 40 (Ein schœniu maget) »in einer süezen tagewîs hö« verfaßt und vorgetragen habe (512,5), so ist hier anscheinend an die Bedeutung »vorgeprägter Ton, Melodie- und Strophenform eines Tageliedes< zu denken. Der Begriff >tagewîse< kann in einem abgesteckten Verständigungsrahmen auf formale, aber auch auf inhaltliche Teilaspekte des Bedeutungsspektrums eingeschränkt sein. Es blieb nicht unbemerkt, daß in der Terminologie des späten Mittelalters »bereits die bloße Existenz eines Morgen- oder Weckmotivs genügte, um ein Lied als Tagelied zu klassifizieren«. 7 Diesem Befund zufolge blieb die Bezeichnung »tageliet« primär mit dem Liedtypus >Wächterlied, Wecklied« fest verbunden. Eine Stütze bei der Rekonstruktion eines derart konsolidierten allgemeinen Gattungsbewußtseins und zugleich eine — freilich leicht schwankende — Brücke zum »geistlichen Tagelied« findet sich in einem lateinischen Predigtentwurf aus der Zeit um 1300, der an erster Stelle einer Reihe von sechs weltlichen Liedtypen auch das »taglied« anführt und
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Zur Forschungsdiskussion über Ulrichs Wächterkritik Alois Wolf, Variation und Integration. Beobachtungen zu hochmittelalterlichen Tageliedern, Darmstadt 1979, S. 92, 250ff.; Beloiu-Wehn (wie Anm. 3), S. 48. Beispiele bei Brian Woledge, Old Provençal and French, in: Eos. An inquiry into the theme of lovers' meetings and partings at dawn in poetry, hg. v. Arthur T. Hatto, London, The Hague u. Paris 196S, S. 344-389, hier S. 346, 365 u. ö. Renate Hausner (Hg.), »Owê, dô tagte ez«. Tagelieder und motiwerwandte Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 1, Göppingen 1983, S. XXI; Beloiu-Wehn (wie Anm. 3), S. 40f.
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diese Bezeichnung mit »canticum vigilancium« (>WächterliedWecklied< f ü r die Bezeichnung »tagelied« den Vorzug, das geistliche Tagelied nicht unangemessen auf eine Korrelation zur Abschiedsszene der Liebenden zu fixieren. Die in vielem verdienstvolle Dissertation Theodor Kochs' (Münster 1928) litt unter ihrer im Ansatz zu engen und in der nötigen Merkmalbündelung zu lockeren Definition. Als geistliches Tagelied sollten Lieder gelten, »in denen wenigstens e i η dem Tagelied entstammendes Motiv in geistlicher Umdeutung dem Ganzen einen besonderen Ton gibt«. 13 Kochs band das geistliche Tagelied an Bezüge zum weltlichen Liedtypus, weil er die Möglichkeit grundständiger stammhafter Herkunft aus der Tradition der christlichen Wächter-, Weck- oder Morgenhymnen verwarf (S. 29f.). Läßt man diese Prämisse jedoch mit guten Gründen wieder zu, 14 so wird man in einem geistlichen Wächterlied fehlende Bezüge zum weltlichen Tagelied nicht als »verloren gegangen«, als Manko einer nicht recht gelungenen Umdichtung oder »Umdeutung« weltlicher Vorlagen qualifizieren (s. bes. S. 48). Die Gattungsgeschichte des geistlichen Tagelieds läßt sich nicht vom weltlichen Tagelied her bestimmen. Dieses darf nicht als Maßstab setzendes Muster und Folie der gattungsgerechten Interpretation angesehen werden. Wenn es schon seit dem 13. Jahrhundert einen weltliches und geistliches Tagelied in Wechselbeziehungen aufeinander zuführenden Sog gegeben hätte, so wäre es wohl nicht ohne Reiz, Spuren dafür bei Dichtern zu suchen, die sich in beiden Genres ausgedrückt haben. Walther von der Vogelweide gehört, wie oben angeführt, ein für seine Verhältnisse fast zu konventionelles weltliches Tagelied, sogar ein >tageliet< sensu stricto, weil auch der Wächter mit seinem morgendlichen Wecklied zu Worte kommt (Lachmann 88,9). In Walthers Spruch 21,25ff. erblickte Kochs sichere Anzeichen für eine bewußte
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Ralf Breslau, Die Tagelieder des späten Mittelalters. Rezeption und Variation eines Liedtyps der höfischen Lyrik, Diss. FU Berlin, Berlin 1987, S. 380. Kochs (wie Anm. 2), S. 4. Diese als Suchformel für die Erstellung des Textcorpus akzeptable Definition wird späterhin nicht modifiziert, sondern eher verschärft, wenn als geistliche Tagelieder nur solche anerkannt werden, »wo ein oder mehrere geistlich gedeutete Tageliedmotive sich so weit verselbständigt haben, daß sie über eine bloß gelegentliche Bedeutung hinaus den Tenor des ganzen Liedes bestimmen« (S. 35). Argumente und Hinweise bereits in den Besprechungen zu Kochs' Untersuchung durch Otto Schumann, AfdA 49 (1930), S. 116—120, und Hennig Brinkmann, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 52 (1930), Sp. 336—340, bes. Sp. 338f.
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Indienstnahme geistlich umgedeuteter Züge des weltlichen Tagelieds.15 Die Initialzeile »Nu wachet, uns gêt zuo der tac ...« bereitet jedoch schon durch das dem Predigtton eigene »uns« darauf vor, daß mit dem angstverheißenden Tagesanbruch der Jüngste Tag des anbrechenden Gerichts gemeint ist, und auch die Schlußzeile »wol ûf, hie ist ze vil gelegen« (Z. 15) läßt keinen Raum mehr fiir Assoziationen an das weltliche Tagelied der Liebenden. Es handelt sich um ein geistliches Wecklied aus biblischer Tradition." Ob auch Peter von Arberg, bis zum Beweis besserer Evidenz mit einem 1324 bis 1357 in Solothurn bezeugten Schweizer Adligen identifiziert, sich geistlichem ebenso wie weltlichem Tagelied widmete, muß dahingestellt bleiben. Die Kolmarer Liederhandschrift (um 1460), die vor allem an den Tönen der meisterlichen Liedkunst interessiert ist, weist Peter von Arberg drei als »tagewyse« bezeichnete Töne zu. Ob die beigefügten Liedtexte, ein weltliches und vier geistliche Tagelieder, ebenfalls von Peter von Arberg stammen, ist zweifelhaft. Manches spricht dafür, daß die geistlichen Tagelieder Ergebnis einer Tonübernahme oder einer Kontrafaktur durch ungenannte Weiterdichtende sind.17 Der Liedtext der zweiten Arbergschen »tagewyse« setzt ein: Ich wahter, ich solt wecken den sunder, der dâ riuzet sêr, daz er sich tete erschrecken ûz slner Sünden schîn.18
Kontrafaktorische Anlehnung an Muster des weltlichen Tageliedes ist denkbar, aber doch weit weniger augenfällig als in einem in seiner Art recht einsam stehenden geistlichen Wächterruf, wohl noch aus dem 13. Jahrhundert: Vrône wahter, nû erwecke der Werlte minner uberai, Ê daz si der tac erschrecke, der durch die venster in den sal Mit gemeinem tôde siht icslìchen under ougen. der Werlte minner, sûmt iuch niht, nemt urloup von ir tougen."
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Kochs (wie Anm. 2), S. 35f. Nachweise bei Schumann (wie Anm. 14), S. 118. — Arthur T. Hatto, Mediaeval German, in: Eos (wie Anm. 6), S. 428—472, nimmt Walthers Spruch, anscheinend auf der Linie Kochs' bleibend, in den Appendix seiner Anthologie auf (S. 439f., 469f.). Erörterung der Zuschreibungsproblematik für Töne und Texte bei Kochs (wie Anm. 2), S. 60; Volker Mertens, Peter von Aarberg, Minnesänger, ZfdA 83 (1972), S. 344—357; Georg Steer, dat dagefyt von der heiligen passien. Die sog. >Große Tageweise« Graf Peters von Arberg, in: Beiträge zur weltlichen und geistlichen Lyrik des 13. bis IS. Jahrhunderts, hg. v. Kurt Ruh u. Werner Schröder, Berlin 1973, S. 112—204, bes. S. 187f. Text nach Helmut de Boor (Hg.), Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Mittelalter, Bd. 1,2, München 1965, S. 1698. Text nach de Boor (wie Anm. 18), Bd. 1,1, S. 548.
Gattungsgeschichtliche Probleme des >geistlichen Tagelieds
AnsageverseWächterlied< gemünzt. Man erwartet keinerlei Affinität zum Wecklied für die Liebenden, und in der Tat erweist sich der Wächter als geistlicher Ratgeber für das rechte menschliche Leben in der Zeit, sub specie aeternitatis. In die gleiche Wächterlied-Richtung weist zunächst die Ansage des Liedes XI: I,1
Mich straft ein wachter des morgens fruo. er sprach: »wenn wilt du haben ruo, dîn singen abelan?«
Die anschließend geäußerte Bereitschaft des Sängers, weltlichem Treiben und damit auch weltlicher Dichtung abzusagen, ist noch der Erwartung innerhalb eines geistlichen Wächterlieds konform. Danach vollzieht sich jedoch im Namen der Frauenehre ein Registerwechsel hin zum weltlichen Tagelied: II,1
»Wächter, sich ûf anz firmament: er gât daher von orient, ich hör der vogel sang, durch gott wek alle selge wib, ir er behuet, im stoltzen lib vor böser klaffer zung.
Zum Besten des Frauenpreises ist damit auch Hugos eigenes Singen weltlicher Tagelieder wieder in sein Recht eingesetzt.22 Derartige gezielte Kombinationen von geistlichem und weltlichem Tageliedtypus bleiben ein Sonderfall, auch bei Oswald von Wolkenstein (1376/77—1445), der dem Tagelied-Genre mehr Farben, Facetten und Variationen als jeder seiner Vorgänger
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Ausführlicher Horst Brunner, Das deutsche Liebeslied um 1400, in: Hans-Dieter Mück (Hg.), Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Oswalds von Wolkenstein. (GAG 206), Göppingen 1978, S. 105-146, hier S. 129-132; Breslau (wie Anm. 12), S. 194-197.
Gattungsgeschichtliche
Probleme des >geistlichen Tagelieds
geistlichen Tagelieds
alten< Lied. 27 Gut denkbar ist, daß Hans Sachs' Tagweyß von dem wort Gottes auch als »christliche Korrektur« der marianischen Tageliedkontrafaktur Martin Maiers nach der gleichen Vorlage verstanden werden sollte. Im ganzen hat das Lied in erster Linie Bekenntnischarakter zur Stärkung der Anhängerschaft der neuen >sola scripturageistlichen Tagelieds
Ausdeutung< oder >Umdeutung< des weltlichen Tageliedes im Sinne eines allegorisierenden Verfahrens sprechen. Dieser Sonderfall erinnert zugleich daran, daß im Bündel konstitutiver Merkmale des geistlichen Tagelieds Bezüge auf das voll ausgebildete weltliche Tagelied nicht dominant waren. Gattungsbindend war und blieb zunächst noch der durchtragende Typus des Wächterund Weckliedes. Ihm kam im Weiterleben des geistlichen Tageliedes im 16. Jahrhundert insbesondere durch die verstärkte Zuwendung zur Dringlichkeit der Letzten Dinge erneuerte Wirksamkeit zu, wie nicht zuletzt an den beiden wohl auf Dauer erfolgreichsten Liedern dieses eschatologischen Typs, an Johann Walthers Wach auff, wach a u f f , du deutsches Land (1561) und Philipp Nicolais Wachet auff / rufft uns die Stimme / Der Wächter sehr hoch auff der Zinnen (1599) zu verfolgen wäre.
Theodor Verweyen
Thränen des Vaterlandes / Anno 1636 von Andreas Gryphius — Rhetorische Grundlagen, poetische Strukturen, Literarizität*
Der poetische Gegenstand selber wie die übergreifende Fragestellung sind für einen neuen Beitrag zur Gryphius-Forschung auf den ersten Blick so gut wie nicht geeignet. Gerade über jenes Sonett scheint doch alles gesagt zu sein — zumindest aber so viel explizit gemacht, daß sich auf jede weitere Beschäftigung mit ihm eine resümierende Bemerkung Eberhard Mannacks umstandslos als kritische Relativierung beziehen lassen könnte: Es mute merkwürdig an, so Mannack, daß neben den »Spekulationen über die Bedeutung der Ich-Aussage« in Gryphius' Gedichten »die immer erneute Interpretationderselben Sonette« so »wenig an Attraktivität« verloren habe, »obschon die Oden längst eine intensivere Beachtung verdient hätten«.1 Dazu seien zunächst illustrierende Hinweise aus der Geschichte der Analyse, Interpretation und Rezeption des Vaterland-Sonetts gegeben, um Abgrenzungen und Ansätze für eine eigene Analyse vorzubereiten. Eine denkwürdige Koinzidenz steht dabei am Anfang der sich wiederbelebenden Barock- und Gryphius-Forschung: Fritz Martini beschreibt 1962 im Kontext der neu entdeckten Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (und vor allem von Heyms Der Krieg) das Sonett Thränen des Vaterlandes als Dichtung einer »in eine [...] ausdrucksschwere Form« gepreßten »apokalyptische[n] Zerstörungslandschaft« und sieht dabei — charakteristischerweise im Banne der Auslegung Erich Trunz' und nicht weniger des Aufsatzes Fritz Strichs aus der Zeit der neu entdeckten Barocklyrik — das Gedicht »von einem bewegten Gefühl getragen« und gesprochen »vor allem aus einer eindeutigen inneren Situation: als Klage«.2 Genau zur selben Zeit genügt Karl Otto Conrady auf Grund seines Analyseansatzes — der Frage nach der Bedeutung »rhetorischer Formungen bei Andreas Gryphius« — ein einziger Beleg zur »Figur der Descriptio« aus Quintil ians Institutio oratoria, um die Schulrhetorik und ihre Überlieferungen als fundamentale
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Für die kritische Lektüre des Beitrages und wertvolle Hinweise danke ich meinem Assistenten, PD Dr. Ernst Rohmer (Erlangen). Eberhard Mannack, Andreas Gryphius, 2., vollst, neubearb. Aufl., Stuttgart 1986 (=Slg. Metzler, Bd. 76), S. 38. Fritz Martini, Georg Heym: Der Krieg, in: Benno v. Wiese (Hg.), Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte, Bd. 2, Düsseldorf (1. Aufl. 1962) 1964, S. 425ff., hier S. 4 4 2 - 4 4 4 . Vgl. Erich Trunz, Fünf Sonette des Andreas Gryphius. Versuch einer Auslegung, in: Fritz Martini (Hg.), Vom Geist der Dichtung. Gedächtnisschrift für Robert Petsch, Hamburg 1949, S. 180ff., hier S. 186—191; Fritz Strich, Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts, in: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. FS Franz Muncker, München 1916, S. 21—53, wiederabgedruckt in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, 3. Aufl., Köln, Berlin 1968, S. 229—259.
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Artikulationsinstanz des Jahrhunderts anzudeuten: als Medium der Vermittlung jener vermeintlichen Unmittelbarkeit der Ausdruckssprache.3 Im Zusammenhang mit einzeltextanalytischen Studien zur Sonettkunst des Barock wird 1965 zudem für die »Umarbeitung« der Sonette auf dem Wege von ihren frühen Fassungen zur Gestalt letzter Hand im Formprinzip der »argutia« die poetologisch relevante Grundlage erkannt und zugleich deren Wirksamkeit bei der gattungsstrukturellen Integration des »sinnreichen Einfalls« und »spitzfindigen Gedankens« auch im Vaterland-Sonett gezeigt. Basis der Studien bilden sowohl zentrale Schriften der Poetikenliteratur der frühen Neuzeit (von Scaliger bis zu Magnus Daniel Omeis) als auch wichtige literaturgeschichtliche Darstellungen des engen Produktionszusammenhangs zwischen dem Epigramm- und Sonettschaffen der Zeit (die Arbeiten beispielsweise Heinrich Weltis, Günther Müllers und Karl Otto Conradys wie vor allem auch die Darlegungen zur Scharfsinns- und Witzkultur des 17. und 18. Jahrhunderts von Paul Böckmann und Wolfgang Preisendanz). 4 Bestätigend hätte der bereits erwähnte Aufsatz Fritz Strichs hinzugenommen werden können; in ihm ist wiederholt die Rede von dem »Drang zum pointierten Ende«, der »dem lyrischen Stile des Jahrhunderts eine treibende und vereinheitlichende Bewegung« gebe, von der »gotischen Architektur« des zeitgenössischen Sonetts, die »zu einer solchen Bewegung« epigrammatischer Pointierung geradezu bestimmt gewesen sei, von dem »innere[n] Rhythmus der lyrischen Bewegung«, der gegen die »äußere Rhythmik« der Sonettform »verschoben« klinge.5 Indes stand einer Einbeziehung des Aufsatzes nicht zuletzt die zeittypische Auffassung vom zur »größere[n] Freiheit der lyrischen Bewegung« drängenden »deutschen Geist« im Wege, der die Formen des »romanischen Barock« schon »zerbrach«, indem »er sie mit seinem Ausdruck füllte«. 6 Daß sich diese in eigenwilligen Kulturtypologien befangene Sicht als äußerst problematisch herausstellen würde, sollten 1970 dann vor allem Wilfried Barners scharf konturierte Skizzen der »gemeineuropäischen Rhetorik-Mode« der »argutia-Bewegung« offenlegen: Eben aus der Romania ist die Bewegung — entgegen jener durch keinen historisch-empirischen Beleg zu stützenden Annahme — in Deutschland um die Mitte des 17. Jahrhunderts eingedrungen und hat überdies nur auf dem Boden der Rhetorik ihren »modisch-aktuellen Charakter« entfalten können.7 Die Studien zur >handwerklichen< Könnerschaft Gryphius', wie sie in den »Umarbeitungen« nachvollziehbar ist, haben anhaltende Resonanz in doppelter Hinsicht gefunden: zum einen dank der Fundierung seines Sonettschaffens im Formwillen der
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Karl Otto Conrady, Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts, Bonn 1962, S. 222ff., hier S. 231. 4 Vgl. Sonettkunst des Barock. Zum Problem der Umarbeitung bei Andreas Gryphius, in: Jb. d. deutschen Schillerges. 9, 1965, S. Iff., bes. S. 24ff.; siehe Hans-Henrik Krummacher, Zur Kritik der neuen Gryphius-Ausgabe, in: ZfdPh 84, 1965, S. 183ff., hierbes. S. 211. 5 F. Strich, Der lyrische Stil, S. 33, 35 u.ö. « Ebd., S. 22ff. 7 Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 4 4 - 4 6 u.ö.
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»argutia« als ästhetisch-rhetorischer Epochennorm;8 zum anderen wegen des Nachweises der Anleihen des jungen Dichters bei Opitz, beispielsweise bei dessen vier Büchern des Trostgedichtes Jn Widerwertigkeit Deß Kriegs·,9 der letztere Hinweis konnte dabei den topischen Charakter jener vermeintlich »visionären Bilder« einer »apokalyptischen Zerstörungslandschaft«10 aufdecken und damit zugleich auf ein Teilsystem der Schulrhetorik als Grundlage der Textkonstitution aufmerksam machen. Der Nachweis der OpitzAnleihen wurde gern akzeptiert," nicht in gleicher Weise freilich deren rhetorischer Hintergrund gesehen. Eher das Gegenteil blieb der Fall. Denn seit der Aufnahme in die kleinen, zwischen 1947 und 1949 erschienenen Auswahlausgaben12 von Isabella Rüttenauer, Johannes Pfeiffer, Ina Seidel und Curt Crone wird dem, wie es heißt, »im Jahrhundert des ersten Großen Krieges« verfaßten Sonett das Wirkungspotential zugeschrieben, »unmittelbar ins Jahrhundert des zweiten und dritten hinein zu sprechen«,13 figuriert es in den Erfahrungen des aktuellen Lesers gleichermaßen als »vaterländische Klage« und »Zeitgedicht«, in dem »wir [...] einen der unsrigen unser Leiden klagen« hören.14 Das Verständnis des Sonetts als »Zeitgedicht« in dokumentarischer wie in rezeptionsästhetischer Hinsicht wird zur Dominante in der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Gryphschen Lyrik. Und sie ist bis in die jüngste Zeit keineswegs nur durch das Konkretisationsbedürfnis des Lesers bedingt. An ihrem Entstehen hat nicht weniger die akademische Literaturgeschichtsschreibung mitgewirkt: zunächst einmal in der Form auslegender >Vergegenwärtigung< einfiihlungsästhetischer Herkunft, wie sie in Deutungen prominenter Autoren (Herbert Cysarz, Erich
* Vgl. Adalbert Eischenbroich, Nachwort, in: Andreas Gryphius, Gedichte. Eine Auswahl, hg. ν. Α. E., Stuttgart 1968, S. 149—153; Robert M. Browning, German Baroque Poetry. 1618—1723, University Park, London 1971, S. 105—108 (deutsche Übersetzung v. Gerhard Teuscher, Deutsche Lyrik des Barock. 1618—1723, Stuttgart 1980, S. 108—111); Flora Kimmich, Nochmals zur Umarbeitung der Sonette von Andreas Gryphius, in: Euphorion 68, 1974, S. 296ff., hier bes. S. 296; Konrad O. Kenkel, »Was liefert dir die Welt? Rauch, Nebel und Gedichte«. Die Lyrik des Andreas Gryphius, in: Text + Kritik 7/8: Andreas Gryphius, 2. Aufl., München 1980, S. 85ff., hier S. 86, 90f.; E. Mannack, s. Anm. 1, S. 37; Joseph. Leighton, Andreas Gryphius's Sonnet Über des Herrn Geßngnus, in: German Life and Leiters 41/4, 1988, S. 381—383; Stefan Kiedrori, Andreas Gryphius und die Niederlande. Niederländische Einflüsse auf sein Leben und Schaffen, Wroclaw 1993, S. 40. ' 10
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Vgl. Sonettkunst des Barock, s. Anm. 4, S. 15—19. Vgl. E. Trunz, Barocke Lyrik. Drei Sonette des Andreas Gryphius (zuerst 1949), in: ders., Weltbild und Dichtung im deutschen Barock, München 1992, S. 90ff., hier S. 93, 95; vgl. F. Martini, s. Anm. 2, S. 442f. Vgl. Wolfram Mauser, Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die Sonnete des Andreas Gryphius, München 1976, S. 148; Volker Meid, Das 17. Jahrhundert, in: Walter Hinderer (Hg.), Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart 1983, S. 92f.; ders., Barocklyrik, Stuttgart 1986 ( = Slg. Metzler, Bd. 227), S. 90f. Vgl. Nr. 151—154 der Auswahlbibliographie von Karl-Heinz Habersetzer, in: Text + Kritik, s. Anm. 8, S. 118. So in der Frühphase der nachkriegsgesehichtlichen Rezeption Gryphius' Kurt Ihlenfeld, Tränen des Vaterlandes, in: ders., Poeten und Propheten. Erlebnisse eines Lesers, Witten, Berlin 1951, S. 301 ff., hier S. 302. Ebd., S. 305; vgl. A. Eischenbroich, Nachwort, s. Anm. 8, S. 137.
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Trunz, Fritz Martini, Marian Szyrocki) in relativ dichter Folge vorliegen;' 5 darüber hinaus sodann in der Form äußerst selektiver Aufnahme von Textteilen, die dem Verständnis des Sonetts als eines historischen Dokuments besonders Vorschub leistete. 16 Auf dieser Folie im Grunde verwandter Modi der Rezeption und Konkretisation scheint mir ein »erneuter« Versuch legitim zu sein. Dabei soll dies kein Affront gegen einen Interpretationsansatz sein, den — ich nehme bei seiner Beschreibung mit Absicht eine literaturwissenschaftlich externe Begründung auf — der Rechtshistoriker Franz Wieacker im Hinblick auf eine bestimmte Auslegungspraxis der juristischen Hermeneutik als eine »beständige existentielle Aktualisierung vergangener Sprache im wirkungsgeschichtlichen Zeilenabstand« charakterisiert hat; sie sollte akzeptiert werden, um die »Lebensleistung« historischer Texte für die »Lösung eines lebensweltlichen Streitfalls«, wir würden sagen: lebensweltlichen Konflikts zu bewahren. Freilich, im fundamentalen Unterschied zu jener »applikativen Hermeneutik« ist für Wieacker nicht weniger »selbstverständlich« die »kontemplative Hermeneutik« eine eigenständige und legitime Bemühung um historische (Rechts-)Texte: im Sinne »einer verstehenden Vergewisserung vom Text ohne Absicht auf seine lebensweltliche Applikation«, mithin im Sinne einer verstehenden Vergewisserung der »ursprünglichen historischen Bedeutung eines Rechtstextes«, 17 wir würden ergänzen: eines Textes überhaupt, zumal eines literarischen. Mein Versuch ist also ein solcher der »kontemplativen Hermeneutik« — unter anderem aus folgendem Grund:
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Herbert Cysarz, Drei barocke Meister. I. Andreas Gryphius, Thränen des Vaterlandes. Anno 1636, in: Gedicht und Gedanke, hg. v. Heinz Otto Burger, Halle/Saale 1942, S. 72—77; Erich Trunz, Fünf Sonette, s. Anm. 2, S. 186—191: Thränen des Vaterlandes, Überarb. in: Benno v. Wiese (Hg.), Die deutsche Lyrik, Bd. 1, Düsseldorf 1956 u.ö., S. 139—144; F. Martini, s. Anm. 2, S. 442—444; Marian Szyrocki, Die Welt ist aus den Fugen [zu Tränen des Vaterlandes. Anno 1636\, in: Marcel Reich-Ranicki (Hg.), Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen, Bd. 9, Frankfurt/M. 1985, S. 19—21; zudem Knut Kiesant, Andreas Gryphius: Threnen des Vatterlandes / Anno 1636, in: Horst Hartmann u.a. (Hg.), Werkinterpretationen zur deutschen Literatur, Berlin (Ost) 1986, S. 34ff., bes. S. 40f. Vgl. ferner Horst Bienek, Andreas Gryphius: Tränen des Vaterlandes, Anno 1636, in: Rudolf Riedler (Hg.), »Wem Zeit ist wie Ewigkeit«. Dichter, Interpreten, Interpretationen, München, Zürich 1987, S. 1 4 - 1 7 .
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Einige Beispiele: K. Ihlenfeld, s. Anm. 13, S. 305f. zitiert das 2. Quartett der Fassung E, das in der Version Β Walter Naumann, Traum und Tradition in der deutschen Lyrik, Stuttgart u.a. 1966, S. 122f. aufnimmt, während S. Kiedroii, s. Anm. 8, S. 17 beide Quartette in der Lissaer Fassung anführt. Zudem sind Grimmelshausens Simplicissimus und Gryphius' Sonett gern zusammengestellte >Zeitzeugen< des Dreißigjährigen Krieges: bei Edelgard E. Conradt, Barocke Thematik in der Lyrik des Andreas Gryphius, in: Neophilologus 40, 1956, S. 101 (hier beide Quartette); Felix M. Wassermann, Die Sonette des Andreas Gryphius: Spiegel des Dichters und Seiner Zeit, in: Papers on Language and Literature 6, 1970, Heft 1, S. 40f.; Italo Michele Battafarano, Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur, Bern u.a. 1994, S. 137f.
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Franz Wieacker, Einwirkungen der altertumswissenschaftlichen Behandlung des römischen Rechts auf die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Hellmut Flashar / Karlfried Gründer / Adolf Horstmann (Hg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, Göttingen 1979, S. 312—320 u. S. 404—411 (Diskussion).
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Zu den Grundlagen des literarischen Systems des 17. Jahrhunderts gehört — darin gibt es in der Barockforschung mittlerweile einen umfassenden Konsens — die Rhetorik mit ihren verzweigten Überlieferungen. Ihre primäre Funktion besteht darin, »Texte nach Regeln der Kunst zu produzieren«. Solange eine rhetorische Theorie praxisrelevant ist, sind Texte jeglicher Art nach ihren Vorschriften verfaßt worden. Was nun, mit Heinrich F. Plett, »unter dem Zwange präskriptiver Denk- und Ausdrucks weisen konzipiert worden ist«, ist im Sinne einer »kontemplativen«, eben historisch orientierten Hermeneutik »durch die Deskription des Analytikers« zugänglich zu machen. 18 Ein solcher Beitrag zur Erhellung der »intentionalen Formgesetzlichkeit« rhetorisch gebundener Produktion ist beim Sonett Thränen des Vaterlandes im folgenden beabsichtigt. Dessen rhetorische Analyse ist bislang nicht radikal genug rhetorisch gewesen. I. Anzusetzen hat eine rhetorische Analyse literarischer Texte der Zeit nicht erst, wie es — etwa aufgrund der wirkungsmächtigen Bewegung des Ramismus — der Charakter des Literarischen nahe zu legen scheint, auf der Ebene der Elocutio: der Stilmittel, des sprachlichen Schmucks, der »Auszierung«, kurzum: der Sekundärstrukturierung. Durchaus schon auf der vorgelagerten Ebene der Inventio: des Stoffs, der >ArgumenteBeweismitteldozierenmoveredemonstrativ< eine lange Reihe von Topoi durchgespielt. Vielmehr wird für den ganzen Text und seine rhetorisch-poetische Ökonomie — immer freilich vorausgesetzt, daß ich die geschichtlich reichen und variablen Topossysteme heuristisch richtig >ausprobiert< und angewendet habe — auf drei, allenfalls vier >sedes argumentorum< Bezug genommen. Dabei bestimmen die semantischthematische Makrostruktur des Sonetts im Grunde nur zwei Fundstätten: der locus ex efficientibus (auch locus a causis) und der locus ex effectis (auch locus ab effect is). Die in diesen Fundstätten gehorteten Argumente dienen folglich der Darstellung von Ursache-Wirkung-Relationen.23 ° 23
J. Dyck, Die Rolle der Topik, S. 142f. Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 2. Aufl., München 1973: §§ 378ff. Die
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Thränen des Vaterlandes setzt im ersten Quartettvers mit dem locus ab effectis ein (grammatisches Indiz: passivisches Perfekt), geht in den nächsten beiden Zeilen in die Argumentationsform a causa efficiente über (grammatisches Indiz: Präsenspartizipien sowie das von Gerhard Fricke plausibel erklärte Adjektivattribut »fett« zu »Schwerdt«,24 dem eine vergleichbare Erklärung von »frech« zu »Völcker« an die Seite gestellt werden kann), um im vierten Quartettvers zum locus effectorum zurückzukehren (grammatisches Indiz: Perfektform, deren aktivische Varianz durch die Argumente a causis bedingt ist, wobei der gezielte Regelverstoß — zu erwarten wäre der Plural — jedes Kolon gesondert auf das Schlußglied zu beziehen provoziert: Zeugma-Effekt). Die ersten drei Verse des folgenden Quartetts setzen die Argumentenreihe des locus ex effectis fort (grammatisches Indiz: passivisches Perfekt bzw. Präsens mit perfektiver Bedeutung wie z.B. »stehn in Glutt« für >sind in Brand geschossenPerson< unterstreichenden Argument ex statu qualitatis, für den Gedichtschluß eine Beglaubigungs- und Überzeugungsstrategie nachdrücklichster Art mobilisieren zu können. Danach wird in drei Kola der locus a causa efficiente der letzten Quartettzeile in chiastisch gestellter Variation wieder aufgenommen (grammatisches Indiz: aktivisches Präsens in »ärger ist«, »grimmiger ist« bzw. in dem noch aktiveren »ärger wütet«, »grimmiger wütet«), um mit einem besonders schwer wiegenden Argument ab effectis zu schließen: Zu erwarten wäre hier gemäß dem Argumentationsduktus der Verse 12 und 13 >wie zum Beweis< das Anführen einer die bisherigen, schon von drei auf vier gesteigerten Ursachen noch überbietenden, selbst aber nicht mehr überbietbaren causa; stattdessen tritt in Form der Metonymie >effektvoll< die Wirkung an die Stelle der sie hervorrufenden Ursache. In ihr findet das Gedicht, einen Kyklos bildend, zum Eingangsvers
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wohlfeil gewordene Lausberg-Polemik ist so überflüssig wie ein Kröpf. Wenn's nämlich drauf ankommt, zitiert selbst J. Dyck den heftig kritisierten »Lausberg«. Wir alle aus den späten 50er/frühen 60er Jahren — Zwerge auf den Schultern von Riesen — haben von ihm gelernt und Argumente gegen die von den Staigerschen Grundbegriffen der Poetik gelähmte Literaturwissenschaft aus dem »Lausberg« >gesammelt< bzw. ihn gleich selber in Münster/Westf. Rhetorik lehren hören. Gerhard Fricke, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock, Darmstadt 1967 (Reprographischer Nachdr. der Ausg. 1933), S. 201, Anm. 8: »Das >Fressen< und ebenso das >Fettwerden< des Schwertes ist zunächst eine gesonderte Umschreibung seiner Wirkung, wobei das metaphorische Verbum oder Epitheton mit seinem Subjekt keineswegs eine organische, beseelte Einheit bildet. Die Wendung scheint übrigens ebenfalls bereits formelhaft zu sein«; es folgt ein Hinweis auf Lohensteins Ibrahim Sultan.
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zurück, zugleich dessen komparativische Überbietungsfigur (»mehr denn gantz«) explizierend. Die aus den Loci (Topoi) geleistete Argumentationsstruktur des Textes sähe dann wie folgt aus:25 Ihränen des Vaterlandes / Anno 1636 WJr sind doch nunmehr gantz / ja mehr denn gantz verheeret! Der frechen Völcker Schaar / die rasende Posaun Das vom Blutt fette Schwerdt / die donnernde Carthaun / Hat aller Schweiß / und Fleiß / und Vorrath auffgezehret. Die Türme stehn in Glutt / die Kirch ist umgekehret. Das Rathauß ligt im Grauß / die Starcken sind zerhaun / Die Jungfern sind geschänd't / und wo wir hin nur schaun Jst Feuer / Pest / und Tod / der Hertz und Geist durchfähret. H ir durch die Schantz und Stadt / rinnt allzeit frisches Blutt. Dreymal sind schon sechs Jahr / als unser Ströme Flutt / Von Leichen fast verstopfft / sich langsam fort gedrungen / Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod / Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth Das auch der Seelen Schatz / so vilen abgezwungen.
locus ex effectis locus a causis locus ex effectis
locus a causis locus ex effectis
locus a causis locus ex effectis
Der dritte Topos nun, der vor allem die mikrothematischen Relationen des Sonetts in maßgeblicher Weise bestimmt, ist der locus ex enumeratione partium. K. O. Conrady läßt ihn, wie schon angedeutet, in der Figur der descriptio aufgehen, J. Dyck ist ihm darin gefolgt: »In vorbildlicher und typischer Form« hat Gryphius die von Quintilian und zeitgenössisch etwa von Nicolaus Caussinus (in De eloquentia sacra et humana, 1657) »geforderten Bedingungen in dem berühmten Sonett [...] erfüllt«.26 Diese Feststellung fällt zu apodiktisch aus. Zwar kommt hier die descriptio in umfassender Weise zum Zuge. Aber die Zerlegung des Vorgangs in seine Einzelteile, die im wesentlichen die descriptio ausmacht, läßt ja noch nicht erkennen, wie und in welchem übergreifenden Zusammenhang die durch Zerlegung gewonnenen Einzelteile verarbeitet und integriert sind. Hierauf geben erst die anderen Topoi eine Antwort, eben die loci a causis und ex effectis, oder anders formuliert: Der die descriptio bestimmende Topos ex enumeratione partium erscheint gleichsam als Verfahren, das seine Realisierung in den beiden anderen Topoi findet, zugleich aber auch deren Argumentensequenz konkretisiert. Es ist nämlich unstrittig, was J. Dyck über die Wirkung der »Beschreibung einer Sache durch Aufeäh-
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Der Text nach: Andreas Gryphius, Dichtungen, hg. v. Karl Otto Conrady, o.O. 1968 ( = Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Deutsche Literatur, Bd. 19), S. 23; eine Überprüfung der Textgestalt nach der Ausgabe letzter Hand -ANDREAE GRYPHÜ Freuden und Trauer=Spiele auch Oden und Sonneue. Jn Breßlau zu finden Bey Veit Jacob Treschern / Buchhändl. Leipzig / Gedruckt bey Johann Erich Hahn. Jm Jahr 1663.« (Exx. HAB Wolfenbüttel: Ρ 1676 q Heimst. 8° bzw. Lo Sammelbd 66.) — Zur komplexen Geschichte der Überlieferung und zur neuen Ausgabe der Werke Gryphius' vgl. H.-H. Krummacher, s. Anm. 4.
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Vgl. K.O. Conrady, Lateinische Dichtungstradition, s. Anm. 3, S. 231; J. Dyck, Die Rolle der Topik, s. Anm. 21, S. 132f.
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lung ihrer Teile« skizziert: Die Darstellung durch »sinnfällige Einzelheiten« habe auf das Publikum eine >realistische< und besonders affekterregende Wirkung; sie erhöhe das Pathos, das Publikum werde zum teilnehmenden Zuschauer aller beschriebenen Details. 27 (Und hierin ist wohl auch ein Grund für die in der Rezeptionsgeschichte des Sonetts unübersehbare Vorliebe für die detailreichen Quartette zu vermuten, obwohl die enumerado partium ja keineswegs innerhalb der Quartettgrenzen Halt macht.) Wie problematisch es jedoch ist, affektrhetorisch fundierte und wirkungsbezogen organisierte Texte auf ihre unverwechselbare Ausdrucksqualität hin zu befragen (bzw. sie in diesem Verständnis zu rezipieren), zeigt zudem die in Thränen des Vaterlandes nachweisbare Auffassung der Topik nicht nur als »Auffindungsprinzip für Argumente«, sondern auch — im notorischen Sinne des allzu lange vorherrschenden Topos-Begriffs Ernst Robert Curtius' — als »Register für gesammeltes Material«, das in den verschiedenartigsten Ausprägungen bis hin zu festen Redewendungen zum Sammelgut der gedruckten Florilegien ebenso wie der persönlichen Kollektaneen wurde und hier wie dort >auf Abruf bereit< lagerte.28 In diesen Zusammenhang gehört der Nachweis der Opitz-Anleihen Gryphius', der an anderer Stelle geführt worden und hier nicht zu wiederholen ist.29 Angemerkt sei dazu lediglich noch, daß sich die scheinbar unvermittelte lyrische Ausdruckssprache — als Sprache des »Ausdrucks eines enthusiastisch aufgeregten Ich«30 — zumindest in Zeiten der Herrschaft der Rhetorik gleich in zweifacher Hinsicht als höchst vermittelt erweist: auf der >systematischen< Ebene des ToposSystems und auf der historischen Ebene der Topoi-Schatzkammern. II. Man könnte vielleicht Zweifel haben, ob eine rhetorische Analyse auf der Ebene der Dispositio sinnvoll ist. Hat doch zuletzt wieder der Lexikonbeitrag im Historischen Wörterbuch der Rhetorik zu belegen versucht, wie unsicher und ungeklärt — selbst von den Auswirkungen des Ramismus auf die rhetorische Systematik abgesehen — der Status der Dispositio im Rahmen der »officia« des Redners scheint.31 Die Zweifel daran dürften indes im Hinblick auf die Poesie mit der grundlegenden Studie zur Poetik und Geschich-
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J. Dyck, Die Rolle der Topik, S. 132f. Vgl. etwa J. Dyck, Die Rolle der Topik, S. 143ff., unter Bezugnahme auf eine reiche Forschungsliteratur. Vgl. Sonettkunst des Barock, s. Anm. 4, S. IS—19. — Ein hierfür noch eindringlicheres Zeugnis sind die den Abschlufl des zweiten Sonettbuches von 1650 bildenden vier Sonette, denen die Lehre »von den vier letzten Dingen« zugrunde liegt; vgl. Hans-Henrik Krummacher, >De quatuor novissimisFremdenSturm und Drangprima vista< so spontan und ursprünglich wirkenden lyrischen Dichtens — einem fremden Dichtervorbild bewußt nachgeeifert, ja eine überlieferte Dichtungsgattung (Ode) in der Art, wie sie bei ihrem berühmtesten Vertreter (Pindar) auftritt, nach Sprache, Stil, Bauweise und Bilderwelt >artifiziell< nachgeahmt habe. Wie zentral, wie marginal das Gedicht davon geprägt wurde, war eine damit zusammenhängende Frage. Sollte die persönliche Komponente von Goethes Dichten, das was mit den Bruchstücken einer »großen Konfession« gemeint ist, hier weitgehend zurückgedrängt sein? Womöglich gänzlich? Könnte dem jungen Goethe unterstellt werden, daß er bei Wandrers Sturmlied, ohne viel Eigenes von Belang zuzuschießen, nur vordringlich seine Kenntnisse der Pindar-Ode in ein selbstgemachtes Gedicht umsetzen wollte? Bei weitem am entschiedensten hat eine solche Richtung der Interpretation 1984 Jochen Schmidts Aufsatz Gelehrte Genialität: >Wandrers Sturmlied< eingeschlagen.1 Mit einer Kühnheit sondergleichen hat hier ein vorzüglicher Wissenschaftler, ausgerüstet mit bewundernswerter Belesenheit sowohl in der antiken Lyrik als auch in der ästhetischen Diskussion des westeuropäischen 18. Jahrhunderts, sich die Extremposition zu eigen gemacht, daß
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Erschienen im Jb. d. Dt. Schillergesellschaft 28 (1984), S. 144—190. Wiederabdruck in J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750—1945, 2 Bde., Darmstadt 1985, B d . l , S. 1 9 9 - 2 5 4 .
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der junge Goethe mit seinem Sturmlied eine »Gelehrtendichtung« geliefert habe (S. 182). Indem der Dichter treulich der »Überlieferungslinie der pindarischen und der pindarisierenden Ode« (S. 148) gefolgt sei, geführt von »festgelegten Bahnen« (S. 148) der »Pindar-Idolisierung« (S. 177), instruiert vom »Standardwissen des 18. Jahrhunderts« (S. 149), trete überall ein »Grundzug der gelehrten Genialität« (S. 177) hervor, nicht etwa »ein unmittelbar, genialisch-erlebnishaftes Ausströmen« (S. 177). Bei »dem Stil und den Denkbildern des Sturmlieds« sei »eine bereits vollständig ausgeprägte literaturtheoretische Konvention [...] maßgebend, die den — kunstvoll erzeugten — Schein des Natürlichen und Spontanen fordert« (S. 151). Die »kunstvoll-komplexe Komposition des Liedes [...] deutet auf künstliche >Natur< und eine konstruierte Gefühlshaftigkeit« (S. 150).2 Bis zu der in der Odendiskussion vielerörterten »Gefahr des Manieristischen und GewaltsamÜbertriebenen« (S. 159) sogar gehe Goethes Anschluß an eine poetische Modeströmung, wodurch Wandrers Sturmlied nach Schmidts Empfinden denn auch »auf solchem Hintergrund nicht wie ein stürmischer, jugendlicher Neubeginn, sondern eher als eine spätzeitliche Summe anmutet« (S. 158). Goethes Ode wird in dieser Sicht also als Etüde eines theoriebeflissenen >poeta doctus< interpretiert, als eine Arbeit, die selbstverständlich am Schreibtisch, aber eben nur am Schreibtisch entstanden ist. Alles was uns an Persönlich-Erlebnishaftem von diesem Gedicht anwehen möchte, ist Odenzubehör, wäre bloßer gattungsbedingter »Schein« von Natürlichkeit und Spontaneität. Indessen: mit dieser Auffassung der Entstehungsvoraussetzungen setzt sich Schmidt ersichtlich in Widerspruch zu Goethes ganz anders lautender Erinnerung in Dichtung und Wahrheit: »Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterweges traf, dem ich entgegen gehn mußte«. 3 Den Kontext bilden dort Goethes Fußwanderungen zwischen Darmstadt und Homburg vor der Höhe, im Herbst und Winter 1771/72. Schmidt hält dieses Zeugnis des Autors zum Verständnis des Gedichts für so irrelevant, daß er es nicht einmal in seinen Text aufnimmt (er zitiert es so knapp wie syntaktisch gerade noch möglich in der Anm. 2 seines Aufsatzes). Denn eine »angemessene historische Interpretation« (S. 148) könne so nicht begründet werden. »Das Stürmisch-Erlebnishafte, das sich nicht [!] auf konkretes Erleben zurückführen läßt, ist eine von der Odentheorie in ganz bestimmten Formen geforderte Fiktion, die hier aus dem Geist [!] der Sturm- und Drangjahre eine besonders intensive Ausprägung erfährt« (S. 148). Hätte es die vom Autobiographen berichtete Unwetterwanderung also tatsächlich gegeben, so scheint Schmidt behaupten zu wollen, so wäre sie für das Zustandekommen des Gedichts doch ohne viel Bedeutung geblieben; zu erdrückend hätte gegenüber diesem Erlebnis-Stoff das Gewicht der ihn unnötig machenden Oden-Topoi in die Waagschale fallen müssen. Entsprechend läßt Schmidts Interpretation auch jedes andere biographisch-persönliche Moment am liebsten beiseite. Selbst die Begleitzeilen, die Goethe 1774 dem Jacobi
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Vgl. ergänzend die Formulierungen in J. S., Genie-Gedanke, Bd.l, S. 59 unten und S. 190 oben. Vgl. Goethes Werke, Hamb. Ausgabe (ed. Trunz), Bd.9, S. 521.
Wandrers Sturmlied von Goethe — eine
Gelehrtendichtung?
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zugesandten Gedicht mitgab (»Hier eine Ode zu der Melodie und Commentar nur der Wandrer in der Noth erfindet«), 4 können vor Schmidts methodischem Standpunkt, der völlig auf eine mit der zeitgenössischen Odentheorie vertraute Gelehrsamkeit des jungen Goethe abstellt, nicht bestehen. Denn auch sie könnten, ernstgenommen, dem Hauptirrtum Vorschub leisten: dem Mißverständnis des Gedichts als »Erlebnisdichtung« (S. 147). Und nur den sparsamsten Gebrauch macht Schmidt endlich sogar von dem mit Wandrers Sturmlied wohl genau gleichzeitigen und sich mit dem Gedicht eng berührenden langen Brief des Wetzlarer Goethe an Herder (Anfang Juli 1772), in dem intensives, ganz auf die persönlichen Dichterprobleme bezogenes Studium des Pindar bis in Einzelheiten hinein ausgebreitet wird. 5 So bringt Schmidt es fertig, in einem 43 Seiten langen Aufsatz, der von Goethes nachschöpferischem Verhältnis zu Pindar und zur Pindar-Tradition handelt, nicht ein einziges Mal die in dem Brief dokumentierten (teils griechischen!) Lesefrüchte, Lehren und Erfahrungen zu Wort kommen zu lassen, mit denen der junge Dichter voll Dankbarkeit seine Pindar-Studien resümiert. Ein schlagenderer Beweis für das prinzipielle Desinteresse von Schmidts Untersuchungsansatz an allen individuellen Voraussetzungen des Sturmlieds ist eigentlich kaum vorstellbar. Läßt sich dieses extreme Interpretationskonzept nun aber mit den von Schmidt gelieferten Hinweisen auch lückenlos durchexerzieren? Ist die schwer zugängliche Gestalt des Gedichts — im ganzen und in ihren Details — ohne alle Bezugnahme auf persönliche und individuelle Umstände ihrer Entstehung verständlich zu machen? Das erscheint auch nach den Darlegungen Schmidts noch zweifelhaft, und für diesen Zweifel sollen im Folgenden einige Begründungen gegeben werden. Als eines seiner stärksten Argumente führt Schmidt ins Feld, daß Struktur wie Topologie des Sturmlieds von der Tradition bestimmt seien (S. 165); ja, die Odentheorie des mittleren 18. Jahrhunderts habe dem jungen Dichter sogar den Charakter von Stil und ideellem Gehalt seiner Ode schon vorgegeben (S. 148): Alle Grundelemente des Sturmlieds sind charakteristische Konstanten der etablierten Odentheorie: der scheinbar chaotisch-assoziative Duktus, die Betonung »glühender« Leidenschaftlichkeit, die dichterische Beanspruchung »göttergleicher« Erhabenheit im Anschluß an die Longinische Tradition des Erhabenen, nicht zuletzt die Berufung auf das Genie und Pindar. Ja, der spezifisch odische Stil, die Beschwörung Pindars und des Genies verschmelzen sich schon in der Odentheorie zu einer Einheit. Selbst Goethes Entgegensetzung von Pindar und Anakreon ist in ihr bereits topologisch fixiert. (S. 148)
Eine solche Aufreihung von Elementen des Sturmlieds, die aus dem Arsenal der zeitgenössischen Odentheorie genommen werden konnten, ist gewiß eindrucksvoll; so beeindruckend wie die Gelehrsamkeit, der sich diese Aufreihung verdankt. Was der kritische Leser sich aber schon hierbei wünschte, ist zweierlei. Erstens die Erörterung, wo der junge Goethe diese Elemente gelehrter Odentheorie genauso vollzählig und eng miteinander verknüpft vor Augen gehabt haben könnte, wie Schmidt sie (bereits im Hinblick
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Im Brief vom 31. August; vgl. Der junge Goethe (ed. Morris), Bd.4, S. 138. Vgl. Der junge Goethe (ed. Morris), Bd.2, S. 293—296.
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auf das Sturmlied) aus der Pindar-Diskussion zwischen Opitz und der französischen Encyclopédie mit aller forschenden Umsicht herausgefiltert und zusammengestellt hat. Der junge Goethe war kein Gelehrter! Zweitens der überzeugende Nachweis des Modischen; also wo andere zeitgenössische Odendichter, auf der gleichen Traditionslinie, dem jungen Goethe bereits vorgemacht hätten, daß eine pindarisierende Ode aus den von Schmidt namhaft gemachten Elementen zu formen sei und so und nicht anders auszusehen habe. War eine solche zeitgenössische Ode — eine deutsche, englische oder französische — vielleicht gar nicht beweiskräftig genug beizubringen? Gerade daß Schmidt auf diese beiden konkreten Nachweise verzichten zu dürfen meint, könnte den Eindruck erwecken, daß beides mit Leichtigkeit zu leisten wäre. Ist es aber auch so? Tatsächlich dürfte sich der junge Goethe doch allein bei Herder und möglicherweise noch bei Batteux über Pindar und pindarisierendes Dichten informiert haben, so daß ihm über die eigene Pindar- und Horazlektüre hinaus eine Konvention von Oden-Theorie sowie deren verbindliche Topoi und Stilmittel allenfalls umrißhaft bewußt gewesen sein konnten. Nach der ganzen Art des jungen Goethe zu urteilen (wenn wir uns das gegen Schmidts methodischen Ansatz herausnehmen), dürfte ein solches eher lückenhaftes Bescheidwissen über die Theorie geradezu die condicio sine qua non dafür gewesen sein, daß den alle Pedanterie scheuenden Stürmer und Dränger überhaupt Lust und Antrieb ankam, eine pindarisierende Ode zu verfassen. Und modische Vorbilder? Konkret kommt als einziges jene von Herder gedichtete Ode in Frage, mit der er sich in den Fragmenten selbst zitiert. 6 Aber wie wenige Elemente von Schmidts Pindar-Topologie finden sich dort zusammen! Ein anderer Einwand, gegen den Schmidts Aufsatz nicht gerüstet ist: Hätte der junge Goethe wirklich eine Topologie, einen zu variierenden Kanon von pindarisierenden Topoi vor Augen gehabt, wäre es ihm tatsächlich nur auf die mehr oder minder handwerkliche Herstellung, d.h. Realisierung eines pindarisierenden Mustergedichts angekommen (und darauf scheint Schmidts Ansatz hinauszulaufen), so müßten einige Elemente des Sturmlieds kraß verwundern, da sie sich augenscheinlich nur schwer aus der von Schmidt kanonisierten Topologie herleiten lassen. Wo also finden wir auf diese Frage eine Antwort: Wie kommt es zu den nicht von der Pindar-Diskussion vorgegebenen Motiven des Sturmliedsl Und wie vereinbaren sich solche aus der konventionellen Reihe tanzenden Motive dann mit einer auf gelehrte Korrektheit gerichteten Übung im Pindarisieren? So müßte Schmidt z.B. zum Problem geworden sein, daß — bei aller erhabenen >elevatio< — Goethes Motiv des >SchwebensReinheit< der Musen dort —
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Vgl. Herders Fragmente über die neuere deutsche Literatur, »Zwote Sammlung« (Pindar und der Dithyrambensänger), in Werke (ed. Suphan), Bd.l, S. 325.- Die gesamte Ode, ein Lobgesang auf Peter d. Gr. von 1765, hat Suphan in der Altpreuß. Monatsschrift, Bd.10, S. 105ff., wiederherzustellen versucht.
Wandrers Sturmlied von Goethe — eine
Gelehrtendichtung?
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anders als im Sturmlied — so wenig mit einem »Herz der Wasser« wie mit einem »Mark der Erde« verglichen wird. Das Motiv der Mutlosigkeit (Vers 51) ist dem von Schmidt nachgewiesenen Odenton so konträr, daß selbst der Laie beizupflichten geneigt ist, wenn Bruno Snell bei Wandrers Sturmlied zu dem Urteil kommt: »All das ist völlig unpindarisch«. 7 Der »Mittelpunckt« der Seelenwärme gar (V. 60), der Apoll entgegenzuglühen hat, ist für alle Pindartradition doch wohl eine wildfremde Vorstellung, zumal der auch auf diesem Gebiet versierte Schmidt selber Indizien beibringt, daß es sich bei diesem Bild um die zeitgenössische, aus dem mystisch-pietistischen Raum stammende Vorstellung der Konzentration, der konzentrativen Kraft der Seele handelt.® Wenn aber solche offenkundig nur auf persönlich-individueller Basis zu erklärenden Motive des Gedichts über jede pindarisierende Konvention und Topologie hinausragen, so müssen sich doch schwere Bedenken einstellen, ob Schmidts Ansatz wirklich trägt, ob Wandrers Sturmlied nach Intention und Leistung bündig als eine >Gelehrtendichtung< interpretiert werden kann. Denn mit zwei, drei fremden Motiven solchen Gewichts ist es dann ja doch jedenfalls um die stilreine Ode pindarisierender Observanz schon geschehen! Und bedenklicher noch: Wenn sich dem Gerüst pindarisierender Struktur und Topologie solche artfremden Elemente beigesellen und aufdrängen, so läßt sich natürlich auch nicht mehr die bei Schmidts Ansatz nirgendwo vorgesehene Frage abweisen, unter welchem dann individuell zu erklärenden Zwang (und mit welchem Einfluß auf das Gesamtergebnis) sich diese nicht-pindarisierenden Elemente im Sturmlied eigentlich einfinden. Diese Frage nötig finden heißt aber doch wohl schon, daß Schmidts Ansatz scheitert. Denn zumindest für diese nicht-pindargemäßen Teile des Gedichts müßte die Interpretation nun von Rechts wegen neu eröffnet werden: mit einer ergänzenden Befragung der biographischen Situation und der individuellen Geisteswelt des jungen Goethe. Diese Konsequenz scheut Schmidt verständlicherweise. Vielmehr versucht seine closeread ing-Interpretation (S. 164—190) umgekehrt, die unkonventionellen, von der PindarTradition nicht mehr abgedeckten und ins handgreiflich Eigentümliche ausblühenden Stellen des Sturmlieds mit allem Nachdruck — und trotzdem nur so gut, wie es bei einer fast aussichtslosen Sache eben geht — in der von ihm verfochtenen Pindar-Replik aufgehen zu lassen. Selbst eben dort, wo sich auch Schmidt der Entlehnung eines Bilds aus fremder Tradition bewußt ist: »die fremdartig [!] anmutende, aus mystisch-pietistischer Tradition säkularisierend übernommene Vorstellung des >MitteIpuncktspars umida et terrenas V. 407), die neuen Menschen entstanden« (S. 169, Anm. 95). Aber Wandrers Sturmlied spielt nicht auf die Menschenschöpfer Deukalion und Pyrrha selbst, sondern bloß — im Matsch des regendurchweichten Wanderpfades — auf »Deukalions fluthschlamm« (V. 15) an, auf den »Sohn des Wassers und der Erde« (V. 32)! Die Musen des Sturmlieds dagegen evozieren mit ihrer Gegenwart eine »reine« Essenz von Wasser und Erde! Dem Interpreten obliegt es also, diese Essenz mit aller hier erreichbaren Wahrscheinlichkeit zu erläutern. Nicht übersehen werden darf dabei — wie leider auch in Schmidts Aufsatz —, daß Goethes nur zwei Jahre später geschriebene Burleske Hanswursts Hochzeif die Prägung »Mark der Erde« ebenfalls kennt und darunter den männlichen Samen versteht. Dieser Samen als der Erde [!] Mark erinnert dann aber stark an eine andere Stelle von Ovids Metamorphosen, wo es gleich im ersten Stück (»Schöpfung aus dem Chaos«) heißt:10 Da entstand der Mensch, ob ihn aus göttlichem Samen Zeugte der Bildner der Dinge, der Urquell besserer Schöpfung, Oder die frische, erst jüngst vom hohen Äther getrennte Erde [!] noch Samen [!] enthielt vom einst ihr verbundenen Himmel, Die des Japetus Sohn [=Prometheus] dann mischte mit schlammigen Wellen [...]
Von der zweiten Menschenschöpfung auf den ersten kunstfertigen Schöpfer verlagert sich in den Eingangsstrophen von Goethes Gedicht also der Akzent; von Deukalion auf Prometheus, den eigenschöpferischen Genius. Im Schlamm des Irdischen steckt der Samen zu aller Schöpfung: als seine Essenz. Auf die zitierte Stelle aus Ovids Metamorphosen, mit den semina caeli, wies übrigens in ihrem Sturmlied-Aufsatz schon Katharina Mommsen hin." Ich stehe hier also nicht allein. Aber wie fand diese Vorstellung einer spermatischen Essenz der Erde zum jungen Goethe? Wohl nicht so sehr durch das für den Winter 1772 bezeugte Studium der großen antiken Lyrik, schon gar nicht durch Pindar. Sondern durch jene naturmystische Geisteswelt seines >Lebensretters< Dr. Metz, die den jungen Dichter 1772 noch immer faszinierte. Sie kennt dann zum »Mark der Erde« auch die korrespondierende Essenz des >Oben