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German Pages [264] Year 2011
Michael Mitterauer
Traditionen der Namengebung Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Gefördert durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78645-0 Coverabbildung: Stammtafel der Ottonen aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts: Quelle: http://de.wikipedia.org Foto: Ulrich Baumgarten/vario images/picturedesk.com
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Arbeitsgebiete, Interdisziplinarität, gesellschaftliche Aktualität . . . . . . 7 1. Systeme der Namengebung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel „heiliger Namen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4. „Senioris sui nomine“. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5. „Renovatio“ und „innovatio“. Namen als Spiegel von Erneuerungsbewegungen im Pisa des 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Mittelalterliche Grundlagen aktueller Namensprobleme . . . . . . . . . . . . . . 147 7. Recht und Brauch der Namengebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 8. Vom „Judenkind“ zur „Schloßmoidl“. Lebensgeschichten als Quelle der Namenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 9. Kein Problem für Attila und Leila? Zur Namengebung in bikulturellen Familien (gemeinsam mit Viktoria Djafari-Arnold) . . . . . . . . . . . . . . . . 203 10. Europaname Mohammed? Interkulturalität und Namengebung . . . . . . . . . . 219 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Einleitung: Arbeitsgebiete, Interdisziplinarität, gesellschaftliche Aktualität
Wie mit vielen anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen hat die Namenkunde auch mit der Geschichtswissenschaft eine weit zurückreichende gemeinsame Forschungstradition. In den 1990er-Jahren erreichte diese Kooperation quantitativ und vor allem qualitativ ein neues Niveau. Der renommierte amerikanische Mediävist George T. Beech formulierte dazu 2002 in der Einleitung eines von ihm herausgegebenen Bandes über „Personal Names“:1 „In retrospect the rapid succession of colloquia and published volumes in the 1990s amounts to nothing less than an explosion of activity by medieval historians on a subject that no one could have predicted as recently as 15 years ago. There can scarcely be any doubt that this represents one of the most vibrant, innovative, and productive movements in medieval scholarship at the present time.“ Seine Mitherausgeberin Monique Bourin, selbst Initiatorin von zahlreichen dieser Treffen, vor allem im Rahmen des Großprojekts „Genèse médiévale de l’anthroponymie moderne“2, nennt im selben Band als Grundproblem der interdisziplinären Zusammenarbeit die Frage: „How Changes in Naming Reflect the Evolution of Familial Structures?“3 „Naming and Family“ ist auch das Leitthema der meisten Beiträge dieses Sammelbandes. Es war also eine sehr spezifische Teildisziplin der Sozialgeschichte, die diese „explosion of activity“ in der Zusammenarbeit von Namenkunde und Geschichtswissenschaft auslöste und zu derart innovativen und produktiven Bewegungen in der Mediävistik führte. Allerdings handelte es sich bei der Historischen Familienforschung keineswegs mehr um ein unbedeutendes Randgebiet innerhalb der Geschichtswissenschaft. Im Gegenteil, diese Teildisziplin hatte seit den 70erund 80er-Jahren einen enormen Aufschwung erlebt – sowohl in der Neueren wie auch in der mittelalterlichen Geschichte. Und sie brachte ihrerseits ein umfassendes Netzwerk 1 2 3
George T. Beech, Preface, in: derselbe, Monique Bourin und Pascal Chareille (Hg.), Personal Names: Studies of Medieval Europe. Social Identity and Familial Structures, Kalamazoo 2002, S. XII. Dessen Ergebnisse publiziert in: Genèse médiévale de la anthroponymie moderne, 5 Bde., Tours 1990–2002. Monique Bourin, How Changes in Naming Reflect the Evolution of Familial Structures in Southern Europe, 950–1250, in: Beech u.a. (Hg), S. 3.
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interdisziplinärer Beziehungen in die Kooperation ein.4 Nur aus dieser Vorgeschichte ist die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Historischer Namenforschung und Historischer Familienforschung seit den 90er-Jahren zu verstehen. Auch mein Weg zur Namenforschung ging von der Familienforschung aus. In meiner Dissertation, die ich Ende der 50er Jahre über karolingische Markgrafenfamilien schrieb, war ich allerdings noch ganz traditionellen Fragestellungen und Arbeitsweisen der Genealogie verbunden.5 Es bedeutete für mich eine grundlegende Neuorientierung, unter dem Einfluss der Familiensoziologie aktuelle Themen des Wandels der Sozialform Familie aufzugreifen und in historischem Kontext zu behandeln. Dieser Weg führte mich wieder ins Mittelalter zurück. Gerade für quellenarme Zeiten bietet die Entwicklung von Namengut und Namengebung der Historischen Familienforschung sehr wertvolle zusätzliche Informationen. Sie mussten nun allerdings mit veränderten Fragestellungen und Methoden genutzt werden. Insbesondere waren es großräumige Kulturvergleiche, die aus Tendenzen der Namenentwicklung Rückschlüsse auf Tendenzen der Familienentwicklung boten. 1993 veröffentlichte ich die Monographie „Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte“, die diesbezüglich einen Überblick von der Antike bis ins 20. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt auf Veränderungsprozessen im Mittelalter versuchte.6 Der Begriff „Ahnen“ im Titel signalisiert das besondere Interesse an Familie und Verwandtschaft. Diesem Überblick aus der Perspektive einer sozialhistorischen Namenforschung stellte ich 2003 einen thematisch ähnlich orientierten aus der Perspektive mittelalterlicher Entwicklungen von Verwandtschaft und Haushalt gegenüber, der den Ertrag namenkundlicher Forschungen für die Sozialgeschichte der Familie zusammenfasst.7 Ein solcher Perspektivenwechsel vermag neue Erkenntnismöglichkeiten zu erschließen. Vor allem aber führt er 4
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Zur Entstehung und Entwicklung der Historischen Familienforschung international: Michael Anderson, Approaches to the history of the Western family 1500–1914, Cambridge 1980; für den deutschsprachigen Raum das Kapitel „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ in: Andreas Gestrich, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 50), München 1998, S. 55 ff.; für die mediävistische Familienforschung: Karl-Heinz Spieß (Hg.), Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters (Vorträge und Forschungen 71), Ostfildern 2009, darin vor allem: Bernhard Jussen, Perspektiven der Verwandtschaftsforschung fünfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys „Entwicklung von Ehe und Familie in Europa“, S. 275–324. Druckfassung unter dem Titel: Karolingische Markgrafen im Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerischer Stammesadel im österreichischen Raum (Archiv für österreichische Geschichte 123), Wien 1963. München 1993. Italienisch: Antenati e santi. L’imposizione del nome nella storia europea (Biblioteca di cultura storica 229), Torino 2001. Kapitel „Zu Beginn des Lebens: Namengebung“, in: Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart 2003, S. 200 ff.
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– von welcher Seite auch immer die Betrachtung ausgeht – in umfassendere Zusammenhänge von Familie und Sozialsystem. Die im vorgelegten Band erneut publizierten Aufsätze sind alle in einem mehr oder minder vermittelten Zusammenhang mit Namenstudien um „Ahnen und Heilige“ entstanden. Anders als diese Monographie sollen sie jedoch keine einheitliche Entwicklungslinie nachzeichnen, sondern im Gegenteil durch ihre thematische Vielfalt Anregungen in verschiedene Richtungen hin bieten. In zeitlicher und räumlicher Hinsicht liegen Schwerpunkte der einzelnen Aufsätze in ganz unterschiedlichen Epochen und Regionen – von Kulturen des Alten Orients bis hin zu europäischen Großstädten der Moderne. Ebenso differieren die Schwerpunktthemen – von Namen als Ausdruck von Geschlechterrollen bis hin zu Namen als Problem von Interkulturalität. Vielfältige Namentypen kommen zur Sprache – über „Vornamen“ hinaus Patronyme, Übernamen, verschiedene Formen von „Familiennamen“. Die Auswertung des Namenguts ist um unterschiedliche methodische Zugänge bemüht. Statistische Zugangsweisen sind wichtig, ebenso aber geht es auch um die Auswertung von narrativen Quellen – etwa lebensgeschichtlichen Zeugnissen. Vielfältig sind schließlich die in den einzelnen Studien angesprochenen Partnerdisziplinen – Religions- und Kirchengeschichte, Rechts- und Verfassungsgeschichte, Sozialanthropologie, Ethnologia Europaea. Die kontrastreiche Heterogenität des vorgelegten Bands ist intendiert. Sie soll möglichst vielfältige Ansatzpunkte für weitere Arbeiten bieten. Einige Beispiele dafür nennt die Einleitung. Sicherlich gibt es zwischen den einzelnen in diesem Band erneut publizierten Aufsätzen auch viele inhaltliche und methodische Gemeinsamkeiten: Sie alle wollen Phänomene der Namenkultur in gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen. Auch wenn dabei die Familie den Ausgangspunkt gebildet hat – das Erkenntnisinteresse richtet sich genauso auf gesellschaftliche Mikro- wie Makrostrukturen. Sie alle wollen nicht nur Gegebenheiten des Namenwesens beschreiben, sondern diese auch erklären. Diese Intention führt notwendig zur Analyse gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Sie alle wollen solche Analysen letztlich auf die Gegenwart bezogen durchführen. Ein solcher aktueller Bezug kann dabei in unmittelbarer Weise gegeben sein – etwa wenn es um die Namengebung in Migrantenfamilien geht – oder stärker vermittelt – etwa wenn das Thema der Ursprung von Familiennamen ist, die in der Gegenwart von Veränderungen des Namensrechts betroffen sind. Aktuelle gesellschaftliche Bezüge sind sicher eine besonders überzeugende Legitimation von wissenschaftlicher Arbeit. Auf dieser Grundlage bemüht sich der vorgelegte Band, neue Impulse zum Weiterdenken und Weiterforschen zu geben. Die Aufsätze dieses Bands entstanden im Verlauf von zwei Jahrzehnten wissenschaft licher Arbeit. Nach vielfachem Themenwechsel bin ich auch immer wieder zu Namenthemen zurückgekehrt. Dadurch ergab sich gelegentlich eine Bezugnahme auf ältere Aufsätze
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und damit beim Wiederabdruck die Möglichkeit von Wiederholungen. Je nach Publikum, an das sich ursprünglich die mündlichen bzw. schriftlichen Ausführungen richteten, unterscheidet sich die Darstellungsform. Die Gestaltung der Texte wurde bei der erneuten Publikation grundsätzlich beibehalten. So blieben Vortragstexte ohne Anmerkungen. Bei Artikeln hingegen wurden Anmerkungsapparat bzw. Literaturverzeichnis – jeweils der Erstpublikation entsprechend – reproduziert. Neben den genannten inhaltlichen Kriterien waren für die Auswahl auch solche der Erreichbarkeit maßgeblich. Aufsätzen, die in schwierig erreichbaren Publikationsorganen erschienen waren, wurde im Zweifelsfall der Vorzug gegeben. Ein Beitrag ist schon zuvor in einem Sammelband meiner Aufsätze abgedruckt worden, nämlich „Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel ‚heiliger Namen‘“ und zwar in „Dimensionen des Heiligen“.8 Dort gab das Thema „Heiligkeit“ den verbindenden Zusammenhang, hier ist es die theophore Namengebung. In Entsprechung zum Schlussbeitrag des vorgelegten Bands über islamisches Namengut und islamische Namengebung im heutigen Europa wollte ich einen einschlägigen Beitrag über eine wichtige Wurzel dieser Namenstradition an einem vorderen Platz aufnehmen. Der erste der in diesem Band erneut publizierten Beiträge behandelt „Systeme der Namengebung im Vergleich“. Es geht hier zunächst um typische Prozesse der Übertragung traditioneller oder neuer Namen auf die nächste Generation – nicht um Namensysteme im Sinne von typischen Formen der Zusammensetzung von Namen aus verschiedenen Namensteilen. Auf diese wird später zurückzukommen sein. Die Darstellung beschränkt sich im Wesentlichen auf Namengebung in der europäischen Geschichte. Nur einzelne Beispiele führen darüber hinaus. Jedes dieser Systeme der Namengebung hat Zeiten besonderer Dominanz. In der historischen Abfolge lässt sich allerdings kein Modell einander ablösender Phasen erstellen. In einzelnen europäischen Teilregionen finden sich noch in neuerer Zeit Praktiken der Namengebung, die in anderen schon viele Jahrhunderte zuvor erloschen sind – etwa durch Namensvariation oder durch Namensalliteration in Südosteuropa.9 Solche Systeme werden aus ihren kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu erklären versucht. Vor allem geht es dabei – wie später bei der Behandlung 8 9
Wien 2000. Fassbar etwa bei: Joel Halpern, A Serbian Village. Social and Cultural Change in a Yugoslav Community, New York 1956, S. 153; weiters: Karl Kaser, Familie und Verwandtschaft in Bulgarien. His torische und anthropologische Perspektiven, in: Ulf Brunnbauer und Karl Kaser (Hg.), Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien 2001, S. 38, Julian Konstantinov, Nahrung vom Dorf, Beziehungen durch die Stadt. Über den gegenwärtigen Stand des bulgarischen Land-Stadt-Haushalts, ebda., S. 61 f., Evgenija Krašteva, Die „Reinkarnation“ der Großeltern. Moderne Aspekte der Namengebung in Nordwestbulgarien, ebda., S. 261.
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von Namensystemen – um den Themenkreis Namengebung und Verwandtschaft. Für den europäischen Kulturraum im Mittelalter bin ich solchen Zusammenhängen später nochmals im Detail im Kapitel „Verwandtschaftsfamilie“ des gemeinsam mit Andreas Gestrich und Jens-Uwe Krause abgefassten Bandes „Geschichte der Familie“ nachgegangen.10 Zeitlich und räumlich viel weiter ausholend behandelt sie Karl Kaser in seiner kürzlich erschienenen Monographie „Patriarchen, Machos und Beamte“. Ihm geht es vor allem um namenkundliche Indikatoren für patrilineares Abstammungsbewusstsein bei indoeuropäischen Völkern.11 Komparative Untersuchungen dieser Art könnten auch in Zukunft ein ertragreiches interdisziplinäres Forschungsgebiet darstellen. Beispiele, was eine historisch-anthropologische Zugangsweise auf dem Gebiet von Namengebungssitten zu bieten vermag, ließen sich in vielfacher Weise erbringen. Für den Typus der Namensalliteration sei diesbezüglich etwa auf den Brauch der sogenannten „Buchstabennamen“ bzw. der „Buchstabentaufe“ verwiesen, der für die jüngste Vergangenheit in Bulgarien untersucht wurde.12 Vor allem in ländlichen Gebieten gilt es hier als „heilige Pflicht“ gegenüber den Eltern, sie im Namen der Enkelkinder „fortleben“ zu lassen. Das kann auch durch eine teilweise Übernahme des Namens gewährleistet werden – etwa wenn eine Großmutter altmodisch „Donka“ heißt und ihre Enkelin städtisch-modern auf sie bezogen den Namen „Doniela“ erhält. Um eine Namensvariation handelt es sich hier nicht, weil „Don-“ kein sinnvolles Wurzelwort darstellt. Es liegt vielmehr eine Alliteration in drei Buchstaben vor. Ein kurioser Bericht erzählt von einer Großmutter, die für jeden Buchstaben des eigenen Namens in dem des Täuflings zehn Lewa zu zahlen bereit war. Das alte Prinzip der Namensalliteration, nach dem schon die Übernahme des Anfangsbuchstabens Übereinstimmung gewährleistet, erfährt hier in den „Buchstabennamen“ der Moderne eine Überformung besonderer Art. Die Beispiele zeigen, dass auch in einem System innerfamilialer Nachbenennung Elemente der Namensalliteration weiterleben können. Ein Kernstück des hier vorgelegten Beitrags über Systeme der Namengebung bildet ein Zitat des großen französischen Soziologen Pierre Bourdieu, das sich auf seine frühen ethnologischen Studien in der kabylischen Gesellschaft Nordafrikas bezieht.13 Von namenkundlich interessierten Historikern wurde es meines Wissens bisher nicht beach10 Wie Anm. 7, S. 165 ff. 11 Karl Kaser, Patriarchen, Machos und Beamte, in: Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl, Jan M. Piskorski und Elisabeth Vogel (Hg.), Kontinuitäten und Brüche: Lebensformen –Alteingesessene – Zuwanderer von 500 bis 1500 (Wiesers Enzyklopädie des Europäischen Ostens 12), Klagenfurt 2010, S. 446 ff. und 456 ff. 12 Kaser, Konstantinov und Krašteva (wie Anm. 9), S. 38, 61, und 261. 13 Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 78 ff.
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tet. Dabei bietet es wegweisende Einsichten in Nachbenennungssitten von patrilinearen Abstammungsverbänden mit ausgeprägt agnatischem Gruppenbewusstsein. In meinem kurzen Überblick über Systeme der Namengebung wurde es als Interpretationshilfe für Formen der Nachbenennung bei Merowingern und Rurikiden genutzt, die aus heutigem Verwandtschaftsdenken schwer zu verstehen sind.14 Auch anderwärts könnte es vielleicht helfen, mittelalterliche Namengebungspraktiken zu erklären. Zwei besondere Anliegen des Sammelbandes sind damit angesprochen: die interdisziplinäre Zugangsweise und der epochenübergreifende Vergleich. Beiden sind auch andere Studien dieses Bandes verpflichtet. Historische Systeme der Namengebung bis zur Gegenwart hin zu vergleichen bedeutet wohl insofern Aktualität, als dadurch heutige Verhältnisse deutlicher bewusst werden. Das Interesse an Praktiken der Namengebung in der Gegenwart ist beträchtlich und scheint noch weiter zuzunehmen. Die wachsende Zahl an Vornamenbüchern und ähnlichen Behelfen deutet in diese Richtung. Mit ihnen wächst auch die Information über die Geschichte von Namen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Den Leserinnen und Lesern wird einerseits die ursprüngliche Bedeutung des Namens erklärt, andererseits werden sie über berühmte Trägerinnen und Träger des Namens informiert. Scheinbar sind damit zwei in diesem Beitrag besprochene Grundprinzipien der Namengebung angesprochen – nämlich nach dem Namenssinn und nach Namensvorbildern. De facto spielt allerdings in Prozessen der Namengebung heute weder das eine noch das andere Moment eine besondere Rolle – sieht man von Traditionen der Namengebung in Migrantenfamilien ab, auf die im Schlussbeitrag eingegangen wird. Eine vergleichende Sicht von historischen Systemen der Namengebung zeigt die zunehmende Komplexität solcher Prozesse in der Moderne. Was jeweils ein Name meint, lässt sich nicht mehr ohne weiteres aus offenkundigen und allgemein verbindlichen Regeln der Namengebung ableiten. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft erscheint auch Namengebung zunehmend individualisiert. Welchen Auftrag die eigenen Eltern mit dem Namen mitgegeben haben, welche Bedeutung der Name im Lauf des Lebens für die persönliche Identität gewonnen hat, was man mit dem Namen seinen Kindern weitergeben möchte – bei solchen Fragen können allgemeine Informationen von Vornamenbüchern über Namenssinn und mögliche Namensvorbilder kaum weiterhelfen. Dazu bedarf es individueller Erzählungen – über Motive der Namenswahl aus der älteren Generation, über Erfahrungen mit Namen im persönlichen Umfeld, vor allem aber solche mit dem eigenen Namen. Für jede Beschäftigung mit Lebensgeschichte stellen solche individuellen Namensgeschichten einen wichtigen Einstieg dar – und damit für alle Formen biographischer Reflexion. Individuelles kann aber durch 14 Vgl. Etwa Eugen Ewig, Die Namengebung bei den ältesten Frankenkönigen und im merowingischen Königshaus, in: Francia 18/1, 1991, S. 21–70.
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Anregungen aus allgemeinen Darstellungen besonders bewusst gemacht werden. Die Erschließung der „inneren Namensgeschichte“ wird durch das Wissen um die „äußere“ unterstützt, wie der vorletzte Beitrag des Bandes exemplarisch zu zeigen versucht. In dieser Wechselwirkung gewinnt die Beschäftigung mit Praktiken der Namengebung in der Vergangenheit sicher aktuelle Bedeutung. Der folgende Beitrag des vorgelegten Bandes greift das Thema Namengebung nach dem Wortsinn mit einer speziellen Fragestellung auf. Am Beispiel theophorer Männerund Frauennamen wie „Abdallah“ und „Godelive“ wird Ausdrucksformen des Status der Geschlechter in den großen monotheistischen Weltreligionen und deren Vorläufern nachgegangen. Eine erste Zielsetzung dieses Beitrags ist es dem entsprechend, historische Namenkunde und Geschlechtergeschichte miteinander zu verbinden. Dieses Anliegen ließe sich über Religionsgemeinschaften hinaus auf andere Namenkulturen übertragen. Stark kontrastierende bzw. tendenziell ausgeglichene Namengebung nach Geschlechtern könnten miteinander verglichen werden, wie sie der Beitrag als „agonale“ und „weiche Kulturen“ charakterisiert. Interessant wären diesbezüglich wohl vor allem Veränderungstendenzen im Kontext von Modernisierungsprozessen. Eine zweite Zielsetzung dieses Beitrags betrifft den Themenkreis Name und Religion – insbesondere in der Gegenüberstellung von Islam und Christentum. Der Vergleich des Gebrauchs theophorer Namen lässt grundsätzliche Übereinstimmungen, aber auch wesentliche Unterschiede erkennen. Parallelen sind allgemein in der Verwendung des Gottesnamens in Menschennamen gegeben, die Namengebung zu einer besonders heilsbedeutsamen Handlung macht. Unterschiede zeigen sich in der Intensität sowie in der langfristigen Kontinuität, in der in islamischen Kulturen von theophoren Namen Gebrauch gemacht wird – wie der Schlussbeitrag zeigt –, bis in die Gegenwart reichend. Eine historisch orientierte Namenkunde sollte sich wohl – über ein beschreibendes Nebenei nander von islamischen und christlichen Namenkulturen hinaus – verstärkt um eine vergleichende Betrachtung bemühen. Die Aktualität solcher Studien bedarf wohl in Hinblick auf die durch Migration bedingte gesellschaftliche Situation im heutigen Europa keiner speziellen Begründung. Die Verbreitung eines spezifischen Namenguts markiert die Erstreckung historisch gewachsener Kulturräume. Das gilt für die islamisch geprägte Großregion genauso wie für Europa. Hier haben allerdings die theophoren Namen nicht die gleiche Bedeutung als religiöses Kennzeichen gehabt. Sie treten zugunsten der Heiligennamen zurück. Diese sind dann die wichtigste Grundlage für die großräumige Homogenisierung des Namenguts seit dem Hochmittelalter, auf der das europäische Namenwesen beruht. Diese „ré-
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volution anthroponymique“15 steht mit gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit in Zusammenhang, vor allem mit der Entstehung der Papstkirche als einer hoch organisierten Religionsgemeinschaft in der westlichen Christenheit. So betrachtet ist Christentum und Namenwesen auch ein Thema, das für die Entstehung des Kulturraums Europa wesentlich erscheint und als solches noch wenig behandelt wurde. Der Beitrag „Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters“ ist der älteste der in diesen Band aufgenommenen. Er schließt einerseits an die Leitnamenproblematik meiner Dissertation an und stellt andererseits eine Vorstudie zu den späteren Untersuchungen über die Lehensnachbenennung dar. Das Thema Fürstennamen führt zu dem für mittelalterliche Herrschaftsverhältnisse so wichtigen Problemkreis Name und Macht. Namengebung kann Fragen zukünftiger Herrschaftsfolge entscheiden. Die Systeme der Nachbenennung nur nach Toten oder auch nach Lebenden lassen sich dabei mit unterschiedlichen Systemen der Herrschaftslegitimation in Zusammenhang bringen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in den fränkischen Königsdynastien, für die ich Vorstellungen eines Reinkarnationsglaubens durch Nachbenennung nach Toten ablehnte, hielt ich sie damals für skandinavische Parallelbeispiele – dem Forschungsstand der Zeit entsprechend – für möglich. Noch in einer neueren Studie über „Name und Macht“ heißt es dazu: „Spuren eines archaϊschen Glaubens an die Wanderung der Seelen der Ahnen konnten sich hier mit Bräuchen vermischen, die in der neuen christlichen Epoche entstanden. So ging über den neugeborenen Olaf Haraldson den Heiligen das Gerücht um, er wäre eine Reinkarnation eines anderen Olaf Haraldssons, seines Vorfahren Olaf mit dem Beinamen Geirstađaálfr.“16 Und: „Der Brauch, einen Nachkommen nach einem verstorbenen Verwandten zu benennen, überlebte den Glauben an die Seelenwanderung um mehrere Jahrhunderte und bleibt ein eigentümliches Relikt archaischer Vorstellungen.“17 Derartigen Deutungen skandinavischer Quellen stehen neuerdings aber auch Standpunkte gegenüber, die solchen Vorstellungen gegenüber sehr skeptisch sind. Auf die Geschichte Olafs des Heiligen bezogen wird etwa die Frage gestellt: „Ist der Begriff ‚Person‘ im Sinne von ‚Individuum‘ auf eine Gesellschaft, deren breite Volksmassen erst spät durch den langsamen Aufbau einer christlichen Infrastruktur mit dem christlichen Persönlichkeitsbegriff vertraut 15 Benoît Cursente, Aspects de la „révolution anthroponymique“ dans le Midi de France (début XIe – début XIIIe siécle), in: L’anthropnymie. Document de l’histoire sociale des mondes Méditerranéens médiévaux (Collection de l’école française de Rom 226, Rom 1996), S. 41 ff., George T. Beech, Le dévolution des noms et la structure de la famille, ebda. S. 400. 16 Fjodor Uspenski, Name und Macht. Die Wahl des Namens als dynastisches Kampfinstrument im mittelalterlichen Skandinavien (Texte und Untersuchungen zur Germanistik und Skandinavistik 52), Frankfurt 2004, S. 21. 17 Uspenski (wie Anm. 16), S. 11.
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wurden, anwendbar?“18 Und grundsätzlicher: „Es geht nicht darum, dass ein bestimmter (N) als Individuum wiedergeboren wird, sondern darum, dass der bewährte und durch eine große ‚hamingja‘ ausgezeichnete Name der Sippe erhalten bleibt, er soll sozusagen ‚unsterblich‘ werden. Dabei partizipiert nicht nur das nachbenannte Kind an der ‚Kraft‘, die der Name aufgrund der glücklichen Vorfahren trägt, sondern die gesamte Familie, da der neue Namensträger wiederum bemüht sein muss, dem bewährten Namen alle Ehre zu machen, um ihn als glückbringend für die Familie zu erhalten.“19 Ein solches Verständnis der Nachbenennung nach verstorbenen Verwandten entspricht weitgehend dem Bild, das Pierre Bourdieu für das 20. Jahrhundert für die Namengebung in der kabylischen Gesellschaft zeichnet. Ohne Vorstellungen einer Seelenwanderung bemühen zu müssen, finden wir Ideen innerfamilialer Kontinuität durch Nachbenennung nach verstorbenen Verwandten in ganz unterschiedlichen Gesellschaftssystemen der Vergangenheit und Gegenwart. Was bedeutet das „rifare“ eines verstorbenen Familienangehörigen durch neuerliche Vergabe seines Namens im spätmittelalterlichen Florenz, was „anastassi“ durch dieselbe Praxis auf der Ägäis-Insel Karpathos, was „die Erneuerung“ eines Anverwandten im heutigen Bulgarien?20 Grundsätzliche Fragen des Verhältnisses von Individuum und Gruppe, von Person und Gesellschaft, von Lebenden und Toten stehen dabei zur Debatte. Formen der Nachbenennung aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Räumen bieten im interkulturellen Vergleich einen guten Zugang, sich an solche Fragen anzunähern. Der Beitrag „,Senioris sui nomine‘. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen“ ist der weitaus umfangreichste der hier erneut publizierten Artikel. Es hätte auch kürzere zu der mir besonders wichtigen Thematik der Lehensnachbenennung gegeben – etwa das Kapitel „Warum Fürstennamen?“ aus „Ahnen und Heilige“21 oder „Une intégration féodale“ aus einem Sammelband über mittelalterliche Namengebung in der Mittelmeerwelt.22 In „Senioris sui nomine“ sind aber die verschiedenen Erscheinungsfor18 Jörg Büschgens, Über die Problematik einer „germanischen Reinkarnationsvorstellung“ mit besonderer Berücksichtigung der Nachbenennung, theol. Hauptseminararbeit, Universität Bonn 2004 (http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/109109.html), S. 31. 19 Büschgens (wie Anm. 18), S. 38. 20 Christiane Klapisch-Zuber, Das Haus, der Name, der Brautschatz, Strategien und Rituale im gesellschaftlichen Leben der Renaissance, Frankfurt 1995, S. 45 ff.; Bernard Vernier, Vom rechten Gebrauch der Verwandten und der Verwandtschaft: Die Zirkulation von Gütern, Arbeitskräften und Vornamen auf Karpathos, in: Hans Medick und David Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984, S. 54–110, Krašteva (wie Anm. 9), S. 265 ff. 21 S. 293–329. 22 Michael Mitterauer, Une intégration féodale? La dénomination, expression des relations de service et de vasallité, in: L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 295–311.
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men dieses meines Wissens bis dahin nicht untersuchten Phänomens am ausführlichsten behandelt. Da die Fragestellung in einen umfassenden Problemkreis von Namenwesen, Familienverfassung und Herrschaftsordnung führt, der in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert wird, ist es sinnvoll, eine möglichst breite Argumentationsbasis zu bieten. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war der eklatante Bruch in der Nachbenennung nach Fürsten seit dem Ende der Karolingerzeit. Während bis dahin Königsnamen auf die herrschende Dynastie beschränkt blieben und selbst für den Hochadel tabu waren, setzte im 10. Jahrhundert eine intensive Nachbenennung ein, die in manchen Regionen Europas Fürstennamen zu den am meisten vergebenen machte. Vor allem gilt das für die Nachfolgereiche des karolingischen Imperiums und für England. Die Verbreitung dieser neuen Form der Nachbenennung nach Fürsten korreliert zeitlich und räumlich in auffälliger Weise mit der Verbreitung vasallitischer Bindungen. Sie führt zunehmend zu Homonymie und damit zu einer Konzentration auf immer weniger Namen – ebenso wie die etwa gleichzeitig oder kurz darauf einsetzende Bewegung der Nachbenennung nach bestimmten Heiligen. Dieser „große Namenschwund“ war mein primäres Problem, das ich in „Ahnen und Heilige“ zu lösen versucht habe. Das Aufkommen verschiedener Typen von Zweitnamen und schließlich von Familiennamen, das durch die zunehmende Gleichnamigkeit notwendig wurde, hatte für mein damaliges Anliegen eher sekundäre Bedeutung. Andere Forscher bzw. Forschergruppen setzten damals stärker bei dieser Frage an. Schon 1957 hatte Karl Schmid in seiner besonders wirkkräftigen Studie „Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, Haus und Dynastie beim mittelalterlichen Adel“23 die These vertreten, dass um das Jahr 1000 horizontal aufgebaute Verwandtschaftssysteme durch vertikal strukturierte Geschlechterverbände mit agnatischem Bewusstsein abgelöst worden seien. Viele deutsche und französische Forscher folgten dieser These – etwa besonders dezidiert Georges Duby.24 Eine umfangreiche Gruppe von französischen, spanischen und italienischen Forscherinnen und Forschern unter der Leitung von Monique Bourin begann in den 1980er-Jahren mit dem Großprojekt „La genèse médiévale de l’anthroponymie moderne (GMAM)“.25 Hier ging es vor allem um die Häufigkeit bestimmter Formen bzw. Familiennamen und deren Entstehungsbedingungen. Die Prozesse 23 In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 105, 1957, S. 1–62. Wiederabdruck in: Karl Schmid, Gebetsgedenken und adeliges Selbstverständnis im Mittelalter: Ausgewählte Beiträge. Festgabe zu seinem sechzigsten Geburtstag, Sigmaringen 1983. Zur Wirkung dieses Aufsatzes in Deutschland und Frankreich Jussen (wie Anm. 4), S. 279, und Bourin (wie Anm. 3), S. 4f. 24 Georges Duby, Ritter, Frau und Priester, Frankfurt a. M. 1988, S. 106 f. 25 Beech (wie Anm. 1), S. X ff., Bourin (wie Anm. 3, S. 3–13) mit Hinweisen auf die Arbeiten der Gruppe.
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der Verbreitung von Fürsten- und Heiligennamen waren dabei zunächst kein vorrangiges Thema, fanden aber im Verlauf der Projektarbeiten stärkere Berücksichtigung. In einer Zusammenfassung der Position von Monique Bourin schreibt George T. Beech 200226: „She comes to the tentative conclusion that the two basic changes in naming from that period (950–1250) – (1) the increasing popularity of a smaller number of different personal names, and (2) the triumph of a two-element naming system (forename and sur name) may have resulted less from the realignment of kinship groups from a horizontal to a vertical one than from contemporary political developments, most notably the spread of feudo-vasallic relations.“ Und Bourin selbst betont in der Conclusio ihres Beitrags den „perfect accord“ zwischen „onomastic evolution“ und „feudalization“.27 So wurden in der Diskussion über den Wandel des mittelalterlichen Namenwesens in Europa manche Fragen entschieden, viele bleiben weiterhin offen. Studien zu allgemeinen Erklärungszusammenhängen scheinen nötig, ebenso aber spezialisierte Detailarbeiten. Zu den prinzipiellen Problemen gehört sicher die Entstehung der Lehensnachbenennung.28 Sie erfordert ein Zusammenwirken von Namenkunde und Verfassungsgeschichte. Kann die sogenannte „Unterwerfungstaufe“ als Vorform angesehen werden? Deutet die Nachbenennung von Vasallenkindern nach Angehörigen des Lehensherren über die individuelle Bindung hinaus auf quasiverwandtschaftliche Zusammenhänge zwischen der Familie des Lehensherren und der seines Vasallen? In welchen Differenzierungen begegnet die Lehensbindung nach Zeiten und Regionen und wie wirken sich diese Varianten auf die Namengebung aus? Welche analogen Herrschaftsbeziehungen – wie etwa das Dienstverhältnis der Ministerialität – können ähnliche Praktiken der Nachbenennung bewirken? Wie kommt es schließlich zur Verbreitung von Fürstennamen nicht nur im Adel, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Gruppierungen? Gibt es über die Gleichzeitigkeit der Verbreitung von Fürsten- und von Heiligennamen hinaus eine ursächliche Beziehung zwischen den beiden Phänomenen – etwa in einer Konzeption des Namenspatrons als Schützer vergleichbar dem Lehensherren? Das Aufkommen der Nachbenennung nach mächtigen Patronen, die im Diesseits wie im Jenseits die nach ihnen Benannten zu schützen vermögen, eröffnet noch viele religionsgeschichtliche, kulturgeschichtliche und mentalitätsgeschichtliche Forschungsperspektiven. Prozesse der Namenkonzentration, wie sie sich in Europa nach der Jahrtausendwende abspielen, können auf einer solchen Grund26 Beech (wie Anm. 1), S. XIII. 27 Bourin (wie Anm. 3), s. 13. 28 Zu den hier aufgezählten Problemfeldern vgl. über den Beitrag „Senioris sui nomine“ hinaus das Kapitel „Der große Namenschwund – Zur Entstehung und Entwicklung des europäischen Systems der Namengebung“ in: Ahnen und Heilige, S. 241–403.
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lage eine Erklärung finden. Massenhafte Gleichnamigkeit machte nun Differenzierung notwendig. Um die Entstehung von Zweit- und Familiennamen in ihrer ganzen Vielfalt zu erklären, sind aber wohl zusätzliche Interpretationsschritte erforderlich. Zu Recht wurde in der Debatte um die Entstehung von Familiennamen angemerkt, dass im Modell vom „großen Namenschwund“ und seinen Auswirkungen auf das europäische Namenwesen die italienischen Verhältnisse stärker berücksichtigt werden sollten.29 Dieses Desideratum wird hier – verspätet und in bescheidenem Umfang – aufgegriffen. Monique Bourin hat die rasche und gründliche Veränderung des Namenwesens im hochmittelalterlichen Katalonien und im Languedoc unter dem Einfluss einer ebenso raschen und gründlichen Feudalisierung der ganz anderen Namenkultur in der nur schwach vom Lehenswesen beeinflussten Stadtrepublik Pisa im Hochmittelalter kontrastierend gegenübergestellt.30 Um diese Namenkultur geht es im Beitrag „‚Renovatio‘ und ‚innovatio‘. Namen als Spiegel von Erneuerungsbewegungen im Pisa des 13. Jahrhunderts“. Diese Studie hatte allerdings nicht primär das Ziel, die Nachbenennung nach Fürsten und nach Heiligen in dieser frühen Stadtkommune zu untersuchen. Das Thema wird behandelt, steht aber nicht im Mittelpunkt. Die vorgelegte Analyse des Namenguts sollte vielmehr als Verknüpfung für Ausführungen über sehr unterschiedliche Facetten des kulturellen Lebens der Stadt im Hochmittelalter dienen. Sie leitet das Schlusskapitel einer Monographie ein, die Pisa als Seemacht und Kulturmetropole behandelt.31 Wenn sie in den vorgelegten Sammelband aufgenommen wurde, so nicht zuletzt deshalb, um Namenkultur als Teil eines umfassenden kulturellen Beziehungsgeflechts anzusprechen. Allerdings konnten nur einige wenige der im Buch behandelten Entwicklungslinien in den hier publizierten Text aufgenommen werden. Das gilt vor allem für die sogenannten „nomi augurativi“ und die „supernomina“, die an Modelle der christlichen Spätantike anschließen. Auf diese Epoche bezogen kann man von einer „Romanitas pisana“ sprechen32 – in Architektur und Plastik, in der Erinnerungskultur, in Verfassung und Rechtswesen. Die Namenkultur lässt sich in diesen Kontext einordnen. Sie greift jedoch nicht nur auf vergangene Epochen zurück, sondern setzt auch wesentliche neue Akzente – etwa in den so häufigen Namen in „Volgare“-Formen, die einer allgemeinen Tendenz des „volgarizza29 Nikolai Wandruszka, Die Entstehung des Familiennamens in Bologna (XII. und XIII. Jahrhundert), in: Mélanges de l’école française de Rome: moyen-âge 107, 1995, S. 599 und 625. 30 Bourin (wie Anm. 3), S. 1. 31 Michael Mitterauer und John Morrissey, Pisa. Seemacht und Kulturmetropole, Essen 2007, S. 248– 271 (= Pisa. Potenza marinara e metropoli culturale, Roma 2011). 32 Wie Anm. 31, S. 226 ff. in Anschluss an Giuseppe Scalia, ‚Romanitas‘ pisana tra XI e XII secolo. Le iscrizioni romane del duomo e lo status del console, in: Studi medievali 13, 1972, bzw. dieses Konzept modifizierend.
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mento“ in Sprache und Schrift entsprechen, in der Pisa eine führende Rolle zukam. 33 So geht es bei solchen Querverbindungen nicht nur um einen Darstellungszusammenhang, sondern auch um einen Erklärungszusammenhang. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet könnte durch solche Einordnungsversuche an Aussagewert gewinnen. Die vorgelegte Studie auf der Basis der Pisaner Bürgerliste von 1228 geht nur wenig über eine Analyse der Erstnamen hinaus.34 In den zusätzlichen Namenselementen liegt sicher noch viel an weiteren Erkenntnismöglichkeiten. Vor allem könnte es ergiebig sein, dieses zusätzliche Namengut in die verfassungsgeschichtliche Entwicklung der Stadtrepublik einzuordnen. Pisa war jene italienische Kommune, in der am frühesten die Institution des Konsulats nachzuweisen ist. Dementsprechend gab es eine Oberschicht konsularischer Familien. Pisa war weiters die erste Kommune, in der es zu einer Regelung des Problems der Geschlechtertürme kam. Auf solche Türme bezogen bildeten sich Abstammungsgemeinschaften als Geschlechterverbände. Die Auswirkungen des Kommunalismus auf die Namenkultur könnten gerade am Beispiel Pisa ein interessantes Thema darstellen. Seine Behandlung bedürfte – analog zu der hier vorgelegten Analyse der Erstnamen – einer komparativen Vorgangsweise, vergleichend zwischen Stadtkommunen, aber auch über den Bereich kommunal geprägter Herrschaftsformen hinaus. Der Beitrag „Mittelalterliche Wurzeln moderner Namensprobleme“ stellt im Kontext des vorgelegten Bandes gleichsam eine Zwischenbilanz aus der Perspektive von Gegenwartsfragen dar. Sowohl Familiennamen als auch Vornamen stehen dabei zur Debatte. Die Darstellung kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Sie beschränkt sich auf ausgewählte Problemfelder. Gerade in dieser Beschränkung kann sie jedoch wohl deutlich machen, dass das Bemühen um aktuelle Bezüge in der Geschichte des Namenwesens bis weit zurück ins Mittelalter veränderte Akzentsetzungen zu bewirken vermag. Der ursprünglich als Vortrag konzipierte Text konzentriert sich auf das europäische Namensystem, wie es im Hochmittelalter entstanden ist – im Wesentlichen auf den beiden Namensteilen basierend, die wir heute als „Vornamen“ bzw. als „Familiennamen“ zu charakterisieren gewohnt sind. Dieses System erlangte im ganzen Raum der Westkirche Geltung. Hinsichtlich der Entstehung von Familiennamen geht es auf ältere Wurzeln im byzantinischen Kulturraum zurück.35 Nur andeutungsweise wird auf weitere historische 33 Wie Anm. 31, S. 256 f. 34 Zu dieser Liste vergleiche die namenkundliche Auswertung von Enrica Salvatori, Il sistema antroponimica a Pisa nel duecento: La città e il territorio, in : Mélanges (wie Anm. 29), S. 427–466¸ weiters Étienne Hubert, Structures urbaines et système anthroponymique (À propos de l’italia centro-septentrionale, (Xe–XIIIe siécle), in: L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 329 mit weiterführender Literatur. 35 Zur Entstehung von Zweitnamen bzw. Familiennamen in Byzanz als Reaktion auf Prozesse der
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Namensysteme eingegangen, die in der Gegenwart noch in Gebrauch sind – etwa das russische und vor allem das islamische. Die angesprochenen Unterschiede zwischen islamischen und europäischen Namenselementen sind keineswegs nur formaler Natur. Sie verweisen vielmehr auf wesentliche sozialstrukturelle Eigenheiten – etwa die islamischen Namenselemente „nasab“ und „kunya“ auf eine stärker ausgeprägte Patrilinearität. Solchen Unterschieden sollte sowohl aus der historischen Genese wie auch in ihrer aktuellen Bedeutung weiter nachgegangen werden. Für Prozesse der Kulturbegegnung in der Gegenwart sind sie sicher wichtig. Nach „Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten“ ist in diesem Beitrag nochmals Name und Macht ein Thema. Mit Namen als Ausdrucksform des Patriarchalismus geht es um innerfamiliale Macht, mit rechtlichen Regelungen des Namenwesens um Staatsmacht. Name und Macht könnte ein Leitthema von Namenkunde als interdisziplinärem Forschungsgebiet sein. Im vorgelegten Sammelband knüpft auch der unmittelbar folgende Beitrag über „Recht und Brauch der Namengebung“ daran an. Das Erkenntnisinteresse, das zur Formulierung dieses Textes führte, war nicht primär namenkundlicher Art. Er wurde als Vortrag für eine Tagung unter dem Rahmenthema „Custom and Law“ abgefasst. Namengebung war also nur das Beispiel, das einen Zugang zu einem allgemeinen Problemfeld eröffnen sollte. Mit einem breiten Spektrum an gesellschaftlichen bzw. staatlichen Regelungen, die Namengebung in der Geschichte betrafen, konnte diesem Ziel wohl entsprochen werden. Aber auch für neue Einsichten in die Geschichte des Namenwesens war diese spezifische Perspektive fruchtbar. Regelungen des Namenwesens lassen sowohl in Religionsgemeinschaften als auch in staatlichen Verbänden unterschiedliche Abstufungen von obrigkeitlicher Intervention erkennen – bis hin zu radikalen Eingriffen in totalitären Staaten der Moderne. Damit korrelierend ließe sich wohl – von liberalen Formen des Namensrechts ausgehend – auf allgemeine Verfassungsbedingungen gesellschaftlicher Freiheiten schließen. Zwischen Verfassungsgeschichte und Entwicklung des Namenwesens besteht zweifellos ein ursächlicher Zusammenhang. Komplizierter ist es wohl, den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen im Brauchtum nachzugehen. In einem weiteren Verständnis stehen auch sie im Spannungsfeld von Norm Namenreduktion schon seit dem 6. Jahrhundert Jean-Claude Cheynet, L’anthroponymie aris tocratique à Byzance, in: L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 267–294. Zur Ausstrahlung dieses Namensystems über die byzantinischen Provinzen in Italien: Errico Cuozzo, Nomi e cognomi dell’aristocazia, L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 257, und Sante Bortolami, L’ onomastica come documento di storia della spiritualità nel medioevo europeo, in: L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 468. Zur Mittlerrolle Venedigs, das schon im 9. Jahrhundert feststehende Familiennamen kannte, zwischen dem byzantinischen und dem westlichen Namensystem: François Menant, What Were People Called in Communal Italy? In: Beech (wie Anm. 1), S. 99f.
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und Freiheit. Die in Geschichte und Gegenwart jeweils normsetzenden Instanzen sind in diesem Bereich allerdings schwieriger auszumachen. Zweifellos sind auch in Gesellschaften, in denen vermeintlich völlige Freiheit der Namengebung herrscht, gewisse ordnende Prinzipien gegeben. Der wenig glücklich gewählte Begriff der sogenannten „Namenmoden“ spricht Phänomene an, die sich aus solchen Faktoren erklären lassen. Der Beitrag „Vom ‚Judenkind‘ zur ‚Schloßmoidl‘. Lebensgeschichten als Quelle der Namenforschung“ setzt zunächst einen methodischen Akzent. In der historischen Beschäftigung mit Namenkulturen wird herkömmlich viel mit Massenquellen und – ihnen entsprechend – mit statistischen Verfahren gearbeitet. Gerade für quellenarme Zeiten ist das mitunter die einzige Möglichkeit, weil über die bloße Nennung der Namen hinaus nichts überliefert ist. Die Beschränkung auf Namenstatistik kann aber auch Ausdruck eines methodischen Purismus sein, für den nur zählt, was sich zählen lässt. Und sie wird besonders problematisch, wenn sie die Zusammenstellung von Namen bloß als Nebenprodukt historisch-demographischer Erhebungen behandelt.36 Solchen Zusammenstellungen fehlt ein klares Erkenntnisziel. Namenkundliche Forschung, die nicht nur beschreiben, sondern auch erklären will, bedarf in der Regel der Kombination verschiedener Methoden und Quellen. Ein Quellentyp ganz anderer Art als die statistisch auswertbaren Quellen wird hier in den Vordergrund gestellt, nämlich lebensgeschichtliche Aufzeichnungen. Über Zeugnisse der popularen Autobiographik hinaus, von denen der Beitrag ausgeht, sind noch andere diesem Typ zuzurechnen – etwa Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Oral History-Interviews bis hin zu Diskussionsbeiträgen in Internet-Foren, wie sie im letzten Beitrag dieses Sammelbands herangezogen werden. Sie alle sind deshalb so wichtig, weil sie Einblicke in subjektive Momente von Namenkulturen bieten – Motive der Namengebung, Erfahrungen mit dem eigenen Namen, Bedeutsamkeiten von Namen im gesellschaftlichen Umfeld. In meiner Beschäftigung mit Namen in historischen Zeiten haben mir solche Quellen viel geholfen. In „Ahnen und Heilige“ ging ich von einem Zitat aus der Lebensgeschichte einer Salzburger Bergbäuerin aus dem 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aus.37 Es ermöglichte mir, Einsichten in Grundprinzipien der Nachbenennung nach „Ahnen und Heiligen“ bis zurück in frühchristliche Zeit zu erschließen. Die Autobiographie der Südtiroler Kleinhäuslerstochter Maria Dorfmann von 1917, die dem Beitrag „Vom ‚Judenkind‘ zur ‚Schloßmoidl‘“ zugrunde liegt, ist ein anschauliches Zeugnis für die mögliche Namenvielfalt einer Person im Verlauf ihres Lebenswegs.38 36 Ein anschauliches Beispiel dafür bieten Jacques Dupâquier, Jean-Pierre Pélissier und Danièle Rébaudo, Les Temps des Jules. Les prénoms en France au XIXe siècle, Paris 1986. 37 S. 13. 38 Zum Thema Namenvielfalt an Beispielen aus ganz unterschiedlichen europäischen Regionen:
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Wenn in der Einleitung zu diesem Band bzw. in einzelnen Beiträgen von Namensystemen im Sinne bestimmter regelmäßig gegebener Elemente wie Vor- und Zunamen die Rede ist oder von Systemen der Namengebung im Sinne von Regelhaftigkeiten der Namenswahl, dann zwingt die Lebensgeschichte der Maria Dorfmann zum Überdenken von solchen Verallgemeinerungen. Ihr wurden im Lauf ihres Lebens viele unterschiedliche Namen gegeben und sie selbst hat viele unterschiedliche Namen für sich verwendet: den Taufnamen – in Vollform und abgekürzt, den Familiennamen – nach der Herkunftsfamilie und nach dem Ehemann sowie in wechselnder Kombination beider Formen, verschiedene Übernamen, vor allem viele Namen nach Hausgemeinschaften, in denen sie kürzere oder längere Zeit mitgelebt hatte. Für die lokale Welt der Dorfgemeinschaft mit ihrer mündlichen Namenkultur erscheinen vor allem die Letzteren wichtig. Die Namensysteme von Staat und Kirche, in denen Schriftlichkeit gilt, stehen hier nicht im Vordergrund. Zweifellos gibt es Wechselwirkungen zwischen diesen Systemen – die örtliche Namenkultur der Spitznamen, Hausnamen und sonstigen Übernamen stellt jedoch ein relativ eigenständiges Gebiet dar, das verstärkt Beachtung verdient. Die Ethnologia Europaea hat diesbezüglich wichtige Zugänge erschlossen. Aufgabe der Sozialgeschichte könnte es sein, sich zusätzlich um historische Tiefe zu bemühen. Die beiden letzten Aufsätze des vorgelegten Bandes sind dem Thema Interkulturalität und Namengebung in der Gegenwart aus historischer Perspektive gewidmet. Im Vordergrund steht dabei das Verhältnis zu islamischen Namenkulturen. In „Kein Problem für Attila und Leila? Zur Namengebung in bikulturellen Familien“ – verfasst zusammen mit Viktoria Djafari Arnold – geht es um die in Familienverbänden gelebte Interkulturalität, allerdings auch unter Berücksichtigung von Reaktionen des gesellschaftlichen Umfelds. In „Europaname Mohammed?“ wird die Namengebung in Zuwanderergruppen aus islamischen Ländern in Europa sowie deren Beurteilung von innerhalb wie außerhalb der Gruppe behandelt. In unterschiedlicher Weise beschäftigen sich beide mit dem Aufeinandertreffen differierender Namenkulturen. Beide thematisieren über Namen als Zeichen der Identität brisante gesellschaftliche Fragen. Integration als Ziel ist das erkenntnisleitende Interesse, sich mit ihnen zu befassen. Es mag überraschen, in welchem Maß historisch weit zurückreichende Systeme der Namengebung, wie sie im ersten Beitrag dieses Bandes erörtert werden, in konkreten BeiFrançoise Zonabend, Pourquoi nommer? Les noms de personne dans un village français: Minoten-Châtillonais, in: Claude Lévi-Strauss (dir.), L’identité. Seminaire interdisciplinaire 1974–5, Paris 1977, S. 257–286; Genovefa Palumbo, L’esile traccia del nome. Storie di donne, storie di famiglia in un isola Napoletano tra età moderna e contemporanea, Napoli 2001, S. 103 ff. Allgemein: François Menant, L’antroponymie de monde rural, in: L’anthroponymie (wie Anm. 15), S. 356.
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spielen der Namengebung bikultureller Paare im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Rolle spielen. Es begegnet Namenswahl nach dem Namenssinn und durch Nachbenennung, durch Nachbenennung nur nach verstorbenen Angehörigen sowie nach Lebenden ebenso wie nach Toten. Sogar ein Beispiel der Namensalliteration kommt vor. Wenn gegen die Namengebung nach noch lebenden Verwandten argumentiert wird, man würde dadurch jemanden weiterleben lassen, der noch gar nicht verstorben ist, erinnert das an Vorstellungswelten, wie sie aus sehr unterschiedlichen Epochen und Regionen belegt werden konnten.39 In einer globalisierten Welt ist eine Vielfalt historischer Namenkulturen bis in die Gegenwart präsent. Das Verhandeln von Kindernamen in bikulturellen Familien lässt die Unterschiede zwischen ihnen deutlich hervortreten. So stellt es für historisch-namenkundliche Untersuchungen ein besonders aufschlussreiches Themenfeld dar. Interkulturalität der Namengebung in bikulturellen Familien ist heute nicht nur als Aufeinandertreffen unterschiedlicher religiöser Namenkulturen ein Thema, sondern auch in der Spannung unterschiedlicher nationaler Namentraditionen. Diese sind für interdisziplinäre Namenforschung insofern besonders interessant, als sie Identifikationsfiguren der Vergangenheit ins Spiel bringen, die für das Nationalbewusstsein in der Gegenwart von Bedeutung sind. Die im Beitrag behandelten Beispiele Alexander und Attila können das illustrieren. Solche Namensvorbilder wirken über historische Epochen hinweg in der heutigen Namengebung nach. Als Wunschnamen der Väter kommt ihnen im Gastland von Migranten besondere Bedeutung zu, weil sie die fragile Beziehung zum Herkunftsland symbolisch stärken. Vor allem in den Namen von Söhnen soll sie fortgeführt werden. Deren Namenswahl scheint deshalb stärker Spannungen ausgesetzt als die der Töchter. In den Beitrag „Kein Problem für Attila und Leila?“ wurde eine kleine Stammbaumskizze aufgenommen. Sie soll das Phänomen der Namensalliteration in einer Familie der Gegenwart illustrieren. Genealogische Zusammenstellungen liegen auch anderen Aufsätzen zugrunde, ohne dass sie reproduziert wurden. Als Zusammenschau von Verwandtschaftsbeziehungen sind sie sicher ein inspirierender Faktor für die Erklärung von Prozessen der Namengebung, insbesondere solchen der Nachbenennung.40 Sonst stützt sich dieser Beitrag ausschließlich auf lebensgeschichtliche bzw. familiengeschichtliche Erzählungen. Im folgenden Beitrag „Europaname Mohammed?“ wird hingegen von Namenstatistiken ausgegangen. Die Kombination solcher Quellen mit Kommentaren zur Namengebung in Diskussionsforen des Internet veranschaulicht die erhöhte Aussage39 Vgl. oben S. 15. 40 Für mittelalterliche Verhältnisse diesbezüglich beispielhaft der Band III von „Genèse médiévale de l’anthroponymie moderne“ (wie Anm. 2) unter dem Titel: „Enquêtes généalogiques et données prosopographique“ mit dem Beiband „Fascicule de tableau généalogiques“.
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kraft, die sich aus der Verbindung derart unterschiedlicher namenkundlicher Quellen ergeben kann. Das Phänomen der millionenfachen Präsenz von islamischem Namengut in West-, Mittel- und Nordeuropa ist historisch relativ jung. Ihm liegen zunächst verschiedene Wellen der Zuwanderung zugrunde. Migration war aber keineswegs regelmäßig mit Familiengründung verbunden. Und der Nachwuchs aus islamischen Migrantenfamilien erhielt auch späterhin nicht immer deutlich erkennbare islamische Namen. So ist die mit dem Titel „Europaname Mohammed?“ angesprochene Situation das Resultat zueinander zeitlich verschobener Prozesse. Ihre Genese zu erklären erfordert sicher die Einbeziehung von Faktoren, die weit über Prozesse der Namengebung hinausgehen. Dasselbe gilt für die Reaktionen des gesellschaftlichen Umfelds. Das Sichtbarwerden islamischer Kultur in Europa in der Ausdrucksform von Namen macht diese zum möglichen Ansatzpunkt von interkulturellen Spannungen. Zweifellos unterscheidet sich islamische Namenkultur von europäischen Traditionen. Wie der Beitrag zeigt, sind im Namengut kaum Übereinstimmungen gegeben. Mindestens ebenso wesentlich erscheinen die Unterschiede, die in der Bedeutung der Namen für Personen liegen, die sie geben bzw. denen sie gegeben werden. Ihrer Wurzel nach christliche Namen sind heute in der Regel von ihrem ursprünglichen religiösen Kontext weit entfernt. Heiligennamen werden sicher nur mehr ausnahmsweise einem Kind im Verständnis eines besonderen Schutzverhältnisses oder als Tugendvorbild gegeben. In der islamischen Namengebung sind die Verhältnisse anders. Mehrere Beispiele von Motivationen der Namengebung, die in diesem Beitrag referiert werden, verweisen auf eine hohe religiöse Bedeutsamkeit der Vergabe. Sicher werden auch traditionell islamische Namen – ebenso wie christliche in ihrem europäischen Umfeld – primär nach Kriterien der Namensästhetik vergeben. Eine Entwicklung zu einer mehrheitlich säkularisierten Namengebung ist aber unter Muslimen kaum zu erwarten. So wird sich die islamische Namenkultur sehr wahrscheinlich ihre innere Stabilität bewahren und dadurch vom flüchtigen Wechsel des Namenguts in ihrer europäischen Umwelt unterscheiden. Wird die islamische Namenkultur von Migranten ein integrierter Teil der europäischen werden? Soweit eine tief greifende und dauerhafte Verbindung zwischen islamischer und europäischer Identität von Migranten gelingt, ist diese Frage wohl positiv zu beantworten. Traditionelles Namengut als Ausdrucksform einer solchen Identität braucht sich dann nicht zu verändern. Interkulturalität des Namenwesens bedeutet nicht Assimilation. In den Ausführungen zu „Recht und Brauch der Namengebung“ wurde darauf hingewiesen, wie wichtig – gerade im Gegensatz zu totalitären Systemen – die Freiheit der Namengebung für freiheitliche Gesellschaftssysteme ist. Das gilt auch für das politisch geeinte Europa der Gegenwart. Es geht nicht um Angleichung von Namenkulturen. Es geht um
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Respekt für die eigenständigen Namentraditionen, die für die Identität islamischer Mitbürger wichtig sind. Die Beschäftigung mit Traditionen der Namengebung kann neue Zugänge zu einer Vielzahl aktueller Probleme geben. Gerade die Beispiele, in denen die Begegnung von europäischer und islamischer Namenkultur zur Sprache kam, zeigen allerdings deutlich, dass in der interdisziplinären Bearbeitung solcher Themen noch viel Nachholbedarf besteht. Sowohl vonseiten jener Fächer, die im europäischen Raum namenkundliche Themen behandeln als auch vonseiten einer onomastisch interessierten Islamwissenschaft werden dazu Schritte der Annäherung nötig sein. Für andere Kulturräume mag Ähnliches gelten. Bei einer verstärkten Interdisziplinarität auf dem Gebiet der Namenforschung im Allgemeinen muss es seitens der Geschichtswissenschaft in erster Linie um eine Überwindung der nach Epochen definierten Fachgrenzen gehen. Gerade zwischen Mediävistik und Neuerer Geschichte bestehen diesbezüglich vielfach noch immer getrennte Welten. Längsschnitte von frühen Epochen bis zur Gegenwart hin bzw. von heutigen Verhältnissen rückblickend stellen ein Desideratum der Forschung dar. Schließlich ist eine neue Kontextualisierung der Geschichte von Namenkulturen anzustreben – im Rahmen der Sozial- und Verfassungsgeschichte, der Religionsgeschichte, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte etc. Isoliert operierend läuft Namenforschung Gefahr, nur Namen als zusätzliches Quellenmaterial aufzubereiten, ohne sie in größere Interpretationszusammenhänge einzuordnen. Um aktuelle Fragen zu behandeln, bedarf es der Kooperation mit benachbarten historischen, sozialwissenschaftlichen und anthropologischen Fächern. Die Erfolge der Historischen Familienforschung in den letzten Jahrzehnten stellen ein anschauliches Beispiel dafür dar, was aus Traditionen der Namengebung für ein aktuelles Forschungsgebiet aus interdisziplinärer Kooperation gewonnen werden kann.
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Namen als Quelle zu benützen, ist in der Geschichtswissenschaft noch keineswegs selbstverständlich. In quellenkundlichen Werken wird selten auf sie eingegangen. In historischen Proseminaren hört man zwar von Sphragistik, Heraldik und Genealogie als „klassischen Hilfswissenschaften“, in der Regel aber nicht von der Onomastik. Die Namenkunde als Wissenschaft von der Bildung und Geschichte der Eigennamen wird meist den Philologen überlassen. Wichtige Anstöße zu einer intensiveren Beschäftigung mit Namen sind in den letzten drei Jahrzehnten von der Historischen Demographie ausgegangen. Neue Zugangsweisen der Historischen Demographie wie etwa die Analyse von Pfarrmatriken oder Personenstandslisten haben – gleichsam als Nebenprodukt – massenhaft Namenmaterial bereitgestellt. Mit Methoden der EDV war es ein Leichtes, für umfangreiche Populationen, die bevölkerungsgeschichtlich untersucht wurden, auch Namenstatistiken zu erstellen. Aber was damit tun? Für die zentralen Fragestellungen der Historischen Demographie – etwa zur Erklärung von Wandlungsprozessen der Fertilität, der Nuptialität, der Mortalität – gaben die Analysen des Namenguts nichts her. Dessen Interpretation hätte in ganz andere Zusammenhänge geführt. So blieb es vielfach bei bloßer Beschreibung und Bestandsaufnahme – ein allgemeines Dilemma der Geschichtswissenschaft, das überall dort auftritt, wo man sich die Themen von den Quellen vorgeben lässt. Von den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, mit denen die Geschichtswissenschaft in den sechziger und siebziger Jahren zu kooperieren begann – der Soziologie, der Ökonomie, der Politologie –, hatte keine an der Interpretation von Namen Interesse. Dementsprechend fehlte das Thema überall dort, wo sich Interdisziplinarität auf diese Fächer konzentrierte. Das gilt insbesondere für die sogenannte „Historische Sozialwissenschaft“ des deutschsprachigen Raums. Anders verhielt es sich, wo es auch zu einer Zusammenarbeit mit der Sozialanthropologie kam. In der französischen Geschichtswissenschaft etwa ist es nicht nur durch Impulse seitens der Historischen Demographie, sondern auch durch solche von Seite der Sozialanthropologie zur Beschäftigung mit Namen gekommen. Für die Sozialanthropologie sind Namen kein isolierter Gegenstand. Sie stellen eine spezifische Ausdrucksform von Kulturen dar. Dementsprechend werden sie im umfassenden Kon-
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text solcher Ausdrucksformen interpretiert. Wie bei der Analyse von Riten und Symbolen geht es dabei primär um gesellschaftliche Bedeutungen. Quantifizierende Untersuchungen von Namengut können dabei helfen, sie stehen aber nicht im Vordergrund. Unter dem Einfluss sozialanthropologischer Zugangsweisen ist es in der Geschichtswissenschaft verschiedentlich zu Studien gekommen, die Namen als Quelle einbeziehen. Solche Studien liegen zu sehr unterschiedlichen Epochen vor – bis weit zurück in die Alte Geschichte. Namen gehören ja zu den ältesten überlieferten schriftlichen Zeugnissen der Menschheit. Solche Studien liegen auf der Makroebene vor, die Sozialanthropologie hat aber auch mikrohistorische Analysen angeregt, die die Fruchtbarkeit des „im Kleinen Schauens“ diesbezüglich überzeugend veranschaulichen. Auf welcher Ebene auch immer durchgeführt – neue Erkenntnisse erbracht haben solche Studien überall dort, wo sie auf vergleichender Grundlage durchgeführt wurden. Mein eigener Zugang zur historischen Namenforschung war durch das Interesse an der Geschichte von Familie und Verwandtschaft bestimmt. In frühen Arbeiten zur mittelalterlichen Adelsgeschichte hatte ich sehr selbstverständlich vermeintliche „Gesetze“ der „Leitnamenvererbung“ zur Rekonstruktion von Genealogien angewandt. Es galt damals als methodisch korrekt, bei Namensgleichheit zweier Personen Verwandtschaft zu vermuten – insbesondere wenn es sich um seltene Namen handelte. Als ich von der Historischen Familienforschung in neuerer Zeit wieder ins Mittelalter zurückkehrte, stellte sich für mich die Frage, ob dieses Prinzip der „Leitnamen“ für einen bestimmten Typus von Familien- und Verwandtschaftsstruktur charakteristisch sei. Konnte man über Systeme der Nachbenennung an Systeme der Familienverfassung herankommen, für die uns sonst aussagekräftige Quellen fehlen? Eine vergleichende Analyse von Systemen der Nachbenennung sollte darüber Aufschluss geben. Noch in anderer Weise erschien mittelalterliche Namenforschung für mittelalterliche Familiengeschichte wichtig. Das Aufkommen von Familiennamen im Hoch- und Spätmittelalter wurde von einigen Forschern als Hinweis darauf gedeutet, dass sich neue Strukturen von Familie und Verwandtschaft durchgesetzt hätten – im Vergleich zu offeneren Verwandtschaftsverbänden der früheren Zeit stärker agnatisch orientierte. Die Zweitnamen, aus denen sich Familiennamen gebildet haben, stehen aber offenkundig mit Erstnamen in Verbindung, die wir aus heutiger Sicht als „Vornamen“ bezeichnen. Die Entwicklung von Familien- und Verwandtschaftssystemen des Mittelalters verwies auch aus dieser Perspektive auf die Entwicklung des mittelalterlichen Namenwesens. Sich mit diesem zu beschäftigen, war so für mich nicht Selbstzweck. Historische Langzeitentwicklungen von Familie und Verwandtschaft mit dem Fluchtpunkt Gegenwart waren das Explanandum. Entwicklungen von Namengut und Namengebung hatten dabei Indikatorfunktion. Je nach Erklärungszusammenhang ging jedoch die Untersuchung über Namen als Quelle hinaus.
1. Systeme der Namengebung im Vergleich
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In welchen anderen Erklärungszusammenhängen Namen als Quelle verwendet werden können, wurde mir bewusst, als ich mit den an Familie und Verwandtschaft orientierten Modellen an Grenzen stieß. Jener Prozess des „großen Namenschwunds“ im Hoch- und Spätmittelalter, der zur Entstehung von Zweitnamen bzw. Familiennamen führte, hat eine wesentliche Wurzel in der allgemeinen Verbreitung von Heiligennamen. Diese ist aber nicht aus der Familiengeschichte zu erklären, sondern aus der Geschichte religiöser Mentalitäten. Neue Vorstellungen über die Wirkkraft des Heiligen an seinem Festtag dürften entscheidende Impulse gegeben haben. Namen als Quelle der Mentalitätsgeschichte erscheinen insgesamt als ein weites Feld, auf dem es noch viel zu ernten gäbe. Ebenso Namen als Quelle der Religionsgeschichte. Der Vergleich von Systemen der Namengebung führte zu vielfältigen unterschiedlichen Formen, in denen Gottesbeziehungen bzw. Beziehungen zu Heiligem/n in Namen verschlüsselt sein können. Die Vorstellung von der besonderen Kraft heiliger Namen begegnet in historischen Gesellschaften häufig. Von heiligen Namen ergeben sich Querbeziehungen zu heiligen Bildern, heiligen Schriften, heiligen Dingen. Für eine vergleichende Religionsgeschichte, insbesondere eine Religionsgeschichte von unten, die sich auf Phänomene wie Namenmagie und Namenzauber einlässt, steckt in der Geschichte des Namenwesens noch viel an ungehobenen Schätzen. Eine andere Wurzel des „großen Namenschwunds“ im Hoch- und Spätmittelalter, der die Entstehung von Zweitnamen auslöste, führte in die Verfassungsgeschichte. Die enorme Verbreitung von Königsnamen in dieser Zeit – in Deutschland das „Hinz und Kunz“-Phänomen – steht offenkundig mit der Verbreitung des Lehenswesens in einem ursächlichen Zusammenhang. Ob Herrschernamen für Adel und Volk als Zeichen der Fürstenwürde tabuisiert sind oder für die Namengebung offen stehen, ist insgesamt ein interessanter Indikator für unterschiedliche Herrschaftsformen. Sich mit gesellschaftlichen Schranken des Namenwesens zu beschäftigen, erscheint als eine wichtige sozialgeschichtliche Fragestellung, die bisher noch wenig behandelt wurde. Schließlich sei auf die Bedeutung von Namen als Quelle der Geschlechtergeschichte verwiesen. Der jeweilige Umgang mit geschlechtsspezifischem Namengut bzw. dessen Weitergabe in männlicher und weiblicher Linie erlaubt Aussagen, die in ihrer Bedeutung weit über die Geschichte von Familie und Verwandtschaft hinausgehen. In allen diesen Themenbereichen können Namen eine wichtige Indikatorfunktion haben. Für sich allein genommen stellen sie jedoch zumeist eine zu schmale Quellenbasis dar. Erst auf eine bestimmte Fragestellung bezogen und mit anderen Quellen kombiniert gewinnen sie ihre Aussagekraft.
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Namengebung nach dem Namenssinn Wenn auch die jeweilige Verwendung von Namen als Quelle vom gewählten Thema abhängt, so lässt sich im Kontext von bestimmten Systemen der Namengebung doch Allgemeines über die Interpretationsmöglichkeiten von Namen sagen. Eine erste, sehr grundsätzliche Unterscheidung betrifft die Namengebung nach dem Namenssinn bzw. nach Namensvorbildern. Diese beiden Grundtypen der Namengebung kann man in verschiedenen Variationen in europäischen wie in außereuropäischen Gesellschaften finden. Sie ermöglichen unterschiedliche Formen der Auswertung. In Systemen der Namengebung nach dem Namenssinn kann die Interpretation unmittelbar von der Wortbedeutung ausgehen. Der Name eines Kindes drückt dann etwa konkrete Wunschvorstellungen der Eltern, ein von ihnen konzipiertes Lebensprogramm oder eine vermutete Zukunftsperspektive aus. „Nomen est omen“ gilt in einem unmittelbaren Verständnis dieses Gedankens. In einer Kultur der Namengebung nach dem Namenssinn ist ein Jakob tatsächlich ein „Fersenhalter“, weil er seinem Zwillingsbruder Esau schon beim Geburtsvorgang – wie später im Leben – das Erstgeburtsrecht streitig machen wollte. In Systemen der Namengebung nach Namensvorbildern, also in Kulturen der Nachbenennung, tritt der ursprüngliche Wortsinn zurück. Wir können aus ihm keine Schlüsse auf aktuelle Konzepte der Namengebung ziehen. Ein Jakob des 18. Jahrhunderts kann sich auf den Patriarchen des Alten Testaments beziehen, auf einen der beiden Apostel dieses Namens im Neuen oder auf den gleichnamigen Großvater. An die Bedeutung „Fersenhalter“ denkt damals dabei wohl niemand mehr. So ist sie für die Mentalität der Zeit belanglos. Eine Interpretation der Namengebung vom Wortsinn her wäre verfehlt. Dafür werden in der Nachbenennung nach Namensvorbildern reale oder imaginierte Sozialbeziehungen erkennbar. In der Analyse dieser Beziehungen liegen daher auch die wesentlichen Erkenntnismöglichkeiten der Interpretation von Namen in Kulturen der Nachbenennung. Unter den Systemen der Namengebung nach dem Namenssinn lassen sich wiederum zwei Typen unterscheiden: solche, in denen für jedes Kind ein neuer Name gebildet wird, und solche, in denen es zur Wiederholung bereits gegebener Namen kommt. Der erste Typ, die einmalige Vergabe eines Namens, dürfte etwa in der Frühzeit der zwölf Stämme Israels das maßgebliche Prinzip der Namengebung gewesen sein. Die im Alten Testament überlieferten Genealogien zeigen für diese Zeit keinerlei Namensrepetition. Aus zahlreichen Berichten wird ersichtlich, dass für jedes Kind jeweils ein ganz spezifischer Name gebildet wurde. Er konnte sich auf ein besonderes Ereignis bei der Geburt beziehen, wie das über die Familie des Patriarchen Jakob berichtet wird. Bei seinen zwölf Söhnen waren Aussprüche der Mutter bei der Geburt für die Namengebung entscheidend. Beim ersten sagte Lea: „Seht, ein Sohn!“ und nannte ihn „Ruben“, beim zweiten: „Erhört hat mich der
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Herr“ und nannte ihn „Simon“ d. i. „Erhörung“ etc. Dass Namen von Kindern in Stammesgesellschaften oft individuell nach spezifischen Geburtsumständen gebildet werden, dafür bietet die Ethnologie reiches Vergleichsmaterial. Insgesamt finden sich die einmalige Vergabe von Namen nach dem Namenssinn und eine dementsprechende Vielfalt des Namenguts eher auf der Entwicklungsstufe von Tribalverfassungen. Aus der europäischen Geschichte ist kein analoges System der Namengebung bekannt. Viel häufiger begegnet in Systemen der Namengebung nach dem Namenssinn das Prinzip der Wiederholung von Namen. Ihrer Bedeutung nach besonders wertvolle Namen werden neuerlich aufgegriffen. In der Regel handelt es sich dabei um Namen mit einem religiös bedeutsamen Sinn – also fromme Namen und unter ihnen wiederum besonders sogenannte „theophore Namen“. Unter „theophoren Namen“ versteht man Namensformen, die den oder einen Gottesnamen beinhalten. Der Gottesname selbst bzw. die Namen von Göttern oder Göttinnen waren für deren Kultgemeinde in der Regel tabu. Das gilt etwa für die Namen Jesus bzw. Christus in den meisten christlichen Kulturen bis heute. Andererseits wurden göttliche Namen aufgrund ihrer Heiligkeit vielfach als besonders wirkkräftig angesehen. Um diese Kraft des Namens zu gewinnen ohne das Tabu zu verletzen, wurden Kindern theophore Namen gegeben – also mit dem Gottesnamen zusammengesetzte Namensformen. Man bezeichnet das Kind etwa als „Diener Gottes“, als „Gnadenerweis Gottes“, als „Gabe Gottes“. Solche theophore Namen reichen historisch sehr weit zurück. In Ägypten sind schon in der ältesten überlieferten Namenschicht aus der Zeit zwischen 3000 und 2600 v. Chr. theophore Satznamen stark vertreten. Sie stellen wahrscheinlich die ältesten schriftlich überlieferten Zeugnisse menschlicher Religiosität überhaupt dar. Ebenso begegnen sie in den altorientalischen Kulturen Mesopotamiens. Bei den Juden dürfte sich über sie der Übergang von den individuell gebildeten Namen zur Namensrepetition vollzogen haben, die sich bereits in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten durchsetzte. Etwa die Namen Jesus, d.h. „Jehova ist Hilfe“, und Johannes, „Jehova ist gnädig gewesen“, waren zur Zeit Jesu schon sehr stark verbreitet. Die beiden großen monotheistischen Tochterreligionen des Judentums, das Christentum und der Islam, übernahmen das Prinzip der theophoren Namengebung. Im arabischen Raum ist es allerdings auch schon in vorislamischer Zeit nachzuweisen. Im islamischen Kulturraum spielt das theophore Namenwesen – und damit die Namengebung nach dem Wortsinn – bis heute eine wichtige Rolle. Insbesondere sind Zusammensetzungen aus „Abd“, d.i. Diener, und einem der „neunundneunzig schönen Namen Allahs“ sehr beliebt, etwa Abd al-Rahman („Diener des Barmherzigen“), vor allem aber Abdallah selbst. Wie im Judentum – aber anders als in der christlichen Tradition – bleiben theophore Namen der männlichen Nachkommenschaft vorbehalten. Das Christentum hat das Modell der theophoren Namengebung nicht nur aus jüdischen, sondern auch aus griechischen Wurzeln
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übernommen. Bei den Griechen findet sich eine Namengebung dieser Art seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert, allerdings mit anderen Formen der Namenbildung und damit wohl auch mit anderen Vorstellungen über die im Namen ausgedrückte Gottesbeziehung. Die altorientalischen „Diener der Gottheit“-Namen fehlen. Stark vertreten sind dafür Namen, in denen durch Suffix-Bildungen die Zugehörigkeit zur Gottheit ausgedrückt wird wie Demetrios, Apollonios, Dionysios. Ähnlich gebildet sind dann theophore Namen des Christentums wie Kyriakos/Kyrillos, d.h. „zum Herrn gehörig“, oder dessen lateinische Entsprechung Dominicus. Das ganze erste Jahrtausend hindurch und zum Teil weit darüber hinaus spielen auf Gott bezogene Namen, die dem Namenssinn nach vergeben wurden, im Christentum eine große Rolle. Wir finden sie über griechisch- und romanischsprachige Gebiete hinaus in germanischen und slawischen Missionsgebieten, etwa Gottfried und Godwin (d. i. „Gottesfreund“), Bogislaw und Bogdan (d. i. „durch Gott voll Ruhm“ bzw. „Gottesgeschenk“). Erst mit der Durchsetzung der Nachbenennung nach Heiligen wurden sie verdrängt. Die Namengebung nach dem Wortsinn beschränkt sich im Christentum der ersten Jahrhunderte keineswegs auf theophore Namen. Er gab eine Vielzahl frommer Namen, die christliche Hoffnungen, Erwartungen, Stimmungen, Gefühle und Eigenschaften ausdrückten. Sie lassen sich oft von den allgemeinen Wunschnamen der Spätantike schwer unterscheiden, weil sie sowohl religiös wie auch säkular verstanden werden konnten. In der Zeit der Verfolgung war diese Doppeldeutigkeit wohl bewusst intendiert. „Victor“ etwa konnte allgemein ein „nomen militare“ sein, wie es Nichtbürger bei ihrem Eintritt ins Heer annahmen. Unter Christen hingegen wurde der Name gerne gegeben, weil er für sie den Sieg über die Sünde zum Lebensprogramm machte. Felix bzw. Felicitas waren als Wunsch für die Zunkunft des Kindes auch in nichtchristlichen Kreisen sehr verbreitet. Für Christen bedeuteten sie wie später Beatus/Beatrix oder Sanctus/Sancta die Hoffnung auf die ewige Seligkeit. In gleichen Namensformen können sehr unterschiedliche Bedeutungszuweisungen enthalten sein. Außer Streit steht, dass die theophoren und frommen Namen schon seit frühchristlicher Zeit eine spezifisch christliche Namenkultur bildeten. Ihr christlicher Charakter wird vielfach deshalb nicht wahrgenommen, weil aus neuzeitlicher Perspektive christliche Namengebung so stark mit Nachbenennung nach Heiligen gleichgesetzt wird, wie sie sich im Hoch- und Spätmittelalter zunehmend durchgesetzt hat. Namengebung nach dem Wortsinn kommt in christlichen Kulturen der Nachbenennung im Zuge von Erneuerungsbewegungen gelegentlich wieder zum Durchbruch. In puritanischen Kreisen griff man nicht nur auf hebräische Satznamen des Alten Testaments zurück, sondern man übersetzte sie auch ins Englische und formulierte nach ihrem Vorbild neue. Auf dieser Grundlage sind Taufnamen entstanden, die in der Geschichte
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der Namengebung ziemlich einzigartig dastehen: Sin-Despise, Turn-to-the-right oder Bestead-fast-in-the-faith. Von den Brüdern des Radikalenführers Praisegod Barebon, einem der erbittertsten Gegner König Karls II., hieß der eine Christ-came-into-the-worldto-save, der andere If-Christ-had-not-died-for-thee-thou-hadst-been-damned. Weil das nun doch ein wenig kompliziert war, wurde er schlicht „Damned“ gerufen. Religiöse Satznamen, wie sie in Deutschland im Pietismus aufkamen – etwa Fürchtegott oder Leberecht – wirken im Vergleich dazu fast konventionell. Namen, die religiöse Tugenden zum Lebensprogramm des Kindes machen, finden sich im Reformationszeitalter allgemeiner verbreitet. Das gilt etwa für die drei christlichen Kardinaltugenden: Spes, Fides und Caritas. Es ist kein Zufall, dass Erneuerungsbewegungen zur Namengebung nach der Wortbedeutung zurückkehren. Sie ermöglicht ihnen, durch die Namen der Kinder ihre programmatischen Vorstellungen zu propagieren. Als besonders radikaler Bruch mit traditionellen Formen der Identitätszuweisung wird dadurch auch der Gedanke des prinzipiellen Neubeginns betont. Die Französische Revolution hat nicht nur im System der Nachbenennung christliche Heilige durch Märtyrer der Revolution wie Marat und Le Pelletier oder Julius Cäsar durch seinen Mörder Brutus ersetzt, sie hat auch Ideale der Revolution in der Namengebung verankert wie Liberté, Egalité, Fraternité, Unité, Indivisibilité, Republicain oder Travail. In der Russischen Revolution wurde in ähnlicher Weise Namenpolitik im Sinne der Schaffung einer radikal neuen Identität betrieben. Systeme der Namengebung nach dem Wortsinn eignen sich dafür besser als solche der Nachbenennung, weil sie das angestrebte Programm direkt ansprechen und nicht bloß durch historische Vorbildfiguren vermittelt. Obwohl solche Formen revolutionärer Namengebung in den betroffenen Gesellschaften quantitativ bedeutungslos blieben, handelt es sich doch um ein wesentliches Phänomen. Der versuchte Umsturz des Namensystems zeigt, dass dieses mit dem überkommenen Gesellschaftssystem identifiziert wurde. Mit der alten Ordnung wollte man auch deren symbolische Ausdrucksformen überwinden. Das System der Namengebung wurde als ein sehr wesentliches Element dieser symbolischen Ausdrucksformen ange sehen.
Namengebung durch Nachbenennung Systeme der Namengebung nach dem Namenssinn und nach Namensvorbildern sind untereinander nicht inkompatibel. Das Lukas-Evangelium berichtet über die Namengebung Johannes des Täufers, dass die Nachbarn und Verwandten dem Knaben bei der Beschneidung den Namen seines Vaters Zacharias geben wollten. Seine Mutter Elisabeth widersprach ihnen und sagte: „Nein, er soll Johannes heißen.“ Sie antworteten ihr: „Es
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gibt doch niemanden in deiner Verwandtschaft, der so heißt.“ Das Prinzip der Verwandtennachbenennung erscheint hier ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Wenn Elisabeth und später auch der Vater Zacharias auf dem in der Familie ungebräuchlichen Namen Johannes beharrten, so mag das seinen Grund in der Bedeutung des Namens gehabt haben, die zweifellos geläufig war. Im vorangegangenen Satz des Evangelienberichts heißt es: „Ihre Nachbarn und Verwandten hörten, dass ihr der Herr große Gnade erwiesen hatte.“ Und „Gott ist gnädig“ ist die Bedeutung von Johannes. Wie auch immer – sowohl Johannes als auch Zacharias sind theophore Namen, die damals häufig gegeben wurden, mit oder ohne Vorbild in der Verwandtschaft. Solche vielfach vergebenen theophoren Namen dürften sich bei den Juden aus individuell vergebenen religiösen Satznamen entwickelt haben. Zur Namensrepetition kam es jedenfalls aufgrund des Gottesbezugs dieser Namen, nicht wegen des Bezugs zu Verwandten. Verwandtennachbenennung ist offenbar in diesem System der Namensrepetition ein sekundäres Phänomen. Auch sonst lassen sich solche Entwicklungen verfolgen, dass Namen, die ursprünglich des Namenssinns wegen gegeben werden, den Charakter eines familiären Traditionsnamens annehmen. Es ist im Einzelfall dann schwer zu entscheiden, ob die heilige Aussage des Namens bei der Vergabe des Namens im Vordergrund steht oder die Bezugnahme auf einen Verwandten. Wenn wir von Namengebung nach Verwandten sprechen, so denken wir ganz selbstverständlich an Nachbenennung nach Angehörigen im Sinne unseres heutigen Verwandtschaftssystems. In diesem bilateralen und ego-fokussierten Verwandtschaftssystem sind den namengebenden Eltern eines Kindes die eigenen Eltern besonders nahe. Nachbenennung nach väterlichen und mütterlichen Großvätern bzw. Großmüttern ist eine übliche Praxis. Es gibt – historisch und in der Gegenwart – jedoch auch ganz anders strukturierte Verwandtschaftssysteme, in denen dementsprechend auch das System der Nachbenennung nach anderen Regeln verläuft. Die Verwandtschaft in patrilinearen Abstammungsverbänden wird nicht vom Ego sondern vom Ahnherrn her konzipiert und ist ausschließlich an der männlichen Linie orientiert. Pierre Bourdieu hat die Namengebung in einer derart strukturierten Gesellschaft, bei den Kabylen in Algerien, untersucht. Seine Zusammenfassung dazu sei in vollem Umfang zitiert, weil sie in kompakter Form die Komplexität der Verhältnisse veranschaulicht: „Einem Neugeborenen den Namen eines bedeutenden Vorfahren zu geben, ist nicht nur ein Akt der Sohnesliebe, sondern soll das Kind gewissermaßen dazu vorherbestimmen, den namenverleihenden Vorfahren ‚wieder aufleben‘ zu lassen, d. h. in seinen Pflichten und seinen Gewalten seine Nachfolge anzutreten. Infolgedessen werden die ruhmvollen Vornamen, ebenso wie wertvoller Boden, zum Gegenstand einer geregelten Konkurrenz, und das ‚Recht‘ sich den begehrtesten Vornamen anzueignen – den, der ununterbrochen die genealogische Beziehung mit dem großen Vorfahren proklamiert,
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dessen Andenken von der Gruppe und außerhalb der Gruppe bewahrt wird –, wird nach einer bestimmten Ordnung vergeben, entsprechend der, die die Ehrenpflichten bei einem Racheakt oder die Ansprüche auf einen Teil des Erbguts bei einem Landverkauf regelt. Da der Vorname in direkter patrilinearer Linie vererbt wird, darf also der Vater seinem Kind den Namen des eigenen ‚amm‘ (d. i. Vaterbruder, M.M.) oder des eigenen Bruders (‚amm‘ des Kindes) dann nicht geben, wenn diese bereits verheiratete Söhne hinterlassen haben, die den Namen ihres Vaters einem ihrer Söhne oder Enkel geben könnten. Wie überall darf man sich hier durch die Sprache der Norm und Pflicht (‚er muss‘, ‚er darf nicht‘ usw.), die durch die Kürze bequemer ist, nicht täuschen lassen, so ist es z.B. vorgekommen, dass ein jüngerer Bruder ein günstigeres Kräfteverhältnis in der Sippe ausnutzte, um seinem Sohn den Namen eines angesehenen älteren Bruders zu geben, der bei seinem Tod noch sehr kleine Kinder hinterlassen hatte; diese wiederum setzten später ihre Ehre darein, den bewussten Vornamen ‚zurückzuerobern‘, sogar auf die Gefahr von Namensverwechslungen hin, da sie sich als die legitimen Verwalter dieses Namens betrachteten. Besonders auffällig ist diese Konkurrenzsituation, wenn mehrere Brüder den Vornamen ihres Vaters für ihre Kinder reservieren wollen: Zwar muss man im Allgemeinen dafür sorgen, einen Namen nicht verwaisen und die hinterlassene Lücke nicht fortbestehen zu lassen, und gibt deshalb den Namen dem ersten Knaben, der nach dem Tod des Namensträgers geboren wird. Aber der älteste Bruder kann die Vergabe des Namens auch aufschieben und ihn einem seiner Enkel geben, anstatt ihn dem Sohn eines jüngeren Bruders zu überlassen, wobei der Name dann eine Generation überspringt. Umgekehrt kann es aber auch vorkommen, dass ein Name, wenn keine männlichen Nachkommen vorhanden sind, der Gefahr ausgesetzt ist, keinen Nachfolger zu finden; in diesem Fall fällt die Verpflichtung, ihn ‚wieder aufleben‘ zu lassen, zuerst den kollateralen Verwandten zu und dann, im weiteren Sinn, der ganzen Gruppe, die dadurch öffentlich bezeugt, dass ihr Zusammenhalt und ihr Kapital an Männern sie befähigt, die Namen aller direkten Vorfahren wieder aufzunehmen und darüber hinaus auch die anderswo entstandenen Lücken aufzufüllen …“ (Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 79f). Dieses hochkomplizierte System der Nachbenennung beruht auf dem Grundsatz, dass der Abstammungsverband als Ganzer ein für die Gruppe spezifisches Namengut verwaltet. Gemeinsam sind die Agnaten dafür verantwortlich, dass kein Name ihrer Vorvorderen verwaist. Es darf aber auch kein Name unter den Lebenden doppelt vergeben werden, weil man nur Verstorbene „wiederaufleben“ lassen kann. Es handelt sich also um ein Nachbenennungssystem ausschließlich nach Toten. Komplizierend kommt hinzu, dass im gemeinsamen Namengut des Abstammungsverbands bestimmte Namen besonders ruhmvoll und deshalb besonders begehrt sind, weil mit dem Namen auch der Ruhm seines
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früheren Trägers einholbar gedacht wird. Strategien der Nachbenennung nach Toten sind dementsprechend für die Zukunft der Nachkommen höchst bedeutsam. Ganz ähnliche Praktiken der Nachbenennung finden wir in europäischen Fürstenhäusern des Frühmittelalters – bei den Merowingern im 6. und 7. Jahrhundert, bei den Rurikiden im 10. und 11. Die „stirps regia“ verfügte über ein spezifisches Namengut, das immer von Neuem vergeben wurde. Dabei war nicht eine bestimmte Verwandtschaftsrelation zwischen den einzelnen Namensträgern für die Nachbenennung maßgeblich. Der spätere Theuderich III. wurde nicht nach seinem Großonkel dritter Linie, König Theuderich II., nachbenannt, dieser nicht nach seinem gleichnamigen Onkel zweiter Linie, der im Kindesalter starb, oder seinem Urgroßonkel, König Theuderich I. Vielmehr war Theuderich ein besonders prestigeträchtiger Königsname der Dynastie, der in den verschiedenen Linien des Hauses immer wieder aufgegriffen wurde, wenn ein früherer Träger verstorben war. Die aus heutiger Sicht so schwer verständliche Namensgleichheit unter oft weitschichtig verwandten Personen des Königshauses gewinnt auf dem Hintergrund einer solchen gruppenbezogenen Nachbenennung nachvollziehbare Regelmäßigkeiten.
Namensvariation und Namensalliteration Sowohl bei den Merowingern als auch bei den Rurikiden findet sich aber auch noch ein zweites Phänomen, das als Element gruppenbezogener Nachbenennung verstanden werden kann, nämlich die Namensvariation. König Chlodwig I. hat zwei Söhne, Chlodomer und Chlothar, einen Enkel Chlodovald und eine Enkelin Chlotswinte sowie einen Urenkel Chlodobert. Chlodwigs ältester Sohn Theuderich ist der Vater eines Theudebert und der Großvater eines Theudebald. Während der volle Name erst nach dem Tod des ersten Namensträgers aufgegriffen werden darf, kann durch die Übertragung einzelner Namensteile Gemeinsamkeit unter Lebenden ausgedrückt werden. Das Prinzip der Namensvariation war in germanischer Frühzeit sehr verbreitet – nicht nur in Fürstenhäusern. Im Frankenreich lässt es sich im 8. und 9. Jahrhundert in breiten Kreisen der bäuerlichen Bevölkerung nachweisen. Anders als in den Fürstenhäusern wird hier auch das Namengut der Mutterseite in die Übertragung von Namensteilen einbezogen. Die Nachbenennung von Söhnen nach der Mutter bzw. von Töchtern nach dem Vater bleibt dabei allerdings auf den geschlechtsunspezifischen ersten Namensteil beschränkt. So hat etwa nach dem Güterverzeichnis der nordfranzösischen Abtei Saint-Germain-de-Près am Anfang des 9. Jahrhunderts ein bäuerliches Ehepaar Ricboldus und Gislindis einen Gislemarus, einen Ercamboldus, einen Ricgoldus sowie eine Ricberga und eine Ricsindis zu Kindern. Bei Personen gleichen Geschlechts kann die Übereinstimmung auch im zweiten Namensteil
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liegen. Die aus der epischen Überlieferung geläufige Abfolge Heribrand – Hildebrand – Hadubrand ist dafür ein gutes Beispiel. Namensvariation ist in historischen Gesellschaften ein weit verbreitetes System der Namengebung, in dem über Namensteile Gemeinsamkeiten mit Vorfahren und Verwandten gesucht wird. Wir finden es bei germanischen und slawischen Völkern, ebenso in der griechischen Antike – gelegentlich sogar in Übereinstimmung kombinierter Grundworte, etwa bei den in vielen indogermanischen Kulturen verbreiteten Tiernamen. Namensvarianten als Form, über den Namen familiären Zusammenhang auszudrücken, begegnet auch in Kulturen ganz anderen Ursprungs. So ist dieses Prinzip der Namengebung in Japan seit alters weit verbreitet. Der jetzige Kaiser Akihito hat einen Masahito zum Bruder. Die Brüder seines Vaters Hirohito hießen Yasuhito, Nobuhito und Takahito. Der Großvater hatte den Namen Yoshihito. In einer Seitenlinie des Kaiserhauses findet sich gleichzeitig die Generationsfolge Hiroyasu, Hiroyoshi, Hiroaki. In neuerer Zeit kann mit dem Prinzip der Namensvariation schon recht freizügig umgegangen werden. So übernahm etwa ein in den fünfziger Jahren geborener Hirokuni das zweite Namenselement von seinem Vater, das erste hingegen vom Kaiser. Dem System der Namengebung durch Namensvariation verwandt ist das System der alliterierenden Namengebung. Auch diesem System begegnet man in europäischer Frühzeit, insbesondere bei germanischen Stämmen. In den angelsächsischen Königshäusern finden sich zahlreiche Beispiele. Die Namen der aus dem Nibelungenlied bekannten Burgunder könige Gunther, Gernot und Giselher veranschaulichen das Prinzip. Familiale Gemeinsamkeit wird hier nicht durch Weitergabe ganzer Namensteile ausgedrückt, sondern bloß durch die Übereinstimmung im Anlaut. Dass der Anlaut Wesentliches des ganzen Namens enthält und deswegen etwa auch bei Namenswechsel gleichbleiben soll, ist ein weit verbreitetes Motiv, das in vielen Kulturen ganz unterschiedlichen Ursprungs begegnet. Auch die Namens alliteration wird in vielen sehr unterschiedlichen Kulturen praktiziert, etwa in manchen persischen Familien bis heute (vgl. unten S. 214). Namensvariation und Namensalliteration kann man nur in einem sehr weiten Verständnis als Systeme der Namengebung nach Namensvorbildern bezeichnen. Sie beziehen sich ja nicht in ganzen Namen, sondern nur in Namensteilen bzw. im Anlaut des gegebenen Namens auf vorangegangene Namensträger. Die variierten bzw. alliterierten Namen müssen ursprünglich auch des Namenssinns wegen gegeben worden sein. Die Aufnahme neuer Namenselemente – etwa solcher mit christlicher Bedeutung – macht klar, dass innerhalb des Systems der Namensvariation die einzelnen Grundworte nicht sinnentleert weitergegeben wurden. Es begegnen allerdings auch Zusammenstellungen von Namensteilen, die keinen erkennbaren Sinn ergeben und die nur aus der Bezugnahme auf Vorfahren und Verwandte erklärt werden können.
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Nachbenennung nach Verwandten Wo in Europa im Frühmittelalter Namensvariation oder Namensalliteration begegnen, trat in der Folgezeit nahezu überall Nachbenennung an deren Stelle. In Übergangsphasen konnten, wie das Beispiel der Merowinger zeigt, solche Systeme miteinander verbunden auftreten. Die Merowinger haben nur nach schon verstorbenen Geschlechtsangehörigen nachbenannt, die frühen Karolinger zunächst auch. Mit der Königssalbung Pippins gingen sie zur Nachbenennung nach Lebenden über. Auch der Vaters- bzw. Muttername wird jetzt weitergegeben. Ein Zusammenhang mit der neuen Form der Herrschaftslegitimation erscheint denkbar. Man darf Nachbenennung nur nach Toten bzw. auch nach Lebenden aber nicht generell als zwei einander ablösende Systeme sehen. Die Namen noch lebender Familienangehöriger zu geben, hat im Mittelmeerraum eine weit zurückreichende Tradition. In der jüdischen Militärkolonie Elephantine in Ägypten lässt sich dieser Brauch schon im 5. vorchristlichen Jahrhundert nachweisen. Dass Johannes der Täufer nach seinem Vater Zacharias hätte benannt werden sollen, war also nichts Ungewöhnliches. Im sephardischen Judentum blieb diese Tradition erhalten. Unter den Aschkenasim hingegen war die Nachbenennung nach Lebenden verpönt. Vorstellungen des Volksglaubens müssen dabei eine Rolle gespielt haben, die durch heilige Schriften nicht abgedeckt waren. In christlichen Kulturen gibt es analoge Erscheinungen. Wo nur nach Verstorbenen nachbenannt werden darf, liegt offenbar ein anderes Konzept zugrunde, was die Übertragung des Namens bedeutet. Name und Person werden etwa in der Weise als miteinander verbunden gedacht, dass die Neuvergabe eines Namens einen noch lebenden Familienangehörigen dieses Namens in seiner Existenz bedroht. Im System der Nachbenennung auch nach lebenden Vorfahren und Verwandten hat die Homonymie ganz andere Bedeutung: Die Person, nach der nachbenannt wird, soll geehrt werden; das nachbenannte Kind soll in ihr ein Vorbild haben. Wo in europäischen Kulturen der Vergangenheit die Nachbenennung auch nach Lebenden erlaubt ist, dort stehen die Eltern der Kindeseltern im Vordergrund. Die jüdischchristliche Tradition des vierten Gebots: „Du sollst Vater und Mutter ehren …!“ dürfte in diese Richtung gewirkt haben. Das Christentum hat tendenziell in allen europäischen Verwandtschaftssystemen zu einer bilateralen Ausrichtung geführt. Dementsprechend werden in korrespondierenden Systemen der Nachbenennung auch die Eltern beider Kindeseltern berücksichtigt. Ein Vorrang der Vaterslinie bleibt aber vielfach erhalten, insbesondere bei der Namengebung des ältesten Sohnes. Die Homonymie zwischen Großvater und erstem Enkelsohn behält vielfach eine privilegierte Stellung. Von der griechischen Bezeichnung für Großvater abgeleitet, spricht man diesbezüglich von „Papponymie“. Im Vergleich zur Nachbenennung nach Großeltern begegnet die nach den Kindeseltern
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weniger ausgeprägt. In Fürstenhäusern wurde sie dadurch gestützt, dass Herrschernamen zu Würdenamen wurden, die dem nachbenannten Sohn Thronansprüche zuwiesen. Dieses Prinzip konnte allerdings erst wirksam werden, als sich die Unteilbarkeit der Reiche durchgesetzt hatte. In den Geschlechtern adeliger Lehensträger lässt sich Ähnliches beobachten. Die Vaternachbenennung scheint mit dem Einzelerbrecht zusammenzuhängen. Das gilt auch für bäuerliche Gesellschaften mit Anerbenrecht. Auch andere Motive können freilich bei diesem Nachbenennungsprinzip eine Rolle gespielt haben, etwa dass bestimmte besonders häufige oder sonst bedeutsame Namen stets in der Familie vertreten sein sollten. Wenn man etwa daran glaubte, dass dort, wo ein Johannes oder ein Florian im Haus ist, kein Blitz einschlägt, dann konnte es auch ohne intendierte Bezugnahme auf den Vater zu einer regelmäßigen Wiederkehr bestimmter Namen von Generation zu Generation kommen. Die Nachbenennung nach noch lebenden Verwandten, insbesondere die nach dem Vater, muss voll entwickelt gewesen sein, bevor es zu einem für alle christlichen Kulturen Europas besonders charakteristischen Phänomen gekommen ist, nämlich der Nachbenennung nach dem „geistlichen Vater“, also dem Taufpaten. Von Byzanz ausgehend verbreitete sich im Frühmittelalter die Vorstellung, dass die durch das Taufsakrament entstanden gedachte „geistliche Verwandtschaft“ der Blutsverwandtschaft gleichzuhalten sei. Die Nachbenennung nach dem Paten war eine logische Konsequenz aus diesem Konzept. Frühe Fälle sind in Fürstenhäusern nachweisbar: der Bulgarenchan Boris/Michael nach seinem „geistlichen Vater“ Kaiser Michael 864 im Osten sowie der Karolingerprinz Zwentibold, ein Sohn Arnulfs von Kärnten, den der Mährerfürst Swjatophik aus der Taufe hob, 870 im Westen. Vom 9. Jahrhundert an hat sich dieser Brauch – mit unterschiedlicher Bedeutung nach Zeit und Raum – bis in die Gegenwart erhalten. Mit der Patennachbenennung war die Schranke der Nachbenennung nur nach Blutsverwandten durchbrochen. Eine zweite Form der Namengebung aufgrund einer starken sozialen Beziehung über die Familie hinaus setzte sich schon bald darauf – und wohl in kausalem Zusammenhang mir ihr – im Frankenreich und seinen Nachfolgereichen durch, nämlich die Nachbenennung nach dem Lehensherrn bzw. seinen Angehörigen aufgrund der Vasallität. Das „Hinz und Kunz“-Phänomen in Deutschland geht auf die Könige aus sächsischem und salischem Geschlecht zurück. In Frankreich verbreiteten sich die Königsnamen Hugo und Robert, später dann Ludwig, Philipp und Karl, in der Normandie und in England Richard, Robert und William. Im Namenwesen Englands und seiner Tochterkulturen haben sich die Königsnamen des Hochmittelalters besonders stark verbreitet und besonders lange gehalten.
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Nachbenennung nach Heiligen Auch eine andere Form der Nachbenennung, die im Hochmittelalter enorme Bedeutung gewann, könnte mit der Patennachbenennung in Zusammenhang stehen, nämlich die nach Heiligen. Wie die Beziehung zum irdischen „patrinus“ wurde die zum himmlischen „patronus“ durch das Taufsakrament hergestellt. Bei beiden Beziehungen handelt es sich um eine spirituelle Bindung, die nichts mit Abstammung zu tun hat. So könnte die Patennachbenennung der nach Heiligen den Weg geebnet haben. Ihre einzige Wurzel war sie aber sicher nicht. Nachbenennung nach Heiligen lässt sich in christlichen Kulturen jedenfalls schon seit dem dritten Jahrhundert nachweisen – allerdings nicht als dominantes Prinzip der Namengebung. Unterschiedliche Motive werden dabei erkennbar: Wenn man glaubte, das Kind der Fürbitte eines Heiligen zu verdanken, so gab man ihm dessen Namen. Vorstellungen der Namenmagie spielten eine Rolle, dass man über das Aussprechen des Rufnamens eines Kindes dessen homonymen Heiligen präsent machen könnte. Vor allem aber sollte die Nachbenennung den Heiligen als Schutzherr und als Tugendvorbild gewinnen. Seit dem 4. Jahrhundert lässt sich der Gedanke nachweisen, dass ein der Fürbitte eines Heiligen verdanktes Kind für den geistlichen Stand bestimmt sei. Im Frühmittelalter scheint im Westen diese Vorstellung an Bedeutung gewonnen zu haben. Das macht aber die Heiligennachbenennung zum Ausnahmefall. Das Kind wurde durch sie aus Verwandtschaftsbindungen herausgehoben und in neue Beziehungen eingeordnet. Zur Durchsetzung des Prinzips der allgemeinen Nachbenennung nach Heiligen kam es im Westen erst seit dem Hochmittelalter – wahrscheinlich anfangs unter byzantinischem Einfluss. In Byzanz hatte sich im Bilderstreit der Kult des Tagesheiligen verstärkt und gleichzeitig auch die Nachbenennung nach Heiligen zugenommen. Die Vorstellung, dass der Heilige an seinem Festtag besonders wirkkräftig sei, gewann auch im Westen an Bedeutung. Das Prinzip der Namengebung nach Geburtstags- bzw. Tauftagsheiligen findet sich in der Ostwie in der Westkirche. Für die Verbreitung von Heiligennamen seit dem Hochmittelalter dürfte es entscheidende Bedeutung gehabt haben. Namengebung nach nahen Verwandten der Vater- und Mutterseite, nach Patinnen und Paten, deren man ja mehrere haben konnte, nach Lehensherren und deren Angehörigen und schließlich nach Geburts- und Tauftagsheiligen oder anderen Heiligen, die man als persönliche Patrone verehrte – alles das waren sehr unterschiedliche Prinzipien der Nachbenennung, die sehr schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Das Problem löste sich auch nicht dadurch, dass Heiligennamen mit zunehmender Verbreitung zu Ahnennamen wurden bzw. dass man nahe Verwandte zu Paten nahm. Sicher konnten dadurch mit einem Namen Doppel- und Dreifachbezüge hergestellt werden – mit zuneh-
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mender Reduktion des Namenguts in zunehmendem Maße. Trotzdem mussten zwischen diesen Systemen immer wieder Entscheidungen getroffen werden. Nach Regionen und Zeiten erfolgten sie in sehr unterschiedlicher Weise. Im spätmittelalterlichen England etwa soll die Patennachbenennung im Vordergrund gestanden sein. In Bergbauerngebieten des Ostalpenraums gab man noch zu Beginn dieses Jahrhunderts den älteren Kindern die Namen der Eltern und naher Verwandter. Nach der Vergabe dieser „vererbten Namen“ sagte bei den jüngeren „der Pfarrer, wie’s heißen sollen“. Und er sah im Kalender nach. Eine Entlastung in dieser Konkurrenz der Nachbenennungssysteme brachte die Doppelund Mehrnamigkeit, wie sie im Renaissancezeitalter in Italien aufkam. In den komplexen Formen barocker Polyonymie, wie sie vor allem in Fürsten- und Adelshäusern zu finden sind, lässt sich das Nebeneinander dieser konkurrierenden Systeme auf eine Person bezogen beobachten. Und bis heute werden Zweit- und Drittnamen dazu benutzt, um Verpflichtungen aus traditionellen Mustern der Nachbenennung Rechnung zu tragen.
In der Gegenwart – eine Nachbenennung ohne Vorbilder? Wie lässt sich unser heutiges System der Namengebung in europäischen Gesellschaften mit christlicher Tradition auf diesem historischen Hintergrund einordnen? Um ein System der Namengebung nach dem Wortsinn handelt es sich sicher nicht. Ein Kind mit Worten der Alltagssprache zu benennen, ist nicht üblich. Handelt es sich um ein System der Namengebung nach Namensvorbildern? Der Rückgriff auf traditionelles Namengut scheint dafür zu sprechen. Die immer häufiger wechselnden „top ten“ der aktuellen Namengebung stammen zum überwiegenden Teil aus jüdisch-christlicher Tradition. Und auch die nicht christlich geprägten Namen haben vielfach historisch weit zurückreichende Wurzeln. In welchem Sinn könnte man von einem System der Nachbenennung sprechen? Von einer Nachbenennung nach Heiligen sicher nicht. Auch praktizierende Katholiken geben Heiligennamen wohl nur ausnahmsweise in diesem Verständnis. Ebenso wenig spielt eine direkte Nachbenennung nach Vorbildfiguren eine Rolle, die man als „säkulare Heilige“ bezeichnen könnte. Literarische Vorbilder, Heroen des Nationalismus, Kultfiguren des Zeitalters der Massenmedien haben die Namengebung seit dem 19. Jahrhundert stark beeinflusst. Auch sie treten zurück. Hat die Nachbenennung nach Vorfahren und Verwandten zur Bewahrung traditionellen Namenguts geführt? Auch dieser Ansatz bietet keine Erklärung. Es sind nicht die Namen der Eltern und Großeltern, der Onkel und Tanten, der Patinnen und Paten, die die Weitergabe von Traditionsnamen bedingen. Ganz im Gegenteil – die letzten Jahrzehnte haben in den westlichen Kulturen zu einem radikalen Bruch mit dem System der innerfamilialen Nachbenennung geführt. Ein durch viele
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Jahrhunderte praktiziertes System wurde aufgegeben – wohl der bedeutungsvollste Veränderungsprozess in der Geschichte der europäischen Namengebung. Die Gründe für das veränderte Verhalten von jungen Eltern dürften auf verschiedenen Ebenen zu suchen sein: im Wunsch, das Kind nicht an Familientraditionen zu binden und ihm individuelle Entwicklungschancen zu eröffnen, im Bedeutungsverlust von Verwandtschaftsbeziehungen, im veränderten generativen Verhalten, das in Hinblick auf die Kinderzahl eine Bezugnahme auf väterliche und mütterliche Verwandte schwierig macht, um nur einige Faktoren zu nennen. Die Aufgabe des Prinzips der innerfamilialen Nachbenennung hängt offenbar mit sehr wesentlichen mentalen und sozialen Veränderungsprozessen der letzten Jahrzehnte zusammen. In der europäischen Tradition der Nachbenennung ist die Bezugnahme auf unterschiedliche Namensvorbilder in einem Namen tief verankert. Ahnennamen, die zugleich Heiligennamen sind, machen eine solche Ambivalenz bzw. Polyvalenz notwendig. Diese Tendenz zur Mehrdeutigkeit von Namen hat sich in der neueren Entwicklung radikal verschärft. Sowohl im privaten Umfeld der namengebenden Eltern wie auch in einer breiteren Öffentlichkeit ist jeder überkommene Name mit einer Vielzahl an Bedeutungen befrachtet, die von früheren Trägern des Namens stammen. Viele dieser Konnotationen sind hinsichtlich ihres Ursprungs gar nicht bewusst. Auch Unbewusstes geht in Namensentscheidungen ein. Selbst wo die Bewertung eines Namens auf das Moment des Klangs reduziert scheint, spielen frühere Begegnungen mit dem Namen bzw. seinen Trägern eine Rolle. In Kulturen, die Traditionsnamen geben, hat eben jeder Name Tradition – auch wenn diese nicht mehr gesamtgesellschaftlich verbindlich ist, sondern auf individueller Wahrnehmung und Bedeutungszuweisung beruht. Ein so wichtiges Symbol der Identitätsstiftung für die Zukunft wie der einem Kind mitgegebene Name ist ohne Verankerung in der Vergangenheit nicht denkbar.
Ausgewählte Literatur L’anthroponymie. Document de l’histoire sociale des mondes méditerrannéens médiévaux (hgg. v. Monique Bourin, Jean-Marie Martin und François Menant, Collection de l’école française de Rome 226), Rom 1996. Adolf Bach, Deutsche Namenkunde 1, Die deutschen Personennamen, Heidelberg 1952/3. Michael Bennett, Spiritual kinship and baptismal name in traditional European society, in: L. O. Frappell (Hg.), Principalities, Powers and Estates, Adelaide 1979. Leone Caetani und Giuseppe Gabrieli, Onomasticon Arabicum I, Rom 1915. Jacques Dupâquier u.a. (Hg.), Le prénom, mode et histoire, Paris 1984.
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2. Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel „heiliger Namen“
Personennamen sind eine Quellengattung, die bisher von der sozialgeschichtlichen Forschung nur wenig genutzt wurde.1 Dieser Sachverhalt erscheint überraschend – handelt es sich doch um einen Quellentyp, der nicht nur außerordentlich verbreitet auftritt, sondern auch außerordentlich vielfältige Auswertungsmöglichkeiten zulässt. Personennamen sind ein universales Phänomen. In der Unterschiedlichkeit ihrer Formen bieten sie Möglichkeiten für weit ausholende interkulturelle Vergleiche. Personennamen gehören zu den ältesten schriftlich überlieferten Zeugnissen der Menschheitsgeschichte.2 Auf ihrer Grundlage lassen sich epochenübergreifend langfristige Entwicklungstendenzen analysieren.3 Personennamen machen sehr grundsätzliche Aussagen über gesellschaftliche Gegebenheiten und Zusammenhänge. Der Akt der Namengebung – in vielen Kulturen als die eigentliche soziale Geburt des Menschen aufgefasst – definiert die Rolle, die das Kind in seiner Umwelt einnimmt, entwirft ein Programm für seine Zukunft, konzipiert seine Identität. Zwei Grundformen sind in vereinfachender Differenzierung dabei zu unterscheiden – die Neuschöpfung eines individuellen Namens und die Nachbenennung nach einem früheren Träger desselben Namens. Im Fall der Neuschöpfung von Namen 1
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Die wichtigsten Impulse sind diesbezüglich bisher von der französischen sozialgeschichtlichen bzw. historisch-demographischen Forschung ausgegangen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang vor allem Jacques Dupâquier u.a., Le prénom. Mode et histoire (Les Entretiens de Malher 1980). Éditions des É’cole des Hautes Études en Sciences sociales, Paris 1984, Louis Perouas u.a., Léonard, Marie, Jean et les autres. Les prénoms en Limousin depuis un millénaire. Paris 1984. Von historisch-anthropologischer bzw. ethnologischer Seite insbesondere die Spezialnummer zur Namengebung von L’homme (20/1980) sowie: I sistemi di denominazione nelle società europee e i cieti di sviluppo familiare (Atti del prime seminario degli inconti mediterranei di etnologia, Siena 25/26 Februar 1982) in L’Uomo. Società. Tradizione. Sviluppo V, 1983. Für Ägypten diesbezüglich Erich Hornung, Der Eine und die Vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971. 32. Beispielhaft etwa Richard F. Tomasson, The Continuity of Icelandic Names and Naming Patterns, in: Names 23 (1975) 283 mit einem Vergleich regionalen Namenguts über ein Jahrtausend. Ähnlich Perouas u.a. (wie Anm.1) für Südfrankreich.
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ist eine unmittelbare Analyse des Namenssinns möglich. Im Fall der Nachbenennung hat die sozialhistorische Untersuchung von den Beziehungen zu früheren Trägern des jeweils gewählten Namens auszugehen.4 In Kulturen der Nachbenennung – Orient wie Okzident gehören seit alters zu diesen – ist Namensrepetition erlaubt und damit die Möglichkeit quantitativer Analysen gegeben. Statistische Auswertungen des Namenguts einer Gesellschaft machen im diachronen Vergleich soziale Veränderungsprozesse auf der Makroebene erkennbar. Dem steht die Möglichkeit der Untersuchung von Motivationen individueller Namengebungsakte auf der Mikroebene gegenüber. Kaum ein anderer sozialhistorischer Quellentyp lässt in vergleichbarer Weise eine solche Verbindung verschiedener Ebenen sowie eine solche Verknüpfung quantitativer und qualitativer Methoden zu. Auch von der Frauengeschichte wurden Personennamen als Quelle bisher kaum genutzt.5 Dabei könnte eine sozialhistorische Auswertung von Namen gerade für geschlechtergeschichtliche Fragestellungen viel erbringen. In den meisten Kulturen wird der Geschlechtsunterschied im Namen erkennbar gemacht. Frauen- und Männernamen sind prinzipiell unterschiedlich konzipiert. In diese Konzepte können wesentliche Elemente gesellschaftlicher Geschlechterrollenstereotype eingehen. Eine Analyse der Bedeutung von Frauen- und Männernamen erlaubt also oft eine Annäherung an dominante Muster der Geschlechterrollen – ein Zugang, der insbesondere für weit zurückliegende und quellenarme Zeiten Bedeutung haben kann. Solche Schlüsse sind vor allem in Kulturen und Epochen möglich, in denen Namen unmittelbar nach der Wortbedeutung gegeben wurden. Namensrepetition und Nachbenennung hingegen führen zu Prozessen der Überlagerung des Bedeutungsgehalts von Namen. Aussagen über aktuelle Geschlechterrollen sind dann nur bedingt möglich. Dafür ergeben sich zusätzlich geschlechtergeschichtlich inte ressante Perspektiven – etwa die Bezugnahme auf Namensvorbilder nur des gleichen oder auch des anderen Geschlechts oder die Weitergabe des Namenguts in unterschiedlicher Akzentuierung der männlichen und weiblichen Linie. Die Akzentuierung der Vater- und Mutterlinie kann auch bei zusätzlichen Namensteilen von Bedeutung sein. Das gilt insbesondere für die Führung von Patronymika und Metronymika6 sowie für die gegenwärtig so aktuelle Frage der Weitergabe des sogenannten „Familiennamens“. 4 5 6
Zu solchen methodischen Fragen ausführlich Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. Der hier vorgelegte Beitrag ist aus Vorstudien zu diesem Band entstanden. Ansätze dazu etwa bei Christiane Klapisch-Zuber, Patroni celesti per bambini e bambine al momento del battessimo (Firenze secc XIV–XV) in: Ragnetele di rapporti. Patronage e reti di relazione nella storia delle donne, Torino 1988. Vgl. dazu David Herlihy, Women in Continental Europe, 701–1200, in: Susan Mosher Stuard, Women in Medieval Society, University of Pennsylvania Press 1976, 16–23.
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Eine geschlechtergeschichtliche Auswertung von Frauen- und Männernamen führt notwendig in religionsgeschichtliche Zusammenhänge. Personennamen sind insgesamt eine wichtige Quelle der Religionsgeschichte. Auch in diesem Kontext erscheinen sie bisher noch viel zu wenig genutzt.7 Erkenntnismöglichkeiten, die sie erschließen, liegen einerseits auf der Ebene einer vergleichenden Religionsgeschichte, andererseits auf der Ebene der Geschichte religiöser Mentalitäten – kollektiver religiöser Haltungen und Einstellungen abseits von Dogma und religionsgesetzlicher Norm. Namengebung hatte in Kulturen der Vergangenheit in hohem Maß mit Sinnstiftung durch Religion zu tun und steht auch heute noch in dieser Tradition. Viele der Lebenskonzepte, die Frauen und Männern bei der Namengebung mitgegeben wurden und werden, sind in ihren Wurzeln religiös definiert und lassen sich letztlich nur aus diesen Wurzeln verstehen. Für die Thematik „Frauen, Männer und Religion“ können so Namen als Quelle einen interessanten Zugang eröffnen.
I. Aus der Vielfalt geschlechtergeschichtlich relevanter Themen einer Interpretation von Namen in religionsgeschichtlichem Kontext sei hier eines exemplarisch vorgestellt. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet ein besonderer Namentypus, nämlich die sogenannten „theophoren Namen“. Der Begriff geht auf die griechische Antike zurück. Der Peripatetiker Klearchos unterschied grundsätzlich zwei Gruppen von Namen nach dem Kriterium, ob sie einen Bezug zu einem Götternamen enthalten: die „onomata theophora“, bei denen eine solche Beziehung gegeben ist, und die „onomata athea“, bei denen sie fehlt.8 Ohne diese dichotomische Unterscheidung wird der Begriff bis heute in der Onomastik verwendet.9 Unter „theophoren Namen“ versteht man Personennamen, die unmittelbar aus einem Gottes- oder Götternamen abgeleitet sind und damit eine Beziehung zu überirdischen Mächten ausdrücken, die in besonderer Weise als heilsvermittelnd gedacht wurde. Die Grenzen solcher „theophorer Namen“ zu anderen „heiligen Namen“ sind fließend. Es soll in einem zweiten Schritt ansatzweise auch auf „heilige Namen“ in einem weiteren Sinn eingegangen werden. Theophore Namengebung war in der Antike weit 7 8 9
Für die christliche Namengebung nach Heiligen im Kontext der Heiligenverehrung insgesamt Stephen Wilson, Introduction, in: derselbe (Hg), Saints and their Cults. Studies in Religious Sociology, Folklore and History, 14–15, sowie Annotated bibliography 359. Hermann Usener, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, Bonn 1896, 50. Eugène Vroonen, Les noms des personnes dans le monde, Bruxelles 1967, 261–264,309.
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verbreitet. In den großen monotheistischen Weltreligionen, darüber hinaus aber auch in polytheistischen Glaubensgemeinschaften, haben derart gebildete Namen eine wichtige Rolle gespielt. Für Frauen und Männer war dieses hochwertige Namengut jeweils in sehr unterschiedlicher Weise zugänglich. Anders formuliert: Die Beziehungen zur Gottheit, die in solchen Namen zum Ausdruck kommen, konnten nach der Vorstellungswelt der betreffenden Religionsgemeinschaft von Frauen und Männern nicht in gleicher Weise eingegangen werden. Theophores Namengut wird so zum Indikator geschlechtsspezifisch unterschiedlich gedachter Zugangsweisen zum Heiligen. Im Spiegel von Namen werden Bilder sakraler Ordnungen fassbar. In diesen Ordnungen haben Frauen und Männer vielfach einen unterschiedlichen Status. Religiöse Vorstellungen über die Stellung der Geschlechter dürfen sicher nicht unmittelbar auf die soziale Realität der betreffenden Gemeinschaft übertragen werden. In stark religiös geprägten Gesellschaften besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen Sakralkultur und Sozialstruktur. Der Status, der Frauen und Männern in ihrer Beziehung zur Gottheit zugeschrieben wird, ist auch für ihren Status in der irdischen Lebenswelt von Bedeutung. Abdallah und Godelive – die beiden Namen im Titel dieser Studie – markieren das grundsätzliche Spannungsmoment des behandelten Themas. Sie stehen stellvertretend für zwei Kulturen theophorer Namengebung. In der einen ist die im Namen ausgedrückte Beziehung zu Gott auf Männer beschränkt. In der anderen sind Frauen und Männer im religiösen Konzept ihrer Namen einander völlig gleichgestellt. Abdallah ist im Islam die Namensform, in der das Verhältnis der Unterwerfung und der Abhängigkeit gegenüber Gott am deutlichsten zum Ausdruck kommt.10 Der Gläubige wird als „Diener“, als „Sklave“, als „Knecht Gottes“ verstanden. In islamischen Kulturen ist Abdallah einer der höchst geschätzten und damit auch einer der häufigsten Männernamen. Unter den mit der Unterwerfungsformel „Abd“ und einem der 99 „schönen Namen Gottes“, den „Asma Allah Al-Hosna“, gebildeten Namen nimmt er eine Vorzugstellung ein. Die Namensform wie die in ihr enthaltene Gottesbezeichnung ist vorislamisch. Mohammeds Vater trug den Namen Abdallah. Analoge Namensformen lassen sich im Orient sehr weit zurückverfolgen.11 Abed-Nebo bzw. Ebed-Nebo, d.h. „Diener des Gottes Nebo“, war der babylonische Name des Asarja, eines der „drei Jünglinge im Feuerofen“, von dem das Buch Daniel berichtet.12 Auch in der jüdischen Tradition selbst begegnet 10 Ebd., 309. Leone Caetani und Giuseppe Gabrieli, Onomasticon Arabicum I, Rom 1915, 75, 86. 11 Artikel Name, in: Reallexikon der Vorgeschichte (hgg. v. Max Ebert) 8, Berlin 1927, 446, Martin Noth, Die israelitischen Personennamen im Rahmen der gemeinsemitischen Namengebung, Stuttgart 1928, 135–9. 12 Dan. 1,7;2,49.
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der Name, hier in der monotheistisch formulierten Variante Obadja = „Diener Gottes“.13 Der vierte der „kleinen Propheten“, der um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus lebte, hieß so. In der christlichen Tradition entsprechen ihm Abdio („Diener Jesu“) bei den Nestorianern,14 Gabra Krestos („Diener Christi“) bei den Äthiopiern15 oder Theodul bzw. Christodul („Diener Gottes“ bzw. „Diener Christi“) bei den Griechen.16 Bei arabischsprachigen Christen in Syrien, Ägypten und Spanien findet sich gelegentlich dieselbe Namensform wie bei ihren muslimischen Nachbarn, daneben auch andere mit Abd- und Gottesbezeichnungen gebildete Namen.17 Die höchste Blüte haben freilich die orientalischen Abd-Namen im Islam erreicht. Bezeichnend erscheint nun, dass hier keine Entsprechung zu dieser weit entfalteten Kultur theophorer Männernamen auf Frauenseite besteht. Das weibliche Gegenstück zu den Abd-Namen – mit Amat d. i. „Dienerin“ und Gottesbezeichnungen komponierte Namensformen 18 – bleibt seltene Ausnahme. In einer später hinzugefügten Fußnote zu einer Schrift des großen Rechtslehrers as-Safii (767–820) werden einander Knaben- und Mädchennamen gegenübergestellt, die man an bestimmten Wochentagen geborenen Kindern geben soll.19 Die Abd-Namen erscheinen hier für die am Donnerstag und am Samstag Geborenen bestimmt: Abd Allah, Abd al Rahman, Abd al Rahim, Abd al Razzaq. Die an diesen Tagen zur Welt gekommenen Mädchen hingegen sollte man Kultum, Habibah, Maryam, Sarifat oder Latifah nennen. „Dienerinnen Gottes“, die nach einem seiner „schönen Namen“ heißen sollten, waren hier nicht vorgesehen. Zur selben Zeit, als im Orient der Islam seinen Siegeszug antrat, begann sich im Frankenreich bzw. bei den Angelsachsen eine christliche Kultur theophorer Namengebung zu entwickeln.20 Sie erreichte ihren Höhepunkt im 11. und 12. Jahrhundert, unmittelbar bevor 13 1 Kön.18,3; Obd 1. Vgl. dazu Artikel „Names“ in: Encyclopaedia Judaica 12 (1970), Sp.805. 14 So hieß etwa ein wegen seiner eherechtlichen Aufzeichnungen bekannter Bischof von Assur/Mossul im 10. Jahrhundert. Über ihn Michael Mitterauer, Christentum und Endogamie, in: derselbe, Historisch-anthropologische Familienforschung. Wien 1990, 53. 15 Friedrich Heyer, Die Kirche Äthiopiens, Berlin 1971, 103. E. A. Wallis Budge, The Books of the Saints of the Ethiopean Church 1, Cambridge 1928, 158. 16 Vroonen (wie Anm. 9), 264, Otto F. A. Meinardus, Christian Egypt. Faith and Life, Cairo 1970, 10. 17 Meinardus (wie Anm. 16), 12, 94, 105, 109, Vroonen (wie Anm. 9), 264, Genealogias Mocarabes. Instituto de Estudios Visgothico-Mozarabes de San Eugenio, Toledo 1981, 23, und Tafeln in Anhang. 18 Caetani und Gabrieli, 87 (wie Anm. 10). 19 R. Y. Ebied und M. J. L. Young, A note on Muslim name giving according to the day of the week, Arabica 24 (1977), 326. 20 Adolf Bach, Deutsche Namenkunde I/2, Heidelberg 1953, 15, beschreibt diese Entwicklung so: „Auch aus rein deutschen Elementen hat man wohl seit dem 8. Jahrhundert in christlichem Geist neue Rufnamen geschaffen.“ Für ihn ist freilich die Verwendung des Wortes ‚got‘ nicht eigentlich ein Kennzeichen christlicher Namen.
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sich auch in der westlichen Christenheit die Nachbenennung nach Heiligen durchsetzte. William von Malmesbury erzählt, daß normannische Adelige, die König Heinrich I. (1100–1135) und seine Gattin verhöhnen wollten, sie ironisierend als „Godric“ und „Godgifu“ bezeichneten – ihrer Meinung nach damals offenbar die gebräuchlichsten und damit die gewöhnlichsten Namen, die man in der englischen Bevölkerung gab.21 Jedenfalls für Godric lässt sich dieser Befund quantitativ erhärten.22 Aber nicht nur bei den Männern stehen damals hier theophore Namen so im Vordergrund. Godric hat ein weibliches Gegenstück. Godgifu ist – trotz der germanischsprachigen Wortwurzeln – eine christliche Neubildung. Der Name entspricht unmittelbar einer lateinischen Adeodata, einer griechischen Theodora, also alten Femininformen von theophoren Männernamen.23 Germanischsprachige Wortwurzeln, aus dem Lateinischen oder Griechischen übersetzte Namenselemente, aber auch germanischsprachige Neubildungen auf christlichem Hintergrund stehen in dieser Welle theophorer Namengebung seit karolingischer Zeit nebeneinander. Wohl über griechische Namen vermittelt wird dabei auch auf altorientalische Namentypen zurückgegriffen. Im Frankenreich kommt der Name Gottschalk auf, der unmittelbar mit dem islamischen, aber auch arabisch-christlichen Abdallah des Kalifenreichs korrespondiert.24 Etwas früher noch, insgesamt jedoch seltener, begegnet der Name Cotadeo, der ebenso den „Diener Gottes“ oder „Knecht Gottes“ bezeichnet.25 Mit ihm korrespondiert die weibliche Form „Cotesdiu“, also „Magd Gottes“, „Dienerin Gottes“.26 Eine fränkische Cotesdiu wäre der Bedeutung nach das formale Gegenstück zu einem islamischen Abdallah. Der Name begegnet allerdings nicht allzu häufig. Das hat nichts mit einem beschränkten Zugang von Frauen zu theophoren Namen zu tun. Vielmehr spielt in der christlichen Namengebung die altorientalische Tradition der Abd-Namen insgesamt keine auch nur annähernd so bedeutsame Rolle wie im Islam. Die Ausdrucksformen der Gottesbeziehungen in theophoren Namen sind vielfältiger Art und haben andere Akzente. Für solche Akzentverschiebungen in der Namengebung war in karolingischer Zeit auch sicher das in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums überlieferte Jesus-Wort maßgeblich:27 „Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was der 21 Henry Bosley Woolfe, The Old Germanic Principles of Name-Giving, Baltimore 1939, 87, Anm. 14. 22 William George Searle, Onomasticon Anglo-Saxonicum, Cambridge 1897, 263. 23 Vroonen (wie Anm. 9), 263f. 24 Ebd. 25 Marie-Thérèse Morlet, Les noms de personne sur le territoire de l’ancienne Gaule du VIe au XIIe siècle 1, Paris 1971, 113. 26 Ebd., 113. Zu Goste und ihrer niederrheinischen Fortbildung Gostike vgl. Mackensen, Das große Buch der Vornamen, München, 5. Auflage 1986, 252. 27 Joh. 15,15.
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Herr tut; ich habe euch Freunde genannt, weil ich euch alles geoffenbart habe, was ich von meinem Vater gehört habe.“ Unmittelbar vorher steht hier der entscheidende Satz: „Das ist mein Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe! Es gibt keine größere Liebe als die, wenn einer sein Leben gibt für seine Freunde.“28 Die Anfang des 10. Jahrhunderts verfasste Vita Lebuini, die Lebensgeschichte eines angelsächsischen Märtyrers, der unter den Friesen missionierte, nimmt bei der Erklärung seines Namens ausdrücklich auf diese Bibelstelle Bezug.29 Der Name Liuf-win („lieber Freund“) ist als implizit theophor zu verstehen. Die explizite Form Godewin/Gozwin („Gottes Freund“) erreicht im Verlauf dieser Welle theophorer Namengebung erst später ihre höchsten Häufigkeitswerte als Gottschalk oder der ältere Cotadeo, nämlich im 11. Jahrhundert.30 Zu win = „Freund“ gibt es in den germanischen Sprachen keine unmittelbar entsprechende weibliche Form. Dem Wortsinn nach korrespondierend ist Godelive.31 Der Name könnte eine unmittelbare Übertragung der griechischen Theophila sein – der Femininform zu Theophilos, eines seit frühchristlicher Zeit sehr häufigen Namens, der übrigens, ähnlich wie im Islam Abdallah, auch überindividuell für einen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft stehen kann.32 Godelive hat also in der christlichen Namengebung sehr alte und sehr bedeutsame Entsprechungen. Als germanischsprachige Namensform ist die Komposition jedoch neu und keinesfalls durch Namensvariation aus vorchristlichen Namenselementen ableitbar.33 Es ist evident, dass der Name nach der Namensbedeutung gegeben wurde. Das berichtet auch ausdrücklich die Lebensbeschreibung der Heiligen – einer flandrischen Adeligen des 11. Jahrhunderts, die nach schrecklichem Eheleben durch den eigenen Gatten zur Märtyrerin wurde.34 Der zweite Biograph Godelives meinte, da sich der Kult der Heiligen auch unter der romanisch-sprachigen Bevölkerung zu verbreiten begann, die in Flandern noch allgemein 28 Joh. 15,13. 29 Wolfgang Haubrichs, Veriloquium Nominis. Zur Namensexegese im frühen Mittelalter, in: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung 1, München 1975, 239. 30 Freundliche Mitteilung von Herrn Kollegen Geuenich aufgrund der „Datenbank mittelalterlicher Personennamen“, für die ich bestens danken möchte (vgl. Anm. 98). 31 Der Name wird in der jüngeren Vita der heiligen Godelive ausdrücklich in diesem Sinne interpretiert. Dazu wie zur Lebensgeschichte der Heiligen insgesamt Georges Duby, Ritter, Frau und Priester, Frankfurt a. M. 1985, 152–157. 32 Zur Entsprechung von Godewin und Theophilos Vroonen (wie Anm. 9), 263. Einem Theophilos hat der Evangelist Lukas seine Fassung des Evangeliums wie die daran anschließende Apostelgeschichte gewidmet (Lk. 1,3, Apg. 1,1). Es wird vielfach angenommen, dass mit dieser Widmung nicht eine bestimmte Person, sondern der christliche Leser allgemein angesprochen ist. Zum Gebrauch von Abdallah als allgemeine Bezeichnung für einen Muslim: Vroonen, 309 (wie Anm. 9). 33 Eine Zusammenstellung früher Belege bei Morlet (wie Anm. 25), 112. 34 Duby (wie Anm. 31).
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verständliche Namensform ins Lateinische übersetzen zu müssen. „Deo cara“, also „Gottliebe“, formulierte er. Mit dieser Wortbedeutung kann der Name wohl als charakteristisches Beispiel für die theophoren Frauennamen herausgestellt werden, die im Früh- und zum Teil noch im Hochmittelalter in Nordwesteuropa so weit verbreitet begegnen.
II. Zwischen den beiden durch Abdallah und Godelive repräsentierten extrem unterschiedlichen Namenkulturen liegt ein breites Spektrum. Innerhalb derselben darf man sicher nicht die unterschiedliche Häufigkeitsverteilung von theophoren Frauen- und Männernamen in ihrer quantitativen Abstufung einfach als Gradmesser des jeweiligen Status der Geschlechter in den betreffenden Religionsgemeinschaften interpretieren. Schon bei einem eher flüchtigen ersten Blick haben wir gesehen, dass in theophoren Namen sehr unterschiedliche Beziehungsformen von Frauen und Männern zu Gott formuliert werden, die ihrerseits wieder geschlechtsspezifische Differenzierungen zum Ausdruck bringen können. Keineswegs darf man Kulturen, die neben männlichen auch weibliche theophore Namen kennen, deswegen aus religiöser Sicht als egalitär bewerten. Ebenso wäre es vorschnell, den ausschließlichen Gebrauch theophorer Männernamen in einer Gesellschaft von vornherein als Beweis für eine generelle Schlechterstellung der Frau anzusehen. Die Aussage der Namen beschränkt sich zunächst nur auf Vorstellungen über eine unmittelbare Gottesbeziehung. Vorsicht ist bei solchen Interpretationen auch in anderer Hinsicht am Platz: Gleiche Formen theophorer Namen müssen in verschiedenen Gesellschaften nicht Gleiches bedeuten. Es hängt von der Wirkkraft ab, die „heiligen Namen“ jeweils zugeschrieben wird, in welchem Maß es überhaupt erstrebenswert erscheint, solche Namen zu tragen.35 So sind die Voraussetzungen dafür sehr unterschiedlich, ob man sich darum bemüht, einen Gottesnamen in Menschennamen einzubinden. Gleichgültig welcher Stellenwert theophoren Namen in historischen Gesellschaften jeweils zukommt – ein Prinzip lässt sich durchgehend beobachten: Einen Gottesnamen selbst zu tragen ist für Menschen stets tabu. Götter- und Menschennamen sind zwei grundsätzlich verschiedene Kategorien. Die beiden Welten dürfen durch Namensgleichheit nicht vermischt werden. „Lady Di“ ist für uns heute kein Problem, weil niemand mehr Diana als Göttin verehrt. Die Verfügbarkeit von Gottesnamen für Menschen setzt den Verlust
35 Über die Macht des Namens im Kult noch immer grundlegend Rudolph Hirzel, Der Name. Ein Beitrag zu seiner Geschichte im Altertum und besonders bei den Griechen, Leipzig 1918.
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des Glaubens an die Göttlichkeit der Namensträger voraus.36 Verboten ist freilich nur die unmittelbare Nachbenennung. Diesem Meidungsverbot steht das Interesse an Nähe zur Gottheit über den Namen gegenüber. Das macht theophore Namen so erstrebenswert. Sie schaffen über den Namen Beziehung zur Gottheit, ja sie greifen sogar den tabuisierten Namen selbst auf, ohne freilich dadurch das Namenstabu zu verletzen. Diese Spannung von Meidung und Annäherung an das Göttliche wird in der Namengebung dort besonders kultiviert, wo in der Namenmagie bzw. Namentheologie Vorstellungen über die Verfügbarkeit überirdischer Kräfte durch Namensnennung eine wesentliche Rolle spielen.37 Besonders weit zurückverfolgen lässt sich theophore Namengebung in Ägypten, jenem Kulturraum, in dem auch die Namenmagie eine besonders alte Tradition aufweist. Aus Inschriften der ägyptischen Frühzeit wurde reiches Namenmaterial zusammengestellt, unter dem das mit Götternamen gebildete Namengut schon sehr stark vertreten ist.38 Das Material stammt aus der Zeit zwischen 3000 und 2600 v. Chr., steht also am Anfang der für uns greifbaren ägyptischen Religionsgeschichte. Beim derzeitigen Forschungsstand darf man in diesen theophoren Personennamen überhaupt die ältesten schriftlich überlieferten Zeugnisse menschlicher Religiosität sehen.39 Die Namen sind einerseits mit dem allgemeinen Gottesbegriff „ntr“ zusammengesetzt, der in späteren Parallelinschriften der hellenistischen Zeit mit „theos“ übertragen wird und noch im koptisch-christlichen Gottesnamen „noyte“ fortlebt, andererseits mit konkreten Namen männlicher und weiblicher Gottheiten wie Re, Chnum, Ptah, Ka, Anubis, Hathor, Neith etc. Vorherrschend sind Satznamen über göttliche Eigenschaften wie „Gott ist freundlich“, „Ptah lebt“, „Groß ist die Macht der Neith“, es kommen jedoch auch Namensbildungen vor, die den Menschen in 36 Usener (wie Anm. 8), 353, formuliert diesbezüglich: „Der Name eines anerkannten Cultusgottes konnte auf einen Menschen nicht übertragen werden, bevor die alte religiöse Überlieferung völlig erschüttert war.“ Diese einschränkende Bemerkung gilt dem bis heute nicht voll befriedigend geklärten Phänomen, dass in hellenistischer Zeit einzelne Götternamen gerade unter Sklaven relativ häufig in unabgeleiteter Form begegnen, insbesondere Eros und Hermes. Zu weiteren Ausnahmen vgl. u. Anm. 42. 37 Zu Ägypten als klassischem Land der Namenmagie H. W. Obbink, De magische betekenis van den naam, inzonderheit in het oude Egypte, Amsterdam 1925. Zur frühchristlichen Namentheologie und Namenverehrung in Ägypten: Birger A. Pearson, Earliest Christianity in Egypt: Some Observations, in: derselbe und James E. Goehring (Hg), The Roots of Egyptian Christianity, Philadelphia 1986, 133, Colin H. Roberts, Manuscript, Society and Belief in Early Christian Egypt, London 1979, 26. 38 Peter Kaplony, Inschriften der ägyptischen Frühzeit, Ägyptische Abhandlungen 8, 1963; derselbe, Kleine Beiträge zu den Inschriften der ägyptischen Frühzeit, Ägyptische Abhandlungen 15, 1966, 40 f. 39 Hornung (wie Anm. 2), 32 f.
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einer Beziehung zur Gottheit charakterisieren wie Smr-ntr, d. i. „Gefährte Gottes“ oder Mrj-ntr, d. i. „Den Gott liebt“.40 Wesentlich erscheint in unserem Zusammenhang, dass sich schon in dieser ältesten Namenschicht in Ägypten theophore Frauennamen finden. Sie sind hier späterhin eine Selbstverständlichkeit. Namensbildungen, die ihre Trägerinnen und Träger als Dienerin und Diener, als Verehrerin und Verehrer, sogar als Tochter und Sohn einer Gottheit ausweisen, stehen völlig gleichberechtigt nebeneinander.41 Eine Besonderheit der ägyptischen Namenentwicklung ist es, dass sich eine große Zahl von Namen findet, die ohne jegliches Unterscheidungsmerkmal sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden können. Gerade theophore Namen begegnen darunter viele. „Der Ruhm des Ptah ist groß“ oder „Amon hat sich gnädig erwiesen“ konnte sowohl ein Mädchen wie ein Knabe genannt werden. In der Zeit des Alten Reichs sind solche geschlechtsneutrale Personennamen noch sehr selten, zu Beginn des Mittleren Reiches lässt sich jedoch geradezu eine Vorliebe für diese Namensformen erkennen.42 In hellenistischer Zeit verschwindet die Sitte des Doppelgebrauchs wieder. Das Bedürfnis, die Namen der Geschlechter genau zu unterscheiden, tritt deutlich hervor. Aber noch unter koptischen Christen finden sich vereinzelt Relikte des alten Brauchs.43 Das Phänomen ist in diesen Dimensionen – im interkulturellen Vergleich gesehen – einzigartig. Geschlechtergeschichtlich erscheint es besonders interessant, weil hier der Zusammenhang mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Grundzug evident ist: Ägypten als eine „weiche Kultur“ mit relativ ausgeglichenen Geschlechterrollen.44 Herodot berichtet, dass die Griechen von den Ägyptern den Glauben übernommen hätten, zwischen dem Charakter eines Menschen und dem des Gottes, der am selben Tag geboren ist, bestünde ein enger Wesenszusammenhang.45 Durch diesen Glauben scheint das Aufkommen theophorer Namen beeinflusst worden zu sein. Die ursprünglich monat40 Ebd., 33–36. 41 Hermann Ranke, Die ägyptischen Personennamen, Glückstadt 1952, 3. 42 Ebd. 4. Wenn damals gelegentlich auch Götternamen ohne Ableitung oder sonstigen Zusatz als Menschennamen begegnen, so handelt es sich dabei offenbar um die Verwendung von Kurzformen. 43 Ebd. 5. 44 Zu den relativ ausgeglichenen Geschlechterrollen der altägyptischen Kultur Erika Feucht, Die Stellung der Frau im alten Ägypten, in: Jochen Martin und Renate Zoepffel, Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 5/1), Freiburg/München 1989, 239–306. Der Begriff „weiche Kultur“ wurde in diesem Zusammenhang vom Ägyptologen Jan Assmann in seinem in der Einleitung dieses Sammelbandes S. 15 f zitierten Diskussionsbeitrag verwendet. Er diente der Kontrastierung gegenüber der als „agonal“ charakterisierten Kultur Griechenlands. 45 W. Schmidt, Artikel „Genethlios Hemera“, in: Pauly-Wissowa, Realenzykopädie 13, 1910, Sp. 1135.
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liche Feier von Göttergeburtstagen lässt sich in Griechenland sehr weit zurückverfolgen, die von Menschengeburtstagen jedenfalls bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. Theophore Namen werden hier seit dem ausgehenden 6. Jahrhundert häufiger. Sie gehören jedenfalls nicht zu den ältesten Schichten des Namenguts, sondern haben sich erst sekundär ausgebildet und stark verbreitet.46 Religiöse Einflüsse von auswärts sind dabei durchaus denkbar. Mit den ägyptischen theophoren Namen haben die griechischen einige Übereinstimmungen. Es gibt jedoch auch wesentliche Unterschiede. Die in Ägypten so weit zurückreichenden theophoren Satznamen fehlen völlig. Sie wären mit dem alten Prinzip der Namenskomposition aus zwei Elementen, das die Griechen mit anderen Völkern der indogermanischen Sprachgruppe gemeinsam haben,47 nicht vereinbar gewesen. Nach diesem Prinzip wurden auch die neuen theophoren Namen gebildet.48 Besonders häufig begegnen unter ihnen Zusammensetzungen aus -doros = „Gabe“ mit einem Götternamen, die das Kind als ein Geschenk der Gottheit auffassen wie Athenodoros, Artemidoros, Diodoros bzw. adjektivisch dazu gebildete Formen wie Herodotos, Theodotos, Theodosios. Solche Kompositionen entsprechen auch einem in Ägypten stark verbreiteten Namentyp. Zahlreich sind unter den griechischen theophoren Namen Zusammensetzungen mit -agoras, d. i. „von einem Gott verkündet oder zugesagt“, wie Athenagoras, Hermagoras, Pythagoras, mit -phanes = „erschienen“ wie Apollophanes, Herophanes, mit -genes = „abstammend“ wie Diogenes, Theogenes oder auf eine weibliche Gottheit bezogen Theagenes, mit -kles oder -kleides = „berühmt“ wie Hekatokles, Nymphokles, mit -krates = „Kraft“ wie Hermokrates, Nikokrates oder -philos = „geliebt“ wie Dionysophilos, Skamandrophilos, Theophilos. Hermann Usener hat in seiner berühmten Arbeit über Götternamen, in der er aus theophoren Namen Kulte rekonstruierte, die Belege dazu ausführlich zusammengestellt.49 In der Fülle dieses nach dem klassischen Namensystem aus zwei Elementen komponierten Namenguts finden sich fast überhaupt keine Frauennamen. Sie begegnen bloß unter den durch Suffixbildung von Götternamen abgeleiteten Bildungen. So entspricht einem Athenaios eine Athenaia, einem Apollonios eine Apollonia, einem Dionysios eine Dionysia. Auch die Formen Athenais, Bakchis, Herais gehören hierher.50 Hinter diesem Befund steht sicher mehr als bloß ein formales Problem sprachlicher Voraussetzungen der Namensbildung. Anders als in Ägypten, wo sich seit den ersten Anfängen theophore Frauennamen 46 Zur griechischen Namengebung im Überblick: Ernst Fraenkel, Artikel „Namenwesen“, in: PaulyWissowa, Realenzyklopädie (wie Anm. 45), 16, 1935, Sp. 1611–1670. Zum Aufkommen der theophoren Namen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Der Glaube der Hellenen 2, Berlin 1932, 98. 47 Fraenkel (wie Anm 46), Sp. 1615. 48 Ebd., Sp.1621. 49 Usener (wie Anm. 8), 351–356. 50 Ebd., 351.
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feststellen lassen, blieb in Griechenland – wenn auch vielleicht von Ägypten beeinflusst – dieses sakral bedeutsame Namengut lange Zeit hindurch im Wesentlichen auf Männer beschränkt. Die griechische Kultur war von ihren Ursprüngen her alles andere als eine „weiche Kultur“. Den traditionellen Geschlechterrollenmustern nach lässt sie sich eher als ein Kontrastmilieu verstehen.51 Im Spiegel der Namengebung kommt dies auch in den ursprünglich deutlich geschiedenen Zweitelementen der Frauen- und Männernamen zum Ausdruck, unter denen sich bei den Männern – wie in vielen anderen indogermanischen Sprachen auch – zahlreiche Hinweise auf die spezifischen Ideale einer Kriegerkultur finden.52 Auf diesem gesellschaftlichen Hintergrund mag es aufs Erste überraschend erscheinen, dass so viele der theophoren Männernamen auf weibliche Gottheiten bezogen sind.53 Wesensverwandtschaft mit einer Göttin tat der Männlichkeit offenbar keinen Abbruch. Es zeigt dies einmal mehr, wie verfehlt es ist, aus Rollenbildern und Machtkonstellationen im Götterhimmel auf das Geschlechterverhältnis unter den irdischen Verehrern schließen zu wollen. Aus Mythologien abgeleitete Matriarchatstheorien, wie sie gelegentlich noch immer vertreten werden, sollten auch von solchen onomastischen Befunden her neu überdacht werden.54 Unter ägyptischem Einfluss könnte sich auch die theophore Namengebung der Juden entwickelt bzw. verändert haben. Das lässt sich jedenfalls für die jüdische Militärkolonie Elephantine in Oberägypten feststellen, aus der in Papyri des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts zahlreiche Personennamen überliefert sind.55 Viele dieser Namen sind mit Gottesbezeichnungen zusammengesetzt, vereinzelt sogar mit ägyptischen.56 Parallelen zu den ägyptischen theophoren Namen lassen sich auch in der formalen Konstruktion feststellen. Anders als in Griechenland dominieren in Elephantine die theophoren Satznamen. Namen wie Mahseia, d. h. „Jahwe ist meine Zuflucht“, Shemajah, d. h. „Jahwe hörte“, oder Mibtahiah, d. i. „Jahwe ist mein Vertrauen“, könnten mit ausgetauschten Got51 Zu diesem Gegensatz zwischen der „weichen“ Kultur Ägyptens und der „agonalen“ des archaischen Griechenlands Martin und Zoepffel, Einleitung (wie Anm. 44), 16. 52 Zu diesem Wertegehalt der altgriechischen Namengebung im interkulturellen Vergleich Fraenkel (wie Anm. 46), vor allem Sp. 1619–21. 53 Vgl. dazu die detaillierte Zusammenstellung bei Usener (wie Anm. 49). 54 Die neuere Kritik an den aus Mytheninterpretationen abgeleiteten Matriarchatstheorien zusammengefasst bei Uwe Wesel, Der Mythos vom Matriarchat, Frankfurt a. M. 1980. Renate Zoepffel, Aufgaben, Rollen und Räume von Mann und Frau im archaischen und klassischen Griechenland, in: Martin und Zoepffel (wie Anm. 44), schließt in ihren grundsätzlichen Ausführungen über den Mythos als Quelle (443–448) hier an. 55 Bezahel Porten, Archives from Elephantine. The Life of an Ancient Jewish Military Colony, Berkeley 1968. 56 Ebd., 134 ff., 251.
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tesbezeichnungen auch von Ägyptern getragen worden sein. Spezifisch jüdische Elemente wurden in den zahlreichen Anklängen an Psalmverse erkennbar. In Hinblick auf die hier besonders interessierende Geschlechterproblematik erscheint wesentlich, dass solche theophore Satznamen in Elephantine durchaus auch von Frauen getragen werden können. Die drei zitierten Beispiele etwa stammen aus der Familie einer Hausbesitzerin mit Namen Mibtahiah, deren Privatarchiv sich erhalten hat.57 Eine ihrer Nichten trug den gleichen Namen – ein Hinweis, dass schon in dieser frühen Phase theophorer Namengebung dieses Namengut neben Gottesbeziehungen zugleich auch Familienbeziehungen auszudrücken versuchte. Im Zentralraum des jüdischen Siedlungsgebiets verlief die Entwicklung der theophoren Namengebung allerdings ganz anders als in der Militärkolonie am fernen Nil. Die Bücher des Alten Testaments geben in vielfältiger Weise Aufschluss über Sitten der Namengebung und dabei verwendetes Namengut.58 Satznamen haben auch hier eine lange Tradition und spielen bei der theophoren Namengebung eine wichtige Rolle. Als theophores Namengut sind vor allem die mit El- und mit Jahwe – der gemeinsemitischen und spezifisch jüdischen Gottesbezeichnung – komponierten Namen zu beachten. Solche Namen finden sich nun im Alten Testament fast ausschließlich bei Männern. Theophore Frauennamen sind seltene Ausnahmen.59 Zu nennen sind etwa Michal („Wer ist wie Gott“), der Name der jüngsten Tochter König Sauls und ersten Frau König Davids,60 oder Jedida („Von Jahwe geliebt“), der Name der Mutter König Joschijas.61 Atalja, d. i. „Jahwe hat seine Größe ge57 Ebd. 238. 58 Zur jüdischen Namengebung der biblischen Frühzeit Artikel „Names“ in Encyklopaedia Judaica 12 (1970) 803–807, Artikel „Names (personal)“ in: The Jewish Encyclopedia 9, 152–154, Leopold Zunz, Die Namen der Juden, Leipzig 1837, E. Nestle, Die israelitischen Eigennamen nach ihrer religionsgeschichtlichen Bedeutung 1876, Max von Gruenwald, Die Eigennamen des Alten Testaments 1895, Buchanan G. Gray, Studies in Hebrew Proper Names, London 1896, Noth (wie Anm. 11), Gustav Hölscher, Zur jüdischen Namenkunde, in: Vom Alten Testament (Karl Marti zum siebzigsten Geburtstag), Gießen 1925, 148–157, Benzion C. Kaganoff, A Dictionary of Jewish Names and their History, London 1977, 39. 59 Artikel „Names“, in: Encyclopaedia Judaica 12, 1970, Sp. 806. Dieser Sachverhalt wurde schon früh als Argument für den „männlichen Charakter der Jahwereligion“ in Anspruch genommen. Rudolf Smend, Lehrbuch der alttestamentlichen Religions-Geschichte, Freiburg 1899, 165. Noth 61 (wie Anm. 11) hat dagegen eingewandt, dass Frauennamen im Alten Testament vor allem für die ältere Zeit überliefert sind, in der auch unter den Männernamen die profanen überwiegen, während für die nachexilische Zeit, aus der so zahlreiche theophore Männernamen überliefert sind, wenig über Frauennamen bekannt ist. Es handle sich also nur um eine „Ungenauigkeit der Statistik“. Die weitere Entwicklung des jüdischen Namenguts widerspricht dieser Deutung. 60 1 Sam 18,20. 61 2 Kön 22,1.
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zeigt“, hieß die Tochter König Achabs und der wegen ihrer Verfolgung der Jahwe-Anhänger berüchtigten Isebel.62 Diese Atalja war die einzige Frau, die im Königreich Juda regierte. Der Name begegnet noch ein zweites Mal, diesmal aber bei einem männlichen Träger aus dem Stamme Benjamin. Das gleiche Phänomen findet sich bei Abija („Gott ist mein Vater“), der ebenso sowohl als Frauen- als auch als Männername vorkommt. 63 Anders als in Ägypten sind jedoch solche geschlechtsneutrale theophore Namen bei den Israeliten in Palästina seltene Ausnahme, wie insgesamt den Gottesnamen einschließende Frauennamen hier nicht üblich gewesen zu sein scheinen. Theophores Namengut hat sich in der jüdischen Tradition in zweierlei Weise verbreitet. Einerseits wurden auf den Gottesnamen bezogene Personennamen wiederholt bzw. neu gebildet, andererseits kam es zur Nachbenennung nach großen Vorbildgestalten, die einen solchen Namen trugen. Die Nachbenennung nach religiös bedeutsamen Figuren aus der Geschichte der Religionsgemeinschaft ist dabei die jüngere Sitte. 64 Exakt unterscheiden lassen sich die beiden Entwicklungsstränge freilich nicht. Ob ein Sacharja/Zacharias, d. h. „Jahwe hat sich erinnert“, seinen Namen wegen der Bedeutsamkeit der religiösen Aussage oder wegen der Vorbildhaftigkeit des gleichnamigen Propheten erhielt, kann im Einzelnen schwer festgestellt werden. Von beiden Entwicklungen erscheinen Frauen ausgeschlossen. Weder die Namenswiederholung – etwa als innerfamiliäre Nachbenennung65 – noch die Nachbenennung nach Vorbildfiguren der Frühzeit führte zu einer Verbreitung theophorer Namen. Die Zahl solcher Vorbildfiguren war ja – wie gesagt – minimal. Und selbst die einzige jüdische Herrscherin regte nicht zur Nachbenennung nach ihrem theophoren Namen an. 62 2 Kön 11; 2 Chr. 22,10–12,23. 63 Kaganoff (wie Anm. 58), 100. 64 Das Auftreten von zwei Jakob und zwei Simeon/Simon unter den Aposteln zeigt, daß die Nachbenennung nach den Erzvätern damals schon üblich war. Jakob lag unter den häufigsten Männernamen in der Zeit vor der Zerstörung des zweiten Tempels an zehnter Stelle. Simeon nahm in dieser Rangliste sogar den ersten Platz ein (Ilan Tal, The Names of the Hasmoneans in The Second Temple Period, in: Eretz Israel 19, 1987, 238). In diesem Fall dürfte allerdings der Wortsinn „Erhörung“ für die Verbreitung des Namens wichtiger gewesen sein als die Nachbenennung nach dem im Buch Genesis eher negativ beschriebenen zweiten Sohn des Patriarchen Jakob. Zur Sitte, Kindern die Namen der Väter zu geben zur Zeit Jesu, Hölscher (wie Anm. 58), 152, in talmudischer Zeit Artikel „Names“ in: Encyclopaedia Judaica 12, Sp .808. 65 Die Nachbenennung nach Vorfahren und Verwandten, die sich bei den Juden der Militärkolonie von Elephantine schon früh nachweisen lässt und hier wohl auf ägyptisches Vorbild zurückgeht, hat sich in Palästina erst in hellenistischer Zeit durchgesetzt (Noth, wie Anm. 11, 57), Artikel „Names“, in: The Jewish Encyclopedia 9, S. 154.) In der Zeit Jesu galt diese Sitte, wie die Geschichte von der Namengebung Johannes des Täufers im Lukas-Evangelium zeigt (Lk 1,57-66), schon als selbstverständlich.
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Ein Weiteres kommt hinzu: Seit alters wurden in der jüdischen Tradition Frauen- und Männernamen sprachlich unterschieden. Während Töchter vorwiegend Namen erhielten, die der Umgangssprache im jeweiligen Umfeld der betroffenen jüdischen Gemeinde entnommen wurden, gab man Söhnen in der Regel hebräische Namen.66 In den Männernamen wurde also – anders als in Namen der Frauen – die alte Kultsprache beibehalten. Sie zeigen so insgesamt eine stärkere Beharrungskraft, vor allem aber eine höhere religiöse Bedeutsamkeit. Nach Epochen und Regionen in unterschiedlicher Intensität, der Tendenz nach jedoch stets analog zeigt sich dieses Phänomen: In der Sakralsprache gebildeten Männernamen stehen aramäische, griechische, lateinische, arabische oder deutsche Frauennamen gegenüber. Sicher zu Recht wird dieser onomastische Befund mit dem Nebeneinander zweier geschlechtsspezifisch besonders stark differenzierter Kulturen im Judentum in Zusammenhang gebracht: die universale hebräische Buchkultur der Männer ist deutlich abgehoben von der volkstümlich regionalen Subkultur der Frauen.67 Der religiöse Auftrag zum Studium der heiligen Schriften hat in der Tradition der Religionsgemeinschaft eben nur für Männer Geltung. Diese religiös bedingte Differenzierung in eine sakral- und eine volkssprachliche Kultur, die in einer sprachlichen Differenzierung der für Mädchen und Knaben gewählten Namen zum Ausdruck kommt, müsste nicht notwendig auch zu Unterschieden in den Konzepten der Namengebung führen. Theophore Frauennamen könnten ja in der jeweiligen Umgangssprache formuliert werden. Aber auch diesbezüglich ist der statistische Befund ziemlich eindeutig. In hellenisierten Judengemeinden, in denen sich Dutzende von Jonathans, Nathans oder Nathanaels als Theodor oder Dositheus bezeichnen, findet sich nur ganz vereinzelt eine Theodora oder eine Dosithea – also eine Frau, die als „Geschenk Gottes“ aufgefasst wurde.68 Im reichen Fundus an Personennamen, die für das früh- und hochmittelalterliche Judentum des Mittelmeerraums aus dem einmaligen Quellenbestand der „Geniza“ von Fustat/Altkairo erschlossen wurden, begegnen als seltene Ausnahmefälle eine Amat al-Aziz („Dienerin 66 Dieser sprachliche Unterschied der Namengebung nach Geschlechtern scheint sehr alt zu sein. Bereits unter den Frauennamen von Elephantine ist fast ein Drittel aramäisch – der Umgangssprache der Militärkolonie entsprechend – oder ägyptisch (Porten, wie Anm. 55, 250). 67 Shlomo D. Goithein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as portrayed in the Documents of the Cairo Geniza 3, Berkeley 1978, 315. 68 Vgl. dazu die Nennungen in: Corpus Papyrorum Judaicarum 1, Cambridge/Mass. 1957: Einer einzigen Nennung einer Dosithea, Tochter des Theodotos im Distrikt von Arsinoe aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, stehen 33 Dositheos gegenüber – rechnet man die Kurzform des Namens hinzu, so noch mehr (173 f). Bei Theodote zu Theodotos ist das Verhältnis 1:14, bei Theodora zu Theodoros 1:13 (177 f). Zur Entsprechung griechischer und hebräischer theophorer Männernamen in diesem Material Victor Tcherikover, Hellenistic Civilization and the Jews, Philadelphia 1959, 346, sowie Shimon Applebaum, Jews and Greeks in Ancient Cyrene, Leiden 1979.
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des Wohltätigen“) und eine Amat al-Wahid („Dienerin des Einzigen“).69 Zwei von ihnen stammen aus karäischen Familien, in denen mit einer stärker egalitär orientierten Position der Frauen gerechnet werden darf. Es stehen einander im Judentum also offenbar nicht nur zwei sprachlich, sondern auch nach dem Konzept differenzierte Namenkulturen der Frauen und Männer gegenüber. Theophore Namen, die einen unmittelbaren Bezug der Person zu Gott ausdrücken, waren – selbst wenn die Beziehung in der Volkssprache formuliert wurde – im Wesentlichen auf Männer beschränkt. Dass daraus Schlüsse auf den Status der Geschlechter in der religiösen Vorstellungswelt gezogen werden können, liegt auf der Hand. Wieweit darin gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse zum Ausdruck kommen, bedarf einer vorsichtigen Interpretation. Shlomo Goithein, der Bearbeiter des Geniza-Materials und wohl einer der besten Kenner der Sozialgeschichte des orientalischen Judentums formuliert dazu: “One must therefore reckon with the possibility that the absence of biblical and theophoric names among women was origninally not a matter of free choice but was a taboo imposed by males …”70
III. Zwischen den beiden jüngeren monotheistischen Schriftreligionen, die an das Judentum anschließen, zeigen sich in der geschlechtsspezifischen Differenzierung der theophoren Namengebung deutliche Unterschiede. In der grundsätzlichen Einstellung, dass „heilige Namen“, die die Gottesbezeichnung beinhalten, den Männern vorbehalten sein sollen, stimmt der Islam prinzipiell mit dem Judentum überein – ja er ist in dieser Frage wohl noch konsequenter. Die Parallele beruht jedoch nicht auf einer unmittelbaren Kontinuität. Durch die zahlreichen Bezugnahmen auf das Alte und Neue Testament im Koran hat der Islam zwar viele jüdische „Buchnamen“ übernommen, darunter aber kaum theophore.71 Jahia/Johannes gehört etwa diesbezüglich zu den wenigen Ausnahmen, wobei der ursprüngliche Wortsinn sicher längst nicht mehr geläufig war. Sein theophores Namengut – vor allem die so charakteristischen Abd-Namen – hat der Islam wohl eher aus seinen arabisch-polytheistischen als aus seinen jüdischen und christlichen Wurzeln entnom-
69 Goithein (wie Anm. 67), 497, Anm. 7. 70 Ebd., 315. 71 Eine Zusammenstellung der vom Islam übernommenen biblischen Namen bei Vroonen (wie Anm. 9), 312. Zu ergänzen wären hier etwa Jakub, Jusuf und Musa. In der oben zitierten Notiz über die Namengebung nach Wochentagen sind diese Namen dem Sonntag, Dienstag und Freitag zugeordnet (Ebied und Young, wie Anm. 19, 326).
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men.72 Sie haben sich freilich erst nach der Wende zum Monotheismus so reich entfaltet. Dementsprechend sind die Konzepte dieser theophoren Namen zum Großteil neu. Die Kompositionen aus den 99 „schönen Namen Gottes“ und der „Diener“-Bezeichnung stehen dabei im Vordergrund.73 Daneben finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf die Gottesbezeichnung „Allah“ mit anderen Beziehungsworten zusammengesetzt, wie AssadAllah („Löwe Gottes“), Fadl-Allah („Wohltat Gottes“) oder Nasr-Allah („Sieg Gottes“). 74 Auch unter ihnen begegnen neue Namenskonzepte. Die im Judentum so verbreiteten theophoren Satznamen, die etwa das nestorianische Christentum eigenständig weiterentwickelt hat,75 spielen keine Rolle. Wie im Namengut so sind auch in der Namensprache die Bedingungen im Islam anders als im Judentum. Eine vergleichbare Unterscheidung in Sakral- und Volkssprache mit einer korrespondierenden männlichen und weiblichen Namenkultur fehlt. Weder Kontinuitäten im Namengut noch strukturelle Bedingungen der Namensprache können so die Übereinstimmungen in der geschlechtsspezifisch differenzierten Verwendung theophorer Namen erklären. Es liegt nahe, die Gründe für diese Übereinstimmungen auf einer allgemeineren Ebene zu sehen, nämlich in analogen Vorstellungen über den Status von Frauen und Männern in ihrem Verhältnis zu Gott. Im Christentum ist die Entwicklung grundsätzlich anders verlaufen. Theophore Personennamen erscheinen für Frauen und Männer in gleicher Weise zugänglich. Das gilt auch für andere Typen religiöser Namengebung – für religiöse Symbolnamen, für Namen nach gewünschten religiösen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die man zusammenfassend als „fromme Namen“ charakterisieren könnte, für Namen nach religiösen Festtagen von Geburts- oder Tauftermin und schließlich für die Nachbenennung nach Heiligen – der landläufigen Vorstellung nach der christlichen Form der Namengebung schlechthin.76 Alle diese verschiedenen Formen „heiliger Namen“ wurden nicht geschlechtsspezifisch differenziert vergeben. In den verschiedenen Wellen der Verbreitung neuen religiösen Namenguts setzen sie sich bei Frauen und Männern in etwa gleichzeitig durch – mitunter in der weiblichen Namengebung sogar etwas früher, weil sie weniger traditionsgebunden und daher Innovationen eher aufgeschlossen ist als die männliche. Unterschiede in der je72 73 74 75 76
Caetani und Gabrieli (wie Anm. 10), 75 f. Vroonen (wie Anm. 9), 319 f. Vroonen (wie Anm. 9), 311 f. Ferdinand Justi, Iranisches Namenbuch, Marburg 1895, IX. Eine Systematik christlichen Namenguts nach religiösen Bezügen versucht Vroonen (wie Anm. 9), 260–283. Wenig sinnvoll, weil ohne Berücksichtigung der jeweiligen Bedeutsamkeit der gewählten Namen, erscheinen Systeme, die nach „alttestamentlich“ und „neutestamentlich“ unterscheiden, wie sie sich in philologischen und historisch-demographischen Analysen immer wieder finden (z.B. Bach, wie Anm. 20, 13, oder Perouas, wie Anm. 1, 17).
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weiligen Häufigkeitsverteilung solcher religiöser Namen unter den Frauen und Männern einer Population sind zwar immer wieder anzutreffen – sie können in der Regel aber aus anderen Faktoren erklärt werden als aus geschlechtsspezifisch differenzierten Ausdrucksformen des religiösen Status. Verallgemeinernd lässt sich sagen: Die christliche Namengebung ist hinsichtlich der Kategorie Geschlecht tendenziell egalitär. Eine solche pauschale Einschätzung bedarf freilich sogleich eines Vorbehalts: Die Forschungssituation über die Prinzipien christlicher Namengebung ist höchst unbefriedigend. Weder von theologischer noch von philologischer oder sozialhistorischer Seite liegen interkulturell vergleichende Gesamtdarstellungen vor, die einen Räume, Epochen und Konfessionen übergreifenden Überblick bieten würden. So bleiben Versuche einer Gesamtbeurteilung vorläufig. Neben wissenschaftsgeschichtlich erklärbaren Schwierigkeiten der genannten Disziplinen mit dem Thema religiöser Namengebung sind es vor allem zwei wissenschaftliche Vorurteile, die den Blick auf die Frage nach allgemeinen christlichen Namengebungsprinzipien verstellen. Beide sind miteinander inhaltlich verbunden. Das eine Vorurteil beruht auf einer von gewohnten Gegenwartsverhältnissen her verengten Perspektive: Christliche Namengebung wird als Nachbenennung nach Heiligen gesehen.77 Die hier primär interessierenden theophoren Namen, aber auch viele andere Formen religiös motivierter Namengebung kommen damit überhaupt nicht recht ins Blickfeld. Weil die Nachbenennung nach Heiligen, in der man die einzige christliche Form erblickt, angeblich erst seit dem 4. Jahrhundert deutlich zunimmt, wird für die frühchristliche Zeit eine Gleichgültigkeit gegenüber Fragen der Namengebung angenommen.78 Hierin liegt das zweite Vorurteil, das in dieser Allgemeinheit sicher auch nicht aufrechterhalten werden kann. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass es zumindest einen sehr starken Entwicklungsstrang frühchristlicher Namentheologie gab, dessen Anfänge schon in der Apostelgeschichte deutlich zu fassen sind.79 Die ältere Lehrmeinung, die 77 Dieses Vorurteil durchzieht etwa noch viele Beiträge des als Gesamtüberblick so beeindruckenden Sammelbandes L’ onomastique Latin, Paris 1977. Bezeichnend ist z.B. die Formulierung von Heikki Solin, Die innere Chronologie des römischen Cognomens, in seinem Resümee: „Die theophoren Namen finden sich bei Christen ebenso wie bei Heiden, selbst wenn der Name nicht durch einen gleichnamigen Märtyrer oder Papst (sic!) zu einem christlichen Namen geworden war“ (104). 78 Diese These von der „Gleichgültigkeit gegen die Namen bei den ältesten Christen“ geht auf einen kurzen Exkurs „Die Rufnamen der Christen“ bei Adolf Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2.Aufl. Leipzig 1906, zurück und wird bis in die neuere Literatur hinein immer wieder übernommen, so etwa bei Henri-Irénée Marrou, Problèmes généraux de l’onomastique chrétienne, in: L’onomastique (wie Anm. 77), 431, und Hans G. Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, Frankfurt a. M. 1991, 358 f. 79 Roberts (wie Anm. 37), Pearson (wie Anm. 37). Kernstück dieser frühchristlichen Namentheologie und Namensverehrung sind die sogenannten „nomina sacra“, eine streng begrenzte Zahl von
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von der prinzipiellen Indifferenz der frühen Christen in Namensfragen ausging, ließ die Frage gar nicht aufkommen, ob das Christentum in der religiös motivierten Namengebung einen innovatorischen Beitrag geleistet habe. Christliche Namen waren ja aus dieser Sicht bloß spätere Zutat, vom Ursprung her nichts essentiell Christliches. Sie konnten geradezu als Abweichung von den Prinzipien der Frühzeit angesehen werden. Eine ganz andere Perspektive ergibt sich, wenn man vom Vergleich mit jüdischer und islamischer Namengebungspraxis ausgeht. Bei einer solchen Zugangsweise wird sehr wohl spezifisch Christliches erkennbar. Gerade dem ausgeglichenen Verhältnis in den Konzepten von Frauen- und Männernamen kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Als Beispiel eines theophoren Namens, der von Anfang an in gleicher Weise sowohl in männlicher wie in weiblicher Form gegeben wurde, sei für die Zeit des frühen Christentums Cyriacus/Cyriace herausgegriffen. In den christlichen Inschriften – der frühesten Massenquelle über christliche Personennamen – begegnet in der Stadt Rom im 3. und 4. Jahrhundert dieser Name in verschiedenen Varianten am häufigsten, wobei die Femininform deutlich überwiegt.80 Trotz der lateinischen Form liegt ihm eine griechischsprachige theophore Bedeutung zugrunde. Cyriacus/Cyriace heißt „zum Herrn gehörig“ und leitet sich von der Gottesbezeichnung Kyrios d. i. „der Herr“ ab. Sicher ist die griechische Form Kyriakos/e die ältere. Auffallend erscheint, dass in der römischen Namengebung die lateinische Entsprechung Dominicus/Dominica – abgeleitet von „Dominus“ – viel seltener gewählt wurde.81 Kyrios war ein altes „nomen sacrum“ der Christenheit, das offenbar in der Ursprache beibehalten werden musste.82 Diese im Westen wie im Osten des Römerreiches besonders häufige theophore Namensbildung stellt eine ganz einfache adjektivische Ableitung vom Gottesnamen durch Hinzufügung eines Suffixes dar. Sie entspricht darin der Namensform Christianos/a d. i. „zu Christus gehörig“, die in der Frühzeit als Selbst- wie als Fremdbezeichnung von Angehörigen der Religionsgemeinschaft begegnet und die sich vom kollektiv verwendeten Namen zu einem in der christlichen Tradition Worten mit sakralem Charakter, die ihrer besonderen Heiligkeit wegen schriftlich nur verkürzt wiedergegeben werden – ein von der Paläographie längst festgestellter Sachverhalt, der freilich in seiner religionsgeschichtlichen Bedeutung erst auf Grund dieser neuen Forschungen voll bewusst wird. Zu diesen „nomina sacra“ gehören Jesus, Christos, Theos, Kyrios, Stauros, Soter, aber auch biblische Eigennamen wie Israel, David und Jerusalem. Für die Bildung christlich-theophorer Namen waren die „nomina sacra“ eine wichtige Grundlage. 80 44 Nennungen von Cyriace stehen 26 von Cyriacus gegenüber. Dazu kommen noch 9 Cyrillus und je ein Cyrias und Cyricus (Solin, wie Anm. 77, 114). Auch bei anderen theophoren Namen wie Theodorus oder Theophilus ist die Femininform in der Überzahl (ebd. 136). 81 Weibliche und männliche Form begegnen zusammen nur dreimal (Solin, wie Anm. 77, 115). Etwas häufiger ist die Ableitung Domninus zu finden (Ebd. 78). 82 Vgl. Anm.79.
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besonders häufig auftretenden individuellen Personennamen entwickelte.83 Sie entspricht darin aber auch den vorchristlich-hellenistischen theophoren Namensformen, die aus einem Gottesnamen und der Endung -ios/-ia komponiert wurden – wie wir gesehen haben der einzigen griechischen Bildungsform theophorer Namen, bei der sich häufig analoge Femininformen zu Männernamen finden.84 Zumindest in der sprachlichen Gestaltungsform haben vorchristliche Substrate die christliche theophore Namengebung stark beeinflusst, zum Teil aber auch darüber hi nausgehend im Bedeutungsgehalt einzelner Kompositionselemente. Damit wurde zugleich auch an vorchristliche Vorstellungen von Gottesbeziehungen angeknüpft. Vor allem im hellenisierten Osten konnte das Christentum diesbezüglich an einen reichen Fundus anschließen und aus ihm auswählen. Im lateinischen Westen fehlte diese Voraussetzung weitgehend. Das klassische römische Namensystem hatte ja keine theophoren Namen gekannt – zumindest keine, deren Bedeutungsgehalt noch bewusst gewesen wäre.85 Wo in christlichen theophoren Namen an vorchristliche angeschlossen wird, lässt sich in der christlichen Verwendung in der Regel die weibliche Parallelform feststellen. Das gilt etwa bei Theodor/Theodora. Auch im Christentum war die Auffassung des Kindes als „Gottesgeschenk“ sehr beliebt.86 Wir haben gesehen, dass unter hellenisierten Juden, bei denen der Name Theodor ebenso sehr häufig auftritt, die analoge Femininform seltene Ausnahme bleibt.87 Bei den Germanenstämmen, die auf dem Boden des Imperium Romanum Reiche begründeten und zum Christentum übertraten, fehlte ein vorchristliches Substrat an theophoren Personennamen im engeren Sinn des Wortes. Die Götternamen aus Asgard finden sich bei den Germanen nicht in gleicher Weise wie die der Olympier bei den Griechen. Eine Ausnahme bildet Thor. Zusammensetzungen mit dem Namen des Hammergottes begegnen in Nordeuropa häufig, und zwar sowohl in männlichen wie auch in weiblichen Namensformen.88 Es handelt sich jedoch hier um späte Neubildungen, die nicht 83 Zum Namen bzw. zur Bezeichnung Christianos in der christlichen Frühzeit Kippenberg (wie Anm. 78), 357–360. 84 Vgl. o. über hellenistische theophore Namensformen. 85 Zur theophoren Wurzel der Pränomina Tiberius und Mamercus, zu denen wohl auch Marcus zu stellen ist: Usener (wie Anm. 8), 356. 86 Solin (wie Anm. 77), 136. 87 Vgl. o. Anm 68. 88 Vgl. etwa die Zusammenstellung von Belegen bei Wilhelm Grönbech, Kultur und Religion der Germanen 2, Darmstadt 1961, 423–425. Zu den seltenen Nennungen der Götter Wotan und Freya in skandinavischen Namen vgl. Bruce Dickins, English Names and Old English Heathenism, in: Essays and Studies by Members of the English Association 19, Oxford 1934, 156. Vgl. weiters Bach (wie Anm. 20) 208.
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zur gemeinsamen Namentradition der Reiche bildenden Stämme gehörten.89 Sie haben sich in Skandinavien und vor allem in Island weit über die Christianisierung hinaus gehalten.90 Eine unmittelbare Korrespondenz zu christlich-theophorem Namengut ist hier nicht erkennbar. Als theophor in einem weiteren Verständnis des Wortes könnten eventuell germanische Tiernamen bezeichnet werden, soweit die betreffende Tierbezeichnung symbolisch für eine Gottheit steht.91 Der Löwe als Christussymbol findet sich nicht nur in zahlreichen lateinischen und griechischen Namensbildungen, sondern auch in germanisch-sprachigen, etwa beim Westgotenkönig Leowigild. Auch der Adler, der in den zahlreichen germanischen Arn-Namen begegnet, galt als Christussymbol.92 Von Kontinuitätslinien oder Analogien der Namengebung vom vorchristlichen Substrat her kann aufgrund solcher Spuren jedoch kaum die Rede sein. Wesentlicher erscheint die Frage, ob die mit der germanischen Göttergeschlechtsbezeichnung Asen gebildeten fränkischen Ans- bzw. angelsächischen Os-Namen nach der Christianisierung in einem neuen Gottesverständnis gegeben wurden.93 Von eigentlich theophoren Namen lässt sich bei den germanischen Stämmen jedoch erst sprechen, seit mit dem Kompositionselement god-/ got- = „Gott“ zusammengesetze Namensbildungen auftreten. Solche Formen lassen sich aber wiederum insofern schwer identifizieren als es zahlreiche Überschneidungen mit Namensbildungen aus ähnlich klingender Wurzel, aber mit abweichender Bedeutung gibt, etwa mit dem Adjektiv „gut“ oder dem Stammesnamen der Goten.94 Die germanistische 89 Richard Hünnerkopf, Zur altgermanischen Namengebung, in: Niederdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 9 (1931) 9, vermutet einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung der Thor-Namen bei den noch heidnischen germanischen Völkerschaften und dem parallel verlaufenden Prozess der Ausbreitung des Christentums. 90 Tomasson (wie Anm. 3), 283. Bemerkenswert erscheint im Zusammenhang mit dem Fortleben der alten Thor-Namen deren unterschiedliche Beharrungskraft bei Frauen und Männern verglichen mit den nach der Christianisierung stark aufkommenden theophoren Namensbildungen mit Gudh-. Auf der Frauenseite setzen sich auch hier die innovatorischen Formen stärker durch. Die Beibehaltung der Thor-Namen könnte so als Ausdruck der Bewahrung patrilinearer Familientraditionen gedeutet werden. Zur Verbreitung der Thor-Namen: Artikel Donar, in: Reallexikon der germanischen Altertumskunde 6, Berlin 1986, 1. 91 Gunter Müller, Studien zu den theriophoren Personennamen der Germanen, Köln/Wien 1970; derselbe, Zum Namen Wolfhetan und seinen Verwandten, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), 200–12. 92 Hannelore Sachs u.a. Erklärendes Wörterbuch zur christlichen Kunst, Hanau o. J., 243 und 20. Die Abbildbarkeit von Sakralem in der Kunst hat viel mit der „Abbildbarkeit“ im Namen zu tun. 93 Für eine Interpretation aus vorchristlich-heidnischem Verständnis plädiert Dickins (wie Anm. 88), 154. 94 Ebd.; weiters R. E. Zachrisson, English Names with -god, -got in the second element, in: Englische Studien 50 (1976/7), 355, Morlet (wie Anm. 25), 111 ff und 104 ff, Searle, Onomasticon (wie Anm.
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Forschung hat lange dazu tendiert, sich im Zweifelsfall für die Goten-Wurzel zu entscheiden, ebenso wie man in den mit Angel-, Engel- zusammengesetzten Namen lieber den Stamm der Angeln als die himmlischen Heerscharen der Engel repräsentiert sah.95 Der Blick auf die christlichen Wurzeln solcher Namen wurde dadurch verstellt und damit insgesamt auf Entwicklungen der sukzessiven Verchristlichung altgermanischen Namenguts. Dass ein karolingerzeitlicher Gottschalk oder Engilschalk nicht als „Knecht der Goten“ oder der „Angeln“ gedeutet werden kann, ist inzwischen Allgemeingut. Bezüglich früherer Perioden bleibt diesbezüglich noch viel aufzuholen. Warum sollte nicht ein Godegisel des 5. Jahrhunderts genauso christlich interpretiert werden? Im burgundischen Königshaus, wo sich dieser Name damals findet, begegnen mehrere mit dem Element God, also wohl „Gott“, zusammengesetzte Formen. Das Element -gisal = „Geisel“ wiederum meint ein besonderes Verhältnis der persönlichen Abhängigkeit, das auch für einen Königssohn akzeptabel war.96 So handelt es sich also wohl hier ebenso um einen „Diener Gottes“. Es wäre wohl auch schwer verständlich, warum man im burgundischen Königshaus für ein neugeborenes Kind den Dienst an den Goten zum Lebensprogramm erwählt haben sollte. Die Annahme, dass sich bei den christianisierten Germanenstämmen des Frühmittelalters sukzessive germanisch-sprachige Formen von theophorem und anderem christlichen Namengut verbreitet hätte, setzt voraus, dass es damals überhaupt eine vom Wortsinn ausgehende Namengebung gegeben habe.97 Das erscheint nicht von vornherein selbstverständlich. Entsprechend dem traditionellen Namensystem der meisten germanischen Stämme wurden die Namen der Kinder nach dem Prinzip der Namensvariation bestimmt: Jeweils eines oder auch beide Elemente, aus denen man den Namen komponierte, stellten Bezüge zu Familienangehörigen her. Dadurch konnte es auch zu Bildungen kommen, die der Bedeutung der beiden Namenselemente nach keinen passenden Sinn ergab. Belege für solche dem heutigen Verständnis nach „sinnlose“ Namen sind zahlreich. Für die Zeitgenossen lag der Sinn ja nicht in einer spezifischen Wortbedeutung, sondern in der Bezugnahme auf Verwandte. Als sich zunehmend über die Namensvariation hi22), 264. Dieter Geuenich, Samuel sive Sahso. Studien zu den cognomina im Reichenauer Verbrüderungsbuch, in: Name und Geschichte, Henning Kaufmann zum 80. Geburtstag, 1978, 94 ff. 95 Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch 2, Bonn 1900, Sp. 606 ff., Morlet (wie Anm. 25), 37 und 104. Bach (wie Anm. 20), 214. 96 Aus dieser germanischen Wortwurzel leitet sich die irische Bezeichnung gilla = „Diener“ ab, die im Einflussbereich der keltischen Kirchen in Zusammensetzung mit Gottesbezeichnungen und Heiligennamen zur Grundlage eines eigenen Typus der theophoren bzw. hagiophoren Namengebung wurde. Vgl. zu dieser Ableitung Julius Pokorny, Das nicht-indogermanische Substrat im Irischen, Zeitschrift für celtische Philologie 16 (1927) 371. 97 Zur Diskussion darüber Haubrichs (wie Anm. 29), vor allem 233.
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naus die unmittelbare Nachbenennung nach Familienangehörigen durchsetzte, kam es auch dadurch zur Verbreitung von Namensformen, die ihren Sinn nicht primär von der Wortbedeutung her gewannen. Es wäre jedoch eine zu weit gehende Schlussfolgerung, aus der Beobachtung dieser Prinzipien der Namensvariation bzw. der Namensrepetition die Frage nach dem Bedeutungsgehalt der so neu gebildeten bzw. weitergegebenen Namen für überflüssig zu halten. Bezugnahme auf Vorfahren und Verwandte schließt sinnvolle Neubildungen nicht aus. Viele lebensgeschichtliche Zeugnisse des Frühmittelalters verweisen darauf, dass die Bedeutung des jeweils gewählten Namens für die Zeitgenossen wichtig war. Vor allem aber sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. Jedes Personenregister eines Urkundenbuchs, jede Zusammenstellung der Nennungen von Namen nach der zeitlichen Abfolge in Namenbüchern macht es offenkundig: Aus christlichem Verständnis her sinnvoll komponierte Namen nehmen im Früh- und Hochmittelalter deutlich zu.98 Als Zufallsergebnis beliebiger Kombinationen von Namenselementen nach dem Variationsprinzip kann dieser statistische Befund wohl kaum aufgefasst werden. Von den Kompositionselementen her sind die christlichen Namensbildungen in den Germanenreichen ganz ähnlich konstruiert wie die griechischen theophoren Namen. Die Götterbezeichnung bzw. der jeweils verwendete sakrale Begriff bildet das erste Namenselement, das zweite drückt die Beziehung des Menschen dazu aus. Anders als bei den analog gebildeten griechischen Namen ist es bei den germanisch-christlichen der Regelfall, dass sowohl Männer wie Frauen in einer solchen Beziehung stehend aufgefasst werden können. Neben einem Godwin kann eine Godelive stehen, neben einem Engelhard eine Engelburg. Während im ersten Namensteil bei diesen christlichen germanischen Namen grundsätzlich Übereinstimmung besteht, ist das im zweiten Namensteil im Allgemeinen nicht der Fall. Die eingangs zitierte „Gottesmagd“ Cotesdiu neben dem „Gottesknecht“ Cotadeo ist diesbezüglich eher die Ausnahmeerscheinung. Eine Frau kann keinen mit -win oder -hard zusammengesetzten Namen tragen, auch wenn die „Freundschaft“ oder der „Mut“ auf Gott oder die Engel bezogen gedacht wird. Mit „Liebe“ oder „Geborgenheit“ im zweiten Namensteil gebildete Namen sind wiederum für Männer nicht zugänglich. Hier lebt das altgermanische Namensystem weiter, das ähnlich wie ursprünglich 98 Vgl. dazu etwa Morlet (wie Anm. 25) 1, 36 ff. zu Kompositionen mit Angil-/Engel-, 111 f. zu Kompositionen mit God-/Gott-. Nach den in der „Datenbank mittelalterlicher Personennamen“ erfassten datierbaren Nennungen (111.204 bis zum Ende des 11. Jahrhunderts) erreichten die mit Engel- zusammengesetzten Namen ihren Höhepunkt eindeutig im 9. Jahrhundert (8. Jh: 0,68%, 9. Jh.: 1,70%, 10. Jh.: 0,61%, 11. Jh.: 0,70%). Die mit God-/Godes- zusammengesetzten Namen entwickeln sich gleichmäßiger (8. Jh.: 0,39%, 9. Jh.: 0,39%, 10. Jh.: 0,41%, 11. Jh.: 0,45%). Herrn Kollegen Dieter Geuenich, Universität Duisburg, und seinem Mitarbeiter, Herrn Schreml, möchte ich herzlich dafür danken, dass sie mir diese Daten zur Verfügung gestellt haben.
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auch das griechische in der Namensbildung weiblicher und männlicher Personennamen geschlechtsspezifisch streng differenzierte Zweitelemente vorsieht. Auch die christlichen Namenskonzepte von Frauen und Männern bleiben also weiterhin deutlich geschieden. Das ermöglicht es, aus der Komposition „heiliger Namen“ zu erschließen, welche Beziehungsformen, Verhaltensweisen oder Eigenschaften in religiösem Kontext als typisch weiblich oder männlich gedacht wurden. Einige Beispiele dafür wurden ja bereits gegeben. Auffallend erscheint dabei, dass theophore Namenskonzepte, die im Lateinischen und Griechischen geschlechtsneutral verwendet werden, bei den germanischen Stämmen geschlechtsspezifisch differenziert begegnen. Während Theodor und Adeodatus problemlos eine Theodora und eine Adeodata zur Seite haben konnten, ist Godgifu nun ein eindeutig weibliches Konzept. Auch die Gottesliebe wird bei Frauen und Männern nicht in gleicher Weise formuliert. Der dem griechischen Theophil nachempfundene Gottlieb ist erst eine Kreation der Pietisten.99 Godelive hatte zu ihrer Zeit kein entsprechendes männliches Gegenstück.
IV. Die durch theophore und sonstige „fromme“ Namen geprägte Periode christlicher Namengebung vor dem Übergang zur Nachbenennung nach Heiligen eröffnet für die Forschung ein weites Arbeitsfeld. Die Philologie wird dabei manches aufzuarbeiten haben, was von allzu germanophil eingestellten Wissenschaftergenerationen als unhinterfragte Fachtradition übernommen wurde. Die christliche Religionsgeschichte wird den Namen als Quelle erst so richtig entdecken müssen. Für die Sozialgeschichte gilt mit veränderter Fragestellung ein Gleiches. Für eine geschlechtergeschichtlich interessierte Forschung ergeben sich in allen diesen Disziplinen vielfältige Möglichkeiten. Die prinzipielle Offenheit solcher „heiliger Namen“ für beide Geschlechter bei gleichzeitig deutlicher geschlechtsspezifischer Differenzierung der Namenskonzepte macht gerade diese Schicht christlichen Namenguts für eine Interpretation besonders interessant. Auch die christliche Nachbenennung nach Heiligen gibt der Forschung noch viele Fragen auf.100 Die methodische Zugangsweise ist hier freilich eine andere als bei den theopho99 Knaurs Vornamenbuch, Herkunft und Bedeutung, München 1985, 135. 100 Als Überblick über die ältere germanistische und religionsvolkskundliche Forschung dazu zusammenfassend Matthias Zender, Über Heiligennamen, in: Der Deutschunterricht 9, Stuttgart 1957, 72–91. An neueren germanistischen Untersuchungen, die freilich auch nicht wesentlich über die traditionellen Positionen des Fachs hinausführen, wären zu nennen: Klaus Walter Littger, Studien zum Auftreten der Heiligennamen im Rheinland (Münsterische Mittelalter-Schriften 20,1975) und
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ren Namen bzw. analog aus religiösen Motiven gebildeten Namensformen. In der Analyse des Namenguts ist nicht mehr primär vom Namenssinn auszugehen, sondern von der Bedeutsamkeit der Vorbildfiguren und der Funktion der Nachbenennung. Heiligennamen vermitteln Heil in anderer Weise als „heilige Namen“, wie sie hier von theophoren Formen ausgehend untersucht wurden. Die Funktionen der Nachbenennung können sehr unterschiedlich sein. Zwei besonders wichtige seien hier exemplarisch erwähnt und in ihrer Bedeutung für geschlechtergeschichtliche Fragestellungen erläutert. Seit frühchristlicher Zeit wird nach „Heiligen“ nachbenannt, um ein Vorbild für die Lebensführung zu geben.101 Dieses Konzept der Ausrichtung an Vorbildfiguren der religiösen Tradition hat das Christentum bereits aus seinen jüdischen Wurzeln übernommen. Zu den Patriarchen und Propheten kamen hier die Apostel dazu, weiters die Märtyrer und Märtyrerinnen und schließlich die Bekenner und Bekennerinnen – die Letzteren freilich stets geringer an Zahl. Nicht alle christlichen Gemeinschaften der Spätantike und des Frühmittelalters haben diese im Ursprung jüdisch-christliche Tradition der Namengebung nach Leitbildern in gleicher Weise aufgegriffen. Wo sie sich durchgesetzt hat, stellt sich für eine geschlechtergeschichtlich interessierte Forschung die Frage, warum jeweils welche heiligen Gestalten für Frauen und Männer als Vorbildfiguren angesehen wurden. Namensvorbilder stellen bei einer solchen Kultur der Nachbenennung gleichsam verschiedene Facetten sakral begründeter Geschlechterrollenstereotype dar. Deutlicher als im Christentum, wo diese Funktion der Nachbenennung durch andere vielfach überlagert wurde, findet sie sich im Judentum.102 Wenn man Kinder hier Hannah oder Samuel, Esther oder Mordechai nannte, so gab man ihnen damit wirklich ein an Vorbildgestalten der heiligen Schriften orientiertes Lebensprogramm. Das gilt in ähnlicher Weise auch für die Volker Kohlheim, Regensburger Rufnamen des 13. und 14. Jahrhunderts. Linguistische und sozioonomastische Untersuchungen zu Struktur und Motivik spätmittelalterlicher Anthroponymie, Wiesbaden 1977. 101 Ausführlich formuliert begegnet dieses Konzept erstmals um 388 in den Homilien zur Genesis des Johannes Chrysostomus. Die Neugeborenen sollten durch die Benennung, die sie erhielten, zum Tugendstreben angeleitet werden. Deswegen sollten die Eltern ihnen nicht die Namen von Großvätern oder Urgroßvätern geben, sondern von „heiligen Männern, die durch Tugend hervorragten und mit Zuversicht vor Gott auftreten konnten“. Hinsichtlich der realen Praxis sehr vielsagend ist die bereits damals angesprochene Warnung an Eltern und Kinder, nicht auf solche Namen an und für sich ihr Vertrauen zu setzen, „denn eine Benennung bringt keinen Nutzen, wenn sie leer an Tugend ist“ (Migne, Patrologia Graeca 53, 179, vgl. dazu Walter Dürig, Geburtstag und Namenstag, München 1954, 50 f). 102 Zu den Bestimmungen des Talmud über die Nachbenennung nach Menschen gemäß deren Taten sowie die vier Kategorien solcher Namensvorbilder vgl. Artikel „Names“, in: Encyclopaedia Judaica 12 (1970), Sp. 808.
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„Buchnamen“ des Korans.103 Eine Nachbenennung von Töchtern nach männlichen Leitfiguren oder von Söhnen nach weiblichen ist in einer solchen Namenkultur unmöglich. Das orthodoxe Judentum kannte keine Daniela oder Samuela wie das Christentum seit alters eine Stephana, eine Philippa, eine Jakometa oder eine Petronilla. In Zeiten, in denen die römische Kirche die Vorbildfunktion der Heiligennamen stark betonte, wurden solche Femininformen auch untersagt, weil Mädchen sich nur an heiligen Frauen orientieren könnten und erst recht Knaben nur an heiligen Männern.104 Stärker als die kirchenoffiziell immer wieder so sehr in den Vordergrund gestellte Vorbildfunktion hat in der gesellschaftlichen Realität die Schutzfunktion der Heiligen die christliche Namengebung beeinflusst.105 In der jüdischen oder auch in der islamischen Nachbenennung nach religiös bedeutsamen Gestalten spielt diese Funktion keine Rolle. Ein Namenspatronat im christlichen Sinne ist in den beiden anderen monotheistischen Weltreligionen – dem Fehlen bzw. einer unterschiedlichen Bedeutsamkeit von Heiligen entsprechend – unbekannt. Dieses spezifisch christliche Namenspatronat erscheint als der entscheidende Grund dafür, dass die Nachbenennung nach Heiligen zum Inbegriff christlicher Namengebung schlechthin geworden ist. Man glaubte, durch die Nachbenennung den Schutz des Heiligen in den Nöten des Diesseits, vor allem aber für das Seelenheil im Jenseits gewinnen zu können. Dieser Glaube hat sich als äußerst wirkkräftig erwiesen. Von Byzanz und seinen Vorposten auf der Apenninenhalbinsel ausgehend setzte sich im Lauf des Mittelalters die Namengebung nach Heiligen fast in ganz Europa durch.106 Sie 103 In der Sure 21 des Korans, genannt „die Propheten“, nimmt Mohammed nachdrücklich gegen die Heiligenverehrung Stellung. Er zählt dann namentlich die Gestalten des Alten und Neuen Testaments auf, die Gott als Propheten zu den Menschen gesandt hat. „Wir bestimmten sie zu Vorbildern in der Religion“ heißt es hier weiter unter Hinweis auf die jeweils vorbildhaften Taten und Eigenschaften. Es sind dieselben Gestalten, die sich in der zitierten Notiz über die Namengebung der an bestimmten Wochentagen Geborenen als Vorbilder der Nachbenennung empfohlen finden (Ebyed und Young, wie Anm. 19). Hier kommen freilich noch vorbildhafte Persönlichkeiten aus der Verwandtschaft und dem Umfeld des Propheten hinzu. 104 Dupâquier (wie Anm. 1), 44. Burguiére, in L’homme (wie Anm. 1), 40, Muriel Augustini, Noms de baptême dans quatre paroisses de la Beauce et de Perche au XVIIe siècle, in: Population 44 (1989), 447. 105 Dies deutet sich schon in der Warnung des Johannes Chrysostomus im ausgehenden 4. Jahrhundert an (vgl. o. Anm. 101). Einige Jahrzehnte später formuliert Theodoret von Cyrus dann ganz eindeutig: „Die Namen der Märtyrer aber wissen alle besser als die Benennung ihrer Verwandten. Und ihren Kindern beeifern sie sich, deren Namen zu geben, um ihnen dadurch Sicherheit und Schutz zu erwirken“ (Migne, Patrologia Graeca 83, 1033; dazu Dürig, wie Anm. 101, 50). 106 Über die Konzentration auf Heiligennamen, den dadurch einsetzenden Namenschwund und das damit in Zusammenhang stehende Aufkommen von Familiennamen in Byzanz Evelyne Patlagean, Les débuts d’une aritocratie byzantine et le témoignage de l’historiographie: système de noms et
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verdrängte theophore Namen und analoge Namensformen. Es wurde wichtiger, die Beziehung zu einem Heiligen im Namen auszudrücken als die Beziehung zu Gott. Diese Bedeutung erhielten die Heiligennamen nicht primär durch ihre Vorbildfunktion, sondern durch ihre Schutzfunktion. So kann die Häufigkeitsverteilung von Heiligennamen in einer mittelalterlichen Population nicht so sehr als Spiegel religiös erstrebenswerter Eigenschaften und Verhaltensweisen gedeutet werden. Sie ist viel mehr ein Abbild der Vorstellungen über die himmlischen Einflussmöglichkeiten der nachbenannten Heiligen. Die heilige Barbara ist als Helferin in der Sterbestunde als Patronin wichtig, der heilige Petrus als Himmelspförtner. Weibliche und männliche Heilige haben diesbezüglich sehr unterschiedliche Funktionen, sie sind aber nicht nach geschlechtsspezifischen Kriterien verteilt und sie können auch für Personen des anderen Geschlechts wahrgenommen werden, vor allem von heiligen Männern für Frauen. Denn – abgesehen von der Stellung Mariens als Gottesmutter – aus der Perspektive des Namenspatronats erweist sich der Einfluss von Männern im Himmel als weit bedeutsamer. Daraus auf reale Verhältnisse der Machtverteilung zwischen den Geschlechtern zu schließen, wäre freilich methodisch verfehlt. Es wurde schon unter Bezugnahme auf die Olympier betont: Machtverhältnisse im Himmel sind grundsätzlich anders. Genauso wie theophore Namengebung wird Namengebung nach Heiligen von Prozessen der innerfamilialen Nachbenennung begleitet und vielfach überdauert. Wenn ein Sohn den Namen Gottschalk oder Petrus erhält, so ist damit nicht notwendig eine Beziehung zu Gott oder zum Apostelfürsten angesprochen, sondern vielleicht bloß eine zum Großvater. Es kann auch beides nebeneinander gemeint sein. In der christlichen Namengebung ist das sogar die Regel. Durch innerfamiliale Nachbenennung kann es in einer Population zu geringfügigen Veränderungen in Häufigkeitsverteilungen von Namen kommen, nicht aber zu quantitativ bedeutsamen Verschiebungen und schon gar nicht zu strukturellen Veränderungen des Namenguts. Neue Namen, vor allem aber neue Typen von Namen signalisieren in einem System der Nachbenennung stets umfassende Prozesse des Wandels auf gesellschaftlicher Ebene. Frauennamen reagieren auf solche Prozesse in der Regel schneller als Männernamen, jedenfalls in Gesellschaften mit patrilinear orientiertem familialem Traditionsbewusstsein. Die Namengebung der Söhne ist hier stärker ahnenbezogen als die der Töchter und damit tendenziell konservativ. Hinsichtlich des patrilinearen Bezugs gibt es jedoch graduelle Unterschiede. Auch dabei spielen religiöse Faktoren eine Rolle. Wenn sich in einer Religionsgemeinschaft das Namengut von Frauen und Männern in etwa in gleichem Tempo erneuert, dann ist das patrilineare Ahnenliens de parenté aux IXe – Xe siècles, in: Michael Angoldt (Hg.), The Byzantine Aristocracy IX to XIII Centuries, Oxford 1984, 23–48).
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bewusstsein in ihr nicht besonders stark fundiert. Dass im Christentum bei Frauen und Männern Heiligennamen den Namen der Vorfahren so starke Konkurrenz machen konnten, ist ein Zeichen geringer religiöser Bedeutung des Ahnenbewusstseins. Auch das erscheint als ein wesentliches Thema einer an Namen interessierten Geschlechtergeschichte.
3. Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters
I. Was Karl den Großen veranlasst haben mag, seinen 778 geborenen Zwillingssöhnen die alten merowingischen Königsnamen Chlodwig und Chlothar zu geben, ist ein in der Forschung viel diskutiertes Problem1. Als völlig selbstverständlich und keines weiteren Kommentars bedürftig gilt hingegen die Namenswahl seines Erstgeborenen aus seiner Vollehe mit Königin Hildegard, dem er seinen eigenen Namen übertrug2. Für den Genealogen, der es gewohnt ist, sich an der Weitergabe von „Leitnamen“ zu orientieren, erscheint daran auch überhaupt nichts bemerkenswert3. Für die Zeitgenossen dürfte frei1 G. Tellenbach: Zur Bedeutung der Personenforschung für die Erkenntnis des früheren Mittelalters. Freiburg 1957, 21 (Freiburger Universitätsreden NF 25). – P. E. Schramm: Karl der Große. Denkart und Grundauffassungen – Die von ihm bewirkte Correctio („Renaissance“). HZ 198 (1964) 311. – K. A. Eckhardt: Merowingerblut. I: Die Karolinger und ihre Frauen. 1965, 12 f. und 59. – O. G. Oexle: Die Karolinger und die Stadt des heiligen Arnulf. Frühmittelalterliche Studien l (1967) 270. – E. Hlawitschka: Merowingerblut bei den Karolingern? In: Adel und Kirche. Festschrift für G. Tellenbach. 1968, 90 f. – P. Classen: Karl der Große und die Thronfolge im Frankenreich. In: Festschrift für H. Heimpel. Bd. 3. 1972, 113 f. – W. Störmer: Früher Adel. 1973, 39 f. (Monogr. z. Gesch. d. Mittelalters 6). – K. A. Eckhardt: Studia Merovingica. 1975, 91 ff. (Bibliotheca rerum historicarum 11). – R. Wenskus: Zum Problem der Ansippung. In: Festgabe O. Höfler. 1976, 646 ff. – Ders.: Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel. 1976, 469. – E. Hlawitschka: Studien zur Genealogie und Geschichte der Merowinger und der frühen Karolinger. Rhein. Vierteljahrsblätter 43 (1979) 25 ff. – G. Tellenbach: Die Grundlagen der karolingischen Thronfolge. Frühmittelalterliche Studien 13 (1979) 241 ff. – J. Jarnut: Chlodwig und Chlothar. Anmerkungen zu den Namen zweier Söhne Karl des Großen. Francia 14 (1985) 645 ff. 2 Über diesen sonst wenig beachteten karolingischen König vor allem Classen: Karl der Große und die Thronfolge 1972, 110 ff. 3 Zum System der Leitnamen grundsätzlich Wenskus: Stammesadel 1976, 41 ff. – K. F. Werner: Liens de parenté et noms de personne. Un problème historique et méthodologique. In: G. Duby /]. Le Goff (Hrsg.): Famille et parenté dans l’occident médiéval. 1977, 13 ff. und 25 ff. (Collection de l’école française de Rome 30). – Über lateinische Leitnamen M. Heinzelmann: Les changements de la
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3. Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten
lich diese Art der Namengebung nicht ganz so selbstverständlich gewesen sein. Immerhin war Karl der Große der erste Frankenkönig, der seinen ältesten legitimen Sohn nach sich selbst benannte. Die Nachbenennung nach dem Vater ist eine Form der Namengebung, die auf Namensgleichheit zwischen Lebenden abzielt. Historische Forschungen, die auf der Grundlage des Leitnamenprinzips arbeiten, machen nur selten einen Unterschied zwischen der Übertragung von einem Lebenden und von einem Verstorbenen. Geht es um die Rekonstruktion individueller Familienzusammenhänge, so ist diese Frage vielleicht auch nicht von zentraler Bedeutung. Ein anderes Gewicht hat sie als strukturelles anthropologisches Problem. Der Name beinhaltet stets grundsätzliche Aussagen über die Identität von Menschen. Es ist daher nicht gleichgültig, ob bei der Namengebung ausschließlich auf verstorbene Personen Bezug genommen wird oder auf Lebende und Verstorbene in gleicher Weise. In der Familie Karls des Großen scheint diesbezüglich eine Wende stattgefunden zu haben. Sie eignet sich daher für einen exemplarischen Einstieg in die allgemeinere Problematik. Karl der Große hat nicht nur den ältesten Sohn aus einer Vollehe nach sich selbst, sondern auch drei Töchter nach noch lebenden Verwandten benannt4. Als erste erhielt die um 779/80 geborene Bertha den Namen der verwitweten Königin-Mutter, die drei Jahre später verstarb. 781 wurde die nächste Tochter auf den Namen von Karls einziger überlebender Schwester Gisela getauft. 782 schließlich kam es analog zur Vater-Sohn- zu einer Mutter-Tochter-Nachbenennung. Die jüngste Tochter aus der Ehe mit Hildegard bekam den Namen der Königin. In der karolingischen Dynastie waren das die ersten Nachbenennungen nach Lebenden bei Töchtern. Die Konzentration innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren signalisiert besonders anschaulich den Wechsel zu einem neuen Prinzip der Namenswahl. Probleme wirft die Namengebung von Pippin dem Buckligen auf – dem ältesten Sohn Karls des Großen von seiner adeligen Konkubine Himiltrud5. Obwohl nicht dénomination latine à la fin de l’antiquité. Ebenda 23. – Das Prinzip der Nachbenennung für das Frühmittelalter generell in Frage stellend L. Holzfurtner: Untersuchungen zur Namensgebung im frühen Mittelalter nach den bayerischen Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts. ZBLG 45 (1982) 3 ff. – Kritisch dazu H.-W. Goetz: Zur Namengebung in der alemannischen Grundbesitzerschicht der Karolingerzeit. ZGO 133 (1985) l ff. 4 Zu diesen Zusammenhängen die Stammtafeln bei K. F. Werner: Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000. In: W. Braunfels (Hrsg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. Bd. 4. 1967, Anhang. – E. Hlawitschka: Die Vorfahren Karls des Großen. Ebenda 1, 1965, nach 72. 5 Silvia Konecny: Die Frauen des karolingischen Königshauses. Die politische Bedeutung der Ehe und die Stellung der Frau in der fränkischen Herrscherfamilie vom 7. bis zum 10. Jahrhundert. Wien 1976, 65 ff. – Classen: Karl der Große und die Thronfolge 1972, 118 ff.
3. Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten
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aus einer Vollehe geboren, erhielt er den Namen seines königlichen Großvaters. Ob das noch zu dessen Lebzeiten geschah oder bereits nach dessen Tod, lässt sich schwer entscheiden. Die Verbindung Karls zu Himiltrud wurde vielleicht schon 763 aufgenommen6. Ein Geburtstermin vor 768, dem Todesjahr des Königs, wäre dann durchaus wahrscheinlich. Namensgleichheit mit einem lebenden Verwandten bestand bei Pippin dem Buckligen auf alle Fälle. Auch Karls Bruder Karlmann hatte einen Sohn Pippin, der 770 zur Welt kam7. Die gesicherte Namengebung nach Lebenden führt bei den Karolingern bis in Karls des Grossen eigene Generation zurück. Zum Jahr 759 berichten die Annales Laurissenses: „Natus est Pippino regi filius, cui nomen suum imposuit, ut Pippinus vocaretur sicut et pater eius“, und in den Annales Laureshamenses heißt es dazu: „Mutavit rex Pippinus nomen suum in filio suo“8. Beide Quellen, die die Geburt des Kindes überliefern, nehmen also auch auf die besondere Namengebung Bezug. Pippin war der erste als Königssohn geborene Karolinger. Eine Salbung wie bei seinen beiden älteren Brüdern fand bei ihm nicht statt. Wie bei seiner älteren Schwester Gisela fungierte aber auch bei ihm der Papst als Taufpate. Eine interessante Zwischenstellung nimmt hinsichtlich der Form der Nachbenennung König Pippins zweiter Sohn Karlmann ein. Sein Geburtsjahr dürfte 751 gewesen sein. Auf alle Fälle liegt es vor 754, dem Todesjahr von Pippins älterem Bruder Karlmann. Der ältere Karlmann verzichtete allerdings 747 auf seine Herrschaftsrechte und zog sich als Mönch zunächst auf den Monte Soracte, dann nach Monte Cassino zurück. Es könnte sein, dass dieser Rückzug ins Kloster, vielleicht auch ein hier erfolgter Namenswechsel, seinen für die karolingische Herrschaft bedeutungskräftigen Namen für seinen Bruder verfügbar gemacht hat, wie das sonst erst nach dem Tod der Fall gewesen wäre9. Den damals glanzvollsten Namen der Familie vergab König Pippin jedenfalls erst nach dem Tod von dessen letztem Träger, nämlich den seines Vaters Karl Martell. Dieser ist am 22. Oktober 741 gestorben. Sein gleichnamiger Enkel kam nach älterer Lehrmeinung am 2. April des folgenden Jahres zur Welt10. In der neueren Literatur wird dem Geburtsdatum Dies vermutet Konecny: Die Frauen 1976, 65, aufgrund der damals erfolgten wirtschaftlichen Ausstattung der Söhne König Pippins. 7 Hlawitschka: Vorfahren 1965, 81. 8 L. Oelsner: Jahrbücher des Fränkischen Reiches unter König Pippin. Leipzig 1871, 324 f. 9 Zum so genannten „Klostertod“ O. Gierke: Deutsches Privatrecht. Bd. 1. 1895/1936, 364 f. R. Hübner: Grundzüge des deutschen Privatrechts. 5. Aufl. 1930, 57 f. – H. Planitz: Grundzüge des deutschen Privatrechts. 3. Aufl. 1949, 31. 10 So noch Classen: Karl der Große und die Thronfolge 1972, 112, in Anschluss an F. L. Ganshof: Over de geboordedatum van Karl de Grote. In: Dankwere, opstellen aangeboden aan Dr. D. T. Enklar. 1959, 43 ff., und ebenso Konecny: Die Frauen 1976, 48. 6
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747 der Vorzug gegeben.11 Wie dem auch immer sei – es handelte sich um Nachbenennung nach einem Verstorbenen. Es hat aber den Anschein, dass Karl Martell bereits zu Lebzeiten eine auf sich selbst bezogene Namenstradition zu begründen beabsichtigte. Die ungewöhnliche Neubildung des zu Karl variierenden Namens Karlmann weist in diese Richtung. Karl Martell bediente sich aber dabei eben noch des traditionellen Mittels der Namensvariation, nicht der unmittelbaren Nachbenennung des Sohnes nach dem Vater. Erst sein Sohn Pippin und noch betonter sein Enkel Karl sind diesen neuen Weg gegangen. Vor der Generation Karls des Großen gibt es bei den Karolingern kein gesichertes Zeugnis für eine Nachbenennung nach Lebenden. Genealogische Aufstellungen, die eine Überschneidung der Lebenszeit König Pippins mit der seines namengebenden Großvaters Pippin des Mittleren ausweisen, beruhen auf unexakten Datenangaben12. König Pippin verstarb am 24. September 768 in seinem 54. Lebensjahr, ist also nicht 714, sondern zwischen dem September 714 und dem September 715 geboren. Wäre er in den letzten Lebenswochen des schon seit längerem schwer erkrankten Großvaters, der am 16. Dezember 714 starb, zur Welt gekommen, so hätte man ihm wohl nicht dessen Namen übertragen13. Wahrscheinlicher ist eine Geburt nach dessen Tod mit einer Nachbenennungskonstellation wie zwischen Karl Martell und Karl dem Großen. Es spricht manches dafür, dass Karl Martell – gerade in der entscheidenden Phase des Kampfes um die Nachfolge – durch die Benennung seines Sohnes seinen Anspruch bekräftigen wollte. Ob Pippin der Mittlere auch durch seinen ältesten Sohn Drogo einen Enkel Pippin hatte, ist sehr zweifelhaft. Dieser Pippin wird nur ein einziges Mal in einer umstrittenen Urkunde für St. Arnulf in Metz von 715 genannt, noch dazu in einer Form, die die Filiation zu Drogo fragwürdig erscheinen lässt14. Falls er wirklich der Familie zuzurechnen wäre, müsste er seinen Namen 11 K. F. Werner: Das Geburtsdatum Karls des Großen. Francia l (1972) 115 ff. – Ihm folgend Hlawitschka: Genealogie 1979, 37. 12 Hlawitschka: Vorfahren 1965, gibt Pippins Geburtsjahr mit 714 an. 13 Oelsner: Jahrbücher 1871, 2. 14 „ideo nos in dei nomine Hugo sacerdos et germanus meus illuster vir Arnulfus dux necnon Pippinus et Godefridus, dum contigit, ut genitor noster, illuster vir Drogo, quondam de hac luce migraret […]“ (MG DD Merow. VII 43, Nr. 6). Gegenüber der älteren Auffassung, dass es sich um eine Fälschung handle, hat E. Mühlbacher, Zur Genealogie der älteren Karolinger. Forschungen zur deutschen Geschichte 19 (1879) 455 ff., die Echtheit dieser Urkunde vertreten. – G. Wolfram: Kritische Bemerkungen zu den Urkunden des Arnulfklosters. Jahrbuch der Gesellschaft für Lothringische Geschichte l (1888/89) 51 und 56, konnte zeigen, dass die Urkunde vom selben Schreiber stammt, der eine gefälschte Schenkung der Königin Hildegard an das Arnulfskloster von 783 angefertigt hat. Eindeutig als Fälschung erwiesen ist auch jene Urkunde von 691, in der Gottfried ausdrücklich als Sohn Drogos genannt wird, was in der von 715 ja nicht der Fall ist. Ebenda, 49
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schon zu Lebzeiten Pippins erhalten haben. Ähnlich unsicher ist schließlich eine dritte Nachbenennung nach Lebenden unter den älteren Karolingern. Jener Childebert, den sein Vater Grimoald von König Sigibert III. adoptieren ließ und damit zum fränkischen König machte, soll vor seiner Adoption wie sein Vater Grimoald geheißen haben15. Alle eindeutigen Zeugnisse von Namensgleichheit unter den älteren Karolingern weisen hingegen auf eine Praxis der Benennung nach verstorbenen Familienangehörigen, auch wenn wir über die Geburtsdaten der Nachbenannten nicht immer genau Bescheid wissen. Pippin der Mittlere ist sicher nach 640 geboren, dem Todesjahr seines mütterlichen Großvaters Pippin des Älteren, sein Sohn Grimoald sicher nach 662, dem Jahr, in dem sein gleichnamiger Großonkel umgekommen ist. Zwischen Drogos ältestem Sohn Arnulf und dem heiligen Arnulf von Metz, dem Ahnherrn der Dynastie, liegt ein großer zeitlicher Abstand. Drogos zweiter Sohn Hugo hat seinen Namen vielleicht vom Großvater seiner Großmutter Plektrudis, der Gattin Pippins des Mittleren16. Aber auch wenn er in Kurzform nach deren Vater, dem Pfalzgrafen Hugobert, benannt ist, so handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Nachbenennung nach einem Toten, da dieser 697/98 starb, Hugo aber um 700 geboren sein dürfte. Eine Kurzform eines alten Hausnamens liegt wohl bei Karl Martells drittem, nach 725 geborenen Sohn Grifo vor, der nach dessen 714 verstorbenen Halbbruder Grimoald benannt sein dürfte17. Der zweite Halbbruder Drogo, gestorben 708, lebt im Namen seines Großneffen fort. Dieser jüngere Drogo, ein Sohn König Karlmanns, ist wie sein Vetter Karl in den vierziger Jahren des 8. Jahrhunderts geboren – unmittelbar bevor es in der Dynastie zu einer Neuorientierung der Namengebungspraxis kam. Die neue Namengebung nach lebenden Familienangehörigen hat vor allem zu häufiger f. – Aus dieser Quellenlage werden in der Literatur unterschiedliche Konsequenzen gezogen: E. Hlawitschka: Zur landschaftlichen Herkunft der Karolinger. Rhein. Vierteljahrsblätter 27 (1962), nahm in seine beiden genealogischen Skizzen S. 10 und 17 Pippin nicht unter die Söhne Drogos auf, in: Die Vorfahren Karls des Großen 1965, 80, entschloss er sich jedoch dazu unter Berufung auf Mühlbacher und bekräftigte 1979 diese Zuordnung (Genealogie 1979, 55). – F. Prinz: Frühes Mönchtum im Frankenreich. 1965, 192, sieht in Pippin und Gottfried nicht Brüder der beiden Schenker von 715, sondern Verwandte. Auch bei Eugen Ewig: Descriptio Franciae. In: Braunfels: Karl der Große I 1965, 157, wird Pippin nicht als Sohn Drogos gezählt. Ebenso fehlt er bei Oexle: Karolinger 1967, 273. 15 Hlawitschka: Merowingerblut 1968, 86; Ders.: Genealogie 1979, 67. – Wenn bei Childebert tatsächlich eine „mutatio nominis“ erfolgt ist, wie Hlawitschka annimmt, so lässt sich schwer erklären, warum die Königsliste der Frankenchronik neben dem Königsnamen auch den angeblich ihm vorangegangenen gebraucht. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass eine Bezugnahme auf den Vater vorliegt. 16 A. Halbedel: Fränkische Studien. 1915, 20, vermutet einen Hugus, der um 617 Hausmeier in Austrasien gewesen sein dürfte, als Vater Pfalzgraf Hugoberts. Vgl. Hlawitschka: Vorfahren 1965, 74. 17 Classen: Karl der Große und die Thronfolge 1972, 129.
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Namensgleichheit zwischen Vater und Sohn geführt. Fast jeder der karolingischen Könige gab seinen Namen an einen seiner Söhne weiter. Nicht immer war das wie bei Karl dem Großen der jeweils älteste aus einer Vollehe. Aber auch dieser Fall wiederholt sich – so bei Pippin von Aquitanien, bei Ludwig dem Jüngeren und bei Ludwig dem Stammler. Nur ganz wenige Karolinger verzichteten auf diese Form der Nachbenennung – im westfränkischen Reich Karl der Einfältige und sein Enkel Lothar, im ostfränkischen Kaiser Arnulf. Bei letzterem ist der Grund dafür klar: Als Sohn aus einer Friedelehe seines Vaters trug er selbst keinen traditionellen Königsnamen. Sein einziger legitimer Sohn durfte daher seinen Namen nicht übernehmen. Seltener als zwischen Vater und Sohn begegnet im karolingischen Königshaus eine Namensgleichheit zwischen Mutter und Tochter. Das heißt freilich nicht, dass die neue Sitte der Nachbenennung nach Lebenden unter den weiblichen Angehörigen weniger praktiziert worden wäre18. Es wurde jedoch von den Karolingern auch bei den Töchtern darauf geachtet, die traditionellen Hausnamen zu berücksichtigen, so dass es eher zu einer Weitergabe der Schwesternamen als der Namen der Gattinnen kam. In Hinblick auf die vielen Trägerinnen und Träger des gleichen Namens erscheint es allerdings insgesamt schwierig, Aussagen darüber zu machen, wer jeweils nach wem hieß. Der neue Brauch, ein Kind nach einer noch lebenden Person zu benennen, hat im karolingischen Königshaus dazu geführt, dass vielfach ein Name nicht nur durch zwei, sondern durch mehrere Träger gleichzeitig repräsentiert war. So gab es zum Zeitpunkt des Todes Kaiser Ludwigs des Frommen im Jahre 840 nicht weniger als fünf Träger dieses Namens, nämlich neben dem Kaiser selbst seinen Sohn, zwei Enkel und einen Neffen, der – obwohl in weiblicher Linie verwandt – durch sein Aufwachsen am Hof zur kaiserlichen Familie gerechnet werden darf. Der Name Karl war um 860 durch den westfränkischen König, seinen Sohn und drei seiner Neffen vertreten. Von den Frauennamen begegnet vor allem Gisela zur gleichen Zeit mehrfach. Die Aufgabe des Prinzips, nur nach Toten nachzubenennen, machte eine solche Konzentration auf einige sich ständig wiederholende Leitnamen möglich. Das Bild der karolingischen Namengebung in der Königszeit unterscheidet sich dadurch ganz wesentlich von dem der Hausmeierzeit, aber auch von der Praxis in der merowingischen Dynastie.
18 Vgl. dazu Werner: Nachkommen 1967, 420 und Stammtafel.
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II. Ohne auf das parallele Phänomen in der Nachbenennung der Töchter einzugehen, das den Gesamtzusammenhang bekräftigt, haben einige Autoren auf diesen Umschwung in der Namengebung der Karolinger hingewiesen. Schon 1893 beschäftigte sich Gustav Storm in einem Artikel im „Arkiv för nordisk Filologi“ mit dieser Frage19. Auf ihn stützte sich Karl August Eckhardt in seinem 1937 erschienenen Buch „Irdische Unsterblichkeit“20. Der ideologische Kontext von Eckhardts Publikation – „die Verknüpfung der Namengebung mit dem Wiederverkörperungsglauben“ als „Erbgut der arischen Vorfahren“21 – war freilich späterhin einer Übernahme seiner Gedanken nicht gerade förderlich. In seinen 1975 erschienenen „Studia Merovingica“ kam Eckhardt nochmals auf das Thema zurück, zum Teil mit wörtlichen Zitaten seiner Ausführungen von 193722. Diesmal waren es wohl seine äußerst gewagten genealogischen Konstruktionen über die merowingische Abstammung der Karolinger, die einer Akzeptanz seiner Ausführungen über die karolingische Namengebung entgegenstanden. Sein Hauptkritiker Eduard Hlawitschka begnügte sich 1979 mit einer einzigen Anmerkung, um die These von der Nachbenennung nach Toten abzutun23. In der neueren Literatur wird sie überhaupt nicht mehr erwähnt. Eckhardt kommentiert den Umschwung der Nachbenennung bei den Karolingern: „Mit dem Erwerb der Königskrone durch Pippin hat die Änderung der Auffassung selbstverständlich nichts zu schaffen. Gerade das Königshaus der Merowinger war ja bei der Einführung der Nachbenennungssitte mit seinem Vorbild vorangegangen, und die Karolinger hätten durch die Nachfolge auf dem merowingischen Thron in ihrer bisherigen Auffassung nur bestärkt werden können. Wir brauchen aber nicht weit zu suchen, um den wahren Urheber dieses Anschauungswandels zu finden: es kann niemand anders sein als Bonifatius […]. Der Wandel der Auffassung fällt also zwischen 742 und 754, das heisst die 19 Gustav Storm: Vore Forfaedres Tro Sjaelevandring og deres Opkaldesesystem. Arkiv för nordisk Filologi 9 (1893) 207 ff. 20 K. A. Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit. Germanischer Glaube an die Wiederverkörperung in der Sippe. 1937, 63. 21 Ebenda, 51. 22 Ebenda, 121. 23 Hlawitschka: Genealogie 1979, 55 Anm. 227. Bezüglich der Karolinger verweist Hlawitschka hier auf die angebliche Nachbenennung eines Sohnes Herzog Drogos nach dessen Vater Pippin dem Mittleren noch zu dessen Lebzeiten (vgl. dazu o. Anm. 14), bezüglich der Merowinger auf einen bei Gregor von Tours erwähnten „parens“ König Theuderichs namens Sigiwald, der einen gleichnamigen Sohn hatte (Greg. Tur. III, 23). Über die Art der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Sigiwald und Theuderich ist nichts bekannt. Die Stellung Sigiwalds als Herzog der Auvergne spricht nicht für eine unmittelbare Zugehörigkeit zur Königsdynastie.
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entscheidenden Jahre des bonifazischen Wirkens. Wie an allem ‚Aberglauben‘, so musste der heilige Erzbischof auch an der Sitte, Kinder grundsätzlich nur nach Verstorbenen zu nennen, Anstoß nehmen und sie als ketzerisch verdammen.“24 Eckhardts Argumentation gegen eine Erklärung der neuen Nachbenennungspraxis der Karolinger aus ihrer Stellung als „stirps regia“ setzt formale Prinzipien der Namengebung vor inhaltliche: Weil die Merowinger nur nach Verstorbenen nachbenannten, hätten sich die Karolinger als deren Nachfolger in ihrer bisherigen Praxis bestätigt fühlen müssen. Nicht berücksichtigt wird dabei, dass Nachbenennung nach Verstorbenen für die ersten karolingischen Könige etwas ganz anderes bedeuten musste als für ihre merowingischen Vorgänger. Die Merowinger konnten – jedenfalls in ihrer Spätzeit – auf einen reichen Fundus traditionsreicher Königsnamen ihrer verstorbenen Vorfahren zurückgreifen. Bei den Karolingern war das zunächst nicht der Fall. Königsnamen gab es bei ihnen nur unter den Lebenden. Die Wahl eines Königsnamens scheint ihnen aber wichtiger gewesen zu sein als die Betonung der Kontinuität zu ihrem verstorbenen Vorfahren. So musste zur Nachbenennung nach Lebenden übergegangen werden. Dem ersten nach seiner Thronerhebung geborenen Sohn gab König Pippin seinen eigenen Namen – und auch in der folgenden Generation beschränkt sich die Namengebung der Dynastie zunächst auf die Nachbenennung nach den drei Gesalbten von 754, Pippin, Karl und Karlmann. Als die Königsnamen der eigenen Dynastie erschöpft sind, greift Karl der Große auf die der vorangegangenen zurück, nicht aber auf Namen seiner eigenen Vorfahren, die uns in der Folgezeit fast ausschließlich bei nicht vollberechtigten Söhnen begegnen25. Die Königsnamen haben also eine Vorzugsstellung – gleichgültig, ob sie ihre Weihe aus päpstlicher Salbung oder aus dem „Königsheil“ großer Vorgänger beziehen. Diese Vorzugsstellung erklärt nicht nur das Auftreten von Merowingernamen unter den Karolingern, für die es keiner gewagten genealogischen Konstruktionen bedarf, sie erklärt auch den Bruch mit der bisherigen Tradition der Nachbenennung, die sich zunächst bei den Söhnen, in Analogie dazu dann aber auch bei den Töchtern ausgewirkt hat. Eckhardts eigener Theorieansatz, die Karolinger hätten unter dem Einfluss von Bonifatius’ Kampf gegen den „Aberglauben“ ihre Namengebungspraxis geändert, impliziert die Vorstellung, dass Überkommenes abgeschafft worden wäre. Das aber war keineswegs der Fall. Namengebung nach Verstorbenen gab es bei den Karolingern auch weiterhin. Ausschlaggebend ist, dass Neues eingeführt wurde, nämlich die Namengebung nach Lebenden, die der alten Tradition an die Seite trat. Rückt man gegenüber der Perspektive des Kampfs gegen altgermanische Sitten die Sicht einer Innovation im Bereich der Namenge24 Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit 1937, 63 f. und 67. 25 Werner: Nachkommen 1967, 418. – Vgl. auch Tellenbach: Grundlagen 1979, 243.
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bung in den Vordergrund, so stellt sich die Frage, ob Traditionslinien zu erkennen sind, an die diese Praxis anschließt. Unter den Fürstenhäusern frühmittelalterlicher Germanenreiche gibt es einige, bei denen gelegentlich Nachbenennung nach Lebenden vorkommt26. Es handelt sich dabei jedoch um Ausnahmeerscheinungen, die keine nachhaltige Wirkung hatten. In der römischen Tradition hingegen ist das Prinzip der Nachbenennung nach Lebenden sehr stark verankert. Es begegnet in der Dynastie Konstantins des Großen genauso wie unter den Nachkommen Valentinians I. und Theodosius’ I., und zwar sowohl bei Söhnen als auch bei Töchtern. Die Kurzlebigkeit vieler oströmischer Kaiserfamilien macht es schwierig, das Weiterleben dieser Tradition in Byzanz zu verfolgen. Als Beispiel dafür, dass eine solche Namenswahl dort üblich war, sei auf den späteren Kaiser Konstantin VI. verwiesen. Er wurde 771 – also in etwa zeitgleich mit Karls des Großen gleichnamigem Sohn Karl – auf den Namen seines erst vier Jahre später verstorbenen Großvaters Konstantin V. getauft. Viel deutlicher als in den Kaiserfamilien ist die Nachbenennung nach Lebenden in der alten Oberschicht des Römischen Reichs und den aus ihr herausgewachsenen Gruppen. Innerhalb des Frankenreichs pflegte der senatorische Adel diese Tradition der Namenge-
26 Der Ostgotenkönig Vidimir (451–473/4) hatte einen gleichnamigen Sohn. H. Wolfram: Geschichte der Goten. 1979, 293 und Stammbaum im Anhang. – Weitere Beispiele für Namensgleichheit zwischen Vater und Sohn bei H. B. Woolf: The Old Germanic Principles of Name-Giving. 1939, 255. Das hier angeführte Beispiel einer angeblichen Namensgleichheit zwischen Mutter und Tochter ist allerdings im Hinblick auf die fälschliche Gleichsetzung der Namensformen Chrodechilde und Chlotchilde hinfällig. – Zwei Enkel des Langobardenkönigs Wacho († 540) hießen Gisulf und Grasulf. Beide Namen kehren bei Grasulfs Söhnen wieder. H. Elbling / J. Jarnut / G. Kämpen: Nomen et gens. Untersuchungen zu den Führungsschichten des Franken-, Langobarden- und Westgotenreiches im 6. und 7. Jahrhundert. Francia 8 (1980) 702. – Im burgundischen Königshaus gibt es – entgegen der Behauptung Eckhardts, dass hier „von vornherein die Benennung nach Verstorbenen eindeutig in Erscheinung tritt“ (Irdische Unsterblichkeit 1937, 52) – Hinweise auf mehrfache Nachbenennung nach Lebenden. König Chilperich II., der Vater von Chlodwigs Gattin Chrodechilde, muss zu Lebzeiten seines Onkels Chilperich I., des jüngeren Bruders und Nachfolgers seines Vaters Gundowech, zur Welt gekommen sein. Dasselbe gilt in der nächsten Generation für Godomar III., der ebenfalls nach einem jüngeren Bruder seines Vaters benannt wurde. Vielleicht ist auch König Sigismunds jüngster Sohn Gundobad noch vor dem Tode seines gleichnamigen Großvaters geboren. M. Chaume: Les origines du duché de Bourgogne. Bd. 1. 1925, 29. – Reallexikon der germanischen Altertumskunde IV, 242 ff. – M. Heinzelmann: Gallische Prosopographie. Francia 10 (1982) 580 und 618 ff. – König Gundowech, bei dessen Söhnen sich erstmals Nachbenennung nach Lebenden nachweisen lässt, hatte als „magister militum“ ein hohes Reichsamt inne. Römischer Einfluss wäre also denkbar. Bemerkenswert erscheint, dass die durch Chrodechilde von den Burgunderkönigen abstammenden Merowinger zwar das Namengut, nicht aber die Art der Nachbenennung übernahmen.
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bung27. Und auch unter den großen stadtrömischen Geschlechtern war sie weiterhin lebendig. Durch die Patenschaft Stephans II. für Gisela 757 und die seines Bruders Paul I. für Pippin 759 wurde zwischen diesen beiden aus stadtrömischem Adel stammenden Päpsten und König Pippin genauso eine „compaternitas“ begründet wie eine Generation später zwischen Karl dem Großen und Papst Hadrian durch die Taufe Pippin/Karlmanns28. Die eherechtlichen Entscheidungen der Päpste im 8. Jahrhundert zeigen, dass man damals die geistliche Verwandtschaft durch Patenschaft der Blutsverwandtschaft gleichgestellt zu sehen begann29. Als „patricii Romanorum“ traten die karolingischen Könige grundsätzlich in römische Traditionen ein. Auch die Neuorientierung ihrer Nachbenennungspraxis könnte daraus Impulse bekommen haben. Eckhardts Ansatz, der Einfluss des Bonifatius habe den Umschwung in der Namengebung der Karolinger bewirkt, betont sehr stark das Moment der Verchristlichung. Zweifellos ist die Vorstellung der Wiedergeburt eines Verstorbenen in einem seiner Nachkommen mit christlichem Glauben nicht vereinbar. Aber war es wirklich ein solcher religiöser Hintergrund, der Merowinger und frühe Karolinger zu einer Nachbenennung nur nach verstorbenen Vorfahren veranlasste? Eckhardt selbst fragt: „Kann diese Sitte im 8. nachchristlichen Jahrhundert, 250 Jahre nach der Christianisierung der Franken, mit Wiederverkörperungsvorstellungen verbunden gewesen sein?30 Obwohl ihm das aufs Erste als unlogisch erscheint, meint er dann doch: „Gerade bei religiösen Vorstellungen ist das unorganische Hereinragen einer älteren Stufe in eine jüngere etwas so allgemein Verbreitetes, dass die Wissenschaft dafür sogar einen besonderen Fachausdruck besitzt: Synkretismus.“ Eckhardt und jene Autoren, auf die er sich stützt, haben ihre Theorie der Wiederver27 Zahlreiche Beispiele in den Stammbäumen bei K. F. Stroheker: Der senatorische Adel im spätantiken Gallien. 1948, Anhang. Grundsätzlich zur Entstehung von „Leitnamen“ in der römischen Aristokratie der Spätzeit Heinzelmann: Les changements 1977, 23, sowie Ders.: Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. 1976,13 ff. Die Entwicklung des Namenwesens in den römischen Führungsschichten führte nicht nur zu einer Namengebung, die sich vom „germanischen Leitnamensystem“ kaum unterschied; neben dieser Nachbenennung – hier unter Lebenden – entwickelte sich auch die Weitergabe von Namensbestandteilen von väterlichen und mütterlichen Vorfahren, also Namensvariation (ebenda, 20). 28 P. Classen: Karl der Große, das Papsttum und Byzanz. In: Braunfels: Karl der Große I 1965, 557. – Zur Namensänderung G. Thoma: Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa. München 1985, 77 ff. 29 J. Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. 1986,214 f. – Aus einem Brief des Bonifatius geht hervor, dass ihm diese von den Päpsten vertretene Auffassung neu war. Die Vorstellung wurde aus der Ostkirche übernommen. 30 Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit 1937, 67.
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körperung von Toten in ihren Nachkommen durch Nachbenennung primär an isländischen und skandinavischen Quellen entwickelt31. Hier sind die Belege für eine solche Vorstellungswelt eindeutig. Auch der Gegensatz zwischen vorchristlichen und christlichen Anschauungen ist hier deutlich fassbar. Der norwegische König Olaf der Heilige (1015– 1030), von dem man in seiner Umgebung glaubte, er sei die Wiedergeburt von König Olaf Geirstadr-Alf, dementierte das in späteren Jahren energisch. Vor dem Grabhügel des Toten darauf angesprochen, ob er hier begraben gewesen sei, meinte er: „Nie hatte meine Seele zwei Leichname und sie wird sie nie haben.“ Er musste sich allerdings eine frühere Äußerung entgegenhalten lassen, die dazu in Widerspruch stand32. Von fränkischen Königen gibt es kein einziges vergleichbares Zeugnis, das auf eine analoge Vorstellungswelt schließen ließe. Die Nachbenennung nach verstorbenen Vorfahren unter den Merowingern und frühen Karolingern ist wohl kaum in einem vorchristlich religiösen Sinn motiviert. Es bedarf daher auch nicht der Annahme einer intensivierten Verchristlichung durch das Wirken des Bonifatius, um die „karolingische Wende“ in der Namengebung zu erklären. Der Glaube an eine Wiedergeburt des Verstorbenen durch Namensübertragung schließt die Nachbenennung von zwei Nachkommen nach demselben Vorfahren aus. Nur in einem einzigen kann ja der tote Ahnherr weiterleben. Wo es zu einer zweiten Nachbenennung kommt, erscheint das Prinzip der Wiederverkörperung im eigentlichen Sinne bereits aufgegeben. Bei den Merowingern war das früh der Fall. Schon unter den Chlodwig-Enkeln begegnet ein Name zweifach. Sowohl der älteste Sohn König Chlothars I. hieß Gunthar als auch der zweitgeborene seines Bruders Chlodomer. Wir kennen die Geburtsdaten nicht genau, doch dürften sie bei beiden in die Jahre 517 bis 522 fallen33. Es wäre unsinnig anzunehmen, der eine sei nach dem anderen benannt worden. Insofern handelte es sich auch nicht um eine Nachbenennung unter Lebenden. Vielmehr hießen beide nach ihrem gemeinsamen Vorfahren, dem Burgunderkönig Gunthar, von dem ihre Großmutter 31 Dies gilt ebenso für W. Grönbech: Kultur und Religion der Germanen. 6. Aufl. 1961, vor allem I, 293 ff., und II, 43 ff. Das Werk Grönbechs erschien in der dänischen Urfassung 1909–1912 und wurde 1937 auf Veranlassung Otto Höflers ins Deutsche übersetzt. Eckhardt war es bei der Veröffentlichung von „Irdische Unsterblichkeit“ unbekannt. Die Gedanken Gustav Storms wurden im deutschsprachigen Raum sehr früh von Wolf von Unwerth aufgegriffen. W. v. Unwerth: Namensgebung und Wiedergeburtsglaube bei Nordgermanen und Lappen. In: Beiträge zur Sprach- und Völkerkunde. Festschrift für Alfred Hillebrandt. 1913, 179 ff. – Die Literatur zur Problematik Wiederverkörperungsglaube und Nachbenennung zusammengefasst in den Artikeln „Ahnenglaube und Ahnenkult“, Handwörterbuch der germanischen Altertumskunde 11973, 112, und „Namengebung“, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte III 1984, 832 ff. Vgl. auch V. Perkow: Wasserweihe, Taufe und Patenschaft bei den Nordgermanen. 1972, 21 ff. 32 Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit 1937, 45. 33 E. Ewig: Studien zur merowingischen Dynastie. Frühmittelalterliche Studien 1 (1974) 21 und 30.
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Chrodechilde in direkter Linie abstammte. Die Namengebung der beiden Königssöhne sollte offenbar den Anspruch auf das Burgunderreich anmelden, das bald darauf von den Frankenkönigen erobert wurde. Ein ähnlicher Fall begegnet im frühen 7. Jahrhundert, als kurz hintereinander alle drei Könige von Neustrien, von Austrasien und von Burgund einem Sohn den Namen Merowech gaben34. Chlothars II. ältester Sohn Merowech war schon tot, als Theuderich II. 606 seinem vierten Sohn diesen Namen gab. Chlothar wurde dessen Pate. Als kurz darauf Theuderichs Bruder Theudebert seinen Erstgeborenen Merowech nannte, lebte schon ein Träger dieses Namens. Auch hier erscheint Nachbenennung zwischen Kleinkindern wenig plausibel. Viel näherliegend ist die Annahme, dass man in allen drei Teilreichen das Andenken an den namengebenden Ahnherrn ins Gedächtnis rufen wollte. Schon eine Generation zuvor hatte man seinen Namen aufgegriffen35. Die zumindest doppelte Vergabe spricht gegen die Vorstellung einer Wiederbelebung des Stammvaters. Für den Wiederbelebungsglauben, wie er sich in den nordischen Sagas abzeichnet, erscheint es charakteristisch, dass der Name möglichst bald nach dem Tod seines früheren Trägers vergeben wird36. Das ist ja die Voraussetzung dafür, dass die Familienangehörigen beim Heranwachsen Ähnlichkeiten mit dem Verstorbenen feststellen können, wie das in den Quellen immer wieder berichtet wird. Solche Übereinstimmungen – sei es im äußeren Erscheinungsbild, sei es in den Charaktereigenschaften – sind für sie die Bestätigung für das Weiterleben des Toten in seinem Nachfahren. Bei den Merowingern ergibt sich – zumindest für die Frühzeit der Dynastie – ein anderes Bild. Die meisten Namen wurden erst lange nach dem Tod ihres ersten Trägers neu vergeben. Der sagenhafte Ahnherr Merowech dürfte um die Mitte des 5. Jahrhunderts gelebt haben. Der erste Königssohn, der seinen Namen erhielt, ist um 556 geboren37. König Childerich I. starb 482. Sein gleichnamiger Urenkel kam etwa vier Jahrzehnte später zur Welt38. Der Name des großen Chlodwig wurde auch erst nach mehr als vierzig Jahren neu vergeben 39. Nach dem 534 verstorbenen Theuderich I. nannte sein Neffe Chilperich 582 einen Sohn, nach dessen Tod 587 sein Großneffe Childebert ebenfalls. Auch hier liegen viele Jahrzehnte zwischen dem 34 Eckhardt: Studia Merovingica 1975, 119. In seinem Exkurs über das „Diptychon Barberini“ im Anhang dieses Bandes meint Eckhardt, dass Theudeberts II. Sohn nicht Merowech, sondern Chlothar geheißen habe. Aber auch wenn die Entscheidung zugunsten dieser zweiten überlieferten Namensform zutrifft, ergibt sich das Problem der Gleichnamigkeit unter Seitenverwandten. 35 Ewig: Studien 1974, 32 f. 36 Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit 1937, 14. 37 Ewig: Studien 1974, 33. 38 Ebenda, 30. 39 Ebenda, 33.
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ersten und zweiten Namensträger. Das gilt ebenso für Chlodomer und seinen gleichnamigen Großneffen40. Alle nach Burgunderkönigen benannten Merowinger hatten lange vor ihnen lebende Namensvorbilder – die beiden Gunthar, Gundobad und Chilperich. Bei einigen der frühen Merowinger wissen wir nicht, nach wem sie benannt sind. Wenn es gleichnamige Familienangehörige gab, so sind sie in frühen Generationen zu suchen. Die Nachbenennung auf große zeitliche Distanz ist jedenfalls für diese Phase charakteristisch. Die Namengebung nach einem kürzlich Verstorbenen hat sich bei den Merowingern erst in späterer Zeit durchgesetzt. Ein früher Fall ist König Guntrams Sohn Chlothar, der 567 den Namen seines 561 verstorbenen Großvaters Chlothar I. erhielt. 584 bekam ein zweiter Enkel dessen Namen41. Diese Form der Nachbenennung nach dem toten Großvater, die bei den frühen Merowingern völlig fehlt, kommt dann bei den letzten Vertretern der Dynastie mehrfach vor: bei Dagobert II., bei Chlodwig III., bei Childerich III. Ihr entspricht auch die Praxis bei den frühen Karolingern im gleichen Zeitraum. Es hat nicht den Anschein, dass es sich dabei um eine alte Tradition handelt, die mit den nordischen Verhältnissen in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden könnte. Die in der Merowingerdynastie zu beobachtende Tendenz von einer Nachbenennung über größere zeitliche Distanz zu einer auf geringere könnte den Gedanken nahelegen, diese zunehmende Nähe des Namensvorbilds zum Namengeber sei eine Vorstufe in der Entwicklung zur Nachbenennung nach Lebenden. Eine solche Annahme lässt sich jedoch sicher nicht halten. Es handelt sich um grundsätzliche qualitative Unterschiede, nicht bloß um graduelle. Indizien dafür, dass es in der merowingischen Dynastie eine Entwicklung zur Nachbenennung nach Lebenden gegeben habe, fehlen. Ein einziger Fall weist in diese Richtung, doch auch er ist sehr wahrscheinlich anders zu erklären. König Childerich II. ließ in den frühen siebziger Jahren des 7. Jahrhunderts einen seiner Söhne auf den Namen Dagobert taufen. Es war das nicht nur der Name seines 639 verstorbenen Großvaters Dagobert I., sondern auch der seines 678 ermordeten Vetters Dagobert II., dessen Schwester Bilechild Childerich geheiratet hatte. Dagobert II. war zu dem kleinen Prinzen also zugleich Onkel erster und zweiter Linie. Zum Zeitpunkt von dessen Geburt lebte er aller40 Ebenda, 31. 41 Ebenda. – Bei diesem Chlothar, dem späteren König Chlothar II., sind wir auch über die Motivation der Nachbenennung informiert. Nach dem Bericht Gregors von Tours (X, 28) sagte König Guntram, sein Onkel und Pate, bei der Taufe: „Es gedeihe der Knabe und mache einst wahr, was sein Name besagt; auch blühe er in solcher Fülle der Macht wie einst der, dessen Name er erhalten hat.“ Wenn man die von Gregor dem König in den Mund gelegten Worte als dessen wirkliche Motivation akzeptiert, so war also mit der Nachbenennung der Wunsch nach gleichem Schicksal verbunden. Interessant erscheint, dass darüber hinaus die Erfüllung des Wortsinns des Namens als Begründung angegeben wird.
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dings bereits seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr im Frankenreich. Er war das Opfer jenes berühmten „Staatsstreichs“ des Hausmeiers Grimoald, des verfrühten Versuchs der Karolinger, die Königsherrschaft zu übernehmen42. Grimoald hatte den jungen Königssohn nach dem Tode seines Vaters nach Irland geschickt und zum Mönch scheren lassen. Erst 675 wurde er wiederentdeckt und zum König gemacht. In diese Zwischenzeit fällt die Geburt und Namengebung seines Neffen. Vielleicht wussten seine Verwandten gar nicht, ob er noch am Leben war. Vielleicht war sein Name durch seinen Klostereintritt für sie verfügbar. Eine ähnliche Situation scheint ja in der karolingischen Dynastie bei Karlmann, dem älteren Bruder König Pippins, vorzuliegen. Wie dem auch sei – als Beleg für eine merowingische Praxis der Nachbenennung nach Lebenden kann dieser Fall sicher nicht gewertet werden. Erst das neue Königshaus ist zu dieser Sitte übergegangen.
III. Der Kontrast zwischen Karolingern und Merowingern ist besonders eindrucksvoll: hier Wiederholung der Namen in jeder Generation, häufig sogar mehrfach – dort Nachbenennung nach meist fernen Vorfahren, nie aber nach dem eigenen Vater oder sonst einem noch lebenden Verwandten. In anderen Fürstenfamilien des Früh- und Hochmittelalters finden sich analoge Gegensätze, der Wandlungsprozess vollzieht sich jedoch kaum irgendwo mit ähnlicher Radikalität. In den angelsächsischen Königsdynastien scheint die Nachbenennungspraxis im Vergleich zur Alliteration und Variation von Namen zunächst kaum ausgebildet gewesen zu sein. Unter den Nachkommen Egberts von Wessex tritt sie im 9. Jahrhundert in Erscheinung, jedoch auf Verstorbene beschränkt. Die ersten Nachbenennungen nach Lebenden finden sich unter den letzten Vertretern dieser Dynastie43. König Edmund II. († 1016) gibt seinem älteren Sohn den eigenen Namen, seinem jüngeren den seines Stiefbruders Edward. Seither hält sich bei den englischen Königen diese Praxis. In Dänemark war zu diesem Zeitpunkt der Umschwung schon vollzogen. Die englischen Könige aus dänischem Haus brachten die Nachbenennung nach dem Vater bzw. einem noch lebenden Verwandten bereits aus ihrer Heimat mit.
42 Hlawitschka: Vorfahren 1965, 58 ff. 43 Woolf: Principles 1939, 8–94. Die dort (73) vorgenommene Zuordnung eines Aethelstan als Sohn wie als Enkel Egberts von Wessex, durch die sich eine Nachbenennung unter Lebenden schon im 9. Jahrhundert ergäbe, bedarf der Korrektur. Vgl. F. M. Stenton: Anglo-Saxon England. The Oxford History of England. 1943, 234.
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Recht aufschlussreich ist das Beispiel Norwegen. Hier änderte sich die Namengebung in der Zeit von König Harald Schönhaar (863–933, † 936). Bereits Haralds ältester Sohn erhielt den Namen eines noch lebenden Onkels. Den eigenen Namen hat Harald freilich keinem seiner zahlreichen Söhne, die ihm seine sieben Frauen bzw. Konkubinen geboren hatten, weitergegeben. Der ging erst nach seinem Thronverzicht auf den Sohn seines Lieblingssohnes und Nachfolgers Erich Blutaxt über – allerdings noch zu seinen Lebzeiten. Auch bei Nachbenennung nach Lebenden ist hier also der Name des Königs, solange er herrscht, für die Weitergabe tabu. Der Wandel vollzieht sich in Norwegen noch vor der Christianisierung, die – wie zuvor am Beispiel König Olafs II. gezeigt wurde – zur endgültigen Krise aller Wiederbelebungsvorstellungen geführt hat. Eckhardt kommentiert diese Entwicklung so: „Der Verfallsprozess, der in Island erst um 1000 einsetzt […], beginnt also im norwegischen Königshaus schon um die Mitte des 9. Jahrhunderts.“ Er betont, dass die Königsfamilie „am frühesten den Skaldengott Odin“ verehrt habe 44. Da er den Wiederverkörperungsglauben für „vorwodanisch“ hält, liegt für ihn offenbar darin der Erklärungsansatz für den Prozess des Wandels. Auch die Namengebungssitten der Rurikiden haben – der Herkunft der Dynastie entsprechend – ihre Wurzeln in nordgermanisch-skandinavischen Gewohnheiten. Sie wurden im neuen Herrschaftsgebiet zunächst mit denen slawischer Stämme konfrontiert, durch die Christianisierung im ausgehenden 10. Jahrhundert dann auch mit byzantinischchristlichen. Umso überraschender scheint es, wie lange sich in den verschiedenen rurikidischen Fürstenhäusern die auf Verstorbene beschränkte Nachbenennung erhalten hat 45. Als erster gab der 1180 verstorbene Fürst Mstislaw von Nowgorod seinen Namen an den eigenen Sohn weiter, und zwar gleich an den ältesten. Kurz darauf nannte der wolhynische Fürst Wsewolod († 1195) seinen Sohn nach sich selbst. Und auch die Geburt des mit seinem Vater namensgleichen Swjatoslaw im Hause Rjasan dürfte noch ins ausgehende 12. Jahrhundert fallen. Alles das blieben Einzelfälle. Erst unter den Moskauer Großfürsten des 14. Jahrhunderts wurde es zur Regel, dass einer der Söhne den Vatersnamen erhielt. Die Nachbenennung nach Großvätern und Urgroßvätern begegnet bei den Rurikiden häufig – allerdings immer erst nach dem Tod. Ein später und vereinzelter Fall, dass ein Enkel noch zu Lebzeiten seines Vorfahren nachgetauft wurde, begegnet offenbar in einer Seitenlinie der Fürsten von Tschernigow. Die Namensgleichheit unter mehreren gleichzeitig lebenden Nachfahren scheint auch zunächst vermieden worden sein. Trotz der frühen Verzweigung der Dynastie ist anfangs jeder Name jeweils nur einfach vertreten. Das 44 Eckhardt: Irdische Unsterblichkeit 1937, 44. 45 Angaben nach W. K. Prinz von Isenburg/F. Baron Freytag von Loringhoven: Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten. Bd. 2. 1956, Tafel 89–98.
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änderte sich im ausgehenden 11. Jahrhundert. Den Namen des Großfürsten Jaroslaw I. († 1054) erhielt zunächst ein Enkel in Tschernigow, aber noch vor dessen Tod wurden auch zwei Urenkel der Linie Wladimir-Turow auf diesen Namen getauft. Vom Großfürsten Swjatoslaw II. von Kiew ging schon kurz nach seinem Tod 1076 sein Name an drei seiner Enkel von verschiedenen Söhnen weiter. Es ist eine ähnliche Situation, wie sie in Ansätzen auch bei den Merowingern festgestellt werden konnte: Die Teilung der Dynastie wirft das Problem auf, in wessen Linie das Namengut der Vorfahren weitergegeben wird. So kann es bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung des Prinzips der Nachbenennung ausschließlich nach Verstorbenen zur Namensgleichheit zwischen Lebenden kommen. Ob es bei den slawischen Fürstendynastien des ostmitteleuropäischen Raumes je eine auf verstorbene Vorfahren beschränkte Nachbenennungssitte gegeben hat, wissen wir nicht. Sobald die genealogischen Zusammenhänge fassbar werden, ist die Nachbenennung nach Lebenden bereits vorhanden. Bei den Piasten kehrt der Name des Reichsgründers Mieszko bei einem seiner Söhne aus zweiter Ehe wieder. Im Großmährischen Reich hinterlässt König Swjatopluk bei seinem Tod 894 einen gleichnamigen Sohn. Bei den Přemysliden wird schon im 10. Jahrhundert Boleslaw zu einem Leitnamen, der in drei Generationen wiederkehrt. Alles das liegt nach der Christianisierung und nach der Einbeziehung in den karolingischen bzw. ottonischen Einflussbereich. Dass es unter diesem Einfluss zu Änderungen in der Namengebungspraxis gekommen ist, erscheint möglich, bleibt aber unbeweisbar. Das einzige Fürstenhaus Ostmitteleuropas, bei dem sich die Übergangsphase zur Nachbenennung nach Lebenden klar fassen lässt, sind die Arpaden. Bei ihnen vollzog sich dieser Wandel erst im 12. Jahrhundert. König Geisa II. gab 1147 seinem ältesten Sohn den alten Königsnamen Stephan, den auch sein jüngerer Bruder trug. In den letzten Generationen der Dynastie kam es dann auch regelmäßig zu einer Nachbenennung nach dem Vater. König Andreas II. († 1235), König Bela IV. († 1270) und Herzog Stephan von Slawonien hatten jeweils einen gleichnamigen Sohn46. In der älteren Praxis der Namengebung spielt bei den Arpaden die Nachbenennung nach toten Familienangehörigen eine gewisse Rolle, sie ist jedoch keineswegs alleiniges Kriterium der Namenswahl. Der bei den Karolingern so deutlich fassbare Übergang zur Nachbenennung nach Lebenden scheint ein Phänomen von allgemeiner Bedeutung zu sein. Das Resultat dieses Übergangs ist bekannt, nämlich die generelle Verbreitung von Generation zu Generation wiederkehrender Leitnamen in den europäischen Fürstenhäusern. Weniger wissen wir über die Vorstufen. Fragt man nach den Gründen des Übergangs in den verschiedenen Dynastien, so wird man vielen spezifischen Faktoren nachzugehen haben. Manches, was bei der Namengebung der fränkischen Könige beobachtet wurde, kann vielleicht bei einer 46 Ebenda, Tafel 104 f.
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vergleichenden Betrachtung weiterhelfen. Verallgemeinern lässt sich wohl die Annahme, dass der Wechsel zur Nachbenennung nach Lebenden nicht unmittelbar als Aufgabe eines bis dahin geltenden Wiederverkörperungsglaubens interpretiert werden muss. Systeme der Namengebung sind äußerst zählebig. Eine Beschränkung der Namenswiederholung auf Verstorbene kann durchaus noch praktiziert werden, wenn ältere Vorstellungen der Wiederbelebung von Vorfahren durch Nachbenennung bereits längst verblasst sind. Eine solche Beschränkung muss auch nicht notwendig im Wiederverkörperungsglauben ihren Ursprung haben. Andere Formen der Beziehung zwischen Person und Name, die es verbieten, zu Lebzeiten nachzubenennen, sind ebenso denkbar47. Wie immer das Verbot der Nachbenennung nach Lebenden jeweils zu erklären ist – es handelt sich dabei offenkundig um ein wichtiges Tabu. Mit diesem Tabu zu brechen, muss einen sehr grundsätzlichen Einstellungswandel bedeutet haben.
47 Solche Beziehungen spricht Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn, Kritik der theoretischen Vernunft. 1987, 308, an, wenn er schreibt: „Man vermeidet es, einem Neugeborenen den Namen eines noch lebenden Verwandten zu geben: das hieße diesen ‚auferstehen zu lassen‘, bevor er gestorben ist, ihn beleidigend herausfordern und, schlimmer noch, ihn verwünschen.“ Bourdieu verweist hier auch auf Zusammenhänge zwischen der Tabuisierung der Namen von Lebenden und dem System der Namensvariation. Solche Beobachtungen von Ethnologen an Gegenwartsgesellschaften könnten helfen, die Praktiken mittelalterlicher Namengebung besser zu verstehen. Vgl. diesbezüglich auch Ders.: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. 1979, 78 ff. und 412 ff.
4. „Senioris sui nomine“. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen
Die grundlegenden Prozesse der Veränderung des Namenguts im Hoch- und Spätmittelalter wurden bisher viel stärker von philologischen Disziplinen zum Thema gemacht als von der Geschichtswissenschaft. Dies gilt auch für jene Entwicklung, die in der Regel mit Bezeichnungen wie „Namenschwund“ oder „Namenverarmung“ charakterisiert wird. Adolf Bach, der Altmeister der germanistischen Namenforschung, beschreibt den Prozess in Kontrastierung zu den Verhältnissen des Frühmittelalters: „Diese lebendige Namenschöpfung der alten Zeit verlor bereits im 10. Jahrhundert ihre Kraft, und ihr Verfall nahm nach 1150 erheblich zu. Im 13./14. Jahrhundert wurden keine Rufnamen im Sinne der heimischen Überlieferung mehr erfunden. Überdies tritt eine empfindliche Verarmung und Verminderung des Rufnamenschatzes ein. Viele altgermanische Rufnamen, die noch im 12. Jahrhundert gang und gäbe waren, werden im 13. Jahrhundert nicht mehr verwandt, und einige wenige drängen sich in allgemeinen Gebrauch.“1 Weit weniger als über den Verlauf des Prozesses ist der germanistischen Literatur über dessen Ursachen zu entnehmen. Bachs zusammenfassende Darstellung schließt diesbezüglich an ältere Literatur an: „Steinhausen führt den Namenschwund nach 1250 auf den Mangel an poetischem Sinn und den nüchternen Grundzug der Zeit zurück. Mit dieser Auffassung ließe sich die Anschauung vereinbaren, dass die Erscheinung in erster Linie als Folge der durch die Mode bestimmten Wahl bestimmter Rufnamen anzusprechen sei.“2 Hermann Reichert hält es insgesamt für wenig sinnvoll, nach bedingenden Faktoren dieser Entwicklung zu fragen: „Über die Ursachen solcher Verschiebungen sich den Kopf zu zerbrechen, hat nicht viel Zweck. Namen sind eine Sache der Mode und zum Wesen der Mode gehört Willkürlichkeit.“3 1 2 3
Adolf Bach, Deutsche Namenkunde 1, 2 (2 1953) 261. Bach (wie Anm. 1) 28, nach Gustav Steinhausen, Namenarmut im ausgehenden Mittelalter, Zeitschrift für deutschen Unterricht 7 (1893) 616ff. Hermann Reichert, Die deutschen Familiennamen nach Breslauer Quellen des 13. und 14. Jahrhunderts (1908) 29.
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Die wenigen Historiker, die sich mit diesem Veränderungsprozess beschäftigt haben, argumentieren auf einer ganz anderen Ebene. Wilhelm Störmer etwa formuliert aufgrund seiner Studien über den bayerischen Adel: „Die Tatsache, dass seit dem 10. Jahrhundert an die Stelle einer ungeheuren Vielfalt von Namen immer weniger treten, ist ein deutlicher Beweis der Festigung adeliger Gruppen und des allmählichen Durchdringens agnatischen Denkens.“4 Ganz ähnlich bringt Georges Duby die von ihm im burgundischen Adel beobachtete „réduction progressive du nombre des noms“ mit dem Erstarken der adeligen „lignage“ in Zusammenhang5. In einer Epoche, in der Namengebung so evident familiengebunden erfolgt, liegt es nahe, Veränderungen der Namenhäufigkeit aus Veränderungen der Familienstrukturen zu erklären. In diese Richtung wird wohl weiterzudenken sein, will man über den Rekurs auf „Mangel an poetischem Sinn“ oder auf angeblich „willkürliche Namenmoden“ hinaus zu gesellschaftsgeschichtlich befriedigenden Erklärungsansätzen kommen. Jedenfalls darf davon ausgegangen werden, dass Nachbenennung, so wie ihr in der Familie ein hoher Stellenwert zukommt, auch überall sonst ein Ausdruck wichtiger Sozialbeziehungen ist. Soweit die Häufigkeitszunahme bestimmter Namen im Hochmittelalter auf Nachbenennung beruht, sind also wohl Veränderungen von wesentlichen Sozialbeziehungen als Grundlage anzunehmen. Der von den Sprachwissenschaftlern diagnostizierte Prozess des Namenschwunds könnte so ein interessanter Indikator für allgemeine Prozesse des sozialen Wandels sein.
Veränderungen von Namengut und Namenhäufigkeit Als quantitatives Phänomen ist der Prozess des Namenschwunds aufgrund zahlreicher germanistischer und romanistischer Einzelstudien für viele Orte und Regionen Europas fassbar. Die Belege reichen von Schlesien bis Katalonien und von England bis nach Latium. Die Zeiträume, für die jeweils die Veränderungen der Namenhäufigkeit erhoben wurden, sind jedoch sehr unterschiedlich. Und auch die jeweils verwendeten Messzahlen machen einen unmittelbaren Vergleich schwierig. Wenn etwa Brechenmacher für sein württembergisches Untersuchungsgebiet feststellt: „Setzt man für die Zahl der im 10. Jahrhundert noch gebrauchten Vornamen den Einheitswert 100, so ergibt sich für das 11. Jahrhundert
4 5
Wilhelm Störmer, Adel und Ministerialität im Spiegel der bayerischen Namengebung (bis zum 13. Jahrhundert), in: DA 33 (1977) 117. Georges Duby, Lignage, noblesse et chevalerie au XIIe siècle dans la region mâconnaise. Une révision, in: derselbe, Hommes et structures du moyen âge. Recueil d’articles, Paris 1973, 398.
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der Wert 28, für das 12. Jahrhundert der Wert 9.“6, so kommt die Reduktion alter Namen darin deutlich zum Ausdruck, nicht aber der parallel dazu erfolgte Zuwachs von neuen, der von anderen Autoren in ihren Berechnungen einkalkuliert wird. Eine häufige Methode der statistischen Darstellung des Namenschwunds ist die Angabe der jeweiligen Relation von Namensträgern zu gebrauchten Namen. Nach Aebischer kam in Barcelona in den Jahren 970 bis 974 eine Person pro Namen, 1070 bis 1079 etwa drei und 1170 bis 1175 etwa sechs7. In Kiel betrug die Verhältniszahl 1264/89 3,7, 1300–1350 4,5, 1351–1404 7,3 und 1411–1487 8,38. Einen viel rascheren Namenschwund signalisieren die für Breslau berechneten Werte. Vor 1320 kamen hier bloß 4 Personen auf einen Namen, 1361–1400 jedoch schon 439. Vergleichswerte wie 23,3 für Metz 1267–1298, 19,3 für Paris 1292 und 4,1 für Florenz 1260 lassen Richtungen eines europaweiten Gefälles erkennen10. Aber auch die relativ große Namenvielfalt, die sich daraus für Florenz im 13. Jahrhundert erschließen lässt, wurde in der Folgezeit stark reduziert. Während 1260 auf die Hälfte der männlichen Bevölkerung noch die 27 häufigsten Namen entfielen, waren es 1427 nur mehr 1211. So eindrucksvoll alle Berechnungen von Verhältniswerten zwischen Namen und Namensträgern die Grundtendenz des Namenschwunds belegen – ein wesentliches Charakteristikum der Entwicklung wird dabei nicht deutlich genug fassbar. Bezeichnend erscheint nämlich, dass nicht eine Vielzahl von Namen gleichmäßig, sondern einige wenige sehr stark zunehmen. Jede auf die Gesamtheit des Namenguts abgestellte Berechnung nivelliert diese Zuwachsraten der Spitzengruppe. Geht man hingegen vom Anteil einiger weniger besonders häufiger Namen in einer lokalen Population aus, so ergeben sich inte ressante ergänzende Perspektiven. Solche Daten sind nicht nur dort aufschlussreich, wo ein diachroner Vergleich zwischen zwei oder mehr Stichjahren möglich ist. Auch die Werte von Einzelerhebungen sind aussagekräftig, weil sie den jeweiligen Entwicklungsstand des Prozesses in einer Region dokumentieren. Die folgende Tabelle gibt eine Zusammen6
J. K. Brechenmacher, Deutsche Sippennamen. Ableitendes Wörterbuch der deutschen Familiennamen 1 (1936) IX. 7 Paul Aebischer, A travers l’anthroponymie du haut moyen âge, in: Atti del congresso e memorie della sezione antroponimica, VII Congresso internazionale di scienze onomastiche, Firenze 1963, 20. 8 Bach (wie Anm. 1) 27. 9 Reichert (wie Anm. 3) 21. 10 Harry Jacobsson, Études d’anthroponymie Lorraine. Les bans de tréfonds de Metz (1267–1298) Göteborg 1955, 25; Karl Michaëlsson, Études sur les noms de personne français d’après les rôles de taille parisiens (rôles de 1292, 1298–1300, 1313) Uppsala 1927, 65; Olaf Brattö, Studi di antroponimia fiorentina. Il libro di Montaperti. Göteborg 1953, 27. 11 David Herlihy und Christiane Klapisch-Zuber, Les Tuscans et leurs familles, Paris 1978, 543. Brattö (wie Anm. 10) 60f.
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stellung des jeweiligen Anteils der fünf häufigsten Männernamen aus verschiedenen europäischen Räumen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert12. Für Frauennamen können aufgrund des Mangels an geeigneten Quellen bzw. des Fehlens einschlägiger Untersuchungen in der Literatur keine Vergleichsdaten vorgelegt werden. England Eu (Nor- mandie) Brabant Breslau
1166/7 1299–1327 1347/8 1372/80 1271/99 1300/49 1350/99 1295 1390 1320 1361–1400
43,2 % Köln 59,5 % Metz 68,3 % Paris ca. 80 % 44,7 % Moissac 45,3 % Genua 48,3 % 57,2 % Mailand 58,2 % Siena 39,1 % Florenz 69,3 %
12. Jh. 1267/98 1292 1313 12. Jh. 1157 1261 1266 1260 1260
26,2 % 38,3 % 46,4 % 49,9 % 19,6 % 31,0 % 39,8 % 24,1 % 19,5 % 14,4%
Die Tabelle zeigt nur relativ schmale Ausschnitte aus der Langzeitentwicklung der Reduktion des Namenguts. Vor allem die für die Neuorientierung des Namenwesens so wichtigen Frühphasen sind – durch die Quellenlage bedingt – in ihr schlecht dokumentiert. Trotzdem gibt sie recht aufschlussreiche Einblicke in das Tempo des Ablaufs. Aussagekräftiger sind die regionalen Unterschiede. In England erreicht der Prozess der Konzentration auf einige wenige, besonders bevorzugte Namen die weitaus höchste Intensität. In Frankreich ist diese Entwicklung im Norden weit stärker als im Süden. Im Reich werden auch zum Teil sehr hohe Prozentsätze erreicht – im Nordwesten offenbar früher als im Osten. Die Werte aus italienischen Städten liegen trotz einer stärkeren Streuung doch insgesamt niedrig. 12 Zitiert bzw. berechnet nach Cokayne, The complete peerage of the United Kingdom 3, London 1913, 625ff.; Ernest Weekley, Jack and Jill. A Study in Our Christian Names, London 1939, 17; Marie-Thérèse Morlet, Les noms de personnes à Eu du XIIIe au XVe siècle, in: Revue internationale d’onomastique 11 (1959) 131ff. und 174ff. Jan Lindemans, Brabantse persoonsnamen in de XIIIe en de XIVe eeuw, Leuven 1947, 17 und 41f.; Reichert (wie Anm. 3) 27ff., Fritz Wagner, Studien über die Namengebung in Köln im 12. Jahrhundert 1 (1913), Jacobsson (wie Anm. 10) 66ff., Michaëlsson (wie Anm. 10) 62; Marie-Thérèse Morlet, Études d’anthroponymie occitane. Les noms de personne de l’obituaire de Moissac, in: Revue internationale d’onomastique 11 (1959) 56ff.; Benjamin Kedar, Noms de saints et mentalité populaire à Gênes au XIVe siècle, in: Le Moyen Age 73 (1967) 440, Brattö (wie Anm. 10) 29 bzw. 11 und 27.
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Die quantitative Analyse lässt zeitliche und räumliche Schwerpunkte in der Reduktion des Namenguts erkennen. Für die sozialgeschichtliche Interpretation entscheidend ist jedoch die qualitative Frage, auf welche Namentypen sich diese Entwicklung konzentrierte. Besonders aufschlussreich ist diesbezüglich die Situation in England. Die drei bei weitem führenden Männernamen sind hier um 1166/67 William mit 14,3 %, Robert mit 10,8 % und Richard mit 8,0 %. Alle drei gehören auch noch um 1300 zur führenden Fünfergruppe. Richard ist freilich zu diesem Zeitpunkt bereits von Henry und John überrundet. 1347/48 lautet die Reihenfolge John, William, Robert, Richard, Thomas. Die Spitzenposition von John ist dabei mit 25,3 % vom Zweitplatzierten, William, mit 14,0 % deutlich abgesetzt13. Beispielhaft werden in diesem Verlauf Tendenzen sichtbar, die auch anderwärts den Prozess des Namenschwunds bestimmen: Eine erste Phase ist durch die Konzentration auf Fürstennamen charakterisiert, in einer zweiten treten Heiligennamen in den Vordergrund. Wenn auch nicht überall dieses Schema so klar in Erscheinung tritt – es eignet sich doch als Modell, das die beiden entscheidenden Grundtendenzen dieses Prozesses auseinanderzuhalten hilft. Erklärt man die führende Position von William, Robert und Richard im hoch- und spätmittelalterlichen England aus deren Eigenschaft als Fürstennamen, so darf man dabei nicht die jeweils aktuellen Herrschaftsverhältnisse im Auge haben. Den Namen Robert hat kein einziger englischer König getragen. Richard und William waren als Königsnamen von geringerer Bedeutung als der 1239 von den Plantagenets wieder aufgegriffene und seither langfristig dominante angelsächsische Edward. Trotzdem haben sie die Namengebung stärker beeinflusst14. Man wird diese so nachhaltig wirkende Namentrias in ihrer Gemeinsamkeit wohl am ehesten als die normannischen Herzogsnamen charakterisieren können. Ihre Wirkung auf das englische Namengut wurzelt offenbar in Gegebenheiten, die vor das Jahr 1066 zurückreichen. Unter den Namen der 80 wichtigsten Gefährten Wilhelms des Eroberers finden sich nicht weniger als 15 William, 9 Robert und 5 Richard15. In einer Urkunde des Normannenherzogs Richard II., in der die hohe Zahl 13 Cokayne (wie Anm. 12) 3, 625f. 14 Wenn der deutsche Satiriker Johann Fischart 1582 in seiner „Geschichtsklitterung“ bei der Darstellung der häufigsten Namen in verschiedenen Regionen Europas vermerkt: „dass … alle Engellender Richard und Edwart … heißen“ (Bach, wie Anm. 1, 131), so ist dieser Befund statistisch nicht zu halten. Der bei Weitem führende Name war damals William mit 22,5 % vor John und Thomas (E. G. Withycombe, The Oxford Dictionary of English Christian Names, 3 Oxford 1977, XXVIII). Auch die Beliebtheit von Richard wurde durch Edward nicht erreicht. Fischart stellte offenbar die ihm besonders fremd klingenden und daher besonders auffälligen Namen als besonders häufig in den Vordergrund. 15 Weekley (wie Anm. 12) 38.
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von 120 Zeugen aufscheint, begegnen 9 William, 8 Richard, allerdings nur 2 Robert16. Insgesamt zeichnet sich in den normannischen Herzogsurkunden der Zeit vor 1066 bereits eine deutliche Konzentration auf diese drei Leitnamen des Fürstenhauses ab. Die damals grundgelegten Namenmuster wurden nach England übernommen und verbreiteten sich hier mit zunehmender Intensität. Wie sich aus dem Aufstieg des Namens Henry ergibt, der bei den Normannen noch fast völlig fehlt, konnten auch noch im 12. Jahrhundert Fürstennamen sehr nachhaltig die Namengebung beeinflussen. Die entscheidende Phase für den Beginn des Konzentrationsprozesses auf Fürstennamen scheint jedoch im Zeitraum davor gelegen zu sein. Auch auf dem Festland haben die normannischen Herzogsnamen des 10. und 11. Jahrhunderts im Namengut der Bevölkerung lange nachgewirkt. In den Listen von Eu stehen Guillaume, Robert und Richard im ersten Untersuchungsabschnitt noch unter den führenden Fünf. Nach 1300 fällt Richard allerdings aus dieser Gruppe heraus. In allen drei Abschnitten nimmt Johannes bei weitem die Spitzenposition ein. Mit Petrus findet sich noch ein zweiter Heiligenname in der Führungsgruppe. Der Prozess der Namenreduktion ist hier also schon stark durch das Vordringen der Heiligennamen mitbestimmt. Die führenden Fürstennamen beschränken sich auf die der Herzöge. Deren königliche Lehensherren haben die Namengebung nicht im gleichen Maße beeinflusst. Eventuell könnte bei der Häufigkeit des Namens Robert an eine verstärkende Wirkung des Königshauses gedacht werden. Grundsätzlich wird zu beachten sein, dass die Wirkung von Fürstennamen von verschiedenen Ebenen der Herrschaftshierarchie ihren Ausgang nehmen kann. Welche jeweils im Vordergrund steht, hat für eine gesellschaftsgeschichtliche Interpretation der Namenhäufigkeit sicher Bedeutung. Die beiden brabantischen Listen des 13. und 14. Jahrhunderts zeigen strukturell recht ähnliche Verhältnisse. Auch hier liegt der Heiligenname Johannes mit 23,0 % bzw. 27,3 % in deutlicher Distanz zum jeweils Nächstplatzierten auf dem ersten Platz. Den dritten bzw. zweiten Platz nimmt mit 8,9 bzw. 11,5 % der Fürstenname Heinrich ein. Er lässt sich nicht ohne weiteres als Königs- oder als Herzogsname zuordnen. Bei den Herzögen von Brabant und ihren Vorfahren kommt er seit dem 10. Jahrhundert fast in jeder Generation vor. Zugleich war er das ganze Hochmittelalter hindurch der häufigste deutsche Königsname. Andere Königsnamen der Zeit treten allerdings in den Brabanter Listen nicht gehäuft auf. So wird man auch bei Heinrich die Bedeutsamkeit dieser Eigenschaft für die Verbreitung des Namens im Untersuchungsgebiet eher gering veranschlagen dürfen. Eindeutig als Herzogsname lässt sich der an siebenter bzw. an fünfter Stelle liegende Name Gottfried qualifizieren. Er begegnet seit der Mitte des 10. Jahrhunderts in verschiedenen lothringi16 Marie Fauroux, Recueil des actes des ducs de Normandie de 911 à 1066 (Caen 1961) 134f.
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schen Herzogsfamilien und war seit dem 11. und 12. Jahrhundert der zweite Leitname des Hauses Löwen-Brabant. Die ältere Brabanter Liste enthält auch Frauennamen in einem Ausmaß, das statistisch einigermaßen fundierte Aussagen erlaubt. Unter den ersten fünf Frauennamen liegen Elisabeth mit 18,2 % und Margarete mit 18,0 % mit großem Abstand vor Ida mit 8,1 %, Beatrix mit 6,8 % und Katharina mit 6,1 %. Die Dominanz der Heiligennamen ist hier also noch deutlicher. Beachtlich erscheint jedoch, in welchem Ausmaß Fürstinnennamen die weibliche Namengebung beeinflusst zu haben scheinen17. Ida war der Name der ersten Gattin, der Tochter und der Schwester Gottfrieds des Bärtigen (1095–1130), des ersten Herzogs von Brabant18. Dessen Tante zweiter Linie, eine Tochter Herzog Gottfrieds des Buckligen von Lothringen, hieß ebenfalls Ida19. Sie heiratete Graf Eustach II. von Boulogne und wurde die Mutter Gottfrieds von Bouillon, des Herzogs von Niederlothringen seit 1088 und späteren Königs von Jerusalem. Sie starb 1113 und wurde als Heilige verehrt. Die starke Verbreitung des Namens geht aber wohl nicht auf diesen Umstand zurück. In denselben Personenkreis führt der viertplatzierte Name Beatrix20. So hieß die 1076 verstorbene zweite Gattin Herzog Gottfrieds des Buckligen, ebenso eine Tochter Heinrichs III. von Löwen sowie einige andere Angehörige führender lothringischer Geschlechter. Zum Unterschied von Ida handelt es sich bei Beatrix um einen alten christlichen Heiligennamen. Wie noch zu zeigen sein wird, hat er jedoch wohl primär als Fürstinnenname Verbreitung gefunden. Festzuhalten gilt es, dass jene gesellschaftlichen Wirkkräfte, die im Hochmittelalter zur Verbreitung männlicher Fürstennamen führten, auch die weibliche Namengebung nachhaltig beeinflusst zu haben scheinen. Auch die für Köln aus Quellen des 12. Jahrhunderts zusammengestellten Ranglisten von Personennamen ermöglichen sowohl für Männer- als auch für Frauennamen statistische Vergleiche auf relativ breiter Basis21. Für den frühen Erhebungszeitraum erscheint es typisch, dass die Heiligennamen im Prozess der Namenkonzentration noch eine rela-
17 Dazu grundsätzlich Jan Lindemans, Over de invloed van enge vorstinnennamen op de naamgeving in de Middeleuwen, in: Verslagen en Mededelingen der Koninklijke Vlaamse Academie voor Taal- en Letterkunde 1950, 99 ff. 18 Erich Brandenburg, Die Nachkommen Karls des Großen (1964) 52. 19 Ebenda, 76 und 54. 20 Ebenda, 67. Vgl. dazu auch die Überblicksdarstellung über die genealogischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen adeligen Trägerinnen des Namens Beatrix bei Klaus W. Littger, Studien zum Auftreten der Heiligennamen im Rheinland (1975) nach 216, sowie Jan Lindemans, Beatrijz in onze Naamgeving, in: Verslagen en Mededelingen der Koninklijke Vlaamse Academie voor Taalen Letterkunde 1951, 153ff. 21 Wagner (wie Anm. 12) 41, 57.
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tiv untergeordnete Rolle spielen. Unter den männlichen Heiligennamen ist auch damals schon Johannes der häufigste. Er nimmt mit einem Anteil von weniger als einem Viertel des Erstplatzierten aber bloß den siebenten Rang ein. Bei den Frauennamen rangiert Elisabeth an vierter Stelle, Christina an sechster, Margarete an siebenter. Die Fürstennamen sind im Vergleich dazu viel stärker vertreten. Um typische Königsnamen handelt es sich beim Spitzenreiter Heinrich und beim Fünftplatzierten Konrad. Gottfried am sechsten Platz verweist auf die niederlothringischen Herzöge, Hermann am zweiten auf die rheinische Pfalzgrafenfamilie der Ezzonen, aus der auch ein Kölner Erzbischof dieses Namens hervorgegangen ist22. Bei den Frauen stehen mit Mathilde und Adelheid die Namen zweier Königinnen aus der sächsischen Dynastie an zweiter und dritter Stelle. Hedwig an fünfter deutet ebenso auf diese Dynastie. Auch Beatrix am neunten Platz ist, wie schon erwähnt, ein Fürstinnenname. Schwierig ist eine Zuordnung von Gertrud, dem in Köln im 12. Jahrhundert führenden Frauennamen. Die 659 verstorbene heilige Gertrud von Nivelles war zwar eine Tochter des austrasischen Hausmeiers Pippin d. Älteren, die karolingischen Könige haben jedoch diesen Namen ihren Töchtern nie gegeben. Als typischer Name der Königsdynastie wie Mathilde oder Adelheid hat er sich also sicher nicht verbreitet. Aber auch mit Heiligennamen wie Elisabeth und Margarete lässt er sich in Hinblick auf seine Verbreitungsbedingungen kaum typologisch zusammenfassen23. Am Breslauer Material lässt sich besonders schön die Verschiebung im Prozess der Namenkonzentration von den Fürstennamen zu den Heiligennamen beobachten. In der früheren Untersuchungsphase, dem ausgehenden 13. und 14. Jahrhundert, liegen die beiden Königsnamen Heinrich und Konrad mit einem gleichen Anteil von je 10 % an der Spitze, gefolgt von den beiden bedeutendsten Heiligennamen Johannes und Nikolaus mit zusammen 14 %. Im späteren Zeitraum zwischen 1361 und 1400 ist das Verhältnis umgekehrt. Nikolaus und Johannes nehmen mit 26 bzw. 20 % die ersten Plätze ein, während Heinrich und Konrad auf den vierten und sechsten Platz zurückfallen24. Trotzdem bleiben sie nach wie vor die stärksten Vertreter jener Gruppe, die sich als Fürstennamen charakterisieren lässt. Die dominante Rolle von Heinrich und Konrad in der spätmittelalterlichen Namengebung lässt sich auch anderwärtig in vielen Regionen Deutschlands beobachten25. Die besondere Häufigkeit gerade dieser beiden Namen hat dazu geführt, dass es zu einer formel22 Ursula Lewald, Die Ezzonen. Das Schicksal eines rheinischen Fürstengeschlechtes, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 43 (1979) 120ff. 23 Unter den Heiligennamen der Kalendare und Litaneien des Kölner Raumes vom 8. bis zum 13. Jahrhundert fehlt Gertrud durchgehend (Littger, wie Anm. 20, 150f.). 24 Reichert (wie Anm. 3) 27f. 25 Bach (wie Anm. 1) 26ff.
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haften Verknüpfung mit besonderem Bedeutungsgehalt gekommen ist. Die Bezeichnung „Hinz und Kunz“ ist bis heute geläufig26. Sie meint jeden Beliebigen. Im Mittelalter bezog sie sich insbesondere auf den sogenannten „armen Mann“, die breite Masse vor allem der ländlichen Bevölkerung, für die die beiden Königsnamen durch ihre inflationäre Verbreitung charakteristisch geworden sind. Ihrer besonderen Häufigkeit entsprechend begegnen sie in Rechtsquellen seit etwa 1300 oft als Probenamen, manchmal mit anderen zahlreich auftretenden Namen wie Ulrich oder Friedrich kombiniert27. Es ist bezeichnend, dass als korrespondierender weiblicher Name mitunter „Metz“ oder „Metze“ hinzutritt, also die Kurzform von Mathilde28. Die beiden Namen des ersten Königspaars der sächsischen Dynastie haben offenbar eine recht ähnliche Entwicklung genommen. Ihre massenhafte Verbreitung hat schließlich zur Abwertung geführt. Wie die formelhafte Verknüpfung von „Hinz und Kunz“ parallele Prozesse der Konzentration auf zwei Königsnamen zum Ausdruck bringt, so spiegelt die Verbindung mit „Metze“ diesbezüglich Analogien zwischen weiblichem und männlichem Namengut. Die Wirkung der Königsnamen auf die Namengebung dürfte allerdings in den verschiedenen Regionen des Reiches sehr unterschiedlich gewesen sein. Während Heinrich in Köln und Breslau im 12. bzw. 13. Jahrhundert in führender Position anzutreffen ist, rangiert er in Metz zwischen 1267 und 1298 mit 2,7 % nur an achter Stelle. Konrad nimmt überhaupt nur den 33. Platz ein29. Unmittelbar vor Heinrich liegen mit Dietrich und Gerhard zwei Namen oberlothringischer Herzöge des 10. und 11. Jahrhunderts. Am fünften Platz steht Simon, der Name zweier Herzöge des 12. Jahrhunderts, der aber wohl schon vorher als Heiligenname Verbreitung gefunden hat. Die Heiligennamen belegen insgesamt in Metz bereits in diesem frühen Zeitraum das Spitzenfeld. Sie übertreffen die Fürstennamen an Häufigkeit bei Weitem. Der führende Johannes etwa tritt mehr als sechsmal so häufig auf wie der Königsname Heinrich. Bei den Frauennamen ist die Situation ähnlich. Namen, die auf das Königshaus verweisen, erscheinen weit abgeschlagen; solche der Herzogsfamilien sind etwas besser platziert, aber auch nicht auf den vordersten Rängen. Die Benennung nach Fürsten scheint ganz allgemein hier keine so große Bedeutung erlangt zu haben. Für Frankreich bietet das reiche Namenmaterial der Pariser Steuerrollen aus den Jahren zwischen 1292 und 1393 einen interessanten Einblick in den Prozess der Konzentration auf 26 Artikel Kunz, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch 5 (1873) Sp. 2746ff.; Othmar Meisinger, Hinz und Kunz. Deutsche Vornamen in erweiterter Bedeutung (1925) 35 und 51. 27 Grimm 5, Sp. 2748. 28 Grimm 5, Sp. 2750; Meisinger (wie Anm. 26) 85ff. 29 In Verbindung mit Cuno berechnet nach Jacobsson (wie Anm. 10) 10.
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Fürsten- und Heiligennamen30. Die einzelnen Positionen ändern sich in den sieben Querschnitten nur geringfügig. Auch hier dominieren die Heiligennamen mit Jean an erster Stelle, Pierre an dritter, Nicolas an fünfter, Thomas an siebenter und Etienne an zehnter. Unter den Fürstennamen fehlen die der karolingischen Könige vollkommen, ebenso der Odos, des ersten robertinischen Königs im ausgehenden neunten Jahrhundert. Von den Königsnamen des 10. und 11. Jahrhunderts begegnet Robert an vierter, Raoul an achter, Hugo an achtzehnter, Henri an elfter und Philippe, bei dem erstmals ein Königs- und ein Heiligenname zusammenfällt, an einundzwanzigster Stelle. Der im ausgehenden 11. Jahrhundert von den Kapetingern als Königsname wieder aufgegriffene Ludwig findet im Namengut der Pariser Bevölkerung um 1300 keinen spürbaren Niederschlag. Auffallend erscheint, dass einige andere Fürstennamen damals stärker vertreten sind als die des Königshauses. Das gilt für Richard am sechsten Platz31 und vor allem für Guillaume am zweiten. Wir sind Guillaume in der Normandie als einem führenden Fürstennamen begegnet. Dieselbe Rolle spielte er in Aquitanien, Poitou, Toulouse, Auvergne oder Burgund, nicht aber in der Krondomäne. Guillaume hatte allerdings für die Namengebung eine eigenartig vielfältige Bedeutung. Zumindest seit der Kanonisation des Baskensiegers Wilhelm von Aquitanien 1066 war er zugleich auch Heiligenname. Dass dieser als Guillaume d’Orange in die Chansons de geste einging, dürfte dem Namen über die epische Heldendichtung zusätzliche Verbreitung verschafft haben. Die Stellung von Guillaume als Fürstenname lässt sich besonders deutlich im Poitou fassen. Von 934 bis 1137 führten mit einer nur einjährigen Unterbrechung acht Grafen des Poitou hintereinander den Namen Guillaume32. Der Name war dem Fürstenhaus so wichtig, dass zweimal jüngere Brüder, die unerwartet zur Herrschaft gelangten, ihren bisherigen Namen in Guillaume änderten33. So wundert es nicht, dass die Statistik der Namenhäufigkeit in dieser Region von 975 bis 1150 den Namen Guihelmus in der Spitzenposition zeigt34. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass die ursprünglichen Namen der 30 Michaëlsson (wie Anm. 10) 60f. 31 Richard und Hugo erscheinen in einer vielleicht aus Paris stammenden Rechtsquelle des 12. Jahrhunderts in ähnlicher Weise als Probenamen wie später Heinrich und Konrad in Deutschland (Friedrich Schulte, Über die Summa legum des Codex Gottwicensis Nr. 38 aus dem XV. Jahrhundert, Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Classe 57, 1868, 449f.). Die beiden Namen dürften damals dort also sehr häufig gewesen sein. 32 Walther Kienast, Der Herzogstitel in Frankreich und Deutschland (9. bis 12. Jahrhundert) (1968) 176ff. 33 Gertrud Thoma, Namensänderungen in Herrscherfamilien des mittelalterlichen Europa (Münchener historische Studien, Abteilung mittelalterliche Geschichte 3, 1985) 115ff. 34 George T. Beech, Les noms de personne poitevins du 9e au 12e siècle, in: Revue internationale d’onomastique 26 (1974) 99.
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beiden umbenannten Fürsten, Petrus und Gauffredus, im ausgehenden 11. Jahrhundert in der Rangliste an zweiter und dritter Stelle folgen. Bemerkenswert erscheint, dass mit Rainaldus damals ein Grafenname des 9. Jahrhunderts an zweiter Stelle liegt. Die französischen Königsnamen hingegen fehlen mit Ausnahme von Robert unter den im Poitou im Hochmittelalter häufiger vorkommenden Namen völlig. Ein ähnliches Bild bietet die Auswertung des Obituariums von Moissac aus dem 12. Jahrhundert35. Die tolosanischen Grafennamen Bernardus, Wilhelmus und Raimundus stehen in der Häufigkeitsliste an erster, fünfter und achter Stelle, die Königsnamen Hugo und Rodbertus nur an siebenter und neunter. Die für italienische Städte des 13. Jahrhunderts zusammengestellten Listen der Namenhäufigkeit zeigen deutlich, dass hier die Konzentration auf Heiligennamen eindeutig im Vordergrund steht. Jacobus spielt dabei eine besondere Rolle. Im florentinischen Libro di Montaperti von 1260 steht er weit vor Johannes an der Spitze, ebenso in Mailand 1286 vor Petrus36. In Siena nimmt er 1260 den dritten Platz ein, in Genua 1251 und 1261 den zweiten37. Die Bedeutung der Fürstennamen hingegen erscheint vergleichsweise gering. Von den Kaisernamen findet sich Enricus nur in Genua in den Listen des 12. und 13. Jahrhunderts vereinzelt in der Spitzengruppe. In Mailand begegnet er an zwölfter Stelle, in Florenz an dreißigster. Conradus tritt bloß in Genua 1368 in nennenswerter Häufigkeit auf. Bemerkenswert erscheint die günstige Platzierung von Guido und Ugo in Florenz an dritter und fünfter Stelle, in Siena an zweiter und neunter. Beide Namen können sowohl auf italienische Könige (889–894 bzw. 926–947) als auch auf tuszische Markgrafen (915–928/29 bzw. 970–1001) bezogen werden. Bedenkt man, dass in Florenz mit Albertus und Ubertus am 12. und 25. Rang noch zwei weitere Markgrafennamen des 10. Jahrhunderts begegnen, so wird man vielleicht eher der letzteren Sichtweise zuneigen, obwohl beide einander ja nicht ausschließen.
Konzentration auf Fürstennamen Dieser geraffte Überblick über ausgewählte Beispiele der Häufigkeitsverteilung von Personennamen im Hoch- und Spätmittelalter lässt deutlich erkennen, dass der Prozess des Namenschwunds in allen untersuchten Gebieten durch eine Konzentration sowohl auf Heiligennamen als auch auf Fürstennamen bedingt ist. Die Heiligennamen lassen im All35 Morlet (wie Anm. 12). 36 Brattö (wie Anm. 10) 11 und 29. 37 Kedar (wie Anm. 12) 440.
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gemeinen eine raschere Häufigkeitszunahme erkennen. Die Konzentration auf Fürstennamen war in der Intensität meist schwächer, setzte jedoch durchgehend schon früher ein. Bei ihnen ist wohl der Ausgangspunkt der Gesamtentwicklung zu suchen. Ob und wie die beiden Prozesse ursächlich zusammenhängen, ist sicher von Interesse. Es erscheint lohnend, dieser Frage weiter nachzugehen. Hier sollen zunächst bloß die maßgeblichen Faktoren, die seit dem Hochmittelalter zu einer Verbreitung von Fürstennamen geführt haben, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Obwohl die der Analyse zugrunde gelegten Materialien einen Vergleich der Entwicklung von Frauennamen und Männernamen nicht gerade begünstigen, lässt sich doch schon auf dieser Basis festhalten, dass der Prozess des Namenschwunds in beiden Gruppen ziemlich parallel verlaufen sein dürfte. Auch für die Reduktion der Frauennamen spielte die Konzentrationstendenz auf das Namengut der Fürstenhäuser eine gewisse Rolle. Die Zusammenhänge sind allerdings diesbezüglich schwieriger fassbar. Unter den weiblichen Angehörigen von Fürstenfamilien ist es nicht im gleichen Ausmaß zur Leitnamenbildung gekommen wie unter den männlichen. Entsprechungen zur Häufigkeitsverteilung bestimmter Namen in abhängigen Bevölkerungsgruppen treten deshalb weniger klar in Erscheinung. Die Analogien zwischen Frauen- und Männernamen sind für die Interpretation jener Sozialbeziehungen, die zur Verbreitung der Fürstennamen im Allgemeinen geführt haben, von besonderer Bedeutung. Im regionalen Vergleich des untersuchten Materials fällt auf, dass die Bedeutung der Fürstennamen für den Prozess des Namenschwunds sehr unterschiedlich ist. Ebenso unterschiedlich erweist sich jedoch auch der Anteil, den jeweils die Königsnamen bzw. andere Fürstennamen daran haben. Den Extremfall stellt England dar. Das Namengut der normannischen Dynastie dominiert hier total. Konkurrierende Einflüsse der großen Kronvasallen lassen sich nicht erkennen. In Deutschland hingegen konnten sich vielfach Herzogsnamen gegen Königsnamen durchsetzen. Es erscheint bezeichnend, dass sich in Schwaben analog zu „Hinz und Kunz“ die formelhafte Wendung „Butz und Bentz“ ausgebildet hat, die auf die besondere Häufigkeit der Herzogs- und Grafennamen Burkhard und Berthold verweist38. In Frankreich haben die Königsnamen der frühen Kapetingerzeit keinen vergleichbar starken Einfluss auf die Namengebung gehabt wie Heinrich und Konrad in Deutschland. Die Herzogsnamen stehen hier zunächst im Vordergrund. Solche Unterschiede legen den Gedanken nahe, dass die Prozesse der Verbreitung von Fürstennamen mit jeweils unterschiedlichen Gegebenheiten der Herrschafts- und Verfassungsstruktur in Zusammenhang zu bringen sind. 38 Bach (wie Anm. 1) 29; Hans Bahlow, Deutsches Namenlexikon (1967) 14, zur Verbreitung von Burkhard und Berthold in Schwaben.
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Deutliche Übereinstimmungen ergeben sich im Untersuchungsmaterial in zeitlicher Hinsicht: Die Verbreitung von Fürstennamen über die fürstliche Familie hinaus scheint generell erst im 10. Jahrhundert aufgekommen zu sein. Von den maßgeblichen Bezugspersonen weit ausgreifender Nachbenennungsprozesse konnte jedenfalls keine eindeutig einem früheren Zeitraum zugeordnet werden. Hinsichtlich der Königsnamen liegt die entscheidende Zäsur offenbar zwischen den Karolingern und ihren jeweiligen Nachfolgern. Die Karolinger zeichneten sich in ihrer Namengebung durch besondere Exklusivität aus. Keine noch so mächtige Adelsfamilie konnte während ihrer Herrschaft einem Sohn den Namen Karl oder Ludwig, Pippin, Lothar oder Karlmann geben. Auch nach dem Aussterben der Dynastie verbreiteten sich ihre charakteristischen Königsnamen nicht. Ganz anders war es unter den Ottonen. Der Name Heinrich wurde schon zu Lebzeiten der ersten Könige weit über die Königsfamilie hinaus vergeben und damit die Entwicklung zu seiner großen Häufigkeit in späterer Zeit grundgelegt. Diese unterschiedlichen Praktiken einer geschlossenen bzw. einer offenen Namengebung stehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Unterschieden in der Konzeption des Königtums und in der Gestaltung des Herrschaftssystems in Zusammenhang. Über die Karolingerzeit hinaus hat sich der exklusive Gebrauch von Königsnamen durch das Fürstenhaus in Osteuropa gehalten. In Polen blieben die Namen Mieczyslaw, Boleslaw, Leszek, Wladislaw und Kasimir auf die Dynastie der Piasten beschränkt 39. Spätmittelalterliche Personenverzeichnisse aus der Ukraine nennen unter tausenden Namen keinen einzigen der frühen rurikidischen Fürsten40. Es gibt in Osteuropa keine Parallele zum „Hinz und Kunz“-Phänomen. Auch dieser Ost-West-Kontrast ist ein starkes Indiz für die Hypothese, dass die Verbreitung von Fürstennamen in Mittel- und Westeuropa seit dem 10. Jahrhundert von spezifischen Gegebenheiten der herrschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung dieses Raumes in nachkarolingischer Zeit ursächlich bedingt gesehen werden muss. Die zunehmende Verbreitung der Fürstennamen im Hochmittelalter hat in der Literatur sehr unterschiedliche Erklärungen gefunden. Seitens der Germanistik wird vielfach eine allgemeine Regelhaftigkeit der Namengebung als Hintergrund angesehen. So meint etwa Adolf Bach: „Zu allen Zeiten erteilte man einem Kinde gern den Namen eines verehrten Herrschers.“41 Er beruft sich dabei auf Robert Arnold mit seinem Prinzip der „dy39 Alexander Gieysztor, Le lignage et la famille nobiliaire en Pologne aux XIe, XIIe et XIIIe siècles, in: Georges Duby und Jacques Le Goff, Famille et parenté dans l’occident médiéval (Rom 1977) 304. 40 Ireida Irene Tarnawecky, Anthroponymie in the Pomianyk of Horodyšče of 1484, in: Names 13 (1965) 90. 41 Bach (wie Anm. 1) 253.
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nastischen Hilfe“, der seinerseits formuliert: „Hier gelangen Loyalität und Patriotismus, die der Namengebende gleichsam ipso facto auf den Täufling zu vererben wünscht, zum Ausdruck.“42 Im gleichen Verständnis stellt Edward Schröder in seiner Skizze „Von der Verbreitung des Namens Heinrich und vom Schicksal der Fürstennamen überhaupt“ die Nachbenennung nach König Heinrich I. der patriotischen Namengebung nach den Hohenzollern im 19. Jahrhundert unmittelbar an die Seite43. Solche Ansätze können wenig überzeugen. Ausdrucksformen vaterländischer Gesinnung in der Moderne lassen sich gewiss nicht auf das Hochmittelalter übertragen. Auch die Annahme zeitlos gültiger Regeln der Namengebung erscheint aus gesellschaftsgeschichtlicher Sicht nicht akzeptabel. Dass die Nachbenennung nach Herrschern sehr kurzfristig sehr grundsätzlichen Wandlungsprozessen unterliegen kann, hat der Vergleich zwischen den Verhältnissen der Karolingerund der Ottonenzeit anschaulich vor Augen geführt. Unter den Erklärungen der Historiker betont ein erster Ansatz die Bedeutung der kognatischen Beziehungen für die Verbreitung der Königsnamen. Reinhard Wenskus schreibt dazu: „Die Sitte, die Namen der vornehmeren Familie aus möglichst großer Königsnähe, stärker zu bevorzugen, führte zu jenen Nachbenennungsbeziehungen des fränkischen Hochadels, die es uns heute so schwer machen, die agnatischen Geschlechter, deren Bedeutung im Bewusstsein des Adels gegenüber den cognatischen Bindungen an die angeseheneren Verwandten nun zurücktrat, zu rekonstruieren; eine Aufgabe, der wir aus verfassungsgeschichtlichen Gründen dennoch nicht entraten können. Diese Tendenz hat letzten Endes dazu geführt, dass im Spätmittelalter alles ‚Hinz und Kunz‘ hieß, d. h. die Kaisernamen Heinrich und Konrad trug.“44 Dieser Ansatz spricht insofern einen wichtigen Punkt an, als in den Nachbenennungspraktiken in weiblicher Linie das neue Verhält42 Robert F. Arnold, Die deutschen Vornamen (2, 1901) 39. 43 In: Deutsche Namenkunde (1938) 75f. 44 Reinhard Wenskus, Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel (1976) 45 f. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Karl F. Werner (Liens de parenté et noms de personne. Un problème historique et méthodologique, in: Georges Duby und Jacques Le Goff [Hg.], Famille et parenté dans l’occident médiéval, Rom 1977, 26 f.): «Jusqu’au XIIe siècle, les deux noms (Cuonradus et Heinricus) sont portés presque exclusivement par les parents et les descendants de ces deux rois et de leurs collatéraux. Etant donné le prestige royal, chaque famille qui réussit une alliance avec un porteur légitime de ce nom n’hésite pas à donner à un de ses fils, souvent au premier, ce nom prestigieux. Henri et Conrad seront non seulement les noms de rois ,classiques’ en Allemagne, ils seront finalement tellement répandus en Allemagne qu’apparaîtra pour désigner ,tout le monde’ le diction: Hinz und Kunz, c’est-à-dire Heinrich et Conrad. Cet exemple illustre bien le fait que la répétition, quand elle était dominée par l’idée du prestige social, et c’était précisement le cas, tendait nécessairement à multiplier les noms prestigieux aux détriment des autres, qui devenaient ainsi de plus en plus rares.»
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nis zu den Königsnamen seit dem 10. Jahrhundert deutlich zum Ausdruck kommt. Während es durch die Karolingerinnen im Prinzip nicht zur Weitergabe von Königsnamen gekommen ist45, haben die Töchter des sächsischen Königshauses sehr wesentlich zu deren Verbreitung unter ihren Nachkommen beigetragen. Viele Träger der Namen Heinrich oder Otto unter den Fürsten- und Adelsgeschlechtern des Hochmittelalters lassen sich auf sie zurückführen. Trotzdem kommt man in unüberwindliche Schwierigkeiten, will man die Verbreitung der Königsnamen ausschließlich auf dem Weg direkter Abstammung erklären. Schon im Hochadel stößt man mit dem Versuch einer solchen Ableitung sehr rasch an Grenzen, ganz zu schweigen von den übrigen Bevölkerungsgruppen, in denen diese Namen übernommen wurden. Das „Hinz und Kunz“-Phänomen setzt viel weiter reichende Multiplikatoren des königlichen Namenguts voraus. Die Beobachtung, dass die Nachbenennung nach dem Königshaus über kognatische Zusammenhänge seit ottonischer Zeit eine wesentliche Rolle spielt, wirft die Frage nach der spezifischen Funktion der Heiratsbeziehungen auf. Ebenso wie die Robertiner oder auch das normannische Herzogshaus haben die Ottonen Verwandtschaftsbeziehungen als Bekräftigung und Verstärkung lehensrechtlicher Abhängigkeit eingesetzt46. Bei den Karolingern fehlt dieses Moment. So muss es nicht die verwandtschaftliche Bindung allein gewesen sein, die die mit dem Königshaus verschwägerten Großen zur Orientierung an dessen Namengut bewogen hat. Ein zweiter Ansatz, der die Verbreitung der Fürstennamen seit dem 10. Jahrhundert erklären helfen könnte, geht über die Beziehungen der Blutsverwandtschaft hinaus. Jack Goody formuliert in Anschluss an Michael Bennett: „Im elften und zwölften Jahrhundert (der Zeit der ‚Reformen‘) scheint es zumindest im Kreis der französischen und deutschen Aristokratie zu einer bedeutenden Verschiebung in der Praxis der Namengebung gekommen zu sein. Waren früher die Kinder nach den Großeltern und nicht nach den Pateneltern benannt worden, tendierte man in der Folgezeit dazu, Taufnamen von oder nach Pateneltern anzunehmen; ein wichtiger Indikator für die Bedeutungsverlagerung von verwandtschaftlichen zu außerverwandtschaftlichen Beziehungen oder auch von der Bluts45 Vgl. die Stammtafel in Karl F. Werner, Die Nachkommen Karls des Großen bis um das Jahr 1000, in: Wolfgang Braunfels (Hg.), Karl der Große, Lebenswerk und Nachleben 4 (1967) Anhang. Mit Ausnahme von Karls des Großen Enkel durch seine Tochter Rotrud, den 800 geborenen Ludwig, nachmals Abt von St. Denis, der in der Königsfamilie aufwuchs, sind die wenigen Nachbenennungen nach Königen in weiblicher Linie nach dem Aussterben der ältesten Linie des Königshauses in Hinblick auf Nachfolgeansprüche erfolgt (König Ludwig III., geb. 880, dessen Sohn Karl Konstantin, geb. 901, sowie König Lothar v. Italien, geb. 926/28). 46 Ludwig Buisson, Formen normannischer Staatsbildung (9. bis 11. Jahrhundert) in: Studien zum mittelalterlichen Lehenswesen (Vorträge und Forschungen 5, 1960) 143, 147ff.
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zur spirituellen Verwandtschaft. Die Folge war, wie Bennett anführt, dass der Vorrat an Vornamen, insbesondere an germanischen Vornamen zurückging.“47 Dieses als Erklärung des Namenschwunds im allgemeinen konzipierte Modell könnte insoferne zum besseren Verständnis gerade der Verbreitung von Fürstennamen beitragen, als zu Paten häufig höhergestellte Personen gewählt wurden. Namensweitergabe durch Taufpatronat bedeutet so implizit eine Tendenz zur Vertikaldiffusion des Namenguts. Im Frühmittelalter war es zwar durchaus üblich, dass der Taufpate auf die Namengebung des Patenkinds Einfluss nahm, die Übertragung des eigenen Namens aber lässt sich damals noch nicht nachweisen48. Erst in karolingischer Zeit scheint dieser Brauch aufgekommen zu sein. Ein markantes Beispiel dafür im Königshaus selbst ist die Namengebung eines unehelichen Sohnes des späteren Kaisers Arnulf, der um 870 den Namen seines Paten, des großmährischen Fürsten Swjatopluk/Zwentibolch erhielt49. Als einige Jahre später der englische König Alfred der Große den Dänen Guttorm zu seinem Paten- und Adoptivsohn machte, gab er ihm zwar einen Namen aus seiner Familie, aber nicht seinen eigenen50. Guttorm wurde nach Alfreds verstorbenem Bruder Aethelstan benannt51. Die Weitergabe des Patennamens an das Patenkind setzt offenbar die Nachbenennung unter Lebenden voraus, die sich damals im angelsächsischen Königshaus noch nicht durchgesetzt hatte52. Im fränkischen Reich war diese Form der Namensübertragung hingegen schon üblich. Früher als im Westen lässt sich die Übernahme des Patennamens in Byzanz nachweisen53. Von Byzanz aus dürfte sich auch jene Gleichstellung von Blutsverwandtschaft und geistlicher Verwandtschaft verbreitet haben, die in Eheverboten für Personen ihren Niederschlag fand, die durch Patenbeziehungen miteinander verbunden 47 Jack Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, (1986) 218, nach Michael Bennett, Spiritual kinship and the baptismal name, in: L. O. Frappell (Hg.), Principalities, powers and estates: Studies in medieval and early modern government and society (Adelaide 1979) 9. 48 Joseph E. Lynch, Godparents and Kinship in Early Medieval Europe (Princeton 1986) 172ff. 49 Arnold Angenendt, Kaiserherrschaft und Königstaufe. Kaiser, Könige und Päpste als geistliche Patrone in der abendländischen Missionsgeschichte (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 15, Berlin – New York 1984) 243. 50 Angenendt (wie Anm. 49) 267f., Thoma (wie Anm. 33) 64ff. 51 Wie Guttorm den Königsnamen Aethelstan von einem Toten übernahm, so wurde dieser auch erst nach seinem Tod neu vergeben. Guttorm starb 890. 894 wurde Alfreds ältester Enkel auf den Namen Aethelstan getauft. 52 Michael Mitterauer, Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, in: Festschrift für Karl Bosl (1988). Die Bedeutung der unterschiedlichen Nachbenennungsprinzipien für die Namensübertragung durch geistliche Verwandtschaft wird hier noch nicht berücksichtigt. 53 Angenendt (wie Anm. 50) 248, Thoma (wie Anm. 33) 56.
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waren54. Im Anschluss an römische Synoden des 8. Jahrhunderts hat die karolingische Reformgesetzgebung solche Eheverbote erlassen, die von Zeitgenossen durchaus als Neuerung angesehen wurden. Die Konzeption der Patenschaft als geistlicher Verwandtschaft, wie sie sich in karolingischer Zeit durchsetzte, ist offenbar der Hintergrund für die damals aufkommende Nachbenennung des Täuflings nach dem Paten – eine entscheidende Ausweitung der bisher an der Familie orientierten Namensübertragung. Patenbeziehungen von Fürsten hatten nicht nur geistliche, sondern auch politischherrschaftliche Bedeutung. Seit Karl dem Großen spielen im Frankenreich Patenschaften als Zeichen der Oberhoheit eine wichtige Rolle55. Die Ottonen haben das Taufpatronat als Herrschaftsinstrument nicht im gleichen Umfang eingesetzt. Ein Beispiel aus ottonischer Zeit ist jedoch für Zusammenhänge zwischen herrschaftlicher Abhängigkeit und Namensübertragung durch Patenschaft von besonderem Interesse. Nach der Unterwerfung und Taufe des Dänenkönigs Harald Blauzahn erhielt dessen Sohn zusätzlich zu seinem offenbar aus der Familientradition übernommenen Namen Swen nach seinem königlichen Paten den Namen Otto56. Es lässt sich nicht sicher entscheiden, ob diese Namengebung schon 965 oder erst 974 erfolgte, also an Otto I. oder Otto II. orientiert ist. Als König hat Swen Gabelbart diesen Zweitnamen dann nie getragen, vielleicht in bewusster Ablehnung dessen, was er ursprünglich zum Ausdruck bringen sollte. Strukturell handelte es sich ja um das schon seit langem praktizierte Muster der Unterwerfungstaufe, wobei die Namengebung des Sohnes nach dem Oberherrn hier ergänzend hinzukam. Ein ganz anderes, aber ähnlich aufschlussreiches Muster der Namensübertragung im Kontext einer politisch-herrschaftlich motivierten Patenschaft zeigt sich bei der Taufe des Normannenführers Rollo von 91257. Nach einem militärischen Rückschlag arrangierte sich Rollo mit dem westfränkischen König Karl dem Einfältigen. Er kommendierte sich ihm als Vasall und erhielt dafür die Normandie als Lehen. Gleichzeitig versprach er den Übertritt zum Christentum. Beim Taufakt fungierte jedoch nicht König Karl als Pate, sondern dessen mächtiger Rivale, Herzog Robert von Franzien, von dem Rollo auch seinen neuen Namen übernahm58. Die politische Dimension dieser Patenschaft skizzierte der Berichterstatter, 54 55 56 57 58
Lynch (wie Anm. 48) 219ff., Goody (wie Anm. 47) 211ff., Angenendt (wie Anm. 50) 104f. Angenendt (wie Anm. 50) vor allem 314. Thoma (wie Anm. 33) 72 ff., Angenendt (wie Anm. 50) 277. Buisson (wie Anm. 46) 124, Angenendt (wie Anm. 50) 263ff., Thoma (wie Anm. 33) 68ff. Es scheint, dass bei der Taufe von 912 nicht nur Rollo den Namen seines Paten Robert, sondern auch seine Tochter Gerloc den von dessen Tochter Adela angenommen hat. Dass der Namenswechsel der Tochter damals stattgefunden hat, macht Alfred Richard, Histoire des comtes de Poitou 778–1204, 1, Paris 1903, 75 f., wahrscheinlich. Herzog Robert hatte aus seiner ersten Ehe eine Tochter Adele, die den Namen ihrer Mutter trug. Sie war mit Graf Heribert II. von Vermandois
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indem er Rollo die Worte in den Mund legt: „Succurrat mihi, si necesse fuerit, ut pater filio; ego illi, ut filius patri.“ Die Parallelen zu den Verpflichtungen der Lehensbindung liegen auf der Hand. Politisch motiviertes Taufpatronat mit Nachbenennung und Vasallität scheinen sich in diesem Fall sehr nahegekommen zu sein. Wenn zwischen beiden Institutionen grundsätzlich eine Wechselwirkung bestand, könnten sich für die Frage der Verbreitung von Fürstennamen daraus Klärungen ergeben. Sichere Beispiele für die Übernahme von Königsnamen aufgrund von Patenbeziehungen sind für die Zeit, in der die Verbreitung der Fürstennamen einsetzt, relativ selten. Allerdings kommen unmittelbare Zeugnisse darüber, wer nach wem benannt ist, damals überhaupt nur ausnahmsweise vor, so dass die geringe Zahl von Quellennachrichten über Patennachbenennungen über deren tatsächliche Bedeutung wenig besagt. Auffallend erscheint, dass aus dieser Zeit wenig über Probleme aufgrund des Ehehindernisses der geistlichen Verwandtschaft berichtet wird. Hätten Fürsten damals so viele Patenkinder gehabt, dass durch Nachbenennung aufgrund dieser Verbindungen die Namenhäufigkeit nachhaltig beeinflusst worden wäre, so müssten solche Schwierigkeiten öfter aufgetreten sein. Man wird sich insgesamt die Größenordnungen in der Konzentrationsentwicklung des Namenguts vor Augen führen müssen, wenn man die Bewirkungsmöglichkeiten einzelner Faktoren abwägt. Zweifellos hat die Durchbrechung der rein innerfamilialen Nachbenennung durch den Übergang zur Benennung nach Paten zu einer größeren Häufigkeit einzelner Namen beigetragen. Ausweitung auf kognatische Abstammungslinie und geistliche Verwandtschaft zusammengenommen reichen aber wohl doch nicht aus, um die Verbreitung von Fürstennamen im Hochmittelalter in vollem Umfang zu erklären.
Nachbenennungen nach Fürsten und Fürstinnen in ottonisch-salischer Zeit Wenn im Folgenden versucht wird, die schon mehrfach angesprochenen Lehensbeziehungen als einen dritten Erklärungsansatz für die dargestellten Prozesse der Namenentwicklung plausibel zu machen, so ist dies im Wesentlichen bloß auf der Basis indirekter Hinweise möglich. Es gibt meines Wissens bloß ein einziges Quellenzeugnis, das expliverheiratet (Karl F. Werner, Untersuchungen zur Frühzeit des französischen Fürstentums, in: Die Welt als Geschichte 20, 1960, 96). Trifft die Vermutung zu, dass die normannische Fürstenfamilie nicht nur den Namen Robert allein von den Robertinern übernahm, so wäre das ein interessantes Beispiel für eine Nachbenennung in Gruppe auf einer anderen Grundlage als verwandtschaftlichem Zusammenhang.
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zit die Benennung nach dem Lehensherrn als eine spezifische Form der Namengebung anspricht, ein Zeugnis, das zudem einige Interpretationsprobleme aufwirft. Thietmar von Merseburg beschreibt im vierten Buch seiner Chronik die Familienverhältnisse des polnischen Fürstengeschlechts. Von Boleslaw Chrobrys dritter Frau Emnildis berichtet er hier: „Peperit haec duos filios Miseconem et alium, quem dilecti senioris sui nomine pater vocavit.“59 Unmittelbar vorher bezeichnet er Emnildis Vater Dobremir als „venerabilis senior“. Der Herausgeber der Chronik, Robert Holtzmann, meinte daher, dass dieser Sohn Dobremir geheißen habe. Die auf Boleslaw bezogene Formulierung „senioris sui“ gibt dann freilich keinen Sinn60. Auch ist ein Sohn Boleslaws mit diesem Namen sonst nicht bekannt. Hingegen erwähnt Thietmar anlässlich der vierten Eheschließung Boleslaws mit Oda im Jahre 1018 einen Sohn Otto61. Boleslaws „senior“, nach dem er seinen jüngsten Sohn benannte, war also offenbar sein Lehensherr Kaiser Otto III. Vasallitische Abhängigkeit zu den Ottonen scheint schon bei Boleslaws Vater Mieszko bestanden zu haben62. Boleslaw selbst soll nach einer allerdings sehr späten Überlieferung bei seinem politisch so bedeutsamen Zusammentreffen mit Otto III. in Gnesen zum „frater et cooperator imperii“ erhoben worden sein. Man wollte daraus auf Boleslaws „Eingliederung in eine auf das ottonische Kaisertum bezogene Fürstenfamilie“ schließen63. Diese sollte ein Gegenstück zu der im byzantinischen Reichsdenken so wichtigen Vorstellung von einer „Familie der Könige“ gebildet haben. Die Namengebung von Boleslaws Sohn Otto, die dann mit dem Gnesener Akt in Zusammenhang gebracht werden muss, wäre auf dem Hintergrund einer solchen Konzeption zu verstehen. Auch eine Patenschaft Ottos III. für den polnischen Fürstensohn anlässlich des Gnesener Treffens wurde postuliert, offenbar weil Nachbenennung unter nicht verwandten Personen nur in diesem sozialen Kontext vorstellbar erscheint. Die Quellen bieten dafür nicht den geringsten Ansatzpunkt. Thietmar hätte eine solche Patenschaft des Kaisers sicher erwähnt – sei es bei der Schilderung des Fürstentreffens, sei es im Bericht über die Namengebung. Seine Sprache ist hier völlig klar: Nicht nach seinem „patrinus“ erhielt der Fürstensohn den Namen, sondern nach dem „senior“ seines Vaters. Und „senior“ bedeutet unzweifelhaft Lehensherr. Es mag ein Zufall sein, dass der einzige explizite Beleg für eine Nachbenennung nach dem Lehensherrn aus einem Randgebiet stammt, das durch die Lehensbindung spät und 59 Die Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg, hgg. v. Robert Holtzmann, MGH Scriptores rerum Germanicarum, Nova Series IX (1955) 198f. 60 Thoma (wie Anm. 33) 76. 61 MGH Script. rer. Germ. NS 9 494f. 62 Herbert Ludat, An Elbe und Oder um das Jahr 1000. Skizzen zur Politik des Ottonenreiches und der slavischen Mächte in Mitteleuropa (1971) 95 ff. 63 Thoma (wie Anm. 33) 76, Angenendt (wie Anm. 50) 302 ff.
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keineswegs dauerhaft in das ottonische Reich eingegliedert wurde. Der fremde Königsname kontrastiert in diesem Umfeld besonders deutlich gegenüber dem einheimischen Namengut des Fürstenhauses. Eine ähnliche Situation findet sich bei den Přemysliden in Böhmen. Im zweiten Drittel des 11. Jahrhunderts treten auch hier überraschend deutsche Königsnamen auf. Die fünf Söhne Herzog Břetislaws (1034–1055) hießen Spitinjew, Wratislaw, Konrad, Otto und Jaromir64. Nur vom ältesten Spitinjew ist das Geburtsjahr bekannt. Er kam 1031 zur Welt, also noch bevor sein Vater 1035 das Herzogtum Böhmen von Kaiser Konrad II. zu Lehen nahm. Dasselbe gilt für den Zweitgeborenen Wratislaw. Konrad, der erste nach der Belehnung geborene Sohn, wurde dann offenbar auf den Namen des Lehensherrn getauft65. Als familiale Nachbenennung von Mutterseite lässt sich der Name kaum deuten. Herzog Břetislaw war mit Judith, der Tochter Markgraf Heinrichs von Schweinfurt, verheiratet. Bei den Babenbergern aber kommt der Name Konrad im 11. Jahrhundert nicht vor66. Babenbergisch ist hingegen Otto, der Name von Herzog Břetislaws jüngstem Sohn. Er wurde offenkundig von Judiths Bruder, dem Herzog Otto von Schwaben, übernommen. Auch bei Otto handelt es sich um einen Königsnamen. Allerdings war er bereits zu den Schweinfurtern über verwandtschaftliche Beziehungen vermittelt worden. Konrad aber lässt sich bei den Přemysliden nicht aus solchen Zusammenhängen erklären. Die Übernahme des sprachlich fremden Königsnamens kurz nach der erneuten Bestätigung der Lehensbindung ist besonders auffällig. Man könnte darin eine sinnfällige Ausdrucksform des Vasallitätsverhältnisses in der Namengebung sehen. Wenn auch die Beispiele der Übertragung von Königsnamen auf Kinder der Vasallen in Randzonen des Reiches besonders auffällig sind, die Anfänge dieser Sitte müssen doch in dessen Kerngebieten gesucht werden. Ein besonders früher und in seiner exemplarischen Wirkung wohl auch besonders bedeutsamer Fall führt nach Bayern. 921 gab der bayerische Herzog Arnulf seine bisherigen Selbständigkeitspläne auf und erkannte die Oberhoheit König Heinrichs I. an. Es ist nicht ganz klar, welcher Art das Lehensverhältnis war, das zwischen den beiden Fürsten durch den Vertrag von Regensburg zustande kam, 64 Wilhelm Wegener (Hg.), Genealogische Tafeln zur mitteleuropäischen Geschichte, Lief. 1, Die Přemysliden (1957) 5. 65 Die Nachbenennung muss noch vor jenen Zwistigkeiten mit dem Reich erfolgt sein, die dann unter Heinrich III. zu den Feldzügen der Jahre 1039 bis 1041 geführt haben. Zur Abfolge der Ereignisse Handbuch der bayerischen Geschichte 1 (1968) 237 f. 66 Nach Brandenburg – (wie Anm. 18) 93 – könnte Gerberga, die Gattin Heinrichs von Schweinfurt, eine Konradinerin gewesen sein. Diese Vermutung stützt sich allerdings auf das wenig überzeugende Argument, dass nach Thietmar von Merseburg Gerbergas Bruder Otto geheißen habe und unter den Großen des Reiches damals angeblich kein anderer Otto vorkomme als der Konradiner Otto von Hammerstein.
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dass es sich um eine Lehensbindung handelte, ist jedoch nicht umstritten67. Bald nach dem Arrangement Arnulfs mit dem König dürfte sein vermutlich vierter Sohn zur Welt gekommen sein, der den Königsnamen Heinrich erhielt68. Der in Bayern damals insgesamt ungebräuchliche Name war bis dahin den Luitpoldingern fremd. Auch Arnulfs jüngerer Bruder Berthold, Herzog in Kärnten und seit 938 auch in Bayern, gab seinem Sohn diesen Namen, und zwar gleich seinem ersten, der auch sein einziger blieb. Die Situation wiederholt sich in der nächsten Generation. Der einzige bekannte Sohn aus der Ehe von Arnulfs jüngerer Tochter mit dem Burggrafen Burchard von Regensburg trug ebenfalls den Königsnamen Heinrich. Der Versuch einer Ableitung des Namens in weiblicher Linie erbringt nichts. In der schwäbischen Familie von Arnulfs und Bertholds Mutter findet sich kein Heinrich. Herzog Berthold sollte zwar 939 die Königstochter Gerberga, die Witwe Herzog Giselberts von Lothringen, bzw. eine von deren Töchtern heiraten, das Projekt kam jedoch nicht zustande69. Über Herzog Arnulfs Gattin wissen wir nichts Sicheres70, aber auch über sie dürfte sich der Name nicht ableiten lassen. So erscheint es wahrschein67 Kurt Reindel, Herzog Arnulf und das Regnum Bavariae, in: Die Entstehung des deutschen Reiches. Deutschland um 900, hgg. v. Hellmut Kämpf (Wege der Forschung 1, 1956) 271. 68 Kurt Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger 893–989 (1953) 188 und 215; Werner (wie Anm. 45) 473 f.; Franz Tyroller, Genealogie des altbayerischen Adels im Hochmittelalter in 51 genealogischen Tafeln mit Quellennachweisen, einem Anhang und einer Karte, hgg. v. Wilhelm Wegener (1962-9) 74f. 69 Reindel (wie Anm. 68) 189ff. Gerberga hat noch 939 den westfränkischen König Ludwig geheiratet. Aus ihrer 929 geschlossenen Ehe mit Herzog Giselbert gingen zunächst eine zirka 930 geborene Tochter Alberada, seit etwa 945 Gattin des Grafen Reinald von Roucy, und ein um 932 geborener Sohn Heinrich hervor. Eine nach 933 geborene Tochter käme als Mutter von Herzog Bertholds Sohn Heinrich kaum in Frage, da Berthold schon 947 starb. Der Name seiner Witwe Biletrud deutet weder auf die lothringische Herzogsfamilie noch auf das Königshaus. 70 In Weiterführung von Überlegungen Franz Tyrollers (Die Ahnen der Wittelsbacher, Beilage zum Jahresbericht 1950/51 des Wittelsbacher Gymnasiums in München; Die Ahnen der Wittelsbacher zum anderen Mal, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 15, 1955, und Zur Herkunft der Babenberger, in: Senftenegger Monatsblatt 4/1, 1956) habe ich 1956 in einer Studie Luitpoldinger, Babenberger und Popponen, in: Adler 4 (1956) 20 ff., den Standpunkt vertreten, dass Herzog Arnulf nach einer ersten Ehe mit einer Unruochingerin eine Verwandte König Heinrichs aus der Familie der älteren Babenberger geheiratet habe. Hauptargument war für mich damals das Auftreten des Namens Heinrich bei den Nachkommen Herzog Arnulfs, zu denen ich mit Tyroller auch die Schweinfurter und die jüngeren Babenberger rechnete. Eine andere Form der Namensübertragung als in Abstammungszusammenhängen schien mir im Einklang mit der genealogischen Literatur nicht denkbar. In seiner Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz hat Karl Lechner, Beiträge zur Genealogie der älteren österreichischen Markgrafen, MIÖG 71 (1963) 258, auf die Möglichkeit einer Nachbenennung nach König Heinrich ohne Verwandtschaftszusammenhang aufmerksam gemacht, ohne freilich den sozialen Kontext einer solchen Übertragung zu benennen.
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lich, dass die beiden luitpoldingischen Herzogssöhne ihren Namen nach König Heinrich als dem Lehensherrn ihrer Väter erhielten. Sollte der jüngere Heinrich nicht mehr während der Kärntner, sondern schon während der bayrischen Herzogszeit seines Vaters zur Welt gekommen sein, so würde es sich bei ihm allerdings um eine Nachbenennung nicht nach dem lebenden, sondern nach dem verstorbenen König handeln. In der Reihe der bayerischen Herzöge treten vom 10. bis zum 12. Jahrhundert Königsnamen besonders zahlreich auf, häufiger jedenfalls als in allen anderen Herzogtümern des Reichs71. Sicher gehörten viele bayerische Herzöge selbst dem Königshaus an oder stammten in weiblicher Linie von diesem ab. Aber nicht bei allen lässt sich diese Namengebung so erklären. Geht man der Frage nach, welche Väter späterer Herzöge ihren Söhnen Königsnamen gaben, so trifft man auf führende Vasallen aus verschiedenen Reichsgebieten. Die Sitte der Lehensnachbenennung scheint seit dem 10. Jahrhundert im ganzen Reich üblich geworden zu sein. Zwei bayerische Herzöge mit Namen Heinrich stammten aus dem Hause Luxemburg. Sie waren Onkel und Neffe. Der Ältere von ihnen folgte 1004 auf seinen Schwager Heinrich, als dieser zwei Jahre nach seiner Wahl zum deutschen König das Herzogtum abgab. Thietmar von Merseburg schreibt dazu: „militi suimet generoque . . . ducatum dedit“72. Die Lehensbindung geht hier der Verwandtschaftsbindung voraus. Herzog Heinrichs Vater Siegfried entstammte einer der mächtigsten Familien Lothringens. Er selbst war Graf im Moselgau und Laienabt bzw. Vogt des Klosters Echternach, sein Bruder Adalbero Bischof von Metz, ein anderer Bruder Friedrich seit 959 erster Herzog von Oberlothringen. Von Siegfried sind elf Kinder überliefert73. Der um 960 geborene Heinrich war der älteste Sohn. Erst der nächste Sohn erhielt den Namen des Vaters. Und auch die übrigen Namen der Familie mussten zurückstehen. Die des herzoglichen und des bischöflichen Onkels wurden an jüngere Söhne vergeben. Der des Großvaters kommt überhaupt nicht vor. Der in der Familie bisher unbekannte Königsname scheint absoluten Vorrang gehabt zu haben. Auch zwei Brüder des Moselgaugrafen Siegfried gaben einem ihrer Söhne den Namen Heinrich, nämlich der Bidgaugraf Gozelo und Herzog Friedrich von Oberlothringen74. Letzterer hatte allerdings mit Beatrix, der Tochter Herzog Hugos von Franzien, eine Enkelin König Heinrichs I. geheiratet. So verwundert es nicht, dass er gleich seinem Ältesten 71 Gerd Tellenbach, Vom karolingischen Reichsadel zum deutschen Reichsfürstenstand, in: Theodor Mayer (Hg.), Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters (1967) 41ff. bzw. 35ff. 72 MG Script. rer. Germ. NS 9, 276. 73 Heinz Renn, Das erste Luxemburger Grafenhaus (Rheinisches Archiv 39, 1941) 1 ff., Werner (wie Anm. 45) 478f. und Stammtafel. 74 Werner (wie Anm. 45) 478.
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diesen Namen gab. Bei Graf Gozelo lässt sich freilich ebensowenig wie bei Graf Siegfried ein Verwandtschaftszusammenhang mit den Ottonen ermitteln, der die Nachbenennung erklären könnte. So erscheint die Annahme von Namensübertragung durch Vasallität hier ebenso plausibel. Anders als beim späteren Bayernherzog könnte sie bei Graf Gozelos Sohn noch zu Lebzeiten des Königs erfolgt sein. Von den beiden bayerischen Herzögen mit Namen Heinrich aus dem Hause Luxemburg ist der jüngere wohl nach dem älteren benannt. Auch er war der Älteste in einer langen Reihe von Geschwistern. Auch in dieser Generation mussten die traditionsreicheren Namen der Familie gegenüber dem neu eingeführten Königsnamen zurücktreten. Der jüngere Heinrich dürfte um 1005 geboren sein75, also kurz nach der Bestellung seines Onkels zum Herzog. Aber auch die Wahl des neuen Königs Heinrich lag noch nicht weit zurück. Der prominente Schwager wird wohl mitberücksichtigt worden sein, als der Bruder der Königin den Namen seines Erstgeborenen auswählte. Wie stark die Familie dem Brauch der Nachbenennung nach dem Königshaus verhaftet war, zeigt sich auch in der nächsten Generation. Der Name Heinrich fehlt jetzt. Dafür gab Graf Giselbert von Salm-Luxemburg einem seiner beiden Söhne den Namen Konrad. Wahrscheinlich fällt dessen Geburt noch in die Regierungszeit Kaiser Konrads II. Zwar stammte Giselbert in weiblicher Linie von den Konradinern ab, der Name Konrad aber war seit Langem nicht mehr in der Familie gegeben worden. Der Königsname muss in diesem Fall zumindest verstärkende Wirkung gehabt haben. Zu den bayerischen Herzögen, deren Königsnamen nicht aus ihrer Abstammung erklärt werden können, ist auch der Ezzone Konrad zu zählen, der dieses Amt 1049 bis 1053 innehatte. Die Ezzonen gehörten in ottonisch-salischer Zeit zu den ersten Geschlechtern des Reiches76. Sie waren ursprünglich Grafen im Bonn- und Auelgau und hatten seit der Mitte des 10. Jahrhunderts die lothringische Pfalzgrafschaft inne. Durch die Heirat von Pfalzgraf Ehrenfried/Ezzo mit Mathilde, der Schwester Kaiser Ottos III., traten sie mit dem sächsischen Königshaus in verwandtschaftliche Verbindung und übernahmen zum Teil auch dessen Namengut. Aber schon vor dieser Eheschließung gab Ezzos Vater, Pfalzgraf Hermann, seinem jüngeren Sohn den Namen Hezelin, d. i. Heinrich. Dieser Name ging dann von Hezelin auf seinen älteren Sohn über. Sein jüngerer Sohn, der 1056 bis 1061 das Herzogtum Kärnten innehatte, trug den Namen Konrad, der sich nicht aus seiner familiären Herkunft ableiten lässt. Dasselbe gilt wie gesagt für Herzog Konrad von Bayern, einen Enkel Pfalzgraf Ezzos durch seinen Sohn Liudolf. Für ihn ist ein Geburtstermin 75 Brandenburg (wie Anm. 18) 7. 76 Lewald (wie Anm. 22) 120 ff., Emil Kimpen, Ezzonen und Heziliniden in der rheinischen Pfalzgrafschaft, MIÖG Erg. Bd. 12 (1933) 1 ff.
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nach 1024, dem Regierungsantritt Konrads II., mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen77, so dass sehr viel für eine unmittelbare Nachbenennung nach dem König spricht. Bei Konrad von Kärnten ist das nicht so sicher. Bedenkt man, dass sein älterer Bruder bei seinem Tod 1061 noch einen unmündigen Sohn hatte, so erscheint eine solche Alterskonstellation jedoch nicht ausgeschlossen78. Fälle von Namengebung, die man zum Typus der Nachbenennung aufgrund von Lehensbindung rechnen könnte, treten jedenfalls bei den Ezzonen gehäuft in Erscheinung. Ein interessantes Beispiel für die gleichzeitige Übernahme mehrerer Königsnamen bietet das Geschlecht der Burggrafen von Regensburg. Ihr ursprünglicher Leitname war Pabo. Seit sie das Burggrafenamt in der Königsstadt Regensburg übernommen hatten, begegnet bei ihnen seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert Namengut des sächsischen Königshauses, zunächst Liudolf, dann Heinrich, Otto und Adelheid. Der alte Leitname Pabo verschwindet. Dieser Wechsel des Namenguts ist so auffällig, dass man ihn nicht anders erklären zu können glaubte als durch die Heirat eines „Pabonen“ mit einer Tochter aus der Herrscherdynastie79. Es gibt für eine solche Verbindung allerdings sonst keinerlei Hinweis. Heinrich und Otto blieben bei den Regensburger Burggrafen weiterhin die führenden Leitnamen80. Wenn im 12. Jahrhundert dann als dritter der Königsname Friedrich hinzukam, so ist das nicht als unmittelbare Nachbenennung nach dem Herrscherhaus zu verstehen. Er wurde offenbar von Vorfahren in mütterlicher Linie übernommen81. Auffallend ist jedoch seine Platzierung. Burggraf Heinrich III. gab um 1148 den Namen Friedrich gleich seinem ältesten Sohn, kurz nachdem König Konrad III. seinen zweitgeborenen Sohn auf den alten staufischen Leitnamen hatte taufen lassen. Heinrich war durch seine Frau, die Babenbergerin Bertha, mit König Konrad verschwägert. Auch der älteste Sohn von Berthas Schwester Gertrud, die mit Herzog Wladislaw von Böhmen verheiratet war, erhielt in diesen Jahren den Namen Friedrich. Diese Vorzugsstellung des Namens Friedrich tritt bereits vor der Königswahl Friedrich Barbarossas in Erscheinung. Eindeutig auf den Kaiser bezogen ist die Namengebung bei den Babenbergern. In den siebziger Jahren 77 Die Ehe seiner Großeltern wurde um 992 geschlossen. Seine Gattin dürfte gegen 1040 zur Welt gekommen sein (Brandenburg, wie Anm. 18, 65). 78 Kimpen (wie Anm. 76) 52. Konrad wird 1051 erstmals urkundlich genannt (ebenda 8). 79 Die Ehe Graf Pabos im Donaugau mit einer Tochter Herzog Liudolfs von Schwaben, also einer Enkelin Ottos des Großen, wird als gesichert verzeichnet bei Wilhelm K. Isenburg, Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten, bearb. v. F. Baron Freytag von Loringhoven (2, 1953) Tafel 3. Verwandtschaft vermutet auch im Artikel Babonen, Lexikon des Mittelalters 1 (1980) 1322. 80 Tyroller (wie Anm. 68) 167; Manfred Mayer, Geschichte der Burggrafen von Regensburg (1883). 81 Burggraf Otto von Regensburg war mit einer Urenkelin Burggraf Friedrichs von Magdeburg aus dem Hause Walbeck verheiratet (Brandenburg, wie Anm. 18, 7 und 26f.).
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des 12. Jahrhunderts benannte Herzog Leopold V. seinen erstgeborenen Sohn nach Kaiser Friedrich. Er war zwar mit den Staufern nahe verwandt, hatte aber unter den eigenen Vorfahren keinen Träger dieses Namens. Die Benennung des Ältesten nach dem Lehensherrn fällt hier umso stärker ins Gewicht, als der Leitname Luitpold/Leopold bei den Babenbergern eine besonders dominierende Tradition besaß. Friedrich von Österreich und seine Namensvettern in dieser Generation bringen eine neue Welle königsbezogener Namengebung zum Ausdruck. Die Häufigkeitszunahme von Friedrich nach dem Herrschaftsantritt der Staufer ist der von Konrad nach dem Wechsel zur salischen Dynastie an die Seite zu stellen. Die Wege der Weitergabe von Königsnamen haben schon bisher gezeigt, dass Nachbenennung aufgrund von Lehensbindungen nicht immer eine Namengebung „senioris sui nomine“ im engeren Sinn bedeuten muss. So sind wir Nachbenennungen nach lebenden oder verstorbenen Angehörigen des Fürsten begegnet. Für die Verbreitung von Fürstinnennamen gilt ein solches weiteres Verständnis generell. Vasallität ist ja prinzipiell eine Beziehung zwischen Männern, von der Frauen nur mittelbar betroffen sind. Dementsprechend wird bei der Verbreitung fürstlicher Frauennamen in besonderer Weise danach zu fragen sein, in welchem Verhältnis jeweils die Person, an der sich die Namengebung orientiert, zum Lehensherrn des Kindesvaters gestanden ist. Frühe Beispiele für die Nachbenennung von Töchtern nach der Familie des königlichen Lehensherrn führen nach Sachsen. Der wahrscheinlich 936 als Herzog in Sachsen eingesetzte Hermann Billung, einer der getreuesten Gefolgsleute Ottos des Großen, gab einer seiner Töchter den Namen Mathilde. Diese sächsische Herzogstochter Mathilde heiratete 961 in erster Ehe den Grafen Balduin III. von Flandern und nach dessen frühem Tod wohl 963 Graf Gottfried von Verdun, später Markgraf von Eename82. Dessen Tod um 1005 überlebte sie noch um drei Jahre. Wahrscheinlich ist sie in den frühen vierziger Jahren des 10. Jahrhunderts geboren. Königin war damals Ottos des Großen erste Frau, die englische Königstochter Edith. Ihr Name blieb für die Nachbenennung der deutschen Fürstenfamilien ohne jeden Einfluss. Auch die sächsische Herzogstochter wurde nicht nach ihr, sondern nach der Königinmutter Mathilde benannt. Welche außerordentliche Wirkung von dieser Frau auf die Namengebung im ganzen Reich ausging, wurde schon erwähnt. Sie war ähnlich stark wie die des Namens ihres Gatten Heinrich, und das keineswegs erst nach ihrem Tod im Jahre 96883. Für Mathildes Stellung als Königin erscheint bezeichnend, dass sich in der erzählenden Überlieferung für sie erstmals in der deutschen Geschichte die Formu82 Brandenburg (wie Anm. 18) 10 und 66. 83 Zu ihrem Nachleben und ihrer Verehrung als Heilige Patrick Corbet, Les saints Ottoniens. Sainteté dynastique, sainteté royale et la sainteté feminine autour de l’an Mil (1986) 30ff.
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lierung „conregnante“ findet, die sie als am Herrscheramt mitberechtigte Frau charakterisiert84. Dem entspricht es, dass sie auch die erste Königin ist, an der sich die Nachbenennung derart stark orientiert. Die Tochter Hermann Billungs ist eines jener Vasallenkinder, das den Namen der Königin erhielt, ohne mit ihr verwandt zu sein. Für eine Verwandtschaft zwischen Ottonen und Billungern gibt es jedenfalls keinerlei Hinweise85. Von der späteren Gräfin von Flandern bzw. Markgräfin von Eename ging der Name Mathilde in verschiedene Richtungen weiter. Im flandrischen Grafenhaus selbst hielt er sich lange. Durch Mathilde von Flandern, die Gattin Wilhelms des Eroberers, gewann er in England eine außerordentlich weitreichende Breitenwirkung. Vermittelt über die Flandrer oder direkt von den Billungern übernahmen ihn die Welfen. Über eine andere Tochter Hermann Billungs ging er auf das polnische Königshaus über. Eine Tochter Boleslaw Chrobrys aus seiner vierten Ehe mit Oda von Meißen trug diesen Namen, eine Stiefschwester also jenes Otto, für den Thietmar von Merseburg die modellhafte Benennungsformel „senioris sui nomine“ gebraucht. Ein anderer sächsischer Großer, der – offenbar ohne mit dem Königshaus verwandt zu sein – seiner Tochter den Namen Mathilde gab, war Markgraf Dietrich, der von 965 bis 985 die Nordmark leitete86. Wir wissen über die Lebensdaten dieser Mathilde wenig. Ihre wohl ältere Schwester Oda heiratete 978 den Polenfürsten Mieszko. Auch sie trug einen typischen Namen des sächsischen Königshauses. Herzog Liudolfs Gattin Oda, die Stammmutter des Geschlechts, soll 913 im Alter von 107 Jahren verstorben sein87. Ihre gleichnamige Enkelin, die Schwester König Heinrichs I., wurde ebenfalls sehr alt. Sie heiratete 897 den KarolingerKönig Zwentibold von Lothringen und war jedenfalls noch 952, vielleicht sogar noch 960 am Leben88. Oda, die Tochter des Markgrafen der Nordmark, könnte eventuell sogar noch zu Lebzeiten der alten Königin nach ihr benannt worden sein. Jedenfalls handelt es sich bei den Kindern Markgraf Dietrichs um eine doppelte Nachbenennung nach dem Königshaus. Dasselbe gilt für die Markgrafen von Meißen. Markgraf Ekkehard I., der die Mark von 84 Peter Ketsch, Aspekte der rechtlichen und der politisch-gesellschaftlichen Situation von Frauen im frühen Mittelalter (500–1150), in: Annette Kuhn und Jörn Rüsen (Hg.), Frauen in der Geschichte 2 (1982) 34. 85 Gerd Althoff, Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen (1984) 73, betont, dass es für die gelegentlich vertretene Annahme, Hermann Billungs älterer Bruder Wichmann sei mit einer Schwester der Königin Mathilde verheiratet gewesen, keinerlei konkretes Quellenzeugnis gibt. Selbst wenn sich diese Annahme erhärten ließe, könnte eine solche Verbindung die Namengebung der Tochter des Sachsenherzogs nicht erklären. 86 Ruth Schölkopf, Die Sächsischen Grafen (919–1024) (1957) 93 ff. 87 Wenskus (wie Anm. 44). 88 Werner (wie Anm. 44).
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985 bis 1002 innehatte, nannte zwei seiner Töchter Luitgard und Oda89. Auch Luitgard war im Herrscherhaus ein bedeutsamer Frauenname. Im 9. Jahrhundert trug ihn die tatkräftige Gattin König Ludwigs III., eine Tochter Herzog Liudolfs und der Oda, im 10. Jahrhundert König Ottos I. älteste Tochter aus seiner Ehe mit Edith, die 953 als Gattin Herzog Konrads von Lothringen starb. Markgraf Ekkehards dritte Tochter rundet das Bild ottonischen Namenguts in dieser sächsischen Adelsfamilie ab. Sie hieß Mathilde, allerdings aufgrund innerfamilialer Nachbenennung. Ihre Mutter war eine Tochter Hermann Billungs und damit eine Schwester der Gräfin Mathilde von Flandern. In vermittelter Weise führt also auch ihr Name über Nachbenennung aufgrund von Lehensbeziehungen zum Königshaus zurück. Dass Markgraf Ekkehard selbst mit diesem nicht verwandt war, ist insofern eindeutig belegt, als ihm das Fehlen solcher Blutsbindungen bei seiner fehlgeschlagenen Kandidatur um die Nachfolge Ottos III. vorgehalten wurde90. Eine der frühesten Vertreterinnen des Namens Mathilde, die nach der Königin benannt worden sein dürfte, scheint die Großmutter Bischof Thietmars von Merseburg, die Gattin Graf Liuthars von Walbeck, gewesen zu sein. Ihr Todesjahr ist mit 991 überliefert. Aufgrund der Lebensdaten, die wir über ihre Nachkommen besitzen, lässt es sich wahrscheinlich machen, dass ihre Geburt in den ersten Herrscherjahren König Heinrichs und seiner Gattin anzusetzen ist. Über ihre Herkunft wissen wir nichts Sicheres. Wahrscheinlich war der gleichnamige Großvater Brunos von Querfurt ihr Vater. Namen des Königshauses begegnen auch sonst verschiedentlich in der Verwandtschaft Thietmars von Merseburg. Seine Schwester hieß Oda. Unter den Geschwistern von Thietmars Mutter Kunigunde von Stade finden sich die Namen Heinrich, Gerberga und Hadwig, eine Generation zuvor nochmals Heinrich und Gerberga. Thietmar von Merseburg nennt zwar seinen mütterlichen Großvater, den Grafen Heinrich von Stade, einen „consanguineus“ Ottos I., doch lässt sich das Namengut des Königshauses – wie immer diese Verwandtschaft vermittelt wurde – sicher nur teilweise dadurch erklären. Den Namen Heinrich erhielt der spätere König vermutlich über seine Mutter Hadwig von den älteren Babenbergern91. Lief die Verwandtschaftsbeziehung der Grafen von Stade zum Königshaus über diese Seite, so gibt es für Gerberga und Oda keine Erklärung aufgrund von Abstammung. Hatte Heinrich von Stade mit Otto dem Großen gemeinsame sächsische Vorfahren, was wahrscheinlicher ist, so muss die Übernahme der Namen Heinrich und Hadwig auf anderem Weg erklärt wer89 Schölkopf (wie Anm. 86) 68. 90 Schölkopf (wie Anm. 86) 671. Über die Familie Thietmars vor allem die Ausführungen Robert Holtzmanns in der Einleitung zur Edition der Chronik MGH Script. rer. Germ. 9, VII ff., sowie Schölkopf (wie Anm. 86) 73ff., 88 ff. 91 Ferdinand Geldner, Zum Babenberger-Problem, in: Historisches Jahrbuch 81 (1962) 5ff.
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den. Auch hier würde es sich dann um eine sehr frühe Nachbenennung nach dem Lehensherren handeln. Graf Heinrichs Vater Liuthar ist nämlich schon 929 in der Schlacht bei Lenzen gefallen. Jedenfalls scheint Thietmar von Merseburg aufgrund der Namengebung in seiner eigenen Familie gewusst zu haben, wovon er spricht, wenn er eine Nachbenennung „senioris sui nomine“ erwähnt. Von den Namen der ottonischen Königinnen hat sich neben Edith auch Theophano in der Nachbenennung überhaupt nicht durchsetzen können – trotz der großen politischen Bedeutung seiner Trägerin. Bloß eine Enkelin der Kaiserin aus der lothringischen Pfalzgrafenfamilie erhielt noch den Namen92. Dann wurde er nicht mehr weitergegeben. Besser gehalten hat sich ein anderer ottonischer Frauenname, den Theophano in die Familie gebracht hat. Ihre 978 geborene zweite Tochter erhielt den griechischen Namen Sophie. Dieser Name hat sich in der Folgezeit durch verwandtschaftliche Beziehungen verbreitet, offenbar aber auch auf anderen Wegen. Sophies jüngere Schwester brachte ihn zu den Ezzonen. Von hier ging er über die Piasten zu den Arpaden und von diesen weiter über die Billunger an die Welfen und die Markgrafen von Vohburg. Außer dieser über die Ezzonen vermittelten Abstammungslinie ist eine vom Kaiserhaus ausgehende Verbreitung des Namens auf verwandtschaftlicher Basis nicht möglich, da die Pfalzgräfin Mathilde als einziges von den Kindern der Theophano Nachkommen hinterließ. Bei anderen frühen Trägerinnen des Namens Sophie liegt daher die Vermutung einer Nachbenennung auf der Basis von Lehensbindungen nahe93. Das gilt etwa für eine um 1025 geborene Tochter Herzog Friedrichs II. von Oberlothringen und der Mathilde von Schwaben. Theophanos Tochter war damals noch am Leben. Sie leitete die Reichsabtei Gandersheim und starb erst 1039. Der Lehensherr des Lothringers war aber nicht mehr ihr Bruder Otto III. und wohl auch nicht ihr Vetter Heinrich II., sondern der entfernter verwandte Konrad II. Solche Nachbenennungen sind offenbar in komplexeren Zusammenhängen zu sehen und müssen nicht immer an der Person des jeweiligen Herrschers bzw. seiner nächsten Angehörigen orientiert sein. Auf die aktuelle Herrschaftssituation bezogen und am engsten Familienkreis des Königs ausgerichtet ist die Namengebung von zwei Töchtern des Babenbergers Markgraf Otto von Schweinfurt, nachmals von 1048 bis 1059 Herzog von Schwaben. Markgraf Otto heiratete 1036, also noch unter der Regierung Konrads II. Von seinen fünf Töchtern dürf92 Lewald (wie Anm. 22) 121. 93 Über Sophie als typischen Fürstinnennamen vgl. Lindemans (wie Anm. 17) 102f., dessen Ableitung aus der Zeit der Kreuzzüge allerdings zu spät ansetzt, und Littger (wie Anm. 20) 237. Die Belegstellen 147 zeigen für den Kölner Raum sehr anschaulich den vom Adel ausgehenden Prozess der Vertikaldiffusion des Namens Sophie.
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ten jedoch Beatrix und Gisela zu den jüngeren gehört haben. Ihre Geburt wird daher wohl erst in die Zeit Heinrichs III. fallen94. Die Kaiserin Gisela, nach der die eine offenbar benannt wurde, hatte damals schon die Stellung einer Königinmutter. König Heinrich III. war seit 1038 verwitwet. Seine erste Gattin, die seit ihrer Krönung auch als Kunigunde bezeichnete Königin Gunhilde95, hat die Namengebung im Reich kaum beeinflusst96. Bis zu Heinrichs zweiter Heirat 1043 scheint Gisela ganz im Vordergrund gestanden zu sein. Sie ist 1045 gestorben, kann also bis dahin unmittelbares Namensvorbild der einen Tochter Markgraf Ottos gewesen sein. Für die zweite, Beatrix, kommt nur die 1037/38 geborene älteste Tochter König Heinrichs und der Gunhilde in Frage. Die gleichnamige ältere Schwester des Königs war schon 1034/36 noch unverheiratet gestorben. Der Name muss für das salische Königshaus besondere Bedeutung gehabt haben, wenn in zwei aufei nanderfolgenden Generationen jeweils die erste Tochter so benannt wurde. Konrads II. Tochter Beatrix wurde allerdings noch vor dessen Königswahl geboren. Sie hieß nach der Schwester ihrer Mutter, der Herzogin Beatrix von Kärnten, einer Tochter Herzog Hermanns II. von Schwaben. Der Name dürfte im schwäbischen Herzogshaus auf die Abstammung der Konradiner von den Grafen von Vermandois zurückgehen97. Beatrix von Vermandois, ihrer Abstammung nach eine Karolingerin, war die zweite Gattin des 923 verstorbenen westfränkischen Königs Robert I. Zu ihrer Zeit kam es noch äußerst selten vor, dass eine Angehörige der obersten Führungsschicht des fränkischen Reichsadels einen Heiligennamen erhielt. Offenbar von ihr ausgehend hat sich der Heiligenname als Fürstenname verbreitet. Nachbenennungen erfolgten zunächst vorwiegend im Westen. Auch eine normannische Herzogstochter trug diesen Namen. Sie war die Tante der Königin Gunhilde. Für die Namengebung der ältesten Tochter König Heinrichs III. gab es also auf beiden Seiten Namensvorbilder. Die Nachbenennung durch den babenbergischen Markgrafen, die wohl wenige Jahre nach der Geburt der Königstochter erfolgte, ist ein interessantes Beispiel, wie rasch das Namengut des Königshauses mitunter aufgegriffen wur-
94 Brandenburg (wie Anm. 18) 65. 95 Thoma (wie Anm. 33) 198f. 96 Eine Ausnahme stellt diesbezüglich die Äbtissin Gunhild von Biblisheim, Tochter des Grafen Dietrich III. von Bar und Mömpelgard und Enkelin der zuvor besprochenen oberlothringischen Herzogstochter Sophie, dar. Sie dürfte um 1080 geboren sein (Brandenburg, wie Anm. 18, 20). Eine unmittelbare Nachbenennung nach der Königin Gunhilde kommt also nicht infrage. Vielleicht aber hatte sie eine gleichnamige Tante, von der der Name auf sie überging. Mit Sophie, Beatrix, Mathilde und Bruno treten auch andere auf Königsfamilien verweisende Namen in dieser Generation auf. 97 Die Zusammenstellung über die Verbreitung des Namens Beatrix bei Littger – (wie Anm. 20) nach S. 216 – wäre in diesem Sinne zu ergänzen.
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de. Der Name Beatrix verbreitete sich insgesamt rasch, später auch über den Adel hinaus. Deutlicher noch als bei Sophie lässt sich an ihm die Diffusion eines Fürstinnennamens beobachten98. Durch die zweite Heirat König Heinrichs III. mit Agnes von Poitou kam 1043 ein neuer Frauenname in das Namengut des Königshauses, übrigens genauso wie Beatrix ein Heiligenname. Im Königshaus selbst wurde der Name erst um 1075 neu vergeben. König Heinrich IV. nannte seine zweite Tochter so, und zwar noch zu Lebzeiten der alten Königin. Eine sehr frühe Nachbenennung seitens einer Fürstenfamilie findet sich bei den Wettinern99. Dedi II., Markgraf der sächsischen Ostmark, gab einer seiner Töchter aus seiner bald nach 1034 geschlossenen ersten Ehe den Namen der Königin. So fand die burgundisch-aquitanische Agnes100 sehr rasch ihren Weg in den äußersten Nordosten des Reiches. Bemerkenswert erscheinen übrigens auch die Namen der anderen Kinder des Markgrafen. Neben dem Hausnamen Dedi begegnen Adelheid, Heinrich und Konrad, also ziemlich genau die Namen der Königsfamilie. Zwar lassen sich Adelheid und Heinrich aus der mütterlichen Vorfahrenschaft erklären und Konrad wurde wohl schon in der Generation Markgraf Dedis selbst vom Königshaus übernommen. Trotzdem erscheint es auffallend, dass die vermutlich erste Nachbenennung nach der neuen Königin im Kontext von so vielen Namen des Herrscherhauses erfolgte. Eine andere frühe Nachbenennung führt unmittelbar in Königsnähe. Der schwäbische Herzog Rudolf von Rheinfelden, der 1059/60 in kurzer Ehe mit Mathilde, der ältesten Tochter König Heinrichs III. und der Agnes von Poitou, verheiratet war, gab bald darauf einer Tochter aus seiner zweiten Ehe mit Adelheid von Savoyen den Namen Agnes101. Rudolf wird den Namen als Herzog und nicht als ehemaliger Schwiegersohn gegeben haben. Eine dritte erwähnenswerte Nachbenennung findet sich in Niederlothringen. Graf Heinrich von Limburg, seit 1095 Pfalzgraf von Lothringen und seit 1101 Herzog von Niederlothringen, war mit dem Königshaus nur sehr entfernt verwandt. Der Name Agnes kommt bis dahin weder in seiner Familie noch in der seiner Frau vor. So lässt es sich ebenso nur auf seine Stellung als königlicher Vasall zurückführen, wenn er kurz nach der Übernahme der Pfalzgrafschaft seiner Tochter diesen Namen gab102. Die Kaiserin Agnes war damals schon lange tot. Mit ihrer gleichnamigen Enkelin, zu dieser Zeit schon Gattin des Herzogs von Schwaben, war aber der Name 98 Lindemans (wie Anm. 20) 153ff., Littger (wie Anm. 20) 38 ff. und 216 ff. 99 Isenburg (wie Anm. 79) Tafel 42, Otto Posse (Hg.), Urkunden der Markgrafen von Meißen und Landgrafen von Thüringen 948–1099 (1882) Stammtafel, 163. 100 Zu Ursprung und Verbreitung des Namens Agnes vgl. die Tafel bei Littger (wie Anm. 20) nach S. 214. 101 Isenburg (wie Anm. 79) Tafel 4. 102 Brandenburg (wie Anm. 18) 22.
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im Königshaus prominent vertreten. Auffallend ist, dass bei den Limburgern außer dem Leitnamen Walram alle Geschwister Königsnamen tragen, nämlich Heinrich, Adelheid und Mathilde, ganz ähnlich also, wie wir das bei den Wettinern gesehen haben. Eine verstärkende Wirkung durch das Königshaus ist auch dann immer noch anzunehmen, wenn dessen Namengut durch innerfamiliale Nachbenennung schon verankert war. Die Zusammenhänge der Nachbenennung auf der Basis von Lehensbindungen lassen sich umso schwieriger rekonstruieren, je stärker verbreitet ein Name bereits ist, aber auch je größer der soziale Abstand zu jener Person ist, die als Namensvorbild vermutet wird. Ob die Namensübertragung auf das Königshaus direkt zurückgeht oder vermittelt über eine herzogliche bzw. markgräfliche Familie, lässt sich bei vielen gräflichen oder hochfreien Geschlechtern nicht mehr entscheiden. Über die Staffelung lehensrechtlicher Abhängigkeit sind wir ja gerade aus den frühen Phasen der Entwicklung des Lehenswesens nur wenig informiert. So lassen sich auch die Linien der Nachbenennung in diesem System oft schwer rekonstruieren. Ähnlich schwierig wie bei hochfreien Untervasallen erscheint eine klare Rekonstruktion von Nachbenennungszusammenhängen in der adeligen Dienstmannschaft. Wenn etwa unter den Ministerialen der österreichischen Babenberger im 12. Jahrhundert der Name Heinrich besonders stark vertreten ist103, so lässt sich schwer entscheiden, ob die Ursache dafür auf Reichs- oder Landesebene zu suchen ist. Heinrich ist ein alter Babenbergername, der nach einer Unterbrechung von mehreren Generationen aufgrund der Heirat Markgraf Luitpolds III. mit der Kaiserstochter Agnes wieder aufgegriffen wurde. Auffällig erscheint, dass der dominante Leitname des Geschlechts, nämlich Luitpold/Leopold, in der österreichischen Ministerialität sehr selten vorkommt. Umso häufiger begegnen die Königsnamen Otto und Konrad. Das deutet eher auf direkten Einfluss des Königtums auf die Namengebung der Dienstmannschaft des Landes. In der Reichsministerialität bedarf die besondere Häufigkeit von Königsnamen im Hinblick auf die Unmittelbarkeit des Verhältnisses zum König keiner besonderen Erklärung104. Für das Selbstverständis dieser Gruppe war die am Königshaus orientierte Namengebung offenbar besonders wichtig. Nur so lässt sich ein Phänomen erklären, das hier 103 Eine sozialgeschichtliche brauchbare Gesamtdarstellung fehlt trotz vieler Spezialstudien zu Detailproblemen bislang. Für einen ersten Überblick über die Struktur des Namenguts reicht eine Durchsicht der Zeugenreihen, insbesondere des Klosterneuburger Traditionskodex (FRA 11/4, 1851). 104 Zur Reichsministerialität grundsätzlich Karl Bosl, Die Reichsministerialität der Salier und Staufer. Ein Beitrag zur Geschichte des hochmittelalterlichen deutschen Volkes, Staates und Reiches (Schriften der Monuments Germaniae historica 10) 1 und 2 (1951/52) mit zahlreichen Einzelhinweisen auf das Namengut von Ministerialenfamilien.
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mehrfach begegnet, nämlich die Benennung von zwei oder mehr Brüdern mit demselben Königsnamen. Sinn der Gleichbenennung von Brüdern war es in Zeiten hoher Kindersterblichkeit offenbar, die Erhaltung eines für die Familie besonders wichtigen Namens zu sichern105. Wenn Ministerialenfamilien diese Sitte nicht mit ganz spezifischen seltenen Leitnamen, sondern gerade mit den auch sonst sehr häufigen Königsnamen praktizierten, so ist das ein deutlicher Hinweis, welche Bedeutung für sie dieser Traditionszusammenhang hatte106. Ein besonders extremer Fall sind die Vögte von Weida, Gera und Plauen, das später reichsfürstliche Geschlecht der Reuß107. Seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert gaben sie allen männlichen Familienangehörigen den Namen Heinrich und hielten diesen Brauch bis ins 20. Jahrhundert durch. Sowohl unter den Ministerialen des Reichs als auch denen der Territorien ist eine Ableitung von Fürstennamen durch genealogische Zusammenhänge völlig ausgeschlossen. Die Mehrheit dieser Familien stammte ja aus der Unfreiheit. Die Frage, ob die Abhängigkeitsbeziehung zur Herrenfamilie, die jeweils zur Nachbenennung führte, über die personenrechtliche Seite hinaus durch vasallitische Leihe oder durch Vergabe von Dienstgütern zu Inwärtseigen begründet wurde, kann hier offengelassen werden108. In einem weiten Verständnis ist es sicher zulässig, die Ministerialität als einen spezifischen Entwicklungsstrang des Lehenswesens zu begreifen. Für die Verbreitung von Fürstennamen dürfte der Ministerialität eine weitreichende Wirkung zugekommen sein. Die Führungsschicht der Städte hatte eine maßgebliche Wurzel in der Dienstmannschaft des Stadtherren109. So kam dieser in der Vermittlung von Namengut eine Schlüsselposition zu. Wie sich die Linien der Nachbenennung durch städtische und ländliche Leiheformen fortsetzten, muss hier ausgespart bleiben. Eine Aufarbeitung dieses Problemkreises bedürfte wohl einer Vielzahl regionaler Fallstudien, um der Entwicklung in ihrer Differenziertheit gerecht zu werden. Die hier gebotene Analyse muss sich auf einige Beispiele jenes Prozesses beschränken, der die Verbreitung von Fürstennamen in den Ordnungen des Lehenswesens eingeleitet hat.
105 Zum Phänomen Bach (wie Anm. 1) 210f. Zu dessen Erklärung Arthur E. Imhof, Die verlorenen Welten (1984) 149. 106 Mehrfache Gleichbenennung von Brüdern mit Königsnamen findet sich etwa bei den Weinsbergern oder den Reichsschultheißen von Boppard; Walther Möller, Stammtafeln westdeutscher Adelsgeschlechter im Mittelalter (1922/23) Tafel 19 und 20. 107 Isenburg (wie Anm. 79). 108 Vgl. dazu Karl Bosl, Das ius ministerialium, Dienstrecht und Lehensrecht im deutschen Mittelalter, in: Studien zum mittelalterlichen Lehenswesen (Vorträge und Forschungen 5, 1980) 51ff.; derselbe (wie Anm. 104) 808 ff. 109 Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa (Vorträge und Forschungen 11, 1966) 64ff., 130ff.
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Zur Nachbenennung nach Fürsten in Frankreich Geht man in Frankreich den Anfängen der Nachbenennung aufgrund von Lehensbindungen nach, so ist zunächst zu bedenken, dass sich hier erst viel später als im deutschen Reich eine ähnlich starke Kontinuität von Königsnamen ausbilden konnte. In der für die Verbreitung von Fürstennamen entscheidenden Phase begegnet nur ein Königsname doppelt, nämlich Robert. Die Könige Odo, Rudolf, Hugo, Heinrich und Philipp sind in diesem Zeitraum die Einzigen ihres Namens. Erst mit der Thronfolge von Ludwig VI. zu Ludwig VII. im Jahre 1137 beginnt in Frankreich die lange Reihe sich stetig wiederholender Königsnamen. Unter dem Aspekt der Nachbenennung von Vasallensöhnen ist freilich zu berücksichtigen, dass schon vor Hugo Capet sein Vater Hugo der Große als der eigentliche Machthaber unter den karolingischen Schattenkönigen an der Spitze der Lehensgefolgschaft stand110. Einen Faktor der Kontinuität bedeutete wohl auch die kurze Mitregentschaft von König Roberts II. ältestem Sohn Hugo, der 1017 zum König gekrönt wurde. Wenn es einen dominanten Königsnamen der frühen Kapetingerzeit gab, so am ehesten Hugo. Gerade dieser Name aber war schon im 9. Jahrhundert in der karolingischen Reichsaristokratie relativ häufig. Mehrfach erhielten ihn uneheliche Söhne des Herrscherhauses selbst und zum Unterschied von den eigentlichen Königsnamen durften ihn Karolingerinnen an ihre Nachkommen weitergeben. Daher kam es in vielfältigen Abstammungslinien zu einer Übertragung des Namens, so dass die Nachbenennungen nach dem neuen Königshaus schwer davon zu unterscheiden sind. Bei Robert, Odo und Heinrich ist das nicht im gleichen Maße der Fall. Völlig eindeutig wird die Bezugnahme der Nachbenennung auf den König jedoch erst mit Philipp I., der einen bis dahin gänzlich ungebräuchlichen Namen trägt. Über die Herkunft von König Philipps Namen wurde viel gerätselt. Weitgehend Einigkeit besteht darin, dass er durch seine Mutter zu erklären sei111. König Heinrich I. heiratete 1044 Anna, die Tochter des Großfürsten Jaroslaw von Kiew. Der 1053 geborene Philipp war der erste Sohn aus dieser Ehe. Königin Anna soll diesen Namen aufgrund ihrer Beziehungen zu Byzanz gegeben haben. Umstritten bleibt dabei, ob die Namengebung nach dem König Philipp von Mazedonien oder nach dem Apostel Philipp erfolgte. Hans Conrad Peyer entscheidet sich in seiner Studie über „Die Namengebung mittelalterlicher Fürsten“ für die erste Variante. Er verweist darauf, dass Annas Großvater, der Großfürst 110 Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt (1933) 283. 111 Ferdinand Lot, Les invasions germaniques (Paris 1935) 234; Olaf Brattö, L’anthroponymie et la diplomatique (Göteborg 1956) 3ff.; Hans Conrad Peyer, Könige, Stadt und Kapital. Aufsätze zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1982) 49.
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Wladimir von Kiew, mit einer Kaiserstochter aus der von Basileios I. begründeten Dynastie der Mazedonier verehelicht war, die die Legende auf Alexander den Großen und seinen Vater Philipp zurückführt. An diesen Abstammungsmythos anknüpfend habe der französische Königssohn seinen Namen erhalten. Ganz abgesehen von der Problematik des Fortlebens einer solchen gelehrten Konstruktion der Byzantiner im fernen Kiew übersieht diese Ableitung, dass Königin Annas Vater gar nicht aus der Ehe Großfürst Wladimirs mit der byzantinischen Prinzessin stammte. Aber auch die Annahme einer byzantinischrussisch beeinflussten Namengebung nach dem Apostel Philipp bereitet Schwierigkeiten. Unter den neuen Heiligennamen, die die Kiewer Großfürstenfamilie – ohnehin nur sehr zögernd – aus Byzanz übernahm, ist Philipp nicht vertreten. Eine primär von Mutterseite bestimmte Namengebung für den zukünftigen französischen Thronfolger erscheint insgesamt wenig plausibel. Nun fällt auf, dass König Heinrichs jüngerer Bruder, Herzog Robert von Burgund, seinem viertgeborenen Sohn den Apostelnamen Simon gab. Dieser Name begegnet in der Folgezeit – ebenso wie einige andere Apostelnamen – im französischen Hochadel und auch im Westen des Reiches keineswegs selten112. Da Herzog Robert früher heiratete und früher Vater wurde als sein königlicher Bruder, war sein Sohn Simon etwa um ein Jahrzehnt älter als König Philipp. So völlig neuartig war also eine solche Namengebung im kapetingischen Königshaus gar nicht. Man wird den Namen des französischen Thronerben deshalb eher im Kontext des allgemeinen Vordringens von Heiligennamen in dieser Zeit sehen dürfen. Einer Begründung bedarf es allerdings, warum die Namenswahl gerade auf Philipp fiel. Es gibt schon aus dem frühen 11. Jahrhundert ein Beispiel dafür, dass ein Königssohn schlicht deshalb den Namen eines Apostels erhielt, weil er an dessen Festtag zur Welt kam. Als dem erst kürzlich zum Christentum übergetretenen Schwedenkönig Olaf III. ein Sohn geboren wurde, taufte ihn der Bischof nach dem Tagesheiligen Jakob – sehr zum Unwillen der schwedischen Großen, die anlässlich der Thronbesteigung dann die Übernahme des alten Königsnamens Anund durchsetzten113. König Jakob Anund war durch seine Schwester Ingegerd ein Onkel der Königin Anna von Frankreich. Ob auch bei deren Sohn Philipp die Namenswahl mit dem Kalenderheiligen seines Geburtstermins zusammenhängt, lässt sich nicht feststellen. Wir wissen nicht, an welchem Tag er zur Welt kam114. Wahrscheinlich aber hatte die Entscheidung, den Thronerben auf den 112 Zu Simon Littger (wie Anm. 20) 230ff. Weitere Nennungen sowie Belege für Matthäus, Bartholomäus und Andreas bei Brandenburg (wie Anm. 18). 113 Thoma (wie Anm. 33) 122f. 114 Bei seinem gleichnamigen Urenkel Philipp II. August wurde zwar nicht der erste Name, sehr wohl aber der ihm später gegebene Beiname vom Geburtstermin beeinflusst (Thoma, wie Anm. 33, 226). Gerade die Betonung, dass er ein im August geborener Philipp sei, könnte zum Ausdruck bringen, dass der Name Philipp für die Zeitgenossen mit dem Geburtstermin des Apostelfestes assoziiert wurde.
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Namen Philipp zu taufen, eine tiefer gehende Bedeutung. Der Apostel Philipp galt als der Missionar Galliens wie der Apostel Jakob als der Spaniens. Diese Zuordnung frühchristlicher Missionssprengel geht auf das „Breviarium apostolorum“ zurück, das im ausgehenden 6. Jahrhundert entstanden ist und vor allem seit dem 8. Jahrhundert weit verbreitet war115. Der heilige Philipp hat zwar nie auch nur in Ansätzen eine ähnliche Entwicklung zum Reichspatron erlebt wie der heilige Jakob von Asturien ausgehend in Spanien; sein Name eignete sich jedoch aufgrund der Überlieferung für das Königshaus sicher in ganz besonderer Weise, um eine sakral fundierte Eigenständigkeit zu demonstrieren. Dass die Kapetinger damals auf der Suche nach einem spezifischen Königsnamen waren, zeigt die Namengebung in der nächsten Generation. König Philipp ließ seinen erstgeborenen Sohn Ludwig, seinen drittgeborenen Karl taufen116. Er knüpfte also erstmals an die bisher tabuisierte Tradition der karolingischen Königsnamen an, die dann weiterhin das Namenbild der Dynastie bestimmten. Anders als Odo, Hugo und Robert konnte sich neben ihnen der von Heinrich I. neu eingeführte Philipp halten117. Er fand als Königsname in der Folgezeit eine ähnlich starke Verbreitung. Die Anfänge dieser Verbreitung lassen sich nun besonders gut verfolgen. Zwei große Vasallenfamilien übernahmen den neuen Königsnamen ziemlich früh. Schon wenige Jahre, nachdem König Philipp 1060 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, wurde der zweitgeborene Sohn des Grafen Theobald III. von Blois-Champagne auf diesen Namen getauft118. Kurz darauf erhielt der zweite Sohn Roberts I. von Flandern den Namen Philipp119. Die unkonventionelle Namensentscheidung der Königsfamilie von 1053 fand also bald Nachahmung. Durch Lehensbeziehungen konnte sich ein neuer Königsname rascher verbreiten als durch Verwandtschaftsbindungen120. Und eine Übernahme des Namens in 115 Klaus Herbers, Der Jakobskult des 12. Jahrhunderts und der „Liber Sancti Jacobi“. Studien über das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft im hohen Mittelalter (1984) 3. 116 Peyer (wie Anm. 111) 50f. Zum Karlskult der Kapetinger Percy Ernst Schramm, Der König von Frankreich 1 (1960) 137 ff. 117 Die Bedeutung des Namens für die Dynastie ergibt sich schon aus dem Umstand, dass er in den folgenden Generationen als einziger regelmäßig wiederkehrt. König Philipp I. selbst gab ihn 1093 seinem ältesten Sohn aus seiner zweiten, kirchlich allerdings nicht anerkannten Ehe mit Bertha von Montfort, sein Nachfolger Ludwig VI. zunächst 1116 seinem Erstgeborenen, dem als „rex designatus“ 1131 verunglückten Thronfolger, und dann noch ein zweites Mal bereits zu dessen Lebzeiten einem 1125 geborenen jüngeren Sohn, Ludwig VII. schließlich 1165 seinem einzigen Sohn, der erst aus seiner dritten Ehe stammte. 118 Brandenburg (wie Anm. 18) 18; Michel Bur, La formation du comté de Champagne v. 950 – v. 1150 (Nancy 1977) 230. 119 Brandenburg (wie Anm. 18) 44. 120 Philipp von Flandern kam wohl noch vor der Eheschließung seiner Stiefschwester Bertha von
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lehensrechtlichem Kontext ist wohl auch die einzige plausible Erklärung für diese beiden Fälle einer frühen Nachbenennung. Im Falle der Grafen von Blois-Champagne wird diese Annahme durch einen weiteren Umstand erhärtet. Eine Nachbenennung auf Lehensbasis lässt sich hier schon früher nachweisen. Theobalds III. ältester Sohn erhielt seinen Namen Stephan erst, als er Graf geworden war121. Dieser Name scheint in der Dynastie eng mit dem Besitz der Grafschaft Champagne bzw. der Anwartschaft auf sie verbunden gewesen zu sein122. Sein ursprünglicher Name war Heinrich. Für ihn gab es innerhalb der Familie keinerlei Vorbild. Heinrich Stephan wurde um 1048 geboren, also unter der Regierung von König Heinrich I., mit dem sein Vater auch politisch in gutem Einvernehmen stand123. Eine Nachbenennung nach dem französischen König ist also sehr wahrscheinlich. Theobald III. war allerdings auch Lehensmann des deutschen Königs, der den gleichen Namen trug. 1054 begegnet er als dessen „miles“ auf dem Hoftag zu Mainz124. Das mag verstärkend gewirkt haben. Besonders beachtenswert erscheint, dass Graf Theobald bereits seinem Erstgeborenen den Namen des Lehensherrn gab – eine Namengebung, die allerdings später korrigiert wurde. Der Brauch der Nachbenennung auf der Basis der Vasallität ist so bei den Grafen von Blois-Champagne in dieser Generation doppelt belegt. Er hat zu einer weitgehenden Zurückdrängung der spezifischen Leitnamen der Familie geführt. Mit Odo und Hugo tragen auch die beiden anderen Söhne Graf Theobalds charakteristische Namen des Königshauses, die allerdings in der Familie schon vorher verankert waren. Die Tendenz zur Angleichung des Namenguts ans Königshaus ist jedenfalls unverkennbar125. Wie rasch sich der neue Königsname über Linien der Lehensabhängigkeit verbreitete, lässt sich auch in der Vasallität der Grafen von Blois-Champagne aufzeigen. Zu den bedeutendsten Familien unter den Lehensleuten des Fürstengeschlechts gehörten die Herren
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Holland mit König Philipp zur Welt, die Anfang der siebziger Jahre erfolgt sein muss. Ein genauer Zeitpunkt ist nicht bekannt (Schramm, wie Anm. 116, 125). Eine solche Verschwägerung konnte wohl auch kaum die Basis einer Nachbenennung sein. Dass Robert von Flandern über seine Mutter Adelheid ein Vetter König Philipps war, erscheint schon eher berücksichtigenswert. Aber auch eine Benennung nach Seitenverwandten war keine übliche Form der Namengebung. Bur (wie Anm. 118) 200. Bur (wie Anm. 118) 487. Die Entscheidung für den Heiligennamen Stephan als Leitname der Fürs tenfamilie eines neu entstehenden Fürstentums könnte als Parallele zur Entscheidung für den Apostelnamen Philipp als Königsname bei den Kapetingern gesehen werden. Sie ist ihr allerdings viele Jahrzehnte vorausgegangen. Bur (wie Anm. 118) 200. Bur (wie Anm. 118) 405. Bur – (wie Anm. 118) 230 – meint: «En moins de dix ans, l’onomastique capétienne colonise la famille de Blois au point de lui enlever son identité.»
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von Trainel und Pont-sur-Seine. Ein Angehöriger dieser Familie wurde 1083 von seinem Lehensherrn zum Bischof von Troyes gemacht. Er trug denselben Namen Philipp wie der etwa gleichaltrige Grafensohn, der wenige Jahre darauf ebenso Bischof wurde 126. Ob der eine seinen Namen nach dem anderen erhielt oder beide unmittelbar nach dem König, lässt sich kaum entscheiden. In anderen Vasallenfamilien der Grafen von Blois finden sich neben Namen, die eindeutig auf die Fürstenfamilie verweisen, wie Theobald, Stephan und Heribert, ebenso solche, die beide Bezüge möglich erscheinen lassen, wie Hugo, Robert und Odo127. Zur klaren Dominanz einer dieser beiden Gruppen, der Königsnamen oder der anderen Fürstennamen, ist es im Lehenshof der Grafen offenbar nicht gekommen. Während bei den Grafen von Blois-Champagne der vom Königshaus übernommene neue Name in Bischof Philipp von Châlons seinen einzigen Vertreter hatte, wurde er bei den Grafen von Flandern weitergegeben und erlangte als Fürstenname der eigenen Familie Bedeutung. Graf Dietrich, ein Enkel Roberts I., der 1128 die Grafschaft übernahm, benannte seinen ältesten Sohn mit dem alten flandrischen Leitnamen Balduin, den zweiten nach seinem Onkel Philipp128. Dieser jüngere Philipp regierte Flandern von 1168 bis 1191. Er ist sicher zu den bedeutendsten Fürstenpersönlichkeiten des Landes zu zählen. In der nächsten Generation hieß wiederum der Erstgeborene Balduin, der Zweite Philipp129. So verwundert es nicht, dass sich der Name Philipp in der Folgezeit in Flandern stark verbreitete. Für die Namengebung der Vasallen war allerdings Balduin wichtiger, der alte Leitname des Grafengeschlechts seit karolingischer Zeit130. Außerhalb von Flandern kommt der Name Balduin im Adel wenig vor. Umso deutlicher verweist seine Häufigkeit, insbesondere unter den flandrischen Burggrafenfamilien, auf Nachbenennung nach dem Lehensherrn131. 126 127 128 129
Gallia Christiana XII (1770) 496. Bur (wie Anm. 118) vor allem 445ff. Brandenburg (wie Anm. 18) 44 f. Beachtenswert erscheint, dass Graf Dietrich seinem jüngsten Sohn den Namen Peter gab, ebenso wie etwa ein Jahrzehnt zuvor König Ludwig VI. Der Apostelname Peter war in Fürstenfamilien in dieser Zeit noch sehr selten. Es erscheint durchaus möglich, dass sich die Grafen von Flandern damit neuerlich an der Namengebung ihrer königlichen Lehensherren orientierten. 130 Im ausgehenden 11. und frühen 12. Jahrhundert begegnet Balduin unter den Zeugen der flandrischen Grafenurkunden zusammen mit Walter weitaus am häufigsten. Vgl. dazu Fernand Vercauteren, Actes des comtes de Flandre 1071–1128 (Brüssel 1938), vor allem Personenregister. 131 Der Name Balduin begegnet bei den Burggrafen von Aire, Arras, Lens, Gent, Ypern, Bourbourg und Saint-Omer. Zum Burggrafenamt in Flandern: Adriaan Verhulst, Die gräfliche Burgenverfassung in Flandern im Hochmittelalter, in: Die Burgen im deutschen Sprachraum 1 (Vorträge und Forschungen 19, 1976) 267ff. Zur besonderen Bedeutung des Burggrafenamts für die Nachbenennung nach Fürsten: Johann Gartmayer, Namengebung als Ausdruck sozialer Veränderungen – dargestellt an österreichischen Adelsfamilien im Mittelalter, phil. Diss. Wien 1973 (masch.), 46ff.
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Hier standen offenbar die regionalen Fürstennamen gegenüber den Königsnamen als Namensvorbilder der Untervasallen deutlich im Vordergrund. Sucht man nach Beispielen für die Nachbenennung nach dem Königshaus in den Familien der großen Lehensträger, so kommt man bei der normannischen Herzogsdynastie besonders weit zurück. Bemerkenswert sind hier zunächst einige Frauennamen. Die Töchter Richards I. (942–996) hießen Hadwig, Emma, Mathilde und Beatrix132. Die Namen verweisen eindeutig auf die Familie Hugos des Großen, des Herzogs von Franzien, von dem Richard die Normandie zu Lehen genommen hatte133. Hadwig hieß Hugos Gattin, die Schwester Ottos des Großen, Mathilde deren Mutter, Emma Hugos Halbschwester, die Gattin des westfränkischen Königs Rudolf von Burgund, sowie eine seiner Töchter und Beatrix Hugos Mutter, die zweite Gattin König Roberts I., sowie Hugos zweite Tochter134. Nun hatte Richard anlässlich seiner Kommendation an Herzog Hugo dessen Tochter Emma zur Frau genommen. Seine Kinder stammen jedoch nicht aus dieser Ehe, sondern aus seiner Verbindung mit der adeligen Dänin Gunnor. Es bestand also keinerlei Blutsverwandtschaft zu den Namensvorbildern. Offenbar liegt hier eine Orientierung am Namengut der Familie des Lehensherrn vor, noch bevor diese endgültig zur Königswürde aufgestiegen ist. Eine Neuorientierung der Namengebung wurde in der normannischen Fürstenfamilie notwendig, als mit dem Übertritt zum Christentum und der Eingliederung ins fränkische Reich die früheren Namentraditionen nicht mehr aufrechtzuerhalten waren. Wir haben gesehen, dass die Nachbenennung Rollos nach Herzog Robert, dem späteren König, nicht durch Vasallität, sondern durch Taufpatenschaft begründet wurde – freilich mit der Intention, ein analoges Abhängigkeitsverhältnis zu schaffen. Rollos Tochter Gerloc dürfte gleichzeitig den Namen von Herzog Roberts Tochter Adela erhalten haben. Welche Motive der so folgenreichen Namensentscheidung bei seinem Sohn Wilhelm zugrunde lagen, wissen wir nicht und auch bei seinem Enkel Richard sind wir auf Vermutungen angewiesen. Wilhelm Langschwert hat bei seiner Herrschaftsübernahme 927 die Normandie von König Karl dem Einfältigen zu Lehen genommen, nicht von dessen Gegenspieler Rudolf von Burgund. Auch nach Karls Tod im Jahre 929 wartete er lange zu, bis er sich endlich 933 zur Kommendation an König Rudolf entschloss135. Er dürfte aus diesem Anlass das Cotentin zu Lehen erhalten haben, worüber es zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen kam136. Mitten in diese Wirren fiel nach dem Bericht des Dudo von Saint-Quentin 132 133 134 135 136
Isenburg (wie Anm. 79) Tafel 36. Buisson (wie Anm. 16) 147ff. Werner (wie Anm. 45) 458, 462, 476 und Stammtafel. Buisson (wie Anm. 46) 142ff. J. M. Lappenberg, Geschichte von England 2 (1837) 22.
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die Geburt von Wilhelms Sohn Richard137. Der Name Richard kam damals nicht besonders häufig vor. Der bei weitem angesehenste Träger dieses Namens war sicher der 921 verstorbene Herzog Richard von Burgund, der Vater König Rudolfs138. In den viereinhalb Jahrzehnten seines Wirkens hat er einen mächtigen Herrschaftsbereich geschaffen, der die Basis für die Entwicklung des Herzogtums Burgund wurde. Wenn mit der Wahl König Rudolfs 923 eine neue Dynastie begründet werden sollte, so galt gewiss zunächst er als der bedeutendste Vertreter dieses Geschlechts. In einem solchen Kontext ist wohl die Namenswahl der normannischen Fürstenfamilie zu sehen. Dass es sich beim Königtum des Burgunders nur um ein kurzes Intermezzo handeln würde, war damals noch nicht abzusehen. Auch König Rudolfs eigener Name begegnet in der normannischen Fürstendynastie, allerdings nicht in gleich bedeutsamer Position wie der seines Vaters Richard. Herzog Richard I. hatte einen jüngeren Halbbruder, der zwar nicht vom selben Vater stammte, aber trotzdem zum engeren Familienkreis gerechnet wurde139. Eine Urkunde Richards bezeichnet ihn ausdrücklich als „frater comitis“140. Wie später alle in männlicher Linie dem Fürstenhaus entstammenden Nachkommen wurde auch er, und zwar als Erster, mit einer eigenen Lehensgrafschaft ausgestattet. Der Geburtstermin dieses Grafen Rudolf von Ivry ist nicht bekannt. Mit ziemlicher Sicherheit kam er jedoch erst nach dem Tod König Rudolfs zur Welt. Trotzdem wird man seinen Namen mit diesem in Zusammenhang bringen dürfen. Über seine bretonische Mutter lässt er sich genausowenig erklären wie der Richards. Gerade in der Kombination Richard und Rudolf wird die Nachbenennung der beiden Brüder nach Angehörigen der kurzlebigen Königsfamilie aus Burgund besonders wahrscheinlich. Bemerkenswert erscheinen die Namen der drei Söhne des Grafen Rudolf von Ivry: Hugo, Rudolf und Johannes141. Hugo war von 1015 bis 1049 Bischof von Bayeux. Kam er nach 987 zur Welt, so unter der Königsherrschaft Hugo Capets. Aber auch schon vorher war dieser als Herzog von Franzien Lehensherr der Normandie. Graf Rudolf war sicher nicht unmittelbar ein Vasall König Hugos. Er bezeichnete vielmehr ausdrücklich Herzog Richard als seinen „senior et frater“, wohl nicht zufällig in dieser Reihenfolge142. Die Nachbenennung seines Sohnes erfolgte also als Untervasall. Dasselbe gilt für einen anderen 137 De Gestis Normanniae ducum, in: Migne, Patrologia Latina 141 Paris 1880, 667f. 138 Über ihn Maurice Chaume, Les origines du Duché de Bourgogne 1 (Dijon 1925) 361ff.; Kienast (wie Anm. 32) 85ff. 139 Über ihn ausführlich David Douglas, The ancestors of William Fitz Osbern, in: English Historical Review 59 (1944) 69f. 140 Fauroux (wie Anm. 16) 74. 141 Douglas (wie Anm. 138). 142 Fauroux (wie Anm. 16) 13.
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4. „Senioris sui nomine“. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen
Abkömmling der Herzogsdynastie. Graf Wilhelm von Eu, ein natürlicher Sohn Herzog Richards I. und Neffe Rudolfs von Ivry, hatte ebenfalls einen Sohn Hugo. Auch er war Lehensmann des Herzogs, nicht des Königs. Trotzdem ist kaum daran zu zweifeln, dass der Name seines Sohnes vom Königshaus übernommen wurde143. Ein zweiter Sohn Graf Rudolfs von Ivry trug den Namen seines Vaters. Wir finden den Namen Rudolf in der Herzogsdynastie noch ein weiteres Mal. Graf Robert von Evreux, der spätere Erzbischof von Rouen (989–1037), ein Sohn Herzog Richards I. aus seiner Verbindung mit der Dänin Gunnor, hatte ebenfalls einen Sohn Rudolf144. Diese innerfamiliale Nachbenennung erscheint deswegen wichtig, weil sie die Zurechnung Rudolfs von Ivry zur herzoglichen Familie bekräftigt. Hugo und Rudolf zählen neben den Herzogsnamen Wilhelm, Robert und Richard seit dem 11. Jahrhundert in der normannischen Vasallität zu den meistgegebenen Namen. Der Name von Graf Rudolfs von Ivry drittem Sohn Johannes erscheint aus einem ganz anderen Grund auffällig. Dieser späterhin so häufig gegebene Name kommt zu dieser Zeit nördlich der Alpen im Hochadel sonst noch nicht vor. Dasselbe gilt für den nachmals so beliebten Nikolaus. Der erste Vertreter des Namens im Norden war auch ein Angehöriger der normannischen Fürstenfamilie, nämlich der einzige, wahrscheinlich uneheliche, Sohn des 1027 früh verstorbenen Herzogs Richard III.145 Die Herzogsfamilie hat also keineswegs nur zur Verbreitung des von ihr übernommenen traditionellen Namenguts beigetragen. Die normannischen Herzogsurkunden ermöglichen es, das rasche Vordringen von Fürstennamen in der Vasallität statistisch zu veranschaulichen. Relativ häufig werden hier bei Zeugennennungen die Vatersnamen hinzugefügt. So lässt sich ein Vergleich zwischen den Generationen hinsichtlich der Veränderungen des Namenguts durchführen146. In den letzten fünfzig Jahren vor der Eroberung Englands trugen bereits 35 % der mit Vatersnamen genannten Zeugen den Namen eines Herzogs. Unter den Vätern waren es nur 6 %. Innerhalb einer Generation hatte sich also der Anteil fast auf das Sechsfache gesteigert. Sicher geht dieser Anstieg auch auf innerfamiliale Nachbenennungen zurück, ohne Nachbenennung nach der Familie des Lehensherrn wäre er jedoch in diesem Ausmaß nicht zu erklären. Es scheint die hier erfasste Phase ein für die Nachbenennung auf Lehensbasis besonders wichtiger Zeitraum gewesen zu sein. Obwohl die Herzöge von 942 bis 1027 Richard hießen, steht unter den Vasallennamen Wilhelm mit 14 % vor Robert mit 11 % und 143 Fauroux (wie Anm. 16) 60 und 558. 144 Fauroux (wie Anm. 16) 339. 145 Pieter Meertens, L’importance de l’anthroponymie pour l’histoire ecclésiastique, in: Troisième congrès internationale de toponymie et d’anthroponymie 1949, Bd. 3: Actes et memoires (Löwen 1951) 717. 146 Grundlage der Erhebung bildete die Urkundensammlung von Fauroux (wie Anm. 16) 98 ff.
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Richard mit 10 % an der Spitze. Es kam also offenbar in dieser Periode auch sehr stark zur Nachbenennung nach verstorbenen Fürsten oder nachbenannten Mitgliedern der herzoglichen Familie. Der Name Wilhelm dominierte im normannischen Adel bereits in jener Generation, die vor dem Herrschaftsantritt Wilhelms des Eroberers zur Welt gekommen ist. Der große König wird die Präferenz für diesen Namen unter seinen Vasallen sicher begünstigt haben. Auf die Situation ein Jahrhundert später bezieht sich ein aufschlussreicher Bericht des Robertus de Monte zum Jahr 1172, der als Zeugnis für die Auswirkungen der Lehensnachbenennung besonders eindrucksvoll ist147: „Henricus rex iunior ad natale fuit ad Bur iuxta Baiocum; et quia tunc primum tenebat curiam in Normania, voluit ut magnifice festivitas celebraretur. Interfuerunt episcopi, abbates, comites, barones, et multa multis largitus est. Et ut appareat multitudo eorum qui interfuerunt: cum Willermus de Sto. Johanne Normannie procurator, et Willermus filius Hamonis senescallus Brittanie, qui venerat cum Gaufrido duce Brittannie domino suo, comederent in quadam camera, prohibuerunt, ne quis miles comederet in eadem camera, qui non vocaretur Willermus; et eiectis aliis de camera, remanserunt CXVII milites, qui omnes vocabantur Willermi, exceptis plurimis aliis eiusdem nominis qui comederunt in aula cum rege.“ In der Entwicklung der Namensübertragung vom „senior“ auf die „milites“ erscheint hier ein Höhepunkt erreicht. Es stellt sich die Frage, warum es gerade in der Normandie und in Anschluss daran in England zu einer derart intensiven Nachbenennung gekommen ist. Es liegt nahe, den Grund dafür in Besonderheiten des anglonormannischen Lehenswesens zu suchen.
Nachbenennung und Lehenswesen An lehensrechtlichen Normen scheinen für das Verständnis der Namensübertragung auf Vasallenkinder vor allem jene Bestimmungen von Interesse, die dem Lehensherrn Einfluss auf die Familienangehörigen des Vasallen boten. Hier sind primär die Vormundschaft über die minderjährigen Lehenserben und das Verheiratungsrecht gegenüber den Töchtern zu nennen. Beide Einrichtungen waren im anglonormannischen Lehensrecht besonders stark entwickelt148. In dessen Geltungsbereich kam dem Senior offenbar die 147 MGH SS 6, 520. 148 Heinrich Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte (1933) 366, 653ff.; derselbe, Zur Geschichte der Lehnsvormundschaft, in: Festschrift Alfred Schultze (1934) 143 ff.
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größere Bedeutung zu als den Verwandten. Das Verhältnis zwischen Herrenvormundschaft und Verwandtenvormundschaft im Lehensrecht erscheint überhaupt als ein interessanter Indikator. Während in der Normandie die Herrenvormundschaft ganz im Vordergrund steht, tritt sie etwa in Zentralfrankreich gegenüber dem Recht der Verwandten deutlich zurück. Im italienischen Lehensrecht fehlt sie vollkommen149. Es ergeben sich somit Entsprechungen zur Intensität der Nachbenennung nach dem Lehensherren. Offenbar war die Namensübertragung auf die Vasallenkinder dort stärker verbreitet, wo der Bindung an den Lehensherrn insgesamt eine Vorrangstellung gegenüber den Verwandtschaftsbindungen eingeräumt wurde. In der Entwicklung von Herrenvormundschaft und Nachbenennung nach dem Lehensherrn zeigt sich auch eine auffallende zeitliche Koinzidenz. Die ersten Fälle, in denen vom Senior Vormundschaftsrechte über den unmündigen Lehenserben in Anspruch genommen werden, stammen aus dem zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts 150. Etwas älter sind die frühesten Belege für die Übernahme des Herrennamens in Vasallitätsbeziehungen. Es liegt nahe anzunehmen, dass hier nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein ursächlicher Zusammenhang gegeben ist. Lehensvormundschaft setzt genauso wie Nachbenennung voraus, dass die Beziehung zwischen Herr und Vasall als ein quasiverwandtschaftliches Verhältnis aufgefasst wurde. Wenn der Senior im Falle der Verwaisung Vaterstelle einnehmen konnte, so kam er wohl schon bei der Geburt als Namensvorbild in Frage. Beide Phänomene dürften mit der Durchsetzung der Erblichkeit von Lehen zu tun haben. Für die Lehensvormundschaft ist der Zusammenhang offenkundig. Nur wenn ein Anspruch auf Weitergabe des Lehens in der Familie bestand, konnte der Fall der Unmündigkeit des Lehensinhabers auftreten151. Aber auch die Nachbenennung könnte mit der Erblichkeit der Lehen in Zusammenhang stehen. Durch sie wurde ja die familiale Kontinuität der Lehensbeziehung vonseiten des Vasallen betont. Vielleicht war es ein Zeichen des Anspruchs oder der Erwartung einer Wiedervergabe des Lehens in der Familie, wenn der Vater seinem Sohn den Namen seines Lehensherren gab. Die Entstehung der Nachbenennungssitte setzt jedenfalls generationsübergreifende Perspektiven von Vasallitätsbeziehungen voraus. Nachbenennung aufgrund von Lehensabhängigkeit verbindet Ordnungen der Familie mit solchen übergeordneter Herrschaftssysteme. Sie erscheint dadurch ein guter Ansatzpunkt, um Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung zu untersuchen. In der Erforschung des Lehenswesens standen traditionell „staatliche“ Aspekte im Vordergrund. Seine 149 Mitteis, Zur Geschichte (wie Anm. 147) 150ff. 150 Mitteis, Zur Geschichte (wie Anm. 147) 135ff. 151 Mitteis, Zur Geschichte (wie Anm. 147) 131ff.
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Auswirkungen auf die Familie wurden kaum untersucht. Es ist eine seltene Ausnahme, wenn das Lehenswesen einmal in seiner Bedeutung für die primären Gruppenbildungen des Alltags gesehen wird, wie das bei Georges Duby anklingt, wenn er schreibt: «La féodalité, au sens où nos maîtres entendaient ce mot, l’usage du contrat vassalique et du fief ne fut jamais qu’une couverture superficielle. Elle s’est plaquée sur les structures vivantes de la sociabilité, dont la nature était domestique, familiale.»152 In der Beobachtung von Nachbenennungssitten nach dem Lehensherrn und seiner Familie kann man an solche Gedanken anschließen. Die Zeit seit dem 10. Jahrhundert gilt im Allgemeinen als eine Phase der Festigung des adeligen Geschlechtsbewusstseins und des Vordringens von agnatischem Denken – eine Sichtweise, bei der sehr stark gerade mit der Entwicklung der Adelsnamen argumentiert wird153. Wenn es wirklich zutreffen sollte, dass vorher das kognatische Prinzip für die adelige Gruppenbildung größeres Gewicht gehabt hätte, dann wäre im Kontext von dominanten Verwandtschaftsbeziehungen eine solche Tendenzbestimmung richtig. Die Lehensnachbenennung macht allerdings auf Zusammenhänge aufmerksam, die über die Alternative agnatisches oder kognatisches Bewusstsein hinausgehen und die anregen könnten, die These von der Festigung des adeligen Geschlechtsbewusstseins neu zu durchdenken. Die Verbreitung von Fürstennamen hat dazu geführt, dass für ein Geschlecht typische alte Hausnamen zurückgedrängt, mitunter sogar völlig ersetzt wurden. Soweit das agnatische Denken adeliger Familien an die Weitergabe spezifischer Namen geknüpft war, müsste es durch die Namenübertragungen über Vasallitätsbeziehungen seit dem 10. Jahrhundert eher eine Beeinträchtigung erfahren haben. Es ist dies nur ein Bereich unter vielen, in dem das Prinzip der Lehensnachbenennung neue Perspektiven auf die Entwicklung der mittelalterlichen Adelsfamilie eröffnen könnte. Die Bedeutung des Lehenswesens für die Familie dürfte bei einem weiten Verständnis des Begriffs nicht auf die Adelsfamilie beschränkt gesehen werden. Es wurde gezeigt, dass Fürstennamen weit über den Adel hinaus in bürgerlichen und bäuerlichen Bevölkerungsgruppen Verbreitung fanden. Die im Adel wirksamen Faktoren der Namengebung 152 Féodalités méditerranéennes, in: Le Monde, 27. Oktober 1978, zitiert nach: Jean-Pierre Poly und Éric Bournazel, La mutation féodale X–XII siecle (Paris 1980) 483. 153 Karl Schmid, Zur Problematik von Familie, Sippe und Geschlecht, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 105 (1957); derselbe, Über die Struktur des Adels im früheren Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 19 (1959) 1 ff.; Wilhelm Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8. bis 11. Jahrhundert 1 (1973) 40 ff. und 70 ff.; derselbe (wie Anm. 4) 117. Grundsätzliche Kritik an den „Schmid-Thesen“ formuliert Constance B. Bouchard, Family Structure and Family Consciousness among the Aristocracy in the ninth to eleventh Century, in: Francia 14 (1986) 693ff.
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4. „Senioris sui nomine“. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen
machen es sehr wahrscheinlich, dass dieser Diffusionsprozess in seiner Gesamtheit auf spezifischen sozialen Beziehungen zwischen Namensvorbildern und den Eltern der Nachbenannten beruht. Ganz analog zum Adel wäre dann auch für andere soziale Gruppierungen zu fragen, was jeweils die über den Rahmen der Familie hinausgehende Orientierung der Namengebung für die Familie bedeutet hat. Sieht man Nachbenennung aufgrund von Lehensabhängigkeit als ein verbindendes Moment zwischen Ordnungen der Familie und solchen übergreifender Herrschaftssysteme, so könnte dieser Ansatz nicht nur für die Geschichte der Familie wichtig sein. Auch in umfassenderem sozialem Kontext stellen sich interessante Fragen: Wenn im Vasallitätsverhältnis familiale Strukturen so weitgehend nachgebildet sind, dass es zur Namensübertragung kommt – in welchem Ausmaß kann dann das Lehenswesen insgesamt als familial geprägt angesehen werden? In welchem Verhältnis steht es zu anderen sozialen Einrichtungen, die Nachbenennung begünstigten, wie insbesondere zur Patenschaft als einer spirituellen Nachbildung familialer Beziehungen? Unterscheiden sich Lehenssysteme durch ihre spezifisch familialen Wurzeln von sonstigen Formen herrschaftlicher Ordnung, in denen es zu keiner vertikalen Diffusion von Fürstennamen kommt? Inwieweit lässt sich aus der Intensität der Verbreitung von Fürstennamen innerhalb von Lehensordnungen auf unterschiedliche Strukturtypen schließen? Kann insgesamt die Verbreitung von Fürstennamen als Ausdruck eines Prozesses herrschaftlicher Penetration gedeutet werden, dessen graduelle Abstufungen im Namengut quantitativ fassbar werden? Alle diese Problemfelder lassen es sinnvoll erscheinen, sich mit Namen als sozialgeschichtlicher Quelle verstärkt zu beschäftigen. Die statistische Analyse von Namengut, wie sie seitens philologischer Disziplinen vielfach schon mit reichen Ergebnissen durchgeführt wurde, ist dabei nur ein möglicher Ansatzpunkt. Mindestens ebenso wesentlich, vielleicht sogar noch wichtiger erscheint die Beschäftigung mit Kriterien der Namengebung und der Nachbenennung. Von der Nachbenennung wissen wir, dass sie in der Primärgruppe Familie in vielfältiger Weise als Ausdrucksform sozialer Beziehungen verwendet wurde. Wo immer sie darüber hinaus auftritt, liegt die Vermutung nahe, dass ähnlich bedeutsame soziale Zusammenhänge gegeben sind.
5. „Renovatio“ und „innovatio“. Namen als Spiegel von Erneuerungsbewegungen im Pisa des 13. Jahrhunderts
Kaum ein anderer Bereich kultureller Entwicklungen lässt die Vielfalt nebeneinander stehender Traditionslinien so gut analysieren wie die Namenkultur einer Gesellschaft. Im Prinzip ist jede Namengebung einmalig. Und doch steht jeder Individualname im größeren Zusammenhang des spezifischen Namenguts einer Sozietät, das wir auf dieser Grundlage detailliert untersuchen können – bis hin zu quantitativ gewichtenden Aussagen. Für Pisa gibt es dafür eine sehr geeignete Grundlage. Eine Allianz, die die Stadt 1228 mit Siena, Pistoia und Poggibonsi schloss, wurde von 4300 Pisanern beschworen, deren Namen überliefert sind.1 Das ist ein sehr umfangreicher Querschnitt durch die männliche Bevölkerung der Stadt zu ihrer Blütezeit. Etwas jüngeres Vergleichsmaterial liegt für zwei andere toskanische Städte vor, nämlich für Florenz und Siena, aber auch für Mailand und Genua.2 Das Namengut dieser Pisaner Liste ist von einer ganz außerordentlichen Vielfalt, wie sie sich kaum sonst zu dieser Zeit in irgendeiner lokalen Gesellschaft Europas findet. Vor allem enthält es einen sehr aussagekräftigen Namentypus. Neben Namen, die offenbar durch Nachbenennung weitergegeben wurden, finden sich zahlreiche, bei denen der Wortsinn für die Vergabe des Namens entscheidend gewesen sein muss. Gerade diese Namen eröffnen einen Zugang zur Mentalität der Pisaner im 13. Jahrhundert. Unter den von der Wortbedeutung her gegebenen Namen fällt besonders eine Gruppe auf, die im Namen des neugeborenen Kindes einen bestimmten Wunsch für einen glücklichen Lebensweg ausdrückt. Man nennt solche Namen „nomi augurativi“ oder „nomi augurali“.3 Von Namen dieses Typus nimmt in Pisa Buonaccursus mit 170 Nennungen einen Spitzenplatz ein – je nach Zählweise den ersten oder zweiten. In der Häufigkeitsliste folgen Bonagionta am 11., Biencivenne am 18., Boninsegna am 23. und Benencasa am 24. 1 2 3
Juliana de Luna (Julia Smith), Masculine names from Thirteenth Century Pisa, 2002 (http:// www.s-gabriel.org./names/juliana/pisa/pisa-given-freq.html) Olaf Brattö, Studi di antroponomia fiorentina: Il libro di Montaperti, Göteborg 1953, 11 f. und 29; ders.: Nuovi studi di antropnomia fiorentina, Stockholm 1955, 11 ff.; Benjamin Kedar, Noms de saints et mentalité populaire à Gênes au XIV siècle, in: Le Moyen Age 73, 1967, 433, 437, 440. Brattö (wie Anm. 2), 20ff.
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5. „Renovatio“ und „innovatio“
Platz. In Siena hält 1260 Bonaventura den 1. Rang, Bencivenne den 8. und Dietisalvi den 10. In Florenz beginnen die „nomi augurativi“ 1260 in der Rangliste erst an 4. Stelle mit Bencivenni, es folgen aber dann noch Benvenutus, Bonaiunta, Bonicambius und Bonaccursus unter den ersten Zehn.4 Hier können 60 Namen als „nomi augurativi“ charakterisiert werden.5 In Pisa machen allein die mit Bene-, Bon- und Buon- zusammengesetzten Namen bzw. Namensformen fast 90 aus. Das Namengut der toskanischen Städte erscheint zu dieser Zeit also sehr wesentlich von diesem Namentyp geprägt. Es dürfte sich um ein spezifisches Phänomen dieser Region handeln. In Mailand etwa finden sich „nomi augurativi“ in dieser Zeit keineswegs besonders häufig.6 Ähnliches gilt für Genua. Hier lag 1157 noch Bonusvasallus auf Platz 4 und Bonifatius auf Platz 5. 1251 hingegen fehlt dieser Namentypus in der Rangliste der häufigsten Namen vollkommen.7 Wie ist es zu dieser eigenartigen Sonderentwicklung in der Toskana und speziell in Pisa gekommen? Einige der Namen wie Benincasa, Bonaiutus, Dietisalvi finden sich hier schon im 11. Jahrhundert.8 Das Konzept, das ihnen zugrunde liegt, ist aber sicher viel älter. Es lässt sich in den beiden Namen Bonifatius und Benedictus zurückverfolgen.9 Im 13. Jahrhundert spielen sie in der Toskana nur mehr eine untergeordnete Rolle, sie haben aber eine weit zurückreichende Tradition. „Nomi augurativi“ waren schon im spätantiken Christentum sehr verbreitet, damals allerdings viel stärker mit religiösen Wunschvorstellungen verbunden.10 Solche christlichen Wunschnamen wurden nicht nur in lateinischer Sprache formuliert, sondern auch in griechischer. Im byzantinischen Bereich haben sie sich besser erhalten als im Westen. Im 6. und 7. Jahrhundert finden sich mit eu- d. i. „gut“ zusammengesetzte Namen im Kaiserreich relativ oft, etwa Eustathius, Eutychianus, Eugenius, Eulogius, Euphemius.11 Die toskanischen Bon-, Buon- und Bene-Namen gleichen ihnen zwar nicht in ihrer Bedeutung, aber im Konzept der Namensbildung. Weder im byzantinischen Unteritalien noch in den übrigen unter byzantinischem Einfluss gebliebenen Gebieten finden sich Zwischenglieder.12
4 5 6 7 8 9 10
Brattö (wie Anm. 2), 11. Brattö (wie Anm. 2), 20. Brattö (wie Anm. 2), 29. Kedar (wie Anm. 2), 440. Brattö (wie Anm. 2), 25. Brattö (wie Anm. 2), 21. Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige, Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993, 90; Brattö (wie Anm. 2), 22. 11 http:www.sca.org/heraldry/laurel/names/byzantine/early_byz_names.html 12 Brattö (wie Anm. 2), 23.
5. „Renovatio“ und „innovatio“
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Als man in der Toskana solche Namen neu bildete, hatte im Osten dieser Namentypus schon an Bedeutung verloren. So bleiben schwache Traditionsstränge zum Christentum der Spätantike wie die beiden genannten Wunschnamen Bonifatius und Benedictus, vielleicht auch ein direkter Rückgriff über Inschriften als Weg der Vermittlung.13 Jedenfalls wurde das christliche Namenwesen der konstantinischen Zeit in der Toskana sehr selbständig weiterentwickelt. Inwieweit man sich dabei des Ursprungs dieser Tradition bewusst war, ist die Frage. Noch ein zweites Moment der Pisaner Namenkultur lässt Zusammenhänge mit der christlichen Spätantike erkennen, nämlich das Wiederaufleben des Supernomen. Das Supernomen bzw. Signum war ein persönlicher Zweitname – kein Cognomen im Sinn der klassischen römischen Namensystems.14 Es gewann seine Bedeutung mit dem Übergang zur Einnamigkeit, der nicht zuletzt unter dem Einfluss des Christentums erfolgte. Etwa konnte das Supernomen eine Person in unterschiedlichen sozialen Kontexten charakterisieren – z. B. in einem lateinischsprachigen und einem griechischsprachigen Umfeld. Charakteristisch ist die Verbindung der beiden Namen durch „qui et“ oder „qui dicitur“. Sowohl diese Formeln als auch die alte Bezeichnung „supernomen“ findet sich in der Namengebung der Toskana im 8. Jahrhundert,15 und zwar schon vor den „nomi augurativi“. Ob damit eine noch lebendige Tradition aufgegriffen und verstärkt wurde oder ob ein Rückgriff ohne eine solche Kontinuität erfolgte, kann hier nicht entschieden werden. Die Parallele in der „renovatio“ von Erscheinungen der konstantinischen Zeit in den Kunstformen wie im Namenwesen ist jedenfalls auffällig. Auch in der Namenkultur könnte man so von einer „Romanitas Pisana“ sprechen – allerdings hier ebenso nicht primär auf die klassische Antike bezogen. Die Wiederbelebung des Supernomen hat in der Toskana – und insbesondere in Pisa – zu einer beachtlichen Entfaltung und Differenzierung der Namenkultur geführt.16 Im Zweitnamen konnten weniger traditionell gebundene Elemente aufgenommen werden. Relativ häufig ersetzte dann der Zweit- den Erstnamen. Die vielen Herkunftsnamen, die sich unter den Erstnamen finden, sind wohl so zu erklären. Und auch die „nomi augurativi“ könnten durch diese Auflockerung des überkommenen Namenguts leichter Aufnahme gefunden haben. Die neue Flexibilität der Namengebung zeigt sich in der Vielfalt reduzierter Formen. In Pisa etwa liegt die Kurzform Ventura weit vor der Vollform Bonaventura und Bonagionta begegnet nur wenig häufiger als Gionta. Eine solche Flexibilität hatte 13 14 15 16
Brattö (wie Anm. 2), 22. Mitterauer (wie Anm. 10), 83 f., 96 f., 117, 154, 200. http:www.oeaw.ac.at/gema/lango_urkorg5.htm p.299 Brattö (wie Anm. 2), 23 f.
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5. „Renovatio“ und „innovatio“
sich allerdings schon zuvor in den zahlreichen hypokoristischen Formen von Traditionsnamen abgezeichnet. Die inhaltliche Aussage der meisten „nomi augurativi“ in Pisa und den anderen toskanischen Städten im 13. Jahrhundert entspricht dem Prototyp Bonifatius. Es wird dem Kind mit der Namengebung ein gutes Schicksal gewünscht. Nicht viel konkreter ist etwa der Wunsch bei dem in Pisa führenden Buonaccorso. Accorso meint „Hilfe“, „Unterstützung“. In Florenz begegnet einmal Dietacorri17, aber dass die Hilfe für das Kind von Gott kommen soll, wird in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle nicht ausgedrückt. Man könnte Buonaccorso auch zu den „nomi augurativi“ zählen, die einen sozialen Wunsch formulieren. Konkreter ist ein derartiger Wunsch mit Bonfilius („guter Sohn“), Buonfancellus („gutes Kind“), Buonfante („gutes Kind“), Buonfantinus („gutes kleines Kind“), Buonamicus („guter Freund“), Buoncompagnus („guter Gefährte“, vielleicht auch in einem geschäftlichen Kompanieverhältnis), Buonservus („guter Diener“) oder Buonsignore („guter Herr“) ausgedrückt. Der in Genua im 12. Jahrhundert so stark vertretene Bonvasallus („guter Lehensmann“)18 fehlt 1228 in Pisa, was auf geringere Bedeutung von Vasallitätsbeziehungen deuten könnte. Dem Kind konnte aber auch der Wunsch mitgegeben werden, ein Buongianni („guter Johannes“) oder ein Buonmartinus („guter Martin“) zu sein. Bezog sich die Erwartung da auf die Nachahmung des Heiligen oder eines ihm nachbenannten Trägers des Namens im Umfeld des Kindes? Stark religiös gefärbt sind die „nomi augurativi“, wie schon betont, im Pisa des 13. Jahrhunderts jedenfalls nicht. Und für die Bezugnahme auf Heilige wählte man weniger vermittelte Formen. Die Heiligennamen sind im hochmittelalterlichen Pisa wie auch sonst in den Städten der Toskana die großen Konkurrenten der „nomi augurativi“. Sie sollten sie in der Folgezeit weitgehend verdrängen. Der im Vergleich zu frühchristlicher Zeit wenig religiöse Charakter der „nomi augurativi“ kann also kaum als Ausdruck einer Tendenz der Säkularisierung verstanden werden. Unter den aufkommenden Heiligennamen spielen drei eine besondere Rolle, nämlich Johannes, Petrus und vor allem Jacobus. In Pisa steht Jacobus 1228 erst an fünfter Stelle, unmittelbar gefolgt von Johannes an 6. und Petrus an 13. Stelle. In Florenz nimmt Jacobus 1260 den 1. Platz ein, Johannes den 2., Petrus den 15., in Siena zur selben Zeit stehen sie in derselben Reihenfolge an 3., 4. und 7. Stelle. Diese Abfolge ist bemerkenswert. Unter den himmlischen Fürbittern gilt sonst – gleich nach Maria – Johannes der Täufer als der wichtigste. So zeigt ihn auch das klassische Bildmotiv der Deesis.19 Dem heiligen Petrus sind die Schlüssel des Himmelreichs anvertraut. Diese 17 Brattö, Nuovi Studi (wie Anm. 2), 90. 18 Kedar (wie Anm. 2), 440. 19 „Deesis“ in: Lexikon des Mittelalters 3, Stuttgart 1999, Sp. 631; Mitterauer (wie Anm.10), 345.
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Funktion machte ihn als Namenspatron besonders begehrt.20 In der großen Wende zur Nachbenennung nach Heiligen, die sich im Hoch- und Spätmittelalter in ganz Europa beobachten lässt, nehmen Johannes und Petrus fast immer die beiden Spitzenpositionen ein. Der Vorrang von Jacobus in Oberitalien und vor allem in der Toskana erscheint erklärungsbedürftig.21 Auch ihm könnte man eine besondere Helferstellung auf dem Weg ins Jenseits zugeschrieben haben. Die Vorstellung, dass die Seele auf diesem Weg die gefährliche „ponte di San Giacomo“ zu überwinden habe, war hier weit verbreitet.22 Die große Welle der Heiligennachbenennung hat nicht in Italien begonnen. Ihren Ausgang nahm sie vom Byzantinischen Reich.23 Dort setzte sich mit der Entscheidung des Bilderstreits zugunsten der Bilderverehrer diese Form der Namengebung immer mehr durch. Auch inhaltlich besteht eine Korrespondenz zwischen der Verehrung von Heiligen in ihrem Bild und in ihrem Namen. Die Übernahme der Ikonenverehrung erfolgte in Italien an verschiedenen Plätzen. Pisa war unter ihnen besonders bedeutsam. Auch in der Heiligennachbenennung darf Pisa als ein Platz der Vermittlung ostkirchlicher Einflüsse angesehen werden. Wenn in Pisa 1228 die großen Heiligennamen in der Rangliste noch nicht die ersten Spitzenplätze einnahmen, so hat das offenbar mit der besonderen Beharrungskraft von alten Traditionsnamen zu tun. Noch vor der Welle der Heiligennachbenennung setzte in weiten Teilen Europas die Nachbenennung nach Fürsten ein.24 Die Grundlage dieser Form der Nachbenennung waren Lehensbindungen. In Reichsitalien spielte diese soziale Bindungsform eine geringere Rolle als nördlich der Alpen, und dementsprechend auch die Nachbenennung auf dieser Basis. Heinrich, der Leitname des salischen Kaiserhauses, nahm im reichstreuen Pisa 1228 noch den 8. Rang ein, in der Führungsschicht Genuas 1251 sogar den 3.25, im päpstlich orientierten Florenz hingegen nur den 30.26 So stellt sich die Frage, ob zwischen ghibellinisch und guelfisch orientierten Städten in der Namengebung Unterschiede bestanden. Nicht alle Fürstennamen des 10. und 11. Jahrhunderts, die im 13. noch weitergegeben wurden, haben allerdings mit einer solchen Parteinahme zu tun. Deutlich vor Arrigo/Heinrich liegen in allen Toskana-Städten Guido/Wido und Ugo/Hugo.27 Zählt man alle hypokoristischen Nebenformen von Ugo hinzu, so nimmt 20 Mitterauer (wie Anm. 10), 45. 21 Mitterauer (wie Anm. 10), 280. 22 http://www.unipg.it/~srf/link/compos/ital/htm 23 Mitterauer (wie Anm. 10), 137 ff. 24 Mitterauer (wie Anm. 10), 293 ff. 25 Kedar (wie Anm. 2), 440. 26 Brattö (wie Anm. 2), 11. 27 Brattö (wie Anm. 2), 11, 29.
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er in Pisa 1228 sogar den ersten Platz ein. Er war italienischer Königsname, tuszischer Markgrafenname, vor allem auch Leitname des Geschlechts der Vizegrafen von Pisa und anderer konsularischer Familien der Stadt.28 In Genua hatte der Markgrafenname Oberto eine ähnliche Position, dort 1251 erst hinter dem Königsnamen Enricus/Heinrich. Der Nachbenennung nach Fürsten gehörte allerdings im 13. Jahrhundert in Italien nicht mehr die Zukunft der Namengebung. Ein starker Indikator, wie „Romanitas Pisana“ im Namengut zu verstehen ist, liegt im völligen Fehlen von Rückgriffen auf die vorchristliche, klassische Antike. Die Namengebung der Renaissanceepoche ist ja in Italien stark durch solche Rückgriffe charakterisiert – sowohl auf mythologische Gestalten als auch auf historische. Von einer Pisaner Protorenaissance kann im Namengut allerdings keinesfalls gesprochen werden. Zwar wurden schon im 12. Jahrhundert in der Geschichtsdichtung wie auch in den Inschriften zahlreich Vergleiche zwischen Zeitgenossen und heroischen Figuren der Antike gezogen: Dem Dombaumeister Busketus wurden die Eigenschaften von Daedalus und Ulysses zugeschrieben, dem Konsul Rodolfo die des Herkules, dem Konsul Henricus die von Cato, Cicero, Fabricius und Attilius Regulus.29 Die Vertrautheit mit der Literatur der klassischen Antike war in Pisa schon damals außerordentlich hoch – wohl höher als in jeder anderen Stadtkommune Italiens. In der Namengebung ist allerdings im 13. Jahrhundert noch nichts davon zu merken. Einzig der Name Attavianus/Octavianus scheint zunächst einen Hinweis in diese Richtung zu geben. Er ist aber zugleich der Name einer französischen Epengestalt.30 Und die französischen Epenzyklen haben die Namengebung in Pisa im 13. Jahrhundert deutlich beeinflusst – viel stärker als im Raum nördlich der Alpen.31 Guillaume d’Orange, sein Vater Aimeri und sein Neffe Vivian wurden zu Vorbildfiguren, ebenso Roland und sein Waffengefährte Olivier. Dante hat dann Guillaume und Roland gemeinsam mit Karl dem Großen und Gottfried von Bouillon, aber auch mit dem keineswegs sehr heiligmäßigen Normannenfürsten Robert Guiscard im Paradies geschaut.32 Auch Guiscard hat in Pisa Nachbenennung gefunden. Übergänge vom Heiligen- zum He28 Maria Luisa Cecarelli Lemut, Pisan Consular Families in the Communal Age: the Anfossi and the Ebraici (or Verchionesi or da Parlascio) in the Eleventh to Thirteenth Century, in: Thomas Blomquist und Michel Mazzaou (Hg.), The “Other Tuscany”. Essays in the History of Lucca, Pisa and Siena during the Thirteenth, Fourteenth and Fifteenth Century, Kalmazoo 1994, 123–151. 29 Marc von der Höh, Erinnerungskultur und frühe Kommune. Formen und Funktionen des Umgangs mit der Vergangenheit im hochmittelalterlichen Pisa (1050–1150) (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit 3), Berlin 2006, 247, 307–314. 30 „Octavian“ in: Lexikon des Mittelalters 6, Stuttgart 1999, Sp. 1344. 31 Mitterauer (wie Anm. 10), 287. 32 La Divina Commedia 18, 235.
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roenkult sind in der Namenkultur Pisas in ersten Ansätzen zu erkennen. Die vorchristliche Antike spielt dabei aber noch keine Rolle. Schließlich spiegelt das Namengut Pisas von 1228 den weiten Einzugsbereich der großen Handelsstadt. Die regionalen Herkunftsbezeichnungen waren sicher ursprünglich Supernomina, die erst sekundär zu Erstnamen wurden. Das umbrische Vergleichsbeispiel des heiligen Franziskus ist diesbezüglich aufschlussreich.33 Er wurde 1181 auf den Namen Johannes getauft und erhielt erst nach der Rückkehr seines Vaters, eines Tuchhändlers aus Assisi, von einer Frankreich-Reise den Zweitnamen Francescus. Der Name Francescus ist auch in Pisa 1228 mehrfach vertreten – sicher unabhängig von der im gleichen Jahr erfolgten Heiligsprechung des zwei Jahre zuvor verstorbenen Ordensgründers. Namen wie Affricante, Almannus, Borgundius, Damascus, Francescus, Neapolitanus, Pulliese, Scottus, Tedescus, Tramontese und sogar Saracencus und Turchius verweisen auf weite Raumbezüge, Bolognese, Garfagninus, Genovardus, Lombardus, Mantovanus, Modenese, Pratese, Provencialis und Romeus auf nähere. Mit Corsus und Sardus kommen die von Pisa abhängigen Inseln ins Spiel. Keineswegs müssen alle diese Namen Zuwanderer aus den genannten Gebieten bezeichnen. Wie das Beispiel des heiligen Franziskus zeigt, konnte eine Reise des Vaters der Grund der Namengebung sein, die in diesem Fall allerdings auch dazu führte, dass der Sohn in die provencalische Sprache eingeführt wurde. So sind durch das Namengut in sehr allgemeiner Weise Handels- und Kulturkontakte angesprochen. Das Namengut der Pisaner, wie es im Allianzvertrag von 1228 überliefert ist, zeigt vielfältige Verbindungen von „renovatio“ und „innovatio“. In der Entwicklung des Namenwesens deutet es – im großräumigen Vergleich gesehen – auf bemerkenswerte Züge einer grundsätzlichen Veränderung. Von diesem Namengut ausgehend lassen sich Verbindungen zu anderen Kulturbereichen herstellen, in denen Pisa die Funktion eines Innovationszentrums gehabt hat. Einige seien skizzenhaft angesprochen. Die „nomi augurativi“ sowie viele der aus Supernomina entstandenen Namen der Pisaner, die die Liste von 1228 wiedergibt, sind nicht in lateinischer Sprache, sondern in einer „volgare“-Form überliefert. Sie waren in der Umgangssprache verständlich und wurden aus ihr entwickelt. Das bedeutete eine wesentliche Neuerung. Vor allem die vielen Namen fränkischer und langobardischer Herkunft mit all ihren hypokoristischen Ableitungen waren in ihrem Wortsinn den Namensträgern und ihrer Umgebung längst völlig unverständlich. Die neuen „volgare“-Formen veränderten die Situation. Sie stehen damit für neue Entwicklungen, die sich insgesamt im Bereich des Sprachgebrauchs abzeichnen. Man charakterisiert sie als „volgarizzamento“. Pisa hat in diesem Prozess des „volgarizzamento“ eine führende Position eingenommen. Elisabeth Burr schreibt in ihrem Über33 „Franziskus“ in: Lexikon des Mittelalters 4, Stuttgart 1999, Sp. 830 ff.
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blick über die Normierung der romanischen Sprachen zu den Anfängen der italienischen Schriftsprache:34 „Nicht Florenz aber, sondern die westliche Toskana mit Pisa, Lucca und Volterra nahm damals bei der Verbreitung der geschriebenen Volkssprache, des ‚Volgare scritto‘, eine Vorrangstellung ein. Diese Gegend spielte entsprechend ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung auch schon im 11. und 12. Jahrhundert bei der Produktion nicht– lateinischer Texte eine Hauptrolle. So ist ein Großteil der ältesten erhaltenen Dokumente in pisanischer Sprache abgefasst. Pisanisch ist auch der erste Text im Volgare toscano, d.h. der ‚Conto navale pisano‘ vom Anfang des 12. Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundert entwickeln sich Pisa, Lucca und Arezzo dann zu kulturellen Zentren, in denen die Tradition der ‚Scuola siciliana‘ fortgeführt wird. Wir sprechen deshalb von einer ‚letteratura siculo– toscana‘. Wichtige Vertreter sind u.a. Bonagiunta Orbicciani (Lucca), Inghilfredi (Lucca), Guittone d’Arezzo. Der älteste überlieferte Beleg des ‚Volgare fiorentino‘ stammt dagegen erst aus dem Jahre 1211. Es handelt sich um die ‚frammenti d’un libro di conti di banchieri fiorentini‘. Im 13. Jahrhundert wächst dann auch die politische Bedeutung von Florenz und Siena und je mehr diese Bedeutung wächst, umso mehr verstärkt sich ab Mitte des 13. Jahrhunderts dort der Gebrauch des ‚Volgare‘ bei der Abfassung schriftlicher Texte, d.h. sowohl bei der Erstellung von Urkunden als auch im literarischen Bereich. Natürlich gibt es auch in Florenz wichtige Dichter, doch zum eigentlichen Durchbruch kommt es erst, als Florenz den ,dolce stil nuovo‘ übernimmt, eine Tradition, die von Bologna ausgeht. Florenz wird jetzt zum führenden kulturellen und literarischen Zentrum.“ Diese dichte Zusammenfassung sei hier wörtlich zitiert, weil sie die Sprachentwicklung mit allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen verbindet und dabei auf die Abfolge führender Zentren eingeht. Der Stellung als beherrschende Seemacht im westlichen Mittelmeerraum entsprechend hat unter den Städten der Toskana zunächst Pisa den Vorrang. Das gilt auch für schriftliche Zeugnisse in der Volkssprache. Erst ein Jahrhundert später folgt Florenz. In beiden Städten entstammen solche Zeugnisse anfangs nicht dem literarischen Schaffen, sondern dem Wirtschaftsleben – in Pisa dem Seehandel, in Florenz dem Bankwesen. Urkunden kommen hinzu. Pisa verfügt über eine bedeutende Rechtsschule und ein reges Geschäftsleben. Die Notare gehören zu den Ersten, die zum Volgare übergehen.35 Aber noch eine ganz andere Gruppe förderte 34 Elisabeth Burr (2000/2001): „Accademia della Crusca und Académie française“ p.3. Vgl. auch Ignazio Baldelli, La letteratura volgare in Toscana dalle origini ai primi decenni del secolo XII, in: La letteratura italiana. Storia e geografia I, Turin 1987, 65, Dorothy F. Glass, Portals, Pilgrimages, and Crusade in Western Tuscany, Princeton 1997, 3. 35 „Italienische Literatur“ in: LMA 5, 763.
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das „volgarizzamento“, nämlich die Bettelmönche. Der Dominikanerkonvent Santa Caterina in Pisa war ein wichtiges Predigerzentrum.36 Die Mönche predigten lateinisch, vor allem aber auch in Volgare. Soweit die Predigten aufgezeichnet wurden, kam es dadurch zu Schriftzeugnissen in der Volkssprache. In Volgare wurde jener markante Satz des Fra Giordano da Pisa formuliert, der die geistige Aufbruchsstimmung in der Toskana seiner Zeit so treffend charakterisiert: „Aber noch längst nicht alle Künste sind entdeckt; nie werden wir an ein Ende kommen … und immer neue werden beständig entdeckt.“37 Mit dem „volgarizzamento“ der geschriebenen Sprache korrespondiert ein „volgarizzamento“ der Schrift.38 Das „Conto navale Pisano“ gilt auch als Zeugnis eines neuen, durch das Handelsleben geprägten Schrifttypus. Verglichen mit der Schriftlichkeit der Kirche hat die der Geschäftswelt einen ganz anderen Charakter. Pisa als eines der großen Handelszentren des Hochmittelalters konnte eine spezifische Schriftkultur entwickeln, die in erster Linie von Laien getragen wurde. Unter ihnen hatten vor allem die Notare für die Verbreitung der Schriftlichkeit Bedeutung.39 Weit über das Geschäftsleben hinaus treten sie als Schreiber und Kopisten von Büchern in Erscheinung. Das Zentrum des Notariatswesens in der Toskana war zunächst Pisa. Die Toskana als Ganze wird treffend als eine „regione con la penna in mano“ bezeichnet.40 Sie dürfte im Hochmittelalter nicht nur die am stärksten urbanisierte, sondern auch die am höchsten literarisierte Region Europas gewesen sein.41 Man hat den Sachverhalt, dass Pisa schon lange vor Florenz in säkularer Literatur führend war, mit der Betroffenheit der Seestadt durch die Sarazenenkämpfe in Zusammenhang gebracht.42 Dieser aus der Perspektive von Florenz formulierte Gedanke lässt sich aus der Sicht von Pisa vertiefen und erweitern. Marc von der Höh fasst auf der Basis seiner auf breitem Quellenmaterial basierenden Analyse über „Erinnerungskultur und Kommune in Pisa“ zusammen:43 „Annalen, Geschichtsdichtungen und Inschriften kreisten alle um denselben Themenkomplex: die Kämpfe der Pisaner gegen die Sarazenen des
36 Carlo Delcorno, La predicazione nell’ età comunale, Torino 1973; „Giordano da Pisa“ in: Lexikon des Mittelalters 4, Stuttgart 1999, Sp. 1456; „Italienische Literatur“, ebda. 5, Sp. 762 ff. 37 David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 2002, 219. 38 Antonio Mastruzzo, Il conto navale nel panorama grafico della Pisa altomedivale, in: Marco Tan gheroni (Hg.), Pisa e il Mediterraneo, Mailand 2003, 191–195. 39 Luisa Miglio, La Toscana: una civiltà della scrittura, in: Storia della Toscana 1, Rom 2004, 136 ff. 40 Miglio (wie Anm. 39), 133. Vgl. dazu auch von der Höh (wie Anm.29), 2006, 34 f. 41 Miglio (wie Anm. 39), 135. 42 Robert Davidsohn, Geschichte von Florenz 1, 1896, 293. 43 Von der Höh (wie Anm. 29), 427.
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westlichen Mittelmeers. Das Zentrum des Pisaner Geschichtsbildes zur Zeit der frühen Kommune bestand in einem Kanon von Ereignissen, einer immer gleich bleibenden Kette von Siegen über die Heiden. Komplementär zu dieser Konzentration auf ein Thema der Stadtgeschichte wurden andere Aspekte durchgängig ausgeblendet: Keiner der erhaltenen Texte thematisiert die innerstädtischen Konflikte, die die Kommunenbildung in Pisa begleiteten bzw. ihr vorausgingen. Diese Einheitlichkeit des Geschichtsbildes ist bemerkenswert. Nicht nur die Annalen und die geistlichen Geschichtsdichtungen, auch die von der laikalen Führungsschicht in Auftrag gegebenen Inschriften und sogar die im Stadtraum positionierten nicht-schriftlichen Monumente bezogen sich alle auf den skizzierten thematischen Kern, der im Zentrum des frühkommunalen Geschichtsbildes stand.“ Der Vorrang Pisas vor Florenz im Bereich der säkularen Literatur hängt offenbar mit dem früher einsetzenden Prozess der Kommunebildung zusammen. Themen der eigenen Geschichte stehen dabei im Vordergrund. Pisa ist die erste italienische Stadtkommune, die eine primär von Laienautoren getragene Stadtgeschichtsschreibung entwickelt.44 Diese ist Ausdruck eines damals neu aufkommenden kommunalen Patriotismus. Das Selbstbewusstsein der Pisaner aus ihrer Vergangenheit macht sich an den ruhmreichen Sarazenensiegen des 11. und 12. Jahrhunderts fest. Zu diesem Selbstbild als Sarazenenkämpfer passt sehr gut die Rezeption altfranzösischer Heldenepen wie des Wilhelmslieds, des Rolandslieds und verwandter Stoffe. Pisa war in die Auseinandersetzungen mit muslimischen Gegnern in besonderer Weise involviert. So wird auch die epische Verarbeitung solcher Themen hier besonderes Interesse gefunden haben. Wir haben gesehen, dass Namen aus der Verwandtengruppe um Guillaume d’Orange sowie Orlando und Oliverio in Pisa 1228 vertreten sind. Noch häufiger allerdings begegnet schon in vorangeganger Zeit Orlando in Lucca.45 In den Beziehungen zum französischen Raum spielten beide Zentren seit alters eine wichtige Rolle – Pisa über den Seeweg, Lucca an der alten Pilgerstraße, der Via Francigena, gelegen. Seit dem 13. Jahrhundert waren Pisa und Lucca genauso wie Florenz und Siena Zentren der volkstümlichen Dichtung, der sogenannten „cantari“.46 Drei Themengruppen wurden in diesen „cantari“ besonders aufgegriffen – zunächst die alten, aus Frankreich kommenden Epenstoffe, dann Themen der klassischen Antike wie der Krieg um Troja, schließlich religiöse Themen – vor allem die Kindheits- und die Leidensgeschichte Jesu betreffend. Im „volgarizzamento“ der Literatur hat jedenfalls Pisa auch eine bedeutsame Rolle gespielt. 44 Von der Höh (wie Anm. 29), 13 ff, 23 ff. 45 Auszählung nach Raffaele Savigni, Episcopato e società cittadina a Lucca da Anselmo II († 1086) a Roberto († 1225), Lucca 1996, 491–611. 46 „Cantari“ in: Lexikon des Mittelalters 2, Stuttgart 1999, Sp. 1446.
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Eine „renovatio“, die „innovatio“ zur Folge hat, lässt sich in Pisa und seinem Umfeld im Hochmittelalter im Bereich religiöser Bewegungen feststellen. Die „renovatio“ bezieht sich diesbezüglich aber nicht auf die römische Antike oder die konstantinische Zeit, sondern auf die Anfänge des Christentums. Sie fordert ein Leben nach den Worten des Evangeliums in einem radikalen Verständnis der Botschaft Jesu. In der Regel gilt der heilige Franziskus von Assisi als die Leitfigur dieser Erneuerungsbewegung – in Hinblick auf die enorme Breitenentwicklung des auf ihn zurückgehenden Bettelordens sicher zu Recht. Als Mann der Buße, der kompromisslose Armut lebte, hatte er jedoch wichtige Vorläufer, insbesondere in der Toskana: Wilhelm von Malavalle, der über Pisa in die Toskana kam und sich als Eremit in die Pisaner Berge zurückzog, den Tuchhändlersohn Galanus von Chiusdino aus einer reichen Sieneser Familie, Albertus von Montalceto und vor allem Ranieri Scacceri aus Pisa, den ersten unter den großen Männern der Buße in dieser Region.47 Der heilige Rainer von Pisa wurde um 1118 in Pisa geboren48. Sein Vater war ein reicher Kaufmann. Wie Franziskus von Assisi und manche andere, die damals zu Männern der Buße wurden, entstammte er der wohlhabenden städtischen Oberschicht einer damals wirtschaftlich besonders erfolgreichen Region. Wie manchen von ihnen wurde ihm die Unvereinbarkeit der Lebensformen seines Herkunftsmilieus mit den Geboten des Evangeliums bewusst. Sein Erweckungserlebnis hatte Rainer mit 23 Jahren. Die Begegnung mit einem Eremiten aus Korsika spielte dabei eine Rolle. Rainer entschied sich für absolute Armut und gab seinen ganzen Besitz den Armen. Er pilgerte nach Jerusalem und lebte lange Zeit als Einsiedler im Heiligen Land. 1154 kehrte er nach Pisa zurück. Schon zu Lebzeiten wurde er als Heiliger verehrt. Als er 1161 im Kloster San Vito starb, brachte man seinen Leichnam in den Dom und stellte ihn auf der Domkanzel zur Schau. Im Dom wurde er auch begraben, und zwar in der Apsis des südlichen Seitenschiffs. Das zunächst gelegene Domtor, der Haupteingang von der Stadt her, wurde um 1180 von Bonannus mit großartigen Bronzetüren ausgestaltet und trägt bis heute den Namen Porta di San Ranieri.49 Bereits ein Jahr nach Rainers Tod kam es zur Niederschrift seiner Heiligenvita. Der großen Verehrung des neuen Heiligen durch die Pisaner trug schon bald darauf ihr toskanischer Landsmann, Papst Alexander III., durch die offizielle Kanonisation Rechnung. 47 Isnard Wilhelm Frank, Franz von Assisi, Düsseldorf 1982, 102; Franco Cardini, Studi sulla storia e sull’idea di crociata, Rom 1993, 200. 48 „Rainer v. Pisa“, in: Lexikon des Mittelalters 7, Stuttgart 1999, Sp. 420; André Vauchez, A Twelfth Century Novelty: The Lay Saints of Urban Italy, in: dersebe und Daniel E. Bornstein (Hg.) ,,The Laity in the Middle Ages. Religious Beliefs and Devotional Practices, Notre Dame Id. 1993, 51–72; Glass (wie Anm.34), 56; Maria Luisa Ceccarelli Lemut, Il Mediterraneo dei santi, in: Tangheroni (wie Anm. 38), 136 f. 49 Adriano Peroni (Hg.), Il duomo di Pisa 1 1995, 288–291.
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5. „Renovatio“ und „innovatio“
Aus sozial- und mentalitätshistorischer Sicht ist nicht so sehr die individuelle Lebensgeschichte des heiligen Rainer von Pisa bemerkenswert als vielmehr die kollektive Begeisterung für einen radikalen Vertreter des Armutsideals in der reichen Metropole Pisa, die schon zu seinen Lebzeiten einsetzte, sich aber dann nach seinem Tode enorm steigerte. Beim heiligen Franziskus gibt es dazu Parallelen, auch bei anderen Männern der Buße – allerdings nicht in diesem Ausmaß. Ein Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Aufschwung der Region und einer kritischen religiösen Gegenbewegung ist unverkennbar. Pisa war nicht nur die Stadt der neureichen Reeder und Großkaufleute, die sich als „padroni del mondo“ fühlten,50 es war auch die Stadt, in der ein Bekenner des evangelischen Armutsgedankens zum Stadtpatron aufsteigen konnte.
50 Marco Tangheroni, Pisa e le repubbliche marinare, in: ders. (Hg.) Pisa e il Mediterraneo, Mailand 2003, 142.
6. Mittelalterliche Grundlagen aktueller Namensprobleme
Der Titel meines Referats bedarf in zweierlei Hinsicht einer Erläuterung. Zunächst: Was ist unter „aktuellen Namensproblemen“ zu verstehen? Wenn es in Österreich in den letzten Jahren in der politischen Öffentlichkeit eine heftige Diskussion über die Änderung des Familiennamensrechts gegeben hat, die schließlich heuer zu einer Änderung der gesetzlichen Bestimmungen geführt hat, so liegen offenbar aktuelle Namensprobleme vor. Die hier diskutierten Fragen sind freilich keine onomastischen Probleme. Vielmehr handelt es sich um gesellschaftliche Probleme, die im Namensrecht zum Ausdruck kommen. Es geht dabei um Gleichberechtigung der Geschlechter, um Selbstbestimmung, um Elternrechte gegenüber Kindern – also allgemeine gesellschaftspolitische Themen, die keineswegs nur im Namensrecht Aktualität besitzen. Nicht alle gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die im Namenwesen Ausdruck finden, haben eine ähnliche politische Brisanz wie Bestimmungen über das Führen von Familiennamen. Über Vornamen wird in der politischen Öffentlichkeit kaum diskutiert. Und doch spiegeln revolutionäre Veränderungen der Vornamengebung radikale gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die es zu beachten gilt – Individualisierung, Säkularisierung, Bruch mit historischen Vorbildern. So kann man auch hier wohl von „aktuellen Namensproblemen“ sprechen. Und nicht nur die gesamtgesellschaftlich verbindlichen Normen und Entwicklungstendenzen verdienen unter diesem Stichwort Beachtung. Es geht auch um spezifische Probleme von Teilgruppen und Minderheiten. Wenn sich ein bikulturelles Paar – etwa ein zugewanderter Muslim und eine christliche Österreicherin – bei der Geburt ihres Kindes darüber Gedanken machen, mit welchem Namen das Kind einmal möglichst wenig Schwierigkeiten hat, so handelt es sich sehr wohl auch um ein „aktuelles Namensproblem“. In einer Welt zunehmender Massenmigration und parallel dazu zunehmender Xenophobie ist Namengebung in einer fremden Kulturtradition keine harmlose Angelegenheit. Mir ist dieses zuletzt angesprochene Problem persönlich sehr wichtig. Ich wollte es als aktuelles Problem benannt haben, ohne hier auf Details eingehen zu können. Zweitens dann: Was ist mit „mittelalterlichen Grundlagen“ im Zusammenhang mit „aktuellen Namensproblemen“ gemeint? Nicht gemeint ist, dass die behandelten Pro bleme ihren Ursprung im Mittelalter hätten. Es ist klar, dass die Debatte um das Recht
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6. Mittelalterliche Grundlagen aktueller Namensprobleme
auf Beibehaltung des Mädchennamens nach der Eheschließung mit Emanzipationsbestrebungen im Zuge der neuen Frauenbewegung zusammenhängt. Aber eine solche Debatte setzt ein Namensystem voraus, in dem die Frau herkömmlich zur Übernahme des Gattennamens verpflichtet war. Und dieses System ist in seinen Wurzeln mittelalterlichen Ursprungs. Es ist offenkundig, dass das Ende der Nachbenennung nach Vorfahren und Verwandten mit gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der frühesten Vergangenheit zusammenhängt. Aber was hier tatsächlich an tief greifenden Veränderungen passiert ist, wird uns erst voll bewusst, wenn wir dieses überwundene System der innerfamilialen Nachbenennung näher betrachten, das ebenfalls im Mittelalter entstanden ist. Es ist evident, dass bikulturelle Ehen als ein Massenphänomen unserer Zeit in dieser Form ein neues Phänomen sind. Jene im Namengut so unterschiedlichen Namenkulturen, die sich dabei mischen, haben sich jedoch schon im Mittelalter ausgebildet, verfestigt und gegeneinander abgegrenzt. Namensysteme sind als Ausdrucksform individueller und kollektiver Identität eine sehr statische gesellschaftliche Erscheinung. Sie erhalten sich oft viele Jahrhunderte über die Zeit ihrer Entstehungsbedingungen hinaus. So kommt es zu Verzögerungseffekten, zu Verwerfungen, zu einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. In vielen aktuellen Namensproblemen erscheint das Mittelalter erstaunlich aktuell. Sehr lebendig ist das Mittelalter in unserem System der Familiennamen. Familiennamen im Sinne von Zweitnamen, die sich bei Gattin und Kindern am Ehemann bzw. Vater orientieren, haben sich schon im Mittelalter in vielen europäischen Ländern durchgesetzt und blieben die Neuzeit hindurch für das Namensystem bestimmend. Erst im 20. Jahrhundert geriet diese Form der Identifikation von Individuen und Gruppen in eine grundsätzliche Krise. Die verschiedenen Versuche der Problembewältigung in den einzelnen europäischen Ländern machen die verschiedenen Aspekte des Problems bewusst. Das Namensrecht in Deutschland geht von einem gemeinsamen Familiennamen aus, der der frühere Name eines der beiden Ehepartner sein muss. Bei Namensaufgabe zugunsten des Partners darf der bisherige Name vorangestellt beibehalten, aber nicht an Nachkommen weitergegeben werden. In der Schweiz erhält die Frau grundsätzlich den Familiennamen des Mannes, kann aber den früheren Namen voranstellen, ebenfalls ohne Weitergaberecht. Die Führung des Familiennamens der Frau ist nur im Wege einer Namensänderung möglich. In Frankreich schreibt das Gesetz keinen einheitlichen Familiennamen vor. Die Frau hat jedoch das Recht – nicht die Pflicht –, entweder den Namen des Mannes zu übernehmen oder ihren eigenen Namen jenem des Mannes anzufügen. Für den Mann kommt keine Namensübernahme, sondern nur die Anfügung des Frauennamens in Betracht. Eheliche Kinder heißen grundsätzlich nach dem Vater. In Spanien ist die Situation des Gattenpaares ähnlich wie in Frankreich. Das Kind erhält jedoch einen Doppelnamen nach dem Vater und der Mutter. Die Reihenfolge der Namen kann
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das Kind mit der Erreichung der Volljährigkeit umstellen. Damit kann das erwachsene Kind wählen, ob es den Namen des Vaters oder der Mutter an die nächste Generation weitergeben will. In England besteht generell Freiheit der Namenswahl. Auch für die Namengebung des Kindes besteht keine Rechtsnorm. Im Konfliktfall entscheidet der Richter entsprechend dem Kindeswohl zwischen Vatersnamen, Mutternamen oder zusammengesetztem Namen. In Norwegen und Schweden ist Wahlrecht zwischen der Führung des Familiennamens eines der Gatten als gemeinsamen Namens oder Beibehaltung des bisherigen Namens gegeben. Ein Ehepartner, der seinen Familiennamen aufgibt, darf diesen in Schweden als Zwischennamen, in Norwegen als Mittelnamen weiterführen. In Ungarn hat die Frau das Wahlrecht zwischen der Führung des Namens des Mannes – und zwar in mehreren Varianten – und der Beibehaltung ihres Namens. In Griechenland ändert sich durch die Eheschließung nichts am Namen. Jeder Ehegatte hat aber das Recht, den Namen des anderen zu führen oder dem eigenen voranzustellen. Für Österreich wurde durch das Namensrechtsänderungsgesetz von 1995 bestimmt, dass die Ehegatten den gleichen Familiennamen führen. Dieser ist der Familienname eines der beiden Ehegatten, den die Verlobten – das Gesetz verwendet diesen Begriff ausdrücklich noch – vor oder bei der Eheschließung als gemeinsamen Familiennamen bestimmt haben. Mangels einer solchen Bestimmung wird der Familienname des Mannes gemeinsamer Familienname. Der seinen bisherigen Namen aufgebende Partner darf diesen in Rahmen eines Doppelnamens voran- oder nachstellen. Auch die Weiterführung der beiden bisherigen Namen ist als Möglichkeit offengelassen. In diesem Fall ist bei der Eheschließung eine Verfügung über die Namen der Kinder zu treffen. Kommt es dazu nicht, erhalten die Kinder automatisch den Vatersnamen. Diese Gesetzesnovelle war das Resultat langwieriger und sehr kontrovers geführter Debatten. Dabei waren auch viel stärker vom bisher geltenden Recht abweichende Lösungen in Diskussion, insbesondere bezüglich der Namen der Kinder. Eine von ihnen sah für Kinder Doppelnamen vor, deren Reihenfolge zunächst von den Eltern, ab der Volljährigkeit aber von den Kindern bestimmt werden sollte, eine andere im Falle der Nichteinigung unter den Eltern eine Übernahme des Vatersnamens durch die Söhne, des Mutternamens durch die Töchter. Solche stärker bilinear orientierten Modelle wurden im letztlich erzielten Kompromiss jedoch nicht berücksichtigt. Die Reformen des Namensrechts in den verschiedenen europäischen Ländern haben mehr oder minder stark, der Tendenz nach aber generell den Einfluss des väterlichen Familiennamens auf den von Gattin und Kindern zurückgedrängt. In den Debatten um diese Reformen wurde auch vielfach damit argumentiert, dass das überkommene Familiennamensrecht Ausdruck einer patriarchalischen Familienverfassung sei. Die Änderung der Rechtsverhältnisse sollte damit – zumindest auf der Symbolebene – zu einer Änderung
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der Familienverhältnisse beitragen. Diese Gleichsetzung von traditionellem europäischem Namensystem und Patriarchalismus in der aktuellen Debatte führt zu Fragen der Genese. Dazu haben Namenhistoriker wie Familienhistoriker etwas zu sagen. Und ihre Aussagen müssen wohl bis ins Mittelalter zurückgreifen. Es ist methodisch sicher nicht einfach, einen Zusammenhang zwischen Namensystemen und innerfamilialen Machtverhältnissen einer Gesellschaft herzustellen. Namen haben nicht primär die Aufgabe, Machtbeziehungen auszudrücken. In vermittelter Form lassen sich aber doch Zusammenhänge herstellen. So lassen Namen etwa erkennen, ob eine Gesellschaft stark patrilinear strukturiert ist. Ausgeprägte Patrilinearität tritt meist bei ausgeprägt männerrechtlichen Ordnungen auf. Mit männerrechtlicher Ordnung in der Öffentlichkeit wiederum korrespondiert oft Patriarchalismus in der Familie. Eine starke Betonung des patrilinearen Prinzips lässt sich im Namenwesen an der Identifikation einer Person durch die Aufzählung ihrer Vorväter erkennen. Der islamische „nasab“ etwa wäre hier zu nennen. Er umfasst in der Regel mehrere Vorfahren in männlicher Linie. Aber auch das einfache Patronym ist ein Indiz für eine stark patrilinear strukturierte Gesellschafts- und Familienverfassung. Im interkulturellen Vergleich lassen sich diesbezüglich Gesellschaften feststellen, in denen das Patronym zur Personsbestimmung essentiell erscheint und solche, in denen das nicht der Fall ist. Zu ersteren zählten etwa die keltischsprachigen Kulturen in Wales, Schottland und Irland. Sie haben dem von den englischen Königen propagierten System der Familiennamen erbitterten Widerstand entgegengesetzt, weil es ihrem patrilinearen Abstammungsbewusstsein entgegenstand. Patronymika sind vielfach auch in europäische Familiennamen eingegangen, allerdings in einem anderen Sinn verwendet. In der Entstehung der Familiennamen haben sie eine gegenüber Trägern gleicher Namen differenzierende Rolle gespielt – genauso wie Herkunftsnamen, Berufsbezeichnungen und Übernamen. So bedeutsam diese Patronymika im mittelalterlichen Namenwesen sind – sie sind kein Indikator für eine stark ausgeprägte Patrilinearität. Dagegen spricht ihre Ersetzbarkeit durch andere Formen der Identifikation, vor allem auch solche, die auf andere Familienmitglieder als den Vater verweisen, also Metronymika, Adelphonymika etc. In einer patronymischen Namenkultur einer streng patrilinear geordneten Gesellschaft sind solche Namensformen undenkbar. Dass Patronymika – bei aller ihrer Bedeutung für die Entstehung von Familiennamen – für das europäische Namensystem nicht existenziell sind, zeigt der Unterschied zu Russland. Michail Sergejewitsch und Boris Nikolajewitsch werden durchaus auch in der politischen Öffentlichkeit mit dem Patronym apostrophiert. Es ist wichtiger als der Familienname und dementsprechend gesamtgesellschaftlich verbindlich. In Mittel- und Westeuropa gibt es dazu keine Parallele. Soweit von Patrilinearität auf Patriarchalismus zu schließen ist, lässt sich im interkulturellen Vergleich festhalten: Das seit dem Mittelalter in Mittel-
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und Westeuropa dominante Namensystem der Zweinamigkeit ist sicher nicht Ausdruck einer ausgeprägt patriarchalen Kultur. Zu einem ähnlichen Resultat kommen wir, wenn wir diese Frage nicht typologisch, sondern genetisch betrachten. Das Aufkommen der Familiennamen ist in der Entwicklung des europäischen Familien- und Verwandtschaftssystems keineswegs von Prozessen eines zunehmenden Patriarchalismus begleitet. Als eine Parallelentwicklung lässt sich etwa in verschiedenen europäischen Sprachen beobachten – ohne dass ein kausaler Zusammenhang feststellbar wäre –, dass es zu einem Ausgleich zwischen Verwandtschaftsbezeichnungen der Vaters- und Mutterlinie kam. Eine solche Entwicklung ist nicht gerade Zeichen eines ausgeprägten Patriarchalismus. Vereinzelt hat sich die prinzipielle Bilateralität des europäischen Verwandtschaftssystems auch auf die Weitergabe von Familiennamen ausgewirkt, vor allem im iberischen Raum. Eine andere bemerkenswerte Entwicklung: Zum Unterschied von patrilinear geprägten Gesellschaften, wie sie sich etwa in Südosteuropa bis in die Gegenwart erhalten haben, gibt es in West- und Mitteleuropa bis weit ins Mittelalter zurück keine strikt patrilokalen Residenzmuster. Neolokalität ist in Stadt und Land stark verbreitet. Vor allem aber spielen uxorilokale Muster eine sehr wesentliche Rolle – sowohl in der Form des einheiratenden Schwiegersohns als auch in der Form der Wiederverehelichung der Witwe. Beide können als strukturell antipatriarchal qualifiziert werden. Wo Familiennamen an Hausnamen orientiert sind – und dies ist in weiten Gebieten Mitteleuropas der Fall – wird dadurch die Weitergabe von Familiennamen durch Frauen gefördert. Bis zur Nivellierung des Namensrechts durch die staatliche Gesetzgebung des 18. und 19. Jahrhunderts ist eine solche Weitergabe ja durchaus möglich. Von einer strikten Bindung von Familiennamen an die Patrilinie kann bis dahin keinesfalls gesprochen werden. Eine dritte Parallele erscheint mir besonders wichtig: Die Durchsetzung des Prinzips der Konsensehe seit dem Hochmittelalter findet in der Durchsetzung des Prinzips eines gemeinsamen Familiennamens des Gattenpaares eine auffallende Entsprechung. Es wäre interessant zu untersuchen, ob hier nicht nur zeitgleich verlaufende, sondern auch kausal verbundene Entwicklungen vorliegen. Die relativ starke Stellung des Gattenpaares im Verhältnis zu Abstammungsgruppen ist – im interkulturellen Vergleich betrachtet – eine wichtige Besonderheit der europäischen Familienverfassung. Ihrer Wurzel im una caro-Gedanken der christlichen Ehekonzeption sowie der Entfaltung dieses Gedankens in kirchlicher Theologie und Ehegesetzgebung kann hier nicht nachgegangen werden. Wichtig erscheint in unserem Zusammenhang: Die Aufwertung des Ehebandes und die Bedeutungsminderung von Abstammungsbeziehungen lässt sich sicher nicht als strukturell patriarchalisch interpretieren. Die Entsprechung dieser Tendenz im gemeinsamen Familiennamen des Gattenpaares kann daher ihrer Entstehung nach wohl auch nicht als Ausdruck von Patriarchalismus gedeutet werden.
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Welche Bedeutung haben solche historische Überlegungen für die aktuelle Diskussion von Familiennamensproblemen? Lassen Sie mich mit einem Beispiel für eine unzulässige Ableitung aus der Geschichte beginnen. Der interkulturelle Vergleich von Namensystemen könnte zu der Aussage verleiten: Nicht die Übernahme des Gattennamens bei der Eheschließung ist patriarchalisch, sondern die Beibehaltung des Vatersnamens. Auf die heutige namensrechtliche Situation angewandt wäre das eine höchst unhistorische Aussage. Frauen, die heute für die Beibehaltung ihres ursprünglichen Familiennamens nach der Eheschließung eintreten, wollen damit ja nicht primär die Kontinuität zu ihrem Vater oder zu ihren Eltern betonen, sondern die Kontinuität im eigenen Leben. Es geht letztlich um Ich-Identität, nicht um Gruppen-Identität. Die Gruppenbezeichnung Familienname als Strukturelement eines Namensystems kann also im gesellschaftlichen Wandel sehr unterschiedliche Bedeutungen haben – heute durchaus auch als Ausdrucksform von Individualisierung, Autonomie, persönlicher Emanzipation. Solche Wandlungsprozesse der subjektiven Bedeutsamkeit von Elementen des Namensystems müssen wir vor Augen haben, wenn wir aus der Entwicklung des Namenwesens gegenwartsbezogen argumentieren. Ein starrer Strukturalismus hilft wohl kaum weiter. In einem positiven Sinne könnte die Feststellung, dass das traditionelle europäische Familiennamensystem herzlich wenig mit Patriarchalismus zu tun hat, als eine Entlastung der aktuellen Namendiskussion von Vorurteilen, Klischees und falschen Frontstellungen wirken. Mit dem Patriarchalismus-Verdacht wird das Namenwesen zum Gegenstand des Geschlechterkampfs gemacht. Das ist historisch unzutreffend und aktuell wenig weiterführend. Schuldzuweisungen und Schuldgefühle sind keine gute Basis für rationale Debatten. Eine nüchterne Analyse der Entstehung und Entwicklung des traditionellen Familiennamensystems – zurück bis zu den mittelalterlichen Wurzeln – kann diesbezüglich entlastend wirken. Sie kann auch auf Rahmenbedingungen der Entwicklung des Namenwesens aufmerksam machen, die stärkeren Einfluss haben als innerfamiliale Machtverhältnisse, auf Frontstellungen, die bis in die Gegenwart sehr wesentlich sind. Schon seit den Anfängen der Führung von Zweitnamen lässt sich erkennen, dass diese vor allem im Zusammenhang mit öffentlich-rechtlichen Handlungen und obrigkeitlichen Maßnahmen Bedeutung hatten, keineswegs primär im familiären Bereich. Die Festigung von Familiennamen erfolgte dann auch zunehmend im administrativ-bürokratischen Kontext – bis hin zur Namensgesetzgebung des absolutistischen Zeitalters. Diese obrigkeitlichen Maßnahmen zur Regelung des Familiennamenwesens standen keineswegs immer im Einklang mit der individuellen Selbstbestimmung und gruppenbezogenen Zuordnung der Betroffenen. Der Aufbau der europäischen Zentralstaaten ist begleitet von zahlreichen Maßnahmen der gewaltsamen Unterdrückung minoritärer Namenkulturen, etwa der der keltischsprachigen Völker in England oder der Juden in praktisch allen europäischen Staaten. Bis in
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die Gegenwart sind es primär bürokratisch-administrative Interessen, die großzügigen Regelungen des Familiennamensrechts entgegenstehen. In der obrigkeitlichen Reglementierung liegen die hauptsächlichen Hindernisse für stärker selbstbestimmte Formen des Namenwesens, die individuellen und kollektiven Bedürfnissen besser Rechnung tragen würden. Über die Notwendigkeit und die Grenzen solcher Reglementierung wurde meiner Meinung nach in Österreich vor dem Namensrechtsänderungegesetz zu wenig debattiert. Und eine solche Diskussion scheint durchaus auch nach diesem Gesetzesbeschluss am Platz. Die Geschichte des Namenwesens zeigt, dass es diesbezüglich keinerlei überzeitlich gültige Regeln gibt und dass durchaus liberalere Formen des Namensrechts mit moderner Staatlichkeit vereinbar sind. Tendenziell haben bürokratische Systeme mit komplexen und flexiblen Namensystemen Schwierigkeiten. Verwaltung ist an einfachen und stabilen Namenverhältnissen interessiert. Die traditionellen Formen der Familiennamen und ihrer Weitergabe kommen solchen Interessen entgegen. Soll den gewandelten Familienverhältnissen besser Rechnung getragen werden, so werden wohl mehr Komplexität und mehr Flexibilität des Namenwesens notwendig sein. Das Bedürfnis, sowohl die Kontinuität des eigenen Lebens als auch die Gemeinsamkeit mit dem Partner im Familiennamen auszudrücken, lässt sich nicht in einem einzigen Familiennamen erfüllen. Will man ihm Rechnung tragen, so führt das logisch zur generellen Möglichkeit der Doppelnamigkeit. Dasselbe gilt für das Bedürfnis, die Verbundenheit der Kinder mit beiden Elternteilen im Namen auszudrücken. Ohne die Flexibilität einer späteren Namensänderung ist diese Regelung allerdings nicht realisierbar. Das Kind muss sich im Erwachsenenalter für einen seiner beiden Namen entscheiden können. Eine solche selbstbestimmte Namensentscheidung entspricht der Tendenz zu Individualisierung in der Familie. Dass ein individualisiertes Namensrecht diese persönliche Entscheidung über den Zweitnamen auf die beiden elterlichen Familiennamen beschränken müsste, erscheint nicht unbedingt zwingend. Dem Wesen des Individualisierungsprozesses würde es durchaus entsprechen, dass die Identitätsbestimmung durch Namenswahl über die Tradition der Herkunftsfamilien hinausführt. Aber solche Überlegungen über eine Anpassung des Familiennamensrechts an gesellschaftliche Veränderungsprozesse sind sicherlich akademische Spekulation. Schon bescheidenere Formen der Flexibilisierung erscheinen heute gegenüber bürokratischen Interessen der Systemerhaltung nicht realisierbar. Komplexe Namen, die aus mehr als zwei Elementen kombiniert werden, sind historisch nichts Neues. Und auch flexible Formen, in denen eine Namensergänzung bzw. Namensänderung möglich ist, haben eine geschichtlich weit zurückreichende Tradition. Solche historische Formen der Fremd- und Selbstbenennung zu bedenken, könnte für aktuelle Namensrechtsdiskussionen sehr anregend sein, jedenfalls solche der europäischen Tradi-
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tion. Wenn in Norwegen der „middle name“ als gesetzliche Möglichkeit eingeräumt wurde, so als ein Rückgriff auf die Geschichte, noch dazu gar nicht die der eigenen Namenkultur. Der „middle name“ hat sich im neuzeitlichen England ausgebildet. Man bezog bei der Nachbenennung nach dem mütterlichen Großvater über den Vornamen hinaus auch dessen Zunamen mit ein. Der „middle name“ blieb in der weiteren Entwicklung jedoch keineswegs auf die mütterlichen Vorfahren beschränkt. Ähnliche Erscheinungen finden sich im Tessin und in Graubünden. Das auf der iberischen Halbinsel überlieferte System der Kombination von Familiennamen der Vaters- und Mutterseite war in historischen Zeiten weitaus vielfältiger. Die Gleichheit der Zweitnamen unter Geschwistern galt dabei keineswegs als selbstverständliches Prinzip. Gerade diese südwesteuropäischen Traditionen, zu denen es ja auch anderwärts Analogien gibt, können für heutige Bedürfnisse der Identifikation durch Familiennamen durchaus hilfreich sein. Den Familiennamen analoge Zweitnamen individueller Ausprägung sind heute im Wesentlichen auf Künstlernamen beschränkt. Als selbst- und fremdbestimmte Bezeichnungen begegnen solche Zweitnamen historisch in reicher Vielfalt. Man sollte glauben, dass derartige Namentypen in einer Zeit zunehmender Individualisierung an Bedeutung gewinnen. Dem ist nicht so. Es erscheint paradox: Obwohl persönliche Identität ganz offenkundig weniger denn je aus Familienkontinuität gewonnen wird, bewahrt ein System abstammungsorientierter Zweitnamen ungebrochen und exklusiv seine Geltung. Dass der Einfluss von Familienkontinuität auf die persönliche Identität radikal zurückgeht, zeigt sich besonders anschaulich in der Entwicklung der Vornamen. In der Vornamengebung ist es in den letzten Jahrzehnten zu dramatischen Veränderungen gekommen, die einen Bruch mit jahrhundertealten Traditionen bedeuten. Die innerfamiliale Nachbenennung ist in relativ kurzer Zeit nahezu zur Bedeutungslosigkeit abgesunken. Kinder werden nicht mehr durch die Namengebung in die Kontinuität einer Familientradition eingeordnet. Die Ursachen für diesen radikalen Prozess des Bedeutungsverlusts innerfamilialer Nachbenennung in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts sind wenig erforscht. Erklärungen werden am ehesten zu finden sein, wenn man fragt, was denn in der vorangehenden Epoche die Motive für innerfamiliale Nachbenennung gewesen sind. Dazu drei Gedanken: Sehr alt ist die Vorstellung, dass Namensübertragung Wesensübertragung bedeutet. Durch die Nachbenennung nach Vorfahren und Verwandten konnte in dieser Vorstellungswelt die Zukunft des neugeborenen Kindes beeinflusst werden. Solche magischen Denkweisen wurden allerdings schon lange vor dem Ausklingen der Nachbenennungspraxis obsolet. Mehr Aktualität behielt der Gedanke der Vorbildhaftigkeit des gleichnamigen Verwandten für das nachbenannte Kind. Gleichnamigkeit sollte zur Nachahmung anregen,
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der zweite Träger des Namens dem ersten nacheifern. Innerfamiliale Nachbenennung in diesem Verständnis bedeutete in gewissem Sinne eine Festschreibung des Lebensprogramms durch die Namengebung. Es erscheint verständlich, dass an solchen Vorstellungen im Verlauf unseres Jahrhunderts immer weniger festgehalten wurde – sowohl in Anbetracht äußerer Bedingungen eines rasanten Wandels gesellschaftlicher Verhältnisse als auch in Hinblick auf innere Bedingungen eines zunehmend individualisierten Bewusstseins. Noch nie zuvor in der Geschichte waren die sich beschleunigt verändernden Lebensumstände der aufeinanderfolgenden Generationen für die Mitlebenden so offenkundig. Enkelkinder auf das Lebensprogramm der Großeltern festzulegen, erscheint unter solchen Verhältnissen nicht sehr hilfreich. Dazu kommt, dass viel von dieser raschen Veränderung von den Eltern gewollt und im Namen des Kindes verankert wird. Neue Namen sind Symbole für neue Lebenswelten. Vor allem Prozesse des sozialen Aufstiegs sind in diesem Zusammenhang zu bedenken. Wer für seine Kinder eine andere gesellschaftliche Stellung erhofft als die seiner Eltern, der gibt ihnen nicht an der Herkunftsfamilie orientierte Namen als Lebensprogramm mit. Insgesamt legt die Perspektive eines gesellschaftlichen Wandels, der sich voraussichtlich beschleunigt fortsetzen wird, eine Namenswahl nahe, die ein offenes Lebensprogramm bedeutet. Nachbenennung nach Familienangehörigen repräsentiert hingegen Festgelegtes, bei der Nachbenennung nach Toten sogar Abgeschlossenes. Sie steht für traditionsgeleitetes Handeln. Das ist in einer Gesellschaft akzelerierten Wandels nicht gefragt. In Auseinandersetzung mit Traditionen und überkommenen Leitbildern seinen Lebensweg selbst zu bestimmen, wird zur gesellschaftlich verbindlichen Zielvorstellung. In einer derart individualisierten Welt ist es dysfunktional, durch die Namengebung vorausgelebtes Leben zum Programm für zukünftiges zu machen. Neben Wesensübertragung und Vorbildhaftigkeit war Ehrung von Familienangehörigen ein drittes wesentliches Motiv für die Nachbenennung von Kindern. Die Eltern der Eltern, also die Großeltern des Neugeborenen, standen dabei im Vordergrund. Das Gebot des Dekalogs „Du sollst Vater und Mutter ehren …“ wurde in der jüdisch-christlichen Tradition häufig als ein Auftrag zu einer solchen Nachbenennung verstanden. Ganz abgesehen vom Bedeutungsverlust religiöser Normen für familiäre Verhaltensweisen – das Konzept der Ehrung durch Nachbenennung hat am Ausgang des 20. Jahrhunderts sicher nicht mehr in ähnlicher Weise Geltung wie zu dessen Beginn. Verschiedene Fragen wären in diesem Zusammenhang zu stellen: Wird in einer stärker verinnerlichten Familienatmosphäre das äußere Zeichen der Namensweitergabe als ein adäquater Ausdruck der Elternliebe verstanden? Ist man bereit, das eigene Kind für den Ausdruck der Beziehung zu den Eltern zu instrumentalisieren? Glaubt man noch, Eltern etwas „schuldig“ zu sein, das man in dieser Form abstatten könnte? Und auch die Perspektive der älteren Generation
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ist zu bedenken. Wollen die selbst von individualisiertem Denken geprägten Großmütter und Großväter noch, dass ihre Enkelkinder nach ihnen heißen? Wird Nachbenennung von ihnen noch als Zeichen der Ehrung, der Dankbarkeit, der Liebe aufgefasst? Will man im Enkelkind „fortleben“, wenn man noch das Urenkelkind zu erleben hofft? In historischen Formen der innerfamilialen Nachbenennung hat die Namengebung nach schon verstorbenen Familienangehörigen eine sehr bedeutsame Rolle gespielt. Auch die enorme Steigerung der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert könnte den Rückgang der traditionellen Nachbenennungspraxis beeinflusst haben. Innerfamiliale Nachbenennung mit der Absicht der Wesensübertragung, als Vorbild zur Nachahmung des früheren Namensträgers oder mit der Vorstellung von dessen Ehrung verbunden, reicht historisch sehr weit zurück. In christliche Namenkulturen ist dieses Prinzip aus jüdischen, griechischen und verschiedenen anderen antiken Wurzeln eingegangen. Wo immer es auftritt, ist ein von der Namensrepetition, also der Wiederholbarkeit von Namen, geprägtes System gegeben. Systeme, in denen der Name des Kindes jeweils neu geschaffen wird, etwa nach spezifischen Geburtsumständen, kennen keine innerfamiliale Nachbenennung. Anschaulich schildert das Buch Genesis für die Patriarchenzeit die Regeln eines solchen Systems. Ob Systeme der Namensrepetition aus dem Interesse an innerfamilialer Nachbenennung, also einem Faktor der Familienentwicklung, zu erklären sind, erscheint sehr fraglich. Der für die christlichen Namenkulturen so wesentliche Systemwandel im Judentum dürfte auf andere Ursachen zurückzuführen sein, nämlich auf das Aufkommen von theophoren Namen, durch die in besonderer Weise eine Gottesbeziehung hergestellt werden konnte. Schon früh lässt sich jedoch im Judentum nachweisen, dass dieser neue Namentyp auch als Ausdrucksform von innerfamilialen Beziehungen diente. Die Nachbenennung erfolgte dabei von vornherein nicht mehr nach Verstorbenen, sondern auch nach noch lebenden Familienangehörigen. Auch im Namensystem der Westkirche, wie es sich im Hochmittelalter ausgebildet und die europäische Namenkultur fast durch ein Jahrtausend bestimmt hat, war offenbar nicht das Bedürfnis nach innerfamilialer Nachbenennung für die Verbreitung der Namensrepetition entscheidend. Im interkulturellen Vergleich lässt sich sagen, dass in kaum einem anderen Namensystem die Namenswiederholung und damit die Konzentration auf einige wenige Namen ein solches Ausmaß erreicht hat. Die Häufigkeit von Maria und Johannes in Populationen des Ancien Régime findet wohl nirgendwo ein Gegenstück. Ausschlaggebend für diese Häufigkeit sind Entwicklungen der religiösen Mentalität, nicht der Familienverhältnisse. Die rapide Reduktion des Namenguts seit dem Hochmittelalter und seine Konzentration auf einige besonders geschätzte Heiligennamen hat – sehr vereinfachend formuliert – mit veränderten Formen der Heiligenverehrung zu tun. Fürbitte und Schutz, die man von den Heiligen erwartete, wurden zunehmend nicht nur über ihre Reliquien,
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sondern auch über ihren Festtag und ihren Namen vermittelt gesehen. Die „stärkste“ Hilfe konnten die „stärksten“ Heiligen bieten. Ihre Namen erfuhren daher eine enorme Verbreitung. Damit kam es zu einer bisher nicht da gewesenen Zahl gleichnamiger Personen. Vor allem in den verschiedenen Sphären der Öffentlichkeit entstand das Bedürfnis nach Differenzierung. Zweitnamen kamen auf, wobei an unterschiedliche Merkmale angeknüpft wurde: Abstammung, Wohnort, Tätigkeit, persönliche Eigenschaften etc. Diese Zweitnamen liegen unseren Familiennamen zugrunde. Das europäische System von christlichen Heiligennamen als Vornamen und sehr unterschiedlich gebildeten Familiennamen hat also in dieser letztlich durch religiöse Entwicklungen bedingten Namenrevolution des Hoch- und Spätmittelalters eine entscheidende Wurzel. Noch eine zweite Wurzel verdient Erwähnung, bei der innerfamiliale Nachbenennung eine wichtigere Rolle spielt. Im Hochund Spätmittelalter ist es zu einer starken Nachbenennung nach Fürsten gekommen. Das „Hinz- und Kunz“-Phänomen spiegelt etwa die Verbreitung der Königsnamen Heinrich und Konrad. Den Familienbeziehungen nachgebildete Formen sozialer Bindung dürften dafür wesentlich gewesen sein, vor allem solche des Lehenswesens. Für die Ausbildung des spezifisch europäischen Systems der Identifikation von Personen durch Namen war dieser Entwicklungsstrang jedoch nicht von gleicher Bedeutung. Es lässt sich schwer entscheiden, ob die Nachbenennung nach himmlischen Patronen oder nach irdischen Vorfahren stärker zum Erhalt dieses Systems der Vornamengebung beigetragen hat. Die Frage ist nach Konfessionen, Regionen und Epochen unterschiedlich zu beantworten. In neuerer Zeit stand wohl stärker das Moment der familialen Kontinuität im Vordergrund. Und so sind es letztlich die tief greifenden Veränderungen der Familienverhältnisse in unseren Tagen, die zu derart radikalen Veränderungen des überkommenen Systems der Vornamengebung führen. Anders als im Bereich der Familiennamen lässt sich im Bereich der Vornamengebung kaum von gesellschaftlich brisanten Identitätsproblemen sprechen. Aber wie schon einleitend betont, geht es bei „aktuellen Namensproblemen“ nicht darum, dass die Frage des Namens selbst heiß umstritten wäre. Es geht viel mehr darum, welche gesellschaftlichen Probleme in der Identifikation durch Namen zum Ausdruck kommen. Und diesbezüglich lässt sich wohl sagen, dass die in der Vornamengebung inkludierten Fragen nicht weniger bedeutsam sind als die der Familiennamenswahl. Ist es bei Letzterer vor allem das Gleichheitsproblem zwischen den Geschlechtern, geht es bei Ersterer um Individualisierung, Generationenbeziehungen, Familienkontinuität, traditionsgeleitetes Handeln versus Neuorientierung etc. Die Probleme im Bereich der Vornamengebung lassen sich weniger leicht auf den Punkt bringen. Sie sind nicht auf einfache Entscheidungsfragen zu bringen wie Beibehaltung oder Aufgabe des Mädchennamens bei der Heirat. Sie können auch kaum durch gesetzliche Regelungen oder familienpolitische Maßnahmen in einer generel-
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len Weise zu lösen versucht werden. Sie sind aber deswegen sicher nicht weniger wichtig. Der Diskurs über sie wird nur zum Teil öffentlich geführt werden können. Sein Platz wird sehr wesentlich in der Familie sein müssen – in der Reflexion gemeinsam erlebter Lebensund Familiengeschichten. Formen der Nachbenennung nach Verwandten, aber auch ganz anders motivierte Formen der Namenswahl können ein guter Ausgangspunkt des Gesprächs über gewandelte Familienverhältnisse und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben sein. Schon im Rückblick auf wenige Generationen zeigt jede Familiengeschichte eine Vielfalt sehr unterschiedlicher Namensmotivationen. Wenn heute die Familientherapie in ihrer Analyse der Entwicklung von Familiensystemen Namensmotivationen und Namensverhältnisse als einen möglichen Ansatzpunkt der Rekonstruktion benützt, mag das ein Hinweis darauf sein, welche Möglichkeiten an Lernprozessen generell in einer von Namen ausgehenden Beschäftigung mit Familiengeschichte enthalten sind. Am Beispiel des Namenwesens aus der Geschichte lernen – das kann vielerlei heißen: ein überkommenes System der Identifikation von Personen durch Namen aus seiner Genese besser verstehen, sich historisch überholte, aber auch nach wie vor aktuelle Funktionen von Namen bewusst machen, aus dem reichen Fundus historischer Namenkulturen Anregungen für aktuelle Namendebatten gewinnen, solche Diskussionen von historischen Fehleinschätzungen entlasten und damit zu versachlichen und zu entideologisieren, Erscheinungen des Namenwesens als Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen sehen lernen und damit über Namenentwicklungen sich sozialen Wandel aus neuer Perspektive bewusst machen, schließlich eigene Identität über die Geschichte der individuellen Namengebung und damit über die Familiengeschichte bewusst machen – eine Möglichkeit, die auch nicht ohne Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungstendenzen auskommt. Alle solchen Formen der Beschäftigung mit Namenentwicklungen werden historisch weit zurückgehen müssen. Namenkulturen sind sehr langlebig. So formuliert die Themenstellung des Auftakts unserer Tagung eine notwendige und wichtige Aufgabe: Das Mittelalter mit dem Heute zu verbinden.
7. Recht und Brauch der Namengebung
Die Geschichte des Namenwesens erscheint als ein geeignetes Untersuchungsfeld, um sich mögliche Zusammenhänge bzw. Unterschiede zwischen Brauch und Recht an einem spezifischen Bereich des gesellschaftlichen Lebens bewusst zu machen. Man kann Phänomene des Namensbrauchs und Namensrechts in ihrer zeitlichen Abfolge analysieren und dabei Kontinuitäten und Übergangserscheinungen zwischen Brauch und Recht nachgehen. Namen gehören zu den ältesten schriftlich überlieferten Quellen der Menschheitsgeschichte, die vom dritten vorchristlichen Jahrtausend bis in die Gegenwart massenhaft überliefert sind.1 Man kann verschiedene Typen sozialer Regelungen des Namenwesens herausarbeiten. Von Namensrecht im Sinne staatlicher Gesetze in unserem heutigen Verständnis des Wortes lässt sich ja erst für die Phase entwickelter Staatlichkeit in den beiden letzten Jahrhunderten sprechen. Aber schon vorher gab es Normen des Namenwesens von unterschiedlicher Geltungskraft und Reichweite, die es im Spektrum zwischen Brauch und Recht einzureihen gilt. Man kann unterschiedliche Bereiche des Namenwesens untersuchen, die stärker namensrechtlichen oder brauchtumsmäßigen Regelungen unterlagen. Das gesatzte Recht von Staaten oder anderen rechtsetzenden Instanzen hat sich stets auf das jeweils vergebene Namengut konzentriert. Die durch Nachbenennung hergestellten Sozialbeziehungen hingegen haben Gesetzgeber kaum interessiert – jedenfalls soweit sie Vornamen betreffen. Im Namensbrauch hingegen ist Nachbenennung in sehr unterschiedlicher Weise ein zentrales Thema.2 Man kann das Verhältnis von Recht und Brauch schließlich am Beispiel verschiedener Namentypen abhandeln. Der im Brauchtum so wesentliche Bereich der Spitznamen war und ist im staatlichen Namensrecht völlig ohne Bedeutung. Mit Modifikationen gilt das auch für Namensformen wie „middle names“3 1 2 3
Erik Hornung, Der eine und die vielen. Ägyptische Gottesvorstellungen, Darmstadt 1971, S. 33, Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 30. Michael Mitterauer, Systeme der Namengebung im Vergleich, in: Václav Bucek und Dana Štefanová (Hg.), Historisch-anthropologische Zugangsweisen in den Geschichtswissenschaften, Ceske Budejovice 2001, S. 267 ff. Adolf Bach, Die deutschen Personennamen. Deutsche Namenkunde I/2, Heidelberg 1953, S. 52.
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7. Recht und Brauch der Namengebung
oder Patronyme. Staatliche Regelungen des Namenwesens beschränken sich in der Regel auf Familien- und Vornamen. Die Letzteren sollen Thema der hier vorgetragenen Überlegungen sein. Dem Namensrecht säkularer Staaten, wie es im 19. und 20. Jahrhundert kodifiziert wurde, geht das Namensrecht der Religionsgemeinschaften, in christlichen Staaten also das der Kirchen, um Jahrhunderte voraus. Das gilt sowohl für die Inhalte wie für die Funktionen namensrechtlicher Regelungen. Der Zusammenhang zwischen Recht und Brauch wird hier deutlicher sichtbar. Eine historische Analyse wird daher sinnvollerweise mit frühen kirchenrechtlichen Regelungen der Namengebung beginnen. Kirchenrechtliche Bestimmungen über Namengebung setzen in den einzelnen christlichen Kirchen erst ein, als überkommenes Brauchtum christlicher Namengebung unter Kritik gerät. Die entscheidende Phase dafür ist das Zeitalter der Reformation. Allen reformatorischen Gruppen war in den Grundsätzen der Namengebung zweierlei gemeinsam: die Abkehr von der Heiligenverehrung und die Ausrichtung an der Bibel.4 Am radikalsten war diesbezüglich der Calvinismus. Aus der Reformierten Kirche stammt dementsprechend die älteste gesetzliche Regelung in der Geschichte der Christenheit. Calvin bestimmte 1546 in einer Verordnung, dass in Zukunft alle Namen verboten sein sollten, die an die „Idolatrie“ der alten Lehre, d. h. die Heiligenverehrung, erinnerten, weiters alle Namen, die nur im Gottesdienst und von Priestern genannt werden sollten, sowie alle Namen, die Gott bezeichnen und sich auf Christus beziehen. Schließlich wurden Doppelnamen, „schlechtklingende“ und lächerliche Namen untersagt. Wie ernst man es mit der gesetzlichen Regelung des Namenwesens meinte, zeigt ein Prozess, der noch im selben Jahr in Genf lief. Ein Vater wurde angeklagt, weil er seinen Sohn nach dem altbeliebten burgundischen Wallfahrtsheiligen Claude benennen wollte und den vom Geistlichen vorgeschlagenen Namen Abraham ablehnte. Die Geschichte des konfessionellen Namenrechts beginnt also mit einem sehr radikalen Verbot, das sich gegen bisher geltendes Brauchtum der Namengebung wandte, mit einem Eingriff des Vertreters der Religionsgemeinschaft in einem Bereich, der bisher Eltern und Taufpaten vorbehalten war, sowie mit einem Strafprozess, der die obrigkeitliche Verordnung neuer Regeln gegenüber der Tradition durchsetzen sollte. In der Geschichte des staatlichen Namensrechts bzw. der durch solche Normen grundgelegten staatlichen Namenspolitik gibt es viele Erscheinungen, die an diesen konfessionsgeschichtlichen Präzedenzfall anknüpfen. Calvins Verordnung von 1546 verweist auf eine entscheidende Wurzel namensrechtlicher Regelungen in christlichen Kirchen: Es geht um Götzendienst und Gotteslästerung. Derart schwerwiegende religiöse Problemfelder liegen frühen kirchlichen Namensverbo4
Ebda., S. 41.
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ten zugrunde. Die Gefahr solcher Verfehlungen lässt Verbote in den Vordergrund treten. Heiligenverehrung war für Calvin Idolatrie. Nicht nur die Heiligenverehrung durch Nachbenennung, auch die Heiligenverehrung im Bild wurde verboten. Beide Formen hängen in der Geschichte des Christentums aufs Engste zusammen. Mit der Entscheidung des Bilderstreits in der Byzantinischen Kirche zugunsten der Bilderverehrer hatte sich auch die Nachbenennung nach Heiligen hier definitiv durchgesetzt.5 Die Westkirche folgte im Hoch- und Spätmittelalter diesem Brauch der Namengebung. Der radikal ikonoklastische Calvinismus versucht es, diesen tief verwurzelten Brauch abzustellen. Gegen die Heiligenverehrung richtete sich wohl auch das Verbot von Doppelnamen. Doppel- und Mehrfachnamen waren erst im ausgehenden Mittelalter in Italien aufgekommen.6 Ihnen lag wohl die Absicht zugrunde, den Schutz mehrerer Heiliger für den Täufling zu gewinnen. Auch dieser damals eher junge Brauch sollte abgestellt werden. Das Verbot von Gottesbzw. Christusbezeichnungen in der Verordnung Calvins von 1546 hat einen anderen, aber nicht minder bedeutsamen religionsgeschichtlichen Kontext. Es geht auf das Verbot der missbräuchlichen Verwendung des Gottesnamens im zweiten Gebot des Dekalogs zurück. Gottesbezeichnungen stehen in der Geschichte des Namenwesens in einem eigenartigen Spannungsverhältnis. Einerseits ist ihre Verwendung für Menschen als Beleidigung Gottes bzw. der Götter in der Regel strikt untersagt, andererseits haben sie aufgrund ihrer religiösen Mächtigkeit besondere Attraktivität. Dieses Dilemma wurde seit frühen Zeiten – in Mesopotamien, in Ägypten, in Griechenland, im Judentum – durch sogenannte „theophore Namen“ gelöst, also durch Namen, die einen Bezug zur Gottheit zum Ausdruck bringen – etwa Theodor d. i. „Geschenk Gottes“.7 An solchen theophoren Namen gab es auch in den christlichen Kirchen des Mittelalters eine reiche Vielfalt. Der Calvinismus wandte sich nicht direkt gegen solche Bräuche, sehr wohl aber gegen deren exponierteste Ausformungen. Zu ihnen ist etwa der Jesus-Name Immanuel/Manuel zu zählen – ein klassischer Kaisername des Byzantinischen Reichs – oder der im Mittelmeerraum aufkommende Brauch der unmittelbaren Nachbenennung nach Jesus Christus. Auch in der katholischen Kirche wurde diese Form der Annäherung an besonders heilige Namen keineswegs generell als zulässig angesehen.
5 6 7
Mitterauer, Ahnen und Heilige, S. 123 ff. Christiane Klapisch-Zuber, Constitution et variations temporelles des stocks de prénoms, in: Jacques Dupâquier und andere (Hg.), Le prénom. Mode et histoire, Paris 1984, S. 42 f. Michael Mitterauer, Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel „heiliger Namen“, in: Edith Saurer (Hg.), Die Religion der Geschlechter. Historische Aspekte religiöser Mentalitäten (L’homme-Schriften 1, Wien 1995), S. 45 ff.
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7. Recht und Brauch der Namengebung
Wer derart radikal mit überkommenen Bräuchen der Namengebung bricht wie Calvin in Genf, muss alternative Angebote machen. In der Reformierten Kirche war dies das Namengut des Alten Testaments. Neben das Verbot der Nachbenennung nach Heiligen trat das Gebot der Benennung nach Vorbildfiguren der Hebräischen Bibel. Die Genfer Bibel von 1560, die sich in den calvinistischen Ländern rasch verbreitete, hatte gewissermaßen die Funktion, das maßgebliche Namenbuch der Reformierten Kirche zu werden. Das kirchliche Namensrecht wurde rasch zur Grundlage neuer Namensbräuche. Vielfach ohne von der staatlichen Obrigkeit dabei unterstützt zu werden, gelang es den Kirchenvertretern, neue Namensbräuche durchzusetzen. Alttestamentliche Namengebung war der mittelalterlichen Christenheit weitgehend unbekannt. Die Calviner bzw. an sie anschließend die puritanischen Dissenters, die vor der Verfolgung durch die Englische Hochkirche in die Neu-England-Staaten in Amerika auswichen, entwickelten diesbezüglich völlig neue Traditionen. Ohne religiöse Bedeutsamkeit kehrt dieses Namengut – an US-amerikanischen Vorbildern orientiert – in unseren Tagen nach Europa zurück. Auch in den an Luthers Reformation anschließenden Kirchen hat die Abkehr von der Heiligenverehrung und die Ausrichtung an der Bibel die Namengebung beeinflusst – es ist jedoch nicht zu einem in vergleichbarer Weise einschneidenden Umbruch gekommen. Die Auswertung von Namensstatistiken zeigt, dass sich durch den Protestantismus Namensbräuche verändert haben, diese Veränderungen gehen aber offenbar nicht auf gesetzliche Bestimmungen zurück. In den Landeskirchenordnungen des 16. Jahrhunderts finden sich kaum Hinweise, welche Regeln bei der Namengebung zu befolgen wären – weder als Gebote noch als Verbote. Als Empfehlung für eine neue Namengebungspraxis ist ein 1537 in Wittenberg anonym erschienenes „Namenbüchlein“ anzusehen, das schon früh Martin Luther zugeschrieben wurde.8 Es lässt eine ganz andere Tendenz erkennen als die Genfer Bibel Calvins. Gottfried Wegener, der dieses „Namenbüchlein“ 1674 neu herausbringt, spricht in der Vorrede von den „Vorfahren, so noch im tieffen Pabstthum gelebet“ die „allesammt frembde und auslaendische Namen gehabt, mir aber allein ist der schoene Deutsche Name Gottfried gegeben worden“. Obwohl es sich um einen theophoren Namen handelt, steht offenbar für den Verfasser nicht der religiöse, sondern der nationale Charakter seines Namens im Vordergrund. Mehr als andere christliche Konfessionen hat in diesem Sinne der deutsche Protestantismus zu deutschnationaler Namengebung beigetragen. Diese Neuorientierung des Namensbrauchs beruhte freilich auf veränderter Mentalität. Namensrechtliche Regelungen waren dabei nicht im Spiel. Auf die Infragestellung überkommenen Brauchtums der Namengebung durch die Re8
Friedhelm Debus, Personennamengebung der Gegenwart im historischen Vergleich, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 17, 1987, S. 68 f.
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formation reagierte die katholische Kirche zunächst durch dessen Bestätigung. Im Zuge der Verrechtlichung der Tradition wurde dabei aus dem Brauch der Heiligennachbenennung eine Vorschrift. Die Empfehlung der Taufe auf einen Heiligennamen entwickelte sich zur Pflicht. Dabei musste es notwendig zur Ausgrenzung alternativer Bräuche der Namengebung kommen. Entgegen vielfachen Annahmen eines obligatorischen Charakters der Heiligennachbenennung im Mittelalter gab es bis in die Zeit der Gegenreformation keinerlei Verpflichtung dazu. Auch dann vollzog sich die Entwicklung nur schrittweise. Das Konzil von Trient (1545–1563) fasste zu diesem Problemfeld keine Beschlüsse. Entscheidende Regelungen erfolgten erst durch den Catechismus Romanus von 1566, der als Leitfaden für die Seelsorgegeistlichen in der Umsetzung der Konzilsbeschlüsse dienen sollte. Hier heißt es:9 „Endlich erhält der Täufling auch einen Taufnamen. Es soll dazu der Name eines Heiligen genommen werden, der wegen seiner hervorragenden Frömmigkeit und Gottesfurcht der Ehre der Altäre gewürdigt wurde. Diese Namensverwandtschaft wird dem Täufling leicht ein Ansporn zur Nachahmung in Tugend und Heiligkeit sein. Und wie er ihn nachzuahmen sich bestrebt, so soll er auch zu ihm beten und vertrauensvoll von ihm Schutz zum Heil der Seele und des Leibes erwarten. – Es ist somit zu tadeln, wenn man für die Kinder heidnische Namen von ganz verkommenen Menschen aussucht, um sie als Taufnamen zu geben – wohl ein Zeichen dafür, wie gering man gediegenes christliches Leben einschätzt, wo ein solches Gefallen an diesen anrüchigen Gestalten herrscht, dass man so unheilige Namen fortwährend um christliche Ohren schwirren lassen will.“ Wer mit diesen „anrüchigen Gestalten“ gemeint ist, formuliert deutlicher das Rituale Romanum Papst Pius’ V. von 1614, in dem endgültig alle Pfarrer zur Taufe auf christliche Heiligennamen verpflichtet werden, nämlich „falsche Gottheiten“ und „gottlose Helden“. Gemeint ist also offenbar die auf die griechische und römische Mythologie zurückgreifende Namengebung, wie sie – vorwiegend in Italien – im Zeitalter von Renaissance und Humanismus üblich wurde. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts konnte sich der Humanistenpapst Enea Silvio Piccolomini (1458–1464) den Beinamen seines heidnischantiken Namensvorbilds Aeneas „Pius“ noch als Thronnamen wählen – freilich zugleich auch ein Papstname der frühchristlichen Zeit mit frommer Bedeutung. Jetzt wurde nichtchristliches Namengut der Antike grundsätzlich ausgegrenzt. Die Bestimmungen des Catechismus Romanus und des Rituale Romanum zeigen anschaulich, mit welchen Mitteln kirchliches Namensrecht bzw. kirchliche Namenspolitik durchgesetzt wurden: In der Ordnung des Taufwesens erhielt der Pfarrer gegenüber der 9
Michael Simon, Vornamen wozu? Taufe, Patenwahl und Namengebung in Westfalen, Münster 1989, S. 19 f., Walter Dürig, Geburtstag und Namenstag. Eine liturgiegeschichtliche Studie, München 1953.
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Namensentscheidung von Eltern und Paten ein Einspruchsrecht. Wer sich dieser Bevormundung entzog, riskierte mit der Verweigerung des Sakraments das Seelenheil des Kindes. Hand in Hand mit der rituellen Ordnung des Sakramentenwesens wurde in Anschluss an das Konzil von Trient auch dessen Registrierung geregelt. Als Verwalter der Taufmatriken bzw. der sonstigen kirchlichen Standesführung ist der katholische Pfarrer der Vorläufer des staatlichen Standesbeamten der Moderne. Die Durchsetzung staatlichen Namensrechts bzw. staatlicher Namenspolitik folgt ähnlichen Grundsätzen und Hilfsmitteln. Wie der katholische Pfarrer auf der Grundlage des Martyrologium Romanum oder simpler des Heiligenkalenders kann der staatliche Standesbeamte – wo es ihn gibt – auf der Basis von namensrechtlichen Bestimmungen und von Verzeichnissen zugelassener Namen gegen die Namenswahl der Eltern Einspruch erheben. Überkommenes Brauchtum und Freiheit der Innovation finden im staatlichen Namensrecht, das der Standesbeamte verwaltet, ihre Grenzen. Reformation und Gegenreformation sind innerhalb des Christentums auf den Bereich der Westkirche beschränkte Phänomene. Das gilt auch für die mit ihnen verbundenen Tendenzen der Vereinheitlichung und der Verrechtlichung des Namenwesens, durch die konkurrierende und alternative Traditionen ausgegrenzt wurden. In den Ostkirchen ist es nicht zu dieser Entwicklung gekommen. Es werden keine generellen Normen der Namengebung festgesetzt, die bestimmte Gebräuche ausgeschlossen hätten. Sondertraditionen des Namenwesens haben sich auf der Ebene des Brauchtums dementsprechend besser erhalten. Die Spendung des Taufsakraments wird nicht als Mittel der Durchsetzung einer bestimmten Namenspolitik instrumentalisiert. Der Taufpriester fungiert nicht als Kontrollinstanz einer durchorganisierten Anstaltskirche. Namensrecht und Namenspolitik im Rahmen moderner Staatlichkeit schließt hier dementsprechend nicht an kirchliche Vorformen an. Wie der West-Ost-Vergleich innerhalb der Christenheit macht der Vergleich zwischen Christentum und Islam deutlich, wie spezifische strukturelle Eigenarten von Religionsgemeinschaften das Verhältnis von Recht und Brauch der Namengebung beeinflussen. Will man für den Islam von religiösem Namensrecht sprechen, so sicher nur in einem ganz anderen Verständnis als im Christentum. Kirchliche Verordnungen und Beschlüsse, wie sie im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation das Namensrecht der westlichen Kirchen festlegen, sind dem Islam aufgrund der Struktur der Religionsgemeinschaft fremd. Es gibt keine „kirchlichen Obrigkeiten“, die in dieser Weise durch Verordnungen und Beschlüsse auf aktuelle Gegebenheiten reagieren könnten. Was der Islam an namensrechtlichen Bestimmungen kennt, geht unmittelbar auf die Lehre Mohammeds zurück. Zum Unterschied von den heiligen Schriften des Christentums nehmen die des Islam auf Fragen der Namengebung Bezug. Einige Aussprüche des Propheten seien zitiert, weil sie
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die Entwicklung des islamischen Namenwesens nachhaltig beeinflusst haben:10 „Die besten Namen in den Augen Gottes sind Abdu’lah (d. i. ‚Diener Gottes‘) und Abdu’Rahman (d. i. ‚Diener des Barmherzigen‘)“. Entsprechend dieser Empfehlung Mohammeds waren mit Abd (also „Diener“) gebildete Zusammensetzungen mit einem der 99 „schönen Namen Allahs“ in islamischen Gesellschaften sehr häufig. Auch einer zweiten Empfehlung: „Nennt eure Kinder nach dem Namen des Propheten“, wurde in vielfältigen Formen Folge geleistet. Mit den Empfehlungen korrelieren Verbote: „Der abscheulichste Name, den man einem Menschen geben kann, ist Malik’ul-Amlak (d. i. „König der Könige“), denn dieser Name steht Gott allein zu“ oder zu einem Abu’l-Hakam (d. i. ‚Vater des Herrschers‘) gesprochen: „Was nennt ihr ihn Abu’l Hakam? Dieses Wort bedeutet ‚Herrscher‘ und ist ein Attribut Gottes.“ Es kam hierauf zu einer Umbenennung. Auch im Islam spielen Verbote von Gottesnamen für Menschen auf der einen Seite, Annäherungen an Heiliges durch Nachbenennung nach dem Propheten bzw. durch theophore Namensbildungen auf der anderen Seite als Grundnormen des Namenwesens eine zentrale Rolle,11 zu generellen Regelungen im Sinne von allgemeinen Geboten bzw. Verboten ist es aber auf dieser Grundlage nicht gekommen. Trotz solcher Ansätze eines Namensrechts bleibt die islamische Namengebung partikularistisch und regionalem Brauchtum verpflichtet. Für die Durchsetzung genereller Beschränkungen auf bestimmte religiöse Namentypen hätten auch die Möglichkeiten gefehlt. Der Islam kennt keinen sakramentenspendenden Klerus, der in hierarchischer Gliederung Regeln einer Anstaltskirche auf lokaler Ebene umsetzt. Er kennt auch kein Sakrament der Taufe, das durch seine Verbindung mit der Namengebung Kontrollmöglichkeiten über diese gegeben hätte. Zum Unterschied von den christlichen Kirchen war die Entscheidung der Familie über die Namengebung des Kindes nie durch ein Mitbestimmungsrecht eines Amtsträgers der Religionsgemeinschaft beeinträchtigt. Wo Namengebung Elternrecht bleibt, dort bleibt auch das Namenwesen partikularistisch und damit dem Brauchtum verpflichtet. Ein Blick auf Normen der Namengebung im ostasiatischen Konfuzianismus zeigt noch stärker kontrastierende Bilder. Der religiöse Kontext des Namenwesens ist der vom Konfuzianismus übernommene und von ihm stabilisierte Ahnenkult in männlicher Linie.12 Der Name des Vaters ist für den Sohn tabu und darf – ganz anders als in der jüdischchristlich-islamischen Tradition – von ihm keineswegs weitergegeben werden. Aber nicht 10 Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, Dreieich 1995, S. 560 ff. 11 Mitterauer, Ahnen und Heilige, S. 183 ff. 12 E. Haenisch, Die Heiligung des Vater- und Fürstennamens in China, ihre ethische Begründung und ihre Bedeutung in Leben und Schrifttum, in: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 84/4, 1932, S. 3 ff.
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nur der Vatersname ist tabu, sondern auch die der Vorväter zumindest über fünf Generationen – den auf dem Hausaltar aufgestellten Ahnentafeln entsprechend – in der Regel aber darüber hinaus noch viel weiter zurück. Solche Tabus wurden durch Ritenbücher in der Zeit des Neokonfuzianismus standardisiert, sie sind aber natürlich in ihrer Wurzel viele Jahrhunderte, wahrscheinlich Jahrtausende älter. Von einem religiösen Namensrecht im Sinne einer durch Amtsträger der Religionsgemeinschaft festgesetzten Regelung kann bezüglich dieser Situation kaum gesprochen werden. Es gibt keinen Gesetzgeber, der hinter diesen allgemein beachteten Gesetzen steht. Treffender ist es wohl, in Anlehnung an den aus Stammesverhältnissen abgeleiteten Tabu-Begriff von einem Tabu des Vatersnamens bzw. der Vorväternamen zu sprechen. Aus diesem Tabu der Nachbenennung innerhalb der Lineage hat sich im China der Han-Zeit ein noch weiter reichendes Tabu entwickelt, nämlich das Heiligen- und vor allem das Fürstentabu. Nicht nur die Namen der männlichen Vorfahren gelten als so heilig, dass ihre Wiederholung verboten war, sondern auch die der großen Lehrer wie etwa des Konfuzius und seiner Eltern und insbesondere der des Kaisers. Diese abgeleitete Namensheiligung erfolgt in einem umfassenden herrschaftlichen Kontext und kann somit als Akt staatlicher Normsetzung verstanden werden. Insofern ist die Bezeichnung als „Namensrecht“ hier wohl am Platz. Aufgrund der sakralrechtlichen Stellung des Kaisers handelte es sich auch um ein sakralrechtliches Verbot. Bei Herrschaftsantritt eines neuen Kaisers wurde sein Name im ganzen Reich verkündet. Er durfte nun nicht mehr neu vergeben werden – und das bis zum Ende der Dynastie. Mitlebende Träger desselben Namens mussten zumindest ein Zeichen ihres Namens ändern, um Homophonie zu vermeiden. Nicht nur Personennamen, auch Ortsnamen waren von der Tabuierung des Fürstennamens betroffen, sodass ein Herrscherwechsel nachhaltigen Einfluss auf das System der Benennungen haben konnte. Übertretungen des Fürstentabus standen unter Strafandrohung. Ein Verstoß galt als Majestätsbeleidigung und wurde dementsprechend geahndet. Zur Situation des Namenwesens in Europa seit dem Hochmittelalter steht diese Tabuierung von Vaters-, Heiligen- und Fürstennamen in China in eklatantem Gegensatz. Hier wurde seit dem 10. und 11. Jahrhundert ganz systematisch nach Vätern, Heiligen und Fürsten nachbenannt.13 Sicher geht es dabei um mehr als sogenannte „Namenmoden“. Es handelt sich um einen letztlich sakralrechtlich bedingten tief greifenden Unterschied sozialer Strukturen. Man sollte über der Analyse solcher Gegensätze jedoch nicht vergessen, dass es in der vorangegangenen Epoche – dem Frühmittelalter – auch in Europa Gesellschaften gab, in denen die Tabuierung zumindest der Fürstennamen galt, etwa das Frankenreich bis zum Ausgang der Karolingerzeit. Wie dieses Tabu durchgesetzt und aufrechterhalten wurde, wissen wir nicht. Jedenfalls gab es kein Verbot seitens 13 Mitterauer, Ahnen und Heilige, S. 241 ff.
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der königlichen Gesetzgebung. Es gibt kein Capitulare der Karolingerzeit, in dem es verboten worden wäre, einen Sohn Karl, Pippin, Karlmann, Lothar oder Ludwig zu nennen. Und trotzdem finden wir außerhalb des Herrscherhauses keine Träger dieser Namen. Mit den beiden Kategorien Brauch und Recht lässt sich diese Situation wohl nicht ausreichend erfassen. Religiöse Faktoren werden zu berücksichtigen sein. Genuin christliche Normen haben aber dabei wohl keine Rolle gespielt. Das Namensrecht von Religionsgemeinschaften als mögliche Vorstufe säkularen Namensrechts in Staaten der Moderne hat historisch weit zurückgeführt. Das Verhältnis von Recht und Brauch in der Namengebung ist ohne solche Vorstufen kaum zu verstehen. In die entscheidende Übergangsphase zwischen kirchlicher und weltlicher Normierung der Namengebung in Europa soll das Zitat eines deutschen Juristen von 1800 führen, der aus der Perspektive der staatlichen, nicht der kirchlichen Gesetzeslage schreibt:14 „Die Freiheit der Eltern in der Auswahl und Bildung eines Taufnamens ist unbeschränkt. Nur dann dürfte eine Ausnahme Statt finden, wenn die Eltern dem Kinde einen durchaus unanständigen, sittenlosen, oder den Staat und die Kirche beleidigenden Namen ertheilen wollen. So würden die Namen Baal, Beelzebub, Bachus, Pan, Mahomet, Knipperdolling, Pudel, Mops, Reichsfeind, Rebell, Menschenhasser u. s. w. durchaus unerlaubt seyn.“ Als Begründung solcher Einschränkungen weist der Autor darauf hin, dass der „Name dem Kind bei der Taufe gegeben wird, die nach der einstimmenden Lehre der sonst gespaltenen christlichen Kirchen für ein Sacrament gehalten wird. Bestehen daher die Eltern auf solche unschickliche Namen, so geben sie offenbar durch eine solche Handlung ihre Verachtung und Geringschätzung der Sacramente an den Tag, und begehen dadurch eine mittelbare Gotteslästerung.“ … „Eine solche Verachtung ist nach den vorhandenen Umständen mit Gefängniß am Leibe zu bestrafen.“ Die grundsätzliche Lösung des staatlichen Namensrechts aus kirchlichen Bindungen seit dem Zeitalter der Aufklärung hat scheinbar zu einer sehr weit gehenden Freiheit der Namengebung geführt. Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, dass für alle Angehörigen christlicher Kirchen – und damit die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – solche Bindungen privat weiter bestanden. Deren normative Kraft ist sicher nicht auf der Ebene des Brauchtums anzusiedeln. Schichtspezifische und regionale Beschränkungen durch Traditionen des Brauchtums kamen zu den konfessionellen hinzu. Aber auch in den offiziell säkularen Bereich der Namengebung wirkten kirchliche Vorstellungen stark hinein. Die exemplarisch aufgezählten „unanständigen“ und „sittenlosen“ Namen werden nicht, wie man aus heutiger Perspektive vermuten könnte, in Hinblick auf das Kindeswohl verboten, sondern als „mittelbare Gotteslästerung“. Dieser überkonfessionell und wohl 14 Simon, Vornamen wozu? S. 35.
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auch Religionsgrenzen überschreitend wirksam gedachte Faktor spielt also nach wie vor auch in einer dem Anspruch nach säkularen Namensgesetzgebung eine entscheidende Rolle. Die aufgezählten Beispiele sind diesbezüglich sehr aufschlussreich: Der Kult der westsemitischen Gottheit Baal steht im Alten Testament für den Abfall von Gott und bedeutet zugleich den Inbegriff der Idolatrie, der von einem speziellen Baal abgeleitete Beelzebub begegnet im Neuen Testament als Fürst der Dämonen. Als Dämonen galten in der christlichen Tradition auch die Gottheiten der griechisch-römischen Antike, die hier durch Bacchus/Dionysos und Pan – wegen ihrer orgiastischen Kulte wohl besonders bedenklich – repräsentiert sind. Mohammed gilt als Stifter des Islam als Gegner der Christenheit schlechthin, Bernhard Knipperdolling – der Führer der Wiedertäufer in der Stadt Münster – wohl nicht nur als Erzketzer, den alle im Reich zugelassenen Konfessionen gleichermaßen ablehnten, sondern auch als Erzrebell, weil er gegen die Reichsgewalt Widerstand leistete. Die Erwähnung zweier Hunderassen könnte der Abgrenzung von Menschennamen und Tierbezeichnungen dienen. Hunde galten den Zeitgenossen aber auch als Verkörperung teuflisch-dämonischer Mächte.15 Mit „Reichsfeind“ und „Rebell“ schließen Feindbilder des Staates völlig bruchlos an solche der christlichen Kirchen an, mit „Menschenfeind“ auch eines der Aufklärung als geistiger Grundströmung der Zeit. Die exemplarische Liste verbotener Namen von 1800 zeigt somit anschaulich, wie die Vorstellung der „mittelbaren Gotteslästerung“ in den staatlich-säkularen Bereich hinein ausgeweitet wurde. Die Diskussion der Juristen über namensrechtliche Regelungen war in den europäischen Staaten vom 16. bis zum 18. Jahrhundert sehr stark von der Rezeption des Römischen Rechts bestimmt. In dieser Tradition galt das Prinzip, dass das Namenwesen von der Rechtssprechung möglichst fernzuhalten und der Sitte zu überlassen sei. Im Spannungsfeld von Namensrecht und Namensbrauch sollte Letzterer den Vorrang haben. Als bedenklich galten vorwiegend Namensänderungen, weil sie zu Rechtsunsicherheit führten. Grundsätzlich begünstigte jedoch der Einfluss des Römischen Rechts eine tendenziell liberale Namensgesetzgebung. Die Schwierigkeiten, sie in der Praxis auch umzusetzen, waren nicht gering. Die Französische Revolution von 1789 leitete eine Phase der Freizügigkeit der Namengebung ein. Sicher sollte die Öffnung namensrechtlicher Bestimmungen die von den kirchlichen Vorschriften und vom überlieferten Brauchtum geprägte Nachbenennung nach Heiligen bekämpfen – zu ausdrücklichen Verboten von Heiligennamen ist es jedoch nicht gekommen. Versuche, die Namen von Märtyrern und Helden der Revolution statt 15 Helmut Brackert und Cora Van Kleffens, Von Hunden und Menschen. Geschichte einer Lebensgemeinschaft, München 1989, S. 80.
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ihrer zu propagieren, waren wenig erfolgreich – schon eher Rückgriffe auf antike Vorbildgestalten der Revolution bzw. auf abstrakte Tugendbegriffe wie Liberté, Fraternité, Unité. Die zweifelhaften Ergebnisse dieser Bemühungen zeigen anschaulich, wie schwierig es ist, neue Namensbräuche zu schaffen und durchzusetzen.16 Mit den politischen Rahmenbedingungen änderten sich in Frankreich auch die namensrechtlichen Regelungen. Mit Gesetz von 1803 wurde die Freiheit der elterlichen Vornamenswahl auf die Namen von Heiligen sowie von bekannten Persönlichkeiten eingeschränkt. Revolutionär-innovative Namengebung war damit ausgeschlossen, der Kreis der zur Nachbenennung freigegebenen Vorbildgestalten allerdings über die christlichen Heiligen hinaus auf andere Traditionen hin erweitert. Der Übergang vom religiös-konfessionellen zum säkular-staatlichen Namensrecht führte bei einer Bevölkerungsgruppe in mehreren europäischen Staaten zu Problemen, in ganz besonderer Weise aber in Preußen, nämlich bei den Juden.17 Das Emanzipationsedikt vom 11. März 1812 sicherte den Juden in Preußen staatsbürgerliche Gleichheit zu. Dass diese Gleichstellung auch im Namenwesen zu gelten habe, war für die bisher in vieler Hinsicht schlechter gestellte Minderheitsgruppe sehr wesentlich. Das jüdische Namenwesen war weder religions- noch staatsrechtlich geregelt, unterschied sich jedoch in seinen eigenständigen Traditionen in vieler Hinsicht von dem der christlichen Umwelt – etwa durch patronymische Formen, weitgehendes Fehlen von Familiennamen sowie durch ein religionsspezifisches Namengut. Im Zuge der Emanzipation wurde die Assimilation der Namen zu einem besonderen Anliegen. Ausgelöst wurde die Kontroverse darüber durch ein Schreiben eines jüdischen Kaufmanns an König Friedrich Wilhelm IV. von 1816, in dem er bat, seinem kürzlich geborenen neunten Sohn bei der Beschneidung den Namen des Königs geben zu dürfen.18 Der Landesfürst war allerdings über diese beabsichtigte Ehrung sehr erbost und nahm das Schreiben zum Anlass für eine generelle Ordre, „daß den Juden Kindern überhaupt ohne Taufe keine blos christliche Taufnamen beygelegt werden sollen“. Die Auseinandersetzung über den Inhalt dieser Verordnung zog sich über Jahrzehnte hin. Sie war auf der einen Seite getragen von einer Welle christlich-nationalen Antisemitismus, der die Emanzipation rückgängig zu machen versuchte und durch die Stigmatisierung über das Namenwesen eine Ghettoisierung der jüdischen Mitbürger betrieb, auf der anderen Seite von einer zum Teil liberal denkenden Beamtenschaft, die eine solche Verfügung für rechtlich bedenklich und in der Sache für undurchführbar hielt. Denn bei aller Unterschiedlichkeit christlicher und jüdischer Namensbräuche – aus den Heiligen 16 Dupâquier, Le prénom, S. 16, 96, 248 ff. 17 Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812–1933, S. 63 ff. 18 Ebda., S. 66.
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Schriften der beiden Religionen ergab sich eine Vielzahl gemeinsamer Vorbildfiguren bzw. homonymer Namensvorbilder. Hinzu kamen noch zahlreiche Namen aus gemeinsamer kultureller Tradition, die nicht religiös geprägt waren. So schien der Auftrag des preußischen Königs, jüdischen Kindern christliche Namen zu verweigern, letztlich impraktikabel. Er ist als Versuch bemerkenswert, eine Minderheitsgruppe durch das Namensrecht an der Angleichung an die Mehrheit zu hindern, nicht sie dazu zu zwingen. Für das Zeitalter des Nationalismus ist ja dann eher die letztere Tendenz charakteristisch. Das Namensrecht, wie es sich im Rahmen säkularer Staatlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert durchgesetzt hat, trifft im Allgemeinen nur wenig Regelungen. Die römischrechtlichen Vorstellungen über den Charakter des Namenwesens haben sich weithin durchgesetzt. Als einige Grundprinzipien solcher Regelungen können festgehalten werden:19 Zunächst das Verbot von Bezeichnungen, die „ihrem Wesen nach“ keine Vornamen sind. Positiv formuliert bedeutet das eine weitgehende Bindung der Namengebung an die Tradition und damit auch an überkommenes Brauchtum. Der angloamerikanische Raum nimmt hinsichtlich dieser Bindung an die Tradition eine Sonderstellung ein. Dann gilt in den meisten namensrechtlichen Bestimmungen der Grundsatz, dass aus dem gewählten Vornamen das Geschlecht des Namensträgers eindeutig hervorgehen soll. Solche Bestimmungen setzten historische Verbote fort, Kinder auf den Namen eines Heiligen des anderen Geschlechts zu taufen. In säkularen Gesellschaften stehen aber wohl primär bürokratische Interessen der Identifizierbarkeit dahinter – etwa zwecks Rekrutierung zum Militär. Auch diesbezüglich sind die Traditionen im angloamerikanischen Raum liberaler. Weiters sollen in der Regel Namen zurückgewiesen werden, die das Ansehen ihres Trägers schädigen würden. Historisch liegt das Verbot „unanständiger“ und „sittenloser“ Namen zugrunde. Aktuell wird dabei primär mit der Wahrnehmung des Kinderwohls argumentiert. Schließlich regeln Namensrechte vielfach die Zahl der Vornamen. Für die Berücksichtigung traditioneller Namensbräuche ist diese Rechtsbestimmung von besonderer Bedeutung. Mehrnamigkeit erschließt viele Möglichkeiten: Die Eltern können im ersten Namen einen neuen Namen einführen, im zweiten aber einem herkömmlichen Brauch Rechnung tragen – etwa der Nachbenennung nach Großeltern oder Taufpaten. Es können zwei unterschiedliche Traditionen desselben Kulturraums nebeneinander aufgegriffen werden – etwa Namengebung nach dem Tagesheiligen und Verwandtennachbenennung. Es kann aber auch Namensbrauchtum unterschiedlicher Kulturen durch Mehrnamigkeit miteinander kombiniert werden – etwa bei Kindern aus interkulturellen Ehen. Obwohl historisch aus einer ganz anderen Wurzel entstanden – nämlich dem Interesse am Schutz mehrerer Patrone für das nach ihnen benannte Kind – wird Mehrnamigkeit zu einer Mög19 Simon, Vornamen wozu?, S. 36.
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lichkeit, überkommenes Namensbrauchtum zu bewahren bzw. Tradition und Innovation miteinander zu verbinden. Ein geringes Maß an Einschränkungen durch namensrechtliche Bestimmungen und eine weitgehende Freizügigkeit der elterlichen Entscheidung über den Kindesnamen sind – jedenfalls in neuerer Zeit – ein charakteristischer Indikator für eine liberale und demokratische Gesellschaftsordnung. Rigide Regelungen des Namenswesens von staatlicher Seite hingegen sind Anzeichen totalitärer Strukturen. Dazu ein paar Beispiele aus dem 20. Jahrhundert. Der erste faschistisch regierte Staat Europas, das Italien Benito Mussolinis, hat seinen totalitären Charakter auch in Namensbelangen unter Beweis gestellt. Das betraf vor allem die sprachlichen Minderheiten. Die größte unter ihnen, die deutschsprachige Bevölkerung des 1918 an Italien abgetretenen Südtirols, hatte besonders darunter zu leiden. Seit der faschistischen Machtergreifung 1922 kam es hier zu einer umfassenden Italianisierungspolitik, die mit dem Komplex der Orts- und Personennamen auch die Vornamen erfasste, die selbst auf den Grabsteinen geändert wurden.20 Durch den gemeinsamen Hintergrund der katholischen Heiligennamen war die Änderung nicht so tief greifend wie in späteren Fällen staatlicher Minderheitenpolitik, die einen Namenswechsel vorschrieb – trotzdem gehörten die das Namenwesen betreffenden Maßnahmen des Regimes sicher zu jenen, die die Identität der unterdrückten Gruppe ganz besonders traf. Auch das faschistische Deutschland hat eine rigide Namenspolitik betrieben – und keineswegs auf Minderheiten beschränkt.21 In den Richtlinien für die Gestaltung von „Lebensfeiern“ aus dem Jahr 1942 heißt es: „Die NSDAP und ihre Gliederungen sowie die Standesbeamten sollen alle Partei- und Volksgenossen bei der Wahl der Vornamen beraten, um eine Ausmerzung nichtdeutscher, insbesondere jüdischer oder konfessioneller Vornamen zu erreichen. Hierzu erhalten sie ein deutsches Namenverzeichnis. Nach dessen Erscheinen muß erreicht werden, daß Geburtsfeiern als Lebensfeiern nur dann durchgeführt werden, wenn das Kind einen deutschen Namen erhält.“ Wie in der katholischen Kirche die Verweigerung der Taufe, dient hier deren neuheidnische Konkurrenz, die „Lebensfeier“, als Druckmittel, die Namenspolitik des Regimes durchzusetzen. An die Stelle des Pfarrers tritt der Standesbeamte als Kontrollinstanz – unterstützt von den Funktionären der Partei. Das seit der Reformation gebräuchliche Namenbuch steckt den Rahmen des Erlaubten ab – jetzt freilich gegen die konfessionelle Namengebung gewendet. Haupt20 Option Heimat. Eine Geschichte Südtirols, Bozen 1989, S. 47 ff. Vgl. vor allem Abbildung S. 49 rechts oben, Gottfried Solderer (Hg.), Das 20. Jahrhundert in Südtirol 2, Bozen 2000, S. 61 ff. 21 Werner Mahlburg, Die Vornamengebung im Nationalsozialismus, in: Das Standesamt 9, 1985, S. 241 ff., Bering, Der Name als Stigma, S. 288.
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stoßrichtung der nationalsozialistischen Namenspolitik ist jedoch die „Ausmerzung“ sogenannter „jüdischer Namen“. Gegenüber Staatsbürgern jüdischer Abstammung wurde die im 19. Jahrhundert gepflegte Politik des Namenghettos wieder aufgenommen. Jüdische Bürger wurden auf einige wenige Namen beschränkt, die sonst in keinem Fall an deutsche Kinder gegeben werden durften. Mit den Zwangsnamen „Sara“ für jüdische Frauen sowie „Israel“ für jüdische Männer setzte das NS-Regime namenspolitische Maßnahmen, die in ihrem enthumanisierenden Charakter nirgendwo eine Parallele haben. Unter den kommunistischen totalitären Regimen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat das Albanien Enver Hodschas eine besonders radikale Namenspolitik betrieben.22 Sein Konzept der Nationsbildung basierte auf der Überwindung der islamischen und christlichen Traditionen des Landes und damit auch der religiösen Namensbräuche. Das Albanertum sollte zur Religion jeden Albaners werden. In Anschluss an die Kulturrevolution von 1967 wurde Albanien zum atheistischen Staat erklärt. Der Zerstörung der religiösen Einrichtungen entsprach der Kampf gegen religiöse Namen. Solche „fremde“ Namen sollten nicht mehr geduldet werden. Die nationale Namenspolitik propagierte albanische Namen illyrischen Ursprungs oder sonstige albanophone Namen. Auf den Standesämtern wurden Listen mit solchen Namen ausgehängt. Weigerten sich Eltern, ihrem Kind einen nichtreligiösen albanischen Namen zu geben, so wurde dies als staatsfeindliche Handlung gewertet. In der Reihe namenspolitischer Zwangsmaßnahmen totalitärer Regime verdient schließlich der sogenannte „Prozess der nationalen Widergeburt“ Erwähnung, den das kommunistische Regime Bulgariens am 4. Dezember 1984 einleitete.23 Die „nationale Wiedergeburt“ der türkischen Bevölkerung Bulgariens bestand aus dem erzwungenen Wechsel der türkisch-arabischen Namen in „bulgarische“. Die namenspolitische Maßnahme stand im Kontext umfassender Verbote von Äußerungen der ethnokulturellen Besonderheiten. Untersagt war etwa auch das Sprechen der türkischen Sprache in der Öffentlichkeit, das Singen und Vortragen türkischer Musik, das Tragen von als „türkisch“ bezeichneten Kleidungsstücken wie Kopftücher, Pluderhose und Fez, die Beschneidung von Knaben sowie das Feiern religiöser Feste auch im Familienkreis. Verstöße gegen jedes dieser Gebote zogen Haftstrafen oder Geldbußen nach sich. Steigender Assimilationsdruck gegenüber Minderheiten hatte in Bulgarien schon früher eingesetzt. Seit 1972 wur22 Georgia Kretsi, Namenswitching als Identitätsstrategie. Historische und gegenwärtige Bedeutung der Namen als Symbol in zwei südalbanischen Dörfern (masch. Manuskript, S. 15). 23 Margarita Karamihova, Verwandtschaft und Zwangsassimilierung. Eine türkische Familie nach der „nationalen Wiedergeburt“, in: Ulf Brunnbauer und Karl Kaser (Hg.), Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien 2001, S. 332 ff.
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den türkisch-arabische Namen der Pomaken und Roma ausgetauscht. Ende der siebziger Jahre begann der Austausch von Namen in bulgarisch-türkisch gemischten Ehen. Von 1984 an wurden schließlich alle Namen der türkischen Bevölkerung Bulgariens geändert. Die Bürger Bulgariens sollten sich durch keine ethnischen Merkmale mehr unterscheiden, sondern alle in gleicher Weise „Erbauer des Sozialismus“ werden. Die einheitliche sozialistische bulgarische Nation wurde zum Schlagwort. Unter den Betroffenen löste der „Wiedergeburtsprozess“ starke Proteste und Widerstand aus. Die Lage eskalierte im ersten Halbjahr 1989, als Türken mit Hungerstreiks, Demonstrationen und Attentaten gegen die Repression seitens des Regimes protestierten. In dieser Situation hob die Regierung im Mai 1989 die Ausreisebeschränkungen für Türken auf und ließ innerhalb weniger Wochen über 350.000 Türken in die Türkei auswandern. Diese Massenemigration lenkte die internationale Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf die gewaltsame Assimilationspolitik und damit auch auf die Folgen der Namenspolitik des Regimes. Noch im Winter 1989 begann die Demokratisierung der bulgarischen Gesellschaft und damit auch die Beseitigung der diskriminierenden Maßnahmen. Dieser wohl spektakulärste Fall totalitärer Namenspolitik in der jüngsten Geschichte kam damit zum Abschluss. Wie ein Herrschaftssystem mit den Namensbräuchen seiner Minderheiten, darüber hinaus aber auch insgesamt mit der Namengebung seines Nachwuchses umgeht – daran lässt sich viel über seinen spezifischen Charakter erkennen. Es ist nicht zufällig, dass es mit Strömungen der Demokratisierung auch zu Tendenzen der Liberalisierung in namensrechtlichen Regelungen kommt. Und umgekehrt hat es seine innere Logik, dass totalitäre Regime zu namenspolitischen Zwangsmaßnahmen greifen. Solche Zwangsmaßnahmen finden wir historisch zunächst in Religionsgemeinschaften, die mit diesem Instrument gegen „Gotteslästerer“, „Häretiker“ und „Feinde der Religion“ vorgehen. An sie schließen in säkularen Staaten nationale Ideologien an, die sich mit faschistischen Totalitarismen genauso verbinden können wie mit kommunistischen. Namenspolitik ist für sie ein Instrument der Integration nach innen wie der Abgrenzung nach außen. Namenspolitik wurde und wird in der Regel durch namensrechtliche Bestimmungen betrieben. Jedes Namensrecht bedeutet Einschränkung freier Namenswahl. Im Interesse von Individuen wie der Gesellschaft als ganzer sind gewisse Einschränkungen dieser Freiheit notwendig. Wo ein staatliches Herrschaftssystem jeweils diese Grenzen zieht – dazu liefert uns die Geschichte des Namensrechts ein weites Spektrum an Beispielen. Sicher lassen sich daraus Schlüsse auf die Liberalität des Systems ziehen. Das Thema „Recht und Brauch der Namengebung“ könnte so Anstoß dazu geben, vom Namenwesen ausgehend, aber auch über das Namenwesen hinaus, über Freiheitsrechte im Kontext unterschiedlicher Herrschaftssysteme nachzudenken.
8. Vom „Judenkind“ zur „Schloßmoidl“. Lebensgeschichten als Quelle der Namenforschung
In „La pensée sauvage“ hat Claude Lévi-Strauss über Eigennamen als wissenschaftliches Thema formuliert: „Mehr noch als den Sprachforschern stellen sie den Ethnologen ein Problem. Für die Sprachforscher ist es das Problem der Natur der Eigennamen und ihrer Stellung im Sprachsystem. Für uns handelt es sich zwar auch darum, aber außerdem noch um etwas anderes. Wir müssen darlegen, dass die Eigennamen ein integrierender Bestandteil von Systemen sind, die wir als Codes behandeln: als Mittel, Bedeutungen festzulegen, indem wir sie in die Begriffe anderer Bedeutungen übersetzen“.1 Namensysteme sind Ausdruck von Denkweisen, von Wertordnungen, von Gesellschaftsstrukturen. Richtig entschlüsselt bieten sie uns einen Zugang zu diesen. In einem solchen Verständnis sind sie nicht nur ein wichtiges Thema der Ethnologie. Sie sind es auch für eine sich als „Ethnologia Europaea“ verstehende Volkskunde. Und sie sind es ebenso für eine Geschichtswissenschaft, die sich an anthropologischen Grundfragen orientiert. Der Zusammenhang zwischen Namensystemen und umfassenden gesellschaftlichen Kontexten ist für die Begründung einer historisch-anthropologischen Namenforschung wesentlich. Wir leben in einer Welt, in der sich jahrhundertealte Muster der Namengebung radikal verändern. Und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese tief greifenden Veränderungen des Namenwesens mit tief greifenden Veränderungen der Gesellschaft in Zusammenhang stehen. Namensysteme als Ausdrucksform von Mentalitäten, Vorstellungswelten und Sozialbeziehungen zu deuten, eröffnet einen Zugang zum besseren Verständnis von solchen Prozessen des gesellschaftlichen Wandels in der Gegenwart. Was sich aktuell verändert, wird allerdings nur dann sichtbar, wenn jene weit zurückreichenden Muster des Namenwesens mitberücksichtigt werden, die in der Gegenwart so stark an Geltung verlieren. Nur auf dem Hintergrund der Bedeutung von Namen in historischen Zeiten als Kontrastfolie können wir die Spezifik heutiger Namenbedeutungen voll begreifen. So führt das Interesse an der Dekodierung von Namensystemen der Gegenwart notwendig in die historische Tiefe. Die Relevanz einer historisch-anthropologischen 1
Lévi-Strauss, Das wilde Denken, 201.
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8. Vom „Judenkind“ zur „Schloßmoidl“
Beschäftigung mit Namen liegt aber keineswegs nur in ihrem Erklärungswert für gesellschaftliche Veränderungen der Gegenwart. Der Satz, dass Namensysteme einen Zugang zu Mentalitäten, Vorstellungswelten und Sozialbeziehungen erschließen, gilt auch für weit zurückliegende Zeiten. Mit welchen an heutiger Aktualität orientierten Fragen wir auch immer an Kulturen der Vergangenheit herangehen – das Namenwesen der jeweiligen Zeit ermöglicht einen Zugang, kulturelle Kontexte zu erschließen. So ist das Spektrum gegenwartsrelevanter Themen, für deren Bearbeitung die historische Namenforschung hilfreich sein kann, sicher sehr breit. Diese unmittelbare oder vermittelt hergestellte Relevanz wird eine historisch-anthropologische Beschäftigung mit Namen auszuweisen haben. Als eine neue Zugangsweise der Geschichtswissenschaft, die „neue Blicke“ verspricht, steht die Historische Anthropologie unter dem Legitimationsdruck, konkret aufzuzeigen, welchen wissenschaftlichen Ertrag sie zu erbringen vermag. Als „Historische Anthropologie in der Praxis“ ist sie herausgefordert, auch ihre Bedeutsamkeit für gesellschaftliche Praxis nachvollziehbar zu machen. Mein eigener Weg zu einer historisch-anthropologischen Namenforschung führte über die Historische Familienforschung.2 Namensysteme lassen viel an Schlüssen auf Familiensysteme zu. In einer Studie „Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte“ ging es mir vor allem um Abstammungsbewusstsein, das in Namen zum Ausdruck kommt. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildete die These, dass ein – im interkulturellen Vergleich betrachtet – relativ schwach ausgeprägtes Abstammungsbewusstsein die europäische Familien- und Gesellschaftsentwicklung maßgeblich beeinflusst habe. Mit Hilfe der Entwicklung des Namenwesens sollte diese These auch für Zeiten überprüft werden, für die wir diesbezüglich sonst nur wenig oder überhaupt keine Quellen besitzen. Namen sind ja auch für quellenarme Zeiten oft in reicher Fülle überliefert. Dabei zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen Familien- und Namensystem nicht ohne andere Kontexte des Namenwesens behandelbar ist, etwa religiöse Funktionen oder Herrschaftsstrukturen. Solche systematische Zusammenhänge mussten mitberücksichtigt werden, um die jeweiligen Codes von Namensystemen zu entschlüsseln. Beim Versuch einer solchen Decodierung erhoffte ich mir zunächst von Namenstatistiken entscheidende Einsichten. Diese wurden allerdings erst dann aussagekräftig, als ich sie mit Quellen über die jeweilige Bedeutsamkeit von Namen kombinieren konnte. Grundlegende Einsichten verdankte ich dabei lebensgeschichtlichen Zeugnissen. So war es für mich ein Schlüsselerlebnis, in der Autobiographie einer Salzburger Bergbäuerin aus den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts die Wahl eines Heiligennamens für ein Kind in ganz ähnlicher Weise als magischer 2
Vor allem Mitterauer, Ahnen und Heilige, weiters ders., „Senioris sui nomine“, 275 ff.; ders., Nachbenennung, 386 ff.; ders., Abdallah und Godelive, 47 ff; ders., Mittelalterliche Grundlagen, 1 ff.
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Schutz für die ganze Familie motiviert zu finden wie beim Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos im ausgehenden 4. Jahrhundert3. Lebensgeschichtliche Zeugnisse stellen insgesamt eine vorzügliche Quelle für die subjektive Motivation von Namengebung dar. Die populare Autobiographik soll auch bei dem hier gewählten Zugang zur Namenforschung die Grundlage bilden. Es könnte dabei deutlich werden, wie wichtig diese Quellengattung generell für historisch-anthropologische Forschung ist.
I. In der Rekonstruktion alltäglicher Lebensverhältnisse im ländlichen Raum aus Zeugnissen der popularen Autobiographik kommt man nur selten über die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Einer dieser seltenen Texte, noch dazu ein in seiner Eigenart besonders origineller, ist die Lebensgeschichte der Maria Dorfmann aus Barbian bei Klausen in Südtirol.4 Die Kleinhäuslerstochter Maria Dorfmann war mit einem Hüttenarbeiter, später Bahnarbeiter und Maurer, verheiratet gewesen. Als Witwe wurde sie 1904 als Schlossaufseherin auf die Burg Summersberg geholt. Im Dorf erhielt sie deshalb den Übernamen „Schloßmoidl“. Ihr Dienstgeber, ein volkskundlich interessierter Akademiker aus Innsbruck, regte sie dazu an, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben. Der Kern der Autobiographie entstand 1915. Die Autorin war damals 85 Jahre alt. Sie ergänzte diesen Hauptteil in der Folgezeit durch mehrere unterschiedlich lange Briefe. Der gesamte Text ist in der recht altertümlichen Mundart ihrer engeren Heimat abgefasst. Der erste Absatz dieser Lebensgeschichte lautet: „Allso in Gottesnamen! I binn geboren in Barbian 1831, den 28. Juni, eine ehliche Tochter. Meine Eltern sind Josef Mayrhofer und Maria Puntaier. Mein Vater hat mann in Jagerseppl gehoaßen und die Mueter s Brotermoidele. Sie waren halt arme Leite, der Voter hat gar nicht kot (gehabt), ower die Muater hat woll 5 Hundert Gulden kot. Haus höhn sie koas kot. Nachher sein sie in Judnhäusl innen kemmen. Dös Judnhäusl hot in Huberbauern gekert und den Namen hots Häusl geerbt, weil früher eine Familli drinn war mit einen echten Judengesicht, das der Voter von der Familli ein echtes Judngesicht kot hot. Jets sein halt mier nocher die Judnkinder geworn, der Judn Seppl und s Judn Moidele meine Eltern.“ 3 4
Ders., Ahnen und Heilige, 13 f. Kreuztragen, 16 ff.
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Bereits in dieser Einleitung der Autobiographie der „Schloßmoidl“ sind mehrere namenkundlich interessante Sachverhalte angesprochen. Die Angaben über die Eltern lassen ein doppeltes Benennungssystem erkennen. Auf beiden Ebenen werden zweiteilige Namen gebraucht. Die eine ist die der Schriftkultur. Hier wird der Taufname in seiner Vollform mit einem feststehenden Familiennamen kombiniert, bei der Mutter übrigens auch noch nach der Heirat mit dem ihrer Herkunftsfamilie. Die zweite ist die der mündlichen Kultur. Hier wird eine variierte Form des Taufnamens – bei der Mutter in einer Diminutivform – mit einem Beinamen verbunden, beim Vater mit einem Berufsnamen, bei der Mutter mit einem Hausnamen. Diese Beinamen der oralen Kultur sind weniger fixiert. Sie werden gewechselt, als das Ehepaar sich häuslich niederlassen kann. Eltern und Kinder erhalten jetzt einen von der Wohnstätte abgeleiteten Namen. Er geht seinerseits auf einen Personennamen zurück, allerdings weder auf einen Vornamen noch einen Familiennamen, sondern einen Spitznamen. „Den namen hots Häusl geerbt“ formuliert die Autorin. Durch ein Haus kann gleichsam wie im Erbgang auf der symbolischen Ebene des Namens ein Zusammenhang zwischen Vorbesitzer und Nachfolger hergestellt werden. Toponymie und Anthroponymie erscheinen hier aufs Engste miteinander verflochten – ein Zusammenhang, der uns in dieser Region immer wieder begegnen wird. Das Namensystem verweist damit auf die zentrale Stellung, die dem Haus bzw. der Hausgemeinschaft hier im Sozialsystem zukommt. Nicht unmittelbar zum regionalen Namensystem gehörig, für das Verständnis des Namengebrauchs in der Lebensgeschichte aber wichtig ist die Anrufung des Gottesnamens zu Eingang der Niederschrift. Sie drückt den religiösen Ernst aus, den die Autorin ihrem Beginnen gibt und der sich auch in den Schlussformulierungen findet. In beiden verwendet sie besondere Namensformen. Als Maria Dorfmann zum ersten Mal ihre „Schreiberei“ zu beenden gedenkt, schließt sie mit Gedanken über ihr weiteres Leben diesseits und jenseits.5 „Wenn i nur in der Enderweld not neu viel merer zu leiden krieg, nor will i schun do a bisl mit Geduld leidn, und Gott zu lieb als unnemmen wie Er es schikt. Olls zur größeren Ehre Gottes. Gelob sei Jesus Christus! Fertig geschrieben den 24. Mai 1916, Kriegsjohr. Maria Dorfmann, geb. Mayrhofer.“ Dem feierlichen Ernst dieser Schlussformulierung entspricht die gewählte Selbstbenennung. Dem Taufnamen folgt der durch die Eheschließung erworbene Familienname, dann der der Herkunftsfamilie. Dass diese Namensform von der Autorin als besonders empfunden wurde, zeigen die autobiographischen Briefe, die sie als Nachtrag zu ihrer 5
Ebd., 33.
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Lebensgeschichte verfasste. Einer von ihnen, in dem es um Alltägliches geht, ist schlicht mit Moidl Dorfmann gezeichnet.6 Die Autorin verwendete also die Rufform ihres Taufnamens auch im Schriftverkehr. Ganz anders gestaltet ist die Unterfertigung in einem letzten Schreiben, in dem sie über das Sterben ihres Mannes erzählt. Hier heißt es am Schluss:7 „Förtig geschrieben den 28. Juni 1917 alls Andenken an meinen 86sten Geburtstag. Maria Mayrhofer, verehlichte Dorfmann, in Barbian gebohrn in 28. Juni 1831. Gott sei Dank!“ Auch hier also eine religiöse Schlussformel. Auch hier in Verbindung mit ihr eine dreigliedrige Form der Selbstbenennung, diesmal allerdings in einer anderen Abfolge der Namensteile als in dem im Jahr zuvor abgeschlossenen Manuskript. Der Name der Herkunftsfamilie ist vorangestellt, vielleicht durch das Geburtstagsgedenken bedingt, das mit der Datierung verbunden wird. Maria Dorfmann hat in ihren lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen viele Namen. Allein im Schriftverkehr mit ihrem Dienstgeber, für den sie ihr Leben aufzeichnet, begegnen drei verschiedene Formen. Sie variieren offenbar nach Bedeutungsgehalt der Schriftstücke. Für den „Herrn Doktor“ ist Maria Dorfmann, wenn er über sie schreibt, schlicht die „Schloßmoidl“.8 Diese Bezeichnung findet sich jedenfalls in Anschluss an den im Ort üblichen Übernamen im Begleittext, mit dem die Autobiographie überliefert ist. In ihr selbst kommt er nicht vor. Dafür begegnen hier zwei andere Benennungen, die mit dem jeweiligen Dienstgeber bzw. dessen Haus in Zusammenhang stehen. Als Maria Dorfmann in ihrer Jugend beim Neubäck in Klausen in Dienst steht, wird sie als die „Bökndirn“ bezeichnet.9 Als Magd am Unterbihlerhof heißt sie wenig später dann die „Bihlermoidl“.10 Mit dem Wechsel der Hausgemeinschaft wechselt also auch der Name. Die erste dieser beiden Bezeichnungen ist referentiell gebraucht, die zweite vokativ. Da in der Autobiographie über viele Gespräche in direkter Rede berichtet wird, kommt der Name der Autorin sehr häufig vor und variiert nach dem jeweiligen Gesprächskontext. Direkt angesprochen wird sie in der Regel mit „Moidl“, ohne Zusatz des Haus- bzw. Dienstbeinamens. Die Diminutivform „Moidele“ kommt ein einziges Mal vor, bezeichnenderweise von einem älteren Freund der Familie verwendet, der die Autorin von kleinauf gekannt hat.11 Sie nennt ihn 6 7 8 9 10 11
Ebd., 61. Ebd., 62. Ebd., 10. Ebd., 40. Ebd., 45. Ebd., 23.
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in ihrem Text „Brugger“, „Brugger-Bauer“, „Bruggervater“ und sogar nur „Vater“, ohne weiteren Zusatz.12 In dieser Beziehung lebt offenbar die Kindheitsbezeichnung auch noch bei der verheirateten Frau weiter. Anders als Taufname und Familienname im Bereich der Schriftkultur können im Bereich der mündlichen Kultur die Benennungen stark variieren – vor allem nach Lebenszyklusphasen und innerhalb dieser nach Verkehrskreisen. Wie die unterschiedlichen Unterfertigungsformeln in Maria Dorfmanns Autobiographie zeigen, sind aber auch in der schriftlichen Namenkultur gewisse Varianten zu beachten. In einer theoretisch und methodisch wichtigen Untersuchung hat Monika Bernold herausgearbeitet, welche Beziehungen zwischen Anfangs- und Schlussformulierungen in der popularen Autobiographik bestehen und welche Bedeutung gerade den Anfangsdarstellungen einer Autobiographie für die Selbstverortung des Autors bzw. der Autorin zukommt.13 Bei Maria Dorfmann wird diese Selbstverortung durch die Geschichte vom Judenhäusel geleistet. Sie will sich dem Leser nicht primär als Maria Mayrhofer vorstellen, auch nicht als Moidl oder als Moidele. Sie will ihm erklären, warum sie und ihre Geschwister „die Judenkinder“ geheißen haben. Dieser Anfang ihres bewussten Lebens ist ihr besonders wichtig. Eine von ihrer Lebensgeschichte ausgehende Beschäftigung mit Namensformen und Namensystemen kann diese subjektiv gesetzte Bedeutsamkeit aufgreifen. Die Ableitung dieser für die Autorin besonders wichtigen Bezeichnung „Judenkinder“ ist eine recht komplizierte. Maria Dorfmann hat in ihrem handschriftlichen Text mehrere Ergänzungen angebracht, um die Entwicklung klarzumachen.14 Als sie von der „Familli mit einem echten Judengesicht“ schrieb, hat sie nach „Vater“ ein „von der Familli“ eingefügt, damit eine Verwechslung mit ihrem Vater ausgeschlossen ist. Als sie auf sich selbst und ihre Geschwister zu sprechen kam, hat sie ein „nocher“ eingefügt, um zeitlich zu stufen. Und als sie in ihrer Darstellung schließlich bei der Bezeichnung „Judenkinder“ angelangt war, hat sie offenbar bemerkt, dass ein wichtiges Bindeglied der Namensübertragung fehlte. Auch die Formulierung „der Judn Seppl und s Judn Moidele meine Eltern“ ist ein Nachtrag. Wieweit der Nebensatz „das der Vater von der Familli ein echtes Judengesicht kot hot“ eine einschränkende Korrektur gegenüber der zuvor gebrachten Information über die „Familli mit einem echten Judengesicht“ darstellt, lässt sich aus dem Schriftbefund nicht ableiten. Die Frage, ob das Judengesicht nur dem Vater der im HuberbauernZuhaus in Barbian eingezogenen Familie zugeschrieben wurde oder auch seinen Kindern, muss offenbleiben. Der Spitzname betraf jedenfalls die ganze Familie. Von ihr ging die 12 Ebd., 22 f., 56. Vgl. hier auch „Brugger Muatter“. 13 Bernold, Anfänge, 5 ff. 14 Ersichtlich aus dem Faksimile, 16.
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Bezeichnung auf das Haus über, vom Haus auf dessen nächsten Inhaber Josef Mayrhofer und seine Frau Maria, geb. Puntaier, bzw. später auch auf deren vier Kinder, von denen Maria das älteste war. Trotz der Übertragung des Namens über das Haus, die die Autorin betont, unterscheidet sich die Namensform von den aus Hausnamen gebildeten. Die ursprüngliche Form der Kombination von Spitzname und Vorname wird beibehalten. Wann im Verlauf dieses Prozesses der Spitzname seine spöttisch-karikierende Konnotation verloren hat und zum neutralen Beinamen geworden ist, lässt sich nicht rekonstruieren. Für Maria Dorfmann scheint es völlig unproblematisch gewesen zu sein, als „Judenkind“ in die Dorfgemeinschaft von Barbian aufgenommen zu werden. Für eine historisch-anthropologische Namenforschung erscheint die Erklärung besonders interessant, die Maria Dorfmann für die Entstehung des Beinamens „Jud“ bzw. des Hausnamens „Judnhäusl“ gibt. Dieser Beiname bzw. Hausname lässt sich im Ostalpenraum seit dem Mittelalter nachweisen und kommt auch sonst im deutschsprachigen Raum vor. Die ältere Familiennamenforschung in Tirol hat ihn mit einem altdeutschen Personennamen Judo in Verbindung gebracht,15 in der neueren steht die Ableitung vom Apostelnamen Judas Thaddäus im Vordergrund.16 Es lässt sich allerdings nicht nachweisen, dass dessen erster Name je als Taufname vergeben worden wäre, aus dem dann ein solcher Beiname erklärt werden könnte. Generell wird das Auftreten des Übernamens „Jud“ im deutschsprachigen Raum als Hinweis auf „Beziehungen zu Juden“ „bei Nichtjuden“17 gedeutet. Mit „Juden“ zusammengesetzte Toponyme gelten in der Siedlungsgeschichte als Indiz für ehemalige oder aktuelle Judensiedlungen.18 Bei den „Judendorf “-Namen – insbesondere des Ostalpenraums – ist das auch sicher zutreffend, nicht aber bei Einzelhöfen. Hier liegt eine Ableitung aus Beinamen von Inhabern näher, wie sie sich beim Judenhäusl in Barbian nachweisen lässt. Auch die in der Autobiographie Maria Dorfmanns gebotene Erklärung des Beinamens lässt sich wohl verallgemeinern. Spitznamen erscheinen in ganz Europa vom Mittelalter bis zur Gegenwart in hohem Maß von körperlichen Eigenheiten abgeleitet.19 Die Zuschreibung eines „Judengesichts“ ist wohl generell die entscheidende Wurzel des Beinamens „Jud“. Wie aber kam es im Bauerndorf Barbian zur Zuschreibung „eines echten Judengesichts“? „Beziehungen zu Juden“ haben dabei ziemlich sicher keine Rolle gespielt. Sehr wahrscheinlich gehen die volkstümlichen Vorstellungen, die man sich vom Aussehen von 15 16 17 18 19
Tarneller, Familiennamen, 62. Finsterwalder, Familiennamenkunde, 343. Bahlow, Namenlexikon, 265. Popelka, Judendorf, 57 ff.; Klein, Judendörfer, 65 ff. Für den deutschsprachigen Raum Bach, Namenkunde, 290 ff.
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Juden machte, auf die religiöse Bilderwelt zurück, die im „heiligen Land Tirol“ in vielfältiger Weise präsent war. Passionsdarstellungen, in denen Juden vorkamen, gab es seit der Gotik auf den Altarbildern, in figuraler Form dann in den berühmten Tiroler Fastenkrippen und seit der Barockzeit in den Kalvarienbergen.20 Bei den berühmten „Grüftljuden“ von Oberlienz etwa kann man sich gut vorstellen, welches Bild von „einem echten Judengesicht“ ein Tiroler Bauer aus religiösen Darstellungen gewann.21 Über die Emotionen, die solche Judendarstellungen auslösen konnten, berichtet eine volkskundliche Studie aus dem frühen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit dem Besuch von Kalvarienbergen an Sonntagen der Fastenzeit: „Eine gewöhnliche Sitte, richtiger Unsitte der Wallfahrer ist es, bei jenen Stationsbildern, welche Christus in den Händen der peinigenden Juden darstellen, letztere auf barbarische Weise zu verstümmeln oder zu verunreinigen, um so ihrem Ingrimm gegen die Henkersknechte des Heilandes Luft zu machen.“22 Neben den ebenso berühmten Tiroler Passionsspielen waren solche figurale Darstellungen eine wesentliche Wurzel des spezifisch religiösen Antijudaismus der Tiroler.23 „Ein echtes Judengesicht“ zu haben, war im Kontext dieses religiösen Antijudaismus eine äußerst negative Charakteristik einer Person. Derartige Stigmatisierungen aber sind ganz allgemein ein Kennzeichen für die Welt der Spitznamen.24 In der Lebensgeschichte Maria Dorfmanns findet sich kein zweites Beispiel eines solchen stigmatisierenden Spitznamens. Zweifellos hat es sie in dieser Gegend auch sonst gegeben. Einblick in diese eigenartige Welt der Spitznamen gibt eine Südtiroler Autobiographie ganz anderer Art. Etwa sechzig Jahre nach Maria Dorfmann hat der Journalist Claus Gatterer, aus Sexten nahe Innichen im Pustertal gebürtig, seine Kindheitserinnerungen aufgezeichnet.25 Um populare Autobiographik im engeren Sinne handelt es sich bei seinen Aufzeichnungen sicher nicht. Er schreibt aus der Distanz des Abgewanderten, des Städters, der in vieler Hinsicht mit seiner Herkunftswelt gebrochen hat. Die geschilderten Lebensverhältnisse haben aber viel mit denen von Maria Dorfmann gemeinsam. Das gilt auch für das Kapitel „Über die ,Neunzehnstündige‘ und andere Leute mit Übernamen“, in 20 21 22 23 24
v. Hörmann, Volksleben, 37. Abgebildet bei Hölzl, Theatergeschichte. Hörmann, Volksleben, 37. Mitterauer, „Samstagnacht“, 297. Schindler, Spitznamen, 78 ff.; Zonabend, Namen – wozu?, 232 ff.; Marrale, L’infamia del nome; McDowell, Semiotics of Nicknaming, 1 ff. 25 Gatterer, Schöne Welt.
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dem er über Spitznamen in seiner Heimatgemeinde Sexten berichtet. Die Bezeichnung „Übernamen“ wird von ihm nur auf jene boshaft stigmatisierenden Zweitnamen bezogen, nicht wie von anderen Autoren auch auf Beinamen, die von Hausnamen oder von Berufen abgeleitet sind. Seine Reflexionen über das Phänomen der Übernamen können erklären helfen, wie es zu Benennungen des Typs „Judenkinder“ kam. Mündliche Informationen über Spitznamen in Sexten aus der jüngsten Vergangenheit bringen wertvolle Ergänzungen.26 Einen interessanten Parallelfall zum Namengeber des „Judenhäusls“ in Barbian stellt der „Kofler-Kain“ in Sexten dar, von dem Claus Gatterer berichtet: „Er trug diesen Übernamen wegen des schwarzen, verwilderten Bartes, in den sich zwei unmäßig lange gelbe Schneidezähne hineinbohrten“ und weiter: „Im Leben dieses Kain gab es weit und breit keinen Abel.“27 Es war also keineswegs eine Analogie zur biblischen Geschichte von Kain und Abel im Leben des Sextener Kleinhäuslers und Totengräbers, durch die er zu seinem besonderen Übernamen kam, wie man aufs Erste vielleicht vermuten würde. Es war bloß sein Gesichtsausdruck, der die Assoziation „Kain“ wachrief. Ähnlich wie die Passionsdarstellungen eine einheitliche Vorstellung „eines echten Judengesichts“ vermittelt haben dürften, muss es auch allgemein bekannte Darstellungen gegeben haben, aufgrund derer man wusste, wie ein „Kain“ aussieht. Man kann dabei für die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts an Bilder denken, die im Religionsunterricht verwendet wurden, an illustrierte Hausbücher, aber auch an Darstellungen in der Kirche selbst.28 Auch hier ist es die religiöse Bilderwelt, die die Spitznamengebung beeinflusst. Auch hier wird eine Metapher für körperliche Merkmale zugrunde gelegt. Auch hier ist es eine Negativdarstellung der Person, die im Übernamen zum Ausdruck kommt. Nicht zur Entstehung, aber zur Weitergabe von Übernamen ist ein anderer Parallelfall interessant, von dem Claus Gatterer aus Sexten berichtet.29 „Einen beinahe tauben Nachbarn nannte man den ,Terischen‘: sein Leiden wurde so zum Gegenstand des Spottes, und der Spottname bemächtigte sich auch der Familie: Frau und Kinder des ,Terischen‘ hießen die ‚Terischen‘, obwohl ihr Gehör auch dann nicht versagte, wenn wir einander feig ins Ohr raunten: ,Schau, die Terischen!‘, und leise dazu kicherten.“ Auch hier ist es das körperliche Merkmal einer Einzelperson, das zunächst einen individuellen, dann einen 26 Ich verdanke diese Informationen Frau Mag. Margareth Lanzinger, die in Sexten aufgewachsen ist und die unter meiner Betreuung an einer Dissertation über historische Familienverhältnisse in Innichen arbeitet. 27 Gatterer, Schöne Welt, 90. Von einem „Kainszeichen“ als äußerem Merkmal ist nicht die Rede. 28 Über Kain und Abel als ein häufig auftretendes Bildmotiv christlicher Kunst: Sachs/Badstübner/ Neumann, Erklärendes Wörterbuch, 204 f. 29 Gatterer, Schöne Welt, 92.
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kollektiven Spitznamen für die ganze Familie prägt. Spätere Fälle solcher „Vererbung“ von Übernamen lassen sich diesem Beispiel an die Seite stellen.30 Um 1900 dürfte in Sexten der „Russ-Seppl“ seinen Spitznamen erhalten haben, weil er als Wanderhändler bis Russland gekommen war. Sein gleichnamiger Sohn wurde bis zu seinem Tod um 1990 mit diesem Übernamen gerufen, obwohl in seiner Lebensgeschichte keinerlei Bezug zu Rußland gegeben war. Ein späterer Gastwirt erhielt in seiner Jugend den Spitznamen „Gsitzer“, weil er das Wort „B(e)sitzer“ falsch aussprach, zugleich aber auch, weil man ihm seinen übertriebenen Stolz auf seinen neu erworbenen Hof übel nahm. Hier ging ebenso die sehr individuelle Bezeichnung auf die Kinder über. Besonders interessant ist der Fall des „Liremandl“. Er wurde so gerufen, weil er einerseits klein gewachsen, andererseits extrem sparsam bis knausrig war. Aufgrund seiner Besitzverhältnisse galt er für seine Umwelt nicht als legitimiert, ein eigenes Haus zu bauen. Auch hier besteht also ein Zusammenhang zu dem für die dörfliche Gesellschaft so wichtigen Themenkomplex Hausbesitz. Die Bezugnahme auf die italienische Währung zeigt, dass der Name erst nach 1918 entstanden ist. Nach ihm hieß zunächst sein Haus „Lireler“, dann auch seine drei Söhne, der „Lireler-Lois“, der „Lireler-Pepi“ und der „Lireler-Siegfried“. Die Parallele zum Judenhäusl und seinen Inhabern ist hier besonders deutlich. Die Übernamen der Söhne sind vom Hausnamen abgeleitet und über diesen vermittelt vom Vaternamen. Sie wurden auch von jenen Söhnen beibehalten, die nicht im Vaterhaus verblieben. Maria Dorfmann fasst dieses Phänomen der Weitergabe von individuell erworbenen Spitznamen mit der Chiffre der Vererbung. Wenn sie schreibt: „Den Namen hot’s Häusel geerbt“, so war sie sich aber natürlich der übertragenen Bedeutung bewusst, in der sie den Begriff verwendet. Dasselbe sollte für Wissenschaftler gelten, die Namen als „symbolisches Kapital“ auffassen. Namen gehen nicht nach denselben Regeln weiter wie Besitz, auch wenn häufig Erbende auch als Nachfolger in der Namensführung begegnen. Schon gar nicht gelten Regeln der Erblichkeit für Spitznamen. Diese werden ja nicht von ihren Trägern weitertradiert, sondern gerade ohne deren Zutun vom sozialen Umfeld. Und für dieses Umfeld kann die Logik der Namenskontinuität eine ganz andere sein als die Logik der Besitzkontinuität. Ein extremes Beispiel aus dem autobiographischen Bericht Claus Gatterers mag das illustrieren:31 „Eine entfernte Verwandte von uns hatte dafür zu büßen, dass ihre Mutter einst einen Polen, einen österreichischen Finanzer, geheiratet hatte. Sie hieß die ,Polakin‘, und da die Namen der Menschen zuweilen auch auf Tiere übertragen wurden, tauf30 Freundliche Mitteilung von Frau Mag. Margareth Lanzinger, Sexten/Wien. 31 Gatterer, Schöne Welt, 93.
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ten wir das Kalb, das wir von dieser Verwandten gekauft hatten, ebenfalls auf den Namen ‚Polakin‘. Mit den Jahren wurde aus dem Kalb eine schöne, gesunde und fruchtbare Kuh. Und diese ‚polakische‘ Kuh- und Kälberlinie hat sich unter dem in schwarzgelbe k. u. k. Vergangenheit weisenden, für die meisten im Tal längst unverständlichen Namen ‚Polakin‘ bis heute fortgepflanzt.“ Mehrere namenkundlich und anthropologisch interessante Themen sind in dieser Stelle angesprochen: das Verhältnis von Menschen- und Tiernamen, das viel über das Verhältnis von Mensch und Tier aussagt, die grundsätzliche Möglichkeit der Übertragung von Spitznamen auf Haustiere, ein bei Taufnamen in historischen Zeiten völlig undenkbarer Prozess, vor allem aber der Weg der Namensübertragung.32 Stellen wie diese helfen, in der Weitergabe von Spitznamen Zusammenhänge zu sehen, wo sie aus heutiger Perspektive nicht gesehen würden. Hätten wir nicht Maria Dorfmanns Erläuterung, so würde wohl kaum jemand die gedankliche Verbindungslinie rekonstruieren können, die von der Bezeichnung „Judenkind“ zum Vorbesitzer ihres Geburtshauses und von diesem zu einer Kalvarienberg- oder Fastenkrippenfigur zurückführt. Ähnlich interessant wie die Frage, auf welchen Wegen Spitz- bzw. Übernamen weitergegeben wurden, ist der Sachverhalt, ob es überhaupt zu einer Weitergabe kommt. Denn ihrem Wesen nach sind Spitznamen wie Taufnamen zunächst Individualnamen und zum Unterschied von diesen solche mit dem Charakter der Einmaligkeit. Sie sind mit der spezifischen Eigenart der benannten Person oder mit einem bestimmten Ereignis aus deren Lebensgeschichte verbunden. Bei Kindern oder Besitznachfolgern sind diese Eigenheiten meist nicht mehr gegeben. Aufgrund einer detaillierten Untersuchung der Familien- und Übernamen der Deutschtiroler Sprachinsel Pladen/Sappada in der Provinz Belluno wurde die Meinung vertreten, dass Übernamen prinzipiell von relativ kurzer Dauer sind und in der nächsten Generation neue vergeben würden.33 Das Sextener Material stützt diesen Befund nicht und auch die Geschichte des Judenhäusls in Barbian stellt ein Gegenbeispiel dar. In Sexten sind beide Formen vertreten. Die Vergeltsgottsagerin Ursula mit dem schönen Übernamen „Die Neunzehnstündige“, die Claus Gatterer in seinen Lebenserinnerungen zur Leitfigur seines Spitznamenkapitels gemacht hat, hat diesen Namen nicht weitergege32 Als ein in der Sache ganz anderer Weg der Spitznamenübertragung als die Südtiroler Beispiele der Weitergabe vom Menschen auf sein Haus bzw. vom Haus auf den Menschen oder vom Menschen auf das Haustier, der bei allen Unterschieden aber doch auch Analogien erkennen lässt, wäre der Fall der Übertragung des „soprannome“ vom Schiffsinhaber auf sein Schiff bzw. umgekehrt vom Schiff auf seinen „Patron“ in einer sizilianischen Fischersiedlung zu erwähnen. Marrale, L’infamia, 37. 87 f. 33 Hornung, Familien- und Übernamen, 9.
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ben. Im Verhältnis zu vielen mediterranen Spitznamenkulturen erscheint in Südtirol das Prinzip der Weitergabe von Spitznamen wie insgesamt deren Gebrauch eher schwach entwickelt. Für Korsika etwa konnte ein Nebeneinander von fünf verschiedenen Typen von Spitz- und Beinamen festgestellt werden, von denen jedenfalls zwei innerfamilial tradiert wurden.34 Es gab hier Beinamen, die in Verbindung mit bestimmten Vornamen vom Vater auf den Sohn oder vom Großvater auf den Enkel übergingen, weiters für alle Angehörigen eines Familienzweigs verwendete Beinamen, dann öffentlich bekannte individuelle Spitznamen, daneben nur heimlich gebrauchte und schließlich kollektive Spitznamen aller Bewohner eines Orts. In anderen Mittelmeerregionen gibt es interessante Parallelen.35 Eine derart reiche und differenzierte Spitznamenkultur fehlt im hier untersuchten Gebiet im 19. und 20. Jahrhundert. Gründe für solche Unterschiede können in der vorgelegten Skizze nur angedeutet werden. Ein Grundzug, der Spitznamen in traditionalen europäischen Kulturen gemeinsam ist, ist ihr boshaft-satirischer Charakter. Claus Gatterer schreibt resümierend über die Übernamen seiner Südtiroler Heimat zur Zeit seiner Kindheit: „Kleine Bosheiten, Unverstand, Dünkel – was war Schuld an den vielen Übernamen, die an unseren Menschen hafteten wie Flüche, bis sie zur Gewohnheit und schließlich zum Namen wurden, hinter dem niemand mehr den Übernamen vermutete? Wer vermöchte darüber Auskunft zu geben? Der Übername war eines Tages da, man lachte darüber, man fand ihn treffend, gebrauchte ihn ab und zu – wer ihn zuerst geprägt, war unerheblich, danach fragte niemand, Hauptsache, er passte auf den Betreffenden, er saß, wie ein guter Schuh am Fuß sitzen soll.“36 Aufgrund dieses Einfallsreichtums, dieser Treffsicherheit, dieser ihnen eigenen Sprachgewalt hat Norbert Schindler sehr überzeugend Spitznamen als „Kronzeugen der Kultur des Volkes“ charakterisiert.37 Aber war diese Volkskultur wirklich so böse, dass sie Menschen nur über negativ bewertete Merkmale, Eigenschaften oder Handlungen identifizieren konnte? Wenn man die Spitznamenkultur historischer Gesellschaften isoliert betrachtet, müsste man zu diesem Schluss kommen.38 Die vielen bösen und hässlichen Namen dieser Kultur sind jedoch nur eine Seite eines Namensystems, in dem die Menschen zunächst schöne und heilige Namen haben. Die Gegenwelt der Spitznamen ist eben genauso eine 34 35 36 37 38
Ravis-Giordani, Noms de personnes, 132 f. Brandes, Migration, 141 ff.; Pitt-Rivers, Spiritual kinship, 59 ff.; Marrale, L’infamia, 65 ff. Gatterer, Schöne Welt, 92. Schindler, Welt der Spitznamen, 84. Marrale, L’infamia del nome, 126, bezeichnet sie als „un museo degli orrori e degli errori“.
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Gegenwelt wie die des Karnevals oder des Rügebrauchtums, die ebensowenig für sich isoliert gesehen werden darf. Sie hat eine ähnliche Funktion, die geltende Wertordnung durch Stigmatisierung von Außergewöhnlichem und Abweichendem zu stabilisieren. Und sie dürfte auch ursächlich mit Karneval und Rügebrauchtum in Zusammenhang stehen. Dazu passt es etwa, dass Karnevalsopfer ausschließlich mit ihrem Spitznamen gerufen werden.39 Auch in den Trägergruppen scheint es Übereinstimmungen zu geben. Bei Karneval und Rügebrauchtum sind es die ledigen Burschen der Gemeinde, die als Gruppe handelnd auftreten.40 Sie sind es auch, die sich gegenseitig Spitznamen geben, ebenso aber anderen Gemeindemitgliedern. Es wäre eine interessante Aufgabe interkulturell vergleichender Forschung, der Stärke solcher Jugendgruppen und dem von ihnen getragenen Karnevals- und Rügebrauchtum einerseits, der Entfaltung von Spitznamenkulturen andererseits nachzugehen.
II. Maria Dorfmann ist nicht lange „das Judenkind“ geblieben. „Noher bold (sobald) i 8 Johr alt gewordn binn, nocher hot mi die Mueter zunn an Baurn getun, äs (dass) a mol i von der Kost binn vortkommen, ober nur lei in Summer“, schreibt sie in ihrer Lebensgeschichte. Mit zwölf Jahren wurde sie ausgeschult. „Nocher bin i nimmer hoam kemmen und binn olm (immer) ba die Baurn gewedn …“41 Leider haben wir aus diesen frühen Jahren keine Nachricht, wie sie damals genannt wurde. Gerade für die Zeit, in der sie halb zu Hause, halb bei einem Bauern im Dienst war, wäre es interessant zu wissen, mit welchem Namen sie gerufen bzw. über sie gesprochen wurde. Solche vokative bzw. referentielle Bezeichnungen sind erst aus ihrer späteren Dienstbotenzeit überliefert. Als Hausdirn beim Neubäck in Klausen heißt sie „Böckndirn“, als Viehmagd am Unterbihlerhof „Bihlermoidl“, als Schlossaufseherin auf Burg Summersberg schließlich schon als Witwe „Schloßmoidl“. Das Haus, in dem sie dient, bzw. die Hausgemeinschaft, in der sie mitlebt, ist für die Benennung entscheidend. Dieses Prinzip gilt allgemein für die in Maria Dorfmanns Lebensgeschichte erwähnten Personen. Der weitaus überwiegende Teil von ihnen wird über Häuser definiert. Innerhalb der von Hausnamen abgeleiteten Namen lassen sich zwei unterschiedliche Typen unterscheiden, für die Maria Dorfmanns Bezeichnung als „Bihlermoidl“ einerseits, 39 Pitt-Rivers, Spiritual kinship, 60. 40 Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, 174 ff. 41 Kreuztragen, 18.
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als „Böckndirn“ andererseits exemplarisch steht. Zusammensetzungen mit Kurzformen des Vornamens sind repräsentiert durch „Brotermoidele“, „Gasser Franz“, „Bruggerbarba“, aber auch „Judn Seppl“ und „Judn Moidele“, Zusammensetzungen mit Bezeichnungen für Rollen innerhalb der Hausgemeinschaft durch „Bruggerbauer“, „Martscholerbäuerin“, „Gosser Bub“, „Millertochter“, „Bruggervater“, „Bruggermueter“ oder „Böckndirn“. Der Hofname ohne Zusatzbezeichnung wird nur zur Benennung von Bauer und Bäuerin verwendet – etwa „Martscholer“ oder „Martscholerin“. Die zwei Benennungssysteme nach Hausnamen in der lokalen Öffentlichkeit entsprechen innerfamilialen Praktiken. In Südtirol war es traditionell üblich, sowohl in der direkten Kommunikation als auch im Gespräch mit Dritten statt des Rufnamens Bezeichungen nach der Stellung in der Familie zu verwenden wie „Frau“, „Mann“, „Madl“, „Bub“.42 In diesem Sinn spricht auch Maria Dorfmann in ihrer Lebensgeschichte von ihrer gleichnamigen Tochter primär vom „Gitschele“ bzw. der „Gitsche“ (d. i. Mädchen), erst in zweiter Linie vom „Moidele“ bzw. der „Moidl“.43 Unklar bleibt, wie die Bezeichnung „Vater“ (bzw. analog „Mutter“) in Verbindung mit dem Hausnamen zu verstehen ist. Um ein Teknonym, das mit leiblicher Vaterschaft zu tun hat, handelt es sich wohl nicht, auch nicht um eine Benennung für einen Altbauern. Die Bezeichnung hat sicher mit der Stellung des Bauern als Hausvater zu tun, wurde aber wohl erst ab einem bestimmten Alter oder aus einem bestimmten Altersabstand gebraucht. Weitgehend analog zu den Hausnamen wurden im lokalen Benennungssystem die Berufsnamen verwendet. Bei hausgebundenen Berufen wie Bäcker oder Müller war zwischen Haus- und Berufsbezeichnungen ohnehin nicht exakt zu trennen. Berufsnamen finden sich in Maria Dorfmanns Autobiographie hauptsächlich bei Personen, die kein Haus besitzen. Ihr Vater Josef Mayrhofer wird zunächst als „Jagerseppl“ vorgestellt. „Haus hobn sie koas kot“ schreibt die Autorin. Als der „Jagerseppl“ ins „Judenhäusl“ einzieht, wird er zum „Judn Seppl“.44 Er scheint das Haus nicht selbst besessen zu haben. Es gehörte nach der von Maria Dorfmann gewählten Formulierung offenbar weiterhin dem Huberbauern. Josef Mayrhofer war also nur Inwohner. Für die Benennung in der lokalen Gemeinde scheint nicht der Rechtstitel entscheidend gewesen zu sein, unter dem man selbständig wohnte, sondern diese Tatsache selbst. Auch Maria Dorfmanns Gatte Josef tritt in der Autobiographie mit einem Berufsnamen auf. Er wird zumeist als der „Schmölzer Seppl“ bezeichnet, mitunter nur als „der Schmölzer“ und nach der Eheschließung natürlich vorwiegend als „der Seppl“.45 Dass er mit einem Berufsnamen und nicht mit einem Hausnamen 42 43 44 45
Masser, Tradition und Wandel, 100. Kreuztragen, 24 ff. Ebd., 17. Ebd., 39.
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bezeichnet wird, hat primär mit seiner Wohnsituation zu tun. Als Hüttenarbeiter verfügte er zunächst noch nicht über ein Kleinhaus, sondern lebte wie die meisten seiner Arbeitskollegen „in Quartier“.46 Beim „Bruggervater“ verbrachte er schon vor seiner Hochzeit drei Jahre als Inwohner und verblieb hier noch einige Zeit mit seiner jungen Frau. Zum Unterschied von Dienstboten wurden offenbar Inwohner nicht nach dem Haus bezeichnet, in dem sie wohnten. Das hat nichts mit unterschiedlicher Verweildauer zu tun. Josef Dorfmann dürfte insgesamt etwa 13 Jahre beim Brugger gewohnt haben, seine Frau Maria etwa zehn. Trotzdem wurde er nicht zum „Brugger Seppl“ und sie nicht zur „Brugger Moidl“. Nach dem Unterbihler-Hof, auf dem sie viel kürzer lebte, wurde sie „Bihler Moidl“ gerufen. Entscheidend für die Benennung nach dem Haus war offenbar nicht die Verweildauer, sondern die Form der Integration in die Hausgemeinschaft. Bei Dienstboten bewirkte sie Familienzugehörigkeit, bei Inwohnern nicht. Erst mit 35 Jahren wurde Josef Dorfmann Hausbesitzer. 1868 kaufte er zusammen mit seiner Frau Maria das Teiserhäusl in Gufidaun.47 Ob er nun für seine Umgebung vom „Schmölzer Seppl“ zum „Teiser Seppl“ wurde, erfahren wir nicht. Es ist durchaus möglich, dass ihm die Benennung nach dem Beruf nach so langer Zeit weiterhin erhalten blieb. Nach Kleinhäusern wurde nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit nachbenannt, wie nach Bauernhöfen. Diese hatten seit Jahrhunderten feststehende Namen. Anders die Kleinhäuser. Wie das Beispiel des „Judenhäusls“ gezeigt hat, konnte bei einem solchen Kleinhaus der Name nach einem neuen Inhaber geändert werden. Es war also eine viel geringere Stabilität der Hausnamen gegeben. Auch die Stabilität der Bewohner war geringer als bei Bauernhöfen. Die Inhaber bzw. die Mieter wechselten viel häufiger. Toponymie und Anthroponymie gingen deshalb eine viel schwächere Bindung ein. Dementsprechend konnten sich Berufsnamen stärker durchsetzen. Kleinhäusler lebten ja meist auch nicht primär von der Landwirtschaft, sondern von einer anderen Erwerbsquelle, die mit einer Berufsbezeichnung charakterisiert werden konnte. Auch Spitznamen finden sich übrigens häufiger bei der nichtbäuerlichen Bevölkerung. So zeigt das volkstümliche Benennungssystem starke schichtspezifische Unterschiede. Dass nicht die ganze lokale Bevölkerung des Untersuchungsgebiets nach Hausnamen charakterisiert wurde, hat mit unterschiedlich starken Bindungen an Häuser bzw. Hausgemeinschaften zu tun. Für welche Verkehrskreise der lokalen Bevölkerung das Benennungssystem nach Hausnamen, aber auch nach Berufs- und Spitznamen galt, lässt sich aus der Autobiographie Maria Dorfmanns nicht klar erkennen. Außerhalb standen jedenfalls lokale Honoratioren wie die Berg- und Hüttenwerksbeamten oder der Pfarrer. Von ihnen wird formell mit dem 46 Ebd., 22. 47 Ebd., 24 f.
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Familiennamen in Verbindung mit „Herr“ gesprochen. Wenn der Vorname genannt ist, so in seiner Vollform. Obwohl mit einer Cousine Maria Dorfmanns verheiratet, findet der Bahnaufseher von Klausen, zugleich zeitweilig Dienstgeber Josef Dorfmanns, distanziert als „Herr Bahnaufseher“ Erwähnung.48 Der Lehrherr Josef Dorfmanns im nahen Villnöß, ein Maurermeister, wird als Josef Noflaner erwähnt,49 ganz anders also als die bäuerlichen Dienstgeber der Autorin. Regional lässt sich der Kreis der mit Hausname und Kurzform des Vornamens bezeichneten Personen nicht klar abgrenzen. Er geht jedenfalls über Dorf und Pfarre hinaus. Menschen, die außerhalb dieses Kreises stehen, werden mit einem anderen Namentypus charakterisiert – einem Namentypus, den es zwar auch innerhalb gibt, der aber hier im Alltagsleben keine Verwendung findet.
III. Fast alle Familiennamen, die Maria Dorfmann in ihrer Lebensgeschichte erwähnt, leiten sich von Hausnamen ab: Dorfmann ist ein Hofname in Latzfons nahe Barbian. Puntaier nimmt Bezug auf den Ponthair-Hof in Barbian selbst. Als Wurzel von Mayrhofer kommen verschiedene Wohnstätten dieses Namens in Betracht. Umgekehrt lassen sich die meisten der erwähnten Hausnamen auch als Familiennamen nachweisen. Das gilt für Broter/Prater, Brugger, Bihler/Pichler oder Marschall/Marscholler.50 Auch Berufsnamen wie Jäger und Schmölzer oder Spitznamen wie Jud haben den Charakter von Familiennamen angenommen, oft wohl über Hausnamen vermittelt. Allen diesen verschiedenen Formen von Beinamen, „Vulgo-Namen“, „Dorfnamen“ oder Übernamen in einem weiten Verständnis des Begriffs liegen also die gleichen Benennungsprinzipien zugrunde wie den Familiennamen. Maria Dorfmanns Einleitung ihrer Lebensgeschichte zeigt, wie stark solche hausgebundenen Namen auf die „Familli“ bezogen wurden. Aus der Sicht der Betroffenen könnte man sie also durchaus auch als „Familiennamen“ bezeichnen. Unser heutiges Wortverständnis von „Familienname“ ist freilich von einem anderen Benennungssystem geprägt – einem Benennungssystem, das auch schon in die Welt der Maria Dorfmann eingedrungen war, in ihrem Alltagsleben allerdings nur eine untergeordnete Rolle spielte. Maria Dorfmann kategorisiert die von ihr verwendeten Namen nicht. Sie hätte – danach gefragt – ihren Familiennamen vielleicht „Schreibnamen“ genannt. Die Grenze zwischen 48 Ebd., 29. 49 Ebd. 50 Belege bei Finsterwalder, Familienkunde, im speziellen Teil.
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unterschiedlichen Bezeichnungen von Familien entspricht jedenfalls im Wesentlichen der zwischen mündlicher und schriftlicher Kultur. Dass sich – von einer gemeinsamen Grundlage ausgehend – volkstümlich gebrauchte Hausnamen und amtlich verwendete Familiennamen in eine unterschiedliche Richtung entwickelt haben, hängt mit den Kriterien ihrer Weitergabe zusammen. Und diese Kriterien sind von einem unterschiedlichen Familienverständnis bestimmt. Dem patrilinear-abstammungsorientierten Konzept der offiziellen Familiennamen steht das an der Hausgemeinschaft ausgerichtete der „Vulgo-Namen“ gegenüber. Für administrative Bedürfnisse war das Letztere wenig geeignet. Wenn eine Person jeweils mit dem Wechsel der Hausgemeinschaft auch ihren Namen wechselte, war sie für die Obrigkeit schwierig zu identifizieren. Abstammungsorientierte Familiennamen ermöglichten demgegenüber Namenskontinuität im individuellen Leben und in der Generationenfolge der Familie. An einer solchen Kontinuität war die Urbarverwaltung mittelalterlicher Herrschaften interessiert.51 In Tirol hat sie wesentlich zur Ausbildung hausunabhängiger Familiennamen beigetragen. Ein Gleiches gilt in der frühen Neuzeit für staatliche Institutionen, vor allem im Bereich von Steuer- und Militärwesen. Sehr wesentlich hat aber auch die kirchliche Administration zur Durchsetzung abstammungsorientierter Familiennamen beigetragen, und zwar durch ihre seit dem Tridentinum entwickelte Registrierung in den Pfarrmatriken.52 Im Taufsakrament selbst erhielt der Mensch zwar weiterhin nur einen Heiligennamen als Taufnamen. Und auch bei Hochzeit und Begräbnis wurde er ausschließlich mit diesem angesprochen. In die Kirchenbücher aber wurde der Taufname in Verbindung mit dem Familiennamen eingetragen. Das mag ihm im Bewusstsein der Bevölkerung auch eine gewisse religiöse Bedeutsamkeit verliehen haben. Der Gebrauch des Familiennamens in der Autobiographie Maria Dorfmanns gibt Hinweise in diese Richtung. Sicher bedeutet der Familienname im Vergleich zum Hausnamen nicht bloß eine von außen oktroyierte, vielleicht sogar abgelehnte Fremdbezeichnung. Er gehörte auch zur persönlichen Identität, allerdings in einem ganz anderen Sinne als die im alltäglichen Sprachgebrauch verwendeten „Vulgo-Namen“. Zur Identität Maria Dorfmanns gehörte – der Unterfertigung ihrer lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen nach zu schließen – nicht nur ein Familienname, sondern zwei. Sie unterschreibt 1916 mit „Maria Dorfmann geb. Mayrhofer“, im nächsten Jahr aber mit „Maria Mayrhofer verehelichte Dorfmann“. Es wäre interessant, der Frage nachzugehen, inwieweit Frauen – unabhängig vom jeweils geltenden Namensrecht – solche Ausdrucks51 Ebda, 6 f. 52 Vroonen, Noms de personnes, 137. Beachtenswert erscheint, dass in Tiroler Pfarrmatriken gelegentlich statt des Familiennamens der Hausname verwendet wird (freundliche Mitteilung von Frau Mag. Margareth Lanzinger).
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formen ihrer Identität wählten. Durch die Reihung der beiden Familiennamen konnten dabei unterschiedliche Akzente gesetzt werden. Auf individuelle Gründe, warum Maria Dorfmann in ihrem letzten lebensgeschichtlichen Text den Familiennamen ihrer Herkunftsfamilie vorangestellt haben dürfte, wurde schon eingegangen. Es gab dafür aber auch allgemeine. In manchen Gebieten Tirols hielt sich sehr lange der Brauch, dass verheiratete Frauen ausschließlich ihren Herkunftsnamen führten.53 Es könnte sein, dass diese Sitte erb- und besitzrechtliche Gründe hatte. In einer Region mit solchen Traditionen war der Gebrauch beider Namen dann nichts besonders Auffälliges. Jedenfalls zeigt sich, dass auch ein rechtlich fixiertes Familiennamensystem einen gewissen Spielraum für die Entwicklung von Varianten und Sonderformen bieten konnte. Im Vergleich zu den nach genealogischer Abstammung festgelegten Familiennamen stellen die volkstümlich verwendeten Beinamen – die Hausnamen, Berufsnamen, Spitznamen – ein weit flexibleres System dar. Hier kann Neues entstehen, und wir können beobachten, wie dieses Neue entsteht. Am Beispiel des Judenhäusls in Barbian wurde ein solcher Prozess der Entstehung eines Übernamens für eine Person, deren Familie und deren Haus zu rekonstruieren versucht. Populare Autobiographik gibt dafür Ansatzpunkte. Oral History könnte diesbezüglich – wie die Informationen aus Sexten zeigen – viel Zusätzliches leisten. Im Bereich der Familiennamen stehen uns solche Zugänge nicht mehr offen. Aber es kann aus dem flexiblen System der sich bis in die jüngste Vergangenheit und vielfach bis in die Gegenwart dynamisch weiterentwickelnden „VulgoNamen“ auf frühe Stufen des späterhin erstarrten Familiennamensystems zurückgeschlossen werden. Denn rückwärtsschreitend konvergieren die Entwicklungslinien. Vor der Festlegung der Familiennamen auf personale und genealogische Kontinuität lässt sich kein Unterschied ausmachen, scheinen beide Systeme eine Einheit gebildet zu haben.
IV. Mit ihrem zweifellos wichtigsten Namen begegnet Maria Dorfmann in ihrer Lebensgeschichte erst ganz an deren Ende. Bloß in den beiden Schlussformulierungen nennt sie sich mit ihrem Taufnamen Maria. Alle anderen Nennungen ihrer Person – gleichgültig ob vokativ oder referentiell – lauten auf Moidl. Einmal wird, wie schon erwähnt, die Kurzform Moidele gebraucht. Nun kann sicher kein Zweifel bestehen, dass die Benennung Moidl stets eine Maria meint. Aber Moidl und Maria bedeuten nicht dasselbe. Das sei am 53 Mair, Fügen und Fügenberg, 459.
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Beispiel eines namengeschichtlichen Interviews erläutert, das in Maria Dorfmanns Südtiroler Heimat geführt wurde.54 „Im Jahre 1973 bestätigte eine alte Frau, die zu Ende des vorigen Jahrhunderts geboren wurde, im Gespräch, dass sie ihr ganzes Leben lang ‚Moidl‘ genannt worden sei. Sie fand das auch vollkommen in Ordnung, und sie wehrte entschieden die Frage ab, ob sie es nicht vielleicht lieber gehört hätte, wenn sie Maria gerufen worden wäre: Keineswegs, sagte sie und gab zu verstehen, dass sie das als unpassend, als anmaßend, ja geradezu als lästerlich empfunden hätte, denn Maria, das ist der Name der Gottesmutter. Sie selbst war zwar auf den Namen der Gottesmutter getauft worden, aber es kam ihr in ihrem schlichten Verständnis nicht zu, diesen hohen Namen für sich selbst in ihrem bescheidenen Alltag zu verwenden. Andere Gewährspersonen der gleichen Altersgruppe aus den verschiedenen Gegenden des Untersuchungsgebietes gaben Entsprechendes an. Es hätte sich ‚früher‘ niemand getraut, so versicherten sie, die eigenen Kinder so ‚hearisch‘ zu heißen, das heißt sie mit einer so vornehmen, hochmütig und aufgeblasen klingenden Namensform, wie es der offizielle Taufname darstellt, zu rufen.“ Dem Leser dieser Zeilen stellt sich die Frage: Wem gegenüber hätte man sich früher nicht getraut, seine Kinder so ‚hearisch‘ zu rufen? War es ein Problem der sozialen Schichtzugehörigkeit, dass man den offiziellen Taufnamen nicht benützte? Die Wortwahl „vornehm“, „hochmütig“, „aufgeblasen“ könnte in diese Richtung gedeutet werden. Aber das ist Interpretation der Interpretation. „Hehr“ bedeutet erhaben, „heilig“ und das sind Heiligennamen wegen der „Heiligkeit“ ihrer ersten Träger, deretwegen bei der Taufe nach ihnen nachbenannt wird. So wird der Kommentar jener 1973 interviewten Moidl, dass sie es als lästerlich empfunden hätte, Maria gerufen zu werden, den Sachverhalt schon besser treffen. Es ist eine bis auf frühchristliche Zeit zurückreichende Tradition, dass besonders heilige Namen überhaupt nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen in ihrer Vollform verwendet werden dürfen.55 Die durch Weglassung eines Buchstabens oder einer Silbe bzw. durch partielle Veränderung entstandenen Namensformen lassen sich dann nicht im Sinne des in der Namenkunde häufig zitierten Typus der „Kurz- und Kosenamen“ begreifen. Mit „Kosenamen“ haben so entstandene Kurznamen ihrer Genese nach nichts zu tun. Als „Koseform“ wird „Moidl“ in der Südtiroler Bevölkerung bis heute nicht angesehen.56 Nur die zugehörige Diminutivform „Moidele“ wird so interpretiert. Auch in Maria
54 Masser, Tradition und Wandel, 103. 55 Roberts, Manuscript, 26 ff.; Mitterauer, Ahnen und Heilige, 97 ff., 109, 118, 129, 171, 177, 179, 196, 210, 264. 56 Masser, Tradition und Wandel, 102.
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Dorfmanns Autobiographie begegnet sie mehrfach in diesem Verständnis.57 Zur Vollform des Namens Maria hingegen findet sich hier keine Diminutivform. Was für Maria Dorfmanns eigenen Namen gilt, gilt auch für die aller anderen in ihren lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen erwähnten Personen: Im alltagssprachlichen Verkehr wird nie die Vollform des Taufnamens gebraucht. Statt Barbara wird Barba, statt Katharina Trina, statt Anna Nandl, statt Josef wird Seppl oder Seppele, statt Michael Much oder Michele, statt Alois Luis, statt Franziskus Franz verwendet. Dieser Namengebrauch hat in Tirol eine sehr weit zurückreichende Tradition. Für die Namensform Sepp etwa wird angenommen, dass sie noch auf die Zeit vor 1000 zurückgeht.58 Es erscheint fraglich, ob man diesen Namentypus richtig charakterisiert, wenn man sie als „Rufnamen in der Mundart“ den Taufnamen als „Rufnamen“ im Allgemeinen an die Seite stellt.59 Liest man Maria Dorfmanns Autobiographie, so hat man den Eindruck, dass sie die eigentlichen Rufnamen sind, während es sich bei den Taufnamen gar nicht um Ruf-, sondern viel eher um Schreibnamen handelt. Die Quelle ist diesbezüglich durchaus für traditionelle Verhältnisse in Südtirol repräsentativ. Der Taufname begegnet zuerst im Taufschein und dementsprechend in den Pfarrmatriken, dann im Schriftverkehr mit Ämtern und Behörden sowie in Personaldokumenten und schließlich am Epitaph des Grabkreuzes.60 Mit der einleitenden und abschließenden Nennung der Taufnamen ihrer Eltern bzw. des eigenen Taufnamens hat Maria Dorfmann ihre Lebensgeschichte gleichsam als ein Personaldokument gestaltet. Die Formulierung, mit der sie schließt, könnte so auch ihre Grabinschrift sein. Maria Dorfmann trug den zu ihrer Zeit in Tirol weitaus am häufigsten vergebenen weiblichen Taufnamen.61 Auch ihre Mutter hieß so, ebenso ihre Tochter. Namensgleich waren weiters ihr Vater, ihr Gatte und ihr früh verstorbener Bruder. Josef nahm damals unter den männlichen Taufnamen den Spitzenplatz ein.62 Nach wem erhielten diese verschiedenen Moidls und Seppls in der Familie Mayrhofer-Dorfmann ihre Taufnamen? Waren sie nach den besonders verehrten Vorbildgestalten der Heiligen Familie benannt? 57 Kreuztragen, 24 ff. 58 Finsterwalder, Familiennamenkunde, 34. Die formale Beschreibung des Phänomens als „Erstsilbenschwund durch kirchenlateinische Betonung“ (ebd., 100) stellt letztlich keine befriedigende Erklärung dar. Soll es der Betonung wegen zu einem „Schwund“ gekommen sein? Warum tritt er dann nicht auch bei den gleich betonten Ortsnamen nach Kirchenpatronen auf? Warum tritt er nicht bei allen auf der zweiten Silbe betonten Taufnamen auf? Warum konnte sich beim Taufnamen Josef neben Sepp auch die mundartliche Form Joos ausbilden? Masser, Tradition und Wandel, 102. 59 Masser, Tradition und Wandel, 100 ff. 60 Ebd., 101. 61 Ebd., 2.1 ff., 123,165. 62 Assmann, Taufnamengebung, 25; Masser, Tradition und Wandel, 117, 152.
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Oder handelte es sich um innerfamiliale Nachbenennung? Maria Dorfmanns Autobiographie gibt uns diesbezüglich keinen Hinweis. Als Alternative formuliert ist die Frage der Nachbenennung nach Ahnen oder nach Heiligen falsch gestellt. Die seit dem Hochmittelalter auch in Mitteleuropa verbreitete Sitte der Vergabe von Heiligennamen ermöglichte eine doppelte Bezugnahme.63 Man konnte sich den Schutz eines heiligen Namenspatrons sichern und zugleich einen Angehörigen durch Aufgreifen seines Namens ehren. Welches Motiv bei der Taufnamenwahl jeweils im Vordergrund stand, dafür gibt es einige Anhaltspunkte. Sehr verbreitet war in Tirol die Sitte, Kindern den Namen des Tagesheiligen ihres Geburts- oder Tauftags bzw. eines unmittelbar darauffolgendes Tages zu geben. An seinem Festtag wurde der oder die Heilige als besonders wirkkräftig gedacht.64 Namengebung nach Tagesheiligen darf als primär auf den Heiligen bezogen interpretiert werden, auch wenn ein naher Verwandter denselben Namen trug. Bei Maria Dorfmann ist das nicht der Fall. Sie wurde am 28. Juni geboren und der Sitte der Zeit entsprechend wohl schon an einem der nächsten Tage getauft. Der Maria-Himmelfahrts-Tag am 15. August lag zu weit entfernt, um sich die „Kraft des Tages“ noch sichern zu können. In einem Bericht über das Volksleben in Tirol aus dem frühen 20.Jahrhundert heißt es über die Taufnamengebung generell: „Den ersten Buben nennt man gewöhnlich nach dem Vater, den zweiten nach dem Großvater, die Mädchen nach der Mutter und Großmutter. Für die späteren Kinder wählt man die Namen von Bekannten und ‚großen Heiligen‘ vor allem einen Hans, einen Josef, eine Maria und eine Anna, wenn nicht bereits die Erstgeborenen so heißen. Die Stubaier sagen: Chrusta (Christian), Mucha (Michael) und Honsa (Hans) sind die drei ‚stärksten‘ Namen.“65 Für die Klausener Gegend ist der Brauch, die ersten Kinder nach den Eltern nachzubenennen, durch die Analyse von Kirchenbüchern gut belegt.66 Aber auch Maria und Josef als „große Heilige“ wurden hier besonders verehrt. So kann die Frage der Nachbenennung in der Familie Mayrhofer/Dorfmann auch nicht klar als eine nach den Eltern entschieden werden. Das wäre bei der Weitergabe seltener auftretender Heiligennamen eher möglich. Maria Dorfmann betont im Bericht über ihre Geburt in der Einleitung ihrer Lebensgeschichte sehr nachdrücklich: „ein eheliche Tochter“.67 In ihrem Herkunftsgebiet wurde 63 Mitterauer, Ahnen und Heilige, 17 f. 64 Sterner-Rainer, Bäuerliche Taufnamen, 161 ff.; Assmann, Taufnamengebung, 33; Masser, Tradition und Wandel, 65 ff.; Mitterauer, Ahnen und Heilige, 351 ff. 65 Hörmann, Volksleben, 407 66 Masser, Tradition und Wandel, 107 ff. 67 Kreuztragen, 17.
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der Name Maria im 19. Jahrhundert häufig an uneheliche Kinder vergeben. 68 Die Tauf namengebung unehelicher Kinder erscheint in Südtirol besonders interessant. Es gab diesbezüglich sehr unterschiedliche Praktiken.69 Bei unehelichen Kindern mischten sich die Ortsgeistlichen in die Namensentscheidung ein. Es gab Pfarrer, die die Meinung vertraten, uneheliche Kinder bedürften in besonderer Weise des Schutzes der Gottesmutter oder des heiligen Josef. Andere wiederum waren davon überzeugt, dass die Namen der großen Heiligen solchen Kindern vorzuenthalten seien. Diese sollten viel mehr durch ungewöhnliche Namen als „Kinder der Sünde“ gebrandmarkt werden. Beide Standpunkte bewirkten Regelhaftigkeiten der Namengebung – allerdings in einem völlig unterschiedlichen Sinne. Namenkundliche Analysen, die primär statistisch vorgehen, stoßen bei solchen Phänomenen an ihre Grenzen. Die Bedeutung quantifizierender Zugangsweisen soll mit diesem Hinweis nicht in Frage gestellt werden. Solche Zugangsweisen bedürfen bloß immer wieder der Ergänzung durch Informationen über die Motive der Namengebung. Gerade bei Taufnamen müssen unterschiedliche Formen religiöser Bedeutsamkeit besonders beachtet werden. Lebensgeschichtliche Zeugnisse sind für solche Motive und Bedeutungen eine sehr geeignete Quelle. Die in ihrer Art sicher einmalige Autobiographie der Maria Dorfmann zeigt zunächst, wie viele Namen eine Person damals im Lauf ihres Lebens haben konnte. Insbesondere die Fremdbenennungen wechselten vom „Judenkind“ bis zur „Schloßmoidl“ mehrfach. Aber auch die Selbstbenennungen zeigen verschiedene Varianten. Sich mit unterschiedlichen Namen zu präsentieren, bedeutete offenbar für die Konzeption der eigenen Identität kein Problem.70 Die verschiedenen in der Autobiographie gebrauchten Namen variieren nach Lebensphasen und nach Verkehrskreisen. Die Diminutivform „Moidele“ ist ein Kindheitsname, der wohl von der Familie ausgehend vereinzelt weiter gebraucht wurde. Auch „Judenkind“ gehört dieser Frühphase an, allerdings in einem größeren Kommunikationskreis verwendet. In der Jugendphase tritt die Erwachsenenform des Rufnamens in den Vordergrund, kombiniert mit den Hausnamen der jeweiligen Dienstgeber. Dieser Hausname begegnet auch in Verbindung mit der Rollenbezeichnung innerhalb der Hausgemeinschaft. „Schloßmoidl“ ist ebenfalls ein vom Haus des Dienstgebers abgeleiteter Name, allerdings nicht aus einer familialen Lebensgemeinschaft mit diesem stammend, so dass er ebenso als Wohnstättenname aufgefasst werden könnte. Diese „Vulgo-Namen“ der Alltagskommunikation stehen in der Lebensgeschichte im Vordergrund. Taufnamen und offizielle Familiennamen treten nur singulär auf, dann aber in herausgehobener Stellung. 68 Masser, Tradition und Wandel, 78. 69 Ebd., 29. 70 Darauf verweist nachdrücklich für ihr französisches Untersuchungsgebiet auch Zonabend, Namen – wozu?, 243.
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Sie spielen keineswegs eine nebensächliche Rolle. Primär gehören sie der Schriftkultur an, so dass man eigentlich beide als „Schreibnamen“ bezeichnen könnte. Eine Trennung in Namen der schriftlichen und der mündlichen Kultur wird der hier analysierten Namenkultur allerdings nicht voll gerecht. Die vielen Namen der Maria Dorfmann bzw. die vielfältigen Namensformen, die sie in ihrer Autobiographie erwähnt, erlauben es nicht, für das Untersuchungsgebiet von einem System der Zweinamigkeit zu sprechen. Die europäischen Namensysteme werden seit dem Aufkommen von Familiennamen bzw. Zweitnamen im Mittelalter in der Regel so charakterisiert. Damit ist aber nur die Ebene der Schriftkultur erfasst, und auch diese wohl nur in ungenügender Weise. Für weit zurückliegende Zeiten fehlen freilich Zeugnisse, die uns die mündlich tradierte Namenkultur erschließen könnten. Dass Oral-HistoryInterviews bzw. in popularer Autobiographik gefasste mündliche Traditionen bis zurück ins Mittelalter Rückschlüsse ermöglichen können, wurde an Einzelbeispielen angedeutet. Ob sich die innere Vielfalt historischer Namensysteme durch bestimmte quantitative Angaben über konstitutive Namentypen überhaupt befriedigend beschreiben lässt, darf insgesamt bezweifelt werden. Die Autobiographie Maria Dorfmanns zeigt, dass sich einzelne Namentypen oft gar nicht klar gegeneinander abgrenzen lassen. Handelt es sich bei Moidl und Maria um denselben Namentyp? Ist Moidele als Diminutivform von Moidl zu differenzieren? Waren „Juden Seppl“, „Juden Moidl“ und „Judenkinder“ Spitznamen oder Hausnamen? Sicher – man braucht Kategorien von Namentypen. Es kann aber auch durchaus interessant sein, dass historische Wirklichkeit von einem solchen Kategorienschema nicht befriedigend zu erfassen ist. Für die namenkundliche Forschung werden meist zusätzliche Namentypen innerhalb eines Systems immer dann notwendig, wenn Träger gleicher Namen nicht mehr unterscheidbar sind: Die Verbreitung der Heiligennamen seit dem Hochmittelalter hatte differenzierende Zweitnamen nötig gemacht; wenn in einem Dorf nur wenige Familiennamen auftraten, bedurfte es einer zusätzlichen Bezeichnung nach Hausnamen, etc. Die Differenzierungsfunktion von Namen ist sicher eine sehr wichtige – aber sicher nicht die einzige und auch nicht immer die primäre. Heiligennamen, die bei der Taufe vergeben werden, haben eine Schutz- bzw. eine Vorbildfunktion. Sie konstituieren Beziehungen zwischen irdischer und überirdischer Welt. Namen von Vorfahren, die einem Kind gegeben werden, können Ausdruck von Pietät sein, ebenso aber auch von einer intendierten Vorbildwirkung. Kosenamen sollen Emotionen ausdrücken; Spitznamen u. a. die Werteordnung einer lokalen Population stabilisieren. Das sind nur ausgewählte Beispiele aus dem hier untersuchten Material. Jede Festlegung eines bestimmten Namentyps auf eine bestimmte Funktion würde unzulässig verkürzen und den Blick auf die Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten verstellen, die ein Namensystem beinhalten kann.
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Um die Inhalte, die in einem Namensystem zum Ausdruck kommen, geht es letztlich bei der Analyse von Namensystemen, nicht um eine formale Beschreibung der das System konstituierenden Elemente. Für das hier am Beispiel der Lebensgeschichte Maria Dorfmanns vorgestellte Namensystem einer Region im Südtiroler Eisacktal lässt sich zusammenfassend sagen, dass es sich um ein besonders stark am Haus orientiertes System handelt. Das Namensystem erscheint diesbezüglich als Ausdruck eines spezifischen Sozialsystems. Eine solche Aussage lässt sich allerdings nicht allein auf der Basis der biographischen bzw. lokalen Mikroanalyse machen. Nur in einem regionalen und überregionalen Vergleich eingeordnet wird die Mikrogeschichte zu einer aussagekräftigen Fallstudie. Ein solcher Vergleich wurde explizit durchgeführt, wenn etwa zur Klärung der Rolle von Spitznamen in diesem System und insbesondere ihres Verhältnisses zu Hausnamen Informationen aus einer anderen Südtiroler Gemeinde, aber auch aus Korsika, Sizilien und Andalusien herangezogen wurden. Implizit war ein solcher Vergleich überall dort gegeben, wo Wissen um ähnlich oder auch um ganz anders strukturierte Namensysteme in Fragestellungen und Interpretationen der lokalen Analyse eingeflossen sind. Bezogen auf die Bedeutung hausorientierter Namen kann diesbezüglich auf die Ähnlichkeit der Verhältnisse im Eisacktal mit denen im Unterinntal verwiesen werden, wo ebenso Hofnamen den Grundstock der Familiennamen bilden, aber auch zum westlichen Tirol, wo diese primär aus Beinamen entwickelt wurden.71 Die Ursache solcher Unterschiede bilden Bedingungen des Erbrechts – Anerbenrecht im Osten, Freiteilbarkeit im Westen – die ihrerseits wieder auf unterschiedlichen Einfluss der Grundherrschaft zurückgehen und in unterschiedlichen Siedlungsformen ihren Ausdruck finden. Freiteilbarkeit führt zu Güterzersplitterung und Hausteilung mit geringer Kontinuität von Hausnamen. Dass Kleinhäuser wenig stabile Namen tragen, die häufig nach dem jeweiligen Besitzer wechseln, ist auch in Anerbengebieten des Ostalpenraums vielfach zu beobachten.72 Die Namengeschichte rund um das Judenhäusl in Barbian lässt sich in diesem allgemeinen Kontext interpretieren, und damit in Zusammenhang der Anteil von Berufs- und Spitznamen. Dass die Letzteren im Vergleich zu mediterranen Spitznamenkulturen relativ schwach entwickelt sind, hat wohl wieder mit der Dominanz der Hausnamen zu tun. Diese traten in Sammelsiedlungen zurück. Zu bedenken ist sicher auch, dass im Mittelmeerraum aus klimatischen Gründen das Haus als Bezugspunkt der Lebenswelt nicht die gleiche Rolle 71 Finsterwalder, Familiennamenkunde, 136, 143, 153. 72 Dies kann sehr anschaulich an den Hausbezeichnungen in einer Abfolge von Seelenbeschreibungen gezeigt werden, wie sie für viele Pfarren des Ostalpenraumes seit der Mitte des 16. Jahrhunderts überliefert sind. Im Detail wurde diesbezüglich als Vorstudie der hier vorgelegten Arbeit die „Häuserkunde“ der Pfarre Dorfbeuern bei Salzburg untersucht (Kopie im Archiv der „Wiener Datenbank zur europäischen Familiengeschichte“).
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spielt wie in Mittel- oder Nordeuropa. Wie im Vergleich zu mediterranen Namenkulturen die Schwäche der Spitznamen auffällt, so im Vergleich zu südost- und osteuropäischen, durchaus aber auch zu skandinavischen, das Defizit an abstammungsorientierten Namenselementen. Patronyme fehlen gänzlich, ebenso von Stammvaternamen abgeleitete Geschlechter- bzw. Familiennamen. Die jeweilige Hausgemeinschaft, in der eine Person lebt, steht im Vordergrund, nicht ein patrilinearer Abstammungsverband, dem sie angehört. Das Namensystem, das sich in der Autobiographie Maria Dorfmanns fassen lässt, ist so eine besonders deutliche Ausdrucksform jenes Systems der Familien- und Gesellschaftsverfassung, das für die Sonderentwicklung Mittel- und Westeuropas so bedeutsam gewesen sein dürfte. Namensysteme eröffnen den Zugang zu Sozialsystemen. Ebenso, und oft in unmittelbarem Zusammenhang damit, erschließen sie Denkweisen und Vorstellungswelten der Vergangenheit. Ein Mensch wird nach seinem Gesichtsausdruck etikettiert. Die Bezeichnung geht auf seine Frau, seine Kinder über. Auch das Haus „erbt“ den Namen, und über das Haus vermittelt die nächsten Bewohner. Für heute Lebende sind solche Formen der Ausbildung begrifflicher Codes relativ fremd. Die Metaphorik von Spitznamen und die Zusammenhänge ihrer Übertragung führen in Denkweisen, die von der Gegenwart her schwer nachzuvollziehen sind, die aber weit über das Verständnis von Spitznamen hinaus Bedeutung haben. Das Mensch-Tier-Verhältnis etwa wird auf diese Weise besser verständlich, überhaupt das Verhältnis von Menschen zu ihrer natürlichen Umwelt, oder auch das Denken über Normales und Abnormales im Körperlichen wie im moralischen Verhalten. „Starke Namen“ von Heiligen, die man bei der Taufe besonders gerne wählt –, der Taufname unserer „Schloßmoidl“ lag diesbezüglich in Tirol bei Weitem an der Spitze – solche „starke Namen“ führen in religiöse Vorstellungswelten, die aus heutiger Sicht schwierig zu begreifen sind. Dasselbe gilt für die Kraft des Heiligen an seinem Tag, die man in Tirol noch so lange durch die Nachbenennung von Kindern zu nützen versuchte. Heilige Worte und heilige Zeiten waren für die Lebensgestaltung von Menschen vergangener Epochen von essentieller Bedeutung. Wenn wir sie und damit uns besser verstehen wollen, müssen wir uns mit solchen Themen beschäftigen. Namenforschung erschließt Zugänge zu solchen und vielen anderen Themenbereichen. In der Entwicklung historischanthropologischer Forschung könnte diese Schlüsselfunktion wohl noch stärker genützt werden.
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9. Kein Problem für Attila und Leila? Zur Namengebung in bikulturellen Familien (gemeinsam mit Viktoria Djafari-Arnold)
„Namen gehören unverwechselbar zum Heimatgefühl, zum Gefühl dessen, wo wir uns wohl und geborgen fühlen – für Vertriebene und Exilierte zum Gefühl dessen, wonach man sich sehnt“, formuliert der renommierte Namenforscher Stefan Sonderegger.1 Solche Zusammenhänge zwischen Namen und Heimatgefühl veranschaulichen die spezifische Problematik von Namengebung in bikulturellen Familien. Es geht darum, eine gemeinsame Heimat zu finden: für die Eltern um eine Positionierung in und zwischen den Kulturen, aus denen sie kommen, für das Kind um eine Verortung in seinem gesellschaftlichen Umfeld, die ihm gute Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Namengebung als ein solcher Akt der Beheimatung des Neugeborenen kann ein sehr schwieriger und spannungsreicher Prozess sein. Wie Heimatgefühle insgesamt hat er mit Geschichte zu tun – mit Lebensgeschichte und Familiengeschichte, aber auch mit der Geschichte der ethnischen beziehungsweise der religiösen Gemeinschaften, denen die Kindeseltern entstammen. Jede Namengebung eines Kindes führt in historische Zusammenhänge. Aber es macht einen wesentlichen Unterschied aus, ob die im Kindesnamen verschlüsselten kulturellen Traditionen auf ähnliche oder auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehen. Anders als bei Paaren mit gleichem Herkunftsmilieu bedeutet in bikulturellen Ehen die historische Komponente der Namengebung ein Spannungsmoment. Die Lösung dieses Spannungsmoments ist eine wichtige Ausdrucksform des Umgangs mit Kulturunterschieden insgesamt. Hinsichtlich der historischen Dimensionen der Namengebung in bikulturellen Familien haben wir verschiedene Ebenen zu unterscheiden. Die kulturspezifischen Systeme der Namengebung – das Namengut sowie die Regeln, nach denen es weitergegeben wird – reichen meist weit in die Geschichte zurück. Die Problematik, zwei unterschiedliche Systeme miteinander verbinden zu müssen, ist hingegen historisch relativ jung. Sicher 1
Stefan Sonderegger, Die Bedeutsamkeit der Namen, Literaturwissenschaft und Linguistik 67 (1987), 18.
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9. Kein Problem für Attila und Leila?
hat es in allen Epochen der Vergangenheit interkulturelle Eheschließungen gegeben – sie blieben aber in der Regel auf Herrscherhäuser beschränkt und führten auch dort vielfach nicht zur Übernahme von Namengut aus der mütterlichen Herkunftsfamilie. Dass etwa die Habsburger die Namen Ferdinand und Isabella aus Spanien übernahmen, hat mit dem Erbe der Kronen von Aragonien und Kastilien zu tun – also mit einer außergewöhnlichen dynastischen Situation. Insgesamt wurden historische Formen bikultureller Ehen in der Regel innerhalb derselben Religionsgemeinschaft geschlossen und damit innerhalb von Gemeinschaften mit gleichem Namengut und ähnlichen Praktiken der Namengebung. Starke Kontraste zwischen den traditionellen Namenkulturen der beiden Partner sind im Wesentlichen erst ein Phänomen der jüngeren Geschichte. Seine Voraussetzungen liegen einerseits in Säkularisierungsprozessen, die eine Zunahme interkonfessioneller und interkultureller Eheschließungen auch bei bisher unvereinbaren Religionsunterschieden ermöglichen, andererseits in weltweiten Migrationsprozessen, die massenhaft zur Partnerfindung zwischen Angehörigen sehr unterschiedlicher Kulturkreise führen. Weiters sind in diesem Zusammenhang auch Emanzipationsprozesse zu nennen, die eine ebenbürtige Mitsprache beider Partner bei der Wahl des Kindesnamens zulassen. In der geschichtswissenschaftlichen Analyse können wir in jedem Akt der Namengebung zwischen einer „äußeren“ und einer „inneren Namensgeschichte“ unterscheiden. Die „äußere Namensgeschichte“ bietet den strukturellen Hintergrund. In Kulturen der Nachbenennung führen die Traditionslinien – direkt oder über Namensvorbilder vermittelt – bis weit zurück. Jedes Kind, dem zu Ende des 20. Jahrhunderts der Name Alexander oder Sarah gegeben wird, steht irgendwie in einem Kontinuitätszusammenhang mit dem Makedonenkönig der Antike beziehungsweise der Stammmutter der zwölf Stämme Israels. Dieser „äußeren Namensgeschichte“ steht die „innere“ gegenüber. Sie ist individuell und subjektiv. Sie umfasst alle die Erlebnisse und Erfahrungen, die ein Elternpaar zur Wahl eines bestimmten Namens für ihr Kind motivierten, weiterhin dann die eigenen Erlebnisse und Erfahrungen, die für die Trägerin beziehungsweise den Träger dieses Namens mit ihm verbunden sind. Für das Leben der bikulturellen Familie – die Entscheidung der Eltern, das Selbstgefühl des Kindes – steht diese „innere Namensgeschichte“ im Vordergrund. Für die Wissenschaft ist sie nur dort fassbar, wo lebensgeschichtliche Selbstzeugnisse vorliegen. Von solchen Selbstzeugnissen soll im Folgenden ausgegangen und dabei der Versuch gemacht werden, „innere“ und „äußere Namensgeschichte“ miteinander zu verbinden.2 2
Die Texte solcher Selbstzeugnisse wurden einerseits von Mitgliedern der „Fraueninitiative bikultureller Ehen und Lebensgemeinschaften“ zur Verfügung gestellt, andererseits von Kolleginnen und Kollegen der historischen Institute der Universität Wien. Allen, die dadurch zum Zustandekommen dieses Artikels beigetragen haben, sei ganz herzlich gedankt.
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»Mein Vater hatte also das Vorschlagsrecht« Ein erstes Beispiel führt in die sechziger Jahre – jene Zeit, in der in Österreich bikulturelle Ehen und damit eine entsprechende Namenswahl für die Kinder ein quantitativ bedeutsames Phänomen zu werden begannen. Während seines Studiums an der Montanistischen Hochschule in Leoben lernte ein türkischer Student aus Edirne eine junge Steirerin kennen und heiratete sie. Das junge Paar blieb in Österreich. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor. Der jüngere der beiden berichtet: „Laut den Ausführungen meiner Mutter gab es weder im Fall meines Bruders (vier Jahre älter als ich) noch bei mir irgendwelche größeren Diskussionen zwischen meinen Eltern oder gar innerhalb der Familie. Aus der Familie meines Vaters oder meiner Mutter habe sich niemand in die Namengebung eingemischt. Sie hielt es für richtig, die Namenswahl für einen möglichen erstgeborenen Sohn meinem Vater zu überlassen. In den Monaten vor der Geburt dachte man gelegentlich über Namen nach, ohne aber zu wissen, ob denn das erste Kind ein Sohn oder eine Tochter werden würde. Mein Vater hatte also das Vorschlagsrecht für meinen Bruder Attila und laut Erinnerung meiner Mutter kam er mit ziemlich türkisch klingenden Namen. Ein Yusuf fiel ihr noch ein und ein Mehmet, an andere wollte sie sich im Detail nicht erinnern (es war schwer genug, ihr diese Namen zu entlocken). Wenn das stimmt, dürften alle Namen männlicher Verwandter oder gar die des Großvaters bei den Vorschlägen meines Vaters keine Rolle gespielt haben. Obgleich sie das Vorschlagsrecht meinem Vater überließ, hieß das nicht, daß die Namengebung ohne ihre Zustimmung erfolgen würde. Nach einer langen Reihe ziemlich türkischer Namen kam anscheinend auch ‚Attila‘ vor (in türkischer Schreibweise Atilla), der für meine Mutter dann auch nicht so fremd klang. Als es nach der Geburt zur Entscheidung kam, rekurrierte Mutter auf diesen Namen. Vor der Geburt und offenbar unmittelbar danach spielte bei meiner Mutter die Idee eine wesentliche Rolle (sie wiederholte es mehrmals, es muß ihr also sehr wichtig gewesen sein), die Namen der Großväter (also ihres Vaters und Schwiegervaters) zu berücksichtigen, zumindest als zweite Vornamen. Auslösend dürfte da wohl gewesen sein, daß ihr der Name ihres Vaters (Guido) immer besonders gut gefiel (der Name ihres Schwiegervaters, meines Großvaters vaterseits, Kemal, ja wohl eher nicht so sehr – aber das ist nur meine Vermutung). Sie habe die Idee aber letztlich fallen lassen, weil Attila der einzige Sohn hätte bleiben können. Und dann hätte man den einen Großvater berücksichtigt – was aber mit dem anderen? Man wünschte sich zwar ein zweites Kind, aber das mußte ja kein Bub sein. Also wurden die Großväter nicht berücksichtigt und Mutter machte meinem Vater den Vorschlag, seinen Vornamen (im türkischen seinen
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Mittelnamen) als zweiten Vornamen zu verwenden: Attila Macit … Bei mir war also dann die Sache mit dem Großvater nicht so aktuell. In den Monaten vor meiner Geburt unterhielt man sich gelegentlich und eine Nachbarin, die über ein Buch mit Vornamen verfügte, mischte sich ein und erstellte eine Liste österreichischer Vornamen, von denen aber keiner in ernsthafte Erwägung gezogen wurde. Mein Vater überließ nun meiner Mutter die Namenswahl und im Falle eines Buben gab es hauptsächlich auf österreichische Namen beschränkte Überlegungen. Konkret war Mutter vor allem ein Alexander wichtig. Sie wollte mich so benennen, weil ihr der Name nach einem Onkel ihrerseits (ein Bruder ihres Vaters, also ein Großonkel aus Südtirol – Großvater entstammte aus einer Südtiroler Familie, geb. 1890), der von allen Sandro gerufen wurde, besonders gut im Ohr lag. Laut Auskunft meiner Mutter war mein Vater aber für Alexander ohne Angabe von konkreten Gründen nicht zu haben. Ihre Vermutung war damals wie heute, daß es mit der griechischen Geschichte zusammenhing und mein Vater als eher nationalistisch eingestellter Türke, der auch seine türkische Staatsbürgerschaft nie aufgab, keine griechischen Namen in der Familie haben wollte. Also kam es dann zu Markus, den mein Vater anstandslos akzeptierte. In Bezug auf den zweiten Vornamen ging meine Mutter auf die von meinem Vater vor Attilas Geburt präsentierten Namensvorschläge ein. Ein ‚Erol‘ schien unter den damaligen Vorschlägen wohl schon auf und war ihr im Ohr geblieben. Die endgültige Entscheidung fiel dann in den Tagen unmittelbar nach meiner Geburt. Also mit Ausnahme des ‚Alexander‘ eine ausgesprochen konfliktfreie und direkt aufgeklärte interkulturelle Namenswahl, die vor allem mir das Leben unter österreichischen Jugendlichen am Lande wesentlich erleichterte. Bei Attila fing das mit dem leichten Leben an, als er sich von zartem Kindesalter an physisch so entwickelte, wie man es von einem Attila erwarten würde (obwohl der wirkliche Hunne ja, so hörte ich, eher klein gewesen sein soll, auch bei europäischem Standard).“ Diese von Mutter und Sohn nach mehr als drei Jahrzehnten rekonstruierte Geschichte der Namengebung zweier Brüder bietet einer sozialhistorisch-onomastischen Interpretation eine Fülle von Ansatzpunkten. Sie enthält viele Hinweise auf allgemeine für die Zeit typische Namensmotivationen. Sie erlaubt, die „äußere Namensgeschichte“ mit der „inneren Namensgeschichte“ zu verbinden. Sie zeigt die Begegnung von zwei sehr unterschiedlichen Systemen der Namengebung. Vor allem läßt sie in dieser interkulturellen Begegnung zwei grundsätzlich verschiedene Strategien der Namenswahl erkennen. Viele bikulturelle Elternpaare werden vor ähnlichen Entscheidungen gestanden sein oder stehen. Bei der Namenswahl des älteren Sohnes steht die kulturelle Tradition des zugewanderten Elternteils im Vordergrund. Das ist eine schwierige Strategie, soll doch der Name auch
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für den Elternteil akzeptabel sein, der aus dem Aufenthaltsland kommt und damit wohl insgesamt für das Milieu, in dem das Kind aufwachsen wird. „Ziemlich türkisch klingende Namen“ werden dementsprechend in der Namensdebatte vom Partner mit Zurückhaltung aufgenommen. Die Entscheidung fällt schließlich für einen „türkischen Namen“, der für die Mutter „auch nicht so fremd klang“: Attila. Dass Attila hier als typisch türkischer Namen gesehen wird, erscheint für den Philologen beziehungsweise Historiker, der sich primär mit der „äußeren Namensgeschichte“ beschäftigt, aufs Erste überraschend. Der Name des im 5. Jahrhundert lebenden Hunnenkönigs ist für ihn eindeutig germanischer Herkunft.3 Attila ist mit dem Diminutivsuffix „-ila“ aus dem Gotischen beziehungsweise Gepidischen von atta/„Vater“ abgeleitet gebildet, bedeutet also „kleiner Vater“, „Väterchen“. Auch Attilas Bruder Bleda trug einen germanischen Namen. Er lebt neben „König Etzel“ als „Blödelin“ im Nibelungenlied weiter. Wie kann nun aus einem germanischen Namen, den das Fürstenhaus der Hunnen in der ausgehenden Antike übernommen hatte, ein typisch türkischer Name des 20. Jahrhunderts werden? Eine Erklärung findet sich im gewandelten Geschichtsbild der Türken nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches.4 Seit Atatürk werden die Ursprünge der eigenen Geschichte nicht mehr mit dem Islam in Verbindung gebracht. Die Herkunft der Nation wird vielmehr aus zwei verschiedenen Richtungen erklärt – einerseits aus den vorausgehenden Kulturen in Anatolien bis zurück zu den Hethitern, andererseits aus den Nomadenzivilisationen der Turk-Völker aus Zentralasien, unter denen vor allem die Hunnen glorifiziert werden. In diesem Kontext nimmt Attila einen wichtigen Platz ein. „Die Erinnerung an Attila bleibt die an einen sehr guten und freundlichen Fürsten, eine große Persönlichkeit, einer von denen, die die Geschichte beherrschen.“5 Das den türkischen Kindern seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vermittelte Geschichtsbild nimmt insofern im interkulturellen Vergleich von Geschichtstraditionen eine Ausnahmestellung ein, als es die Hunnen aufwertet und die Zivilisation der Nomadenreiche von Attila bis Tamerlan verherrlicht. Attila wird in der laizistischen Türkei zu einem nationalen Heros. In einer historisierenden Namengebung kann sein Name nun als spezifisch türkisch verstanden werden. Bezeichnenderweise wurde der Name in der hier referierten Namensentscheidung nicht in seiner türkischen Schreibweise „Atilla“ aufgegriffen, die von führenden deut-
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Otto J. Maenchen-Helfen. Die Welt der Hunnen, Wien 1978, 261 ff. Mark Ferro, Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird. Beispiele aus aller Welt, Frankfurt a. M. 1991. 118: vgl. auch Richard Peters, Geschichte der Türken. Stuttgart 1961, 13. Ferro, Geschichtsbilder (Anm. 4). 118.
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schen Namenbüchern als „etymologisch abwegig“ verurteilt wird,6 sondern in der aus der deutschen Geschichtstradition geläufigen Form „Attila“. So war der Name der Mutter „dann auch nicht so fremd“. In ihrem Geschichtsunterricht war er sicher vorgekommen, hier aber wohl nicht in einer Weise, die den historischen Träger des Namens zu einem attraktiven Namensvorbild für das eigene Kind gemacht hätte. Der Hunnenkönig Attila gehört zu den klassischen Bösewicht-Gestalten der Schulbücher, nicht nur der deutschsprachigen. Die Hunnen eröffnen in traditionellen Geschichtelehrbüchern die Reihe der „Feinde aus dem Osten“, die über die Awaren, Magyaren und Mongolen bis zu den Türken und mitunter noch weiter reicht. Wenn auch bekannt, so konnte der Name Attila für die österreichische Mutter aus dem ihr tradierten Geschichtsbild keineswegs dieselbe positive Konnotation haben wie für den türkischen Vater. Im Gegenteil – der Name müsste aus dieser Tradition negativ besetzt gewesen sein. Wenn er trotzdem von ihr akzeptiert werden konnte, so wohl deshalb, weil diese negative Besetzung überlagert wurde. Die Konnotation eines Namens ist in der Regel von der Bewertung mehrerer Personen abhängig, die in der Vergangenheit diesen Namen getragen haben. So mischen sich unterschiedliche, oft sogar gegensätzliche Bedeutungen im Bedeutungsfeld, das ein Name für eine bestimmte Person hat. Bei Attila ist freilich die Zahl der möglichen Namensvorbilder sehr beschränkt. Die Namenbücher nennen neben dem Hunnenkönig bloß den Burgschauspieler Attila Hörbiger.7 Dass die historische Gestalt des Hunnenkönigs in der Namengebung des deutschsprachigen Raums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt noch weiterlebt, verdankt sie wohl nur der Vermittlung des großen Schauspielers. Vor allem dessen Filme dürften dem Namen eine große Breitenwirkung mit positiver Konnotation gegeben haben. Aber wie kam Attila Hörbiger zu seinem Namen? Die Lebensgeschichte gibt diesbezüglich Hinweise. Er wurde 1896 als Sohn eines österreichischen Maschineningenieurs in Budapest geboren. In Ungarn aber nahm der Hunnenkönig Attila im kollektiven Geschichtsbewusstsein eine ganz andere Stellung ein als in Österreich. Schon in der Renaissancezeit blühte in Ungarn der Kult Attilas und der Hunnen, die man für die Vorfahren der Magyaren hielt.8 Im Historismus des 19. Jahrhunderts wurde diese Tradition wieder betont. Ähnlich wie später in der Türkei ist es also auch hier ein 6
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Mackenson, Das große Buch der Vornamen, München 1986, 18. Dass der Autor mit der Schreibweise „Atilla“ konfrontiert wurde, dürfte darauf hinweisen, dass der Name auch sonst gelegentlich von türkischen Eltern beziehungsweise von türkisch-deutschsprachigen bikulturellen Paaren gegeben wurde. Mackenson, Vornamen (wie Anm. 6), 18; Margit Eberhard-Wabnitz/Horst Leisering, Knaurs Vornamen Buch, München 1984. 55f.; Günter Drosilovski, Duden Lexikon der Vornamen, Mannheim 1974, 40. C. Aylmer Macartney, Geschichte Ungarns, Stuttgart 1971, 48.
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säkularer Nationalismus, der den Hunnenkönig zum nationalen Heros macht, auf den man in der Namengebung Bezug nimmt. Die „äußere Namensgeschichte“ könnte so in unserem Fallbeispiel – in vermittelter Form – auch auf der Seite der Mutter einen ähnlichen Entwicklungsverlauf genommen haben wie auf der des Vaters. Zum Unterschied von der „inneren Namensgeschichte“ sind solche Verläufe den Akteuren in der Regel nicht bewusst.
»Noch nach über 2000 Jahren unangenehme Erinnerungen« Historisch weit zurückreichende Namenstraditionen spielen – wie wohl häufig in bikulturellen Ehen – auch bei der Namengebung des zweiten Sohnes eine Rolle. Von der Mutter wird der Name Alexander ins Gespräch gebracht, dem eigenen Verständnis nach als innerfamiliale Nachbenennung. Beim türkischen Ehepartner löst er jedoch durch seine Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein der Griechen negative Assoziationen aus. Alexander gehört – neben dem gemeinsamen Namengut aus der Tradition des Alten Testaments – zu den ganz wenigen Vornamen, die sowohl in der christlich-europäischen wie auch in der islamischen Kultur positiv verankert sind und sich daher für die Namengebung bikultureller Paare aus diesen beiden Kulturen besonders eignen. Alexander der Große, auf den in vielfach vermittelter Weise die Linien der Nachbenennung im Westen zurückgehen, wird ja auch im Koran erwähnt9 und ist damit für Muslime akzeptabel. Nationalistische Geschichtsbilder können allerdings einer solchen religiösen Akzeptanz entgegenstehen. In unserem Fallbeispiel ist das bloß Vermutung des Sohnes, dem dieser Name vorenthalten wurde. In der Namengebungsgeschichte, die eine mit einem Perser verheiratete Österreicherin erzählt, wird dies offen ausgesprochen: „Wir einigten uns auf den persischen Namen ‚Armin‘. Ich hätte gerne gehabt, daß mein Sohn als zweiten Namen den meines Vaters erhält, aber darauf habe ich dann verzichtet, denn mein Vater heißt Alexander, ein Name, der bei manchen Persern noch nach über 2000 Jahren unangenehme Erinnerungen weckt.“ In diesem Fall war durch die „Last der Geschichte“ Alexander selbst als symbolischer Zweitname, der im Alltagsleben keinen Gebrauch findet, für den Vater nicht tragbar. Überraschend erscheint an dieser Stelle übrigens, dass der Name Armin aus der Sicht des Paares »persisch« ist – eine Parallele zum „türkischen Namen“ Attila. Deutsche Namen9
Thomas Patrick Hughes, Lexikon des Islam, Wiesbaden 1995, 24.
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bücher beziehen ihn auf den Cheruskerfürsten Hermann/Arminius.10 Obwohl diese Namenstradition der eigenen Kultur der Mutter nicht bewusst ist, mag sie dazu beigetragen haben, Vertrautheit zu bewirken. In unserem türkisch-österreichischen Fallbeispiel spielen Zweitnamen bei beiden Söhnen für die Identitätsstiftung durch Namengebung eine Rolle – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Beim älteren wurde die schon im Erstnamen Attila betonte türkische Tradition durch den Zweitnamen Macit noch verstärkt. Auf das Problem der Akzeptanz im Aufenthaltsland musste man bei diesem zweiten Namen nicht Rücksicht nehmen. Als Rufname sollte er ja nicht verwendet werden. So war es gleichgültig, ob beziehungsweise wie er im sozialen Umfeld verstanden wurde. Die Bedeutsamkeit, die der Mutter bei der Wahl dieses türkischen Zweitnamens wichtig war, lag im familiären Bereich: Da die Namen der Großväter nicht in Frage kamen, sollte der des Vaters im Namen des Sohnes weitergegeben werden. Beim jüngeren, Markus Erol, haben Erst- und Zweitname eine ganz andere Funktion. Beim Erstnamen ließen sich die Eltern nicht mehr auf das schwierige Unternehmen ein, einen in beiden Herkunftskulturen bedeutsamen Namen zu finden. Die türkische Traditionslinie wurde im Zweitnamen Erol angesprochen. Der Erstname Markus hingegen wurde völlig frei von Bezügen auf die väterliche Herkunft gewählt. Es handelt sich um einen alten christlich-römischen Namen, der schon in den sechziger Jahren verstärkt gegeben wurde und in den siebziger und achtziger Jahren wiederholt unter den häufigsten Vornamen zu finden war. Diese große Beliebtheit des Namens Markus ist keine Besonderheit einer spezifisch österreichischen Namenkultur. Sie entspricht vielmehr einem internationalen Trend, der im angloamerikanischen Raum und in Frankreich schon früher zu fassen ist. So ist mit diesem Erstnamen keinerlei kulturelle Auffälligkeit verbunden. Die unterschiedlichen Herkunftskulturen von Vater und Mutter in zwei unterschiedlichen Namen zu verschlüsseln und dabei im Erstnamen die des Aufenthaltslandes zu berücksichtigen, ist eine zweite Strategie der Namengebung, die bikulturellen Paaren zur Verfügung steht. Sie kann dazu führen, dass ein Traditionsstrang im praktischen Gebrauch des Namens verloren geht. Sie beinhaltet aber auch die Möglichkeit, dass sich das Kind später einmal selbst entscheiden kann, ob und in welcher Weise es den aus einem anderen kulturellen Zusammenhang stammenden Zweitnamen führen will. Das Nebeneinander von zwei oder mehreren Vornamen ist ein Spezifikum der christlich-europäischen Namenkultur, das bikulturellen Familien besondere Möglichkeiten eröffnet. Solange die Namengebung bei der Taufe auf ein bestimmtes kirchlich definiertes Namengut festgelegt war, konnte von diesen Möglichkeiten allerdings noch nicht im Sin10 Mackenson, Vornamen (wie Anm. 6), 15; Knaurs Vornamenbuch (wie Anm. 7), 54; Duden Lexikon der Vornamen (wie Anm. 7), 38.
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ne der Verankerung nichtchristlicher Namenstraditionen Gebrauch gemacht werden. Ein interessantes Beispiel des Übergangs zu heute praktizierten Formen findet sich in einer altösterreichischen Adelsfamilie. 1892 heiratete der an der österreichischen Botschaft in Tokio tätige Diplomat Heinrich Graf von Coudenhove-Kalergi die Japanerin Mitsu Aoyama, die sich zum buddhistischen Glauben bekannte, jedoch drei Jahre später getauft wurde und den Namen Maria Thekla erhielt. Unter den zahlreichen Kindern des Paares findet sich bei keinem im Namen ein Hinweis auf ihre japanische Abstammung. Die älteste Enkelin wurde 1927 nach dem christlichen Taufnamen ihrer Großmutter Maria-Electa Thekla nachbenannt. Als 1932 eine zweite Enkelin zur Welt kam, erhielt sie hingegen bei der Taufe den Namen Barbara Margarethe Sophie Maria Mitsu. Die später als Journalistin bekannt gewordene Barbara Coudenhove-Kalergi durfte in ihrem fünften Namen die japanische Tradition ihrer Großmutter aufnehmen.11
»… da man durch das Geben eines Namens jemanden weiterleben lässt« Stellt man diesem frühen Beispiel einer interkulturellen Namengebung eines aus der jüngsten Vergangenheit gegenüber, so wird deutlich, welcher Spielraum in der Traditionsverknüpfung durch Mehrnamigkeit gewonnen wurde. Eine 1997 geborene Tochter einer Österreicherin und eines Moslems aus Burkina-Faso erhielt den Namen Nuria. Die Mutter berichtet: „Ich komme nochmals auf deine Frage zur Namengebung für Nuria zurück und versuche mich zu erinnern, was wir zu dem Thema besprochen haben. Es war auf jeden Fall ein langwieriger Prozeß und wir waren uns bis zum Tag vor ihrer Geburt nicht einig. Ich habe von Anfang an zugestimmt, dem Kind einen islamischen Namen zu geben, sofern er mir gefällt und nicht ‚zu islamisch klingt‘ (wie z. B. Fatma, Suleiman …). Zur Auswahl hatten wir fast nur Namen aus dem Alten Testament, da diese auch uns geläufig sind (Aaroun, Sarah, Yakoub, Safia …). Am liebsten wäre mir Safia gewesen, aber Idriss wollte den Namen nicht, da schon seine Schwester so heißt – verständlich. Er wollte gerne Namen, die im Islam bedeutungsvoll sind – wie etwa Gibrill (der Engel Gabriel). Nuria fällt nicht wirklich darunter, aber war der Name der uns beiden gefallen hat. Als zweiten bzw. dritten Namen wollten wir erst weitere Namen, die uns gefal11 Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Gräflichen Häuser, Teil A, 115. Jahrgang, Gotha 1942, 146f.
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len hatten, nehmen, haben uns aber dann für Namen aus unserer Familie entschieden. Dumbiri war Idriss’ Idee, der meinte, daß die Mutter seiner Mutter, die starb, als Mariam fünf Jahre alt war, vergessen würde und so Erinnerung findet. Anna haben wir hinzugefügt, da Großmutter auch unsere Familie in Namen verewigt haben wollte. Es stimmt, daß in Idriss’ Kultur nicht der Name einer noch lebenden Person weitergegeben wird, da man durch das Geben eines Namens jemanden ‚weiterleben‘ läßt.« Die kleine Nuria Dumbiri Anna trägt einen Erstnamen, der islamisch von „an-Nur“ („das Licht“), einem der 99 Beinamen Allahs abgeleitet werden kann,12 der aber auch christlich als Kurzform von Nuestra Señora de Nuria vorkommt, der Bezeichnung eines MarienGnadenbilds in Spanien, die als Mädchennamen gegeben wird. Der Zweitname bezieht sich auf die Urgroßmutter väterlicherseits aus Burkina-Faso, der Drittname auf die österreichische Verwandtschaft mütterlicherseits. In bikulturellen Familien ist es nicht viel anders als in Familien von Partnern aus gleichem Herkunftsmilieu: Im Erstnamen wird kaum mehr nach Vorfahren oder Verwandten nach benannt. Umso mehr gewinnen Zweit- und Drittnamen für die Aufrechterhaltung familiärer Traditionslinien an Bedeutung. Die Besonderheit bikultureller Familien ist, dass solche familiäre Traditionslinien in unterschiedliche Kulturen führen. Bei Barbara Margarethe Sophie Maria Mitsu Coudenhove-Kalergi und Nuria Dumbiri Anna leben die bikulturellen Familientraditionen in Namen von Töchtern weiter. Als Träger von Familienkontinuität hatten und haben aber Namen von Söhnen meist noch größere Bedeutung, vor allem solche von ältesten Söhnen. Und in bikulturellen Familien erscheint es besonders wichtig, die Traditionen beider Seiten aufrechtzuerhalten, wenn möglich auch in Namen. Wir haben gesehen, dass bei der Namengebung von Attila Macit aus einer österreichisch-türkischen Ehe die Nachbenennung nach einem der noch lebenden Großväter Guido oder Kemal in Erwägung gezogen wurde, bei seinem jüngeren Bruder Markus Erol nicht mehr. Die Namengebung erstgeborener Söhne ist für die Bewahrung kultureller Kontinuität durch Namen von besonderer Bedeutung, vor allem dann, wenn der Vater aus einer so stark patrilinear bestimmten Familienkultur kommt wie der türkischen. So hielt es die Mutter von vornherein „für wichtig, die Namenswahl für einen möglichen erstgeborenen Sohn meinem Mann zu überlassen“. Viele Ehemänner beziehungsweise Väter in bikulturellen Familien in Österreich kommen aus Gesellschaften mit stark patrilinear orientierter Familienkultur. Wenn die österreichische Ehefrau ihrem türkischen Gatten die Namensentscheidung für den erstgeborenen Sohn so weitge12 Hughes, Lexikon des Islam (Anm. 9), 570; Mackenson, Vornamen (wie Anm. 6). 313; Knaurs Vornamenbuch (wie Anm. 7). 217
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hend überließ, so muss das aber keineswegs nur eine Rücksichtnahme auf dessen in einer männerrechtlich geordneten Gesellschaft gewachsene Mentalität gewesen sein – vielleicht war es bloß Rücksichtnahme auf den Ehepartner, der es im fremden Land schwieriger hat, seine kulturelle Identität aufrechtzuerhalten. Und darin mag ein grundsätzliches Dilemma bikultureller Ehen liegen: Einerseits versucht die im Aufenthaltsland verwurzelte Partnerin ihren zugewanderten Partner in der Bewahrung seiner kulturellen Tradition zu stützen, weil er in der schwierigeren Position ist, andererseits darf dies nicht zu Lasten der Kinder gehen. Die Namengebung der Kinder kann in diesem Spannungsverhältnis stehen. Nachbenennung im ersten, zweiten oder dritten Namen ist eine Möglichkeit, wie in bikulturellen Familien kulturelle Traditionen beider Seiten bewahrt werden können. In unserem Fallbeispiel wird die Nachbenennung nach Vorfahren bezeichnenderweise von der österreichischen Gattin ins Spiel gebracht. Viele Namenkulturen von Zuwanderern sind keine Kulturen der innerfamilialen Nachbenennung. Nurias Vater hätte sich für einen Sohn den Namen des Engels Gabriel gewünscht. Eine Nachbenennung der Tochter nach seiner noch lebenden Schwester Safia kam für ihn nicht in Frage. Seine verstorbene Großmutter Dumbiri hingegen sollte nicht »vergessen« werden, sondern durch die Weitergabe ihres Namens weiterleben. Eine mit einem Perser verheiratete Österreicherin hätte ihrer Tochter gern den persischen Namen Mitra gegeben, „aber mein Mann hat eine Cousine dieses Namens, und für ihn war der Name einfach schon vergeben. In Persien hat man, soweit ich weiß, überhaupt keinen Bezug zur Nachbenennung. Mein Mann fand es immer sehr seltsam, daß mein Neffe schon in der vierten Generation Richard fortsetzt“. Dass Attila Macit als zweiten Namen den seines Vaters erhielt, hat sicher nichts mit den türkischen Sitten der Nachbenennung zu tun. Dass im Falle der Nachbenennung nach dem Großvater beide Familien gleich berücksichtigt werden müssten, was bei heutigen Kinderzahlen kaum mehr möglich erscheint, ist ein Problem, das eher aus der österreichischen Traditionslinie bikultureller Ehen stammt. Systeme der Namengebung, wie sie in bikulturellen Familien aufeinandertreffen, stellen in ganz unterschiedlicher Weise kulturelle Kontinuität her, keineswegs nur durch kulturspezifisches Namengut. Systeme der Nachbenennung, wie sie uns aus der christlich-europäischen Tradition der letzten Jahrhunderte geläufig sind, erscheinen im interkulturellen Vergleich keineswegs gleich selbstverständlich.13 Wo Nachbenennung nur nach schon verstorbenen Verwandten erlaubt ist, hat sie offenbar einen anderen Sinn als dort, wo sie auch nach noch lebenden erfolgt. Historisch weit zurückreichende Vorstellungsmuster vom 13 Zu solchen Systemen der Nachbenennung beziehungsweise anderen Systemen der Namengebung ausführlich Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993.
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Verhältnis zwischen Lebenden und Toten können so in Namengebungsfragen bikultureller Paare der Gegenwart aktuell werden. Neben Formen der Nachbenennung lässt sich auch durch ganz andere Zusammenhänge zwischen Namen in kulturspezifischer Weise Familienkontinuität herstellen. Das Stammbaumschema einer persisch-österreichischen Familie soll das erläutern.
Betrachtet man das Geschwisterpaar Natalie und André im Kontext einer in Kärnten lebenden Kleinfamilie, so würde man in der Namengebung keinerlei Hinweis auf die persische Abstammung des Vaters erkennen. Die beiden Kinder tragen Namen, wie sie in den neunziger Jahren auch sonst in Österreich häufig gegeben werden. Dass statt Andreas die französische Namensform André gewählt wird, ist heute nichts besonders Auffälliges. Erst im Kontext eines größeren Verwandtschaftszusammenhangs werden die persischen Traditionslinien sichtbar. Alle fünf Geschwister des Vaters haben wie dieser Namen, die mit den Buchstaben Na- beginnen. Und diese Namensbildung setzt sich in der nächsten Generation fort. Der mit An- beginnende Name Andre ist diesbezüglich keine Ausnahme. Er dreht bloß die Abfolge der beiden wiederholten Buchstaben um. Offenbar sollen hier gleiche Namenselemente familiale Gemeinsamkeit ausdrücken und nicht Nachbenennung. Dieses Prinzip der sogenannten Namensalliteration war in europäischer Frühzeit weit verbreitet. Die Burgunderkönige Günther, Gernot und Giselher, die Söhne Gibichos, die im Nibelungenlied auftreten, sind ein prominentes Beispiel dafür. In der hier behandelten persischen Familie kommt zu der Übereinstimmung der Buchstaben zwischen den Vornamen noch die zwischen Vornamen und Familiennamen hinzu. Der Familienname Nassiri ist offenbar aufgrund der Abstammung von einem Nassir entstanden. Noch im ausgehenden 20. Jahrhundert wird hier der uralte Gedanke der Wesensübereinstimmung aufgrund gleicher Namenselemente aufrechterhalten. Aber auch Nachbenennung mit Bezug auf persische Tradition spielt in dieser bikulturellen Familie eine Rolle. Als einer
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der Gründe für die Wahl des Namens André wird die Vorbildfigur des Tennisstars Andre Agassi genannt, der von iranischen Vorfahren abstammt. So mischen sich in dieser bikulturellen Familie – äußerlich zunächst nicht erkennbar – sehr unterschiedliche Systeme der Namengebung.
»Ich selber war lange Zeit sehr unglücklich mit meinem Namen« Wie jede für ein Kind getroffene Namensentscheidung ist auch die bikultureller Eltern primär an der Vergangenheit orientiert – an der der eigenen Familie, an der der Kultur, aus der sie kommt. Über Namensvorbilder wird an frühere Träger des Namens angeschlossen. Über Regeln der Namengebung werden Traditionen sozialer Bindungen aufgegriffen. In bikulturellen Ehen kommt dieser Vergangenheitsorientierung jedoch besondere Bedeutung zu, weil zumindest für einen Partner damit Wahrung kultureller Identität verbunden ist. Wie jede für ein Kind getroffene Namensentscheidung hat auch die von bikulturellen Paaren eine Zukunftsperspektive. Sie ist für solche Paare allerdings noch viel schwieriger abzuschätzen als für Partner aus gleichem Herkunftsmilieu. Lässt sich voraussehen, wie sich das Kind mit seinem Namen im Kindergarten, in der Schule, in der Peergroup, an seinem Arbeitsplatz einmal fühlen wird? Lässt sich voraussehen, wie seine Umwelt in zehn, zwanzig, dreißig Jahren mit Zeichen des kulturell Fremden umgehen wird? Selbstzeugnisse von Kindern bikultureller Ehen erschließen diese andere Seite der „inneren Namensgeschichte“. Markus Erol spricht von einer „interkulturellen Namenswahl, die vor allem mir das Leben unter österreichischen Jugendlichen am Land wesentlich erleichterte. Bei Attila fing das mit dem leichten Leben an, als er sich von zartem Kindesalter an physisch so entwickelte, wie man es von einem Attila erwarten würde.“ Nicht immer aber bedeutet der in bikulturellen Ehen gewählte Kindesname ein „leichtes Leben“. Die Tochter eines in Wien lebenden Syrers mit syrisch-ungarischer Herkunft schreibt mit zwanzig Jahren: „Die Einigung um meinen Namen erfolgte wie gesagt relativ schnell, war doch klar, daß ein europäischer Name schlecht mit dem arabischen Nachnamen harmonieren würde, obwohl meine Mutter anfänglich auch Namen wie Arabella oder Lydia ins Auge faßte. Als mein Vater den Vorschlag abgab, war meine Mutter aber dann sofort einverstanden – ist Leila für sie doch der schönste unter den orientalischen Namen. Ich selber war lange Zeit sehr unglücklich mit meinem Namen, insbesondere mit meinem Nachnamen, hat er doch einen unverkennbar ausländischen Klang. Noch dazu kam, daß – als ich noch in der Volksschule war – das EAV-Lied über ‚Leila, die Königin der Nacht‘ sehr
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populär war und meine Mitschüler keine Gelegenheit ausließen, mich damit zu ärgern. Ich dachte mir immer Namen aus, wie ich gerne heißen würde, z. B. Karin Sternhofer. Ich wollte eben heißen wie alle anderen auch. Man kann sogar sagen, ich schämte mich für meinen Namen. Ich kann mich noch gut erinnern, daß ich in der Unterstufe des Gymnasiums einmal gebeten wurde, einen Artikel für eine lokale Zeitung zu schreiben. Ich schrieb den Artikel wirklich gern, aber ich fürchtete mich davor, daß mein Name und mein Photo darunter erscheinen würde. Heute bin ich sehr froh darüber, daß ich so heiße. Erst in letzter Zeit habe ich bemerkt, daß mein Name etwas Besonderes ist – Ausdruck einer Vergangenheit, wie sie nur wenige haben. Ich meine die Vergangenheit meiner Ahnen – der ungarischen und insbesondere auch der arabischen, birgt doch die orientalische Kultur so viel Geheimnisvolles in sich und hat selbst die Bibel dort ihren Ausgang. Vielleicht wanderte Jesus auf den gleichen Steinen wie meine Ahnen …?“ Vergleicht man diese Aussagen eines bikulturell aufgewachsenen Kindes mit solchen von Kindern aus einheitlicher Familienkultur, so wird man Parallelen finden. Die persönliche Erfahrung vieler Menschen verzeichnet eine Lebensphase – insbesondere die Schulzeit vor der Pubertät – in der die Akzeptanz des eigenen Namens davon abhängt, ob er als ausreichend gleichgestaltet empfunden wird. Als Gradmesser gilt dabei die aus den Namen der Mehrheit geschlossene Gruppennorm. Wortspiele und Verballhornungen des eigenen Namens werden als kränkend erlebt und bleiben bis ins Erwachsenenalter im Gedächtnis. Aus Gesprächen zum Thema Namengebung gewinnt man den Eindruck, dass nicht wenige Menschen in ihrer Kindheit mit dem eigenen Namen unzufrieden waren. Bei bikulturellen Kindern kann dieser Effekt noch verstärkt auftreten – zum einen, weil ihr Vorname in der Gleichaltrigengruppe ganz neu und somit unangepasst ist, zum anderen, weil sie sich – aufgrund von äußeren Merkmalen oder der speziellen Situation der Familie – überhaupt als unangepasst empfinden. Sehr häufig tritt bei Jugendlichen beziehungsweise jungen Erwachsenen dieses Bedürfnis der Anpassung des Namens – gleichsam des Aufgehens im Gruppenprofil durch den Namen – später dann zurück. Der Wunsch, sich zu unterscheiden, sich abzuheben und die eigene Individualität zu betonen, nimmt zu. Kindliche Ruf- und Spitznamen werden abgelegt, der neue, eigentliche Name wird gesucht. Der wegen seiner mangelnden Angepasstheit kaschierte oder verleugnete Vorname kann nun bewusst „angenommen“ und als Symbol für das Besondere der eigenen Person getragen werden, sofern sich mit ihm positive Assoziationen verbinden lassen. Hier ergibt sich für bikulturelle junge Menschen eine spezielle Chance, sich als ungewöhnlich und besonders zu sehen. Bikulturelle Kinder beginnen sich auch oft an der Schwelle zum Erwachsenenalter mit der „anderen“ Kultur, die
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sie repräsentieren, in der ihr Lebensmittelpunkt und Alltag aber bisher nicht angesiedelt war, verstärkt zu befassen. Sie identifizieren sich mit ihr und sehen sie als Bereicherung des eigenen Lebens. Die Polarität zwischen „Anpassung“ und „Individualisierung“ des Namens (und damit des Kindes) beeinflusst die Motivation der Eltern bei der Namenswahl hierzulande heute mehr denn je. Die Nachbenennung hat eine lange Tradition, das bewusste Er-Finden neuer Namen – wie etwa in Ostasien, wo vielfach Namen gezielt neu geschaffen, auch astrologisch berechnet werden – hat keine kulturelle Basis; dies unterstützt den Wunsch zur Anpassung. Gleichzeitig setzt sich in allen sozialen Schichten das Gebot durch, das Kind in seiner unverwechselbaren Individualität wahrzunehmen, zu erziehen und eben auch zu benennen. Nicht zuletzt in Kombination mit dieser Überzeugung gilt Nachbenennung als altmodisch. Die ideale Synthese zwischen Anpassung und Individualisierung sehen viele Eltern im Rückgriff auf »die schönen, alten Namen«, die auch dem historischen Namengut der Familie entnommen sein können, bevorzugt dann, wenn sie schon lange nicht mehr verwendet wurden. Für bikulturelle Elternpaare ist die Harmonisierung von Anpassungs- und Individualisierungswunsch eine besondere Aufgabe. Der Wunsch nach Individualisierung ist für bikulturelle Namengeber leichter zu erfüllen – sie verfügen ja über ein doppeltes Angebot an Namen und neigen auch dazu, dem kulturellen Namenspotential des Ehepartners, der sein Land verlassen hat, quasi als Ausgleich bei der Namengebung das Vorrecht zuzugestehen. Dieses Phänomen wird sicher auch dadurch unterstützt, dass die Mehrzahl der Migranten, die ihren Partner aus ihrem Aufenthaltsland wählen, männlich ist. Die Dominanz des Vaters oder der Vatersfamilie bei der Namengebung begegnet weltweit in vielen Kulturen. Die Anpassung des Kindesnamens an die zu vereinenden Familienkulturen ist für bikulturelle Paare eine Aufgabe, die schwieriger zu leisten ist. Die Bikulturalität selbst bedingt, dass Anpassung eben nicht nur in Richtung einer Kultur, sondern vor dem Hintergrund zweier Kulturen vorgenommen werden muss. Mehrnamigkeit scheint hier, wie das Eingangsbeispiel zeigt, ein geeigneter Ausweg. Allerdings muss gewährleistet sein, dass damit beiden Herkunftskulturen und -familien Genüge getan wird. Frau E., Österreicherin, verheiratet mit einem Türken, erzählt: „Als in der Familie bekannt wurde, daß wir ein Kind haben werden, bat meine Mutter meine Schwester, sie möge doch in diplomatischer Weise ihren Einfluß auf mich ausüben, daß mein Mann und ich keinen allzu seltsamen Vornamen für das Kind aussuchen sollten, besonders, wenn es ein Bub ist; das Kind dürfe doch nicht leiden.
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9. Kein Problem für Attila und Leila?
Es stellte sich bald heraus, daß wir eine Tochter bekommen würden, und das Thema schien damit weniger brisant. Für mich war klar, daß unsere Tochter einen türkischen Vornamen haben würde, und es gab einige, die meinem Mann und mir gleichermaßen gut gefielen. Ich wollte meiner Tochter gerne als zweiten Namen ‚Maria‘ geben; so heißt in meiner Familie niemand, aber er ist so klassisch österreichisch, ich wollte einen Ausgleich. Maria ist als Mutter Jesu auch den Muslimen eine verehrungswürdige Person, und mein Mann hatte von daher nichts dagegen. Er meinte aber, dann sollte man doch auf jeden Fall die Originalform des Namens nehmen, Miriam oder Meryem oder Maryam. Dann habe ich es doch gelassen, weil es meinen Zweck so nicht erfüllt hätte.“ Die Anpassung, die die junge Mutter vorhatte, wäre nicht erreicht worden; eher hätte sich durch zwei fremde Vornamen das Trennende verstärkt. Interessant ist auch der Umstand, dass man bei der Namengebung für Mädchen eine größere Gestaltungsfreiheit für akzeptabel hält. Traditionell gelten Knaben als die wichtigeren Namensträger, durch die Kontinuität hergestellt werden soll. Dadurch ist die Varianz des Modischen, Neuen, Unüblichen bei Mädchennamen auch in industrialisierten Gesellschaften nach wie vor immer noch höher als bei Knabennamen. Grundsätzlich trifft die innovative Namengebung bikultureller Familien in der Gesellschaft der Gegenwart auf wenig Widerspruch, ja kaum mehr auf Verwunderung und zusehends auf Nachahmung. Die eingangs genannten Entwicklungen – Säkularisierung, Migration, Emanzipation – konvergieren hier mit Tendenzen der Massenmedien, die Lebensformen und ästhetische Muster aller Art um den Erdball verbreiten. Manches Unbekannte wird sehr rasch zum Üblichen, das Spezifische wird allgemein. Mirjam überflügelt Maria, der keltische Kevin findet sich in Kindergärten in aller Welt und weitgereiste österreichische Fußballer nennen ihr Kind ohne weiteres Jesus. Kein Problem mehr für Attila und Leila?
10. Europaname Mohammed? Interkulturalität und Namengebung
Kulturen der Namengebung stellen ein wesentliches Element historisch gewachsener Kulturräume dar. Namen stiften Identität. Sie machen „Eigenes“ und „Fremdes“ besonders deutlich erkennbar. Als sinnenfällige Ausdrucksform kultureller Unterschiede bieten sie vielfältige Anknüpfungspunkte für die Austragung von Kulturkonflikten, ebenso aber auch für das Bemühen um interkulturelle Gemeinsamkeit.1 Der europäische und der islamische Kulturraum haben in ihrem Namengut wie insgesamt in ihrem System der Namengebung traditionell wenige Übereinstimmungen.2 Die 1
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Ein solches Bemühen um interkulturelle Gemeinsamkeit stellt sich unausweichlich bei der Namengebung von Kindern, deren Eltern aus verschiedenen Namenkulturen stammen. Zu dieser Thematik an österreichischen Beispielen: Viktoria Djafari-Arnold und Michael Mitterauer: Kein Problem für Attila und Leila? Zur Namengebung in bikulturellen Familien. – In: Historicum 58 (1998), S. 33–39. Zu Interkulturalität allgemein Elsayed Elshahed: Interkulturalität zwischen Konzeption und Realisation. Eine historisch-kritische Betrachtung. In: John D. Patillo-Hess und Maio R. Smole (Hg.): Islam. Dialog und Kontroverse. – Wien 2007. S. 63–72. Zum islamischen Namengut im Überblick: Leone Caetani und Giuseppe Gabrieli: Onomasticon Arabicum, – Rom 1915; Gerhard Endress: Einführung in die islamische Geschichte. – München 1987. S. 175; Annemarie Schimmel: Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam. – München 1995. S. 157–161. Zu europäischer und islamischer Namenkultur im Vergleich: Michael Mitterauer: Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte. – München 1993, vor allem S. 183–193; derselbe: Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel heiliger Namen. – In: Edith Saurer (Hg.): Die Religion der Geschlechter (L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Beiheft 1). – Wien 1995. S. 47–74. Derselbe: Systeme der Namengebung im Vergleich. – In: Historicum 58 (1998), S. 9–15. Zu Tendenzen der neueren Namengebung, vor allem in Österreich: Margareth Lanzinger: „Meine Mutter wollte für ihre Tochter etwas Besonderes, Modernes …“. Namenkulturen im Wandel. – In: Nikola Langreiter und Margareth Lanzinger (Hg.): Kontinuität im Wandel. Kulturwissenschaftliche Versuche über ein schwieriges Verhältnis. – Wien 2002, S. 84–112. Für den deutschsprachigen Raum: Wilfried Seibicke, Vornamen. – Wiesbaden 1977; Michael Wolfsohn und Thomas Brechenmacher: Die Deutschen und ihre Vornamen. 200 Jahre Politik und öffentliche Meinung. – München – Zürich 1999. Bezeichnend erscheint, dass islamisches Namengut in Namenstudien aus dem deutschsprachigen Raum bis ins ausgehende 20. Jahrhundert kaum Behandlung findet.
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10. Europaname Mohammed?
Unterschiede reichen historisch weit zurück – in den Grundprinzipien bis ins Frühmittelalter. Sicher hat es in beiden Kulturräumen Tendenzen des Wandels und der Differenzierung gegeben. Aber Prinzipien der Namengebung sind in ihrer geschichtlichen Entwicklung stark beharrend. Trotz beschleunigten gesellschaftlichen Wandels in der Moderne wirken grundsätzliche Unterschiede bis heute nach. Die Zuwanderung von Arbeitsmigranten islamischen Glaubens nach Europa in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat in vielfältiger Weise Kulturunterschiede bewusst gemacht – nicht zuletzt in der Kultur der Namengebung.3 In welchem Maße Namen zum Kristallisationspunkt allgemeiner Kulturkonflikte werden können, zeigen Debatten in den Medien über Veränderungen in der Häufigkeit vergebener Vornamen. Am Beispiel der Verbreitung des Namens Mohammed in Europa soll diesem Problem nachgegangen werden.
Eine Verschwörung gegen „Mohammed“? Am 6. Jänner 2005 veröffentlichte die Londoner „Times“ unter dem Titel „Mohamed the lad leaps up league of names“ einen Beitrag über die Entwicklung der Namenhäufigkeit in England im vorangegangenen Jahr:4 „Mohamed was the fifth most popular boy’s name in England and Wales in 2004, according to new government data that illustrates the cultural diversity of England and Wales. The official annual survey of all 620,000 births registered in 2004 reveals that Jack and Emily were the most popular names given to babies in 2004. Jack has now been the top boy’s name for ten years while Emily has been most popular for two years. This year’s chart shows a number of new developments, including a big rise in popularity of the Muslim name Mohammed for boys and the first appearance in the girls’ list of the American name Madison. Mohammed made it into the top 20 for the first time in 2004, up two places from 2003. But when all 17 spellings (including Muhammad and Mohammad) are added up, it moves to fifth place in the chart, close behind Jack, Joshua, Thomas and James. In 2004 5,358 babies were named Mohammed (or another spelling of it). Fifty years ago there were 604.“ Die Zusammenfassung der verschiedenen sprachlichen Varianten von Mohammed ist aus der Sicht einer Bedeutungsgeschichte des analy3 4
Jürgen Gerhards und Silke Hans: Zur Erklärung der Assimilation von Migranten an die Einwanderungsgesellschaft am Beispiel der Vergabe von Vornamen (www.diw.de/documents/publikationen/73/44291/dp583.pdf. – 09.03.2009) Alexandra Frean, Mohammed the lad leaps up league of names. – In: Times Online vom 6. Jänner 2005 (http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article408877.ece - 24.02.2009).
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sierten Namenguts sicher berechtigt. Alle Namensformen beziehen sich zweifellos auf den Propheten Mohammed, die primäre Identifikationsfigur der Glaubensgemeinschaft. Bei Jack, der Kurzform zu John, liegen die Dinge wohl anders. Nur wenige Eltern werden sich bei der Vergabe des Namens an Johannes dem Täufer orientiert haben. Ein Addieren der Nennungen von Jack und John macht so kaum Sinn. Hinter der zunehmenden Tendenz der Namengebung nach dem Propheten Mohammed hingegen steht sicher eine religiöse Entwicklungstendenz. Die „Times“ setzte die Berichterstattung über den rasanten Aufstieg des Namens Mohammed in England fort. Am 6. Juni 2007 erschien ein Artikel unter der Schlagzeile: „Muhammad is No 2 in boy’s names“.5 Die Zeitung berichtete: „Muhammad is now second only to Jack as the most popular name for baby boys in Britain and is likely to rise up to No 1 by next year, a study by The Times has found. The name, if all 14 different spellings are included, was shared by 5,991 newborn boys last year, beating Thomas into third place, followed by Joshua and Oliver. Scholars said that the name’s rise up the league table was driven partly by the growing number of young Muslims having families, coupled with the desire to name the child in honour to the Prophet. Muhammad Anwar, Professor of Ethnic Relations at Warwick University, said: ,Muslim parents like to have something that shows a link with their religion or with the Prophet.’ Allthough the official names register places the spelling Mohammed at No 23, an analysis of the top 3,000 names provided by the Office for National Statistics (ONS) puts Muhammad at No 2 once the 14 spellings are taken into account. If its popularity continues – it rose by 12 per cent last year – the name will take the top by the end of this year. It first entered the top 30 in 2000. The spelling Muhammad, like all transliterations, comes from replacing the Arabic script with what is deemed its closest Latin equivalent. There are many versions in Britain, depending on where the family are from and variations in pronounciation. Muhammad, which means ‚one who is praisworthy’ is often given to boys as honorary prefix and is followed by the name by which they are commonly known. It is regularly cited as as the most common name in the world, though there is no concrete evidence. Mufti Abdul Barkatullah, a former imam at the Finchley mosque in northwest London, said: ‚Parents who name their son Muhammad believe that the name has an effect on their personality and future characteristics. They are saying that this boy will have a good character. Some people may not really understand the history of the Prophet Muhammad and the name but they will still want the association so they can be recognised as one of his followers‘.“ Der Artikel bietet zusätzliche Erklärungen für die berechtigte Zusammenfassung der verschiedenen 5
Helen Nugent und Nadia Menuhin, Muhammad is No 2 in boy’s names. – In: Times Online vom 6. Juni 2007 (http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article18990354.ece, 05.03.2009)
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10. Europaname Mohammed?
Namensvarianten. Vor allem gibt er plausible Erklärungen für die Häufigkeitszunahme in den letzten Jahren. Die Statements der befragten Gelehrten enthalten diesbezüglich weiterführende Ansätze: Sichtbarmachen der Religionszugehörigkeit, Ehrung des Propheten, Programm für die Persönlichkeitsbildung des Sohnes durch die Nachbenennung. So seriös alle diese Interpretationen erscheinen – was in der Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, war die Prognose der Times-Studie: Mohammed wird im Vereinigten Königreich zur Nr. 1! Ein Rauschen ging durch den englischen Blätterwald und auch europäische Zeitungen griffen das Thema auf. Vielen Autoren diente die Studie als Beleg für eine zunehmende Islamisierung Europas. Nach den Prognosen von 2007 überrascht der Bericht über „Britain’s most popular baby names of 2008“. Er wurde am 29. Dezember 2008 in der „Times“ veröffentlicht:6 „Britain’s most popular baby names of 2008 were Olivia for a girl and, once again, Jack for a boy, according to the annual survey by the Bounty parenting club“. Es folgen lange Abhandlungen über den Einfluss von Film- und Fussball-Stars auf die englische Namengebung. Islamische Gelehrte brauchen nicht mehr gefragt zu werden, da der Name Mohammed nicht vorkommt. Ähnliche Berichte finden sich in anderen großen englischen Zeitungen, die den Namen Mohammed als Nr. 1 für 2008 prognostiziert hatten, etwa in „The Guardian“ und „The Daily Telegraph“. Auch gleichzeitig veröffentlichte Namenstatistiken zeigen, dass der Name plötzlich fehlt7. Der Sachverhalt erregt Aufsehen. Kritische Stimmen finden sich im Internet: „Why is the name Mohamed (and its variants) missing from the top names of 2008?“, „Is there a conspiracy to keep ‚Mohammed‘ out of the most popular name list?“8 Was war geschehen? Das „Office of National Statistics“ hatte sich aus Gründen der Kostenersparnis entschieden, keine Namenstatistik mehr zu veröffentlichen. Die privaten Institutionen, die diese Aufgabe übernahmen – unter ihnen auch Bounty – zählten den Namen Mohammed nicht mehr. „Lies, damned lies and statistics all seem to have conspired to keep ‚Mohammed‘ from the Number One slot of the UK’s most-popular names“, meint der zuletzt genannte Kommentator. Es muss sich schon um ein sehr heißes Thema handeln, wenn solche Kommentare in einer seriösen Publikation formuliert werden. An der Jahreswende 2008/9 – beim Vorliegen der statistischen Ergebnisse des abgelaufenen Jahres – sind die Internet-Seiten über Namengebung voll von Berichten über das 6 7 8
Jenny Booth: Britain’s most popular baby names of 2008 (http://women.timesonline.co.uk/tol/ life_and_style/women/families/articles 541 – 24.02.2009). So etwa: „Popular names in England and Wales“ mit den Top 100 im Vergleich von 2006, 2007 und 2008 (http://www.woodlands-junior.kent.sch.uk/customs/questions/names.htm – 24.02.2009) http://uk.answers.yahoo.com/question/index?qid=20090105091422AArgifO – 24.02.2009, http://archbishop-cranmer.blogspot.com/2009/01/is-there-conspiracy-to-keep-mohammed 28.02.2009). Die Diskussion wurde hier bis Ende Februar 2009 verfolgt.
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Vorrücken des Namens Mohammed in Europa. Unter dem Titel „Les nouveaux prénoms européens“ etwa werden zunächst typische herkömmliche Namen einzelner europäischer Regionen aufgezählt wie Nicolas oder Sebastien für Frankreich, Jack und James für England oder Stefan und Andreas für Deutschland. Dann heißt es:9 „L’immigration de masse a bien entendu bouleversé ce paysage traditionnel. Depuis au moins 7 ans, le prénom le plus donné à Bruxelles est Mohamed. En Angleterre, c’est maintenant Mohamed (Muhammad). En Seine-Saint-Denis, c’est Mohamed. À Marseille c’est Mohamed. À Oslo en Norvège, c’èst Mohamed. À Malmö en Suede, c’est Mohamed. À Amsterdam et à Rotterdam, c’est Mohamed. À Milan, c’est Mohamed“. Ein ähnliches Bild der europäischen Namengebung – allerdings mit der Korrektur von Mohammed in England und Malmö auf Platz 2 – findet sich unter dem bezeichnenden Titel „Mohamed, ou la nouvelle démographie eurabienne“.10 Brüssel wird in Hinblick auf die Namengebung im Hauptstadtdistrikt als „Muhammad-City“ bezeichnet.11 Dass Mohammed in der „europäischen Hauptstadt“ schon seit Jahren der am häufigsten gegebene Vorname von Knaben ist, deutet man als besonders eklatantes Zeugnis für die Islamisierung Europas. „Aus Jan wird Mohammed“ heißt es nüchterner für die Entwicklung in Amsterdam:12 „Die Hälfte der Bevölkerung Amsterdams stammt inzwischen aus Migrantenfamilien, und der Vorname Mohammed hat den traditionell niederländischen Jan bei den Neugeborenen schon längst abgelöst.“ Stärker kämpferisch ist das Vokabular, wenn es über Mailand heißt: „Muhammad takes Milan by Storm“.13 Der Befund stützt sich auf die Namenvarianten Mahmoud, Ahmed und Hamid, die für die Umwelt weniger deutlich als der Name Mohammed auf den Propheten verweisen. Trotzdem machten sich die Kommunalbehörden – von der Namenstatistik ausgehend – über das Anwachsen der muslimischen Gemeinde Sorgen. Die kulturellen Charakteristika der Stadt könnten sich verändern. Ähnliche Tendenzen der Namenhäufigkeit werden für Rom berichtet.14 In Marseille wurde 2007 Mohamed zum Spitzennamen. Unaufgeregt titelte „France Soir“: „Prénoms Mohamed et Inès en tête à Marseille“.15 Und für das Departement Seine-Saint-Denis hieß es am 23. Jänner 2009: „Mohamed, tou9 Les nouveaux prénoms européens (http://www.lepost.fr.article/2008/11/09!1320793 – 24.02.2009 10 Mohamed, ou la nouvelle démographie eurabienne (http://www,leblogdrzz.over-blog.com/article-27279885.html – 02.03.2009 11 Muhammad City? (http://danielpipes.org/commnts/79957 – 20.02.2009) 12 Die Eingewanderten (http://www.vorwaerts.de/artikel/die-eingewanderten – 28.02.2009) 13 Muhammad takes Milan by Storm (http://www.yetnews.com/articles/=,7340,L-3550085,00.html – 22.02.2009) 14 Mohamed, premier prénom á Milan. Ahmed, Mahmoud et Hamid á Rome (http://www.al. kanz. org/2008/0602/mohamed-prenom-2/ – 22.02.2009) 15 Germain Gillet: Prénoms – Mohamed et Inès en tête a Marseille. – In: France Soir, 25 février 2008.
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jours premier prénom Seine-Saint-Denis“.16 Das Department gehört zur „banlieue“ von Paris, die schon seit Langem Wohngebiet muslimisch-nordafrikanischer Zuwanderer ist. Der Name Mohammed hatte dort bereits in den 70er und 80er Jahren Höhepunkte erreicht, erneut dann nach der Jahrtausendwende. Die Zunahme seiner Häufigkeit kam hier weniger überraschend. Trotzdem wird das Departement Seine-Saint-Denis auch immer wieder als Beleg für eine aktuelle Islamisierungswelle angeführt, die im Namen Mohammed ihren Ausdruck findet. Die Provokation, die in der Charakteristik von Mohammed als „nouveau prénom Européen“, als „neuer Europaname“, steckt, wirft Probleme auf, denen hier näher nachgegangen werden soll.
Namensränge Plakative Berichte in den Medien, die die zunehmende Häufigkeit des Namens Mohammed als Zeichen einer zunehmenden Islamisierung deuten, sind in verschiedener Hinsicht kurzschlüssig – sowohl als quantitativer als auch als qualitativer Befund. Wenn etwa aus der Namenstatistik abgeleitet wird, dass der Name des Propheten Mohammed einen traditionsreichen christlichen Namen vom Platz 1 „verdränge“, so wird dadurch ein unzutreffender Sachverhalt suggeriert. Es verdrängt hier nicht eine neue, fremde Namenkultur eine alte, bodenständige – und schon gar nicht eine religiöse Kultur insgesamt eine andere. Statistisch geht es bei den Rangplatzverschiebungen unter den am häufigsten vergebenen Vornamen um minimale Veränderungen in der Größenordnung von Promillen. In Hinblick auf die enorme Breite des heute in europäischen Ländern vergebenen Namenguts kann aus Verschiebungen unter den Spitzenplätzen keineswegs auf grundsätzliche kulturelle Veränderungsprozesse geschlossen werden. Schon gar nicht sind sie als unmittelbare Entsprechung zum jeweiligen Anteil von Zuwanderern aus islamischen Ländern zu deuten.17 Die Zusammenhänge sind diesbezüglich komplizierter. In Norwegen etwa beträgt der Anteil der muslimischen Bevölkerung nur 1–2 %. Auch in der Hauptstadt Oslo, 16 Mohamed, toujours premier prénom de Seine-Saint-Denis (http://www.al.kanz.org/2009/01/23/ mohamed-prenom/ – 02.03.2009) sowie: Prénom Mohamed, tout sur ce prénom: origines, statistiques, étymologie du prénom (http://www.aufeminin.com/w/prenom/p13838/mohamed/html – 02.03.2009) mit einem Überblick über die Häufigkeit des Namens Mohammed von 1900 bis 2006 sowie dessen Vergabe nach Departements im Jahr 2006. 17 Die im Folgenden gebotenen Werte sind für europäische Großstädte entnommen: Muslim population in European Cities. – In: Islam in Europe (http://islamineurope.blogspot.com/2007/11/ muslim-population-in-european-cities.html – 09.03.2009), für einzelne Staaten: Eurabia. From Wikipedia, the free encyclopedia (http://en.wikipedia.org/wiki/Eurabia – 22.02.2009)
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wo der Name Mohammed den Platz eins einnimmt, liegt er im Vergleich zu anderen europäischen Hauptstädten nicht besonders hoch. Sicher haben die meisten Großstädte, in denen der Name Mohammed in der Namenhäufigkeit weit vorne liegt, auch einen hohen Anteil von Migranten aus islamischen Ländern – Marseille und Malmö etwa 25 %, Amsterdam 24 %, Brüssel 17–20 % oder Rotterdam 13 %. In den jeweiligen Staaten, zu denen diese Städte gehören, ist dieser Bevölkerungsanteil jedoch keineswegs durchgehend hoch – etwa in Schweden 3–4 %, in Belgien 4–5 %, in Frankreich und den Niederlanden 5–10 %. In Hinblick auf solche Werte ist die vielfach polemisch gebrauchte Wortbildung „Eurabien“ sicher unzutreffend. Umgekehrt gibt es europäische Staaten mit einem gleich hohen Anteil an muslimischer Bevölkerung, in denen der Name Mohammed weder in den Zentren noch in der Gesellschaft insgesamt ähnlich häufig vergeben wird. Das gilt etwa für Deutschland mit einem Anteil von 3–4 % oder Österreich mit 4–5%. Offenbar hängt dieses Phänomen – zumindest partiell – mit unterschiedlichen Mustern der Namengebung in den jeweiligen Zuwandererländern zusammen. Die aus Nordafrika stammenden Migranten in Frankreich und den Benelux-Staaten bringen offenbar, obwohl ebenso islamisch, ein anderes Namengut mit als die Türken, Kurden, Kosovaren, Albaner, Bosnier und Mazedonier, aber auch Tschetschenen oder Perser in Deutschland und Österreich. Einen Extremfall stellen wohl die muslimisch-albanischen Arbeitsmigranten in Griechenland dar, bei denen islamisches Namengut schon in ihrem Herkunftsland keine große Rolle spielte und in Hinblick auf die Beschäftigungschancen in ihrem Gastland dann auch häufig gewechselt wurde.18 Die Religionszugehörigkeit erscheint im Namen nicht mehr erkennbar. Solche Phänomene machen darauf aufmerksam, dass sich muslimische Migranten nach ihrer Zuwanderung in die Europäische Union in ihrer Namengebung unterschiedlich verhalten und dieses Verhalten auch wiederum wechseln. Quantitative und qualitative Aspekte solcher Entwicklungen seien in einer Fallstudie für Österreich mit einer Fokussierung auf Wien skizzenhaft erläutert. Für Wien liegen Vornamenstatistiken aus der Zeit von 1918 bis zur Gegenwart vor. Detaillierte Angaben von Namensvarianten und Häufigkeitsverteilungen stehen ab 1984 für ganz Österreich sowie jedes einzelne Bundesland zur Verfügung – bis 1999 in 5-JahresGruppen zusammengefasst, bis 2007 für den gesamten Zeitraum kumuliert.19 Aus der 18 Georgia Kretsi: „Shkëlquen“ oder „Giannis“? Namenwechsel und Identitätsstrategien zwischen Heimatkultur und Migration. – In: Karl Kaser, Robert Pichler und Stephanie Schwandner-Sievers (Hg.): Die weite Welt und das Dorf. Albanische Emigration am Ende des 20. Jahrhunderts. Wien 2002, S. 262–284. 19 Ludwig Halasz: Vornamen in Wien. – In: Mitteilungen aus Statistik und Verwaltung der Stadt Wien, S. 16–20; Statistik Austria (Hg.): Mein Name ist? Babynamen in Österreich. Wien 2000; Statistik Austria, Die natürliche Bevölkerungsbewegung. Vornamen 1984–2007 (http://www.statistik.
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Gegenüberstellung früherer Erhebungen und nahe an die Gegenwart heranreichender kumulierter Daten ergeben sich klare Tendenzen. Ergänzende qualitative Angaben über Motive der Namengebung, Bewertungen von Namen und andere subjektive Momente können den diversen Diskussionsforen zu den jeweiligen Vornamen im Internet entnommen werden.20 Sie entstammen dem gesamten deutschsprachigen Raum und lassen sich in der Regel nicht lokal zuordnen
Heilige und Propheten Ein Blick auf die Langzeitentwicklung des Namenguts in Wien bestätigt die eingangs getroffene Feststellung, dass sich europäisch-christliches Namengut sehr deutlich von islamischem unterscheidet. Kaum einer der von muslimischen Migranten mitgebrachten Namen findet in der überkommenen Namengebung der autochthonen Bevölkerung eine unmittelbare Entsprechung. Soweit sich überhaupt Zusammenhänge herstellen lassen, sind sie durch ein Nebeneinander spezifischer Namensvarianten gegeben, die in unterschiedlichem kulturellem Kontext geformt wurden. An zwei Beispielen seien solche Ansätze der Interkulturalität illustriert, nämlich Josef und Michael. Josef war in Wien seit alters ein häufig gegebener Name. Vor 1918 lag er unter den vergebenen Männernamen am zweiten Platz und noch 1946–1949 am fünften. Sein arabischtürkisches Äquivalent Yusuf/Yusef begegnet schon vor 1989 und seither mit leicht steigender Tendenz. Zum Diskussionsforum des Namens trägt am 3. März 2008 ein Yusuf Y. die Bemerkung bei: „Ich bin stolz auf den Namen, weil es der Name eines Propheten ist, der die Hälfte der Schönheit bekommen hat, was Allah erschuf.“ Und eine Rabia fügt etwas später hinzu: „Yusuf ist ein Prophetenname, wie es jedem bekannt ist.“ Der Prophet Yusuf wird im Koran 27mal genannt. Die 12. Sure erzählt seine Geschichte. Er ist nicht der Nährvater Jesu aus dem Neuen Testament, sondern der von seinen Brüdern verkaufte Patriarchensohn aus dem Alten – der „ägyptische Josef “ der christlichen Tradition. Die christliche Namengebung nach dem heiligen Josef kam im Spätmittelalter auf und entwickelte sich vor allem in den katholischen Ländern sehr stark. St. Josef wurde als Helfer für eine gute Todesstunde verehrt, weil man glaubte, dass Jesus bei seinem Tod gegenwärtig at/web_de/static/vornamen_1984_-_2007_023101.pdf - 23.02.2009). Ich danke Frau Anita Höfner von Statistik Austria dafür, mich auf diese Liste aufmerksam gemacht zu haben. 20 Soweit nicht anders ausgewiesen, stammen diese Beiträge aus den Foren von Baby-Vornamen.de unter dem jeweils behandelten männlichen oder weiblichen Vornamen. Sie wurden Ende Februar 2009 abgerufen.
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war.21 Die Begleitung in der Sterbestunde und auf dem Weg ins Jenseits war eine besondere Erwartung an Namenspatrone. Dementsprechend häufig wurden Kinder nach solchen Patronen benannt.22 Die Vorstellung, durch die Namengebung nach Heiligen Fürbitter bei Gott zu gewinnen, führte zu der in katholischen Ländern weit verbreiteten Sitte, Kinder auf mehrere Heiligennamen zu taufen.23 Ohne diesen religiösen Hintergrund spielen Doppelnamen in der europäischen Namengebung heute eine zunehmende Rolle. Auch unter Muslimen gewinnt diese Sitte an Bedeutung.24 Christliche Heilige konnten für Knaben und Mädchen in gleicher Weise Fürbitter sein. So findet sich auch die Femininform zu Josef, nämlich Josefa oder Josefine, relativ häufig. In Wien lag sie vor 1918 in der Rangliste der vergebenen Vornamen an zehnter Stelle. Prophetennamen des Korans hingegen fungierten für die Namengebung nicht wie christliche Heiligennamen. Sie wurden und werden ja nicht mit der Intention der Fürbitte bei Gott vergeben, sondern als persönliches Vorbild. Eine Nachbenennung von Mädchen nach ihnen kommt deshalb nicht in Frage.25 Für diese stehen Namen der Frauen, Mütter und Schwestern der Propheten zur Verfügung. Die Namen der im Koran genannten Propheten werden in der islamischen Tradition gerne vergeben.26 Auch in Österreich treten sie in den letzten Jahren zunehmend häufiger auf, etwa Adam/Adem (Adam), Nu (Noe, Noah), Ibrahim (Abraham), Ishaq (Isaak), Ismail (Ismael), Yaqub (Jakob), Yusuf (Josef), Musa (Moses), Harun (Aaron), Dawud (David), Sulayman (Salomon), Ayyub (Hiob), Ilyas (Elias) und Yunus (Jonas). Gestützt wird diese Nachbenennung nach Propheten des Korans wohl indirekt durch puritanische Namengebungstraditionen nach Gestalten des Alten Testaments, die über die USA nach Europa ausstrahlen. Das Nebeneinander unterschiedlicher Namensvarianten könnte zu einer gegenseitigen Verstärkung geführt haben. Aus der islamischen bzw. der europäischen Tradition stammende Namensvarianten dürften allerdings nicht so ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sein. Als es in den frühen neunziger Jahren um die Namengebung der Tochter eines türkisch-österreichischen Paares ging, meinte die Mutter:27 „Ich wollte meiner Toch-
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Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 358. Ebda., S. 346. Ebda., S. 397–402. Josef/Joseph begegnet in Österreich 1984–2007 in 24 Kombinationen, Yusuf in 4. Islamische Namen, die sowohl in männlichen als auch in weiblichen Formen vergeben werden, sind von erwünschten Eigenschaften abgeleitet wie Rashid/a („rechtschaffen“), Latif/a („gütig“, „sanftmütig“), Munir/a („leuchtend“) oder Samir/a („unterhaltsamer Begleiter/in“), nicht aber von religiösen Vorbildgestalten. Zur Unterscheidung von Namengebung nach dem Namenssinn bzw. nach dem Namensvorbild Mitterauer: Ahnen und Heilige, passim. 26 Mitterauer, Ahnen und Heilige. S. 186; Schimmel: Die Zeichen Gottes. S. 160 27 Djafari-Arnold und Mitterauer: „Kein Problem….“. S. 39. Vgl. oben S. 218.
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ter gerne als zweiten Namen ‚Maria‘ geben; so heißt in meiner Familie niemand, aber er ist so klassisch österreichisch, ich wollte einen Ausgleich. Maria ist als Mutter Jesu auch den Muslimen eine verehrungswürdige Person, und mein Mann hatte von daher nichts dagegen. Er meinte aber, dann sollte man doch auf jeden Fall die Originalform des Namens nehmen, Miriam oder Meryem oder Maryam. Dann habe ich es aber doch gelassen, weil es meinen Zweck so nicht erfüllt hätte.“ Es gibt wenige koranisch-alttestamentliche Namen, die in ihren jeweiligen Formen keinen Unterschied erkennen lassen. Von den Prophetennamen ist in diesem Zusammenhang vor allem Adam zu nennen. Weiters gehört hierher Sarah/Sara, der Name der Frau Ibrahims/Abrahams, die in einem Hadith namentlich genannt wird, im Koran selbst allerdings nur ohne Namensnennung (Sure 11,74).28 Ihr Name ist heute ein führender Mädchenname – sowohl im islamischen Nordafrika wie in Österreich.29 Bei Yusuf/Josef verhält es sich anders. Der neuerdings gehäuft auftretende Yusuf ist sicher keine Fortsetzung des bodenständigen Josef. Vor allem wird er in einem ganz anderen Verständnis vergeben. Bei Yusuf ist das koranische Namensvorbild bis heute präsent. Bei Josef hingegen wird, soweit der Name in Wien überlebt hat, kaum mehr nach dem einst so wirkkräftig geglaubten christlichen Namenspatron nachbenannt. In den Diskussionsforen findet sich kein Hinweis auf den christlichen Heiligen mehr, hingegen die polemische Eintragung: „So viele schlechte Menschen fallen mir bei keinem anderen Namen ein: Josef Stalin, Josef Göbbels, Josef Mengele, Josef Fritzl.“ Neben dem Propheten- bzw. Heiligennamen Yusuf/Josef stellt der Engelsname Mikail/ Michael ein Bindeglied zwischen christlicher und islamischer Namengebung dar. Der Name Michael war in Wien vor 1918 eher selten und kam in der ersten Jahrhunderthälfte nicht über den Platz 27 hinaus. Seine große Zeit liegt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Spitzenplätzen über die Jahrtausendwende hinaus. Mit über 36.000 Nennungen zwischen 1984 und 2007 führte er in Österreich die Top-Liste der beliebtesten Namen an. Er wurde in vielen Zusammensetzungen und Varianten vergeben, darunter schon seit 1984 in der Form Mikail, die auf arabisch-christlichen, vielleicht auch schon auf islamischen Ursprung verweist. In Anschluss an die dominante einheimische Form stieg auch die islamische deutlich an. Hier ist wahrscheinlich ein Zusammenhang gegeben. Wie die vielen anderen Varianten des führenden Namens – Michél, Michele, Miguel, Mike 28 Thomas Patrick Hughes: Lexikon des Islam. Wiesbaden 1995. S. 633; What is the position of Abrahams wife Sara in Islam (http://answers.yahoo.com/question/index?qid=20081206230025A AHGQrc). 29 Sarah/Sara ist in Ägypten vor allem unter Studentinnen sehr verbreitet. Vgl. dazu: Students of the World. Penpal Statistics: Egypt (http:www.studentsoftheworld.info/penpals/stats.php3?Pays=EGY – 28.02.2009). In Libyen lag der Name 2008 an dritter Stelle (http://en.wikipedia.org/wiki/Most_ popular_given_names – 28.02.2009).
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etc. – wurde auch Mikail offenbar als eine zulässige Verfremdung des führenden Namens der eigenen Kultur gesehen. So war die Namensform für das soziale Umfeld akzeptabel. Die Differenzierung als Ausdruck von Individualisierung – ein allgemeines Charakteristikum der neueren Namenentwicklung – führte ja damals generell in diese Richtung.30 Sucht man Motive der Namengebung zu erfassen, so ergeben sich allerdings Unterschiede: „Hi Leute, mein Name ist auch Mikail. Das ist ein nicht verbreiteter Name und aus diesem Grund was Besonderes. Wisst den Namen zu schätzen und versucht wenigstens annähernd euch wie ein Engel zu benehmen“, schreibt einer der Mikails, die sich bewusst sind, einen Engelsnamen zu tragen. Dass man sich dem Namensvorbild oder der Namensbedeutung entsprechend verhalten soll, ist auch sonst ein vielfach wiederkehrendes Moment muslimischen Namensbewusstseins. Andere Wortmeldungen zu Mikail wie „anstatt immer so die Standardnamen wie Mehmet, Murad und so“ oder „Er kann international ausgesprochen werden“ deuten in eine ähnliche Richtung innovativer und modernisierter Namengebung. Analysiert man das parallele Diskussionsforum zum Namen Michael, so fehlen religiöse Motive der Namenswahl. Der Namenspatron wird nicht erwähnt. Es fühlt sich niemand verpflichtet, wie ein Engel zu leben. Und auch der theophore Namenssinn „Wer ist wie Gott?“ erscheint ohne Bedeutung. Hinweise finden sich auf Väter, Brüder, Freunde und Kollegen, die so heißen. Mehr oder minder stark werden also nahestehende Personen mit dem Namen assoziiert. Das Prinzip der Nachbenennung begegnet gelegentlich noch. Für die Namengebung wesentlich erscheinen aber sein Klang sowie die mögliche Vielfalt abgeleiteter Rufnamen. Übereinstimmung besteht im Verweis auf die Internationalität des Namens, die sich durch den Vergleich von Statistiken beliebter Namen weltweit durchaus verifizieren lässt. Einen wesentlichen Unterschied zwischen Michael und Mikail stellt, wie schon bei Josef und Yusuf erläutert, die Möglichkeit der Feminisierung dar. Michaela steigt in Österreich mit einer gewissen Verzögerung parallel zu Michael an. Hingegen findet sich bis 2007 nur eine einzige Mikaila, bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht um eine Muslima handelt. Der islamischen Namengebung fehlen Femininbildungen zu den traditionellen Namentypen nach Vorbildgestalten der Religionsgemeinschaft – zu den Engelnamen genauso wie zu den Prophetennamen oder den Namen der Gefährten Mohammeds. Dieser Unterschied zur christlichen Namengebung mit seiner Benennung nach Heiligen ist systemisch bedingt. Das islamische Namengut erhält dadurch eine andere Struktur, dem auch die in islamischen Gesellschaften traditionell stark polarisierten Geschlechterrollen entsprechen. Die Namenkultur korrespondiert so mit umfassenden soziokulturellen Strukturen.
30 Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 427.
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Namen, die das Paradies verheissen In diesem gegenüber genuin christlichen Gesellschaften stark kontrastierenden islamischen Namengut dominiert ganz eindeutig der Name des Propheten Mohammed in seinen verschiedenen sprachlichen Varianten bzw. seine verschiedenen Beinamen wie Ahmad oder Mustafa.31 Auch in Österreich und hier wiederum vor allem in Wien ist in den letzten Jahren eine starke Zunahme dieser Namen erkennbar, wobei sich die Entwicklung offenbar seit der Jahrtausendwende beschleunigt. In ganz Österreich wurde der Name Mohamed 1984/9 19-mal, bis 2007 aber dann insgesamt 309-mal vergeben, Mohammad 1984/9 7-mal, bis 2007 48-mal, Mohammed 1984/9 12-mal, bis 2007 76-mal; Muhammad fehlte 1984/9 gänzlich, bis 2007 stieg er auf 27 Nennungen; Muhammed begegnet 1984/9 ein einziges Mal, bis 2007 wurde er insgesamt 530-mal vergeben. Besonders beachtenswert erscheint die Steigerung der türkischen Namensform Mehmet von 6 in den Jahren 1984/9 auf 334 bis 2007. Türken stellen in Österreich die stärkste islamische Zuwanderergruppe dar. Ahmed/Ahmet stieg im selben Zeitraum von 27 auf 590, Mustafa von 7 auf 304. Würde man die verschiedenen Namensvarianten von Mohammed addieren, wie das für England gemacht wurde, so ergäbe sich daraus wohl auch in Österreich ein vorderer Rangplatz, allerdings sicher nicht unter den Top Ten. Nach einzelnen Namensvarianten ausgezählt ergab sich in Wien 1995/9 für Mohamed Platz 84, für Muhammed Platz 86 und 2007 für Muhammed unter 60 ausgewiesenen Rängen Platz 35. Ein deutlicher Anstieg ist unverkennbar. Dass der Name des Propheten seit den Anfängen der Religionsgemeinschaft in der Namengebung eine privilegierte Stellung einnimmt, steht außer Zweifel.32 Mohammed soll gesagt haben: „Wer immer sein Kind mit meinem Namen nennt oder einem meiner Kinder oder Gefährten, aus Liebe zu mir oder zu ihnen, dem wird Gott im Paradies geben, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat“. Und auch im Diesseits wird der Name des Propheten als besonders wirkmächtig angesehen: „Es gibt keine Beratung von Leuten, von denen einer Muhammad oder Ahmad heißt, ohne dass Gott die ganze Versammlung segnet“ – eine Zusage, die Namengebung mit politischer Partizipation in Verbindung bringt. „Nennt eure Kinder nach dem Propheten“, wird empfohlen. „Wenn du hundert Söhne hast, nenne sie alle Mohammed“, lautet eine alte islamische Spruchweisheit. Nicht hundert, aber doch mehrere Söhne Mohammed zu nennen und trotzdem im Namen zu 31 Zu diesen Beinamen und ihrer Bedeutung Schimmel: Die Zeichen Gottes. – S. 160. 32 Hughes: Lexikon des Islam. Wiesbaden 1995. S. 560-2; Johann Christoph Bürgel: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam. München 1991. S. 52; Schimmel: Zeichen Gottes. S. 159; Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 185.
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differenzieren, wird dadurch möglich, dass der Name in verschiedenen Varianten bzw. nach verschiedenen Beinamen des Propheten gegeben werden kann. Anders als das Christentum besitzt der Islam seit seiner Frühzeit klare Regeln der Namengebung. Sie verleihen dem Prophetennamen eine bevorzugte Position. Die häufige Vergabe des Namens Mohammed in Migrantenfamilien steht also in einer sehr alten Tradition. In Hinblick auf den raschen Anstieg des Namens Mohammed und seiner Varianten in den letzten Jahren erscheint es verwunderlich, dass die Diskussion um seine Vergabe durchaus kontrovers verläuft. Dazu einige Stimmen aus der deutschsprachig im Internet geführten Debatte: „Ich bin auch Moslem; ich persönlich würde mein Kind nicht Muhammed nennen, dieser Name ist einfach zu heilig.“ Die besondere Heiligkeit des Namens kann also nicht nur für die Vergabe sprechen, wie man zunächst vermuten würde, sondern auch gegen sie. Eine andere Stellungnahme greift den Gedanken noch anschaulicher auf. Ein Mehmet meint: „Ich bin einfach dagegen! Ich bin auch Moslem, aber würde mein Kind nicht nach dem Propheten nennen. Ich finde es einfach nicht schön. Selbstverständlich liebe und ehre ich Muhammed, aber ein Kind nach ihm nennen und es mit seinem Namen anschimpfen, das muss nicht sein. Es gibt genug schöne Namen, die nicht eine so große Bedeutung haben. Mehmet z. B. ist eine Alternative für Muhammed.“ Sieht man Mehmet bloß als eine türkische Form von Mohammed, so bleibt diese Stelle unverständlich. Im Türkischen gibt es bei der Vergabe des Prophetennamens eine wichtige Differenzierung. Mohammet bzw. Muhamet kann nicht wahllos vergeben werden, weil man nicht sicher ist, ob das Kind dem Namen gerecht wird. In der abweichenden Vokalisation Mehmet hingegen konnte er ohne Bedenken übertragen werden.33 In manchen muslimischen Kulturen wird das Problem so gelöst, dass der Sohn ehrenhalber als ersten Namen Mohammed erhält, der aber im Alltag nicht gebraucht wird und gegenüber einem zweiten zurücktritt. Das dem Namen vorangestellte „M.“ oder „Md.“ deutet auf eine solche Namenspraxis. Die Vorstellung, eine Beschimpfung des nach dem Propheten benannten Kindes könnte auf den Propheten selbst bezogen werden, geht von einem magischen Denken über die Wirkkraft von Namen aus, wie sie sich durchaus auch in christlicher Tradition findet.34 Abgewandelt kommt sie in der Idee zum Ausdruck, gleicher Name müsste gleiches Verhalten bewirken: „Muhammed – viele Moslems heißen so, ich auch. Aber viele, die Muhammed heißen, benehmen sich nicht, wie die sich benehmen sollen“. Der Gedanke, dass der religiös so bedeutungsvolle Name eine entsprechende Lebensgestaltung bewirken müsste, wird durch einen Diskutanten vom Konzept des Lebenslaufs als persönlicher Entwicklungsperspektive her in Frage gestellt: „Was ist eigentlich ein ‚christli33 Schimmel: Zeichen Gottes. S. 159. 34 Vgl. dazu Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 15 et passim.
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ches‘ (respektive ‚moslemisches‘) Kind?! Religionszugehörigkeit ist genauso wie politische Anschauungen eine Angelegenheit der ganz persönlichen Überzeugung und freien Entscheidung. Wie ein Säugling – ganz gleich welche Abstammung – dazu kommen soll, ist mir schleierhaft … Egal, woher Dein Mann stammt: Dadurch ist nicht vorgezeichnet, welchen Weg Dein Kind einmal gehen wird, oder? Mit Muhammad etc. verhält es sich genau wie mit Gotthilf und Traugott: Wenn der Träger später Atheist wird, hat er ein Problem.“ Diese Gedanken – an eine in bikultureller Ehe lebende Mutter gerichtet – sprechen sehr grundsätzliche Probleme an, die sich einer traditionell muslimischen Namengebungspraxis in Europa heute stellen. Sehr deutlich kommt in den Namengebungsdiskussionen zum Ausdruck, dass es sich bei Mohammed um einen Namen der Abgrenzung handeln kann: „Mohammed ist wirklich nur ein Name für Moslems. Als Nichtmoslem macht man sich lächerlich, wenn man sein Kind Mohammed nennen würde. Aus gleichem Grund nennen Moslems ihre Kinder auch nicht Christian“.35 Dem wird entgegengehalten: „Es stimmt, wir nennen unsere Kinder nicht Christian, aber wir nennen unsere muslimischen Kinder auch Isa und Isa ist Jesus“. Isa wird im Koran zu den Propheten gerechnet. Die Namengebung ist also real rein islamisch, nicht Religionsgrenzen überschreitend. Ein Isa-Christian, der in den letzten Jahren in Österreich zur Welt kam, bleibt eine schwer einzuordnende Kuriosität. Dass der Name Mohammed von nichtmuslimischer Seite eine gewisse Attraktivität bekommen könnte, wird aus einer Bemerkung ersichtlich, mit der das Diskussionsforum schließt: „Andere Mütter und Väter, die den Jungennamen Mohammed schön fanden, interessierten sich auch für folgende Vornamen: Nikolaus-Jürgen, Per-Henrik, Peter-Hubertus, Philipp-Gerhard, Rainald und Rudolf Holger“. Über eine Interessenbekundung scheint diese eigenartige Namenmischkultur noch nicht hinausgekommen zu sein. Das hier analysierte Diskussionsforum über die Vergabe des Namens Mohammed bringt überwiegend Stellungnahmen, die den Namen „schön“ finden. „Schön“ wird dabei 35 Eine eigenartige Namengebungsgeschichte, die allerdings kaum als Zeichen von Interkulturalität zu deuten ist, wird aus dem Jahr 2007 berichtet: „Also – ein türkisches Ehepaar bekam in Österreicheinen Sohn. Der Vater ging zum Magistrat, um den Jungen eintragen zu lassen … sagte er den gewünschten Namen zum zuständigen Beamten … eben traditionell einen türkischen … meinte der Beamte, das sei nicht erlaubt, bzw. stünde im Namenskatalog nicht drinnen, und deshalb auch als Name in Österreich nicht zu genehmigen. OK! Denkt sich der Vater, dann eben einen anderen. Sagt wieder einen türkischen Namen, was dem Beamten wieder nicht passt. Er lehnt wieder ab und begründet, dass er den Namen im Katalog nicht finden kann. Nun 3. Versuch: Der Vater schlägt ihm wieder einen Namen vor. Dem Beamten passt es wieder nicht, bis dem Vater der Kragen platzt. In seinem etwas vorschnellen Temperament meint er nun zum Beamten ,Was nein? Jetzt reicht’s! Dann geb ich meinem Sohn den Namen Christian! Passt es Dir jetzt?‘“ Veröffentlicht unter dem Titel „Ein moslemischer Junge namens Christian?“ (http://www.dasbiber.at/node/190)
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nicht mit Ästhetik des Klangs in Zusammenhang gebracht. „Also ich finde den Namen so schön, weil der Prophet so heißt“ ist dem Sinn nach eine mehrfach wiederkehrende Formulierung. Vereinzelt wird das anders gesehen: „Ich hab nichts gegen den Namen Muhammed an sich, aber die Muhammeds, die ich bisher kennen gelernt habe (5 im Gesamten) waren alle miteinander verbohrte Idioten, einer schlimmer als der andere.“ Dem wird entgegengehalten: „Schäm dich! Nur weil du ein Problem mit den 5 Muhammeds hast! Was hat der Name mit dem Charakter des Menschen zu tun? Einfach lächerlich deine Einstellung! Übrigens: Muhammed ist ein sehr, sehr schöner Name!“ Hier wird ein Spannungsfeld sichtbar, das sich bei religiöser Namengebung in der Moderne insgesamt stellt – auch unter Christen. Neben die Bedeutung der religiösen Vorbildgestalt treten Assoziationen an wenig geschätzte Zeitgenossen. Es kann dadurch zu Überlagerungsphänomenen kommen, bei denen die zeitlich nahen Personen die historisch älteren Bedeutungsfelder verdecken. Am Beispiel des Vornamens Josef wurde ein solches Phänomen schon angesprochen. Beim Prophetennamen Mohammed spielen solche Beeinträchtigungen derzeit aber sicher nur eine untergeordnete Rolle. Bezeichnend für die Ambivalenz, die sich bei der Vergabe des Namens Mohammed einstellen kann, ist auch ein anderer Beitrag des Diskussionsforums: „Ich bekomme einen Jungen. Nun weiß ich noch immer nicht, wie ich meinen kleinen Engel nennen soll. Ich bin auch – elhamdulillah – Muslimin. Und ein muslimischer Name wäre wunderschön. Zudem muss ich auch gleichzeitig bedenken, dass mein Baby hier in Deutschland aufwachsen wird. Ich möchte nicht, dass mein Sohn später Probleme im Kindergarten und anschließend in der Schule bekommt. Sprich: gemobbt wird, gehänselt wird … Muhammed ist natürlich ein schöner Name genauso wie Ali, Mehmet, Hasan, Hüseyin. Es sind besondere Namen, die eine wunderschöne Bedeutung haben. Aber sind wir ehrlich: Heißt nicht jeder fünfte Türke oder Muslim so?! Wo es so viele schönen Namen gibt. Ich liebe und schätze diese Namen sehr … und ich akzeptiere auch Meinungen anderer, die diese Namen nicht schön finden. Mein Favorit ist zum Beispiel Denniz. Ein schöner Name! Bei uns Türken hat dieser Name auch eine schöne Bedeutung: das Meer! Und im Deutschen gibt es diesen Namen auch.“ Die Überlegungen der Schreiberin dieser Zeilen treffen wesentliche Probleme der Integration: Bei aller Wertschätzung islamischer Traditionsnamen – wie wird es dem Sohn als Mohammed in Kinder- und Jugendgruppen gehen? Ist da nicht ein interkulturell besser verträglicher Name eher ratsam? Denniz/Denis ist in beiden Kulturen verankert. Die türkische Bedeutung scheint der Mutter geläufig. Dass die vermeintlich deutsche über Frankreich nach Griechenland führt, wird ihr wohl eher unbekannt sein. Entscheidend erscheint, dass sie Denis der Namenkultur ihres Gastlandes zurechnet. Das Bestreben, sich mit den Namen der Kinder mehr oder minder stark an die Zuwanderungskultur anzupassen, begegnet bei Migranten häufig. Das lässt nach Alterna-
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tiven zu prononciert religiösen Namen des Herkunftslands suchen. Dem Namen Denniz/ Denis hat diese vermittelnde Position im deutschsprachigen Raum zu einem beachtlichen Aufschwung verholfen. Mit seiner zunehmenden Häufigkeit wird allerdings das vermeintlich Besondere des neuen Namens vielleicht bald wieder verloren gehen. Ein zusätzliches Spannungsfeld um die Vergabe des Namens Mohammed ergibt sich aus der zunehmenden Brüchigkeit des Prinzips der innerfamilialen Nachbenennung bei Zuwanderern aus der islamischen Welt. „Mein Vater hieß Mohammed und für mich war er mein Prophet. Deshalb ist der Name für mich heilig und ich respektiere alle, die diesen Namen tragen“, lautet eine Eintragung im Diskussionsforum zum Baby-Namen Mohammed. Die Verbindung, die hier zwischen dem Religionsstifter und dem eigenen Vater hergestellt wird, ist sicher gewagt. Dass für die Schreiberin dieser Zeilen beide Gestalten für die Namensbedeutung wie für die Namengebung zusammenfließen, erscheint offenkundig. „Mein verstorbener Opa hieß Muhamed und ich möchte ihm auf diesem Weg ein kleines Denkmal setzen“ heißt, es in einem anderen Beitrag. In Gesellschaften, in denen die Nachbenennung nach Eltern bzw. Großeltern praktiziert wird, führt dieses Prinzip notwendig zu einer gewissen Statik des Namenguts. In der Türkei etwa ist der Name Mehmet in der männlichen Bevölkerung bei Weitem führend und wurde in der Benennung von Söhnen erst nach der Jahrtausendwende vom ersten Platz verdrängt – offenbar als Folge einer Lockerung des Prinzips innerfamilialer Nachbenennung.36 Der Wunsch nach Neuerung kommt in der zuvor referierten Argumentation für Deniz deutlich zum Ausdruck. In den meisten europäischen Ländern ist der Brauch der Nachbenennung nach Verwandten als dominantes Prinzip der Namengebung schon lange abgekommen. Der neue Name für ein neues Wesen gehört zu den grundsätzlichen Konzepten einer individualisierten Gesellschaft.37 Wird dieses Konzept von muslimischen Familien übernommen, so ergeben sich daraus für die weitere Entwicklung der Namengebung mit religiösen Traditionsnamen sicher gravierende Folgen.
36 Jim Masters und Perihan Masters: The ‚Most Popular‘ Baby-names, Personal-names, and Familynames in Turkey (http://ezinearticles.com/?The-Most-Popular-Baby.names… – 25.02.2009) sowie Most popular baby names in Turkey – compiled by BabyNameFacts.com (http://www.babynamefacts.com/popularnames/countries.php?country=TKY). 37 Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 405–428; Lanzinger: „Meine Mutter wollte für ihre Tochter etwas Besonderes, Modernes …“. S. 84–112.
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Religiös bedeutsame Namen Die Zunahme des islamischen Namenguts in Österreich zu Ende des 20. und vor allem dann zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist ganz stark auf den Namen Mohammed bzw. seine verschiedenen Varianten – vor allem den türkischen Mehmet – konzentriert. Auch bei anderen islamischen, ebenso aber auch türkischen Einzelnamen bzw. Namengruppen zeigt sich die charakteristische Entwicklung eines langsamen Anstiegs auf niedrigem Niveau in den 80er und 90er Jahren sowie eines anschließenden raschen Aufschwungs nach der Jahrtausendwende. Das gilt etwa für die besonders traditionsreiche Gruppe der „Diener Gottes“-Namen. Die „99 schönen Namen Allahs“ dürfen in islamischen Gesellschaften nicht unmittelbar an Menschen vergeben werden, sondern nur mit dem Zusatz „Abd“ d. i. „Diener“.38 Ein uraltes Muster orientalischer Namengebung erfährt in diesen Abd-Namen eine reiche Entfaltung.39 Der unmittelbare Bezug auf Gott macht ihre Vergabe besonders erstrebenswert. Ihr hoher Rang in der islamischen Namengebung erscheint auch durch überlieferte Worte Mohammeds grundgelegt: „Nennt eure Kinder nach dem Propheten, aber die besten Namen in den Augen Gottes sind Abdullah (Diener Gottes) und AbdurRahman (Diener des Barmherzigen)“.40 Zum Aufschwung des islamischen Namenguts in Österreich hat dieser Typus von Namen allerdings zunächst nur wenig beigetragen. In den Jahren 1984–89 findet sich nur jeweils ein einziger Abdallah bzw. Abdelrahman. Bis 1999 ist der Zuwachs gering. Kumuliert bis 2007 hingegen tritt der Namentypus in über 80 Varianten auf, von denen jedoch nur Abdulla über 100 Nennungen erreicht – im Vergleich zu den Mohammed-Varianten kein besonders beeindruckender Wert. Das weibliche Gegenstück zu den Abd-Namen fehlt vollkommen, nämlich mit „Amat“ d. i. „Dienerin“ zusammengesetzte Namen.41 Das hat in islamischen Gesellschaften Tradition. Theophore Namen sind Männern vorbehalten – ein charakteristischer Zug religiöser Namengebung in dieser Glaubensgemeinschaft.42 Abdullah ist nicht nur ein theophorer Name, wie ihn Mohammed selbst an seinen Begleiter und späteren Nachfolger Abu Bakr vergeben hat43 – er ist auch der Name von Mohammeds Vater und führt damit hinüber zu der für die islamische Namengebung so wichtigen Gruppe der Namen von Familienangehörigen des Propheten. „Wer immer sein Kind mit meinem Namen nennt oder einem meiner Kinder…“, dem hatte Mohammed nach 38 39 40 41 42 43
Schimmel: Zeichen Gottes. S. 158. Mitterauer: Ahnen und Heilige. S. 184; derselbe: Abdallah und Godelive. S. 47–74. Hughes: Lexikon des Islam. S. 561. Schimmel: Zeichen Gottes. S. 159. Mitterauer: Abdallah und Godelive. S. 47–74. Huhges: Lexikon des Islam. S. 13.
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der Überlieferung besondere Freuden im Paradies versprochen.44 Für die Nachbenennung bedeutsam wurden vor allem Mohammeds Frauen Khadidscha, Aischa und Zainab, seine Tochter Fatima, sein Schwiegersohn und Cousin Ali, seine Enkel Hassan und Hussein,45 aber auch seine Eltern Abdullah und Amina. Unter Muslimen in Österreich wurden alle diese Namen nach 2000 sehr zahlreich vergeben. Von 17 Nennungen in den Jahren 1984 bis 89 stieg die Zahl der Fatimas bis 2007 auf über 400. Noch stärker ist der Anstieg bei Ali. Dieser Name verweist allerdings nicht eindeutig auf Migrationshintergrund bzw. islamische Religionszugehörigkeit. Es kann sich auch um eine Kurzform autochthoner Namen handeln, etwa des damals sehr beliebten Alexander. Die Möglichkeit einer Deutung in nichtislamischem Kontext machte Ali wohl auch für Muslime interessant, die kein Religionsbekenntnis im Namen der Kinder anstrebten. Die Stellung des Namens Ali kann so als eine interkulturelle Mittelposition verstanden werden. Für die übrigen Namen aus der Prophetenfamilie gilt das sicher nicht. Auch sie stiegen im Untersuchungszeitraum stark an und erreichten beachtliche Werte. Man wird diese Entwicklung nicht zuletzt mit der Situation im wichtigsten Herkunftsland muslimischer Migranten nach Österreich in Zusammenhang bringen dürfen. In der Türkei führte von 2000 bis 2005 Mehmet gemeinsam mit Zeynep die Namensliste an. An fünfter Stelle lag bei den weiblichen Vornamen Fatma.46 Zum Anstieg islamischer Namen in Österreich haben aber auch Namen beigetragen, deren religiöse Bedeutung sich nicht so unmittelbar erschließt. So erfuhr der Name Yasin einen Anstieg auf etwa 220 Nennungen. Er stammt aus dem Koran und ist eine Zusammensetzung aus den Buchstaben yā und sīn, die am Beginn der Sure 36 stehen. Die einzelnen Buchstaben am Anfang der Suren gehören zu jenen Dingen, über deren Bedeutung der Überlieferung nach nur Allah Kenntnis hat. Es gibt einen Hadith, in dem es heißt, dass alles ein Herz hat und das Herz des Korans ist die Sure Yasin.47 Assoziationen zu Herz prägen auch die Vergabe dieses Namens an Söhne. Ein anderer häufig gegebener männlicher Vorname leitet sich von der Sure 26, genannt „Al-Furkan“, d. i. „die Erlösung“, ab. Der Name Furkan lag 2000 bis 2005 in der Türkei an dritter Stelle. In Österreich trat er in den 80er Jahren noch gar nicht in Erscheinung. Bis 2007 wurde er dann 258-mal vergeben. Aya bedeutet im Arabischen „Zeichen Gottes“. Ein Abschnitt einer Sure des Ko-
44 Bürgel: Allmacht und Mächtigkeit. S. 52. 45 Schimmel: Zeichen Gottes. S. 160. 46 Most popular baby names in Turkey – compiled BabyNameFacts.com (http://ww.babynamefacts. com/popularnames/countries.php?country=TKY&year=20...- 25.02.2009). 47 Zur Hilfe, die diese Sure für den Weg ins Jenseits leistet, bzw. ihrer eigenartigen Personifikation Schimmel: Zeichen Gottes. S. 205–6.
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rans wird „āya“ genannt.48 In Österreich begegnen Varianten und Kombinationen dieses Namens mehrfach. Auf den Koran bezogene Namen bzw. aus dem Koran ausgewählte Namen haben in der islamischen Welt eine große Tradition.49 Der Mädchenname Merve stieg in Wien von ersten Nennungen in den 90er Jahren bis 2007 auf 291. In der Türkei lag er damals auf Platz zwei. Der Name ist von einem Hügel in der Nähe von Mekka abgeleitet, der auch für die große Pilgerfahrt Bedeutung hat.50 Der Überlieferung nach lief Hagar, die zweite Frau des Propheten Ibrahim, zwischen den Hügeln Marva und Sava hin und her. Sie fand schließlich die Quelle Zamzam, bei der Mekka errichtet wurde. Medina, der Name der Stadt des Propheten, wird ebenso als Mädchenname vergeben. Er setzt in Österreich erst in den 90er Jahren ein und stieg auf über 100 Nennungen an. Der männliche Vorname Burak leitet sich vom pferdeähnlichen Reittier des Propheten mit Menschenantlitz und Flügeln ab, mit dem dieser der Überlieferung nach seine Himmelsreise angetreten hat.51 In Österreich wurde er bis 2007 über 200-mal vergeben. Der Mädchenname Imre, die Nr. 4 der türkischen Namensliste 2000–2005, kam in Österreich in diesem Zeitraum auf über 200 Nennungen. Der Name bedeutet „Paradies“. Für das siebente Tor des Paradieses wird der Name al-Rayyan überliefert. Unter westeuropäischen Muslimen begegnet er häufig. Auch in Österreich ist er im Kommen. Gestützt wird er wohl durch den Gleichklang mit dem irisch-englischen Ryan, der Internationalität signalisiert. Der Klang der Namen wird bei vielen der zuletzt genannten zu ihrer Beliebtheit beigetragen haben. Sie entsprechen mehrheitlich dem Leitbild eines vokalreichen, kurzen Namens, wie es sich auch sonst in der europäischen Namengebung immer mehr durchsetzt. Während die westliche Namenkultur vielfach auf Wohlklang ohne Bedeutung basiert, ist in der islamischen der religiöse Sinn nach wie vor ein wichtiges Kriterium der Namenswahl. Ein gutes Beispiel für ein solches Zusammenwirken von religiöser Bedeutsamkeit und klanglicher Ästhetik bietet der Name Enes (Anas). In Wien lag er 2007 auf Platz 53, unter den islamisch geprägten Namen nur von Mohammed überholt. 1984/9 wurde er in ganz Österreich bloß ein einziges Mal vergeben, bis 2007 dann allerdings 418-mal. In der Diskussion des Namens finden sich sehr unterschiedliche Motive: „(Ich) hab am 11. Oktober meinen Sohn bekommen und ihn Enes genannt, weil der Name einfach und moslimisch ist.“ Eignung als Rufname und religiöse Herkunft spielen hier wohl zusammen. „Enis ist ein islamischer Name und bedeutet: Der Freund“, bemerkt ein Träger des Namens im Forum. Über die islamische Bedeutung herrscht offenbar weder Klarheit noch Übereinstim48 49 50 51
Schimmel: Zeichen Gottes. S. 204. Ebda., S. 161. Hughes: Lexikon des Islam. S. 464. Hughes: Lexikon des Islam. S. 93.
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mung. „Habe meinem Sohn diesen wunderschönen Namen gegeben. Er kommt aus dem Arabischen. Enes war ein Begleiter des Propheten haben wir herausgefunden.“ Die Zugehörigkeit des Namensvorbilds zu den „sahiba“ des Propheten war in diesem Fall scheinbar nicht das primäre Motiv der Namengebung. Anders verhält es sich bei der Eintragung: „Mein Sohn heißt auch Enes. Dieser Name kommt vom Arabischen. Ein sehr geschätzter Diener unseres Propheten Mohammed (s. a. w.) hieß so, deshalb hab ich diesen Namen meinem Sohn gegeben.“ Die Namensmotivation ist hier eindeutig: Der Name geht auf Anas ibn Malik zurück, den letzten der Gefährten Mohammeds und einen der wichtigsten Überlieferer.52 168 Hadithe werden auf ihn zurückgeführt. Zu den prominenten „sahiba“ – etwa jenen zehn, denen der Prophet das Paradies versprochen hat wie Abu Bakr oder Omar – gehört er jedoch nicht. Und trotzdem liegt sein Name in der Reihung der Statistik ganz weit vorne. So haben sicher auch andere Motive die hohe Häufigkeit beeinflusst. „Enes … welch schöner Klang!“, bemerkt ein so Benannter und die Mutter eines kleinen Enes meint: „Enes klingt sehr schön … man zieht das erste e nicht lang … und das zweite e wird betont … sehr schöner Klang … und das s wird scharf ausgesprochen … wunderschön.“
Neue Leitbilder Von türkischen Zuwanderern nach Österreich wurden nicht nur islamische Namen, die zugleich als besonders wohlklingend gelten, mit stark ansteigender Häufigkeit gegeben, sondern auch solche ohne unmittelbar erkennbaren religiösen Hintergrund. Unter den männlichen Vornamen seien in diesem Zusammenhang Emre und Arda genannt. Beide entsprechen dem Leitbild der Kürze und des vokalreichen Klangs. Beide sind in ihrer Bedeutung nicht völlig geklärt. Beide haben zum Zeitpunkt ihrer Vergabe offenbar keinerlei religiöse Sinngebung. Beide sind eindeutig türkisch. Arda kam in Österreich vor der Jahrtausendwende überhaupt nicht vor. Bis 2007 stieg er auf 270 Nennungen. Im vorangehenden Jahr hatte er in der Türkei Mehmet als häufigst gegebenen Namen abgelöst. Auch hier war ein rascher und steiler Aufstieg vorausgegangen. Sicher ist ein Zusammenhang mit der Beliebtheit des Fußballstars Arda Turan gegeben, der damals zum besten jungen Spieler der türkischen Liga gewählt wurde.53 Im deutschsprachigen Diskussionsforum wird die Benennung nach dem großen sportlichen Vorbild mehrfach erwähnt. Als Geburts52 Ebda., S. 43. Zur Verdienstlichkeit der Nachbenennung nach den Gefährten des Propheten Bürgel: Allmacht und Mächtigkeit. S. 52. Auch sie sichert nach einem Hadith – wie die nach dem Propheten und seinen Kindern – das Paradies. 53 Arda Turan, geb. 1987 (http://de.wikipedia.org/wiki/Arda_Turan – 28.02.2009).
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jahrgang 1987 ist Arda Turan aber wohl selbst ein Ausdruck der neuen Beliebtheit dieses Namens, die nicht durch ihn allein begründet worden sein kann. Die Zunahme von Emre setzt in Österreich schon früher ein als die von Arda und sie führt mit 454 Nennungen bis 2007 auch zu noch größerer Häufigkeit. In der Türkei lag Emre 2000–2005 am 5. Platz. Anders als bei Enes findet sich bei Emre in den Beiträgen der Diskussionsforen keinerlei Hinweis auf eine mögliche religiöse Ableitung des Namens. Amr ibn al-As, ein prominenter Heerführer der frühislamischen Zeit, wird nirgendwo als Namensvorbild genannt. Alle Bemerkungen über die Herkunft des Namens beziehen sich auf eine türkische Wurzel. Bemerkenswert erscheint, dass sowohl Arda als auch Emre für manche Teilnehmer nicht eindeutig männlich klingen. Wo für die Namengebung Momente des Klangs entscheidend sind, dort kann es zur Auflockerung traditioneller geschlechtsspezifischer Zuordnungen kommen. Bei den herkömmlich islamischen Namen nach Vorbildgestalten bestand und besteht diese Gefahr nicht. Primär nach dem Wohlklang vergebene Namen lassen – neben den traditionell islamischen – neue Namenkulturen entstehen. Es erscheint als ein wesentlicher Faktor der Namengebung von Migrantenfamilien aus der Türkei, aber auch aus anderen Zuwandererländern, dass über islamische Namen hinaus neues Namengut der Herkunftsländer an Bedeutung zunimmt. Säkulare Namen nach nationalen Vorbildgestalten wie Atilla/Attila oder Kemal spielen dabei bloß eine untergeordnete Rolle. Vornamen ohne klare Namensvorbilder, ohne bekannten Namenssinn, ohne bewusste religiöse Bedeutung, aber modernen Momenten der Namensästhetik entsprechend, begegnen unter Zuwanderern aus islamischen Länder in Österreich bei Töchtern noch häufiger als bei Söhnen. Vom Mädchennamen Elif heißt es, dass er „so viele Bedeutungen habe, dass man zwei Bücher damit füllen könnte“.54 Die Wurzel in der Bezeichnung „Alif “ für den ersten Buchstaben des arabischen Alphabets ist klar. Wie es davon abgeleitet zu den Bedeutungen „Freund“, „die/das Gewünschte“, „schlankes großgewachsenes Mädchen“, „Blume in den Bergen der Türkei“, „reif “, „schön“, „seidig“, „gebildet“ oder „die Richtige“ kommen kann, erscheint weniger nachvollziehbar. Ein religiöser Sinn ist in keiner dieser Bedeutungen erkennbar. Vielleicht hat sich der Name wie „Yasin“ durch den Beginn von Suren des Korans verbreitet. Die Sure 2 und einige andere beginnen mit Alif, Lam und Mim.55 Bei den zahlreichen Meldungen im Diskussionsforum zum Namen „Elif “ wird aber keinerlei Zusammenhang dieser Art erwähnt. Falls er besteht, ist er bei der Namengebung heute nicht mehr bewusst. Der Tenor des Meinungsaustausches ist: „ein supereinfacher Name“, „Wer Elif heißt ist cool und hübsch“, „Der Name ist einzigar54 Baby-Vornamen.de-weiblicher Vorname Elif – Informationen (http://www.baby-vornamen.de/ Maedchen/E/El/Elif - 22.02.2009). 55 Hughes: Lexikon des Islam. S. 25.
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tig, aber doch vielfältig“, „Er hört sich auch sehr schön an und alle können ihn aussprechen“ etc. Elif war 2000–2005 der dritthäufigste weibliche Vorname in der Türkei und stand 2006 gemeinsam mit Arda an der Spitze der Namenliste. In Österreich stieg der Name bis 2007 auf 255 Nennungen und nahm schließlich in Wien 2007 den 58. Platz unter den vergebenen Mädchennamen ein. Zahlreiche Mädchennamen, die in türkischen Migrantenfamilien beliebt sind, haben weder eine spezifisch islamische noch eine türkischnationale Konnotation und können durchaus auch in anderen Milieus ihres Gastlands gegeben werden, etwa Lara, Samira, Selina, Tamara, Aylin oder Leyla.56 Um verstärkt islamisch bewusste oder verstärkt national bewusste Namengebung zu analysieren, eignen sie sich weniger als die männlichen Vornamen. Bei den Mädchennamen, die in der Regel geringer traditionsgebunden sind als die Knabennamen, zeigt sich Interkulturalität schon weiter fortgeschritten.57 Die hier auf der Basis österreichischer Namenstatistiken und deutschsprachiger Internetforen zur Namengebung durchgeführte Fallstudie bestätigt den Befund der eingangs zitierten Medienberichte, ermöglicht aber auch wesentliche Modifikationen und Differenzierungen. Sie bekräftigt die deutliche Zunahme des Namens Mohammed zu Beginn dieses Jahrhunderts. Sie ergänzt sie um die vermehrte Vergabe von islamischem Namengut insgesamt in diesem Zeitraum – etwa der „Diener Gottes“-Namen, der Namen aus der Familie des Propheten, seiner Gefährten oder der im Koran genannten Propheten und anderer eindeutig religiös geprägter Namen. Parallel dazu nehmen aber unter Migranten aus islamischen Ländern Namen zu, die nicht auf islamisch-arabische Wurzeln zurückgehen. In Österreich stehen diesbezüglich türkische Namen im Vordergrund. Ein genauer Anteil islamischer Namen am österreichischen bzw. Wiener Namengut lässt sich nicht berechnen. Auf Grund des starken Anstiegs in den Jahren nach 2000 könnte man vordere Plätze in den Ranglisten erwarten. Ein solches Bild ergibt sich jedoch aus den Statistiken nicht. Sicher wäre auch für Wien eine Aussage wie „Mohammed vor Christian“ rechnerisch erlaubt. Ein solcher Vorrang besteht jedoch hier erst im Bereich zwischen den Plätzen 30 und 40. Weder Mohammed noch ein anderer islamischer Name erreicht in Wien auch 56 Beliebte türkische Mädchennamen (http://www.baby-vornamen.de/Sprache_ und_ Herkunft/tuerkische_Vornamen.php – 23.02.2009). Zum Wandel subjektiver Einschätzungen beim Namen Leila: Djafari-Arnold und Mitterauer: Kein Problem für Attila und Leila? S. 38. 57 Das grundsätzliche Spannungsfeld, in dem islamische Namengebung heute steht, ergibt sich aus Bemerkungen in Listen empfohlener Namen. Auf der einen Seite wird auch von muslimischen Eltern erwartet, dass die Namen, die sie ihren Kindern geben „unique, nice, popular, and cool“ sein sollen (http://www.names4muslims-com/baby-boys.php – 25.02.2009), auf der anderen sollen sie vom Imam der lokalen Moschee nach ihrer islamischen Bedeutung verifiziert werden (http:// www.muslim-names.co.uk/muslim-baby.boy-names-A-2.html).
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nur annähernd Häufigkeitswerte, wie sie Franz mit 13,3 % vor 1918 oder mit 4,8 % noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs besaß, ganz abgesehen vom Anteil des häufigsten Mädchennamen Maria, der vor 1918 18,3 % ausmachte. Und auch die Spitzennamen der frühen 80er Jahre, Michael mit 5,0 % und Markus mit 4,7 % bzw. Barbara mit 3,7 % übertrafen die Häufigkeit von Mohammed 2007 um ein Vielfaches. Es ist in den letzten Jahrzehnten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer enormen Differenzierung des Namenguts gekommen. In dieser Namenvielfalt weckt eine Konzentrationsbewegung auf einen bestimmten, noch dazu seiner Herkunft nach kulturell fremden Namen, wie sie in Wien und vielen anderen europäischen Großstädten begegnet, besondere Aufmerksamkeit.
Religion sichtbar machen Wie ist die starke Zunahme des Namens Mohammed in den letzten Jahren zu interpretieren? Kann die Demographie eine Erklärung dafür geben? Der Zuzug türkischer Gastarbeiter nach Österreich, die hier die größte Zuwanderergruppe aus einem islamischen Land ausmachen, setzte schon in den 1960er Jahren ein. 1974 wurde bei den in Wien polizeilich gemeldeten türkischen Staatsbürgern die 10.000er-Grenze überschritten, 1980 die von 20.000, 1986 die von 30.000.58 Die meisten türkischen Gastarbeiter wollten in die Heimat zurückkehren, sehr viele realisierten aber diese Vorstellung nicht. Sie holten ihre Familie nach oder gründeten eine in Wien. 1981 waren schon 32,5 Prozent der türkischen Staatsbürger in Wien unter 15 Jahre alt. Ein Großteil von ihnen wird bereits hier geboren worden sein. Die Namenstatistik der 80er Jahre lässt allerdings noch kaum islamische Einflüsse erkennen. Solches Namengut erfährt erst in den Familien später zugezogener Migranten bzw. in der dritten Generation der Zuwanderer einen derart starken Aufschwung. Diese Entwicklung lässt sich nicht demographisch aus veränderten Migrationsbewegungen erklären. Sie hat wohl mit verändertem Bewusstsein zu tun. Die hier auszugsweise wiedergegebenen Selbstzeugnisse in den Diskussionsforen um islamische bzw. türkische Vornamen deuten ganz in diese Richtung. Schon die Eröffnung solcher Foren und die starke Beteiligung an ihnen – übrigens in deutscher Sprache – verweisen auf die zunehmende Bedeutung religiöser, aber auch ethnischer Identität durch entsprechende Namengebung. Man könnte überlegen, ob nicht die Vergabe solcher Namen nach einer Ausgangsphase, in der die Zuwanderergruppe in ihrem neuen sozialen Umfeld nicht 58 Schmelztiegel Wien – einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und Minderheiten. Aufsätze, Quellen, Kommentare von Michael John und Albert Lichtblau. Wien 1990. S. 83.
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besonders auffallen will, eine zweite Phase anzeigt, in der sie mehr Selbstbewusstsein demonstriert.59 Wahrscheinlich aber ist eine darüber hinausgehende Erklärung in einem größeren Kontext zu suchen. Die so stark islamisch orientierte Welle der Namengebung in den letzten Jahren hat wohl mit der weltweit veränderten Situation islamischer Gesellschaften zu tun, die auch Europa betrifft. Politische und kulturelle Konflikte haben zu einer verstärkten Besinnung auf eigene Werte und Traditionen geführt. Muslime bekennen sich nachdrücklicher zu ihrer Religionsgemeinschaft. Die Vergabe des Namens Mohammed macht dieses Bekenntnis auch nach außen sichtbar – durchaus analog zum Tragen des Kopftuchs durch muslimische Frauen.60 Mit Islamismus oder islamischem Fundamentalismus hat dieses Phänomen nichts zu tun.61 Die tausendfach ins Internet gestellten Selbstzeugnisse zu Präferenzen für islamische Namen lassen das deutlich erkennen. Die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft soll ausgedrückt werden, nicht ein radikales politisches Programm. Auch mit der paradoxen Formulierung von der „Islami59 Die These der Vermeidung von Namen der eigenen Herkunftskultur vertrat 1977 der bekannte deutsche Namenforscher Wilfried Seibicke: Vornamen. Wiesbaden 1977. S. 120: „Sozialpsychologische Gründe sprechen auch dagegen, dass gegenwärtig Namen von Gastarbeitern rasch Nachahmung finden; denn die soziale Stellung dieser Menschen ist zu gering, als daß man sich ihnen irgendwie anzugleichen versuchte. Eher ist zu erwarten, daß Namen, die leicht mit Gastarbeitern in Verbindung gebracht werden könnten, gemieden werden. Man kann hingegen beobachten, daß ausländische Eltern ihren Kindern Namen geben, die bei uns gebräuchlich und zur Zeit beliebt sind – wahrscheinlich ist das ein Anzeichen dafür, daß diese Familien gewillt sind, in der Bundesrepublik zu bleiben, oder daß sie zu übernational verbreiteten Vornamen greifen, mit denen die Kinder weder hier noch in der Heimat auffallen“. Manches an diesen Überlegungen mag für die Entstehungszeit der Publikation zutreffend gewesen sein, die erstellte Prognose ist so nicht eingetreten. 60 Diese auch in der Namengebung zum Ausdruck gebrachte Tendenz, Religion sichtbar zu machen, steht in deutlichem Gegensatz zu Entwicklungstendenzen im sozialen Umfeld von muslimischen Migrantengruppen. Thomas Luckmann hat das Resultat von Modernisierungsprozessen christlicher Religionsgemeinschaften mit dem Schlagwort „unsichtbare Religion“ charakterisiert (Die unsichtbare Religion. – Frankfurt 1991). Zur Diskussion um Begrifflichkeit und zugrunde liegende Veränderungsprozesse Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Frankfurt – New York 2009. S. 161–163. Vornamen nehmen in diesem Spannungsfeld zwischen „sichtbarer“ und „unsichtbarer Religion“ – je nach Deutung – als Ausdrucksform von Religion eine interessante Zwischenstellung ein. 61 Überraschend erscheint, dass selbst die Zeitung „Al-Ahram“ die Namenliste für Ägypten von 2004 mit Mohamed an der Spitze sowie Ahmed, Mahmoud und Mustafa auf vorderen Plätzen als „rise of Islamist ideology“ deutet (Gamal Nkrumah: What’s in a name? – http://weekly.ahram.org. eg/print/2004/684/li1.htm). Zur Differenzierung einschlägiger Begriffe: Martin von Arndt: IslamFundamentalismus, Re-Islamisierung und „Islamismus“. Zur Geschichte islamischer Reformbewegungen (http://www.vonarndt.de/islamismus.htm).
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sierung der Muslime“62 wird man diesem Prozess eines verstärkten Bekennens eigener religiöser Werthaltungen nach außen wohl nicht gerecht. Sie enthält eine unzutreffende Bewertung der vorangegangenen Situation. Ähnliches gilt für die Charakteristik als „ReIslamisierung“. Und wenn neuerdings sogar von einer „Überislamisierung der Muslime“63 durch die Mehrheitsgesellschaften der Aufnahmeländer gesprochen wird, so stellt sich die Frage, welche Normalität hier als überschritten gedacht wird. Auch der Begriff „Hochislamisierung“ findet Verwendung.64 Er charakterisiert eine „kognitive Entwicklung von einem volksislamischen, eher mechanisch gelebten hin zu einem ‚hochislamischen‘ Islam“. Als Grundlage dieser Entwicklung wird zunehmende Verschriftlichung angenommen, die mehr Beschäftigung mit religiösem Schrifttum ermöglicht. Vor allem bei türkischen Migranten der zweiten Generation werden solche Tendenzen beobachtet. Dass sie auch in der Namengebung Niederschlag finden könnten, erscheint plausibel. Die radikalen Wandlungsprozesse, die islamische Gesellschaften in der jüngsten Vergangenheit – innerhalb wie außerhalb Europas – erfasst haben, bedürfen aber wohl eines stärker differenzierten Vokabulars der Beschreibung und der Analyse. Abseits aller Etikettierungsfragen – der Prozess zunehmender Vergabe islamischer Namen repräsentiert eine Besinnung auf religiöse Werte nach innen und deren offenes Bekenntnis nach außen. Kann man einen prononciert islamischen Namen wie Mohammed als „Europanamen“ verstehen? Rein statistisch erscheint der Befund klar: Der Name gehört zu den in Europa besonders häufig vergebenen. Eine andere Frage ist es, inwieweit sich bei jenen Personen, die ihn vergeben bzw. tragen, islamische Identität mit europäischer verbindet. Entscheidende Bedeutung kommt also dem Prozess gelungener Integration zu. Sie hängt sowohl von der Einstellung muslimischer Migranten als auch von der ihrer nichtmuslimischen Mitbürger ab. Beide Gruppen sind an Prozessen des Auf- bzw. Abbaus soziokultureller Distanz beteiligt. Ausgrenzung seitens des Aufnahmelandes ebenso wie Selbstausgrenzung seitens muslimischer Migranten beeinträchtigt europäische Identifikation. Rückzug 62 So etwa Ralph Ghadban: Europäisierung des Islam oder Islamisierung Europas? (Carl Friedrich von Weizsäcker-Gespräche. Minden 2007). S. 10. 63 Deutsche Über-Islamisierung. Der Erfurter Islamwissenschaftler Jamal Malik beklagt eine Über-Islamisierung der Muslime durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft (http://litart.twoday. net/20090302/ – 07.03.2009). 64 Silvia Kaweh: Integration oder Segregation. Religiöse Werte in muslimischen Printmedien (Bausteine zur Mensching-Forschung 12). Nordhausen 2006. S. 13, nach: Ursula Mihciyazgan: Die religiöse Praxis muslimischer Migranten. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hamburg. – In: Ingrid Lohmann und Wolfram Weiße (Hg.): Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung. Münster – New York 1994. S. 118. Für Österreich: Thomas Tripold und Florian Spendlingwimmer: Die Lebenswelt türkischer Muslime in Graz. Graz 1996.
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auf ein bestimmtes Namengut der eigenen Tradition kann Zeichen der Selbstausgrenzung sein. Es ist aber auch durchaus möglich, dass der Name Mohammed zur Ausdrucksform eines Euro-Islam in Sinne Bassam Tibis wird, der eine interkulturelle Verbindung europäischer und islamischer Traditionen postuliert.65 Dann könnte mit gutem Recht von einem „Europanamen“ gesprochen werden. Ansätze zu einer Interkulturalität von traditionell islamischem und europäischem Namengut konnten in der hier vorgenommenen Analyse festgestellt werden. Wird die Zunahme des Namens Mohammed bzw. anderer islamischer Namen in Europa weiterhin in diesem Ausmaß anhalten? Eine Extrapolation des historisch noch so jungen Trends erscheint schwierig. Wichtige Rahmenbedingungen für die weitere Entwicklung sind die Stärke von Migrationsströmen aus islamischen Ländern nach Europa – ihrerseits wieder abhängig von der Migrationspolitik der europäischen Staaten – sowie die zukünftige Entwicklung des generativen Verhaltens von Zuwanderern. Abnehmende Kinderzahlen könnten die Trends der Namenhäufigkeit beeinflussen. Das entscheidende Moment der religiösen Motivation für die Vergabe des Namens Mohammed und anderer islamischer Namen bleibt aber sicher weiterhin aktuell. Das kurzfristige Auf und Ab von Namen, die bloß ihres schönen Klanges wegen gegeben werden, wird in der islamischen Namengebung wohl keine Entsprechung finden. Mohammed entwickelt sich zu einem dauerhaft in Europa vergebenen Namen, der durch seine religiöse Sinngebung Stabilität gewinnt. Mit Mohammed und den anderen islamischen Namen, die in Europa heimisch geworden sind, ist weiterhin religiöses Bekenntnis, religiöse Verpflichtung, religiöses Lebensprogramm verbunden. Für David und Maximilian bzw. Sarah und Anna, die 2007 an der Spitze der in Wien gegebenen Vornamen gestanden sind, gilt das sicher nicht – genauso wenig wie für ihre kurzlebigen Vorgänger. Obwohl weitgehend aus christlichen Wurzeln entstanden, ist dieses Namengut in der Regel nicht mehr religiös motiviert und daher beliebig veränderbar. Von den Kriterien der Namenswahl her liegen also prinzipiell verschiedene Motivationsmuster zugrunde. Ob Mohammed und andere islamische Namen in Europa einmal ähnlich säkularisiert verwendet werden können, lässt sich derzeit schwer prognostizieren. Sicherlich findet sich bei Muslimen, die sie vergeben, ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher religiöser Überzeugungen.66 Neben der Bezugnahme im Namen auf den Propheten kann auch die auf den Großvater stehen. Auf der Basis der innerfamilialen Nachbenennung wird sich der Name wohl eher rückläufig entwickeln, wie 65 Siehe insbesondere Bassam Tibi: Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels. Frankfurt/Main 1991. Vgl. dazu auch: Aydin Hayrettin, Dirk Halm und Faruk Şen: „Euro-Islam“. Das neue Islamverständnis der Muslime in der Migration, Essen 2003. 66 Hayrettin et al.: „Euro-Islam“. S. 9–13; Kaweh: Integration oder Segregation. S. 12.
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das beim türkischen Mehmet in seinem Herkunftsland schon erkennbar ist. Das Interesse an neuen Namen, vor allem an klangvollen Namen, trat bei der Analyse der Diskussionsforen deutlich in Erscheinung. Ob sich aus solchen Bedürfnissen ein Prozess der Angleichung zwischen den so unterschiedlichen Namenkulturen des Gastlands und seiner islamischen Immigranten ergibt, lässt sich schwer vorhersehen. Ausgeschlossen ist eine solche Entwicklung sicher nicht. Bis zu ihrer Verwirklichung wird es notwendig sein, den schwierigen Umgang mit Fremdem zu leben, der weit über Namenprobleme hinaus mit Migration verbunden ist.
Sachregister Abd-Namen 49, 50, 60, 61, 235, 240 Abstammung 40, 79, 105, 113, 117, 119, 157, 172, 211, 214, 232 Abstammungsbewusstsein 150, 176 Abstammungsbeziehungen 151 Abstammungsgemeinschaften 19, 151 Abstammungslinie 108, 118, 123 Abstammungsmythos 124 abstammungsorientierte Zweitnamen 154, 191, 192 abstammungsorientierte Namenselemente 199 Abstammungsverbände 12, 34, 35 Abstammungszusammenhänge 111 Adelphonymika 150 Adelsfamilie 103, 17, 127, 133, 211 Agnaten 35 agnatische Bindungen 104 agnatische Strukturen 28 agnatisches Bewusstsein 12, 16, 33 agnatisches Denken 92, 133 „agonale Kultur“ 54 Ahnen 8, 14, 71, 195, 216 Ahnenbewusstsein 72 Ahnenkult 165 Ahnennamen 40, 42 Ahnentafeln 146 Akzeptanz des eigenen Namens 216 Altes Testament 30, 32, 57, 60, 61, 70, 162, 168, 209, 211, 227, 228 Analyse des Namenguts 13, 27, 28, 46, 69, 134, 221 „anastassi“ 15 Anpassung und Individualisierung des Namens 217 Apostel 30, 58, 69, 71, 123-125 Apostelfest 124
Apostelnamen 124, 126, 127, 181 Aufklärung 167 ausländische Namen 162 „äußere Namensgeschichte“ 13, 204, 206, 207, 209 außereuropäische Gesellschaften 30 Autobiographie 21, 176–182, 188, 189, 191, 194–197, 199 Bedeutung von Namen 12 Beiname 14, 163, 178, 179, 181, 183, 186, 190, 192, 198, 230, 231 Bekenner 69 Bekennerinnen 69 beleidigende Namen 167 Berufsnamen 178, 188-190, 192, 198 Bibel 51, 160, 162, 216 biblische Namen 60, 63 bikulturelle Familien 22, 23, 203, 204, 210, 212–215, 218 Bilderstreit und Namengebung 40, 139, 161 Bilderverehrer 139, 161 Blutsverwandtschaft 39, 82, 106, 128 „böse Namen“ 186 Brauchtum der Namengebung 20, 24, 159–164 Buchnamen 60, 7 „Buchstabenname“ 11 „Buchstabentaufe“ 11 Burggrafenfamilie 127 „Butz und Bentz“-Phänomen 102 Calvinismus 160–162 Christen 32, 49, 62, 63, 233 Christentum 13, 14, 31, 32, 38, 61–65, 69, 70, 72, 107, 124, 129, 136, 137, 145, 161, 164, 231
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Sachregister
Christianisierung 65, 66, 82, 87, 88 christliche Ehekonzeption 151 christliche Gemeinschaften 69 christliche Gesellschaften 230 christliche Inschriften 63 christliche Interpretation 66 christliche Kardinaltugenden 33 christliche Kirchen 160, 161, 165, 167, 168 christliche Konfessionen 162 christliche Kulturen 31, 32, 38–40, 49 christliche Kunst 183 christliche Namen 24, 41, 49, 62–64, 67, 97, 137, 157, 163, 170, 210, 227 christliche Namengebung 32, 50, 61, 62, 64, 68–71, 160 226, 228, 229 christliche Namenkultur 13, 32, 156, 210 christliche Namensbräuche 169 christliche Namenskonzepte 68 christliche Namentheologie 53, 62, 63 christliche Normen 167 christliche Religionsgemeinschaften 246 christliche Religionsgeschichte 68 christliche Staaten 160 christliche Taufnamen 169, 211 christliche Tradition 41, 49, 64, 69, 168, 172, 213, 226, 231 christliche Wunschnamen 136 christlicher Antisemitismus 169 christlicher Persönlichkeitsbegriff 14 christliches Namengut 61, 65, 66, 68, 226 Christussymbole 65 „cognomen“ 137 „compaternitas“ 82 Deesis 138 deutschnationale Namengebung 162 Differenzierung des Namenguts 241 Diminutivformen von Namen 178, 179 193, 194, 196, 197 Doppelnamen 148, 149 160, 161, 227
Drittnamen 41, 212, 213 Ehrung durch Nachbenennung 155, 156, 222 eigener Name 12 Eigennamen 27, 175 Engelnamen 228, 229 Erfahrungen mit Namen 12 „Erneuerung“ eines Anverwandten 15 Erstnamen 19, 28, 137, 141, 210, 21 2, 213, 231 Ethnologia Europaea 9, 22, 175 Ethnologie 11, 31, 89, 175 Euro-Islam 244 Europa 10, 13, 16, 17, 22, 24, 31, 37, 38, 70, 88, 92, 93, 139, 143, 150, 153, 156, 157, 162, 166–168, 171, 181, 214, 215, 220, 222–224, 227, 232, 242–244 Europanamen 22–24, 219–245 Europäische Familienentwicklung 176 europäische Familiennamen 150, 152 europäische Familienverfassung 151 europäische Fürstenhäuser 36, 88 europäische Gesellschaften 30, 41, 135, 166 europäische Großstädte 9, 224, 225, 241 europäische Identität 24, 243 europäische Kulturen 38, 186, 209 europäische Länder 148, 149, 224, 234 europäische Namengebung 42 europäische Namenkultur 24, 25, 156, 210, 213, 219, 237 europäische Regionen 10, 21, 24, 52, 64, 88, 92, 94, 95, 103, 139, 150, 151, 154, 195, 199, 223, 237 europäische Sprachen 11 europäische Staaten 152, 168, 225, 244 europäische Traditionen 24, 227, 244 Europäische Union 225 europäische Verwandtschaftssysteme 38, 151 europäischer Kulturraum 11, 14, 25, 219 europäisches Namengut 24, 226
Sachregister
europäisches Namensystem 19, 20, 150, 152,157, 197 europäisches Namenwesen 13, 17, 18, 2, 219 Familie 7–9, 15, 3, 30, 34, 37, 39, 57, 60, 74–76, 92, 104, 106, 107, 111–113, 117, 118, 120, 126– 128, 132–134, 145, 150, 153, 158, 165, 177, 180, 181, 183, 184, 188, 191, 192, 194–196, 205, 206, 212–218, 221, 228, 241, 242 „Familie der Könige“ 109 Familie des Lehensherren 17, 115, 128, 130, 133 Familie und Gesellschaftsentwicklung 176 Familie und Verwandtschaft 8, 28, 29, 28, 151 Familienangehörige 38, 66, 67, 77, 84, 85, 88, 22, 155,156, 235 Familienatmosphäre 155 Familienbeziehungen 157 Familienentwicklung 8, 156, 176 familiengebundene Namengebung 92 Familiengeschichte 23, 29, 158, 203 Familiengründung 24 Familienkontinuität 54, 157, 212, 214 Familienkreis 129, 172 Familienkultur 212, 216, 217 Familienmitglieder 150 Familiennamen 9, 16, 18–20, 22, 28, 29, 46, 71, 147–152, 154, 157, 160, 169, 178, 180, 185, 190–192, 196–199, 214 Familiennamenforschung 181 Familiennamensprobleme 152 Familiennamensrecht 147, 149, 153 Familiennamensystem152, 192 Familiennamenswahl 157 Familienpolitik 157 Familiensoziologie 8 Familienstruktur 92 Familiensystem 158, 176, 199 Familientherapie 158 Familientradition 42, 107, 154, 212 Familienverbände 22, 28
249
Familienverfassung 16, 149, 150 Familienverhältnisse 109, 150, 153, 156–158, 183 Familienverständnis 191 Familienzugehörigkeit 189 Familienzusammenhang 74 Familienzweig 186 Femininformen zu Männernamen 50, 51, 63, 64, 70, 227 Festtagsnamen 61 Frauengeschichte 46 Frauennamen 13, 46, 47, 52, 54–59, 63, 71, 78, 94, 97–99 102, 115, 117, 118, 120, 128, 148 Freiheit der Namengebung 24, 167, 168 Freiheit der Namenswahl 149, 173 Freunde der Familie 17 fromme Namen 31, 32,61. 68 Fürbitte von Heiligen 40 Fürstenfamilie 86, 102, 103, 108, 109, 115, 120, 126–130 Fürstennamen 139, 166 Gattenname 148, 152 Geburtstagsheiliger 40, 195 Gegenreformation 163, 164 „Geisel“-Namen 66 geistliche Verwandtschaft 39, 82, 106, 107, 108 gemeinsamer Familienname der Ehegatten 151, 153 Genealogie 8, 23, 27, 28, 30, 34, 76, 79, 80, 88, 97, 111, 122, 192 Germanistik 69, 103 Geschichte von Namen 12 Geschichtswissenschaft 7, 25, 27, 2, 91, 175, 176, 204 Geschlechtergeschichte 13, 29, 72 Geschlechternamen 199 Geschlechterrollen 9, 46, 54, 229 Geschlechterrollenstereotype 46, 56, 69
250
Sachregister
Geschlechterverbände 16, 19 Geschlechterverhältnis 56 geschlechtsneutrale Namen 54, 58 geschlechtsspezifisches Namengut 29 geschlossene Namengebung 103 Gesellschaftsgeschichte 96, 104 Gleichbenennung von Brüdern 122 Gleichnamigkeit 16, 18, 84, 154 Göttergeburtstage 55 Götternamen 47, 53–55, 64 Gottesbezeichnung 63 Gottesname 13, 31, 52, 53, 58, 63, 64, 161, 165, 177, 178 Großfürstenfamilie 124 Grundtypen der Namengebung 30 Gruppen-Identität 152 hagiophore Namengebung 66 Hausgemeinschaft 22, 178, 179, 187–189, 91, 196, 199 Haushalt 8 Hausname 22, 77, 78, 120, 151, 178, 179, 181, 183, 184, 187–192, 197, 198 Heilige 18, 29, 32, 33, 40, 41, 47, 48, 50, 51, 61, 62, 68–71, 97, 160 heilige Bilder 29 heilige Dinge 29 „heilige Familie“ 194 heilige Frauen 70, 71 heilige Männer 69, 70, 71 heilige Namen 10, 29, 45–72, 161, 166, 186, 193, 234 heilige Schriften 29, 38 59, 70, 164 heilige Worte 19 heilige Zeichen 199 Heiligenkalender 164 Heiligennachbenennung und geistlicher Stand 40
Heiligennamen 13, 17, 24, 29, 40–42, 66, 68–72, 95–101, 119, 120, 124, 126, 193 Heiligenverehrung 47, 70 Heiliger als Schutzherr 40, 70, 195 Heiliger als Tugendvorbild 40, 69, 70 Heiligkeit 10, 31, 63 Herkunftsfamilie 22, 153, 155, 178, 179, 192, 204 Herkunftsname 137, 150, 192 Herrenfamilie 122 Herrenvormundschaft 132 Herrenvormundschaft und Nachbenennung 132 Herrscherfamilie 100 Herrschernamen 39 Herrschernamen als Thronanspruch 39 Herzogsfamilie 97, 99, 111, 121, 130, 131 „Hinz und Kunz“-Phänomen 29, 39, 99, 102-105, 157 Historische Anthropologie 11, 176 Historische Demographie 27 Historische Familienforschung 7, 8, 25, 28, 150, 178 Historische Namenforschung 8 Historische Sozialwissenschaft 25, 27 historisches Namengut 17 historisierende Namengebung 207 Hofname 188, 190, 198 Homonymie 16, 38 Humanismus 163 hypokoristische Namenformen 138, 139, 141 Ich-Identität 152 Identität 12, 22, 24, 25, 33, 42, 45, 74, 148, 152–154, 158, 171, 191, 192, 196, 210, 213, 216, 219, 241, 243 Identität von Migranten 24 Identitätsstiftung durch Namen 33, 42, 153, 210 Ikonenverehrung 139
Sachregister
Indikatorfunktion von Namen 29 individualisierte Gesellschaft 12, 155, 234 individualisiertes Bewusstsein 155 individualisiertes Denken 156 individualisiertes Namensrecht 153 Individualisierung 12, 147, 152–155, 157, 217, 229 Individualname 135, 185 „innere Namensgeschichte“ 13, 204, 206, 209, 215 innerfamiliale Nachbenennung 11, 41, 42, 58, 71, 10, 117, 121, 130, 148, 154–156, 195, 209, 213, 214, 234, 244 „innovatio“ 135–146 innovative Namengebung 169, 218, 22 Interkulturalität 9, 22, 23, 24, 219, 226, 232, 240, 244 Interdisziplinarität 7 interkulturelle Namengebung 211, 219 interkulturelle Namenswahl 206, 215 Islam 10, 1, 20, 22, 24, 25, 31, 48–51, 60, 61, 63, 70, 150, 164, 165, 168, 172, 207, 209, 211, 212, 219, 220, 222–245 islamische Identität 143 islamische Kultur 13, 14, 31, 48, 209, 219, 234, 237 islamische Migrantenfamilien 24, 224, 225, 230, 239, 245 islamische Nachbenennung 70 islamische Namen 24, 211, 227, 233, 236–244 islamische Namengebung 9, 24, 165, 228, 229, 232, 235, 240, 244 islamische Namenkultur 13, 22, 24, 25, 150, 165, 214, 219, 237, 245 islamische Namenselemente 20, 150 islamisches Namengut 10, 24, 219, 225, 229, 230, 234, 235, 240, 244 islamisches Namensystem 20 Islamwissenschaft 25, 243
251
Juden 31, 34, 56, 58, 59, 64, 152, 169, 181, 182 Judendarstellungen 182 „Judenkind“ 175–199 Judensiedlungen 181 Judentum 31, 38, 59–61, 69, 70, 156, 161 jüdisch-christliche Tradition 38, 41, 61, 155, 165 jüdische Namengebung 57, 69 jüdisches Namengut 57 Kaiserfamilie 78, 81 Kaiserhaus 37, 118, 139 Kaisernamen 161 Kalenderheiliger 124 Kindernamen 23, 30, 31, 33, 203, 204, 215, 217 Kindheitsname 195 Kirchengeschichte 9 Kirchenrecht und Namengebung 160 kirchliches Namengut 210 kirchliches Namensrecht 162, 163 Kleinfamilie 214 „Klostertod“ 75 Knabennamen 49, 59, 218, 240 kognatisches Prinzip 133 kollaterale Verwandte 35 kollektive Spitznamen 184, 186 konfessionelle Namengebung 171 Konfuzianismus und Namengebung 165 königsbezogene Namengebung 115, 121 Königsfamilie 87, 103, 105, 118–120, 125, 129 „Königsheil“ 80 Königsnamen 39,73, 77, 80, 87 88, 95 96, 98–106 108, 110–114, 121–128, 140, 157 konsularische Familien 19, 140 Konzentration des Namenguts 16, 74, 78, 94, 96, 97, 108, 156, 241 Konzentration auf Fürstennamen 95, 96, 98– 102
252
Sachregister
Konzentration auf Heiligennamen 70, 98, 100, 101 koptische Christen 54 Koran 60, 70, 209, 226–228, 232, 236, 237, 239, 240 Kosenamen 193, 197 Kronvasall 120 Künstlername 154 Kraft des Namens 15, 29, 31 Kriterien der Namengebung 134 Kulturen der Nachbenennung 46, 6, 204 Kurznamen 193
Lehenssysteme 134 Lehensträger 39, 128 Lehensverhältnis 110 Lehensvormundschaft 132 Lehenswesen 15, 18, 29, 40, 91–134, 157
„lächerliche Namen“ 160 Lebensgeschichte 12, 21, 22, 51, 146, 175, 177, 178, 180, 182, 184, 185, 187, 188, 190, 192, 194–196 198, 203, 208 lebensgeschichtliche Aufzeichnungen 21, 179, 191, 194 lebensgeschichtliche Erzählungen 23 lebensgeschichtliche Zeugnisse 9, 67, 176, 177, 192, 196, 204 Lehen 107, 110, 126, 128, 132 Lehensabhängigkeit 126, 132,134 Lehensbeziehung 108, 117, 125, 132 Lehensbindung 17, 108–112, 114, 118, 121, 123, 126, 139 Lehenserbe 131, 132 Lehensgefolgschaft 123 Lehensgrafschaft 129 Lehensherr 17, 39, 96, 109, 110, 112, 115, 118, 126,133 Lehenshof 127 Lehensinhaber 132 Lehensleute 126 Lehensmann 126, 130, 138 Lehensnachbenennung 14, 17, 11, 130, 131, 133 Lehensordnungen 134 Lehensrecht 105, 121, 126, 131, 132
Mädchennamen 49, 59, 148, 157, 212, 218, 228, 237, 239, 240, 241 Männernamen 13, 46–52, 56–59, 63, 66, 71 Markgrafenfamilien 8, 121 Markgrafennamen 140 Märtyrer 33, 51, 62, 69, 70, 168 Märtyrerin 51, 69 Mediävistik 7 mediterrane Namenkultur 199 Mehrfachnamen 161 Mehrnamigkeit 41, 170, 211, 217 Menschennamen 13, 52, 54, 168, 168, 185 Mentalitätsgeschichte 17, 25, 29 Metronymika 46, 150 Migrantenfamilien 9, 12, 24, 223, 231, 239, 240 Migration 13, 24, 147, 173, 204, 218, 223, 236, 241, 244, 245 Ministerialenfamilie 121, 122 Ministerialität 17, 121, 122 „middle name“, Mittelname 149 153, 154, 159, 206 Modernisierungsprozesse 13, 242 Motive der Nachbenennung 85 Motive der Namengebung 21, 24, 26, 177, 196, 226, 229, 238 Motive der Namenswahl 12, 229
Leitnamen 14, 28, 73, 82, 88, 96, 102, 114, 121, 122, 126, 127 Leitnamenproblematik 14 Leitnamenprinzip 28, 74 Leitnamensystem 82 Leitnamenvererbung 28, 73
Sachregister
mündliche Namenkultur 22, 197 muslimische Familien 234 „mutatio nominis“ 77 Muttername 38, 149 Nachbenennung 11, 12, 14–18, 23, 28, 30, 32–36, 38–42, 45, 46, 50, 53, 58, 59, 61, 62, 67–71, 73–89, 92, 103–110, 112–123, 126–135, 139, 140, 148, 154–159, 161–163, 165, 166, 169, 170, 195, 199, 204, 209, 212–214, 217, 222, 227, 229, 234, 236, 238, 244 Nachbenennung als Ehrung 155, 156 Nachbenennung auf Lehensbasis, Lehensnachbenennung 14, 15, 17, 112–115, 117, 118, 121–123, 126, 130–134 Nachbenennung im ersten, zweiten bzw. dritten Namen 213 Nachbenennung innerhalb der Lineage 166 Nachbenennung nach Ahnen 21 Nachbenennung nach Angehörigen des Propheten 236 Nachbenennung nach dem König 104, 111, 112, 114, 123, 126 Nachbenennung nach dem Königshaus 105, 113–116, 123, 128, 129 Nachbenennung nach dem Lehensherren 109, 115, 118, 127, 130, 132 Nachbenennung nach dem Propheten Mohammed 165 Nachbenennung nach dem Taufpaten 39–41, 107, 108, 170 Nachbenennung nach dem Vater 39, 74, 76, 86, 88 Nachbenennung nach den Erzvätern 58 Nachbenennung nach der Königin 116, 119, 120 Nachbenennung nach einer Gottheit 53 Nachbenennung nach Angehörigen des Propheten Mohammed 236
253
Nachbenennung nach Fürsten 16, 18, 127, 131, 139, 140, 157 Nachbenennung nach Gefährten des Propheten Mohammed 238 Nachbenennung nach Großeltern 34, 8, 85 154, 170, 212, 213 Nachbenennung nach Heiligen 16, 21, 32, 33, 40, 41, 50, 61, 62, 68–70, 139, 161–163, 168 Nachbenennung nach Heroen 41, 207 Nachbenennung nach Jesus Christus 161 Nachbenennung nach Kultfiguren der Medien 41 Nachbenennung nach Lebenden 23, 38, 39, 73, 74, 76–78, 80–83, 85, 88, 89, 106, 155 Nahbenennung nach literarischen Vorbildern 41 Nachbenennung nach Märtyrern der Revolution 33 Nachbenennung nach nationalen Heroen 41 Nachbenennung nach nichtverwandten Personen 109 Nachbenennung nach Patronen 17, 157 Nachbenennung nach Prophetengestalten des Koran 227 Nachbenennung nach Verwandten 34, 38, 39, 155, 158, 170, 234 Nachbenennung nach Vorbildfiguren 41, 58, 169 Nachbenennung nach Vorfahren 41, 58, 67, 83, 86, 87, 148, 195, 213, 234 Nachbenennung nur nach Verstorbenen 15, 23, 36, 38, 76, 77, 79, 80, 82, 83, 87, 88, 155, 213 Nachbenennung und Nachfolgeanspruch 105, 184 Nachbenennung und Einzelerbrecht 39 Nachbenennung von Söhnen nach Frauen 70 Nachbenennung von Töchtern nach Männern 70
254
Sachregister
Nachbenennung von Töchtern nach der Familie des Lehensherren 115 Nachbenennung von Söhnen und Töchtern 36, 129 Nachbenennung von Vasallenkindern 17, 113, 123 Nachname 215 Name 9, 11, 12, 15–25, 27–42, 45–72, 74–78, 80, 81, 83–88, 91–134, 135–146, 147–158, 159–173, 175–179, 181, 184–187, 190–199, 203–218, 219–245 Name als Lebensprogramm 30, 32, 33, 66, 70, 155, 231, 244 Name als Quelle 27–30, 47, 68 Name als Stigma 169 Name der Sippe 15 Name und Erbrecht 192, 198 Name und Heimatgefühl 203 Name und Identität 12, 219 Name und Macht 14, 20 Name und Person 38 Name und persönliche Identität 12, 22, 148, 191 Name und Ruhm 35 Namen der Schriftkultur 178 Namen der mündlichen Kultur 178 Namen des Herkunftslands 234 Namen in Volgare–Formen 18 Namenbildung 54–56, 63, 65, 67, 68 Namenbücher 67 162, 171, 206, 208, 210 Namenforscher 203, 242 Namenforschung 8, 21, 23, 25, 28, 175–177, 181, 199 Namengebung 8–10, 12–15, 17, 20–25, 27–34, 37–42, 45–51, 53, 55–64, 66, 68–71, 74, 75, 77–80, 82–84, 86–88, 92, 95–100, 102–104, 106, 107, 109, 110, 112, 114–119, 121, 123–128, 133–135, 137–141, 147, 149, 154–165, 167–171, 173, 175, 177, 183, 195, 196, 203–223, 225– 235, 237–244
Namengebung der Ministerialität 121 Namengebung der Söhne 71, 107, 209, 212 Namengebung der Töchter 71, 97, 116, 118, 119, 218 Namengebung der Vasallen 127 Namengebung des ältesten Sohnes 38, 113, 115 Namengebung des Patenkinds 106 Namengebung durch Nachbenennung 34 Namengebung durch Namensvariation 36, 37 Namengebung in bikulturellen Familien 22, 23, 203, 219 Namengebung in Migrantenfamilien 9, 22, 239 Namengebung nach dem Alten Testament 162, 27 Namengebung nach dem Geburtstagsheiligen 40 Namengebung nach dem Tagesheiligen 170, 195 Namengebung nach dem Wortsinn 13, 30–33, 41, 66, 227 Namengebung nach der Antike 163 Namengebung nach der Geburtssituation 30 Namengebung nach einem Namensvorbild 30, 33, 37, 69, 227 Namengebung nach Heiligen 40 47, 70, 71, 227 Namengebung nach Heldenepen 144 Namengebung nach Lebenden 75, 77, 80 Namengebung nach Verstorbenen 80, 85 Namengebung nach Verwandten 11, 34, 40 Namengebung nach Wochentagen 60 70 Namengebung unehelicher Kinder 196 Namengebung unehelicher Söhne 106, 123, 130 Namengruppen 235 Namengut 8, 9, 13, 19, 24, 28, 31, 35, 36, 41, 45, 46, 48, 53, 55–58, 60, 61, 65, 66, 69, 71, 72,
Sachregister
81, 88, 91–95, 99, 100, 102, 105, 108, 110, 113, 114, 117, 119–122, 126, 128, 130, 134, 135–137, 140, 141, 148, 159, 162, 163, 169, 203, 204, 210, 213, 217, 219, 221, 224–226, 229, 230 234, 235, 239, 240, 241, 244 Namengut des Abstammungsverbandes 34 Namengut des Alten Testaments 162, 209 Namengut der „stirps regia“ 36 Namengut der Fürstenhäuser 102, 105, 110, 113, 114, 117, 119–121 Namengut von Frauen und Männern 72, 99 Namenhäufigkeit 220, 223–227 230, 231 Namenkatalog 232 Namenkonzentration 16, 17, 97, 98 Namenkonzepte 61, 68 Namenkultur 9, 13, 18, 19, 21–25, 32, 52 60, 61, 70, 137, 141, 148, 150, 152, 154, 156, 158, 180, 186, 187, 197, 199, 204, 210, 213 219, 224, 229, 233, 237, 239 Namenkultur des Gastlands 233, 245 Namenkulturen von Frauen und Männern 60, 61 Namenkulturen von Zuwanderern 213 Namenkunde 7, 11, 13, 17, 19, 20, 27, 57, 178, 185, 193, 196, 197 Namenliste 236, 240, 242 Namenmagie 29, 40, 53, 231 Namenmischkultur 232 Namenmoden 20,166 Namenreduktion 20 Namenrevolution des Hochmittelalters 157 Namensalliteration 10, 11, 23, 36–38, 214 Namensänderung 148, 153, 156 Namensästhetik 24, 239 Namensauftrag 12 Namensbedeutung 51, 175, 229, 234 Namensbewertung 42 Namensbildung 32, 136, 165, 214
255
Namenschwund 16–18, 29, 70, 91–93, 95, 101, 102, 106 Namenselemente 19, 20, 37, 50, 51, 66, 67, 199, 214 Namensgeschichte 12, 13, 204, 206, 207, 209, 215 Namensgesetzgebung 18 Namensgleichheit 28, 36, 52, 74, 75, 77, 78, 80, 87, 88 Namensheiligung 166 Namenskontinuität 184, 191 Namenskontinuität und Besitzkontinuität 184 Namensleitbilder 238 Namensnennung 53, 228 Namenspatron 17, 139, 195, 227–229 Namenspatronat 70, 71 Namenspolitik 160, 163, 164, 171–173 Namensprache 61 Namensprobleme 146–158 Namensränge 224 Namensrecht 9, 20, 147–149, 151–153, 159–173, 191 Namensrecht der Religionsgemeinschaften 160, 164, 165, 167 Namensrepetition 30, 31, 44, 46, 58, 67, 156 Namenssinn 12, 23, 30, 31–34, 37, 46, 69, 227, 229, 239 Namenstatistik 21, 23, 27, 176, 222, 223–225, 240, 241 Namenstudien 9, 219 Namenstabu 53 Namensteile 10, 19, 36, 37, 46, 67, 68, 17 Namenstheologie 53, 62, 63 Namenstradition 10, 23, 25, 65, 76, 128, 209–211 Namensträger 12, 15, 35–37, 42, 53, 78, 85, 93, 138, 141, 155, 156, 170, 204, 208, 215, 218, 237 Namensübernahme 148
256
Sachregister
Namensübertragung als Wesensübertragung 154 Namensvarianten 37, 222, 223, 225–227, 230, 231 Namensvariation 10, 11, 36–38, 51, 66, 67, 6, 82, 89 Namensverbot 160 Namensverehrung 53, 63 Namensverwechslung 35 Namensverwandtschaft 163 Namensverzeichnis171 Namensvorbild 12, 23, 30, 33, 37, 41, 42, 46, 69, 85, 119, 121, 128, 132, 134, 163, 170, 204, 208, 215, 227– 229, 238, 239 Namenswahl 12, 22, 23, 73, 81, 124, 129, 149, 153, 155, 157, 158, 164, 169, 173, 205, 206, 215, 217, 237 Namenswahl für den Erstgeborenen 73, 205, 212 Namenswahl nach dem Namenssinn 23 Namenswechsel 37,171 Namensysteme 19, 20, 22, 33, 64, 66, 68, 137, 148, 150–153, 156, 159, 175, 17, 178, 180, 186, 192, 197–199 Namenthemen 9 Namentypen 9, 50, 55, 95, 135–37, 54, 159, 197, 229 Namenwesen 16–20, 28, 29, 39, 137, 141, 147, 150, 152,–153, 158–161, 164–166, 169, 171, 173, 175, 176 Namenzauber 29 nestorianische Christen 61 neue Namen 10, 30, 71, 155, 170, 217, 234, 245 Neuere Geschichte 7 Neues Testament 60, 61, 70, 168, 226 nichtchristliches Namengut 163 „nomen est omen“ 30 „nomi augurali“ 135 „nomi augurativi“ 135–138, 141 „nomina sacra“ 63
offene Namengebung 103 offene Verwandtschaftsverbände 28 Onomastik 27, 47 „onomata theophora“ 47 Ordnung der Familie 132, 134 örtliche Namenkultur 22 Paläographie 63 Papponymie 38 Papstname 163 Patriarchalismus 20, 149–152 patrilineare Abstammungsverbände 12, 34, 199 patrilineare Familientradition 65 Patrilinearität 20, 150 „patrinus“ 40 patriotische Namengebung 104 Patrone 17, 40, 106, 157, 170, 194, 227 „patronus“ 40 Patronym 9, 46, 150, 160, 199 patronymische Namenkultur 150 Personennamen 45–47, 53, 56, 58, 61, 63, 64, 68, 166, 171, 178, 181 Pfalzgrafenfamilie 98, 118 Philologien 27, 61, 62, 68, 91, 134 Pietisten 68 populare Autobiographik 21, 177, 180, 182, 192, 197 Primärgruppe Familie 134 Prinzipien der Namengebung 12, 62, 80, 160, 220, 234 Prophetennamen 226–229, 231, 233 Protorenaissance 140 quasiverwandtschaftliches Verhältnis 17, 132 Recht und Brauch der Namengebung 20, 24, 159–174 Rechtsgeschichte 9 Reduktion des Namengutes 41, 94, 95, 156
Sachregister
Reformation 33, 160–164, 171 Regeln der Namengebung 12, 103, 104, 162, 164, 167, 196, 215, 231 Regeln der Namenswahl 22 Reichsministerialität 121 Reinkarnation 10, 14, 15 Religionsgeschichte 9, 25, 47, 53, 68 religionsspezifisches Namengut 169 religiöse Bilderwelt 182, 183 religiöse Namengebung 60, 62, 63, 233, 235 religiöse Namenkultur 23 religiöse Symbolnamen 61 religiöses Namengut 61 Renaissance 163 „renovatio“ 135–158 revolutionäre Namengebung 169 „rifare“ 15 Rufnamen 40, 188, 193, 196, 210, 216, 229, 237 sakrale Ordnungen 48 sakrale Worte 63 Sakralkultur 48, 59 sakralrechtliche Stellung 166 sakralrechtliches Verbot 166 Sakralsprache 59, 61 säkulare Namen 239 säkularisierte Namengebung 24 Säkularisierung 24, 138, 143, 144, 147, 167–170, 173, 204, 218, 239 Salbung 75, 80 Satznamen 31–34, 53, 55, 57, 61 „schöne Namen“ 186, 231–233 „99 schöne Namen Gottes“ 31, 48, 49, 61, 165, 212, 234 Schreibnamen 190, 194, 197 schriftliche Namenkulturen 190 Schutzfunktion von Heiligen 70, 71 Seelenwanderung 14, 15 seltene Namen 28 „senior“ 15, 91–146
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Sippe 15, 35 „sittenlose Namen“ 167, 170 Sklavennamen 53 Sozialanthropologie 9, 27, 28 Sozialgeschichte 7, 8, 22, 60, 68 Spitznamen 22, 159, 178, 180–187, 189, 190, 192, 197–199, 216 Spitznamenkultur 18, 187, 198 Spitznamenübertragung 185 Spottname n183 Sprachwissenschaften 92 staatliches Namensrecht 159, 160, 164, 167, 169 Stammesnamen 66 Stammvaternamen 199 „starke Namen“ 199 Statik des Namenguts 234 „stirps regia“ 36, 80 “supernomina“ 18, 137, 141 Systeme der Nachbenennung 14, 28, 33–35, 38, 41, 71, 213 Systeme der Namengebung 10–12, 17, 22, 27, 29–31, 37, 41, 89, 157, 203, 206, 213, 215, 219 tabuisierte Namen 16, 29, 31, 52, 53, 89, 125, 165, 166 Tagesheiliger 40, 124, 170, 195 Talmud 69 Taufnamen 22, 32, 163, 169, 178.181, 185, 191–196, 199, 211 Tauftagsheiliger 40, 195 Teknonym 188 theophore Frauennamen 13, 50, 52, 54, 56, 57, 59, 61 theophore Männernamen 13, 31, 49, 50, 52, 57, 59, 61, 235 theophore Namen 13, 31, 32, 34, 47, 50–69, 71, 156, 161, 162, 165, 229, 235 theophore Namengebung 9, 31, 47–51, 56, 57, 60, 64, 66, 71
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Sachregister
theophore Satznamen 31, 55–57, 61 theophores Namengut 48, 57, 58, 60, 65 Thronnamen 163 Tiernamen 37, 65, 185 Toponymie und Anthroponymie 178, 189 Traditionsnamen 10, 34, 41. 42, 138, 139, 233, 234 Übernamen 9, 22, 150, 177, 179, 181.186, 190, 192 „unanständige Namen“ 167, 170 ungebräuchliche Namen3 4 unheilige Namen 163 „unschickliche Namen“ 167 „Unterwerfungstaufe“ 17, 107 Untervasall 121, 128, 129 Vasall 17, 107, 110, 120, 127, 129, 131, 12 Vasallenfamilie 125, 127, 128 Vasallenkinder 17, 110, 116, 131, 132 Vasallensöhne 123 Vasallennamen 130 Vasallität 16, 17, 39, 108, 109, 110, 113, 115, 126, 128, 130132–134, 138 Vatersname 38,149, 152, 166, 184 Veränderungen des Namenguts 24, 91, 92, 114, 130 verbotene Namen 168 „vererbte Namen“41 Verfassungsgeschichte 9, 17, 19, 20, 25, 29, 104 Vergleichende Religionsgeschichte 47 verstorbene Familienangehörige 156 vokalreiche Namen 237 Vertikaldiffusion des Namenguts 106 Verwandtenvormundschaft 132 Verwandtschaft 8, 11, 16, 17, 28, 2, 34, 36, 38–40, 42, 70, 79, 82, 105–108, 110–114, 116–118, 125, 132, 133, 151, 163, 212, 214 Verwandtschaftsbezeichnungen 151 Verwandtschaftsdenken 12
Verwandtschaftsfamilie 11 Verwandtschaftsstruktur 28 Verwandtschaftssystem 16, 28, 34, 38, 151 Verwandtschaftsverbände 28 „volgare“-Form von Namen 141 „volgarizzamento“ 141-143 Volkskunde 175 Vorfahren 14, 15, 34–38, 41, 58, 67, 72, 29, 80, 82, 83, 86–89, 96, 114, 115, 117, 120, 148, 150, 154, 157, 162, 197, 208, 212, 213, 215 Vornamen 9, 19, 28, 34, 35, 92, 106, 147, 154, 157, 159, 160, 170, 171, 178, 186, 188, 190, 205, 206, 209, 210, 214, 227, 218, 220, 224, 226, 227, 232, 233, 236, 239, 240–242, 244 Vornamenbücher 12, Vornamengebung 147, 154, 157 Vornamenstatistik 225 Vorväternamen 166 Vulgo-Namen 190–192, 196 Wallfahrtsheiliger 160 „weiche Kultur“ 54 wertvolle Namen 31 Wesensverwandtschaft 163 westliche Christenheit 14, 50 Wiedergeburt eines Verstorbenen in seinem Nachkommen 82, 83 Wirkkraft des Heiligen 29 Wirkkraft von Namen 231 Wunschnamen 23, 32, 136, 137 Würdenamen 39 zusammengesetzte Namen 10, 66, 67, 136, 149 Zunamen 22 Zweinamigkeit 151 Zwangsnamen 172 Zweitnamen 16, 18, 19, 28, 29, 41, 137, 141, 148,152–14, 157, 183, 197, 209, 210, 212, 213 Zwischennamen 149
11. Erstdrucke 1. Systeme der Namengebung im Vergleich, aus: Václav Bužek/Dana Štefanová (Hg.), Menschen – Handlungen – Strukturen (2001), S. 255–273. 2. Abdallah und Godelive. Zum Status von Frauen und Männern im Spiegel „heiliger Namen“, aus: Edith Saurer (Hg.), Die Religion der Geschlechter (L’homme, Beiheft 1, 1995), S. 47–74. 3. Zur Nachbenennung nach Lebenden und Toten in Fürstenhäusern des Frühmittelalters, aus: Gesellschaftsgeschichte (Festschrift für Karl Bosl 1, 1988), S. 386–399. 4. „Senioris sui nomine“. Zur Verbreitung von Fürstennamen durch das Lehenswesen, aus: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 96, 1988, S. 275–330. 5. „Renovatio“ und „innovatio“. Namen als Spiegel von Erneuerungsbewegungen im Pisa des 13. Jahrhunderts, aus: Michael Mitterauer und John Morrissey, Pisa, Seemacht und Kulturmetropole, Essen 2007, S. 248–255. 6. Mittelalterliche Grundlagen moderner Namensprobleme, aus: Reinhard Härtel (Hg.), Personennamen und Identität, Graz 1995, S. 1–12. 7. Recht und Brauch der Namengebung (Beitrag zu den Winter Balkan Meetings 2002, Ninth International School in Historical Anthropology „Costum and Law“, 21–26. February 2002 in Blagoevgrad). 8. Vom „Judenkind“ zur „Schloßmoidl“. Lebensgeschichten als Quelle der Namenforschung, aus: Erhard Chvojka u. a., Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis, Köln 1997, S. 155–182. 9. Kein Problem für Attila und Leila? Zur Namengebung in bikulturellen Familien, aus: Historicum 1999, S. 32–36 (gemeinsam mit Viktoria Djafari-Arnold). 10. Europaname Mohammed? Interkulturalität und Namengebung, aus: Reinhard Krammer, Christoph Kühberger, Franz Schausberger (Hg.), Der forschende Blick. Beiträge zur Geschichte Österreichs im 20. Jahrhundert (Festschrift für Ernst Hanisch), Wien 2010, S. 391–416.
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Michael Mitter auer
DiMensionen Des heiligen
In einer Zeit zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung, aber auch neuer Bedürfnisse nach Religiosität und Spiritualität, nimmt das Interesse an religiösen Erscheinungen der Vergangenheit zu. Der Band „Dimensionen des Heiligen“ setzt diesbezügliche spezifische Akzente. Es geht um heilige Orte, heilige Zeiten, heilige Handlungen, heilige Gegenstände, heilige Namen etc. Was Menschen jeweils heilig war und ist, wird dabei nicht konfessionell beschränkt gesehen. Vor- und außerchristliche Phänomene finden genauso Behandlung wie Nachwirkungen christlicher Heiligkeitsvorstellungen in säkularer Form. „Heiliges“ wird dabei nicht gegenüber „Profanem“ abgegrenzt behandelt, sondern gerade in seiner besonderen Wirkkraft auf Lebenswelten, in die es eingeordnet ist. Der Band verfolgt einen vergleichenden Ansatz sowie eine Betrachtungsweise im epochenübergreifenden Längsschnitt. 2000. 328 S. 9 S/W-Abb. Gb. 170 x 240 mm. ISbN 978-3-205-99242-4
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Ulrike kr ampl /Gabriel a SiGnori (HG.)
l‘Homme 20,1 (2009) eUropäiScHe ZeitScHrift für feminiStiScHe GeScHicHtS wiSSenScHaft namen
Wie Namen gegeben, genommen oder gewechselt werden, folgte über Jahrhunderte hinweg kulturell unterschiedlichen Spielregeln. Ein eigenes Namensrecht entwickelte sich inEuropa erst an der Wende zum 19. Jahrhundert im Zuge der Entstehung moderner Staatlichkeit. Von der Schöpfungsgeschichte (Genesis 3, 20) bis heute spiegelt sich in der Namensfrage aber stets auch die sich wandelnde Ordnung der Geschlechter wider. Dem Geben und Nehmen von Namen, das Mann und Frau je unterschiedliche Entfaltungsmöglichkeiten gewährte, ist diese Ausgabe von L’Homme gewidmet, an der Vertreter und Vertreterinnen aus der Ethnologie, der Geschichtswissenschaft, der Judaistik und denRechtswissenschaften mitgewirkt haben. Im Vordergrund steht dabei der Nachname, denn ihm hat die Forschung bislang weniger Aufmerksamkeit zugedacht. 2009. 170 S. Br. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20328-3
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Peter CiChon, MiChael Mitter auer (hg.)
euroPasPr aChen studien zu Politik und Verwaltung, Band 103
„Europasprachen“ ist für Philologen, für Historiker und für Europarechtler ein neues Thema. Sich im europäischen Kontext die Frage zu stellen, wann und durch welche Faktoren bedingt einzelne europäische Sprachen überregionale Bedeutung gewannen, gehört in keiner der in diesem Sammelband vertretenen Disziplinen zur Forschungstradition. Der politische Zusammenschluss Europas macht sie aktuell. 2011. 166 S. Br. mit SU. 155 x 235 mm. iSBN 978-3-205-78608-5
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