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German Pages 280 [284] Year 2009
Paul M artin -M . Langner
T ra d itio n e n in d er L ite ra tu r e in e r R egion als g es e lls c h a fts s tru k tu rie re n d e P h än o m en e
T rad itio n en in d e r L ite ra tu r e in e r R egion als g e s e lls c h a fts s tru k tu rie re n d e P h än o m en e
U n iw ers ytet P edagogiczny im . K o m iiji Edukacji N arodow ej w K rako w ie Prace M o n o g rafic zn e nr 516
Paul M a riin -M . Langner
Traditionen in der L iteratu r ein er Region ah gesel I schaf w tsstruktu ri erende Phänom ene
Zu r m itte la lte r lic h e n L ite ra tu r d e r M a rk B ra n d e n b u rg zw is c h e n 1 2 5 0 - 1 5 0 0
W y d a w n id w o N aukow e U n iw ers ytetu Pedagogicznego K rako w 2 0 0 9
Recenzenci prof. dr dr h.c. Volker Mertens prof. UO Andrea Rudolph
© Copyright by Paul Martin-M. Langner &Wydawnictwo Naukowe UP Krakow 2009
redaktor Zuzanna Czarnecka projekt okladek i stron tytulowych Janusz Schneider korekta Anna Sliwa
ISBN 978-83-7271-522-7 ISBN 978-83-7271-528-9 ISSN 0239-6025 Redakcja/Dzial Promocji Wydawnictwo Naukowe UP 30-084 Krakow, ul. Podchor^zych 2 tel./fax (012) 662-63-83, tel. (012) 662-67-56 [email protected] Zapraszamy na stron$ internetow^: http://www.wydawnictwoup.pl lamanie Janusz Schneider
druk i oprawa Zespöt Poligrafkzny UP zam. 09/09
Mara Langner (geh. Eimering) gewidmet.
Denn nicht aus der Wahrheit schöpfen wir das Gefühl der eigenen Sicherheit, sondern aus der Gemeinschaft [...] Und niemand unter ihnen kam auf die Idee, dass es keine tyrannischere Tyrannei auf der Welt gab als die Einhelligkeit, dass es keine ignorantere Ignoranz gab als die Einhelligkeit. Andrzej Szczypiorski Eine Messefür die Stadt Arras (aus dem Polnischen von Karin Wolff)
Einleitung
Die vorliegende Arbeit ist auf der Grundlage einer Recherche zur lateinischen und volkssprachlichen, mittelalterlichen Literatur in der Mark Brandenburg entstanden. Das erste Resultat dieser vorbereitenden Recherche zur mittelalterlichen Literatur der Mark machte deutlich, dass trotz des weitgehenden Verlustes der klösterli chen Bibliotheken in der Region, sich das Material umfangreicher, aussagekräfti ger und vielgestaltiger erweist, als es die Übersicht von Heyne etwa erwarten ließ.1 Populärwissenschaftliche Übersichtsdarstellungen der letzten Jahre werden in dieser Studie nicht berücksichtigt, sie kommen über den bekannten Rahmen nicht hinaus. Analysen und Untersuchungen zu einzelnen Texten, die durch die Recherche greifbar wurden, ließen erkennen, dass sie sich durch besondere Ausformungen und Gestaltungskriterien auszeichneten. Angeregt durch diese Beobachtung eröffnete sich die Frage, inwieweit diese Brandenburgischen Texte möglicher Weise einer gemein samen Tradition verpflichtet waren oder ob übereinstimmende Gesetzmäßigkeiten an diesen Texten festzustellen wären. Diese Fragestellung führte dazu, den Begriff der Tradition zu definieren, um sich darauf zu verständigen, was dieser Begriff bezeich net und leistet.2Die vorliegende Studie versucht, den Begriff der Tradition induktiv zu klären und bemüht sich nicht um ein theoretisch abgeschlossenes Modell. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen sowohl die Diskussion über diesen Begriff anregen, als auch eine intensivere Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Literatur in der Mark Brandenburg fördern. Im Verlauf der Untersuchungen wurde ersichtlich, dass der Terminus „Tradition“ aus heutiger Sicht als prozesshaftes Geschehen zu verstehen ist. Die Vorstellung der Prozessualität dieses kulturellen und damit auch gesellschaftlichen Phänomens, das landläufig mit dem Begriff „Tradition“ bezeichnet wird, öffnete den Blick für eine ganze Reihe spezifischer Gestaltungsmuster, die als kulturelle Markierungen für die Mark Brandenburg in der Zeit ab Mitte des 13. Jahrhunderts bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gelten können. Die in den Texten nachweisbaren Strukturen, Markierungen und Gestaltungsmuster sind als Resultate einer für die Region 1Heyne (1939), S. 11-20. 2 Außerordentlich anregend in diesem Zusammenhang ist die kritische Analyse von Brokoff (2005). Sein Unbehagen an der landläufigen Begriffsbestimmung der Tradition deckt sich mit dem meinen vollständig, s.u. S. 20f und S. 30.
charakteristischen Entwicklung anzusehen. Thesenartig kann zum Ende der Arbeit angemerkt werden, dass diese Entwicklungen, von denen sich in der Restüberlieferung volkssprachlicher Literatur im weiteren Sinne nur ein Nachflimmern einer starken, geistlich konservativen Strömung erhalten hat, die durch die Reformation und wahr scheinlich noch radikaler durch den 30-jährigen Krieg weggefegt worden ist. Dennoch lassen sich durch die Ergebnisse dieser Studie zuletzt Leitlinien einer Geschichte der mittelalterlichen Literatur in der Mark Brandenburg formulieren. Für die Studie ist es notwendig, einen weiteren Problemkreis näher zu be stimmen, der mit dem Begriff der Region verbunden ist. Tervooren hat in seinem Handbuch zur niederrheinischen Literatur des Mittelalters die Frage einer Definition des Begriffs „Region“ angerissen.3In einer Region wie dem niederrheinischen Gebiet, das als gewachsene Struktur mannigfachen Wechseln, Veränderungen unterworfen war, ist die Bestimmung der Regionengrenze ein schwerwiegendes Problem. Tervooren grenzt deshalb den Begriff „Region“ durch negative Bestimmungen ein.4 Einige die ser Bestimmungen charakterisieren auch die Region der Mark Brandenburg. Sie ist ebenfalls in ihren Grenzen nicht festzuschreiben,5sondern dehnt sich im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts sukzessiv nach Osten aus. Die Expansion des deutschen Reiches geht einher mit der Kolonisierung der „Nordmark“ Machtpolitische und geographi sche Grenzen werden immer wieder neu gezogen und sind daher als Begrenzung der Region kaum dienlich. Auch in seinen sprachlichen Merkmalen ist das Gebiet nicht einheitlich,6 wie an einem Beispiel in Kapitel 3 nachgewiesen wird und sich auch an den anderen Texten, die in dieser Studie untersucht werden, bestätigt. Dennoch gibt es eine Reihe von Merkmalen der Mark Brandenburg, die die Annahme stützen, das Brandenburgische Gebiet geschlossener anzusehen als die Region des Niederrheins. Die Mark Brandenburg, erst verhältnismäßig spät, zwischen 1144 und der Mitte des 13. Jahrhunderts, als weitgehend christianisiertes Gebiet an das Römische Reich Deutscher Nation angeschlossen, unterlag einer komplexen Besiedlungssituation und vielfältigen Veränderungen im gesellschaftlichen, politischen und religiösen Leben. Erinnert sei daran, dass die Region durch Lokatoren, die vor allem im niederlän disch-westfälischen,7 niedersächsischen und schwäbischen Gebiet geworben hatten, 3 Die Ergebnisse des Tagungsbandes „Regionalität als Kategorie der Sprach- und Literaturwissenschaft“ (2002) des germanistischen Instituts der Universität Opole beziehen sich ausschließlich auf Phänomene der Neuzeit und Moderne und argumentieren auf dem Hintergrund bestehender, gesellschaftlicher Institutionen, die sich in der Mark Brandenburg nach der Kolonisierung erst ausbilden mußten. Wenn auch die Zügigkeit der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen in der Mark Brandenburg des 13. und 14. Jahrhunderts bestätigend und stabilisierend auf die existierenden Institutionen im alten Reichsgebiet zurückwirkten, ist davon auszugehen, dass die Traditionsbildung, auch ohne direkte Anbindung an gesellschaftliche Institutionen, vonstatten geht. Dem gilt es nachzugehen. 4 Tervooren (2006), S. 15-26. Trotz der vielfältigen und wichtigen Ergebnisse, die das Sonderheft der ZsfdA (2002) zusammenfaßt, erscheint der Begriff der „Region“ für die Forschung noch immer nicht operational verfügbar zu sein. 5 Tervooren (2006), S. 17. 6 Tervooren (2006), S. 18. 7 Seelmann (1921), s.a. Schwarz (1950).
mit Menschen dieser Gebiete besiedelt wurde, dann ist verständlich, dass neben den sprachlichen Besonderheiten, die die verschiedenen Siedlergruppen mitbrachten,8 auch ihre kulturellen Traditionen übertragen wurden. Interessant waren diejenigen volkssprachlichen Texte näher zu betrachten, die durch ihre Funktion in der Liturgie den Menschen sowohl als Richtschnur für ihr Handeln dienten als auch als Spiegel des Selbstverständnisses von Geistlichen, Mönchen, Nonnen und Laien angesehen werden können. Rechtstexte und die mittelniederdeutsche Apokalypse geben darüber gleichfalls Auskunft. Beobachtet man darüber hinaus, wie zügig das Gebiet der Mark Brandenburg sich vergrößerte und trotz der schwierigen Kolonisationsbedingungen ausgebaut, wirtschaftlich und politisch eingebunden wurde, muß man davon ausgehen, dass die beiden Diözesen Havelberg und Brandenburg um 1300 zu den innovativsten Regionen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gehört haben dürften. Die Tatsache, dass die Markgrafen den Handel mit den hier auf „modernen“ Webstühlen verfertigten Textilien kontrollierten, dass die Braurechte von den Markgrafen bereits als Stadtrechte verbrieft und nicht mehr ausschließlich an klösterliche Strukturen gebunden wurden oder dass ein Markgraf wie Otto IV. das Instrument des gegen seitigen Ausspielens städtischer und adliger Rechte nachweislich beherrschte, zeigt, dass die Region alles andere als eine Problemzone darstellte. Wahrscheinlich muss man sich die Region in den ersten knappen 200 Jahren als ein „Innovationszentrum“ denken. Dass diese Entwicklung bereits im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts durch das Aussterben des markgräflich-kurfürstlichen Hauses der Askanier abbrach und die Region an wirtschaftlicher und politischer Schwungkraft verlor, ist eine histori sche Tatsache, die das Bild der Region über Jahrhunderte prägte. Dennoch ist von der These auszugehen, dass die geistigen Impulse, die in den ersten Jahrzehnten ge geben wurden, noch lange Zeit wirksam waren. Gerade die kirchlichen Zentren wie Havelberg und Brandenburg, aber auch Chorin, Lehnin und Zinna scheinen solche Impulse fortgetragen und weiterentwickelt zu haben. Die rasante Bildung von städtischen Siedlungskernen mit Manufakturen, ver bunden mit dem Ansiedeln von Bettelorden unter der kirchlichen Verwaltungshoheit der Prämonstratenser, bestätigt das Ergebnis von Robert Bartlett, der diese bei den Strukturen als eines der entscheidenden Muster nachwies, die im Zuge der Kolonisierung und Christianisierung der nordosteuropäischen Gebiete dorthin über tragen wurden und die Entwicklung in diesen Gebieten nachhaltig beeinflusste. „Wenn sich Anglonormannen in Irland, Deutsche in Pommern oder Kastilier in Andalusien niederließen, dann ging es ihnen dabei nicht um die Schaffung eines Systems regionaler Unterwerfung. Vielmehr reproduzierten sie in der neuen Umgebung die Organisationsformen, die ihnen aus ihrer Heimat ver traut waren. Die Städte, Kirchen und Landgüter, die sie errichteten, ahm ten einfach die von zu Hause bekannten Strukturen nach. [...] Diese waren leicht zu exportieren und anpassungsfähig, aber gleichwohl beständig. Unter neuen Gegebenheiten waren sie selbst modizifierbar und überlebensfähig, 8 Seelmann (1923).
transformierten ihrerseits aber auch die neue Umgebung. Kodifizierbare Modelle wie die privilegierte Stadt, die Universität und der internationale reli giöse Orden kristallisierten sich im Westen zwischen 1050 und 1200 heraus.“9 Die geistigen Traditionen, die zuvor angenommen wurden, traten in der ersten Phase der Kolonisierung der Region Brandenburgs in Verbindung mit den sozialen Strukturen auf, von denen Bartlett gesprochen hat. Die Lebensformen und Bräuche der nichtchristlichen Einwohner der Mark wurden durch die Übertragung christlicher Traditionen überlagert und verdrängt. Damit erscheint eine weitere Gemeinsamkeit dieses Gebiets, die Einführung und Etablierung des christlichen Glaubens und die Installierung einer kirchlichen Organisation unter der Führung der Prämonstratenser. Mit dieser Ausbreitung des christlichen Glaubens übernahm die Region aus den christ lichen Kerngebieten Europas Strukturmodelle, die nun an die damaligen Peripherien gelangten.10Mit den Siedlern und der kirchlichen Organisation kam auch das geist liche und geistige Gedankengut hierher. Jedoch muß angenommen werden, dass sich bei der Übertragung von Traditionen aus den christlichen Kerngebieten min destens zwei unterschiedliche Formen von Traditionsfortschreibungen in der Mark Brandenburg etablierten. Verschiedene Traditionen aus unterschiedlichen Regionen können zu Mischformen generieren, daneben konnten auch unveränderte Formen eingeführt werden. Im Verlauf der Studie wird klar, dass die Vorlagen der Osterspiele, die in der Mark Brandenburg rezipiert wurden, Hinweise auf diese Übernahmen von Traditionen geben. Weiterhin greifen für die Bestimmung des Begriffs der Region der Mark Brandenburg keine geographischen Kriterien, sondern nur die Erkenntnis, dass sich das Wirkungsgebiet des Christentums langsam und kontinuierlich von der Elbe her nach Osten ausdehnte. Als Untersuchungsgebiete wurden deshalb die Diözesen Havelberg und Brandenburg gewählt. Die Festlegung, Diözesangrenzen zur Bestimmung von Regionen heranzuziehen, bestätigt sich u.a. durch liturgiegeschicht liche Aspekte. So weist Opfermann11daraufhin, dass man anhand von Sondergut in nerhalb des Lesebestands im Brandenburger Evangeliar einen Zusammenhang mit der „Magdeburger Tradition“ konstatieren kann. Die Übernahme einer gleichen Auswahl und Ordnung der Perikopen und ihren liturgischen Konsequenzen vermit teln innerhalb der Diözese das Gefühl von verbindlicher Gemeinschaft.12Dies kann als Grundlage und Voraussetzung eines mentalen Kontextes und Konsenses die nen, die es zu untersuchen gilt. Damit wird der Begriff der Region in dieser Arbeit 9 Bartlett (1998), S. 565/571. 10 Bartlett (1998), S. 566. 11 Opfermann (1961), S. 61. 12Wichtig erscheint an dieser Stelle ein Hinweis auf ein Argument von Hubert Orlowski, der in Anlehnung an Pierre Bourdieu von der bewußt vollzogenen Sinnsetzung von kulturellen Zeichen und Inhalten für eine Region spricht. Dabei geht er von der für die Identitätsbildung einer Region notwendigen Wiedererkennbarkeit von Zeichen und ihrer Realisierung aus. Erst die Besetzung von Traditionen in einem spezifischen Sinn macht den Identifikationsprozeß für den Einzelnen oder eine Gruppe mit einer Region und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Regionen möglich, s. Orlowski (2002), S. 154 und 169.
verstanden als ein Gebiet, das durch die sich wandelnden Diözesangrenzen festgelegt wird. Auf erhaltene Texte dieser Region konzentriert sich diese Arbeit. Die Festlegung der Region wird zusätzlich dadurch unterstützt, da die beiden Diözesen dieser Region durch das Wirken der Prämonstratenser als „Leitorden“ bestimmt wurde. Der Expansionsprozess in dieser Region hatte zum Ergebnis - so kann die Arbeitsthese formuliert werden -, dass sich die in die Mark Brandenburg eingeführ ten Traditionen als weniger nachhaltig erwiesen als die modifizierten Strukturmodelle und überarbeiteten Texte. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts verlieren die eingeführten Traditionen und Texte ihre Bindekraft und es zeigen sich Bemühungen ei gene, regionale Traditionen zu begründen. Die Blutwunderlegenden in der Mark Brandenburg, die hier im 13. und 14. Jahrhundert entstanden, die jedoch in diese Arbeit nur am Rande einbezogen werden, entwickelten sich zu einem weitgehend eigenen kulturellen Muster. Da aber nur nachreformatorische Texte von diesen Begebenheiten in Stepenitz, Zehdenick, Beltzig, Technow und Wilsnack und den nachfolgenden Wundern berichten, wurden diese Legendentexte in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. Überblickt man die Anzeichen eingeführter Traditionen so ist davon auszugehen, dass die übertragenen Traditionen mit den neu entstehenden geistlichen Mustern in Konkurrenz traten und zeitweilig nebeneinander existierten. Eine mögliche Vermischung verschiedener Traditionen liesse sich vielleicht mit Blick auf theologiegeschichtliche Aspekte aus einzelnen „Ordinarien“ oder „exposicionen“ ableiten, bei den volkssprachlichen Texten konnten sie nur bedingt ermittelt werden. Als Beispiel solcher vermischenden Verarbeitungen verschiedener Traditionen könn te möglicher Weise das Osterspiel aus Brandenburg gelten. Die nachgewiesenen Texte stellen Reste einer breiten Überlieferung dar, die sich auf die Klosterbibliotheken in Havelberg und Brandenburg konzentrieren. Von an deren Bibliotheken, wie Chorin, Jerichow, Lindow oder Zinna fehlt bis heute jede Spur. Zur Bibliothek des Zisterzienserklosters Lehnin gibt es zumindest ein mittelal terliches Buchverzeichnis,13erhalten haben sich nur spärliche lateinische und volks sprachliche Reste.14 Die Bibliothek des Prämonstratenserkonvents Havelberg dürfte nur noch zu einem geringen Teil greifbar sein. Den umfangreichsten Bestand bildet die Franziskanerbibliothek Brandenburg, die heute in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakow aufbewahrt wird.15 Jedoch ist dieser Bestand nahezu lateinisch und enthält nur Splitter volkssprachlicher Texte in Form von Marginalien oder Eintragungen auf freien Stellen lateinischer Codices. Es fehlen also jene umfangreichen mittelalterlichen Texte, die sich in langfristige Traditionen einreihen lassen sowohl im geistlichen wie im weltlichen Bereich, wie sie vergleichsweise von Tervooren für das niederrheinische Gebiet vorgestellt wer den konnten. In der Überlieferung sind mittelalterliche Epen und Märendichtungen 13 Sello (1881), zum Bibliotheksbestand der Klosterbibliothek, S. 86-102. 14 Rose (1901 und 1903), Kat.-Nrn.: 361,848. Vgl. auch Zwickau Ratsbibliothek XIII, II, 6. Als Kuriosum vielleicht noch Riedel CDB A X, S. 413-446. Dort sind natürlich auch eine Reihe von Dokumenten abgedruckt. 15Schmidt (2006).
ganz ausgefallen, wie wohl deren Existenz anzunehmen ist. Darüber hinaus konnten im Laufe der Untersuchung Hinweise aufgespürt werden, die die Existenz von hö fischen Dichtungen, wie z.B. die mittelniederdeutsche Vorlage für „Hertig Fredik“ wahrscheinlich macht. Die Märe von „Bruder Rausch“ dürfte ebenfalls in der Mark Brandenburg rezipiert worden sein. Nachweisen Hessen sich neben wenigen umfangreicheren Texten vor allem kür zere liturgische Gebrauchstexte, die Eingang in die Studie gefunden haben. Es wird sich zeigen, dass sich zwischen den weltlichen und geistlichen Texten Verbindungen verifizieren lassen, die übergreifende Traditionen in der Region andeuten und damit für das geistige Klima der Mark Brandenburg charakteristisch zu sein scheinen. So problematisch die überlieferungsgeschichtliche Ausgangslage auch sein mag, die Materiallage besitzt für die aus ihr folgenden Studie einen unleugbaren Vorzug. Die Texte wurden in keiner Hinsicht ausgewählt. Das ist der entscheidende Vorteil dieser Materialbasis. Die Auswahl ist von herausgeberischer Willkür oder auswählendem Interesse frei.16Das, was sich durch die stürmischen Zeiten des 30-jährigen Krieges, der preußischen Kriege des 18. Jahrhunderts und der problematischen Säkularisation zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten hat, bildet die Textgrundlage der Studie. Die literaturwissenschaftliche Forschung ist mit diesen Textresten konfrontiert und kann nicht durch eine bestimmte Auswahl die Fragestellung und Untersuchung be einflussen. Arbeitsgrundlage bildet damit ein heterogenes Konvolut von volkssprach lichen Texten, das es mit literaturwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und soziologischen Fragestellungen zu bearbeiten galt. Ausgelassen wurden jedoch die Streubelege weltlicher Lyrik des 15. Jahrhunderts und die sog. politisch-historischen Lieder, die lediglich in unzureichender Form durch Chroniken überliefert sind. Über die Blutwunderlegenden, die in die Studie nicht einbezogen wurden, ist schon gespro chen worden. Zunächst wird in der Studie der Versuch unternommen, einen Zusammenhang zwischen Traditionsbildung und sozialer Struktur herzustellen. Dabei ist von der These ausgegangen worden, dass eine Tradition erst dann relevant wird, wenn sie als sozial markierendes Muster in der Gesellschaft Funktionen übernehmen kann. Abgeleitet wurde diese Prämisse für die Studie aus den Philosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins. Er ist in der Begründung des Begriffs „Sprachspiel“ davon ausgegangen, dass die Bedeutung eines Wortes erst durch seinen Gebrauch mani fest wird. Im Gebrauch jedoch brechen sich soziale und anthropologische Muster, die damit die Bedeutung eines Wortes, Satzes oder Textes mitbestimmen. In der vorlie genden Studie wird das Schwergewicht der Untersuchung auf prägende soziologische Strukturen gelegt. Eine weitere Prämisse dieser Arbeit bestand in der Annahme, dass eine Gesellschaft verschiedene Gruppen enthalten muß, die sich durch unterschiedli che Traditionen voneinander abgrenzen und gegenseitig ausgrenzen. 16 Entsprechend fordert Tervooren für eine regionale Literaturgeschichtsschreibung die Würdigung aller Schriftdenkmäler ohne Ausnahme. Da regionale Literaturgeschichtsschreibung vor allem beschreibenden Charakter besäße, seien Schriften aller Gattungen und Inhalte für die kulturwissenschaftliche und literaturgeschichtliche Betrachtung einzubeziehen. Tervooren (2006), S. 18f.
Die Arbeit argumentiert mit einer Begrifflichkeit, die aus der zeitgenössischen Soziologie übernommen wird. Anhand der Gesellschaftsstruktur wird die sich darin vollziehende Gruppenbildung sowie -Stabilisierung betrachtet. Im Zuge der Festigung dieser Gruppen kommt es zur Herausbildung eines spezifischen Ordnungsmusters: der Abgrenzung und Ausgrenzung. Dieses Begriffspaar Ab- und Ausgrenzung bedarf einer näheren Erläuterung. Einerseits ergibt sich eine Unterscheidung zwischen der sich als abgeschlossen verstehenden, christlichen Gemeinschaft und einer andersgear teten Umwelt. Das meint die Zugehörigkeit des Einzelnen zur christlichen Gesellschaft in Abgrenzung zu den heidnischen Einwohnern der Region.17 Andererseits existie ren bereits gruppenspezifische Ab- und Ausgrenzungen einzelner Gruppen inner halb der christlichen Gemeinschaft.18 Fragen der Rechte, aber auch ganz alltägliche Ordnungen, wie die ständischen Kleiderordnungen, weisen daraufhin, dass man sich im Mittelalter über diese Unterscheidung verschiedener Gruppen innerhalb der christlichen Gesellschaft bewußt war.19In den Rechtstexten, wie dem Sachsenspiegel oder dem Wicbelde und ihren Glossen wurden diese Unterscheidungen nicht nur thematisiert, sondern argumentativ untermauert.20 Am Ende der dynamischen Phase des durch die Askanier vorangetriebe nen Kolonisierungsprozesses wurden Rechtskommentare verfasst, die mit aller Deutlichkeit die angesprochenen Ordnungsmuster verwenden. In der Auslegungdes Artikels 66 Abs. 1skizziert der Kommentator imZusammenhang mit dem „alten vreden“ eine Entwicklungsgeschichte, die die Begrifflichkeit der Ab- und Ausgrenzung anhand der Bekehrung der Sachsen greifbar macht. Zunächst heißt es im Sachsenspiegel: „Nu vornemet den olden vrede, den de keyserlike walt ghestediget hefft to sassenland, mit der guden knechte willekore des landes.“21 Dazu schreibt der Glossator: „Des zettet he erst van aldeme vrede. Dat is de vrede, de sik in Sassenland irhoff, do sik de Sassen bekereden van ungheloven unde böser wonheid to deme gheloven unde guder wonheit. Dit hetet en gestlik vrede, wente hir wart vrede twisschen gode unde den werden Sassen.“22 17 Die Vorstellung vom Verhältnis der Gesellschaft zum Individuum, das mehrfach am Rande dieser Studie anklingt, ist bestimmt von der Prämisse, dass die Gemeinschaft als vorrangi ge Gesellschaftsformation existierte, aus der sich im Laufe der historischen Entwicklung psycho soziale Individualstrukturen herausgebildet haben. Vgl. hierzu Dürkheim, (1977), S. 339f. s.a. Janka (1997), S 127. 18 Vgl. hierzu Oexle (1982), dessen Beobachtungen sich auf das 11. Jahrhundert beziehen, aber die soziale Dimensionierung des Memorierens dürfte ebenfalls als traditionelles Muster lange er halten bleiben. 19 Vgl. zum Erbrecht im Sachsenspiegel z.B. die Sonderstellung des geistlichen Standes, Sachsenspiegel I. Buch Art. 25, S. 47, Ebel (1999). 20 Deutlich wird das z.B. an den Ausführungen zur „Eigenschaft“ im Sachsenspiegel und den Glossen. 21 Kaufmann (2002), Bd. 2, S. 892. 22 Kaufmann (2002), Bd. 2, S. 893.
Die Annahme des christlichen Glaubens durch die Sachsen und ihre Abkehr von „ungheloven unde böser wonheid“ bezeichnet der Glossator als „geistlichen Frieden“ zwischen Gott und den bekehrten Sachsen. Nebenbei ist interessant zu bemerken, wie sich in dieser Darstellung ein „historisches Argument“ in ein „systematisches“ Argument verwandelt, indem eine Begründung der geistlichen Eintracht zwischen Gott und den Bekehrten in einem historischen Akt gesucht wird.23 Damit treten in der Argumentation zwei Gruppen auf, welche in Bezug auf ihre Stellung zum christlichen Gott differieren. Es handelt sich um die Gruppe der Christen, für die galt, dass sie durch ihre Bräuche, die als „wonheit“ bezeichnet wurden, mit Gott in Einklang lebten. Die andere Gruppe sind die unbelehrbaren „Anderen“, die durch ihre „wonheiten“ nicht in den Frieden Gottes eingeschlossen sein sollten. Diese Aufteilung in zwei Gruppen bedeutet aus der Sicht der Christen eine Ausgrenzung der Andersgläubigen. Aus dieser Discordia zwischen den nichtchristlichen Bewohnern der Mark und dem christlichen Gott leitet der Kommentator des Sachenspiegels wei tere Konsequenzen für die weltliche Macht ab, die die Ausgrenzung dieser Gruppe „Anderer“ aufzeigen. Die Buchsche Glosse führt zwei weitere Momente für die Begründung von Handlungsspielräumen der weltlichen Macht gegenüber den Ausgegrenzten an, die die kaiserliche Gewalt auszeichnen sollen. Zum einen beschreibt er die Möglichkeiten, kaiserliche Gewalt auszuüben, für die er wiederum zwei Aspekte benennt und beschreibt. Die weltliche Macht habe die Aufgabe, die Durchsetzung der christlichen Lehre aufgrund von Befehlen („anwisinge“) zu gewährleisten. Mit diesen befehlsmäßigen Anweisungen verbunden, erscheint das Argument der Abkehr von den heidnischen Bräuchen, dem die Getauften Folge leisten mußten. Die aktive Kolonisierung und Christianisierung, die mit diesen „anwisingen“ gemeint sein dürfte, forderte von den Getauften die bewusste Abkehr von nichtchristlichen Lebensformen. Befehl und Abkehr sind die zwei Seiten ein und der selben Münze, die darauf abzielt, mit der Kolonisierung und Christianisierung eine Ausgrenzung der nicht getauften Ungläubigen, „Unbelehrbaren“, zu manifestieren. In der Buchschen Glosse heißt es entsprechend: „In dessem vrede des gheloven < irhuff > sik de wonheit der guden werk. Dit beghin stedighede de keyserlike ghewalt. Dat gheschach twyerleye. To deme ersten mit lere und mit anwisinge und mit auffleginge böser wonheit, [.. .]“24 Dieser Abgrenzung setzt der Kommentator die aktive Unterdrückung aller heidni schen Lebensformen entgegen, indem er schrieb, dass die kaiserliche Gewalt weiterhin über die Möglichkeit verfügen sollte, durch Verhängung von „pine“, also gewalttäti ger Bestrafung, über „de yenne, de [in die nichtchristlichen Lebensformen] wedderkeren wolden“ und Unterdrückung „over de, de nicht kristliken wolden leven“.25 Die Betonung der Bestrafung Rückfälliger und die militante Unterdrückung heidnischer 23 Deutlich wird darin, dass Geschichte als Teil der Heilsgeschichte aufgefaßt wurde, wie be reits Orosius lehrte. Vgl. Schmale (1993), S. 46. 24 Kaufmann (2002), Bd. 2, S. 893. 25 Ebenda.
Lebensformen bedeutet die mit der Abgrenzung gleichzeitig ablaufende Dynamik der Ausgrenzung. „De andere stedeghinge was, dat se pine satten over de yenne, de wedderkeren wolden, unde over de, de nicht kristliken wolden leven, [...]“ Diese Dynamik kann gleichgesetzt werden mit der hier zur Diskussion stehen den gesellschaftlichen Strukturierungsdynamik. Beide Prozessmomente, Ab- und Ausgrenzung, bedingen und stabilisieren sich wechselseitig. Die Abgrenzung ist hier gekennzeichnet durch das Ablegen heidnischer Bräuche, die Aufnahme in die christ liche Gemeinschaft zieht die Trennlinie zum heidnischen Lager eindeutig. Dagegen manifestiert sich die Ausgrenzung in der Strafandrohung gegenüber Menschen, die in ihren alten Glauben zurückkehren oder beharren wollten. Entscheidend an diesem Exkurs ist vor allem wahrzunehmen, dass die bei den zentralen Begriffe, mit denen hier argumentiert wird, nicht als neuzeitliche Argumentationsmuster auf das Denken des Mittelalters projiziert werden, sondern beide Begriffe sind bereits im mittelalterlichen Denken verankert und in ihnen bricht sich die Vorstellungswelt jener Zeit. Die dialektische Struktur der beiden diskutierten Begriffe ist noch deutlicher zu fassen. In einer Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen von Rene Girard weist Kiening auf die ambivalente Struktur am Heiligen hin, deren Akt als Opfer die Differenz zwischen Täter und Opfer sichtbar macht und somit sowohl Züge des Verbrechens oder des sündhaften Lebens als auch der Rettung daraus in sich trägt. Um für eine Gemeinschaft heilend zu wirken, muß das Heilige aus der Gemeinschaft ausgesondert26 und zugleich erhöht werden. „[...] Heiligkeit [ist] eine Kategorie der Distanz und der Transzendenz.“27Die Dialektik dieses Prozesses hat Ähnlichkeit mit der Dialektik des Traditionsprozesses. Kiening bezeichnet die Abhängigkeit beider Prozessmomente am Heiligen deutlich: „Ausgrenzung und Auszeichnung sind dialektisch verbunden.“28 Die Ausgrenzung ist tendenziell oder substantiell mit Gewalt verbunden. Die Ausgrenzung und Abgrenzung sublimiert bereits die Gewalt, die nur das Eigene gelten läßt. Dazu ist aber zu bemerken, dass die Gewalt, selbst wenn man sie, wie Kiening, als anthropologische Größe sieht, die das Fremde aus dem Eigenen aus grenzt und fernhält, immer schon auf der Erkenntnis von Eigenem und Fremdem be ruht: auf Ab- und Ausgrenzung. Damit ist Gewalt ein nachrangiger, aggressiver Akt, der aus der Wahrnehmung und Differenzierung des Eigenen und der Abgrenzung gegenüber dem Fremden resultiert. Der im folgenden beschriebene Prozess der Traditionsbildung dient zur Orientierung und ist damit vorrangig. Diese die Gesellschaft strukturierenden Momente der Ab- und Ausgrenzung sind nicht nur zwischen einer kleiner werdenden heidnischen Umwelt und dem wachsenden christlichen Lager anzunehmen. Die Situation in der Mark 26 Kiening (2004), S. 28. 27 Kiening (2004), S. 29. 28 Kiening (2004), S. 28.
Brandenburg stellt sich komplexer dar. Jedoch ist nun einerseits deutlich, dass mit dem Begriffsinstrumentarium die gesellschaftliche Situation in der Mark des 13.-15. Jahrhunderts beschrieben werden kann. Andererseits bildet die Annahme von sich bewußt abgrenzenden Gruppen die Grundlage dafür, dass sich Traditionen bilden, weil sie die jeweiligen Gruppen sozial markieren, wie zu zeigen sein wird. Die Ergebnisse in dieser Darstellung sind die Basis, auf der dann anhand von Textanalysen zunächst wortgestützte Strukturelemente von Traditionen beschrie ben werden konnten. Der Nachweis wortgestützter Elemente von Traditionen wird im 3. Kapitel diskutiert. In einem weiteren Schritt wird nachzuweisen sein, dass die Aussagen einer lediglich auf die Ergebnisse von Übernahmen von wörtlichen Wendungen oder Motiven gestützte Traditionsbeschreibung nur dann ausreicht, wenn zugleich auch Angaben zur Gattung gemacht werden können. Fehlt die Einbettung eines Textes in sein Gattungsumfeld, erhellt die Analyse der Wort- und Motivebene den Text wenig, seine Intentionen und letztlich die mit ihm verbundenen Traditionen bleiben undeutlich. Das wird an den Marienexzerpten ersichtlich. Auf dieser Grundlage werden längere und abgeschlossene Texte vorgestellt, die die nichtliteralen Wirkungsebenen der Traditionen hervorheben. Anhand volks sprachlicher und lateinischer Texte werden Gestaltungselemente erkennbar, die für den Orden bezeichnend waren, der den jeweiligen Text hersteilen ließ. An einer Handschrift der mittelniederdeutschen Apokalypse ist nachweisbar, dass der Text eine stark auf die Liturgie gerichtete Bedeutung besitzt, was sich durch seine sprachliche und inhaltliche Analyse untermauern läßt. Klar treten aber auch prägen de Strukturelemente im Text zutage, die seine Zielgruppe und seine Inszenierung in der Liturgie erhellen und dabei Elemente des Habitus jenes Geistlichen greifbar wer den lassen, der diesen predigtartigen Text vortrug. Deutlich lassen sich am Habitus Bildung und Fortschreibung von Traditionen ablesen, da er maßgeblich zur sozialen Markierung beiträgt.29 Zusammengefaßt werden die im Rahmen der Untersuchungen ermittelten Strukturelemente eines kulturwissenschaftlich erweiterten Traditionsbegriffes bei der Analyse der Minnelieder Ottos von Brandenburg, „mit dem pfile“. An seinem poli tischen, kulturellen und „dichterischen“ Leistungen werden Momente und Elemente bindender Traditionen kenntlich gemacht. Bei der Würdigung seines Wirkens wird das Zusammenspiel traditionaler Elemente und Strukturen deutlich. Trotz eigenstän diger Impulse vermochte er es nicht, das dichte Geflecht von Bezügen zu durchbre chen. Damit wird die prägende Kraft von Traditionen beispielhaft erläutert. Die sich anschließende Betrachtung des Berliner Totentanzes schließlich gab die Möglichkeit an die Hand, den entwickelten, soziologisch-kulturwissenschaftlich fun dierten Traditionsbegriff anzuwenden, wodurch sich der Totentanz als Repräsentation und Inszenierung stadtbürgerlicher Frömmigkeit deuten läßt. Gerade der Berliner Totentanz ist ein Beispiel eines kulturellen Bruchs, der anzunehmen ist, angelegt wahrscheinlich zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts und der Mitte des 16. Jahrhunderts. Kiening hat darauf hingewiesen, dass dieser 29 Hier folgt die Studie dem Denken Bourdieus. Vgl. hierzu Bourdieu (1987), S. 128 u.ö.
Traditionsbruch den Sinnverlust der mittelalterlichen Kultur für die Neuzeit ausgelöst hat. Als Aufgabe einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft po stuliert Kiening die Entfaltung der Fremdheit der Textinhalte und Aussagen, und eine Differenzierung und Präzisierung der Beschreibungsinstrumentarien. Dafür weist er auf den Begriff der „dichten Beschreibung“ hin.30Um beides bemüht sich die vorlie gende Studie. Jedoch bezieht sich der konstatierte Traditionsbruch vor allem auf den Verlust sozialer Praktiken durch die Neustrukturierung der Gesellschaft im Barock und zunehmend in der Epoche der Aufklärung. Das Zurückdrängen des Zunftwesens beispielsweise ist ein Phänomen dieses Traditionsbruchs. In diesem Zusammenhang muß auf ein weiteres Strukturelement der Traditionsbildung hingewiesen werden, das in Kapitel 8 besprochen wird. Mit der Bildung neuer Traditionen ist in einem historischen Prozeß zumeist auch das Überblenden oder Austilgen vorhergehender Traditionen verbunden. Dieser Verdrängungsprozeß wird entweder darin sichtbar, dass Teile der älteren Tradition in die jüngere übernommen werden, wie es bei den Osterfeiern und -spielen in der Mark Brandenburg sichtbar werden wird. Dadurch können die Traditionen in verwandelter Form fortgeführt werden. Es kann aber auch zu einem Auslöschen, dem Verwischen, von Traditionen führen. Das wird an Texten erkennbar, die durch Makulierung oder andere Formen, den Text unbrauchbar zu machen, ihren Wert verlieren. Bei dem Predigtfragment in Kapitel 3 oder der Übermalung eines Wandgemälde im Kloster Chorin ist Entsprechendes zu beobachten. Dessen ungeachtet bleibt aber der Mechanismus der Aus- und Abgrenzung als sozial markierende Tradition kultureller Handlungen erhalten und kann auch für Texte bis ins 20. Jahrhundert nachgewiesen werden. Es ist davon auszugehen, dass mit dem entwikkelten Traditionsmodell auch kulturelle und literarische Phänomene bis zum ausgehen den 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts beschrieben werden können. In Deutschland dürfte dann vor allem das auf Vergemeinschaftung angelegte Gesellschaftsmodell der Nationalsozialisten31den Zusammenbruch der Funktion von Traditionen durch die ideo logische Durchdringung aller gesellschaftlichen Gruppen provoziert und Hierarchien zerstört haben. Wie dieser Wandel zur Moderne in anderen europäischen Gesellschaften und Kulturen zu beschreiben wäre, muß dahingestellt bleiben. Eine methodische Voraussetzung des soziologisch-kulturwissenschaftlich fun dierten Traditionsbegriffes leitet sich aus dem Denken Pierre Bourdieus ab. Seine Neuformulierung des Kapitalbegriffs und die Differenzierung in ein wirtschaftliches, soziales und symbolisches Kapital bildeten die Grundlage, sich intensiv mit dem Begriff der Traditionen zu beschäftigen, die als sozialstrukturierendes Element einen Kontext zwischen sozialem und symbolischem Kapital schaffen und damit für die jeweilige Gesellschaft zur Orientierung dienen.32 Ausgehend von dem Kapitalbegriff hat Bourdieu die Wirkungsweise dieses so zialen Phänomens durch seine Feld- und Habitustheorie bestätigt. Nur durch die 30 Kiening (2004), S. 24. 31 Janka (1997). 32 Bourdieu (1992), S. 50ff.
Verinnerlichung spezifischer Momente, die sich aus dem sozialen oder symbolischen Kapital ergeben, kann der Mensch sich auf dem jeweiligen Feld integrieren und be wegen und erhält in seinem Habitus eine entsprechende Markierung, die im sozio logischen Kontext Hierarchien, Strukturen und Ordnung bieten. Ersichtlich wird, dass der Begriff der Tradition in dieser Arbeit mitnichten als die Fortschreibung kultureller geistiger Elemente gesehen, sondern immer verstanden wird im Zusammenhang mit der mit ihr verbundenen sozialen Markierung. Traditionen sind somit Muster, die als Markierung im sozialen Feld Zuordnungen in und für Gruppen und ihre Mitglieder ermöglicht und damit zur Strukturierung und Hierarchisierung von Gesellschaft beitragen. Es geht also um die gesellschaftliche Dynamik, die durch diese Strukturbildungen bestimmt ist.33 Dabei wird nicht auf die Theorie gesell schaftlicher Institutionen zurückgegriffen, weil die Institutionsbildung erst in den Anfängen steckte. Die Institutionsbildung entsteht aus gerade dieser Strukturdynamik und wird im 15. sowie vor allem im 16. Jahrhundert von großer Bedeutung.34 Traditionen schaffen für die jeweiligen Gruppen zugleich Identifikationsmomente und Ordnungsmöglichkeiten. Diese Bestimmung von Traditionen hat weitreichen de Konsequenzen sowohl für die literaturwissenschaftliche Arbeit als auch für das Verständnis von Literatur als historischem Phänomen.35 Beide Aspekte werden je doch in dieser Arbeit nicht weitergeführt. Von hieraus bildet sich weitreichender Diskussionsbedarf. Mit Blick auf die starke gesellschaftliche Bindekraft von Traditionen wird deutlich, welche Funktionen Traditionen in verschiedenen historischen Epochen der Gesellschaft besaßen. Aus der Gegenwart zurückblickend beschreibt Anthony Giddens die Bedeutung dieser Bindekraft von Traditionen als Momente der Einbettung, die sich jedoch als „Konsequenzen der Moderne“ auflösen.36 Die Konsequenzen für eine Gesellschaft, die durch derartige kulturelle Muster über lange Zeiträume strukturiert und bestimmt wurde und die durch die neuen dynamischen Kräfte der Globalisierung zerstört wird, sind noch nicht abzusehen. Entdeckt man die Funktion und Wirkungsweise der Traditionen, hier speziell an kulturellen und literarischen Traditionen sichtbar gemacht, so wird die Dramatik, die Giddens in seiner Analyse beschreibt, erst in vollem Umfang und an konkreten Beispielen verständlich. Sein Anliegen basiert darauf, Modalitäten der Moderne zu erläutern, jedoch mußte er für seine Darstellung für einige Abschnitte vereinfachte Auffassungen vom Mittelalter nutzen. Wer die historische Dimension dieser Analyse der Globalisierung von Giddens im Kontext mit literarischen Werken und dem mittelalterlichen Leben be arbeiten will, muss an diesen Abschnitten unweigerlich kleine Ergänzungen und Korrekturen vornehmen,37 was die Argumentation von Giddens nicht in Frage 33 Darin unterscheidet sich der methodische Ansatz von Jurt (1995). 34 Dazu vgl. Burckhardt (2002). 35 Erste Hinweise erhält folgender Aufsatz: Langner (2007), S. 171-182. 36 Giddens (1999). 37 Nach der hier vorgelegten Studie zum Traditionsbegriff wären es z.B. Abschnitte wie das Kapitel „Das Vormoderne und das Moderne“, Giddens (1999), S. 127ff., die zu ergänzen wären.
stellt, sondern die Zusätze unterstreichen die von ihm konstatierte Dramatik der Globalisierungsprozesse. Diese Arbeit ist durch Anregungen von Kollegen und Freunden befördert wor den. Erste Interpretationen konnten in Zusammenhang mit Gebetstexten unter Betonung der Gattungszuordnung in einem Oberseminar im Wintersemester 2002 bei Karina Kellermann vorgelegt werden. Ich danke der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam, die mir die Möglichkeit einräumte, in der Ringvorlesung „Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur“ im Sommer 2003 Aspekte der Gesellschaftsdifferenzierung im Mittelalter vorzustellen. Besonders anregend war ein Vortrag, den ich im März 2004 vor Literaturwissenschaftlern der Akademia Pedagogiczna in Krakow halten durfte. Hier bin ich einer großen Zahl von Anregungen Herrn Kazimierz Bartoszynski und Herrn Jan Prokop zu Dank verpflichtet. Sehr gern bin ich der Einladung des Mediävisten-Verbandes zu einer Tagung nach Frankfurt/O. im März 2005 gefolgt. Hier konnte ich einige theoretische Überlegungen zur Diskussion stellen und nahm interessante Anregungen mit. Durch ein großzügiges Stipendium der Akademie war es mir möglich, eine Reihe von Reisen zu unternehmen, um Handschriften einzusehen und spezielle Literatur zu beschaffen. Für diese Möglichkeit danke ich dem Rektor der Uniwersytet Pedagogiczny, Kraköw, besonders herzlich. Mein besonderer Dank gilt Herrn Volker Mertens, der mit viel Geduld den Entstehungsprozeß hilfreich begleitet hat. An eine Reihe von instruktiven Gesprächen mit Herrn Hans-Gert Roloff denke ich mit großer Freude und Dankbarkeit zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Thema hätte jedoch nicht stattgefunden, ohne das überwältigende Engagement und das freundliche Entgegenkommen von dem viel zu früh verstorbenen Hans-Jürgen Bachorski, ohne seine Ermutigungen hätte ich mich nicht auf den langen Weg gemacht.
1. K a p i t e l
Zum Begriff der Tradition und seiner Verwendung in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung Betrachtet man die Bildung von Traditionen als ein prozessuales Geschehen, wie es in dieser Studie geschieht, lassen sich zwei Aspekte von Traditionsbildungen feststellen und unterscheiden. Einerseits kann Traditionsbildung auf den Entstehungsprozess des Textes und der Arbeit des Autors an seinem Text bezogen werden. Andererseits kann bei der Betrachtung von Traditionsbildungen der Text selbst in den Mittelpunkt gerückt werden. Er kann zum Objekt einer Tradition werden. Dennoch gehören beide Aspekte zu demselben Prozess. Unabhängig von einander können sie nicht auftreten, sondern entstehen nur miteinander und sind auch nur zu verstehen und nachzuvoll ziehen, indem beide Aspekte zusammengenommen werden. Ein Autor kann sich in seiner Textarbeit in eine Tradition stellen und dafür bestimmte Motive, Muster, Stoffe und/oder Gattungen aufgreifen und den eignen Text entsprechend gestalten. Diese Texte sind dann durch Motivübernahmen und Strukturen geprägt, die sich aus anderen Texten, Zusammenhängen und kulturel len Phänomenen ableiten lassen und in diesen nachgewiesen werden können. Ein Nachvollzug dieser „Motivwanderungen“ geschieht durch Analysen, durch die sich Traditionslinien nachziehen lassen. Zum anderen kann das jeweilige Werk oder kul turelle Phänomen durch eine Tradition überliefert werden, dann übernehmen Werke charakteristische Momente, wie Argumente, Bilder, sprachliche Besonderheiten. Diesen Aspekt hat bisher vor allem die Forschung zur Intertextualität thematisiert, untersucht und erläutert. Eine Tradition wird durch das jeweilige Werk bestimmt oder durch die Fortschreibung eines Textes/Werkes vollzieht sich die Tradition. Mit Hilfe der intertextuellen Betrachtungsweise wird das textuelle „Universum“ von jedem Werk rekonstruiert, nicht aber die dazu gehörenden, sozialbestimmten Traditionen, in denen diese Textprozesse stattfinden. Eine textorientierte Literaturwissenschaft verfährt dergestalt, dass sie anhand des Nachweises von Indizien vermeint, die Entwicklung von Traditionen rekonstruieren zu können. Hier entsteht ein methodisches Problem, weil dadurch die Ergebnisse der Untersuchungen von Motiven, Bildern, sprachlichen Eigenheiten, stofflichen oder ar gumentativen Besonderheiten sich zur Annahme einer Tradition verfestigt. Diese Beschreibungsmöglichkeit der Literaturwissenschaft wird die Brüder Grimm auf den Gedanken gebracht haben, eine Trennung von Traditionsgut und Traditionsprozess vorzunehmen, wie es in ihrem Wörterbuch nachzulesen ist. Damit steht ein statisches Element und ein von diesem manifesten „Traditionsgut“ abgelöster
(„dynamischer“) Traditionsprozess gegenüber. Darauf, dass dieses Verhältnis von „Geronnenem“ und „Dynamischem“ unproduktiv ist, hat bereits Brokhoff verwiesen.1 Er verfolgt in seiner Erörterung die gedanklichen Konsequenzen und deutet mit Blick auf die Fortschreibung dieses Gedankens bei Heidegger, Adorno und Gadamer diese Form der Traditionsbildung als methodisches Vorurteil.2 Mit Brokhoff stimmt der Verfasser dieser Studie überein, dass diese Trennung im Kontext der Traditionsbildung nicht sinnvoll ist. Nicht das Vorhandensein bestimmter Elemente macht Traditionen zu kulturellen Phänomenen, noch spezifische kulturelle Verhaltensweisen zeichnen sie aus. Hier wird die gedankliche und methodische Grundlage dieser Studie noch ein mal aufgerufen. Erst der Gebrauch von Worten, Motiven, Sätzen und Texten bestim men ihre Bedeutung, wie es Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen und deutlicher noch in den Manuskripten „Über Gewißheit“ dargelegt hat.3In diesem Gebrauch haben soziale und historische Faktoren unbestreitbar Einfluss und sind damit prägende Momente in dem textuellen Prozess. Sie sind zu bestimmen, wenn die Bedeutung von Texten erörtert wird. Gleichwohl haben sich in Jahrhunderten Traditionen als gesellschaftsstrukturierende Muster entwickelt und durchgesetzt, die als Orientierung für die Mitglieder bestimmter in der Gesellschaft vorkommender Gruppen und als Markierungen deren Mitglieder dienten. Dieser Gedanke wird noch näher ausgeführt werden. Dass sich kulturelle Elemente und Phänomene im Laufe der Geschichte gebil det haben und in Traditionen fortgeschrieben wurden und die sich heute durch die Analyse von Motiven, Stoffen, Figurenkonstellationen, formalen und strukturellen Momenten nachweisen lassen, ist unbezweifelbar. Aber es darf von diesen Momenten, die lediglich als Indizien für Traditionen angesehen werden können, nicht der irre führende Schluss gezogen werden, dass sich darin die jeweilige Tradition erfüllte.4 Es ist unzureichend, solche Motive und Strukturen bereits für die „ganze Tradition“ halten zu wollen. Hier verfängt sich unter anderem auch das strukturalistische Denken, das von einer Entsprechung und Abhängigkeit formaler Besonderheiten, struktureller Elemente auf der einen und historischer Bedingungen auf der anderen Seite ausgeht. Ähnlich argumentiert die marxistische Schule, die davon ausgeht, dass Tradition als ein Überbauphänomen ohnehin durch seine materielle Bedingtheit auf grund der ökonomisch-gesellschaftlichen Basis deren Gegebenheiten und Faktoren widerspiegelt.5 Diese Zuordnung erscheint gleichfalls unzureichend. Wenn auch der Gegenbeweis hier nicht geführt werden soll, ist sicher, dass entgegen diesem 1Brokoff (2005). 2 Selbst in der Begründung einer performativen Ästhetik durch Fischer-Lichte (2004) bricht sich noch der Gedanke des „tradierbar Manifesten“ (S. 127) Dagegen dürften gerade die Beispiele, die die Autorin ausführlich analysiert und instruktiv auswertet, als Belege für die Prozessualität von Traditionen gesehen werden. 3 Wittgenstein (1980). 4 Als Beispiel sei auf die Leich-Studie von Äpfelböck (1991) hingewiesen. 5 Sehr plastisch wird die marxistische Position vorgestellt bei Dahnke (1981), insbes. S. 55-64. Aber auch der frühere Sammelband von Weimann gibt einen Einblick in die marxistische Position: Weimann (1972).
mit den beiden Schulen verbundenen Begriff der „Notwendigkeit“ formaler und historischer Korrelate Traditionsbildungen nur inadäquat beschrieben werden kön nen. Der Nachweis dieser „notwendigen“ Entsprechungen sind Konstrukte.6 Wenn auch beide Positionen außerliterarische Faktoren für die Bestimmung von geistigen Entwicklungen und Traditionen einbeziehen, fokussieren sie den Nachweis traditionaler Strukturen auf (aus ihrer Sicht) nachrangige textuelle Merkmale. Sie reduzieren damit ihre eigene Beweiskraft und schaffen Voraussetzungen für eine Vorstellung von „rationaler“ Geschichtsentwicklung, die an die „großen Erzählungen“ erinnern, die Derrida dekonstruieren wollte. Im Gegensatz zu den formalen, inhaltlichen und historischen „Notwendigkeiten“, mit denen die Vertreter beider Schulen argumentieren, verbindet sich mit dem in die ser Studie diskutierten prozessualen Traditionsmodell der Gedanke, dass die Auswahl von Elementen der Traditionen nicht notwendig ist, sondern sich ihrerseits aus vor hergehenden Traditionen erklären lässt oder die Auswahl der Formelemente und in haltlichen Motive arbiträr ist. Entsprechende Beispiele in dieser Studie werden diese Position zu untermauern suchen. Um die Traditionsbildung, wie sie in der vorliegenden Studie beschrieben wer den soll, deutlicher charakterisieren zu können, soll nun auf einige Ergebnisse einge gangen werden, an denen die eben skizzierten Schwierigkeiten bei der Definition vom Begriff der Tradition verdeutlicht werden können. Ein exzellentes Beispiel für die formalgeschichtliche Betrachtungsweise von Traditionen bietet Patzlaff in seiner Studie über „Otfrid von Weißenburg und die mittelalterliche versus-Tradition“ (1975). Ausgehend von der in der Forschung wie derholt diskutierten und strittig gebliebenen Frage, welcher Formtradition Otfrid folgte, als er seine Evangelienharmonie dichtete und wie er diese Fragestellung in seinem Proömium diskutierte, versucht Patzlaff die formalen Gegebenheiten der Otfridstrophe näher einzugrenzen, wobei er dezidiert außerliterarische Aspekte ausblendete.7 Zunächst verfolgt er die strukturellen Merkmale im Psalmenvers und später im Hymnenvers,8 um die formalen und metrischen Gegebenheiten beider Versmodelle auszuloten. Mit den Strukturmustern dieser Analyse verglich Patzlaff die Merkmale der Otfridstrophe.9 Ohne ein abschließendes Ergebnis vorlegen zu können, grenzt Patzlaff als Strukturmodell der Otfridstrophe die ambrosianische Hymnenstrophe ein, die er in einer 16-silbigen Strophe einer Passion von Clermont nachweist. Patzlaff hat explizit seine Untersuchung auf formale Aspekte beschränkt.10 Die naheliegende Frage, welche Funktion die von ihm nachgewiesenen ambrosianischen Hymnenstrophen in der Liturgie übernimmt und welche Bedeutung ihr zukommt, 6 Hier dürften die Diskussionen, die Jacques Derrida mit seiner Dekonstruktion der Geschichtsmythen angeregt hat, als ausreichender Hinweis genügen. 7 Patzlaff (1975), S. 74f. 8 Patzlaff (1975), S. 86ffund lllff. 9 Patzlaff (1975), S. 134ff. 10 Patzlaff (1975), S. 85.
stellt er nicht. Dass bestimmte Verse und Melodien für spezifische liturgische Aufgaben bereitstanden und für wiederkehrende inhaltliche Zusammenhängen her angezogen wurden, ist hinlänglich u.a. durch die Osterfeiern bekannt und darf in gleichem Maße auch für andere Bereiche des gottesdienstlichen Lebens angenom men werden. Patzlaff hätte also die Möglichkeit nutzen können, dem Gebrauch und der Funktion jener Passion von Clermont nachzugehen, um aus deren Einsatz in der Liturgie eine Vorstellung herauszuarbeiten, die möglicher Weise eine vergleichbare Verwendung der Evangelienharmonie Otfrids offengelegt hätte. Damit würde es ihm gelungen sein, die von ihm untersuchte „versus-Tradition“ in noch umfassenderer Weise aufzuhellen. Das ist unterblieben, eben weil die Untersuchung von Patzlaff auf die textuellen und formalen Gegebenheiten beschränkt wurde. In diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung mit dem Traditionsbegriff in der Volkskunst- und -liedforschung außerordentlich anregend. Die Materiallage in der Volkslied- und -kunstforschung hat diesen Wissenschaftszweig in einer ganz an deren Weise mit der Auseinandersetzung von mündlicher und schriftlicher Tradition konfrontiert. Besonders aufschlussreich sind die Darstellungen von Schier, der bereits 1977 auf die motiv- und stoffgeschichtlichen Aspekte der mündlichen Traditionen hinwies und deutlich machte, dass und in welcher Form Widerspiegelungen dieser Elemente in der schriftlichen Tradition reflektiert werden. Er macht zurecht geltend, dass form- und gattungsspezifische Faktoren11 ebenfalls in die Bildung mündlicher und schriftlicher Traditionen hineinragen. Ohne dies im textlichen Details belegen zu können, stellte Schier die wesentlichen Faktoren und Elemente der Felder kultureller Traditionen zusammen. Er wies daraufhin, dass eine zunächst nicht vermutbare Stabilität in der mündli chen Tradition festzustellen ist, da die traditionellen Bindungen für die Mündlichkeit ebenso stark vorzustellen sind als in jeder schriftlichen Überlieferung.12Aus diesem Ergebnis ist zu folgern, dass für ihn nicht nur textuelle Gegebenheiten zu untersuchen sind, sondern auch gerade die sich aus den kommunikativen Aspekten ergebenden Faktoren der Traditionsbildung. Für den mündlichen Vortrag sind selbstverständlich die Gegebenheiten und Bedingungen des kommunikativen Aktes mit zu bedenken,13 wodurch auch außerliterarische Faktoren an Bedeutung gewinnen.14 Von großer Wichtigkeit war der für die Forschung frühzeitig geäußerte Gedanke, dass auch zwischen den textlichen Befunden und Bildern traditionale Verbindungen zu vermuten sind, der in der Zwischenzeit durch umfangreiche Studien längst sei ne Bedeutung erwiesen hat.15 Auch die vorliegende Studie wird diese Aspekte einbeziehen. " Schier (1977), bes. S. 110-112. 12 Schier (1977), S. 101. 13 Schier (1977), S. 105f. 14 Schier (1977), S. 109. 15 Eine der letzten umfangreichen Darstellungen, die eine Brücke schlägt zwischen archi tektonischen, ikonographischen Befunden und literarischen Werken, stammt von Victor Millet: Von Drachentötern, Quellenfiktionen, Pastourellen und Lehnwörtern. In: ZfdPh 124 (2005) H 1, S. 90-121.
Problematisch in der Argumentation von Schier ist allerdings ein Gedanke, in dem er zwischen traditionsbetonter und individualbetonter Literatur zu unterschei den sucht.16 Das Herauslösen einer Individualität, die sich angeblich freimachen könnte aus Traditionsströmen, aus Bindungen von Traditionen, geschichtlichen Bedingungen, die z.T. auch „nur“ Traditionen sind und die den Einzelnen notwendi ger Weise umgeben, da der Einzelne trotz aller Individualität ein soziales Wesen ist, erscheint unmöglich. Demgegenüber gewinnt ein Gedanke Raum, der in Anlehnung an die sprachphilosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins dahingehend formuliert werden kann, dass die „individuellen“ literarischen Momente nur auf der Grundlage jener traditionsbetonten Literalität möglich ist, quasi ein Sprachspiel ergebend, das erst im Gebrauch, im Rahmen eines umfassenden Modells von Sprachhandlung17, Bedeutung übernehmen kann und erhält. Gerade dieser Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit eingehender thematisiert und die hier thesenartig formulierte Behauptung untermauern helfen. Daher scheint die von Schier gemachte Unterteilung zwischen traditionsbetonter und individualbetonter Literatur proble matisch. Wenn diese Unterscheidung produktiv sein kann, dann kann man vielleicht davon sprechen, dass diese Unterscheidung auf die zwei Ebenen hinweist, die als Pole eines Prozesses gedacht werden müssen. Eher muss noch einmal deutlich hingewie sen werden, dass der literarische Produktionsprozess stets durch ein hohes Maß von tradierenden Kräften und Einflüssen bestimmt ist und dass der individuelle Anteil demgegenüber zurücktritt. Gleichfalls auf eine Auseinandersetzung mit mündlichen und schriftlichen Traditionen geht Mastrelli im gleichen Jahr ein. Er beschreibt die Abhängigkeit von institutionellen Einflussfaktoren auf die jeweiligen Traditionen der Romania und Germania. Dazu postulierte er die wechselseitige Abhängigkeit von materiellen Faktoren und geistigen Traditionen, stellte aber zugleich kein abgeschlossenes Modell für die Traditionsbildung und ihre Abhängigkeit von Institutionen bereit.18 Ganz entsprechend dem von Schier skizzierten literarischen Feld,19durch des sen Einflusskräfte und Faktoren sich literarische Traditionen formulieren sollen, betont Kroninger 1982 das Ineinandergreifen der Künste. Er weist mit Blick auf Entwicklungen im literarischen Leben des 20. Jahrhunderts auf die Abhängigkeit literarischer Erscheinungen von Entwicklungen in der zeitgenössischen Musik, der Bildenden Kunst und anderen Künsten hin.20Worauf er hinweist, gilt aber nicht nur für das literarische Leben des 20. Jahrhunderts, sondern im gleichen Maße auch für die Bedingungen der Literatur anderer Epochen und damit auch für die des Mittelalters. Die Vorstellung eines Austausches verschiedener kultureller Felder ist in der Zwischenzeit unverzichtbares Wissen der philologischen Forschung. Zur gleichen 16Schier (1977), S. 103f. 17 Fischer-Lichte (2004), S. 31ff. 18Mastrelli (1977), S. 83-92. 19 Hier nicht im Sinne von Jurts Darstellung des literarischen Feldes nach Bourdieu, sondern nur allgemein als Wirkungsraum literarischer Prozesse verstanden. 20 Korninger (1982), S. 7-19.
Zeit hat Mertens dieses Ineinandergreifen der Literatur und Musik für den Minnesang belegen können.21 Besonders eingehend mit der Frage nach der Bedeutung und Funktion von Traditionen hat sich der Volkskundler Reimund Kvideland beschäftigt. Mit einem polarisierenden Titel versucht Kvideland, die beiden wesentlichen Richtungen bei der Bestimmung kultureller Traditionen herauszustellen, in dem er die Distinktion aufstellt: „Tradition: Objectivations or social behaviour?“ Dabei unterstreicht er, wie zuvor Schier, den kommunikativen Aspekt traditionellen Lebens und betont die Interaktivität der mit ihm verbundenen Lebensäußerungen. Auch wenn seine Argumentation bedingt ist durch Resultate in der Volksliedforschung, kann seine Überlegung auch auf andere Bereiche des kulturellen Lebens übertragen werden. Der entscheidende Aspekt, den Kvideland als Ausgangspunkt seiner Darstellung wählt, ist der prozessuale Charakter von Traditionen.22 Im Gegensatz zu einer ungenügenden Vorstellung von Tradition als einer ausschließlich materiellen Manifestation erklärt Kvideland Tradition als einen „symbolic process“: „There is a tendency to use the term process as a slogan, as a kind of a magical key that explains everything. It has been used to denote that objectivations migrate as authonomous phenomena, that tradition is passed from one person or generation to another, that tradition is always changing or growing like an organism. This is unfortunate. The term process should be reserved for the concept of tradition as a störe or reservoir of culturally accepted knowledge that grows and changes along with the process of enculturation. Every time it is used, it is recreated in accordance with the given Situation. It includes both the message and the form of interaction. It can be presented as fixed form, as references or conversation.“23 Ausdrücklich lehnt Kvideland die Auffassung von Tradition als Manifestation („sets of objectivations“) ab. Dieser Begriff der „sets of objectivations“ könnte gleich gesetzt werden mit der Ansicht, in der Tradition etwas „Geronnenes“ zu sehen, wie oben bereits ausgeführt wurde. Diese Bestimmung der Tradition erscheint als un zureichend. Demgegenüber macht Kvideland die Vorstellung von Tradition als ei nem mentalen Vorrat kulturellen Wissens stark, das sich situationsabhängig realisiert und sowohl in inhaltlichen wie in formalen Elementen Ausdruck finden kann. Dabei rückt er die situative Kommunikationsstruktur in den Vordergrund und erteilt ei nem Traditionsbegriff eine Absage, der in der Tradition etwas Materialisiertes und „Geronnenes“ sieht. Damit formuliert Kvideland Tradition im Kontext von Mentalitätsgeschichte, was in Bezug auf die Volksliedforschung wahrscheinlich naheliegend ist. Jedoch ver schiebt er in einem gewissen Grade die materielle Manifestation in einen Bereich der geistigen Kennzeichnung und Prägung, die die jeweilige Mentalität ausmacht und die dann entsprechend den ihr zugeordneten Fundus kultureller Formen nutzt. 21 Mertens (1986), S. 455-496. 22 Kvideland (1984), hier S. 13. 25 Kvideland (1984), S. 15f.
Obwohl er also die Interaktivität heraushebt und betont, übersieht er die Möglichkeit, Tradition sozial zu verorten. An dieser Position greift auch Kirsten Sass Bak ein, die mit einem Statement gegen Kvideland argumentiert.24 Sie stimmt mit ihm in der grundlegenden Feststellung überein, Tradition als interaktiven Prozess zu definie ren. Aber sie geht noch einen Schrift weiter als Kvideland, indem sie die interaktiven Realisationsmomente in Verbindung bringt mit psychischen und sozialen Aspekten der Traditionsbildung, wobei sie zugleich den materialistischen Standpunkten eine eindeutige Absage erteilt.25 Beidem ist beizupflichten. Wobei sich Bak wiederum mit einem anderen Problemfeld von der grundsätzlichen Definition der Tradition abkehrt, indem sie Fragen der Kontinuität und damit verbunden der Stabilität auf der einen Seite und der Diskontinuität auf der anderen Seite anreißt. In der Tat sind die Fragen nach diskontinuierlicher oder instabiler Überlieferung von Traditionen von weitreichender Folge, aber zugleich bedarf es zunächst klarer Umrisse des Traditionsbegriffes, ehe diese Fragen diskutiert werden können. Der mit jeder Tradition verbundene Wandel, der damit als Instabilität der Formen und Inhalte, der innovativen Zusätze und sich verändernden situativen Kontexte augenfällig wird, kann erst in seiner Bedeutung erfasst werden, wenn die gesellschaftliche Funktionsweise der Tradition erkennbar ist. Wandelnde soziale und historische Faktoren wirken auf die Traditionsfortschreibung ein, aber trotz umfangreicher Veränderungen kann den noch erst von der Diskontinuität einer Tradition gesprochen werden, wenn das je weils zeitgenössische Selbstverständnis der Gruppe sich so weitgehend geändert hat te, das die von ihr getragene Tradition ihre markierende Funktion in der Gesellschaft verloren hat.26 So sind Fragen der Instabilität und Diskontinuität Aspekte, die die Traditionsentwicklung mit prägen, wichtige Momente jeder Tradition, aber sie erklä ren den Prozess der Traditionsbildung selbst nicht. Den entscheidenden Hinweis auf die Vorstellung von dem, was sich mit Tradition verbindet, gibt Kvideland, indem er eine Verbindung zwischen dem aner kannten kulturellen Wissen und der Enkulturation schafft. Dieser Kontext zeigt, dass Kvideland den sozialen Charakter traditionellen Lehrens, Verhaltens und Handelns erkannt hat.27 Enkulturation und Tradition bilden somit ein abgestuftes System so zialer Bezugnahmen. Während Enkulturation der Vermittlung von Werten und Verhaltensmustern für ein Individuum dient, setzt Tradition die Kenntnis solcher 24 Bak (1984), S. 17ff In der nachfolgenden Diskussion, die Otto Holzapfel ebenda zusammen fasst (S. 22-24) standen vor allem die Frage der Kontinuität und Diskontinuität zur Diskussion und der Begriff des „symbolischen Prozesses“. 25 Bak (1984), S. 20. Vgl. zu den psychologischen Fragestellungen: Czerwinski, Peter: Heroen haben kein Unterbewusstsein. Kleine Psycho-Terminologie des Mittelalters. In: Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der Psychologie. Hrsg.: Gerd Jüttemann. Weinheim: 1986. S. 239-272. 26 Der Aufstieg und Sturz von Patrizierfamilien konnte die soziale Situation innerhalb der stadt bürgerlichen Gemeinschaft tiefgreifend ändern, Bankrott, einzelne Todesfälle oder Auswirkungen von Epidemien griffen in das Sozialgefüge der Städte ein und konnte zum Abbruch von derartigen Traditionen führen. - s. hierzu Bachorski, s.u. S. 30. 27 Kvideland (1984), S. 15f.
internalisierten Werte und Normen voraus und wendet sie im Bezug auf die jewei ligen Gruppen an, zu denen sich das Individuum zählt, durch die es sich orientiert und sich gleichfalls von anderen gesellschaftlichen Gruppen fernhält. Während sich also die Enkulturation auf die Bildung des individuellen Verhaltens - hier kommt der von Pierre Bourdieu sozialwissenschaftlich geprägte Begriff des Habitus 28 ins Spiel - bezieht, umfasst, bildet und lenkt jede Tradition entsprechend das gruppen spezifische Denken, Wahrnehmen und Verhalten. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass jedes Individuum - auch bereits in der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft, nicht nur einer Gruppe angehört, sondern die Gesellschaft muss bereits als so weit gehend ausdifferenziert angesehen werden, so dass davon auszugehen ist, dass jedes Individuum sich durch mehrere Gruppen definiert, z.B. durch die Handwerksgilde, die Straße (was manchmal durch die städtische Siedlungsordnung gleichbedeutend sein kann), die Kirchengemeinde (z.B. innerhalb einer Stadt), durch die Zugehörigkeit zu Bruderschaften und schließlich die Stadt selbst, in der der Einzelne wohnt. Für die Mark Brandenburg gilt sicherlich noch über das 15. Jahrhundert hinaus die zu sätzliche Abgrenzung durch die Zugehörigkeit zur christlichen Religion29 etc. Für Mitglieder geistlicher Gemeinschaften sind entsprechende Bezugspunkte nachzuwei sen, der Mönch oder Kleriker definiert sich durch die Zugehörigkeit zu einer Diözese (und deren Region), das Kloster, die Stadt oder das Dorf, die Funktion innerhalb des Ordens usw. Als Beispiel seien in diesem Zusammenhang die Osterfeiern genannt, an deren spezifischer Ausformulierung sich belegen lässt, dass die Feiern jeweils von un terschiedlichen Orden bei gleichbleibendem Formenkanon in unterschiedliche theo logische Traditionen gestellt werden. Diese Traditionen bilden den Vorstellungen von Kvideland entsprechend jene „symbolischen Prozesse“, die für die Identifikation des Einzelnen mit seiner Gruppe notwendig sind und ihm zugleich eine Ausgrenzung anderer Traditionen (und von anderen Gruppen) ermöglicht.30 Das Changieren von Textbedeutungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und damit die differierende Bedeutung von gleichen Texten diskutiert Mac Donald in seiner Studie zum Tristanstoff. Entsprechend dem oben skizzierten sozialen Charakter von Tradition liest sich im zusammenfassenden Teil seiner Studie das Resümee: „It is true that the Prose Tristant and Sachs Tradegia take the fable to the (im perial) city; the social und cultural significance of this change in venue is, however, open to question. The point to be made is that the Tristan story had broad appeal, that is, was accessible to nobles, educated burghers and to the diverse audience of a public dramatic presentation. Beginning as a tale oflove at the court and for the court, it becomes, in the course of the development of the printed book and the populär drama, a fiction compatible worth the tastes of a mass audience - [...].“31 “ Bourdieu (1976), S. 164f. 29 s.u. S. 33f. 30 s.u. S. 229f. 31 Mac Donald (1990), S. 214.
Mac Donald definiert den Grund der anhaltenden und sich dennoch wandelnden Rezeption des Tristanstoffes dadurch, dass sich verschiedene Gruppen tendenziell mit dem Stoff identifizieren können, weil sie sich aus unterschiedlicher Warte auf ein ge meinsames Moment beziehen. Auch wenn der Autor die latente Frauenfeindlichkeit des Stoffes nicht wiederum in eine lange Tradition (gedacht ist z.B. an die Haltung der Kirche in jener Zeit) stellt, sondern als singuläre Erscheinung konstatiert, wird deut lich, dass sich über diesen Punkt verschiedene Gruppen gleichermaßen abgrenzen resp. identifizieren können.32Adligen entsprechend, (männliche ?) Bürger belehrend und für ein großes Publikum für eine dramatische Inszenierung geeignet wird der Stoff wei ter getragen und rezipiert. Mac Donald erkennt die sozialen Bezüge, durch die solche Rezeptionsstränge, die ebenfalls zu den Traditionslinien der verschiedenen Gruppen gehören und die Ausdruck in ihrem Rezeptionsverhalten finden, bedingt werden. Etwa zur gleichen Zeit stellen Klein und Hages Aspekte der Rezeption entspre chend dar. Sie weisen Verlagerungen der mittelalterlichen Überlieferungsgeschichte an sprachlichen und formalen Gegebenheiten der Textzeugen nach, die ihren Grund in den politischen Veränderungen nach 1268 haben und mit ihnen einherzugehen scheinen. Thomas Klein interessierte sich für die Fortschreibung von der MinnesangTradition und der Sangspruchdichtung, die sich in der Überlieferung von Texten Walthers von der Vogelweide, Neidharts und Frauenlobs niederschlagen.33 In die sem Kontext konstatiert der Autor anhand der heutigen, handschriftlich greifba ren Bestände für die Überlieferung Walthers von der Vogelweide einen Ausfall derjenigen Regionen,34 in denen der Sänger vor allem gewirkt haben dürfte und kann ein Fortschreiben seiner Liedertext in Regionen nachweisen, die nach dem Zusammenbruch der staufischen Hausmacht an politischem Gewicht gewonnen hatten. Für diesen überlieferungsgeschichtlichen Aspekt macht Klein eine einge hende sprachliche Analyse der handschriftlichen Zeugen produktiv und baut darauf seine Argumentation auf. Entscheidend für den hier diskutierten Zusammenhang ist vor allem die Tatsache, dass Klein als Begründung der von ihm nachgewiese nen Überlieferungstraditionen soziale und politische Gegebenheiten heranzieht 32 Das Verhältnis von Tradition und Identität wird von Ingmar van Tenne apodiktisch mit geo graphischen Räumen verbunden, aber ihm gelingt es auf der Grundlage seines sprachhistorischen Materials nicht, diesen Zusammenhang glaubhaft zu machen. Der Konnex zwischen Tradition und Identität ist durchaus gegeben, jedoch ist seine Anbindung an geographische Räume nicht in dieser Weise festzuschreiben, denn bereits die europaweiten christlichen, lateinischen wie volks sprachlichen Traditionen (z.B. Gebetstraditionen des „Ave Maria“, der „praefatio“ des Johannes, die Osterfeiern und anderes mehr) zeigen, dass die Bindung zwischen Tradition und geographischem Raum nur bedingt gilt. Van Tenne (2005). 33 Klein (1987). 34 Gerade die handschriftliche Überlieferung zum Zeugen einer Entwicklung zu machen, ist mit Problemen behaftet. Wie auch in der Mark Brandenburg ist die Überlieferung arbiträr und die unbekannten, zerstörten Handschriften, die seiner Zeit existiert haben können, könnten mög licher Weise das Ergebnis von Klein revidieren. So wenig wie seine Argumentation damit zu ent kräften und zu erschüttern ist, bleibt dieser Zweifel an der Aussagekraft der Überlieferung dennoch bestehen.
und dienstbar macht. Das zeigt, dass die Vorstellung vom Zusammenwirken so zialer und kultureller Bedingungen auch und gerade bei der Bestimmung von Überlieferungstraditionen allgemein anzuerkennen ist. Ganz ähnlich argumentiert Elisabeth Klein in ihrer Darstellung zu Wizlaw von Rügen. Sie geht von einer formalen und musikalisch-metrischen Analyse aus, stellt aber ihre Ergebnisse in Bezug auf das Lied „Snel hei ghel. Scrygh ich dinen namen“35 ebenfalls in einen politisch-sozialen Kontext. Im Rahmen einer detaillierten Analyse der einzelnen Strophen weist sie wieder holt auf Korrespondenzen zwischen Konrad von Würzburg und Wizlaw hin36 und später geht sie auf Gemeinsamkeiten mit dem Wilden Alexander ein. Alexander wird dabei im Zusammenhang mit der Partei des antistaufischen Gegenkönigs Wilhelm von Holland (1247-1256) gesehen. Dagegen ordnet sie Konrad von Würzburg mit aller historischer Vorsicht einem „Hof der Staufer“ „oder doch in [dessen] engerem Umkreis“ zu.37Konrad v. Würzburg erscheint damit als „Exponent eines betont positiven und weltfreudigen Minnesangs“. Dieser Position Konrads scheint sich Wizlaw gegen den Wilden Alexander anzuschließen. Insofern würde Wizlaw einer Tradition folgen, die sich zurückbesinnt auf das staufische Hofleben, das aber zugleich durch die politischen Gegebenheiten keine Basis mehr hatte, sich fortzuentwickeln. Der Grund dürfte darin gesehen werden, dass in den folgenden Jahren insbesondere nach dem Sieg der Habsburger mit Rudolf I. (1218 [1273] - 1291) kaum Auftraggeber für den höfischen Minnesang in den böhmischen und bairisch österreichischen Regionen existiert haben dürften. Gerade diesen letzten Punkt hatte bereits McFarland einige Jahre zuvor im Zusammenhang mit Ulrich von dem Türlin herausgestellt.38Ohne dies hier weiterverfolgen zu können, sei darauf verwiesen, dass alle genannten Studien auf den Kontext zwischen kulturellen Traditionen und politi schem Handeln rekurrieren.39Das unterstreicht die für die vorliegende Studie maß 35 Seagrave (1967), S. 136ff - Lied IX. 36 Hages (1996), bes. S. 168ff. 37 Hages (1996), S. 171. 38 McFarland (1987), S. 57-63. 39 Ganz von einer historischen Standessoziologie ausgehend argumentiert Behr (1990/91). Zwar stellte Behr fest, der Hochadel in den durch die neukolonisierten nordosteuropäischen Bereiche habe sich zügig der von Frankreich über Deutschland vermittelten Ritterkultur anschlie ßen wollen und leistete unter Verzicht auf die gewachsenen Strukturen in den eigenen Regionen diesen Transfer auch, aber hätte dadurch eine zu schwache kulturelle Kraft entwickelt. (S. 92) Die Landesherren bewiesen „ihre Lernfähigkeit durch kulturelle Kompetenz“, kämen jedoch über ein Kopieren der vorgegebenen Formen nicht hinaus. Diese Darstellung zeigt, dass die Konzentration auf die Standesordnung nicht ausreicht, literarische Traditionslinien stimmig zu erläutern. Zudem dem Autor entgangen ist, dass zumindest Schlesien und Böhmen bereits seit dem 10. Jahrhundert zu dem christlich-ritterlichen Europa zu rechnen ist, und daher kein kulturelles Defizit in dieser Hinsicht aufzuholen gehabt hätten. Schon die mittelalterliche Dietrichliteratur zeichnet die pol nischen und böhmischen Ritter als gleichrangige Partner. Dazu ist vom Verfasser eine Studie zum Bild Polens in der hochmittelalterlichen Literatur in Vorbereitung. Zu Schlesien und Nordmähren vgl. Gos, Vladimir: Die kulturellen Beziehungen zwischen Nordmähren und Schlesien im frühen Mittelalter. In: Kunicki, W. und Monika Witt (Hrsg.): Neisse - Kulturalität und Regionalität. Nysa: 2004, S. 79-81.
gebliche Basis, nach der die soziale Konnotation von kulturellen Traditionen außer Frage zu stehen scheint. In der literarischen Kleinform der Facetien konnte Bachorski anhand der sog. „toten Witze“ durch den kommunikativen Kontrast zur Gegenwart wichtige Aspekte über das Funktionieren und die Bedeutung dieser Textgattung erläutern.40 Neben der ausschließlich mündlich funktionierenden Performativität der Witze, die nur sekundär schriftsprachlich überliefert sind, stellt Bachorski insbesondere die sozi ale Funktion und gruppenspezifische Bedeutung dieser Facetien heraus, die für eine Gruppe gebildeter, wirtschaftlich gesicherter und in einem latenten Konkurrenzkampf stehender Patrizier galten. Gerade weil diese Texte ausschließlich für den mündlichen Gebrauch geschaffen waren, konnten sie ihre sozialordnende Funktion voll ausbil den. Denn sie produzierten „im Gespräch zugleich Distanz“ und stellten dabei doch Gemeinschaft her. Man lachte miteinander - grenzte gemeinschaftlich andere aus -, doch war der jeweilige Erzähler für Momente der Gruppenführer - der wechselnde Erzähler grenzte sich als potentieller Gruppenführer von den anderen Mitgliedern zugleich ab. Aber nur mitlachen konnte, wer in die Gruppe gehörte - sozial markiert war. Bachorski folgert daraus, dass „alle Akteure [dieser Inszenierung von Facetien] zugleich auch Zuschauer sind, dass alle auf der Bühne stehen und sich gegenseitig beim Sprechen und Hören beobachteten, ein gesondertes Auditorium [gibt] es dage gen nicht.“41 Die Gemeinschaft der Lachenden setzt somit als Gruppe die Tradition der Facetien für ihre interne Stabilisierung ein. „Witze kreieren Informalität, bestäti gen Zusammengehörigkeit.“42 Für den hier diskutierten Zusammenhang wird deut lich, dass Bachorski gerade jene soziale Determination von Literatur erkannt hatte und im Kontext der Performansforschung auszuarbeiten gedachte. Die entscheidende Erkenntnis aus seiner Darstellung für den hier diskutierten Zusammenhang aber ist, dass eben durch die soziale Determination auch literarische und kulturelle Traditionen wegbrechen können, wenn sich die jeweilige Gruppe, die sich durch diese Tradition definierte, aufgrund von Veränderungen sozialer Verhältnisse wandelt oder vergeht. Ist der soziale Kontext aufgelöst, erscheinen die Facetien nur mehr als tote Witze. Dies gilt nicht nur für die literarische Kleinform des Witzes, sondern muss in gleichem Maße auch für andere literarische und kulturelle Formen gelten. Insofern literarische Formen als Teil kultureller Traditionen anzusehen sind, steht ihre soziale Determination außer Frage. Dabei reflektiert der literarische Wandel soziale Entwicklungen. Traditionen bedienen sich kultureller und literarische Stoffe, Motive, Gattungen, Formen etc., denn sie haben vornehmlich soziale Funktionen, die sich jedoch kulturell „verkleiden“. Damit verändern sich literarische und kulturelle Phänomene im Prozess ihrer Tradierung. Dies soll in der nachfolgenden Studie mit Blick auf eine bestimmte Region näher untersucht werden. Ergebnisse der Forschung zur Performativität machen es möglich und notwen dig, die bisher dargelegten Strukturen zur Traditionsbildung und -fortschreibung im 40 Bachorski (2001). 41 Bachorski (2001), S. 331. 42 Bachorski (2001), S. 332.
Zusammenhang mit den Strukturmustern von Ritualen zu betrachten. Dabei wird abschließend deutlich, dass Rituale und Traditionen wegen einiger struktureller Ähnlichkeiten in ihrer Bedeutung und Funktion voneinander abgegrenzt werden müs sen. Nach Wulf/Zirfas43 lassen sich Rituale in ihrer sozialen Dimension durch sechs Funktionsmerkmale bestimmen.44Die Wiederholbarkeit und Homogenität (1 und 2) sichert den am Ritual Beteiligten (Individuum und Gruppe(-n)) das für die jeweili ge Gruppe verbindliche Handlungsmuster und seinen Fortbestand, mit dem sich die Gruppe im Vollzug markiert. Die im 13. Jahrhundert zunehmende Verschriftlichung von Texten bot eine Möglichkeit, Vorgänge durch diese Festschreibung wiederholbar zu machen. Wie gezeigt werden wird, sind die Directorien der lateinischen Osterfeiern Beispiele für diese Funktion der Verschriftlichung, die gleichbleibende Wiederholung der notierten liturgischen Handlungen, wie z.B. Gesten oder Handlungsabläufe, er möglicht. Die Markierung für Gruppen hat nur Sinn, wenn die Gruppe den Vollzug des gemeinsamen Rituals in der Öffentlichkeit (3) durchführt. Nur im Vollzug eines Rituals in der Öffentlichkeit wird die soziale Markierung für die Gruppe realisiert. Dieser öffentliche Vollzug hebt die Gruppe aus dem Gesamtgefüge der Gemeinschaft heraus und grenzt alle unbeteiligten Zuschauer davon aus. Dies erinnert von der Struktur her an die Ergebnisse von Bachorski. Ein Ritual hat im Vollzug zugleich Binnenwirkung in die Gruppe, die durch die Durchführung des Rituals markiert wird. Diese Wirkung in die Gruppe hinein gestaltet die Funktion, durch die die Gruppe sich selbst als sozial abgeschlossener Verband wahrnimmt. Sie grenzt sich mit der zum Ritual gehörenden Liminalität (4) von anderen ab. Erneut wird greifbar, dass Aus- und Abgrenzung zwei Funktionen von Ritualen und Traditionen sind, die immer zusammen auftreten und sich gegen seitig bedingen. Ein weiteres Merkmal wird greifbar in der Operationalität (5) von Ritualen. Operationalität kann ein Moment von Ritualen bezeichnen, nach der Teile des Rituals im Vollzug Veränderungen unterliegen und sich wandeln können, ohne dass das Ritual aufhört Ritual zu sein und ohne dass es sich auflöst. Hinzu kommt als sechstes Merkmal die Möglichkeit, dass sich einzelne Elemente des Rituals oder auch das ganze Ritual symbolisch aufladen. Diese symbolische Verankerung des Rituals stellt spürbar und mental nachvollziehbare Verbindungen zu anderen Teilen der gemeinsamen Lebenswelt her. Dennoch bleibt die Zuweisung zur Bedeutung arbiträr. Die beschriebenen Elemente verfugen über zwei wesentliche Voraussetzungen und sie müssen als Elemente von Ritualen in ihrer Funktion und Bedeutung von der Wirkungsweise von Traditionen abgegrenzt werden. Die als soziale Markierung bezeichnete Durchführung von Ritualen setzt vor aus, dass die Teilnehmer, als auch die ausgegrenzten Unbeteiligten über differenzier te Wahrnehmungsmuster und ein erinnerbares Repertoire solcher Möglichkeiten 43 Wulf/ Zirfas (2001). 44 Die von Warning (1974) und Petersen (2004) vorgenommenen Bestimmungen zum Ritual gehen nicht so weit wie die von Wulf und Zirfas.
verfugen. Die Menschen jener Zeit müssen also die Wahrnehmung des Eigenen durch Ausgrenzung des Anderen anwenden können. Aber sie bedürfen dazu nicht nur einer differenzierten Wahrnehmung, sondern müssen notwendiger Weise auch bereits ein Bewusstsein von Differenz im Alltag besessen haben. Wichtig erscheint die Abgrenzung des Rituals von der Funktion und Bedeutung von Traditionen. Sicher ist, dass die sechs aufgezählten Merkmale für das Ritual nach Wulf und Zirfas auch für die Traditionsbildung und -fortschreibung gelten. Dennoch beziehen sich beide Begriffe auf unterschiedliche Ebenen des sozialen Lebens. Während sich Rituale als Handlungsmuster innerhalb von Gruppen ausbilden, verhel fen Traditionen dazu, Gruppen zu bilden. Das Ritual geht also bereits vom Bestehen von Gruppen aus, während Traditionen gesellschaftsgliedernde, wahrnehmungssteu ernde und verhaltensbestimmende Handlungsmuster darstellen. Traditionen bauen sich durch eine Reihe von Ritualen auf, wie sich umgekehrt Rituale aus Traditionen herausbilden können. Traditionen übernehmen zunächst die Funktion, Orientierung in einer Gesellschaft zu geben. Innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen bilden sich einzel ne Gruppen heraus, deren Funktionen innerhalb des Gemeinwesens durch die sie markierenden Traditionen und Rituale festgelegt werden. Die zur Ausbildung von Traditionen und Ritualen herangezogenen notwendigen Elemente werden dabei nahezu arbiträr ausgesucht und durch den Gebrauch in ihrer Funktion zugeord net. Insofern sind von formaler Seite die Elemente und Entwicklungsprozesse einer Tradition kaum steuerbar, wohl aber ihre inhaltlichen und gestalterischen Aspekte. Sind diese dann erst als Teil eines gruppenmarkierenden Handlungsmusters festgelegt, bedarf es der Erkenntnis und des Differenzbewusstseins, sie als soziale Markierung wahrzunehmen. Erst damit treten Traditionen in ihrer gesellschaftsgliedernden Dynamik auf. In der sozialhistorischen Entwicklung übernehmen die Traditionen aber auch zunehmend wahrnehmungsstrukturierende Aufgaben, denn sie wachen über die Einhaltung sozialer Gruppenordnungen und damit über die Ordnung in dem Gemeinwesen generell. Insofern zielt eine auf Tradition beruhende Erziehung auf das Installieren von Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster folgender Generationen.
2. K a p i t e l
Beobachtungen zur Struktur und Dynamik der mittelalterlichen Gesellschaft in der Mark Brandenburg des 13. bis 15. Jahrhunderts Die Bindung von kulturellen und literarischen Traditionen an soziale Gruppen, die im Vollzug der Traditionen ritualisierte Inszenierungen schaffen, Kulturphänomene (z.B. Texte) (re-)produzieren und damit die eigene Gruppe markieren, sowie die Traditionen fortschreiben, ist an einigen kurzen Beispielen thesenartig skizziert worden. Im Verlauf der Arbeit werden die genannten Aspekte geprüft. Wenn für die Funktion und Wirkungsweise von Traditionen eine derartige sozial markierende Dimension angenommen wird, muss die Prämisse untersucht werden, nach der die Gesellschaft, in der sich Traditionen ausbildeten, ausdifferenziert ist und sich in die ser Differenzierung auch wahrnimmt.1Die einzelnen sozialen Gruppen suchen sich innerhalb der Gesellschaft zu orientieren2und nutzten dafür kulturelle und/oder lite rarische Markierungen. Durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Traditionen kenn zeichnet sich der Einzelne als Mitglieder einer spezifischen Gruppe, er grenzt sich da mit von anderen Bewohnern seines Ortes ab. Durch die Verwendung verschiedener Traditionen grenzen sich die Gruppen zugleich voneinander aus. Für die Mark Brandenburg ist bereits ab der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts mit einer differenzierten Gruppenbildung zu rechnen, dies muss jedoch verifiziert wer den. Faktisch ergibt sie sich in dieser Region durch die Kolonisierungsgeschichte. Einerseits wird für die Neusiedler die Unterscheidung existiert haben zwischen den heidnischen Einwohnern und den zugezogenen Bevölkerungsgruppen, also die gro be Unterscheidung zwischen Christen und Nicht-Christen.3Andererseits dürfte sich die Gruppe der Neusiedler ebenfalls nicht als homogen verstanden haben, denn zwischen den verschiedenen Gruppen bestanden aufgrund der regionalen Herkunft Unterschiede in ihren Sprachen resp. Dialekten, aber auch in ihren kulturellen Traditionen. Hinzu kommt, dass auch vom sozialen Status unterschiedliche Gruppen angesiedelt worden sind. Es finden sich in der Gruppe christlicher Siedler Kleinadlige, die als regionale Lokatoren tätig wurden,4 städtische Neusiedler, die versuchten, durch die Kontakte in die Herkunftsregionen Handelsverbindungen aufzubauen, 1Die sich daran anschließende erkenntnistheoretische Dimension wird in dieser Arbeit nicht berücksichtigt. 2 Zur Orientierungsfunktion von Traditionen, s. Oevermann (2005), S. 16f. 3 Riedel, CDB A X, S. 75 Nr. 9 (aus dem Jahr 1173). 4 Bartlett (1998), S. 229f, 268f, 271 u.ö.
und Landbevölkerung, die durch Bedevergünstigungen hofften unter veränderten Bedingungen eigene Landwirtschaften aufzubauen. Die Motivation von Neusiedlern, sich in der Region der Mark Brandenburg niederzulassen, war neben den Einkommensresp. Steuervergünstigungen bedingt durch die bedrängende Situation in den jeweili gen Herkunftsgebieten und könnte auf einen Gewinn von sozialem Kapital zielen, der mit dem Entschluss verbunden war, als Neusiedler aufzubrechen. Besonders für die bäuerlichen Neusiedler muss gegolten haben, dass sie sich durch die Urbarmachung von Ackerland die eigene Freiheit schaffen konnten.5 Wie in der Einleitung bereits dargestellt, wurden als Instrumente bei der Kolonisierung der „Nordmark“ im 12. und 13. Jahrhundert Strukturmodelle aus den Herkunftsregionen in die neuen Siedlungsräumen übertragen. Die überregional operierenden, geistlichen Orden und die städtischen Strukturen sind als entsprechende soziale Phänomene zu bezeichnen.6 Das bedeutet zugleich, dass mit diesen Strukturen auch Rechtsvorstellungen und Rechtsbräuche unterschiedlicher Provenienz und Ausprägung aufeinander trafen. Die mitgebrachten, unterschiedlichen Vorstellungen, Rechtsbräuche und kulturellen Traditionen müssen also zunächst als Markierungen der einzelnen Gruppen verstan den worden sein und als Identifikationsmuster auch nebeneinander bestanden haben, ehe sich durch einen längeren Vermischungsprozess aus diesen verschiedenartigen Mustern an- und ausgeglichene, gesellschaftlich gleichmäßig entwickelte und aner kannte Strukturen gebildet hatten. Man kann davon ausgehen, dass sich die Menschen der damaligen Zeit dieser gesellschaftlich schwierigen Situation wohl bewusst waren. Das wird ersichtlich, wenn man erkennt, dass bei Dorfgründungen oder neuen Siedlungskernen nicht auf wendischen Siedlungsstrukturen aufgesetzt wurde. Dieses Vorgehen, das die Voraussetzungen für eine vermeintliche Durchmischung der Bevölkerungsgruppen hätte schaffen sollen, hätte dagegen wahrscheinlich Spannungen zwischen den Einwohnern und Neusiedlern geschürt oder vergrößert. Statt dessen schuf man Parallelgründungen, wie sie sich in weiten Landstrichen der Region nachweisen las sen. Neben bestehenden wendischen wurden christliche Siedlungen erbaut, die z.T. mit dem Hinweis auf „Deutsch - ...“ einen Kontrast bildeten gegenüber den noch existierenden wendischen Siedlungen.7Dass diese Teilung der Gesellschaft durchaus Sinn machte, zeigt die Tatsache, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen nach unterschiedlichen Steuersätzen berechnet wurden. Bartlett konnte nachweisen, dass diese unterschiedlichen Steuersätze sich nicht auf abstrakte Berechnungsgrundlagen bezogen, sondern sich ihrerseits an den materiellen Bedingungen der landwirt schaftlichen Methoden und den damit verbundenen Pfluggeräten orientierten (die wahrscheinlich unterschiedliche Erträge erbrachten) und entsprechend die Beden unterschiedlich angesetzt wurden. Kulturelle Unterschiede im Agrarbereich wurden 5 Bartlett (1998), S. 226f. 6 Bartlett (1998), S. 585. 7 Um nur drei Beispiele für diese Form der Parallelsiedlungen aus der Region zu nennen: Börgitz an der Uchte/Wendisch-Börgitz; Deutsch-Bork bei Treuenbrietzen/Alt- Bork; Deutsch Wusterhausen bei Königswusterhausen (ursprünglich Wendisch-Wusterhausen).
damit zu gesellschaftlichen Markierungen und analog behandelt.8 Die Berechnung der Abgabe differierte zwischen christlichen und wendischen Bauern um etwa 50%. Diese Differenzierung ist nach Bartlett in Urkunden aus dem nordosteuropäischen Raum bis weit ins 14. Jahrhundert greifbar.9 Im altmärkischen Gebiet links der Elbe wird für die Klosterdörfer Diesdorfs erst Mitte des 13. Jahrhunderts begonnen, durch Kirchenbauten eine massive Christianisierung zu vollziehen.10 Ein vergleichbarer Prozess dürfte zeitversetzt in den rechtselbischen Gebieten der Mark angenommen werden.11 Noch Ende des 14. Jahrhunderts werden Wenden im Rahmen einer Besitzübereignung explizit genannt.12 Auch das Wicbelde nennt Wenden mehrfach dezidiert.13 Wenden müssen in der Mark Brandenburg also bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts als Minderheit angenommen werden, ohne dass sich ihr Rechtsstatus nennenswert verändert hätte.14Wahrscheinlich ist, dass erst durch die gewalttätigen Umwälzungen während des 30-jährigen Krieges die Spuren völlig verwischt wurden. Dass das Rechtsdenken sich in der beschriebenen Weise gegenüber Menschen wendischer Abstammung erhalten hat, wird an einem Brieffragment aus dem Jahr 1446 deutlich. Das Schreiben hat sich als Makulatur auf dem Innendeckel eines Kodex15er halten. Der Brief ist vom Bürgermeister, den Mitgliedern des Rates der Stadt Rostock und Mitgliedern der dortigen Goldschmiedezunft an die Mönche des FranziskanerOrdens zu Brandenburg gerichtet. Es handelt sich um ein Empfehlungsschreiben für mehrere reisende Zunftmitglieder. Namentlich erwähnt werden ein gewisser Hans Spanneholle und Hermann Wyntesper, denen bescheinigt wird, dass sie ehrbare Menschen und christlicher Abstammung seien. In diesem Zusammenhang wird von einem unter ihnen die von ihm in Rostock bekleidete Position in der Zunft erwähnt, wozu in dem Brief ausgeführt wird: „[...] also dat he echte und rechte gheboren is van vader [...] dudesch und nicht wendesch16anders hedden se ene in ere ampt nicht tolate [...]“ In dieser Formulierung wird nicht nur die Herkunft deutlich hervorgehoben und von einer möglichen wendischen Abstammung abgegrenzt. Entscheidender für die 8 Bartlett (1998), S. 281ff, bes. S. 284f. 9 Bartlett (1998), S. 287. 10 Riedel CDB A XVI, S. 400f, Urkunden Nrn.: 11-13. Die Stadtstatuten von Gardelegen, um 1450 niedergeschrieben, schlossen Händler („hoker“) wendischer Herkunft noch immer aus. Womit für das altmärkische Gebiet entsprechend eine Differenzierung noch Mitte des 15. Jahrhunderts an genommen werden muß. Riedel, CDB A XXV, S. 362, § 158. 11 Von einem regulären „Wenden-Kiez“ in der Brandenburger Altstadt spricht eine Urkunde vom 13. Dez. 1308. Riedel CDB AIX, S. 8. 12 Riedel CDB A XXV, S. 288. 13 s. Textband, Wicbelde Cap. 6; 10; 34. 14 Langner (2006), S. 162f. 15 Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. Quart. 23 (404). s. Textband S. 149. 16 Bezieht sich auf die Rechtsstellung von deutschen (christlichen) und wendischen Dienstleuten, wie sie in Artikel 73 § 2 im III. Buch des Sachsenspiegels ausgefiihrt wurde.
gesellschaftliche Stellung des Genannten ist der Hinweis, dass man ihn in Rostock nicht in sein Amt gewählt hätte, wäre er nicht Christ. So ist aufgrund der explizi ten Unterscheidung der ethnischen Herkunft anzunehmen, dass noch über das 15. Jahrhundert hinaus eine Ausgrenzung von Nichtchristen in der Mark Brandenburg eine Rolle gespielt hat. Wendische Minderheiten müssen demnach in Mecklenburg und Brandenburg noch existiert haben. Diese Beobachtung findet ihre Bestätigung in einem weiteren Dokument vom Beginn des 16. Jahrhunderts, in dem eine vergleichbare Ausgrenzung von Nichtchristen vorgenommen wird. In dem von Riedel abgedruckten Stadtbuch von Frankfurt an der Oder, das Nikolaus Teymler „auf Anweisung des Rates im Jahr 1516“ niederschrieb,17 spricht der Verfasser im Zusammenhang mit der Aufnahme in die Zünfte davon, dass je der aufgenommen würde, sofern er als Voraussetzung einen Bürgerbrief vorweisen könnte. Jedoch scheint sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts dieses Vorgehen bereits gelockert zu haben. Denn Teymler kritisiert das Unterlaufen dieses Verfahren durch die Zunftmeister: „Die vir gewerken, die nemen keynen jn ir gewerk, er hab dan seynen geburtsbrieffs, aber meyne herrn thun, wie unser seligmacher, der nicht ist eyn annemer der personen, bsunder der seien, so nehmen sie uf were körnet sine differencia, er sey wend, elich ader nicht, wird in schwerlich jren kyndern gu ter gewissen adelbrieff zu geben, [...]“ In der Kritik Teymlers an den neueren Entwicklungen der Zunftbräuche wird erkennbar, dass er noch von einer Vorstellung geprägt wurde, nach der die ethni sche Herkunft ein Ausschlussgrund für die Zünfte bedeutete, wie es zuvor in dem Schreiben der Rostocker Bürger ebenfalls anklang. Aus diesen Beobachtungen wird ersichtlich, dass die Ausgrenzung von Menschen slawischer Herkunft noch lange Zeit vorgenommen wurde und entsprechend eine Differenzierung der Gesellschaft in Brandenburg bestanden hat. Die Tatsache, dass man sich bereits im 11. und 12. Jahrhundert von der mündli chen Tradition des Rechts abkehrte und begann, verbindliches Recht zu „verbriefen“ (zu verschriftlichen), könnte als zusätzlicher Hinweis dafür verstanden werden, wie komplex und schwierig die gesellschaftliche und politische Situation vorgestellt wer den muss, dass es ratsam schien, die Rechtsvorstellungen durch die Verschriftlichung zumindest formell auf eine christliche Basis zu stellen, abzustimmen und zu verein heitlichen, auch wenn die kirchlichen Glossatoren später unverhohlene Kritik an den Darstellungen im Sachsenspiegel übten und mit ihren Kommentaren zum Teil die Aussagen in ihr Gegenteil verkehrten. Dabei ist zu bedenken, welche geschichtlichen, gesellschaftlichen, politi schen und kulturellen Veränderungen in den Jahrzehnten vor der Niederschrift des Sachsenspiegels eingetreten sein könnten, die die Verschriftlichung des Rechts not wendig erscheinen ließen. Orientiert man sich an dem geographischen Raum, in dem der sog. „Sachsenspiegel“ Gestalt gewonnen hat, so zeigt sich, dass diese Region eine 17 Riedel CDB A XXIII, S. 380ff, hier bes. S. 396f.
Grenzregion des deutschen Reiches darstellt, von der aus neue Regionen und Gebiete dem Reich erschlossen wurden. Vielfach ist darauf hingewiesen worden, dass die askanischen Fürsten, die nach 1144 und 1147 begannen, schrittweise die Gebiete östlich der Elbe zu kolonisieren, hierfür zunächst Bauern und städtische Handwerker aus dem askanischen Gebiet (südwestlich der heutigen Mark Brandenburg), wenig später auch aus schwäbischem Gebiet und aus westfälisch-niederländisch-flämischen Gebieten anwerben ließen.18Sicherlich erschien es auch den Menschen des Hochmittelalters als ein Aufbruch ins Ungewisse, wenn neue Regionen erschlossen und besiedelt werden sollten. Dass dieser Aufbruch nicht notwendiger Weise freiwillig, sondern unter dem Druck der herrschenden Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsregionen statt fand, ist daran zu erkennen, dass den Neusiedlern in den neuen Gebieten steuerliche Vorteile und Förderungen in Aussicht gestellt wurden. Ebenso enthalten eine Reihe von Dokumenten aus der Siedlungsgeschichte jenseits der Elbe Bestimmungen, die es vorstellbar machen, dass einzelne Siedlungsprojekte auch scheitern konnten und die Rückkehr von Menschen erzwangen.19 Eine weitere Voraussetzung für die Verschriftlichung der Rechtstexte muss darin gesehen werden, dass man den in die neuen Regionen Aufbrechenden eine Rechtssicherheit gewähren wollte. Zugleich musste festgeschrieben werden, dass der Lehnsherr zu jeder Zeit wusste, wer aus der jeweiligen belehnten Familie für die Heerfolge bereit zu stehen hatte. Das macht verständlich, warum das Erbrecht im Sachsenspiegel einen so breiten Raum einnahm. Die Ausführlichkeit galt weni ger der Bestandssicherung, die zwar als Konsequenz entstand, sondern der Klärung von Bedingungen unter denen Heerfolge zu realisieren war. Es war ein notwendi ges militärisches Interesse, das die Ausformulierung und die Konzentration von Rechtsvorschriften in einer Gesellschaft bestimmten, aus der heraus eine groß angelegte Kolonisierung vorgenommen werden sollte und die mit überlagernden Ordnungsvorstellungen, Rechtsgewohnheiten und lokalen Sonderregelungen kon frontiert war. Deshalb waren auch die Regelungen im Erbrecht von Bedeutung, die die Heerfolge nach dem Todesfall in einer belehnten Familie festschrieb. Sehr zügig war zu klären, wer an die Stelle des Verstorbenen rückte, um eine Grundlage zu haben, über das Erbrecht die Verpflichtung der Heerfolge eindeutig zu ordnen. Und „ein deutig“ meint an dieser Stelle, Eindeutigkeit für den Lehnsherren. Damit war auch die Verpflichtung der Siedler geklärt, für die Sicherheit der Region dem Lehnsherren Heerfolge leisten zu müssen. Wie groß das Interesse an dem „Projekt“ der Erweiterung des Reichsgebietes war, zeigt sich auch in der Tatsache, dass Albrecht dem Bären und seinen Gefolgsleuten von Papst Eugen III. der sog. „Wendenkreuzzug“ 1147 als ebenbürtige Absolution an gerechnet wurde und ihnen die Teilnahme an dem zeitgleich stattfindenden Kreuzzug nach Jerusalem erlassen wurde. Man versprach sich aus dem „Wendenkreuzzug“ eine Erhöhung der eigenen Macht und Erweiterung der christlichen Herrschaftsbereiche, die der Rückeroberung Jerusalem gleichgestellt wurde. 18 Zu den sprachlichen Hinweisen dieser Siedlungsgeschichte s.o. S. 8f, Anm. 7 und 8. 19 Vgl. Bartlett (1998), S. 259ff.
Damit wird der von Le Goff formulierten These widersprochen, nach der das christliche Abendland im Hochmittelalter im Gegensatz zum Islam „kei ne neuen Gebiete erobern wollte.“20 Ganz massiv ist ein Expansionswille in den Kolonisierungsbestrebungen der Ottonen und zweihundert Jahre nach dem Slawenaufstand von 968 / 983 bei den Askaniern im 12. Jahrhundert auszumachen. Die im 12. Jahrhundert entwickelten sozialen Instrumente, auf die schon verwiesen wurde, gaben diesen Bemühungen die Grundlage nach militärischen Aktionen zügig eine nachhaltige Struktur in den kolonisierten Gebieten zu entwickeln und zu verfe stigen. Darin ist den Darstellungen von Bartlett zu folgen. Eine Gesellschaft im Wandel muss sich der Normen, auf deren Grundlage sie sich bewegt, um so klarer versichern, je mehr ihre Grundlagen durch die Unruhe der Zeit bedroht wurden. Insofern ist die Verschriftlichung der Rechtsbestimmungen ein Zeichen für den anbrechenden gesellschaftlichen Wandel. Der umfassende Aufbruch im ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhundert scheint eine Verunsicherung der Menschen mit sich zu bringen, die es für sie notwendig erscheinen ließ, sich ge genseitig der geltenden Normen zu versichern. Das geschah u.a. durch die Verbriefung des Rechts. Dass sich der oder die Verfasser des Sachsenspiegels jedoch auf eine zu rückliegende Rechtssituation bezogen, wird dadurch erkennbar, dass die neuen so zialen Gegebenheiten, wie sie sich in den sozialen Strukturen der Stadt fanden, nur unzureichend reflektiert wurden. Die Darstellungen des Sachsenspiegels, im 1. Viertel des 13. Jahrhunderts entstan den, geht weitgehend vom lehnsrechtlichen Denken in dörflichen Siedlungsstrukturen aus. Diese Rechtssituation hatte sich bereits nach wenigen Jahrzehnten grundle gend geändert. Die noch vom Lehnsrecht abgeleiteten Rechtsbestimmungen des Sachsenspiegels entwickelten sich durch seine Glossierungen von seinen ursprüng lichen Aussagen weg21 und seine Fortschreibungen u.a. im Wicbelderecht nehmen in stärkerem Maße auf stadtbürgerliche Belange bezug und ergänzen insofern den Sachsenspiegel. Mit Blick auf verschiedene Gruppen des städtischen Lebens unterscheidet das Wicbelde eine große Zahl sozialer Gruppen. Neben den adligen Vertretern (König (Kap. 13) und dem Burggraf (u.a. Kap. 41) differenziert das Wicbelde sowohl nach den Positionen der Familie (Vater (Kap. 66), Frauen (Kapp. 27 - 29; 63f; 99f) und Kinder (Kapp. 660), als auch nach städtischen Funktionen, beruflichen Gruppen und ethischen Zugehörigkeiten. Zu den Vertretern städtischer Ämter gehören u.a. Schöffen, Schulzen, Ratsherren (Kap. 103), Gerichtskämpfer (Kap. 94). Als Berufsgruppen treten u.a. Höker (u.a. Kap. 51), Knechte (Kap. 84), Fernhändler, Advokaten (Kap. 26; bes. Kap. 49), Boten (Kapp. 12; 15; 32; 40; 53; 89), Spielleute (Kap. 126) auf. Damit wird deutlich, wie sehr bereits das städtische Leben die einzelnen Menschen in Gruppen ausdifferenziert, in dem sie ihnen jeweilige Rechtsbestimmungen und -Stellungen, Handlungsoptionen und Pflichten auferlegte oder entzog. Nur drei Ethnitäten werden in den Rechtsbüchern genannt: Deutsche (hier im Sinne von Christen), Wenden und Juden. 20 Le Goff (2004), S. 115f. 21 Vgl. Langner (2006), S. 150f.
Juden hatten je nach der Gesamtsituation eine wechselnde Position in der Gesellschaft der christlichen Mehrheit. Mehrfach machen sich die Brandenburgischen Kurfürsten für sie stark,22 aber dennoch finden sich in den Glossen diffamieren de Rechtsbestimmungen, die die Handlungsmöglichkeit jüdischer Händler und Bewohner sehr beschränkten und ihre Rechtsstellung problematisch erscheinen ließ. Dagegen sind die Wenden ohne jede Rechtsfähigkeit. Sie galten als Teil des Eigentums von christlichen Bewohnern. Immerhin entwickelte sich für sie im Laufe des 13. Jahrhunderts das Recht, sich in den kleinen Städten aufhalten zu dürfen und zu wohnen. Der sog. „Wendenkiez“, ein Siedlungsbereich innerhalb der städtischen Befestigungen wie z.B. in Brandenburg/Havel, kann als Beispiel dienen. Erkennbar wird, dass die Menschen in der mittelalterlichen Gesellschaft ihre Lebensräume genau ordneten. Kleiderordnungen sprechen dafür eine deutliche Sprache, die Gliederung städtischer Lebensräume, abzulesen an der Lokalisierung von Gewerken in der gleichen Gasse (Bäckergasse, Töpfergrube etc.) können dafür als Belege herangezogen werden. So dürfte es auch in der Mark Brandenburg ge schehen sein. Die Ansiedlung „gefährlicher“ Gewerke (Blaufärber am Stadtrand) lassen erkennen, dass man sich der Problematik des Zusammenlebens bewusst war. Aus der Kumulation von Mitgliedern der gleichen Zunft in einer Gasse ergab sich die gesellschaftlich-traditionellen Einbindungen des Einzelnen in die Gewerke un problematisch (z.B. die Einhaltung von Vorschriften von Hochzeitsordnungen etc.). Kontrollfunktionen der Zunftmeister ließen sich in dieser räumlichen Enge und Nähe konsequent auf- und ausbauen. „Unbotmäßige“ Kontakte zwischen Mitgliedern ver schiedener Bevölkerungsgruppen konnten schnell unterbunden werden, damit bilde te sich die gesellschaftliche Differenzierung auch konsequent in den Alltagskontakten und Lebensbereichen ab. Manifest werden diese Strukturen bei der Anwendung von Rechtsinstrumenten. Wie an anderer Stelle gezeigt werden konnte, hatte die Rechtsfähigkeit des ein zelnen Menschen Konsequenzen für die Zulassung vor dem Gericht resp. bei der Anwendung des sog. „entschuldenden Eides“. Diese Form des Eides sollte es einem Angeklagten bei ungerechtfertigten Vorwürfen möglich machen, sich durch einen Schwur auf einer Reliquie sowie vor Gott und den Menschen von diesem Vorwurf freizusprechen. Der Eid wurde auf einer Reliquie geschworen und wurde in aller Öffentlichkeit vor dem Gericht vom Angeklagten abgelegt. Für Personengruppen, die nicht dem christlichen Glauben angehörten und für die damit die moralisch-verbindliche Kraft der Reliquien nicht galt, musste man eine abweichende Verfahrensweise schaffen. Die einzige Gruppe, der diese Möglichkeit eingeräumt wurde, einen modifizierten Eid abzulegen, waren jüdische Siedler. Wendische Siedler waren dagegen ausgeschlossen, einerseits weil sie als Ungläubige galten und andererseits weil sie als Eigenleute der Gerichtsbarkeit ihres Dienstherren unterstanden. Das zeigt bereits, dass die Menschen im Mittelalter bestimmte Gruppen ausgrenzten. Um aber als jüdischer Siedler einen 22 Vgl. für Stendal Riedel CDB A XXV, S. 44f (für das Jahr 1297) und S. 441 (für das Jahr 1490); für die Neumark beispielsweise: Riedel CDB A XXIV, S. 32f, 35,50,68.
entschuldenden Eid ablegen zu können, entstanden Textformeln des entschuldenden Eides, die der jeweilige Angeklagte auf der Thora schwören musste. Zugleich wurden diese Eide jedoch ab Mitte des 13. Jahrhunderts mit diffamierenden Inszenierungen umgeben - wie z.B. dem barfüßig Stehen auf einer Schweinehaut, von einem Tier, das nach jüdischer Überlieferung als unrein galt. Die zunehmende Brutalität der in den Judeneiden vorgeschriebenen Schwurrituale ist zudem ein Hinweis auf die stärker werdende Abschottung der christlichen Gemeinschaft und die zunehmende Ausgrenzung jüdischer Siedler aus dem städtischen Leben. Sicherlich dienten die Eide nicht zur Abschreckung.23 Der Einzelne hatte kaum eine andere Chance, als den Eid abzulegen, wenn er nicht ein ungerechtfertigtes Verfahren mit ungewissem Ausgang überstehen wollte. Schon die Tatsache, dass Menschen jüdischen Glaubens zu einem Eid gezwungen wurde, den sie nach ihren Glaubensgrundsätzen nicht able gen durften, zeigt, wie wenig man sich von seiten der christlichen Majorität über diese Verfahrensweisen und ihre Konsequenzen bewusst war. Noch deutlicher wird aber die Aufsplitterung der mittelalterlichen Gesellschaft, wenn man bedenkt, dass die Gruppe der „Rechtlosen“ - obwohl dem christlichen Glauben angehörend - dennoch vom entschuldenden Eid ausgeschlossen war. Die sog. Stendaler Glosse zum Sachsenspiegel trifft diese Unterteilung deutlich. In einer Ausschlussklausel werden Straftäter nicht zu dieser Art des Eides zugelassen, ebenso bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. der Gerichtskämpfer und seine Kinder, aber auch Spielleute und Fahrende.24 Ohne die Konsequenzen aus diesen Rechtsbräuchen abschließend darzustellen und zu analysieren, ist aus dem Gesagten eindeutig zu erkennen, dass die mittelal terliche Gesellschaft nicht nur ausdifferenziert war, sondern sich auch in diesen un terschiedlichen Gruppen wahrnahm. Damit ist die entscheidende Prämisse für die nachstehenden Argumentation geprüft worden, nach der die damalige Gesellschaft differenziert war. So kann angenommen werden, dass sich die einzeln segmentier ten Gruppen kulturelle Bräuche als soziale Markierungen zulegten. Mitgliedern der verschiedenen Gruppen wurden unterschiedliche Handlungsspielräume zugeordnet, in denen sie innerhalb der Gesellschaft agieren durften und konnten. Unterstrichen wurde diese Zuordnung in die einzelnen Gruppen, wie bereits vermerkt, durch Kleiderordnungen, durch Zuweisungen von Lebensräumen im städtischen Bereich, die Zulässigkeit zu einzelnen Zünften oder auch Bruderschaften etc. Aber die soziale Markierung bedarf auch der Handlungsstrukturen, die sich in Bräuchen und Ritualen sowie in der Art der sprachlichen, resp. schriftsprachlichen Formen ausdrückt. Diese Formen der sozialen Markierungen im literarischen und kulturellen Raum werden 23 Ich folge damit nicht der von Müller zusammengefassten Ansicht der Forschung, nach der diese diffamierenden Elemente des Judeneides dazu gedient hätten, abzuschrecken, so dass sich Juden nicht dazu bereit erklärt hätten, diesen Eid zu schwören. Es stellt sich die Frage, wovor sie abschrecken sollten. Da davon auszugehen ist, dass ein Gerichtsverfahren nicht in angemessener Form geführt worden wäre, blieb einem unschuldig Verklagten nur die Chance sich der Tortur eines Judeneides zu unterziehen, um Schlimmeres zu verhindern oder um zumindest einen zeitlichen Aufschub zu gewinnen. Vgl. hierzu Müller (1991), S. 58. 24 Kaufmann (2002), S. 1394ff.
als Traditionen bezeichnet. Damit wird aber verständlich, dass Traditionen nur ein gebettet in sozialen Strukturen und Entwicklungen in ihrer jeweiligen Funktion und Bedeutung erkannt werden können. Diesem Wechselspiel von sozialen, kulturellen und schriftlichen Merkmalen nachzugehen und die Prozesse der Markierung sowie der Traditionsbildung in Analysen von Texten nachvollziehbar zu machen, ist die Aufgabe der nachfolgenden Studie.
3. K a p i t e l
Übergänge zur Bestimmung kulturwissenschaftlicher Faktoren des Traditionsbegriffes Nach dem als Voraussetzungen von Traditionsbildung eine ausdifferenzierte Gesellschaft erkannt wurde, muss zunächst untersucht werden, welche Wirkungsebene bei der Traditionsbildung und -fortschreibung greifbar werden. Dabei spielt für die Traditionsbildung im literarischen Feld die Korrelation zwischen Textgestalt und Gattungsmerkmalen eine entscheidende Rolle. Mit diesem Wechselverhältnis tritt die Gattungsspezifik und die jeweilige Gebrauchsfunktion eines Textes hervor. Dabei wird deutlich werden, dass es gerade die Gebrauchsfunktion eines Textes ist, die ihn für eine Tradition disponiert. Der Einfluss der Gebrauchsfunktion wird darüber hinaus ersichtlich, wenn an den zu untersuchenden Exzerpten und litur gischen Texten verdeutlicht werden kann, wie durch die Gebrauchsfunktion die Bedeutung des jeweiligen Textes und die Möglichkeiten seiner Sinnentfaltung mit bestimmt wird. Damit wird auch jeweils ein spezifischer Rezeptionsrahmen für den Text und eine Gebrauchsfunktion entwickelt. Während der Text einerseits durch die Gebrauchsfunktion für eine Tradition disponiert wird, wirkt er im Handlungskontext auf die Tradition andererseits stabilisierend zurück. Damit werden Faktoren sichtbar, die in Zusammenhang mit lebensweltlichen Aspekten stehen und die unabhängig vom Text wirksam sind, aber dennoch die Traditionsbildung prägen. So wird erkenn bar, dass zwischen dem einzelnen Text, seiner Gebrauchsfunktion und außertextli chen Faktoren eine Korrelation besteht, die für Traditionen von Belang ist. 3.1. Predigtfragment über das Jüngste Gericht
Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 2° 157 (518) Pap. 2° 380 Bll. XV. Jh. (1416/1420) meist 2. Sp. In die Innendeckel geklebt ehemals Franziskaner-Kloster in Brandenburg Bei dem Fragment handelt es sich um zwei in die beiden Innendeckel des Kodex Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 2° 157 (518) geklebte Papierseiten in Folioformat, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine gemeinsame Handschrift zurückgehen. Die Schrift und die Art der Argumentation zeigen Ähnlichkeiten. Dieser Text ist in dem Katalog von Rose als „geistliches Spiel“ vermerkt.1Möglicher Weise ist Rose zu 1Rose (1901), S. 394.
dieser Beurteilung gekommen, da ein Zitat aus dem Buch Hiob am Rande mit einem Hinweis bezeichnet ist. An der Stelle heißt es: „do nu spricht iob“. Der Kodex, die dessen Innendeckel die Textfragmente geklebt waren, stammt aus dem Franziskaner-Kloster in Brandenburg und enthält Traktate und Predigten von Nicolaus von Gorra, Marquardus de Lindovia (Lindau) und Bartholomäus Pisanus und thematisieren u.a. das 3. Buch Moses, eine Exegese der Apostelbriefe und die 12Tugenden. Insgesamt fasst diese Sammelhandschrift über 30 lateinische Texte zusammen, die für die geistige Auseinandersetzung mit theologischen Themen, für die Vorbereitung von Predigten, als Texte für Lesungen und als Predigttexte gedient haben dürften. Darüber hinaus enthält der Kodex am Ende astronomische Tafeln und Berechnungen für den Zeitraum 1459 bis 1600, die Gowinus Kempgin de Myssia zugeschrieben werden. Ehe ausführlich auf den Text eingegangen werden soll, sind an dieser Stelle einige grundsätzliche Gedanken einzuschalten, die sich aus den sprachlichen Merkmalen des Fragments ableiten lassen. Es fällt auf, dass dieser Text, wie auch die meisten anderen der in dieser Arbeit behandelten Texte, durch eine mittelniederdeutsche Mischsprache charakterisiert ist. In den Texten werden immer wieder Merkmale des ober- und mitteldeutschen Sprachraumes zu finden sein, die jeweils in unterschied lichem Grade mit Merkmalen des Mittelniederdeutschen verbunden sind. Daher sollen zunächst sprachliche Merkmale aus mittelhochdeutschen Gebieten erwähnt werden, ehe die sprachlichen Indizien für den Nordosten des mittelniederdeutschen Sprachraumes aufgezeigt werden. Diese Bestimmung steht im Gegensatz zu Überlegungen von Stellmacher, der in seiner Darstellung zur mittelniederdeutschen Sprache auch Hinweise auf die sprachhistorische Situation Brandenburgs gibt. Nach Stellmacher sind es weniger die sprachlichen Merkmale, die charakteristisch für den Sprachraum zwischen Elbe und Oder sind, sondern Besonderheiten des Wortschatzes.2Bezeichnend sind Belege von Wörtern, die aus dem Mittelniederländischen stammen. Für mittelniederländische Wörter existieren in den hier untersuchten Texten keine Belege. Da es kaum Befunde aus dem Wortschatz anderer Regionen gibt, richtet sich die folgende Untersuchung von dialektalen Merkmalen auf phonetische Gegebenheiten. Exkurs: Zu den sprachlichen Merkmalen des Fragments
Die Darstellung beginnt mit Wörtern, die für den ober- und mitteldeutschen Sprachraum stehen, sie sind jeweils mit Angabe der Zeile des Drucktextes vermerkt. Es sind z.B. „begunden“ (67) oder „sungen“ (75). Auch die einheitliche Schreibung des Wortes „sele“ (9; 19; 21; 27; 45; 47; 53; 57) entspricht der mittelhochdeutschen Form entgegen der für die Region charakteristi sche Schreibweise „siele“3, wie es Seelmann annimmt. Vergeblich sucht man mittelniederdeutsches, anlautendes /t/ bei Wörtern, die im Mittelhochdeutschen mit /z/ geschrieben wurden. Eher mitteldeutschen 2 Stellmacher (2000), S. 30. 3 Seelmann (1920), S. 73ff. Der handschriftliche Befund entspricht Lasch, § 113.
Sprachgewohnheiten folgend schreibt der Texthersteller dieses Fragments statt des /z/ vielfach /cz/, jedoch kein für das Mittelniederdeutsche charakteristische /t/. Als Belege können gelten: „czu“ (26; 40; 42; 43; 82); belegt aber auch in „czusamene“ (37); „czustoren“ (9); „czustorunge“ (25; 34); „czustrowit“ (36). Von den bestimmten Artikeln erinnert nur die Schreibung von „die“ > „dy“ an mit telniederdeutsche Sprachmerkmale; die anderen Artikel werden nach den mittelhoch deutschen Sprachmustern gebildet. Dabei soll bereits auf die phonetische Besonderheit des ly/ hingewiesen werden, auf das später näher eingegangen werden muss. Erhalten hat sich in dem Fragment noch die ältere, ans Mittelhochdeutsche erin nernde Form „lamp“ (64); auch findet sich ein Beleg für „kumpt“ (106), während sich sonst die Form „kumt“ (27; 41; 55) zeigt. Besonders charakteristisch ist die Verwendung der 1. Pers. Singular im Dativ, die nicht den mittelniederdeutschen Sprachgewohnheiten entsprach, wenn der Geistliche „mir“4(82) schreibt. Vergebens sucht man in dem Fragment ebenfalls die mittelniederdeutsche Form der 2. Person Plural der weiblichen Personalpronomina.5Zweimal wird sie im Fragment gebraucht, aber beide Male in der mittelhochdeutschen Form „ire“, einmal als Akkusativ (Singular) und das zweite Mal als Nominativ Plural, (beide Z. 34) An dieser Stelle muss eine Beobachtung zu einem der „Vergleichstexte“ einbezo gen werden, um die Argumentation hinsichtlich der Sprachmischung, die in diesen Texten zu bemerken ist, zu untermauern. In den Predigtfragmenten aus Neuzelle zeigt sich eine ähnliche Mischung von sprachlichen Merkmalen,6 wie in der Predigt aus Brandenburg, Seelmann hat auf die Sprachmischung ausführlich hingewiesen.7 Entgangen ist ihm allerdings eine Besonderheit im Gebrauch des Personalpronomens, die zeigt, dass der Schreiber/Sprecher dieser Neuzeller Predigt sehr genau auf die sprachliche Gestaltung seines Textes achtete. In einem dieser Textfragmente stehen mittelniederdeutsches „juw“ neben mittelhoch deutschem „ir“. Jedoch darf dieser Wechsel nicht als Mischform missverstanden werden. Dieser Wechsel der Wortformen intendiert ein Abheben zweier Sprachebenen, die dem Zuhörer sprachlich den alternierenden Blick zwischen dem Profanen und der Welt der Heiligen signalisieren. Sprach der Predigende die Zuhörer direkt an und nahm aufihre für den Feiertag mitgebrachten Kerzen Bezug, so bediente er sich stets der „Alltagssprache“, die dort wahrscheinlich auch eine Mischung aus mittelniederdeutschen Sprachformen war und benutzte „juw“, „juwen“ etc. Wandte er die Betrachtung dagegen der Heiligen Jungfrau zu, dann verwendete er stets die mittelhochdeutsche Form „ir“ und „iren“ etc. Insofern ist die Predigt ein Beleg für einen Geistlichen, der durch Bezugnahme auf ver schiedene dialektale Systeme Bedeutungsebenen voneinander abgrenzt. 4 Für das askanische Gebiet nimmt Seelmann (wie Anm. 3) an, dass es zum „mic-Gebiet“ ge hört, damit wäre der Dativ des Personalpronomens 3. Pers. Sg. nicht als „mir“ zu erwarten. 5 Seelmann (wie Anm. 3) macht das „je“ > „ihr“ als Merkmal für die mittelniederdeutsche, spezifisch „askanische“ Region stark. Vgl. Lasch § 403 Anm 9. 6 Vgl. Hedberg (1947), S. 139ff. 7 Seelmann (1932/33), S. 87-89.
Derartig differenziert ist der Sprachgebrauch in dem zur Untersuchung anste henden Fragment aus Brandenburg nicht, doch die Tatsache, dass die grammatika lisch unterschiedliche Form der gleichlautenden Personalpronomina in unmittelba rer Nähe auftreten (im Fragment in Zeile 34), legt die Vermutung nahe, dass hier eine Epanalepsis konstruiert werden sollte. Das darf nicht verwundern, denn im Text tauchen weitere rhetorische Mittel auf, wie Anapher, Parallelismen (Z. 106ff), deutlicher noch erscheint die Rhetorik des Predigers in den sich verstärkenden Antithesen von in Opposition stehenden Begriffen, wie „uswendik“ und „innewendik“ (71), oder „dor uf“ und „dor in“ (19). Alle diese Merkmale können als Anzeichen gewertet werden, in dem Fragment die Vorlage eines auf mündlichen Vortrag angelegten Textes zu sehen. Der Graph /y/ als indifferenter Laut
In dem Text wird der Graph /y/ allem Anschein nach für die schriftliche Fixierung mehrerer Laute genutzt.8 So wird er gleichbedeutend mit lil eingesetzt, wie z.B. in „bumeistir“ (36) aber auch „bumeystir“ (27). Entsprechend wird er eingesetzt in Wörtern wie: „eygin“ (111); „eyme“ (3; 29); „eynir“ (30); „heysin“ (62); „nynmir“ (23); „paradys“ (81); „ye“ (40), auch in „yrkentis“ (21). Interessant ist, dass der Graph zugleich für einen stumpfen e-Laut eingesetzt wird. Besonders auffällig ist das in der parallelen Schreibung des Personalpronomens in der 3. Person Singular maskulin. Es finden sich die für das Mittelniederdeutsche charakteristischen Formen „he“ (1; 41); „her“ (56; 78; 79; 81; 84) nebeneinander. Dagegen ist in gleicher Funktion auch die Schreibung mit /y/ als „hy“ (45; 55; 56) nachzuweisen. Das ist insofern interessant, als die Dativbildung dieses Personalpronomens auch dem Mittelniederdeutschen entspricht, aber die schriftliche Umsetzung lässt erken nen, dass der Laut /y/ für ein offenes /e/ durchaus gängig genutzt worden zu sein scheint: „ym“ statt „em“ (Z. 47; 82; 109) Das macht aber die Vorstellungen von der phonetischen Qualität einiger Wörter unsicher, die in der graphischen Umsetzung offen lassen, ob der Schreiber das ver wendete /y/ als /i/ oder als /e/ verstanden hat. Beispielsweise wird die Entscheidung bei folgenden Wörtern schwierig: „hynwekvurtis“ (90); „hyto“ (49); „keygen“ (95); „keyn“ (17); „vogelynesank“ (94); „weynen“ (23). Weitere sprachliche Merkmale mittelniederdeutscher Regionen
Ein sprachliches Merkmal, das sich häufig imText nachweisen lässt, ist die Veränderung des /e/ in lil der Nebensilbe9: 8 Vgl. Lasch (1974), § 131,2. Abs. s.a. Korten (1945), S. 58 und 62. 9 Vgl. Lasch (1974), §145, Abs. 3. s.a. Korten (1945) (wie Anm. 8).
„bumeistir“ (36); „gebeitit“ (87) „geladin“ (93); „geloubit“ (96); „gemachit“ (70; 107) „gesprochin“ (113); „heysin (62); „irluchtit“ (104; 117); „lebin“ (29) „machit“ (28; 38); „richtit“ (30); „siczit“ (48); „sprichit“10(14; 86); „sternis“ (88); „sundir“ (17); „totin“ (97). So stehen jedoch auch die Formen „aber“ (36): „abir“ (116); „geworfen“ (20) findet sich neben „werfin“ (10); „haben“ (93); „habin“ (87; 92; 96); „menschen“ (52; 105) neben „menschin“ (117). Mehrfach finden sich diese Lautwandlungen auch im Anlaut: „irkennen“ (33; 39); „irlosen“ (79); „irluchten (104; 117).11In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Problematik des graphischen Gebrauchs vom ly/ hingewiesen, es findet sich eine solche zweifelhafte Realisation des Anlautes in „yrkentis“ (21). Als weiteres Merkmal des Mittelniederdeutschen gilt die Auslautverhärtung.12 Bei mehreren, bereits genannten Beispielen sind Hinweise auf die An- und Auslautverhärtung zu erkennen, so z.B. „hynwekvurtis“ (90); „keygenu (95); „vogelynesanku(94). Gleichfalls findet man sie in der schon erwähnten Antithese „uswendik“ und „innewendik“ (71). Dagegen folgt die Schreibweise des Reflexivpronomens „sich“ wiederum dem mittelhochdeutschen Sprachgebrauch: „sich“ (60; 73). Aufmerksam gemacht werden muss, dass Wörter mit gleicher Schreibweise auch die imperativische Form des Verbs „sehen“ bilden können: „sich“ (63; 73; 74). Diese Auflistungsprachlicher Merkmalesollenausreichen.umdeutlichzumachen, dass das Textfragment in einer Mischsprache geschrieben wurde, die dem Schreiber sowohl mittel(hoch-)deutsche und mittelniederdeutsche Sprachkompetenzen at testiert. In Verbindung mit dem Kloster, in dem die Handschrift wahrscheinlich geschrieben wurde, heißt das, dass diese Mischung der sprachlichen Dialekte ei nen Eindruck von der sprachlichen Realität der Region, zumindest der klösterli chen Lebenswelt in der Mark Brandenburg gab. Das entspricht einer der negativen Bestimmungen des Begriffs der „Region“, auf die Tervooren entschieden verweist. Nach seiner Vorstellung sind Kulturräume nicht mit Sprachräumen gleichzusetzen.13 Die hier vorgelegten Beobachtungen bestätigen diese Bestimmung. Die Quintessenz der aufgezählten sprachlichen Befunde weist auf ein Problem hin, das sich mehrfach in den in dieser Arbeit behandelten märkischen Handschriften findet. Der Text enthält eine Mischung aus mittelniederdeutschen und mittelhochdeut schen Sprachmustern. Es wäre irrig, davon auszugehen, dass die mittelniederdeutsche Literatur nur deshalb aus der mittelhochdeutschen gespeist und abzuleiten sei und entsprechend als Sonderfall von ihr zu behandeln wäre, wie es Roethe14vor gut ein10 Parallel benutzt der Schreiber auch die Form „spricht“ (50; 52; 103). 11 Vgl. Lasch, § 116. 12Vgl. Lasch, § 227. 13Tervooren (2006), S. 18 und 22. 14 Roethe (1898). Dem schließt sich Stammler (1953), S. 204, noch an.
hundertzehn Jahren apodiktisch festschreiben wollte. Schon Beckers15hat eingehend und mit guten Argumenten das wie ein Verdikt wirkende Urteil Roethes in Frage gestellt. Eine Beurteilung der Sprachdenkmäler nach einem Verständnis, dass sich von der Normierung einer weitgehend unreglementierten Sprache ableitet, entspricht in keiner Weise den historischen Bedingungen der mittelalterlichen Lebenswelt und bleibt hinter dem Erkenntnisstand, der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, zurück. Zum Brandenburger Text über das Jüngste Gericht
Die Beobachtungen der sprachlichen Merkmale resümierend kann gesagt werden, dass der Schreiber dieses Textes, vielleicht aus einem Grenzgebiet zwischen der ober deutschen und mitteldeutschen Sprache stammt und in Brandenburg tätig war. Er benutzte eine Sprache, die Sprachmerkmale aus verschiedenen Regionen vermischt. Diese Sprachmischung muss als Beleg für Mobilität, für Bildung und Erfahrung in verschiedenen Regionen, Gemeinden, Klöstern und als Beleg von der Kenntnis ver schiedener Denkschemata verstanden werden.16 Die geistlichen Orden beließen in vielen Fällen Mönche und Geistliche nicht in ihren Heimatregionen.17 Die überre gionalen Verbindungen und Organisationsmuster der Kirche und der Orden des Mittelalters führten dazu, vorrangig männliche Mitglieder der Orden weit über Europa zu verstreuen. Sie wurden für die Ausbildung an bestimmte Klöster und spä ter Universitäten geschickt, sie wurden mit Aufträgen bedacht, die ein hohes Maß an Mobilität verlangten. Die Filiationen und Besetzungen neu gegründeter Klöster verstärkten diese Flexibilität. Die Sprachmischung erscheint auf diesem Hintergrund als ein Dokument dieser Strukturen und ist deshalb in dem textkritischen Teil dieser Arbeit entsprechend dokumentiert worden. Damit ist auch der vorliegende fragmentarische Text ein Beleg für bestimmte Aspekte des Denkens seiner Zeit. Auf einige Besonderheiten soll im Folgenden eingegangen werden. Die volkssprachliche Darstellung der Thematik des Jüngsten Gerichts besitzt eine lange Rezeptionsgeschichte. In diesem Zusammenhang sind auf einen formalen und zwei inhaltliche Aspekte dieses Textes hinzuweisen. Entgegen der landläufigen Beschreibung des Jüngsten Gerichts, die in Anlehnung an die Offenbarung mit schreckenden Bildern die Zuhörer zur Umkehr aufruft, stellt das Brandenburger Fragment neben solchen mahnenden Bildern die Ankunft des Herrn als Weltenrichter an der Gerichtsstatt in den Vordergrund. Bei dieser Ankunft wird der Herr durch die Natur - vertreten durch Vögel - begrüßt und sie gerät zur Freude der Vorväter im Limbus. 15 Beckers (1974), S. 37ff. 16Schmitt (2006) betont ebenfalls die Mobilität der Geistlichen und Mönche und leitet diesen Schluss aus ihren Beobachtungen zum regionalen und überregionalen Buchverkehr der Franziskaner ab (S. 39). 17Nonnenklöster und Damenstifte dürften ihren Mitgliedern dagegen geringere Möglichkeiten der Mobilität bieten.
Das Bild des Weltenrichters wendet sich an die, die ein gottgefälliges Leben fuh ren. Die Seelen dieser Menschen haben Teil am Aufbau des Throns und des voll kommenen Körpers von Gott. Dagegen wird der Sündhafte an seine an die eigene Leiblichkeit gebundenen Gebotsverletzungen gemahnt. Dieser Leib/Seele-Konflikt wird nochmals in dieser Studie im Zusammenhang mit der Apokalypse und dem Totentanz thematisiert. Selbst in der Lyrik Ottos von Brandenburg lässt sich eine Position dieser Auseinandersetzung ablesen. Das Element der Anverwandlung des Menschen an den eschatologischen Körper Gottes bedarf näherer Betrachtung. Es ist mit der Auffassung verbunden, wie es den Menschen möglich sein könnte, in die Schöpfung wieder einzukehren. Diese beiden inhaltlichen Momente, auf die einzugehen sein wird, werden er gänzt mit Beobachtungen zum formalen Aufbau des Textes. Auffällig sind in dem Text Brüche, an denen Textpassagen inhaltlich nicht aneinander anschließen. Diese können Auskunft geben über die gattungsspezifische Funktion dieses Manuskripts. Darauf wird etwas später eingegangen. Das Fragment beginnt mit einem Satz, dessen erster Teil fehlt, so dass sein Sinn nicht eindeutig nachvollzogen werden kann. Jedoch wird mit den ersten erhalte nen Worten die Szene des Jüngsten Gerichtes aufgerufen: „an den iu[n]gistin tage wenne dirre bumestir kumit...“. Ihm steht allem Anschein nach der Mensch gegen über, von dem es heißt „...he musin an den iu[n]gistin tage...“ Das niederdeutsche Personalpronomen spricht verallgemeinernd alle Menschen, resp. Zuhörer an, da sich jeder Einzelne vor dem Jüngsten Gericht zu verantworten haben wird. Dieser Einzelne scheint sich durch „ein Wort“ mit dem Schöpfer zu vereinen, „gancz zu werden“. Dieser Gedanke ergibt sich aus einer späteren Passage, auf die noch einzugehen sein wird. Der Begriffdes „Wortes“ruft sowohl den Kontext zum Schöpfungsmythos aus dem göttlichen Wort auf, wie er in der Praefatio des Johannis-Evangeliums (Joh. 1,1) auf scheint, als auch zur Offenbarung, in der das Gerichtswort zum scharfen, zweischnei digen Schwert im Mund des Weltenrichters wird. (Off. 1,16) Das Zusammenfallen des Schöpfungsgedankens mit dem Gerichtstag ist eine zeitliche Engführung, die später noch einmal im Text greifbar wird. Dieser skizzierten Szene folgt die Warnung an den menschlichen Körper, der allem Anschein nach für die diesseitige Individualität des Menschen steht. Der Text kündigt für die Situation vor dem Weltgericht an, dass gegen den menschlichen Leib innere und äußere Feinde auftreten werden, weshalb der Einzelne sich gegen das Gericht nicht auflehnen18 soll. In der Vörausschau darauf, dass die Feinde des Menschen vor diesem Gericht aussagen werden, besteht für den Einzelnen kein Anlass zur Freude auf den Tag des Herren. Dieser Abschnitt erinnert an die Warnung in den Sprüchen Salomons 28,13. Auch in dem alten Predigttext „muspilli“ findet sich ein ähnlicher Gedanke, dort sind es die Extremitäten des Körpers, die gegen den Einzelnen auftreten und dessen Sündhaftigkeit bekennen.19Derart präzise ist dieser 18 Das Verb „uflesen“ wird nicht in der wörtlichen Bedeutung des Sammelns, sondern des Aufreckens interpretiert. 19 Minis (1966), S. 105, VV 91ff.
Gedanke im Brandenburger Fragment nicht ausformuliert, sondern nur insofern zu interpolieren, da im folgenden Abschnitt davon gesprochen wird, dass die „anderen vinde“ dort sein werden. Diese verkörpern die Sünden selbst, die die Seele binden und zerstören. Wenn also die Sünden zusätzliche Feinde des Einzelnen vor Gericht sein werden, ist anzunehmen, dass die zuerst genannten Feinde möglicher Weise die Glieder des Körpers sein könnten. Die Macht der Sünde werden drastisch ausgemalt, als diejenigen Kräfte, die den Menschen in die irdischen Verhältnisse und sündhaften Bestrebungen hineinstoßen und einbinden.20An dieser Stelle wird Bezug genommen auf einen Satz Hiobs (Hiob 10, 20), der die Diesseitigkeit als Land der Finsternis und Unordnung beschreibt.21 Beide Gedanken stehen etwas unverbunden nebeneinander, so dass sich der Eindruck aufdrängt, das Fragment bildet nicht etwa das Manuskript eines aus formulierten Textes, sondern stellt im Zusammenhang mit den bereits vermerk ten Signifikanzen der Mündlichkeit vielleicht die Skizze für eine Predigt dar. Diese Gattungszuweisung wird durch spätere „Brüche“ weiter erhärtet. Angesichts des beschriebenen Szenariums, das der Prediger hier in wenigen Worten entworfen hat, folgt eine verallgemeinernde Apostrophe aller Seelen, der bei der Wahrnehmung all dieser Ereignisse und irdischen Verwirrungen [dafür wurde eine Konjektur von dem nur teilweise entzifferbaren Wort „to[trin]gunge“22 (Z. 22) geschaffen] entstehende Überblick verschließt jede Position für die Menschen, sich - wie auch immer begründet - gegen das Gericht aufzulehnen und ihm trotzen zu können. Der Mensch erfährt vor dem Jüngsten Gericht vielmehr das Erschrecken vor seinem Tun und aus dem Begreifen seiner Fehler soll er Trauer und Reue emp finden. Dabei bezieht sich der Prediger auf das Weinen Jesu um die Zerstörung Jerusalems (Luk. 19, 41-44), die begründet wird aus der Summe aller Verfehlungen der Einwohner der Stadt. Nachdem der Texthersteller die Positionen der Menschen skizziert hat, die sie vor dem Gericht des Herren einnehmen, wendet er diese bedrohliche Situation über raschend um in eine sehr friedvolle und hoffnungsvolle Szene. Ehe auf diese Szene eingegangen wird, ist zu fragen, welche Bedeutung der Begriff der „stat“ besitzt, an der der Weltenrichter auftritt. Offensichtlich bewegt er sich auf die Gerichtsstätte zu, kommt also zu einem Ort, an dem die Menschen versammelt sind. Es entsteht also das Bild eines auf die Menschheit zugehenden Schöpfers und Weltenrichters und nicht das eines langen, prozessionsartigen Zuges der Menschen zur Gerichtsstätte. Eine Bestätigung dieses Bildes findet sich in zwei Gebetstexten mit Prämonstratenser Provenienz aus dem 15. Jahrhunderts. Es handelt sich erstens um 20 Hierin folgt das Fragment den neuplatonischen Gedanken Plotins, der christlich umgedeu tet wurde. Langer (2004), S. 287. 21 Das ist die Passage, von der Rose geschlossen haben dürfte, dass es sich bei diesem Text um ein Fragment eines geistlichen Spiels gehandelt haben sollte. 22 Als Vergleichsstellen für den Bedeutungsgehalt des Wortes könnten dienen: Herrad von Landsberg (1818): Hortus deliciarum V 194; in der Form „getougene“ auch in: Dollmayr (1932) VV 31,31; 60,15; 78,42.
das sog. „Brandenburger Glaubensbekenntnis“ (3. Dekade des 15. Jahrhunderts) und zweitens um die Niederschrift des „Vateunsers“ in einer Handschrift des Prämonstratenser-Konvents Havelberg, geschrieben wahrscheinlich nach 1445. In dem „Brandenburger Glaubensbekenntnis“ (um 1427)23 findet sich eine Formulierung, die ebenfalls darauf hinweist, dass am Gerichtstag der Weltenrichter sich zu einem Ort bewegt, der zur Gerichtsstätte der Menschen wird. Dabei wird er kennbar, dass es keine Möglichkeit gibt, mit der die Menschen durch eigenes Tun in die Situation eingreifen könnten. Im Glaubensbekenntnis wird die Bewegungsrichtung des Weltenrichters eindeutig beschrieben. Er kommt von der rechten Hand Gottes auf die Menschen zu: „Ich ghelove dat he uf wuor tu d[eme] hemele • un[de] syt tuo d[er] vorderen hant godes des alwedighen vaders ich ghelove dat he van denne körnen scal tu richtende levende[n] un[de] doden...“24 Der Weltenrichter bewegt sich also auf die Menschen zu. Der Ort, an dem das Jüngste Gericht sich vollziehen wird und auf den sich der Weltenrichter zu bewegt, wird zwar explizit nicht benannt, aber er lässt sich ermitteln. Da - wie auch in dem heute noch üblichen Glaubensbekenntnis - von den Lebenden gesprochen wird, die sich ebenfalls vor dem Gerichtstag zu verantworten haben, ist davon auszugehen, dass der Ort des Gerichtes die Erde selbst sein wird. Sicher kann ausgeschlossen werden, dass die umrissene Szene, die der Prediger in seinem Text vor den Ohren der Zuhörer entstehen lässt, nicht an einen Ort erin nert, der der Hölle entsprechen könnte. Das Singen der Vögel, die das Kommen des Herren ankündigen, ruft eher die Vorstellung eines Ortes auf, der auf der Erde zu lokalisieren ist. Die Havelberger Fassung des „Vater unsers“ (ca. 40er Jahre des 15. Jahrhunderts)25 enthält eine Formulierung, die gleichfalls die Ankunft Gottes auf der Gerichtsstätte thematisiert. Da heißt es: „to kamende sy din rike“. Dies meint eine eschatologische Situation, in der das Reich Gottes für die Schöpfung existieren wird. Diese Vorstellung erscheint abstrakter. Sie rückt die Möglichkeit, dem Reich Gottes teilhaftig zu werden, aus dem Handlungsbereich des Menschen. Der Mensch kann eben nicht durch eigenes Tun auf das Reich Gottes zugehen, sondern die Bewegung geht von Seiten Gottes aus, unbeeinflussbar durch die Menschen und ihr Handeln. Um die Entscheidung Gottes, sich auf die Menschen zu zubewegen, scheint der Mensch in Demut im Gebet bitten zu können. In dieser Weise formuliert es auch der Texthersteller des zur Untersuchung anstehenden Fragments. Die Seelen, die Christus während des Jüngsten Gerichts in der Hölle mit der Hoffnung begrüßen, von ihm erlöst zu werden, erkennen an, dass die Ursache für die Annäherung des Herren in ihrem Beten und Flehen (es ist von Begehren und Bemühen gesprochen) gelegen haben könnte, die Entscheidung wird aber in der Darstellung nicht durch aktives Handeln der Menschen initiiert: 23Textband, S. 57. 24 Textband, S. 57. 25Textband, S. 58.
„Advenisti desiderabilis • Daz sprichit bistu komen • dez wir begert habin [dez wir gebeitit habin]26in dem vinstirnisse • daz du in [BL 2b] dirre nacht mit dir hynwekvurtis dy da Zwangen worin in dem clostir der helle dich habin unse begerunge geladin • “ Der Text macht die Imputatio stark. Nur im Ratschluss Gottes liegt nach dieser Vorstellung die Entscheidung für die Verwandlung der Schöpfung. Eine etwas vage Formulierung findet sich in der Fassung des „Vater unsers“, dass die Franziskaner zu gleicher Zeit in Brandenburg gebetet haben. Darin wird nur all gemein der zu erwartenden Freude und der Umkehrung aller irdischer Mühsalen gedacht. Aber auch in dieser Fassung heißt es: „ad verat regnum tuum.27du kome uns dyn rike dar wroide ys unghemeyghet28 Wrede ane drufnisse29ze30ker31hoheyt ane vorluost“ Die mit diesen Formulierungen verbundenen Vorstellungen von den Bedingungen des Endgerichts geben einen Hinweis darauf, dass die märkische Geistlichkeit in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine gemeinsame Tendenz für das Verhältnis Gottes zu den Menschen vertrat. Es war den Menschen jede Handlungsmöglichkeit entzo gen, durch eignes Tun den Ratschluss Gottes zu beeinflussen. Dies ist eine Tendenz, die auf die Vorstellung der Gnadenwahl abzielt, wie sie sich von Augustinus ableitet32 und später von Luther erneut vehement vertreten wurde. Zweierlei konnte durch diese Vergleiche mit anderen Texten aus der Mark Brandenburg nachgewiesen werden. Erstens besteht die Möglichkeit, den Gerichtsort des dies irae auf der Erde zu erblicken. Zweitens kann der Mensch mit Blick auf dieses Endgericht nicht durch eigene Handlungen sein Seelenheil beeinflussen, sondern er kann sich nur durch demütiges Flehen und Beten an Gott wenden. Dies ist genauer zu fixieren. Am irdischen Ort nimmt der Weltenrichter die Rekonstruktion der menschli chen Seelen in ihren paradiesischen Zustand, das „Ganczmachen“ der Seelen, wie es der Text nennt, vor. In wenigen Zeilen wird in eindrucksvoller Klarheit der Prozess der Wiederherstellung der Seelen in ihren ursprünglichen, paradiesischen Zustand benannt. Mit der Rekonstruktion der Seelen geht die Wiederaufrichtung der durch 26 Am Rande ergänzt. 27 Vgl. den kritischen Text bei Adam (1976), Z. 127f - Thomas von Aquin zugeschrieben. Adam (1976), S. 189. 28 Lesung ist unsicher, möglich ist folgendes: „ungemaejget“ - ungekürzt (abgeleitet vom „un gekürzten, ungeschnittenen Rasen“); „ungemeilt“ - unbefleckt, unschuldig, rein; „ungemeiligt“ (abgeleitet von immaculatus) unverletzt. 29 Als Konjektur anzubieten wäre: „trurnisse“ - Traurigkeit, belegt bei Heinrich von Neustadt: Gottes Zukunft. (1906 (ND 1967)), datiert Anfang 14. Jahrhundert, dort V. 8223. 30Auch hier wahrscheinlich in der Bedeutung von „bei“, s.Textband, S. 55, Anm. 163. 31 Vielleicht zu verstehen als Paradox: „bei hingebungsvoller Hoheit ohne Verlust“. Vgl. hierzu bei Adam (1976) eine vergleichbare Konstruktion: „Thomas de Aquino: ,zu kum din riche‘, ane wandelunge stille, ane betrubunge frolich, ane verliesunge sicher und ewig ane endüniß...“ Z. 127f. 32 Flasch (1995), S. 36-43.
die Sündhaftigkeit der Menschen gestörte Ordnung einher. Im Text werden diese beiden entscheidenden Aspekte des Weltgerichts als in einander verwobene Prozesse skizziert. Der Geistliche weist damit darauf hin, dass beide Prozesse von einander abhängig sind und beschreibt sie in drei Schritten. Zunächst richtet der Gekreuzigte die Sünder auf, damit sie Hoffnung auf Vergebung schöpfen können. Diese Zuversicht zur gnädigen Vergebung scheint als Voraussetzung dafür zu dienen, dass die Menschen bußfertig und reumütig ihre Sünden eingestehen können. Aufrichten und Eingeständnis der Sünden sind die er sten beiden Schritte denen als dritter eine Situation folgt, in der Christus in einer Art Synthese die Seelen dieser Menschen in ihrer Gottesebenbildlichkeit wiederherstellen und in ihren göttlichen Ursprung zurückführen kann. Ausdrücklich bezeichnet der Texthersteller die Tatsache, dass Christus die Seele wiederum „czusamene legit“. Die Seele wird demnach durch die Verwüstungen und Sünden der Welt auseinander ge rissen. Als Ursache dieser weltlich zerstörerischen Einflüsse werden die körperlichen Sinne aufgerufen. Insgesamt entsteht ein Bild, das an ein Auseinanderbrechen der Seelen in einzelne Stücke erinnert, die der Schöpfer („bumeistir“) in ihre ursprüng liche Form zurückversetzen kann, womit die Spuren aller Verfehlungen an ihr voll ständig getilgt sein werden. Dieses Motiv des „gancz machens“ der Seele ist ein be sonders Kennzeichen des Textes. Sehr häufig scheint dieses Bild in der Literatur nicht aufzutreten. Im „Marienleben“ des Walthers von Rheinau (Ende 13. Jahrhundert) taucht ein ähnliches Bild auf. Dort wird in einer Legendengeschichte aus Ägypten ein Wasserkrug eines Kindes von Christus ebenfalls ohne Makel rekonstruiert, „...daz [vaz] machte Jesus ganz, / daz dar an schein weder bruch noch schranz“.33 Immer wieder aber ist es die Reue als Voraussetzung dafür, dass die Menschen zu ihrer Bestimmung und Gottesnähe zurückkehren können. Dieses Motiv ist fester Bestandteil des dogmatischen Denkens der Zeit. Nachdem die Chance der erneuten Annahme des ursprünglichen Standes für den sündigen Menschen erwähnt wurde, droht der Prediger in unmittelbarem Anschluss mit der Verurteilung der „Bösen“ durch Gott. Das sind diejenigen, die in dem Reinigungsprozess nicht einwilligten, ihre Sünden zu bekennen oder Zweifel hegten an der Allmacht und damit an der grenzenlosen Barmherzigkeit Gottes, die von Theologen des Mittelalters postuliert wurde. Wer sich also nicht an die Güte Gottes wendet und mit tiefer Reue sein Erbarmen herausfordert, der fällt in diesem Gericht zurück in die Hölle. Wenn auch die Verurteilung zur Hölle nicht explizit im erhaltenen Teil des Textes erwähnt wird, so ist es unzweifelhaft, dass die Verurteilung der Bösen auf die Höllenstrafe zielt. Nach diesem Strafgericht folgt ein weiteres Stadium des Weitendes. Es ereignet sich darin die Inthronisation Gottes auf einem Thron, in den alle Seelen einbezogen werden. Die Formulierungen umfassen sowohl eine zeitliche Dimension, als auch eine räumliche. Wenn der geistliche Texthersteller formuliert, dass der Zeitpunkt der Inthronisation derjenige ist, an dem die Seelen Gott untergeordnet werden: „daz ist so dy sele ym wird undirton“. Das verwendete „so“ übernimmt die temporale als 33 Walther von Rheinau: Marienleben. Edit Perjus (Hrsg.) Abo: 1949,2. Aufl., S. 98, VV 4954ff.
auch die konditionale Funktion einer Konjunktion. Diese Doppelbedeutung schwingt ebenfalls mit in dem folgenden Satzteil, in dem es heißt „do siczit Got in sime trone“. Entsprechend der Bedingung, dass die Seelen der Menschen Gott nachgeord net sind, sofern sie nicht in die Hölle fahren, und der zeitlichen Folge, nachdem die Seelen in dem Gerichtsverfahren für Gott als gut befunden und zuletzt wiederherge stellt sind, changiert in der Präposition „do“ gleichfalls die räumliche und die zeit liche Dimension: weil Gott aus den wiederhergestellten Seelen einen Thron erhält und in dem sie ihm unterstellt sind, kann er sich, so ist die Schlussfolgerung, auf die sen Thron setzen. Damit wird die Wiederherstellung der Seelen in ihre paradiesische Vollkommenheit nicht nur ein Akt eschatologischen Denkens, sondern erhält eine überhöhte Sinnhaftigkeit. Die Seelen, die in ihre Gottebenbildlichkeit zurückverwan delt werden konnten, werden zusammengefügt und bilden einen Thron auf dem sich Gott nach den anderen Phasen des Jüngsten Gerichts in seiner Allmacht niederlässt. Die Seelen vereinen sich damit in der göttliche Körperlichkeit mit dem Schöpfer. Dass diese relativ komplizierte Konstruktion de facto gemeint ist, wird in den folgenden Zeilen deutlich, in denen einerseits davon gesprochen wird, dass die Seele des „gerechten menschen“ ein Stuhl göttlicher Weisheit sei, die in Jesus verkörpert sein soll. Zugleich aber wird andererseits in Anlehnung an Offb. 7,15 der Gedanke formuliert, dass zu diesem Zeitpunkt der Inthronisation Gott selbst einen Körper annimmt, der sich aus den Seelen der Menschen und der aller Kreaturen gemeinsam bildet. Demnach scheint Gott sowohl auf dem Stuhl in der Seele zu sitzen aber auch seine Körperlichkeit zu gewinnen durch das Zusammenfassen aller seelischer Kräfte der Geschöpfe. Diese komplizierte Konstruktion, in der die Ebenen ineinander ver schränkt sind und Seele, göttlicher Körper und Thron sowohl Objekt als Subjekt zu sein scheinen, kann nur als Bild dafür verstanden werden, dass am Ende der Tage sich die Trennung in Subjekt und Objekt, von Schöpfer und Geschöpf aufhebt. Dies kann aber aus dem Textfragment nur interpoliert werden, denn mit dieser doppeldeutigen Formulierung bricht das erste Fragment ohne vertiefende Erklärungen ab. Die Unio, von der die spätere Mystik spricht, wird in dieser Predigt auf den nachapokalypti schen Moment verschoben. Erst dann vereinen sich Creator und Kreatur, Subjekt und Objekt, Erkenntnis und Sein fallen zusammen. Auch das zweite Fragment thematisiert die Apokalypse und es ist naheliegend davon auszugehen, dass beide Stücke zu einem Text gehören. Nicht festzustellen ist allerdings die Reihenfolge beider Fragmente. Stärker noch als im ersten Teil greift der Texthersteller in diesem Abschnitt auf das Zitieren von Lemmata zurück. Mehrfach zi tiert er das Johannes-Evangelium, aber auch den Psalter und das Lukas-Evangelium. Auch dieses Fragment beginnt mitten im Satz, so dass die Bedeutung des Anfangs „...den tak mit irre stime“ inhaltlich nicht genau zu bestimmen ist. Aber im Folgenden wird wieder eindeutig das Thema des Gerichtstages angeschlagen, je doch wird zugleich eine Verbindung mit dem Geschehen der Osterzeit hergestellt. Weltenrichter und der durch die Welt Gerichtete gehen in dieser Argumentation eine Verbindung ein. Ihre Handlungen - Strafe und Erlösung zu gewähren, sind der eine Teil; die Höllenpforten zu zerbrechen, der andere - werden in dieser Passage offensichtlich miteinander verwoben. Die Seelen der Vorväter und Heiligen des Alten
Testaments, die nicht durch die Taufe des Neuen Testaments gerechtfertigt und die im Limbus verwahrt waren, und die gleichfalls dort aufgenommenen, ungetauften Kinder freuen sich über die Ankunft des Herren.34 Nun folgt ein Einschub, der durch Anspielung auf Joh 14,1 die Figur des Lammes aufruft zu dessen Begrüßung die Vögel zu singen beginnen. Die Szene wird verglichen mit dem Anbrechen des göttlichen Tages, der durch den Schein jener Morgenröte ausgezeichnet ist. Der Text verweilt einen Moment bei dieser Szene, in der er den Vögeln die Worte des 118. Psalm V. 24f zuspricht. Auf die dabei verwendete anti thetische Wendung („uswendik ... innewendik“) ist oben im Zusammenhang der sprachlichen Merkmale und rhetorischen Figuren verwiesen worden. Noch schreitet der Text in seiner Darstellung nicht fort, sondern verstärkt das Bild ein weiteres Mal in einer kompakten Struktur rhetorischer Wendungen. Zweimal wird das Publikum durch eine Apostrophe angesprochen „sich daz ist...“ (63) und „sich do...“ (73), um zugleich die Aussage der Szene durch ein Hysteron proteron zu intensivieren. Die drei zeitlich aufeinander folgenden Abschnitte des Vorgangs werden in einer verän derten Reihenfolge aufgeführt. Dem chronologischen Ablauf zufolge würde es heißen müssen, dass aufgrund der Tatsache, dass sich Christus nähert (74f), die Vögel sich interessiert zu ihm umwenden (73) und ihren „susen sank“ (75f) anstimmen. Das Kommen der göttlichen Figur wird in die Mitte dieser dreiteiligen Phrase gestellt, sie erhält damit eine erhöhte Aufmerksamkeit der Zuhörer und der Text vermeidet eine reihende Aufzählung. Dieser rhetorischen Konstruktion fügt er zugleich noch eine rhetorische Frage hinzu, wenn er sagt: „wonne was das?“ (74) Deutlich spricht der Prediger den Todeszeitpunkt auf Golgatha an: „Is was dy stunde des tagis do her starp.“ (77Q Mit dieser strukturellen Verschränkung wird ein inhaltlicher Aspekt verbunden. Das Geschehen vom Karfreitag und Karsamstag wird mit dem Jüngsten Gericht zeit lich zusammen geführt. Bereits bei der Doppelbedeutung beim Aufrufen des „Wortes“ im Schöpfungsgedanken und dem Jüngsten Gericht als zweischneidiges Schwert war auf die Vorstellung einer zeitlichen Verschränkung der chronologisch weit ausein anderliegenden, biblischen Geschehen aufmerksam gemacht worden. Das könnte dem Zuhörer zu verstehen geben, dass das Jüngste Gericht nicht am Ende aller Tage kommt, also in einer historisch weit vorausliegenden Zeit („irgendwann“), sondern sich potenziell jederzeit den Menschen offenbaren kann. Die anschließende Szene zeigt Christus, in der er die Vorväter aus der Hölle befreit und sie gemeinsam mit dem Räuber, der mit ihm gekreuzigt wurde, in das Paradies führt. Explizit wird auf Luk 23,24 Bezug genommen. Das macht eindeutig, 34 Eine Vorstellung von den differenzierten Jenseitsvorstellungen liefert Jezier (1995), S. 20, Abb. 9, wobei er die Besonderheit des Limbus auch und gerade im Blick auf das Geschehen der Osternacht nicht ausfuhrt - Jezier interessiert die Fragestellung lediglich im Bezug aufdas Endgericht. Die von ihm schematisch rekonstruierten Abläufe scheinen aber in den Vorstellungen mittelalter licher Theologen komplizierter zu sein. Denn der Erlösungsprozess in der Osternacht ist zugleich Vorwegnahme und Verheißung eines Endgerichtes, bei dem sowohl barmherzige Befreiung, aber auch ewige Verdammnis thematisiert wurden. Auf dieses vorzeitige Gericht geht Jelzer nicht ein. Für das Mittelalter gibt Chadwick eine knappe Übersicht über die Vorstellungen von der Hölle im Rahmen seiner Geschichte des Christentums. Chadwick (1996), S. 137ff.
dass die Szene auf das Ostergeschehen anspielt. Diese Bezugnahme kann als schwa ches Indiz dafür gelesen werden, dass der Text in der nachösterlichen Zeit vorgetra gen worden sein könnte.35 Unter Hinzuziehen weiterer rhetorischer Mittel wird diese Passage ausge schmückt. In dem folgenden Abschnitt konstruiert der Texthersteller möglicher Weise in einer Korrekturphase einen Parallelismus. Auf dem unteren Rand der Spalte notiert die gleiche Hand einen Halbsatz, der den in der Spalte niedergeschriebenen Satz rhetorisch verstärkt: „...dez wir [die Vorväter im Limbus] begert habin, {dez wir gebeitet habin}, in den vinsternisse...“. Zumindest wird die emphatische Wirkung dieses Abschnittes erhöht. Mit einem zusammenfassenden Rückblick wird das Bild der singenden Vögel bei der Ankunft des Herren wieder aufgerufen. Die nachfolgende Passage schließt sich inhaltlich nicht an die vorhergehende Szene des Jüngsten Gerichts an. An dieser Stelle entsteht wiederum der Eindruck ei ner Art Bruch im Text. Übergangslos wird von der Botschaft eines Sternes gespro chen. Nicht auszuschließen ist, dass dabei auf ein Bild zurückgegriffen wird, das in dem verlorengegangenen Teil des Fragments bereits ausgeführt worden war, aber die ser Bruch kann auch als Indiz für die Gebrauchsfunktion des Textes gelesen werden. Gleichfalls übergangslos wendet sich der Texthersteller anschließend der Exegese des Johannesevangeliums und zwar dem zweiten Teil seiner Praefatio zu. Problematisiert wird die Auslegung des „wahren Lichtes“, das nicht Johannes der Täufer verkörpert, vielmehr als dessen Künder fungiert. Das „wahre Licht“ ist der das göttliche Wort verkörpernde Christus. Der Vers Joh. 1,9 wird in Zusammenhang mit Joh. 10,11 und Joh. 1,7 gedeutet. An dieser Stelle besteht die Auslegung zunächst nur aus weiteren Bibelzitaten, dann aber bricht auch dieses Fragment mitten im Satz ab. Gegenstand des Textes und dessen Gestaltung weisen auf seine Gattung. Die Klassifizierung des vorliegenden Textes ist bereits greifbar geworden. Er ist eine Predigt. Das Zitieren lateinischer Bibelstellen36 (und/oder anderer Autoritäten) und 35 Palmer (1998), S. 167. Im Gegensatz zu dieser Annahme, den Text für die nachösterliche Zeit anzusetzen, bildet diese Perikope in der Liturgie der Prämonstratenser und Zisterzienser des 13. Jahrhunderts ein Teil der Liturgie für die 3. Messe der Weihnachtsnacht, s. Opfermann (1961), S. 52 (Nr. 5b). 36Williams-Krapp glaubt mit gebotener Vorsicht als Kriterium einer Abgrenzung zwischen den Gattungen Predigt und Legendendichtung besonders das Zitat der lateinischen Perikopen und Verweise auf die lateinische Überlieferung einführen zu können. Williams-Krapp (1992), S. 352 -360. Das Vorhandensein einer Anspielung auf die Perikope resp. auf ein Bibelzitat kann zumindest die vorgenommene Zuweisung des Textes zur Gattung „Predigt“ untermauern. Sicherlich handelt es sich bei dem Zitat der Praefatio des Johannesevangeliums nicht um die Perikope - nach dem Perikopen Brandenburgs gilt die Praefatio als Perikope für den 2. Weihnachtsfeiertag, was der Inhalt der Predigt ausschließt. Niemand predigt am 2. Weihnachtsfeiertag über das Jüngste Gericht. Vgl. Opfermann (1961), S. 52 - belegt für das Hochmittelalter die Perikope Joh. l,lff für die 5. Messe in der heiligen Nacht. Für das Kloster Eberbach weist Palmer (1998) die Apokalypse ab 2. Sonntag nach Ostern für 2 Wochen während der Matutin und bei der Tischlesung nach, (dort S. 167) Die untersuchte Predigt kann nicht als Grundlage für eine Reihenpredigt angesehen werden, insofern erscheint es schwierig, sie für einen längeren Zeitraum anzusetzen. Jedoch ist die Kopplung an die nachösterliche Zeit, wie gezeigt, durchaus gegeben.
deren Übersetzung, die Auslegung einzelner Passagen, das Schaffen von Bildern, ins besondere das auffällige zweimalige Verharren des Predigers bei der Ausschmückung des Textes spricht für eine Predigt. Der Text scheint auf das Hören der Rezipienten zu rekurrieren und spricht z.B. gegen die strengere argumentative Darstellung und Dichte eines Traktats. Das verwendete Gliederungsmerkmal - das an einer Stelle des Textes aufscheint, wenn der Prediger sagt: „czu dem vumften mol“ - ist dagegen kein ausrei chendes Kriterium, diese Predigt von einem Traktat abzugrenzen. Diese Form der glie dernden Aufzählung ist sowohl charakteristisch für den Traktat wie für die Predigt.37 Jedoch die anderen vermerkten Textmomente - Verharren der Darstellung; bildhaftes Sprechen, Zitieren, Auslegen - unterstützen die Klassifizierung des Textes als Predigt. An dieser Stelle muss allerdings auch festgestellt werden, dass der Predigtbegriff nicht weiter differenziert werden kann. Während der erste Teil des Fragments durch seine freiere Exegese und den Aufbau von Bildern, die unabhängig von der biblischen Überlieferung zu sein scheinen, stärker den Eindruck eines Sermons wachruft, sind die Formen des Zitierens vom Alten und Neuen Testament im zweiten Teil vielleicht ein Hinweis auf eine Homilie. Dieser Eindruck ist um so schwieriger zu verifizieren, als auch die Position der Fragmente innerhalb der Predigt, zu der sie gehört haben, nicht eindeutig bestimmbar ist. Auch hier scheinen die beiden Fragmente unter schiedliche Merkmale zu besitzen. Nur die zuletzt besprochene Passage, die in lateinischer Sprache gehalten ist, kann als Lemma verstanden werden, weil sie möglicher Weise bezug nimmt auf die Perikope des Tages [Joh 1, 9-10], während die anderen kurzen lateinischen Einsprengsel, insbesondere im ersten Teil des Fragments, als Zitate und Erinnerungen für den Vortragenden verstanden werden könnten.38 Das Indiz für eine Aufzählung, das durch den erhaltenen Gliederungspunkt: „czu dem vumften mol“, als auch die aufeinander folgenden Bilder für ein und die selbe Passage deuten auf die Dilatatio hin. Dagegen scheint die eng an den biblischen Text angelehnte Darstellung im zweiten Fragment eher an die Entfaltung einer der Schlüsselbegriffe der auszulegenden Bibelstelle zu erinnern und damit wahrscheinlich zur Distinctio zu rechnen sein. Gehören beide Fragmente zur selben Predigt, bestände auch die Möglichkeit, die Reihenfolge der Textteile zu vertauschen, um erst die Perikope zu nennen und danach die Exegese folgen zu lassen. Gesichert scheint diese Ordnung nicht. Wenn auch die Positionen der beiden Fragmente innerhalb der verlorengegange nen Predigtteile unsicher bleibt, ist die Klassifizierung in der Gattung unstrittig. Noch einmal sind die festgestellten Brüche an zwei Stellen der Predigt zu be trachten. Zumindest geben sie dem Text nicht den Eindruck einer geschlossenen, von einem Autor für den Vortrag ausgearbeiteten Predigtvorlage. Die knapp bemes sene Argumentation könnte auch als Hinweis dafür herangezogen werden, in den Fragmenten eine selten überlieferte, volkssprachliche Dispositio zu erblicken.39 Das würde den Text als Arbeitsmanuskript einstufbar machen. 37 Vgl. hierzu ein Beispiel unter ungezählten: Geffcken (1855), Sp. 111. 38 s. hierzu Palmer (1984), S. 580. 39 Neuendorff (1992), S. 5.
Die Brüche im Text könnten aber auch anders interpretiert werden. Diese unbezeichneten Nahtstellen im Text könnten für den Prediger Räume öffnen, die es ihm ermöglichen, aktualisierende Auslegungen improvisierend einzufügen. Eine ent sprechende, eindeutige Beobachtung wird sich später bei der mittelniederdeutschen Apokalypse machen lassen, die Verweise auf eine improvisierte Mündlichkeit ent hält.40Zumindest ist denkbar, dass der Predigende die aufgeführten Bilder auch weiter auslegen könnte, ohne dass der Text fixiert werden musste. Die Brüche wären dann gerade die Textmarken für solche auf Mündlichkeit ausgerichteten Abschnitte der Predigt. Diese Annahme untermauert die Gattungsbestimmung, in den Fragmenten die Reste einer volkssprachlichen Predigt zu sehen. Dabei öffnet sich die Frage, ob es im Text Hinweise auf das geistige Umfeld des Predigers gibt. Zumindest lassen sich in Bezug auf das Denken des Geistlichen, der die Predigt verfasst hat, drei Textmerkmale festmachen, denen Züge mystischen Denkens eines Bonaventura innezuwohnen scheinen. Zum einen wird die Charakteristik des Menschen deutlich, der durch seine an den Leib gebundene Sündhaftigkeit von seiner göttlichen Herkunft abgefallen ist. In die ser Vorstellung bricht sich neuplatonisches Denken nach Plotin, das von Bonaventura umgedeutet wurde und sich gleichwohl in dem vorgestellten Textfragmenten wie derfindet.41 Demnach bedarf die menschliche Natur der Hilfe Christi - der in der vorliegenden Predigt als Vermittler zwischen den Menschen und Gott auftritt und die Entsühnung der Menschen vornimmt.42 Langer vermerkt für das Denken von Bonaventura explizit, dass das Prinzip der Erneuerung und Neuschöpfung für die Menschen Christus ist. Durch seine Zuwendung und Gnade wird „die natürliche Gottebenbildlichkeit“ wieder hergestellt.43 Mit Blick auf das Jüngste Gericht entwickelt der Prediger ein anderes Verständnis als den sonst üblichen Erkenntnisweg der Mystik Bonaventuras. Ist das Absehen von Menschlichem die Voraussetzung des mystischen Erkennens in der unio mystica,44 so greift der Text mit seinem apokalyptischen Thema nicht mehr auf die Erkenntnis Gottes durch den Geist der Menschen zurück. Erkenntnis endet im Jüngsten Gericht, da es weder ein Erinnern, noch eine zukünftige, auf Vervollkommnung gerichte te, geistliche Erkenntnis geben kann. Die drei Zeitdimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - die Bonaventura als ein Bild der Ewigkeit verstand - lö sen sich im Aufrichten des göttlichen Throns nach dem Weltgericht auf. Aber die Vorstellung von dem Zusammenfallen der Zeitdimensionen, die an zwei Stellen des Textes greifbar wurden, könnten aus diesem Denken gespeist sein.45 Das Bild der durch ihre Sünden zerstörten menschlichen Seele, die Aufgabe Christi als Helfer der Menschen und die Auseinandersetzung mit der Zeit in Bezug 40 s. u. Kapitel 5, S. 168. 41 Langer (2004), S. 287. Zur Plotin-Rezeption s. Flasch (1995), S. 310-316. 42 Langer (2004), S. 281. 43 Ebenda. 44 Hierzu vgl. Ruh (1964), S. 262f. 45 Vgl. hierzu Langer (2004), S. 278.
auf das Jüngste Gericht sind drei Elemente, die den Text in den Umkreis franziskani scher Mystik stellen.46 Zusätzlich kann bedacht sein, dass die Tatsache, dass insbesondere auch die seeli schen Kräfte der kreatürlichen Welt für den Aufbau der ewigen Welt einbezogen wer den sollen, die Vorstellung unterstützt, in der Predigt einen Text zu sehen, der aus dem franziskanischen Denken und seiner Mystik verständlich wird. Der fragmentarische Charakter des Textes verbietet, ihn genauer einzuordnen. Aber die Anhaltspunkte, die aufgezählt wurden, stellen den Text in die Nähe des Denkens von Bonaventura. Bleibt zuletzt die Frage nach der möglichen Rezipientengruppe dieses Textes. Für diese Frage ist es aufschlussreich, dem Textmotiv des „bumeystirs“ für den Herrn nachzugehen. Vielleicht darf man soweit gehen, in dieser Wortwahl einen Hinweis darauf zu sehen, dass diese Predigt vor einem stadtbürgerlichen Publikum gehalten worden sein könnte. Die Brandenburger Zuhörer dürften mit dem zweimal verwen deten Bild eines Meisters oder Vorstehers von Bauern resp. Bürgern eher vertraut ge wesen sein als mit dem möglichen Bild eines adligen Herren. Hatte man in den mittelund oberdeutschen Gebieten vielfach einen leidvollen Lösungsprozess der Städte von ihren ehemaligen Grundherren im Gedächtnis, so ist die Kolonialisierungsgeschichte Brandenburgs von diesem Prozess allem Anschein nach weitgehend verschont ge blieben. Mit Barlett47ist davon auszugehen, dass die Städte dieser relativ spät koloni sierten Region eher die eigenständige, soziale Struktur einer Stadt ohne Grundherren als fertiges Sozialmuster übernehmen konnten. Dadurch konnten die Städte in der Mark Brandenburg in relativ kurzer Zeit eine gewisse wirtschaftliche Stärke entwikkeln. Für diese Region setzte die Auseinandersetzung zwischen Städten und Adel erst im 14. Jahrhundert ein. Diese Auseinandersetzung hatte jedoch durch das Fehlen ei ner unmittelbar vor Ort präsenten, kurfürstlichen Macht, d.h. der Kampf zwischen den ansässigen Adligen der Mark Brandenburg und den nach dem Tod Ottos IV. und Waldemars als „Fremde“ empfundenen Landesherren, eine andere Qualität. Dieser Kampf wurde auf dem Rücken der Bürger in den brandenburgischen Städte und der Bauern der Region ausgetragen. Erst in dieser späten Zeit entwickelt sich ein spezifisches Bild vom Adligen, wie einige politisch-historische Lieder belegen.48 Daraus ergibt sich eine andere Konfliktlage und ein verändertes Verständnis des Bildes vom Adligen, als es aus den ober-, aber auch westdeutschen Gebieten über liefert ist.49Im 13. Jahrhundert dürfte das Bild des Adligen in der Mark Brandenburg eher mit der Funktion der Gebietskontrolle verbunden gewesen sein, es hatte wenig mit der Aneignung des Grundes oder mit seinen Erträgen zu tun. Folglich dürfte die Anspielung auf einer an fürstliche Repräsentation erinnernde Darstellung des Herren wenig Verständnis bei den Zuhörern des brandenburgischen Landes geweckt haben. 46 Hinweise auf mystisches Gedankengut sieht auch Schmitt (2006) in der Zusammenstellung der Bibliothek der Franziskaner aus Brandenburg, S. 24. 47 Barlett (1998), S. 545 und 571. 48 Kellermann (2000). Textband, S. 159ff. 49 Ein literarischer Reflex dieser anders gelagerten Konfliktlage zwischen adligem Ritter und Stadtbürgern reflektiert die kämpferische Auseinandersetzung Erecs mit Städtern.
Auf Grund dieser Überlegungen ist anzunehmen, dass der Prediger bei der Wortwahl also eher auf die den Stadtbürgern vertraute Gestalt des Bauern- oder Bürgermeisters (vielleicht auch Baumeisters) zurückgegriffen hatte. Alle besprochenen Motive des Textes machen erkennbar, dass der Prediger ei nem eigenen Verständnis der Apokalypse folgt. In der überwiegenden Zahl apokalyp tischer Texte wird der Zuhörer durch Drastik von Bildern und die Macht der Sprache mit der Mahnung zur Umkehr konfrontiert.50Damit kennt das Fragment wenige in haltliche Übereinstimmungen. Auch wenn die Sündhaftigkeit des Menschen bedacht wird, steht die Hoffnung im Vordergrund, dass die Allmacht Gottes die Schöpfung zu einem harmonischen Ende führt. Es wird vom „Aufrichten der Seele“ („...und richtit sy uf mit eynir ganczin hoffenunge ...“) gesprochen, von der Chance des reumüti gen Bekennens und zuletzt von der Zurückführung der Seelen in ihren ursprüng lich göttlichen Zustand. Auf dieser Grundlage wird das Bild, vom sich bildenden Königsstuhl geschaffen, wobei nicht ganz klar wird, ob die ineinander verschränkte Darstellung von der „Seelensubstanz“ des göttlichen Throns oder die Schaffung eines göttlichen Leibes aus den in Reinheit wieder erstandenen Seelen das Verwischen der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt im paradiesischen Zustand skizziert werden soll. Zunächst sind alle diese Bilder positiv besetzt, die Predigt folgt der Vorstellung, von der Herrlichkeit Gottes und den wunderbaren Wandlungen der Schöpfung zu berichten. Wie wohl der Aufruf zur Umkehr heraus zu hören ist, bietet das Fragment keine dramatischen Bilder oder Darstellungen. Aber gerade das angedeutete „Verwischen“ zwischen Subjekt und Objekt bedarf noch einer präziseren Ausdeutung. Dabei stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der vorgestellten Gottesfigur und den Menschen, die zum Jüngsten Gericht zu erscheinen haben. Als Geschöpf Gottes - davon ist auszugehen, ohne dass das Fragment diesen kreatürlichen Konnex explizit enthält - tritt der Mensch am Ende der Zeiten dem kommenden Weltenherrscher entgegen. Worüber der Text genaue Vorstellung gibt, ist das, was mit dem Menschen in dem Weltgericht geschieht. Da offenbaren sich jedoch die zwei üblichen Positionen: was schlecht war, stürzt, und was gut war, wird „zu den Seinen gerechnet“ Wie aber muss der Hörer (Leser) sich diesen Prozess genau vorstellen? Zwei Möglichkeiten gilt es zu unterscheiden - „tres non datur“. Das Schlechte wird vernichtet - aber das Gute wird Gott anverwandelt. Die Predigt beschreibt dazu eine regelrechte transformatio. Anverwandelt wird alles um Gott und zu Gott. Der Mensch bleibt nicht als Teil der englischen Chöre, etwa im Rang der Engel zur Verherrlichung vor Gott, sondern nach Vorstellungen des Predigers löst der Mensch sich als Teil Gottes in ihm selbst auf, wiederersteht im Leib Gottes. „...wenne kumt hy uf den stul daz [tuit] hy denne • wen her [ey]n lip het von allir sele von allir craft vo[n] allen creaturen...“ Der Weg von Gott als abgetrenntes (individualisiertes) Einzelwesen und Geschöpf, wie oben mit Hinweis auf die franziskanische Mystik erwähnt, führt zu rück zum Schöpfer. Im Jüngsten Gericht bereitet sich Gott, wie die letzten Zeilen des Fragments eben noch lesen lassen, einen Leib aus allen Seelen, allen Kräften 50 Brall-Tuchel (2001/02), S. 72.
und allen Geschöpfen (d.i. Tieren). Insofern erscheint alles menschliche Handeln, so lange es auf die Erde gerichtet ist - der Mangelhaftigkeit der Welt angemessen, aber als zerstörungswürdig. Gutes Handeln, so wäre der implizite Schluss aus diesem Text - ist nur das Handeln, das auf Gott hin gerichtet ist. Der Mensch selbst - als Individuum, als Persönlichkeit, als ebenbildliche Singularität - existiert nicht nach dieser Vorstellung. Bernhard Jussen51hat mit dem Instrumentarium der historischen Diskursanalyse insbesondere das vermeintlich reziproke Verhältnis von Gabe und Gegengabe zwi schen Gott und den Menschen untersucht. Ausgehend von der Überzeugung, dass sich in diesem Verhältnis auf religiösem Gebiet das landläufige Verhältnis von Dienstund-Lohn reproduziert, hat Jussen dieses anhand von Texten des Frühmittelalters bis zum 12. Jahrhundert bestätigen wollen. Jedoch zeigte es sich, dass der Prozess mit Blick auf das Verhältnis von Gott und den Menschen (in der Frage der Gabe ent halten), der sich in den Köpfen frühmittelalterlicher Theologen abgebildete, komple xer war. Nicht die Gewichtigkeit der Gabe des Menschen, die als Gegenleistung eine Anerkennung Gottes erbittet (z.B. Vergebung von Sünden oder deren Bestrafung), ist ausschlaggebend für die frühmittelalterliche Theologie, sondern die Intention des Menschen, der die Gabe Gott zu bereiten beabsichtigt. Nicht die Gegengabe ist das Korrelat zur Gabe, sondern das „Herz“, die Intention des Menschen.52 In der Darstellung von Jussen ist das Erstaunen über diese ganz andere Bestimmung der Begriffspaare spürbar. Erklärt wird dieses unvermutete Ergebnis durch die Kreatürlichkeit des Menschen. Da der Mensch schon als Geschöpf Gottes beschenkt wurde, kann jede seiner Gaben einem „himmlischen Gegenüber“ nur Rückgabe von durch Gott Geschaffenem sein.53 Demgegenüber ist natürlich die „Gegengabe“ Gottes stets zusätzliche Gabe und erscheint häufig in der Form der Beurteilung oder Bestrafung des Menschen. Diese „Gegengabe“ aber reagiert auf die Intention des Menschen und seine aus ihr resultierenden Tat. Die unmittelbare Anbindung des Menschen als kreatürliches Wesen an seinen Schöpfer entspricht aber den oben skizzierten Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer. Auch in dem von Jussen untersuchten Kontext bleibt keine Position eines eigenständigen, unabhängi gen Individuums bestehen, vielmehr löst sich jede Position für den Menschen auf. Das Gesagte macht vielleicht zunächst verständlich, dass diese Predigt - die offensichtlich sehr frühe Argumentationsmuster bedient - im ausgehenden 14. Jahrhundert zu Makulatur verarbeitet wurde. Aber die Aufgabe früher Positionen, die in diesem Text wohl noch reflektiert wurden, stellt sich zuletzt doch in einem komplizierteren Prozess dar, auf den am Ende der Arbeit noch einmal einzugehen sein wird. Mit der Zuordnung der Fragmente zur Predigt als Gattung werden erste Hinweise auf die Einbindung des (oder der) Texte/s in Traditionen möglich. Jeder Text wird in Verbindung mit der Einschreibung in eine bestimmte Gattung für eine 51 Jussen (2004), S. 91 - 108. 52 Jussen (2004), S. lOlf. 53 Jussen (2004), S. 104.
(oder mehrere54) Gebrauchsfunktion(-en) vorbereitet. Die Gebrauchsfunktion ist aber unabhängig von der Gattung zu denken, da der Wortlaut als gattungsgeprägter Text polyfunktional genutzt werden konnte.55 Die Gebrauchsfunktion aber dispo niert den Text jeweils für die Tradition, in der er von bestimmten sozialen Gruppen rezipiert wurden. Die Tradition aber verbindet sich mit den sozialen Parametern der Rezipientengruppen. Das ist der rezeptionsästhetische Aspekte der Tradition. Insofern kann gesagt werden, dass ein Text in einer bestimmten Tradition steht. In Bezug auf die Herstellung eines Textes verkehren sich die Faktoren. In Hinblick auf die Textentstehung wird jeder Text durch die über die Gebrauchsfunktion vermittelte Tradition in wesentlichen Textmerkmalen bestimmt. Es scheint so, als ließen die Gebrauchsfunktion zusammen mit innertextuellen Gegebenheiten Zusammenhänge aufscheinen, die den Text in seiner Sinnhaftigkeit wahrnehmbar machen. Gestaltungselemente des Textes werden an die Gebrauchsfunktion gekoppelt verfügbar. Gleichzeitig nimmt die Wirkung eines Textes Bezug auf außertextliche Faktoren. Deshalb kann für das Verhältnis von Tradition und Text postuliert werden, dass die an die Gattung gebundene Gebrauchsfunktion jeden Text für eine Tradition disponiert. Mit Blick auf die Rekonstruktionsmöglichkeiten mittelalterlicher Traditionen, sei an dieser Stelle der Versuch unternommen, thesenartig die Gebrauchsfunktion und die Faktoren eines „Rezeptionsrahmens“ für diesen Text zu skizzieren. Dieser Predigttext über das Jüngste Gericht ist ein Dokument mündlicher Rede vielleicht aus dem 14. Jahrhundert, die gerichtet war an Menschen, die einem stadt bürgerlichen Kreis wahrscheinlich aus Brandenburg/Havel entstammten. Das auffal lendste Moment an dem erhaltenen Teil dieser Predigt ist, dass der Predigende eine andere Auffassung vom Jüngsten Gericht vermittelt, als es üblicher Weise der Fall ist. In diesem Fragment wird nicht die drohende Strafgebärde Gottes am „dies irae“ gegenüber den sündigen Menschen betont, sondern die Hoffnung auf die Vergebung der Sünden und auf den Eingang der Menschen ins Paradies, der Erlösungsgedanke wird in diesem Text ausdrücklich formuliert. Diese Tendenz müsste dann für das 14. Jahrhundert für den märkischen Franziskanerorden angenommen werden, die mit der Tradition der drohenden Predigt bricht. Diese Tradition begann nachweisbar mit dem predigtartigen volkssprachlichen Text „muspilli“ (10. Jahrhundert), der offen kundig an ein adliges Publikum gerichtet gewesen war. Bei einem Predigtbruchstück 54 Vgl. Mertens (1991), S. 76-78. 55 In diesem Sinne kann man die Überlegungen von V. Mertens zu den Predigten Hartwigs von Erfurt in Predigtsammlungen, Plenarien und traktatartigen Überarbeitungen verstehen. Mertens macht aufdie Möglichkeit aufmerksam, dass ein Text auch in verschiedenen Gebrauchs fiinktionen ge sehen werden muss, die je nach Rezipientengruppen formalen und auch inhaltlichen Veränderungen unterworfen sind. Diese Veränderungen sind Hinweise darauf, dass jeder Text eben auch zu ver schiedenen Gebrauchsfunktionen herangezogen werden kann. Die jeweilige Rezipientengruppe im Kontext mit dem vorgesehenen Funktionen der Textlektüre erfordert entsprechende textliche Veränderungen. Vgl. hierzu Mertens (1984), S. 667f. Die von Höver zusammengefasste Diskussion (Mertens (1984), S. 684f) macht deutlich, dass die Trennung von Gebrauchsfunktion und Gattung von entscheidender Bedeutung bei dieser Argumentation ist und mit aller Konsequenz beibehalten werden muss.
aus dem 13./14. Jahrhundert, das Haupt mitteilt,56 ist ebenfalls von einem adligen, zumindest ritterlichen Publikum auszugehen, da die Bilder, die der Geistliche für sein endzeitliches Szenarium entwirft, aus der Militär-Reiterei stammen. Die Bilder der Brandenburger Predigt schöpfen sich ausschließlich aus dem natürlichen Umfeld, es wird die Reaktion der Vögel - im Kontext mit Franz von Assisi naheliegend - be schrieben. Die Vögel beginnen, als sie den herannahenden Herren ansichtig werden, Psalmen zu singen. Das Publikum scheint sich nicht aus einer sozialen Klasse zu rekru tieren, das mit Herrschaftszeichen ausgestattet war, wie z.B. den Merkmalen berittener Adliger, sondern das in einer natürlichen Umwelt gelebt hat. Die Hörerschaft könnte aus einer Gruppe von Menschen bestehen, die bereits alle Prüfungen und Härten des irdischen Lebens erlitten hat - wozu sollte eine Prediger vor diesen Menschen noch das Bild eines drohenden Strafgerichts aufbauen? Liegt es nicht näher zu vermu ten, dass der Predigende für die sozial Benachteiligten, denen sich die Franziskaner in besonderer Weise annehmen wollten, ein hoffnungsvolles Bild auf eine bessere Zukunft im Jenseits entwickelt? Damit würden eine Reihe von Faktoren sichtbar, die die Disposition der Predigt verständlich machen, dabei gehen textliche und außer textliche Aspekte Hand in Hand. Jedoch wird an diesem modellhaften Versuch ver ständlich, wie textliche Gegebenheiten und außertextliche Faktoren sich verzahnen. Die Disposition des Textes, seine Gebrauchsfunktion und die sozialen Momente, auf die die Textmerkmale abgestimmt sind, und die auf die soziale Wirklichkeit reflek tiert, greifen in einander. Damit wird deutlich, dass eine Reihe von Merkmalen und Faktoren an der Gattung eines Textes anknüpfen, die für die Erklärung von Traditionen notwendig sind, aber zugleich umgeben sind von einer Anzahl außertextlicher Momente, die es ebenfalls in den Blick zu nehmen gilt. Diese Faktoren müssen mit Blick auf kultur wissenschaftlich zu erfassende Faktoren noch genauer charakterisiert werden, was im Zusammenhang mit den beiden folgenden Texten näher bestimmt wird. Abschließend kann nur vorgeschlagen werden, den bisher unbekannten Text als „Brandenburger Predigt zum Jüngsten Gericht“ zu bezeichnen. 3.2. Exzerpte aus dem Prämonstratenser-Konvent in Brandenburg/Havel
Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 2° 47 (826) Perg. 2° 458 Bll. XV. Jh. (1413/4) Bll. 420ra-421va. Ehemals Prämonstratenser-Konvent Brandenburg/Havel Es handelt sich um ein Arbeitsexemplar57 aus dem Prämonstratenser-Konvent in Brandenburg. Die erhaltenen Exzerpte bilden eine Materialsammlung zur Marienexegese in Anlehnung an Cantica Canticorum 2, 2, die Exzerpte sind wahr scheinlich im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden. 56 Haupt (1846), S. 376ff. 57 Dieser Begriff wurde von Tervooren (2006), S. 270 übernommen.
Der Text ist in eine lateinische Sammelhandschrift aus Pergament mit 458 Blättern eingetragen, die theologische Abhandlungen zusammenfasst. Die Handschrift wird aufbewahrt in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin unter der Signatur Ms. Theol. Lat. 2° 47 (in dem Verzeichnis von V. Rose: Nr. 826), die Exzerpte finden sich auf den Bll. 420ra-421va. Der Texthersteller nutzte freie Blätter des bezeichneten Kodex*. Der Aufbau und die inhaltliche Gliederung lassen vermuten, dass es sich bei diesem Arbeitsmanuskript um Exzerpte aus anderen theologischen Schriften handelt, wobei sich die exzer pierten Quellen nicht haben ausfindig machen lassen. Offensichtlich ging es dem Texthersteller darum, Texte nach zu vollziehen, die eine ausführliche allegorische Exegese der Mutter Gottes zum Thema hatten. Der Text teilt sich thematisch in drei Abschnitte, wobei der dritte Abschnitt sich noch einmal in drei Unterabschnitte glie dert. Zur Orientierung folgt eine kurze inhaltliche Übersicht. Ausgehend von Motiven des Hohenliedes sind einleitend florale Allegorien der Mariengestalt mit den Elementen der Lilie zusammengestellt, darauf folgt eine bi blische Genealogie der Maria aus dem Geschlecht Abrahams. Dieser Teil wird von dem Exzerpierenden lediglich skizziert und nicht vollständig ausgeführt. Den dritten Teil dieser Exzerpte bilden Auslegungen eines jeden einzelnen der fünf Buchstaben des Namens „Maria“ hinsichtlich der Fünf-Zahl,58 dann nach Präfigurationen im Alten Testaments sowie den magischen und medizinischen Bedeutungen von fünf Edelsteinen. Wichtig ist dieser Text, weil er eine Mittelstellung zwischen mehreren Textvorlagen und einem aus ihnen vorzubereitenden Text einnimmt. Damit ist er ein Beleg für den Prozess der Textaneignung. Zugleich wird aber erkennbar, dass durch die Auswertung von offensichtlich mehreren Vorlagen die Fortschreibung eines Textes, der auf den Exzerpten fußt, nicht gesichert ist. Beim Exzerpieren werden verschiedene Arbeitsschritte durch unterschiedliche Sprachschichten erkennbar. Während sich der volkssprachliche Text [zunächst] dicht an die Vorlagen zu halten scheint und sie lediglich unselbständig zu kürzen versucht, gibt der Texthersteller später diese Bearbeitungstendenz zugunsten wachsender Flüchtigkeit auf.59 Außerdem sind strukturierende, korrigierende und kommentie rende Eingriffe in dem Manuskript festzustellen, die auf Lateinisch und zumeist als Marginalie hinzugefügt sind. Dieser Arbeitsvorgang ist ein Eingriff einer korrigie renden Hand, die wahrscheinlich nicht mit dem Texthersteller identisch ist. Es ist 58 Für diese Exegese gibt es in der Spruchdichtung und der geistlichen Lyrik einige Beispiele. Das „Goldene ABC“ des Mönchs von Salzburg ist ein prominentes Beispiel unter vielen anderen. 59 Als Gründe dafür könnten herangezogen werden, dass die Textvorlage möglicher Weise nur für eine kurze Zeit verfügbar, z.B. während des Aufenthaltes eines fremden Geistlichen im Brandenburger Prämonstratenser- Konvent, greifbar war und deshalb von einem Schreibkundigen in kurzer Zeit zusammengefasst wurde. Auch eine kurzzeitige Ausleihe eines Textes oder die Mitnahme des eigenen Kodex in ein anderes Kloster lassen sich erwägen. Einfache Zeitgründe sind ebenfalls nicht auszuschließen. Hieran könnten viele Spekulationen angefügt werden, die Hinweise allein sollen genügen, um verständlich zu machen, dass es vielfältige Erklärungen für die Situation eines solchen Prozesses eiliger Textherstellung gibt, ohne dass sich eine dieser Möglichkeiten er härten ließe.
offensichtlich, dass die Exzerpte in einem zweiten Arbeitsgang auf Fehler durchge sehen und mit Kommentaren für eine weitere Bearbeitung versehen wurden. Wie diese korrigierende Hand zeitlich und in ihrem Verhältnis zum Exzerpierenden ein zuordnen ist, ist nicht festzustellen. Anhand der knappen, kritischen Beurteilung der Darstellung der Figur Nabals, lässt sich vermuten, dass Exzerpierender und Korrektor nicht identisch sind. Zu der Bemerkung über das Verhältnis von Abigail und Nabal in dem genealogischen Abschnitt der Exzerpte „...einer ffrowen, dy heytet Abigail, dy hadde eynen man, dy hit Nabal, von konigh Saul...“ kommentiert der Kommentator der Exzerpte lakonisch am unteren Rand der Seite: „Nabal interpret[atu]r stultus.“ Sehr wahrscheinlich dürfte es sein, dass die Vorlagen dieser Exzerpte in lateini scher Sprache gehalten waren, die Exzerpte sind volkssprachlich, die sie kommentie renden Marginalien stehen wieder in lateinischer Sprache. Dieser mögliche zweifache Sprachwechsel macht das enge Miteinander der lateinischen und deutschen Sprache im klösterlichen Leben des 15. Jahrhunderts und ihre unmittelbare Durchdringung erkennbar. Bei der Suche nach vergleichbaren Aussagen zu bestimmen Motiven dieser Exzerpte in anderen Texten hat sich gezeigt, dass sich keiner der überprüften Texte als Vorlage bestimmen lässt. Wiederholte Widersprüche von Aussagen zwischen den Exzerpten und den möglichen Vorlagen machten es unmöglich, aus den überprüften Texten eine oder mehrere Vorlagen einzukreisen. Weiterhin ist nicht ersichtlich, wie viele Vorlagen ausgewertet wurden. Die Aussagen im Abschnitt der Edelsteinallegorie legt die Vermutung nahe, dass mehrere Vorlagen herangezogen wurden. Welcher Art diese Vorlagen gewesen sind, lässt sich nicht erkennen. Als mögliche Vorlage kom men Predigtsammlungen in Betracht, sowie naturwissenschaftliche oder moraltheo logische Schriften. Sowenig wie Fragen zu den Vorlagen zu verifizieren waren, ist auch die Frage nicht zu beantworten, wofür diese Exzerpte angelegt wurden. Weder ist erkennbar, wie der Text zuende geführt werden sollte. An mehreren Stellen lässt der Texthersteller die Argumentation offen und vermerkt den Ergänzungsbedarf. Die Argumentation der Vorlage wird aufgegeben, wenn es einmal heißt: „expone iterum de Maria Virgine“. An anderer Stelle wird eine zweite angekündigte Auslegung der Perle nicht geliefert, sondern nur vermerkt: „tuo duode“ („zu deuten“). Am Schluss der Exzerpte bricht der Text etwas oberflächlich ab mit der Bemerkung ,,scr[iptum] plura adduto0“. Bei der Prüfung möglicher volkssprachlicher Vorlagen für die Exzerpte sind eine Reihe prominenter Dichtungen ausgeschlossen worden. Der mystische Traktat, der in der Forschung mit dem Titel „Die Lilie“60geführt wird und der vor allem in der niederrheinischen Region gelesen wurde,61 nutzt das 60 Wüst (1909), S. 1 - 63. Ebenso wenig kann die darin abgedruckte Predigt über die Lilie [S. 75-77] als Vorlage angenommen werden. 61 Ein Hinweis auf diesen Text fehlt bei Tervooren (2006).
Bild der Lilie als Christus-Allegorie. Die Mutter Gottes, Maria, erscheint in dem Text nicht.62Auf gravierende Unterschiede ist zudem aufmerksam zu machen. Augenfällig ist die divergierende Beschreibung der Lilie, die beide Texte als Bild auslegen. Spricht der „Lilien“-Text z.B. von einer sechsblättrigen Blüte der Lilie, so beschreiben die Exzerpte die Lilie mit dreiblättriger Blüte. Auch fehlen den Exzerpten Anspielungen auf das Wurzelwerk der Lilie, die der „Lilientext“ sehr ausführlich als „rechte Gedanken“ allegorisiert.63 Auch in einer Predigt über den Evangelisten Johannes, die Johannes Veghe zuge schrieben wird, findet sich folgende Christus-Allegorie: „Cristus is selven de witte, klare, blenckende lilie der puren, lütteren reynicheit. Sijne pure reynicheit en hefft noch beghin noch ende, want se hefft voer al beghin ghewesen. Aldus is cristus eyne forme und exempel aller schoenheit, aller purheit und aller reynicheit. [...] wante syne schoenheit und puerheit de gaet baven de schoenheit aller redeliker creaturen, beide der engele und der menschen. Dar umme mach de mynnende zele myt rechte wal seggen, dat er leef wit und roet sy und utferkoren uth düsenden: wit umme syne blenckenden purheit, roet umme syne hillighen, gloriosen passien.“64 Sowohl das Bild der Lilien steht hier für Christus, andererseits wird die Dichotomie weiß : rot nicht für das Erschrecken Mariens vor der Verkündigung des Engels angesprochen, sondern als Kennzeichnung der Reinheit (weiß) Jesu und der Blutfarbe für sein Martyrium (rot) veranschaulicht. Mit diesem kurzen Hinweis wird erkennbar, dass die Verwendung bestimm ter Motive nicht einer einmaligen Prägung unterliegen, sondern die Bilder durch aus auch andere Bedeutungen übernehmen können. Sowohl die Zuweisung von Maria mit der Lilie verliert durch dieses Gegenbeispiel an Eindeutigkeit, als auch die Farbendichotomie weiß : rot, die in dem Zitat aus der Predigt von Veghe ebenfalls anders ausgedeutet wird. Grundsätzlich ist damit der Gedanke des Umprägens eines Bildes in andere Überlieferungsstränge, also aus der Mariendichtung in die ChristusDichtung oder umgekehrt sowie ganz anderen inhaltlichen Kontexten, nicht ausge schlossen. Beide Bedeutungsstränge können parallel verlaufen und sich sogar gegen seitig verstärken und steigern. Auch die Präfiguration der Maria, die der Lilienallegorese folgt, steht allem Anschein nach singulär da. Die Exzerpte schaffen mit Blick aufden Anfangsbuchstaben des Namens Maria eine Typologie zwischen Maria und der Tochter König Sauls und der späteren Frau König Davids, Mical.65 Dafür beschreiben die Exzerpte Mical als verschwiegene Gebärerin ihres ersten Kindes, zu der König David drei seiner 62 Das Bild Marias als Lilie kennen u.a. der „Pilatus“: „ir küscheit gelichet der liljen an der wize“, s. Massmann (1969), S, 146, VV 96ff. das „Melker Marienlied“: „si ist under den andern so lilium undern dornen“, s. Maurer (1964), S. 357ff. Vgl auch Brandis (1968), S. 210. - Um nur drei Beispiele zu nennen. 63 Wüst (1909), S. 1. 64 Jostes (1883), S. 318f. 65 1. Sam. 18, 20-28.
ausgezeichnetsten Ritter schickt, um der Welt die Geburt öffentlich zu machen. Der gewollte Vergleich zu der Geburt Christi ist nicht zu übersehen, die Ritter stehen für die Heiligen drei Könige. Unabhängig davon, dass die Beziehung zwischen David und Mical kinderlos blieb, charakterisieren mittelalterliche Texte Mical in der Regel als un verständige Frau König Davids.66Dadurch fällt u.a. die Gruppe von volkssprachlichen Übersetzungen des „Speculum humanae salvationis“ (entstanden als lateinischer Text um 1324) aus, auf die sich später u.a. von Konrad von Helmsdorf (wahrscheinlich noch 14. Jahrhundert) und Andreas Kurzmann (gestorben vor 1431) bezogen.67 Die Besonderheit dieser typologischen Festschreibung von Mical und Maria zeichnen die Exzerpte aus, ihre Herkunft ließ sich indes nicht nachweisen. Die Edelsteinallegorien im dritten Abschnitt der Exzerpte sind mit ihren eschatologischen und zugleich heilkundlichen Hinweisen so angelegt, dass man einen Zusammenhang mit dem Werk Konrads von Megenberg und Völmars68oder anderen allegorisierenden Edelsteindichtungen des Mittelalters vermuten kann, wenn auch keines der Werke in den Kontext der von den Exzerpten rezipierten Motivsträngen gehört. Als Beleg für den Ausschluss der genannten Werke als Vorlage sollen im Folgenden knappe Charakterisierungen des Diamanten („Adamas“) und seine typologische Bedeutung sowie einige Angaben zur medizinischen Bedeutung des Agnetsteins angeführt werden. Von der Härte des Diamanten glaubten die Menschen im Mittelalter genau es zu wissen.69 In der weltlichen Literatur des 13. und 14. Jahrhunderts findet sich der Diamant als Symbol der Dauerhaftigkeit, die stets die moralisch vorbildhafte Beständigkeit vertritt.70 Aber auch für die geistliche Literatur blieb das Symbol ver bindlich, wie die Marienlieder des Bruder Hans aus dem 14. Jahrhundert belegen.71 Jedoch wusste die mittelalterliche Wissenschaft von einer Möglichkeit, den harten Stein schneidbar zu machen. Im Parzival wird dieses Wissen in einer Weise eingearbeitet,72wodurch deutlich wird, dass es sich um allgemeines Wissensgut han delt. Dieses Wissen findet sich u.a. in den Exzerpten wieder: 66 Gemäß 2. Sam. 6, 14-23. 67 Die Übertragung von Heinrich Laufenberg dürfte wegen der zeitlichen Folge als Vorlage ausscheiden, Laufenberg ist erst 1460 gestorben, während diese Exzerpte zu Beginn des 15. Jahrhunderts entstanden sind. 68 Die Auseinandersetzung Volmars (Lambel (1877)) mit den kritischen und amüsierten Darstellungen Strickens in dessen Reimpaarrede „von den edelen steinen“ spielt hier nicht herein. Die Nähe zu dem Lapidarium von Albertus Magnus gibt aber auch die Möglichkeit zu bedenken, dass sich der Brandenburger Geistliche auf ein Werk bezieht, dass sich zwischen denen von Albertus Magnus und Konrad von Megenberg befunden hat. 69 z.B. Albertus Magnus: „De lapidibus nominatis et eorum virtutibus.“ Und: Konrad von Megenberg, Luff/Steer (2003), S. 468f. 70 z.B. Heinrich von Morungen: „si ganzer tugende ein adamas" 144,27. 71 Bruder Hans: Marienlieder, V 4962. 72 „ein ritter hete bockes bluot genomen in ein langez glas, daz sluoger üf den adamas: dö wart er weicher danne ein swamp“ - Parzival VV 105, 18-24. Vgl. Erec V 8426. Hugo von Trimberg: Renner VV 18891 ff.
„Dat sulve buokstaff A gheliket sik eynen eddelsteyne de hed adamas [Bl. 421 ra] de is von naturen so krot dat noch ysen noch stael en kan synden wen med bluode van den cyghenbuocke dar merket men en mede wo men en hebbn wil. Alsus is Maria de eddel Addamas dy ern symeonis swert und mengerleye wapen kuonde sy vor veren by volgede gode na wente under dat cruce . dar wart sy ghewuondet mid den cyghenbuocke bludte dat is uns heren Jesum Christi blud.“73 Das naturwissenschaftliche Wissen wird hier konfrontiert mit der Weitabgewandtheit und Beständigkeit Mariens. Trotz zur Verfügung stehender Waffen - hier als Ausdruck von Macht die sie zur Hilfe und Befreiung Christi nicht anruft, folgt sie demütig bis unter das Kreuz und wird von dem Schmerz um ihren gekreuzigten Sohn von dessen Blut verwundet. Dabei fügt der Texthersteller noch einmal ausdrücklich hinzu, dass das Blut des geopferten Lamms, also des „cyghenbuockes bludte“, das Blut Christi ist. Eine etwas anders nuancierte Vorstellung formuliert in dem Zusammenhang von der Zeichnung Marias mit dem Blut Gottes/Christi der Mönch von Salzburg in seiner langen Mariendichtung. Hier heißt es, Gott male mit seinem Herzblut Maria an.74 Das Bild der Jesus folgenden Gottesmutter, die zugleich vom Blut Christi verwun det und benetzt75wird, bleibt in der Mark Brandenburg bildhaft erhalten. Noch in dem Druck des „Marienpsalters“ (um 1490), der nach dem märkischen Zisterzienserkloster Zinna benannt ist, wird dieses Bild als Illustration sehr häufig verwendet.76 Die heilkundliche Wirkung des „agetsteins“soll als Beispiel des letzten Abschnittes der Edelsteinallegorie verdeutlichen, dass die Vorlagen noch nicht greifbar geworden sind. Mit dem Begriff „agetstein“ können zwei unterschiedliche Gesteine bezeich net werden, der Bernstein und der Magnetstein. Durch die Tatsache, dass in den Marienexzerpten vom tiefen Schwarz des Steines77 die Rede ist, muss hier wohl die Bedeutung des Magnetsteins angenommen werden. Seine „magnetisierende“ Wirkung wird zur Erklärung für die sagenhafte Kraft der Sirenen herangezogen, die die Kiele der Schiffe nach ihren Inseln ausrichteten. Das Wechselvolle, was mit dieser magnetisierenden Wirkung verbunden ist, lässt Sigeher in einem seiner Minnelieder davon sprechen, dass die klebende Sünde mit ihrem Agetstein, die Menschen an das Rad des Glückes schmiedet.78Das in der salernischen 73 Textband, S. 15. 74 Spechtler (1972), l,46f. 75 Dieser Gedanke findet sich u.a. auch im sog. 2. Kreuzlied von Walther von der Vogelweide, wenn er dort ausfuhrt: „uns mac din geist enzünden, wirt riuwic herze erkant. din bluot hät uns begozzen, den himel üf geslozzen.“ L 76, 32-35. 76 CD-Rom-Ausgabe der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam. Marienpsalter (2003). 77 In einem mittelniederdeutschen Gedicht findet sich der Kontext zwischen dem Schwarz des Agatsteines und den Farben der Buchstaben „I.N.R.I.“ bei der Kreuzigung Christi. Vgl. Hänselmann (1879), S. 17, Nr. 2, Z. 13. 78 Sigeher In: Hagen (1838) 2,200b.
Tradition der Medizin stehende Arzneibuch aus Klosterneuburg bei Wien berichtet von der gemeinsamen Fähigkeit, Dinge an sich zu ziehen von dem Magnetstein und dem Agstein.79 In den Exzerpten ist es nicht die magnetische Wirkung des Steins, die thema tisiert wird, sondern dem Edelstein wird eine heilende Wirkung für schwindendes Augenlicht bescheinigt: „Vortbat gheliket sik dat suolve buokstaff eyneme eddelensteyne dy heytet Agates. und is der nature weme dy ogen bewassin synt dy schal ene kleyne malen und scal dat duon in daet oghe tuo hant wert hy sende und vor claret syn gesichte und gheliket sik Marien wene vorduostert is syne vornuoflt de scal Marien den eddelen Agates anruopen und tuo hulpe nemen dat syne ogn und syn herte mote reyne werden scriven“ Die hier dem „Agetstein“ zugeschriebene Fähigkeit, die Trübung von Augen zu lindern, findet sich in anderen Edelsteinbüchern als Merkmal des „Swalensteins“. Es könnte noch nach den Eigenschaften, Materielles an sich zu ziehen, wie es den beiden Gesteinssorten dieser Bezeichnung nachgesagt wurde, verständlich sein, dass diese reinigende Kraft in dem „Agates“ vermutet wurde, aber der untersuchte Text belegt einen ganz anderen Rezeptionsstrang für die Bedeutung dieses Steins als die bisher bekannten, die weitgehend von Albertus Magnus und Konrad von Megenberg be gründet sein dürften. Die angeführten Beispiele sollen ausreichen, um deutlich zu machen, dass für keinen der Teile eine Vorlage ausgemacht werden konnte, von der die Exzerpte herge leitet werden könnten. Damit ist die Herkunft der Bilder unklar und die Einordnung in eine oder mehrere Tradition(-en) unmöglich. Aber auch der Gebrauch dieser Exzerpte verschließt sich dem Verständnis des Lesers. Die Exzerpte lassen nicht erkennen, worin die Intention bestand, diese allegorisierenden Bilder für die Heilige Jungfrau zu sammeln. Es bleibt offen, welche Art von Text entstehen sollte. Undeutlich bleibt die angestrebte Argumentation und Intention. Diese Fragen bleiben offen, weil die Exzerpte nicht abgeschlossen sind. Nicht einmal ist ersichtlich, welche Gattung der Text annehmen sollte oder welche Gebrauchsfunktion der neu entstehende Text hätte haben sollen. Es kann aus den Exzerpten ebenso gut eine umfangreiche Predigt entwickelt worden sein, wie ein Traktat, ein Gebet oder eine Erbauungsschrift. Die Intention dieser Exzerpte ist kaum nachzuvollziehen, so dass nicht gesagt werden kann, ob die Exzerpte in einem Zusammenhang stehen mit Diskussionen über Symbole, worauf noch einzugehen sein wird, oder mit der Verteidigung be stimmter Positionen. Abschließend kann nicht einmal ausgeschlossen werden, ob es sich möglicher Weise um eine Studienarbeit innerhalb der Ausbildung eines Geistlichen gehandelt haben könnte, der aufgrund verschiedener Texte das Exzerpieren lernen sollte. Die 79 „alsam der magnet zuo zim ziuhet daz isen und niht anders, unde alsam ein agstein zuo zim ziuhet die vesen“. Benecke (1854/660) Bd. 2,2, S. 613b.
eigenwillig kurze Genealogie, die merkwürdigen Zuschreibungen und Typologien, nicht zuletzt die Korrekturen und lapidaren Kommentare könnten Hinweise dafür sein. Dagegen sprächen allerdings die mehrfachen Vermerke für das Weiterfuhren der Materialsammlung, die bei einer Studienarbeit nicht anzunehmen wären. Alle diese genannten Punkte müssen offen bleiben, weil für den Text, der auf der Grundlage der Exzerpte entstehen sollte, weder eine klare Intention, Disposition noch Gattung abzulesen ist. Erst das Verfassen eines neuen Textes, der aus den Exzerpten fließen sollte, machte verständlich, welche Tradition mit ihm und in welcher Weise fortgeschrieben werden sollte. Die Exzerpte zeigen jedoch exemplarisch, wie in ein zelnen Arbeitsschritten lateinische und volkssprachliche Texte ausgewertet wurden, ohne dass sich ein neuer Textentstehungsprozess nachweisen ließe. Das vorgelegte Arbeitsmanuskript öffnet sich vielfältigen Untersuchungen und ist vor allem durch seine Mittelstellung zwischen unbekannten Vorlagen und nicht zu ersehenden Textintentionen von besonderem Interesse. Der Versuch, für die Exzerpte das Textumfeld in dem lateinischen Kodex nach Hinweisen für ein Verständnis des Textes und seine mögliche Funktion durchzugehen, hat wenig Erfolg. Es lässt sich allerdings feststellen, dass in der Sammelhandschrift eine Reihe von exegetischen Schriften zu den Psalmen und christlichen Symbole ent halten sind. Insofern haben die Exzerpte einen geeigneten Platz, eine Bestimmung ihrer Argumentation, Funktion und Intention lässt sich daraus indes nicht ableiten. Die Handschrift enthält u.a. Schriften von Johannes von Kassel und Henrici de Hassia. Von dem Karmeliter-Prior Johannes von Kassel (~ 1315 bis 1375) ist die „Historia trium regum“ enthalten. Es handelt sich um eine stark erweiterte Überarbeitung der Dreikönigslegende. In der Fassung von Johannes von Kassel wird diese DreiKönigs-Geschichte zu einem historisch-geographischen Werk. Die untersuchte Sammelhandschrift gehört zu den nahezu 65 Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert, die diesen Text überliefern. Die relativ hohe Zahl von Handschriften zeigt, dass diesem Text großes Interesse entgegengebracht worden war und er eine europä ische Ausstrahlung besaß. Eine deutsche Übersetzung dieser drei Königs-Geschichte wurde bereits 1476 gedruckt.80 Von Interesse ist die Tatsache, dass sich Exemplare dieses Textes in Brandenburg und Havelberg ausschließlich in den Bibliotheken der Prämonstratenser-Konvente erhalten haben, es finden sich dagegen keine Exemplare in den Franziskaner-Bibliotheken.81Eine solche Beobachtung kann als erster Hinweis darauf dienen, dass die Orden, die in der Region der Mark Brandenburg aufgetreten waren, unterschiedliche Traditionen pflegten. Ein weiterer Text, der sich in dem Kodex findet, ist ein Traktat über die Stundengebete der Kanoniker, er wird Henrici de Hassia zugeschrieben. Diese Texte dürften zu den Lektüren der Kanoniker des Prämonstratenser-Konvents in 80 Gramer (1990), S. 213. 81 Im Stadtarchiv von Mühlhausen/Ihüringen hat sich eine Papierhandschrift dieses Textes erhalten. Der Codex stammt wahrscheinlich aus dem Franziskaner-Kloster und ist 1443 entstan den. Die Handschrift trägt die Signatur Sig.: 60/21 zu finden. Vgl. hierzu Schipke/Heydeck (2000), Kat.-Nr. 330.
Brandenburg gehört haben. Es besteht ein enger inhaltlicher Bezug, dennoch ist kei ner eine Vorlage der vorgestellten Exzerpte. Weiterhin findet sich in der Handschrift die sog. Legende vom Holz des Kreuzes Christi, „De origine ligni sancte crucis“. Diese »Kreuzholz«-Legenden sind weit ver breitet. Sie stellen ein verbindendes Glied zwischen dem Alten und Neuen Testament dar. Nach ihrem Verständnis sind die Balken des Kreuzes Christi aus einem Baum geschlagen, der aus drei Kernen des Apfels entstand, den Eva im Paradies gepflückt hatte. Diesen Baum hat Seth dann auf das Grab seines Vaters Adam gepflanzt. Von Moses als Stecklinge aus dem Grab Adams gezogen und von König David zum Baum zusammengebunden, hat Salomon den Balken in den Tempel gelegt; Sibylle hat das Holz angebetet, ehe aus seinem Holz das Kreuz gezimmert worden sein soll, an das Christus geschlagen wurde. Auch dieser Text stellt eine nach vielen Seiten offene Allegorie dar, die das Verständnis der biblischen Texte erleichtern und vertiefen sollte. Darüber hinaus findet sich im Kodex eine lateinische Abschrift des Hohen Liedes sowie ein Auszug einer Abhandlung zum Hohen Lied, die Gregorius zugeschrieben wird, zudem lateinische Auslegungen des Vater unsers, zum Ave Maria, ebenso Texte zum Leben Jesu und Marias. Diese Angaben machen Berührungspunkte zwischen den Texten erkennbar, dennoch bildet keiner der aufgeführten lateinischen Texte eine Vorlage für die Exzerpte. Dass sich in diesem Kodex zusätzlich eine Abhandlung über Symbole befin det, ist insofern interessant, da es allem Anschein nach, eine intensive Diskussion über Symbole am Beginn des 15. Jahrhunderts in den Prämonstratenser-Konventen der Mark gegeben zu haben scheint. Bis auf eine kurze 2-seitige Abhandlung82 fin det sich nichts Vergleichbares in den Handschriftenbeständen der FranziskanerBibliotheken der Mark Brandenburg. Im Franziskaner Orden scheint diese Diskussion erst etwas später aufgekommen zu sein, wie einige lateinische Texte aus der Mitte des 15. Jahrhunderts aus den Franziskaner Klöstern vermuten lassen. In diesem Zusammenhang wäre an die Arbeiten des Abtes Stefan Bodecker in Brandenburg zu erinnern.83 Dagegen wurden bei den Prämonstratensern die Schriften von Johannes von Kassel gelesen, wie die vorliegende Handschrift belegt. So befindet sich in ihr eine „Exposicio vigiliarum lob“ (Bll. 1-7) und weitere exegetische Texte von Johannes von Marienwerder: „Expositio symbol apostolorum“ und Gotfrids de Lausanne “De symbolo“ zu den Gebeten des Herrn. In diesem Textumfeld ist der vorliegende Text thematisch und systematisch ein gebettet. Sowohl Fragen des Symbolgehaltes, Text und Auslegung zum Hohen Lied, von dem der exzerpierende Autor seinerseits ausging, als auch Texte zum Marienleben und dem Kreuz Christi bilden das inhaltliche Themenfeld, in das die volkssprachli chen Exzerpte eingebettet sind, obwohl sie auf keinen dieser Texte Bezug zu nehmen scheinen. 82 Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 2° 28 (495), Bll. 249-251 (um 1411). Ehemals FranziskanerKloster in Brandenburg/Havel. 83 Wigger (1992).
Damit ist der Text hinreichend vorgestellt worden. Die mit ihm verbundene Problematik, dass er als Arbeitsmanuskript keine Einsicht eröffnet, welche intentio nalen und funktionalen Aussagen auf der Grundlage der Exzerpte angestrebt wur den, erschwert die Klärung der Frage, in welche Tradition er zu stellen ist. Dass sich aber die Frage nach der Tradition nicht beantworten lässt, liegt vor allem darin, dass seine Gebrauchsfunktion nicht abzulesen ist. So könnten aus den Exzerpten sowohl eine Predigt, wie ein Traktat, wie eine didaktische Dichtung usw. entstehen. Ganz offensichtlich wird, dass unabhängig von der Frage der Gebrauchsfunktion auch die Frage nach der intendierten Gattung nicht zu beantworten ist. Sicher ist zu erken nen, dass beide Ebenen, die der Gattung und die der Gebrauchsfunktion, unabhän gig von einander existieren. Selbstverständlich nehmen beide Ebenen auf einander Bezug, aber sie müssen als gesonderte Aspekte für das Verständnis des Textes und seine Einbindung in eine Tradition angesehen werden. 3.3. Dekaloge
Im Folgenden gilt es anhand einiger Fassungen des Dekalogs einen Wirkungs zusammenhang zwischen stilistisch-gattungsspezifischen Merkmalen und funktional-traditionalen Aspekten heraus zu arbeiten. Dafür werden zwei Dekalog-Versionen gegenübergestellt. Die Vermutung, dass diese Texte durch ihre Anbindung an die biblische Vorlage und Gleichartigkeit des Inhalts weitgehend feststehende Textgebilde darstellen, geht fehl. Fehl geht auch die Abwertung von Jellinghaus: „Einige, kürzere Belehrungen über die Zehn Gebote sind von gähnender Trockenheit.“84Vielmehr lassen sich zwi schen den Gattungsmerkmalen und der jeweiligen Textfunktion Aussagen über den Einsatz der Textfassungen machen, die es wiederum möglich machen, auf die gesell schaftliche Situation zurück zu schließen. Es lassen sich derzeit vier Subtypen von Dekalogtexten unterscheiden: a) in Prosa hergestellte Bibelübersetzungen, b) als Prosatexte verfasste Auslegungen der Zehn Gebote, vielfach als umfang reiche Traktate oder Predigten überliefert; c) nochmals als Prosa kurz gefasste Zusammenstellungen der Zehn Gebote, die keine liturgische Einbindung besitzen, d) gereimte Aufzählungen, deren Funktion noch einzugrenzen sein wird. Von diesen vier Subtypen sollen in diesem Abschnitt zwei diskutiert werden. Außer acht gelassen werden die Übersetzungen (a), denn es liegen keine entsprechen den Texte in der Mark Brandenburg vor, wiewohl sie sicherlich existiert haben dürf ten. Jedoch öffnet sich damit die Diskussion zur Frage der Volkssprachlichkeit der Bibelüberlieferung, die in dieser Arbeit aber beiseite gelassen werden muss. Ebenso unbeachtet bleiben die Auslegungen der Zehn Gebote (b), für diesen Umgang mit dem biblischen Text steht eine zusammenfassenden Untersuchungen noch aus. 84 Jellinghaus (1925), S. 9.
In den Blick genommen wird der Subtyp der von der Bibelübersetzung unabhän gigen Prosafassungen des Dekalogs (c) und dessen gereimte Fassung (d). Von den in Volkssprache abgefassten Dekalogen, die in Versform auftreten, wäre es müßig nach einem Archetypus zu suchen. Ein Vergleich mehrerer gereimter Dekaloge zeigte, dass die Texte hinsichtlich mehrerer Merkmale variieren. Dabei wur de festgestellt, dass die Reihenfolge der Gebote ebenso wenig festliegend ist, wie die Auswahl der aufgeführten Gebote. Die Annahme, dass alle Gebote gleichermaßen in diesen gereimten Dekalogen aufgenommen würden, konnte nicht bestätigt werden. Die Art der Auswahl gibt möglicher Weise Hinweise darauf, für wen die jeweilige Version des Dekalogs verfasst wurden. Zuletzt verbindet sich mit nahezu jedem ge reimten Dekalog eine eigene Textfassung, obwohl der Text aus dem Alten Testament (2. Mos. 20) übernommen werden konnte und im theologischen Rahmen als festge fügter Text erschienen sein dürfte. Diese Kurzfassungen der Zehn Gebote lassen erkennen, dass es vor allem die ge stalterischen und stilistischen Merkmale sind, die den Text für eine Tradition dispo nieren, weil sich aus ihnen die Gebrauchsfunktion ableiten lassen, die an die Gattung gebunden sind. Gereimter Dekalog aus Brandenburg
Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 4° 290 (832) Pap 211 Bll 4° XV. Jh. (1430/31) Bl. 36v ehemals Franziskaner-Kloster in Brandenburg Die gereimte Fassung des Dekalogs fuhrt die Betrachtung in das schwer zu ord nende Feld von Darstellungen und Interpretationen der Zehn Gebote. Vielleicht die wirkungsstärksten Texte dürften im sog. „großen Seelentrost“85gesehen werden oder in dem umfangreichen Werk, das Ulrich von Pottenstein über die Zehn Gebote angelegt hat, von dem nur die monumentale Auslegung des 1. Gebots vorliegt.86Anzumerken wä ren zusätzlich erbauliche und exegetische Schriften, die Geffcken herausgegeben hat.87 Diese aus der Exempelliteratur gespeisten Auslegungen der Zehn Gebote ge hören zur didaktischen Literatur, die entweder Predigtmaterial zur Verfügung stellt oder für geistliche Betrachtungen von Laien bereit stehen. In dieses Feld dürfte auch ein Fragment gehören, das Sprenger 1881 im Niederdeutschen Jahrbuch abdrucken ließ.88 Als ein Zwitter zwischen den gelehrten Interpretationen und den gereimten Aufzählungen der Zehn Gebote ist der gereimte Texte zu verstehen, den Reifferscheid (1885) teilweise zitierte.89 Obwohl es sich um einen gereimten Text handelt, bezieht er größere Auslegungsteile in den Text ein und beschränkt sich nicht auf die gereimte Zitation der Zehn Gebote, die im Folgenden in den Blick kommen sollen. 85 Schmitt (1959). 86 Pottenstein (1995). 87 Geffcken (1855). 88 Sprenger (1881), S. 62-69. 89 Reifferscheid (1885), S. 103f.
Zur Diskussion stehen zwei Fassungen des Dekalogs, die trotz Unterschieden zu sammen untersucht werden sollen. Beide Texte stammen aus der Stadt Brandenburg, jedoch einmal aus dem Franziskaner-Kloster und das andere Mal aus der Bibliothek des dortigen Prämonstratenser-Konvents. Von besonderem Interesse sind die formalen Aspekte des einen Textes. Der fran ziskanische Text umfasst in der hergestellten Fassung 18 Zeilen, die durch Paarreime gebildet wurden. Auffällig sind die scheinbar flüchtig ausgeführten Verse. Sowohl in diesem Text als auch bei Vergleichstexten aus Halberstadt90 und Paris91 (Druck um 1500) fallen unreine Reime ins Auge, die sich nicht dialektal erklären lassen. Der Brandenburger Text kennt den Reim von „recht“ auf „nicht“ (V. llf).92 Es handelt sich im Verständnis der Texthersteller nicht um kunstvoll gestaltete Texte, vielmehr können diese unreinen Reime als gesicherter Hinweis dafür dienen, dass es sich um einen Gebrauchstext handelt. In beiden Fällen lässt sich eine Textarbeit konstatieren, die durch Nachlässigkeit bestimmt ist. Darauf wird einzugehen sein. Als weitere formale Aspekte sind Einleitungsfloskeln und Schlussfloskeln zu nennen, die diese Texte kennen. Der Text franziskanischen Provenienz kennt beide Textzugaben. Er leitet den gereimten Dekalog mit der Verheißung auf das ewige Leben ein, für das als Voraussetzung das Einhalten der Zehn Gebote gilt. Aufschlussreicher erscheint die etwas längere Schlussfloskel. Hier wird ein Zusammenhang hergestellt, die Nächstenliebe als Grundlage für ein „lichtdlikes holden“ der Gebote zu postu lieren. (V. 13Q Dieser positiven Bestimmung lässt der Texthersteller eine drohende Bestimmung folgen. In den VV 14ffwird die bekannte Androhung ewiger Verdammnis aufgegriffen, zu der der Mensch durch drei Gründe verurteilt werden kann: das Brechen der Gebote, das unvorbereitete Sterben bei dem er nicht die Möglichkeit hat, seine Sünden zu beichten noch zu bereuen. Dass der Texthersteller auch hier die beiden Elemente in ihrer Reihenfolge vertauscht, deutet auf die Flüchtigkeit der Textgestaltung hin, denn selbstverständlich bedarf es erst des Schuldbekenntnisses vor dem Beichtvater und dann der Reue vor der Gewalt des eigenen sündhaften Vergehens, um die Chance zu erhalten, nicht zur Hölle verdammt zu werden. Die ab schließende Fürbitte an Gott, die Kraft zu besitzen, die Gebote einhalten zu können, kennt der franziskanische Text als einziger der betrachteten Texte.93 Was allerdings 90 Schmidt, (1876), S. 30f. - Diese Handschrift befindet sich heute in der Sammlung in St. Petersburg. 91 Seelmann (1921), S. 35. 92 Der kürzere Halberstädter Text (s.o. Anm. 90, dort S. 30) kennt den Reim von „gudt: genoth“; der längere Halberstädter Texte (S. 31) eine Reihe von unreinen Reimen: „ernstliken : hymmelrike“ (V. lf); „beleven: eren“ (V. 8f); „doeth: gudt“ (V. lOf); „wessen: geven“ (V. 12f). Der Druck aus Paris (s.o. Anm. 91) besitzt den unreimen Reim: „begheren : leuen“ (V. 20f). 93 Der längere Halberstädter Text (s.o. für alle Anm. 90) beginnt mit einer dreizeiligen Einleitungsfloskel, die wie der Brandenburger Text auf die Verheißung an der Teilhabe am Himmelreich anspielt: „God hefft uns geboden ernstlyken, / wylle wy besytten dat hymmelryke, / so schölle wy holden syne geboth.“ (V. lff). Der kürzere Halberstädter Text kennt nur eine allgemeine Schlussbemerkung auf ein gottge fälliges Leben: „[...] wultu han den wyllen godes leven“. Dagegen formuliert der Pariser Druck von 1500 als Abschluss eher die drohende Formel der Verwehrung [„vorwervestu“ / Verwerfung im
nur bedeuten kann, dass die Fürbitte zum Repertoire der Bestandteile dieser gereim ten Dekaloge gehören konnte und ebenso gut als mündlicher Zusatz nicht notwendi ger Weise fixiert werden musste. Auffällig ist die sprachliche Gestaltung der beiden Ebenen, die dieser Text aus bildet. Die Einleitungsfloskel und die Schlusswendung unterscheiden sich in dem Gebrauch grammatikalischer Formen. Diese beiden Teile, die die Gebote umschlie ßen, verwenden die 1. Person Plural, während der Mittelteil sich auf die Verwendung des Imperativs beschränkt. Damit heben sich die Ebenen, die zugleich auch inhaltliche Differenzen zeigen, sprachlich von einander ab. Gerade der Schlussteil, der ohnehin durch seine Länge von 6 Versen größere Bedeutung für den Text trägt, betont durch die fünffache Nennung des vereinnahmenden „wy“ den Gemeinschaftscharakter des Sprechens.94 Zweierlei scheint damit angedeutet, dass diese Texte ebenso für das ge meindliche Sprechen genutzt werden konnten, wie für den katechetischen Unterricht. Der Hinweis auf die Konzentration der 1. Person Plural gibt zumindest die Möglichkeit an die Hand, in dem Text eine Vorlage für gemeinsames Beten zu sehen. Zu diesen formalen Merkmalen kommen einige inhaltliche Aspekte hinzu, auf die einzugehen ist. Am auffälligsten erscheint die Tatsache, dass die Gebote in einer anderen Reihenfolge erscheinen als sie durch den Bibeltext überliefert und geregelt sind. Bei allen hier verglichenen Texten beginnt der Dekalog stets mit dem 1. Gebot, dem aber in der Regel das 9. Gebot folgt. Mit nahezu feststehender Reihenfolge folgen die Gebote 4 bis 6, ehe dann die weiteren Gebote (3; 7; 8; 10) aufgeführt werden. Es scheint bei der weiteren Anordnung weniger um eine feststehende Folge der Gebote zu gehen. Vielmehr erscheinen die Gebote in unterschiedlicher Folge und sie wie derholen sich z.T. auch. Interessanter als die aufgezählten Gebote erscheint es darauf hinzu weisen, dass in allen verglichenen Texten das 2. Gebot nicht aufgenommen wurde. Die Fragestellung der Verehrung von Sinnbilder als Abgöttern dürfte in die sen Jahrzehnten bereits diskutiert worden sein. Diese Symbolisierung scheint für die Theologen ein wesentliches Problem gewesen zu sein, weshalb sie in diesem Kontext auf die Vollständigkeit der Gebote bewusst verzichtet zu haben scheinen.95 Bei den wiederholten Geboten fällt das mehrfache Betonen des 9. Gebots auf. Das Verbot, eine falsche, möglicherweise belastende Aussage gegen jemanden zu fuhren, scheint ein so drängendes Problem der Zeit gewesen zu sein, dass es den geistlich ge bildeten Textherstellern angemessen erschien, dieses Gebot zweimal in den gereimten Dekalog aufzunehmen. Der Brandenburger Text kennt dieses Gebot in V. 5 und V. 10.96 Im Laufe des 15. Jahrhunderts scheint sich darüber hinaus noch eine weite re Tendenz der Wiederholung von Geboten abzuzeichnen, wie der Vergleich des Sinne von Zurückweisen, Verzichten] des Ewigen Lebens, für den Fall, dass der Gläubige die vorste henden Gebote nicht einzuhalten gedenkt: „[...] Szo vorwervestu van gade dath ewyghe leven.“ 94 Die Halberstädter und Pariser Texte (s.o. Anm. 90 und 91) verwenden in den nämlichen Passagen die 2. Person Singular und dürften damit einer anderen, eher appellativen Diktion folgen. 95 Goebel legt eine Prosafassung eines katechetischen Textes zu den Glaubensbekenntnissen vor, auch hier fehlt eine Ausführung zum 2. Gebot. Goebel (1896), S. 147-149. 96 Der Pariser Druck (s.o. Anm. 91) kennt diese Wiederaufnahme des 9. Gebots in V. 3 und
längeren Halberstädter Textes mit dem Druck aus Paris vermuten lassen. Beide Texte wiederholen nach dem „Anfangsblock“ von 1., 9., 4. - 6. Gebot in auffallen der Nähe innerhalb des Textes die beiden Gebote, die die Wahrung des Besitzstandes vom „Nächsten“ thematisieren, als auch den Ehebruch. Darüber hinaus kennt dieser Halberstädter Text noch einen Zusatzvers, der auf die unmittelbare Nächstenliebe an spielt: „darna unsen negesten gantz sere beleven.“ Die Wiederholungen dieser drei Gebote (7,9,10) kann als Hinweis gesehen wer den, diese Texte in sozialen Kontexten zu vermuten, in denen Menschen sehr nahe und beengt beieinander gewohnt haben, so dass sie beständig mit Nachbarn konfron tiert waren. Es sei deshalb die These gewagt, zu sagen, dass die Wiederholung dieser Gebote als Indiz interpretiert werden kann, die Texte in einem städtischen Kontext zu verorten. Für die beiden Brandenburger Texte gilt dies unmittelbar. Nachdem verschiedene formale und inhaltliche Aspekte dieser Texte beschrie ben wurden, bleibt die Frage, in welchem (städtischen) Zusammenhang diese Texte ihre Funktion entfalten und welche Funktion sie dabei haben konnten. Die Vermittlung von Glaubensinhalten in einfachen sprachlichen Formen dient der Unterweisung, wie der einfache Paarreim, der zur Memorierung der Texte Hilfestellung bot, nahe legt. Eine Vereinheitlichung der Texte lässt sich nicht beob achten, die Textversionen weichen stark von einander ab. Für den Pariser Druck von 150097lässt sich durch den Hinweis auf die anderen Texte, die in diesem Druck gleich falls aufgenommen sind, vermuten, dass es sich um Teile eines Laienkatechismus handelt. Die gereimten Dekaloge können demnach zur Unterweisung städtischer Laien gerechnet werden, weswegen theologische Auslegungen und Argumente von den Textherstellern nicht angeführt wurden. Ein jeder Mensch sollte die Gebote „lichtlich begrypen [mögen] und beholden“.98 Es kann als sicher gelten, dass diese Texte vermutlich im Schulbetrieb für die mündliche Vermittlung der Zehn Gebote genutzt wurden. Nicht den genauen Wortlaut des Bibeltextes hatte der Schüler dem Anschein nach zu präparieren. Von Bedeutung scheint gewesen zu sein, die Gebote in einfacher, kunstloser, eben zur besseren Merkfähigkeit in gereimter Form lernen zu lassen. Die festgestellte Vermittlungsfunktion geht einher mit der Lernbarkeit der Texte und ihrer durch die gereimte Sprache angewendete klanglich-rhythmischen Memorierungstechnik. Die Schriftform diente lediglich der Erleichterung für den un terrichtenden Geistlichen, diese Merkverse nicht seinerseits ständig in Gedichtform repitieren zu müssen. Die Wiederholungen oder Auslassungen von Geboten geben Hinweise auf den sozialen Kontext, in dem die Textfassungen Bedingungen des städ tischen Lebens reflektieren. Die Dichte des städtischen Zusammenlebens mit ihren Konfliktpotenzialen bestimmt die Textfassungen, sie greifen auf die im städtischen Leben gängigen Rechtspraktiken des entschuldenden Eides zurück oder nehmen Bezug auf die üble Nachrede. Diese Elemente spielen in die Fassungen der Texte hinein.
97 Wie Anm. 91. 98 Ebenda.
Der Dekalog im Kontext geistlicher Gerichtsbarkeit
Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 2° 572 (831) Pap 299 Bll. 2° XV. Jh. (um 1428) Bll. 279v-281r Ehemals Franziskaner-Kloster in Brandenburg Ein weiterer Dekalog hat sich in den Resten der brandenburgischen volks sprachlichen Texte erhalten. Er ist enthalten als Abschluss eines Formulars eines geistlichen Sendgerichtes, wahrscheinlich um 1428 notiert. Der Text ist überliefert in einem Sammelband mit juristischen Texten, Exzerpten und Zusammenstellungen, die Hinricus Gotzke veranlasst und gesammelt hatte. Der Kanoniker Gotzke war, nach seinem Studium in Leipzig (belegt 1428/29), als Jurist und später als Offizial in Brandenburg/Havel tätig und ist dort für die Zeit 1433 - ~ 1451 urkundlich erwähnt.99 Der Richter, wahrscheinlich ein ordensgebundener Geistlicher, eröffnet die Sitzung, in dem er in Präliminarien feststellt, nach welcher „Gewohnheit“ das Sendgericht in den Kirchen von Brandenburg abgehalten werden soll. Das dreimalige Läuten eröffnet die Sitzung und bestimmt zugleich, dass alle Handlungen in Worten und Taten zu unterbleiben haben, die die Tätigkeit des Gerichts beeinträchtigen. Hinzu kommt die öffentliche Berufung der Beisitzer (Schöppen), die der Vorsitzende Richter erst nach Eröffnung des Gerichtstermins „to der benck byde[t]“ und denen er im weiteren Verlauf der Eröffnung eine generelle Immunität zuspricht: „Den schepen dy hir geswore hebbe den werke ik hir eyne vrede und vorbide by den banne und des sendes gewedde daz sy nymant schal mishandelen met worde edder met werken na desser tid umme al sulke stucken alse sy hir tu redende hebbnn.“ Die während der Gerichtsverhandlung zur Anwesenheit verpflichteten Bürger und Bauern sprechen nur nach Aufforderung. Danach erklärt der Vorsitzende Richter noch einmal die Funktion des Send gerichtes. Es soll jeder vor dem Gericht Anzeige erstatten können gegen jeden anderen Bürger oder Bauern, der gegen die später aufgeführten kirchlichen Vorschriften ver stoßen haben könnte.100Da es eine allgemeine Anwesenheitspflicht gibt - „Ik manejw offt jwe Borger hyr al synt unde offt yderman synen neyber hir hefft“ und zweimal der Richter auf die Verpflichtung jedes Einzelnen aufmerksam macht, Auskunft zu geben, - ist die Effektivität des geistlichen Gerichtes gegeben. Durch die Anwesenheitspflicht der Stadtbewohner und des umliegenden Bauernlandes besteht die Möglichkeit, dass der Beschuldigte sich an Ort und Stelle rechtfertigen und der Richter einen geistli chen Schiedsspruchs fällen kann. Zugleich wird auf die Bedeutung der Eidleistung vor dem Gericht angesprochen und auf das schwerwiegende Vergehen, einen Meineid zu 99 Rose (1903), S. 922. 100 Um eine Vorstellung von der Befugnis eines solchen Sendgerichtes zu erhalten, seien fol gend zwei Dokumente angeführt: 1.) Der Offizial der Brandenburger Propstei zitiert einen Bauern vor das Sendgericht, der eine Wahrsagerin zu Rate gezogen hat. 6. März 1378. In: Riedel CDB A VIII, S. 318f.; 2.) Ein Mann wird vor das Sendgericht geladen, der eine Nonne geschwängert hat. o.D. In: Riedel CDB A VIII, S. 397f.
schwören. Die Transparenz, mit der dieses Verfahren offengelegt und durchgeführt wird, erstaunt. Es sind im wesentlichen acht Punkte, über die der Richter die versammelte Bürgerschaft und die Bauern abfragt: Rechtfertigen muss sich jeder, der „dy thu synen iaren körnen ist“, der die Beichte und Fastenordnung der Kirche unterlaufen hat. Vergehen, die zum Bann führen oder während eines Bannes zusätzlich begangen wurden, sind meldepflichtig, sowie alle Handlungen, die als Gewalt gegen die Kirche aufzufassen sind. In der Aufzählung der möglichen Vergehen werden namentlich vier Gebote aufgerufen, zu denen sich die Anwesenden äußern müssen. Das sind, der Bruch der Feiertagsheilung (3. Gebot), Kuppelei (8. Gebot), Abgötterei (1. Gebot) und der bereits erwähnte Meineid (7. Gebot).101 Das Formular enthält auch Regelungen zum Abschluss des Sendgerichtes. Nach der schon erwähnten eindringlichen Warnung, sich der Gegenwart und Anwesenheit seiner Nachbarn zu versichern und sich der Bedeutung der Eidleistung gegenüber den Schöppen mit Blick auf einen Meineid bewusst zu sein, wird der Abschluss des Gerichtsverfahrens thematisiert. Der geistliche Richter beschließt die Sitzung im Namen der Trinität. Aber auch hier erstaunt, dass der Ablauf ein öffentliches Aufsagen der Zehn Gebote vorsieht. Der Richter ist angehalten, nach dem sich das „Gerede“ beruhigt hat, die Zehn Gebote öffentlich zu sprechen. Der öffentliche Vortrag der Gebote stellt ein Berufen auf gemeinsame Normen dar, mit denen sich die städtische Gemeinschaft gegenseitig ihres moralischen Fundaments versichert. Ob es sich um ein gemeinsames Sprechen der Versammelten handelt, oder ob eher der Geistliche (pars pro toto) die Stimme für die Gemeinschaft erhebt, ist nicht offenkundig, aber wahrscheinlich. Damit enthält das Formular eine Reihe von Angaben, die Bezug nehmen auf die Faktoren, die zur Wirkungsweise von Traditionen Auskunft geben. Im Verfahren fin den sich keine theologischen Elemente, vielmehr bilden die Gebote den Wertehorizont auf dem diese Gesellschaft ihr gemeinsames Leben konstituiert. Dabei ruft diese ge meinsame Selbstversicherung, die durch die Zehn Gebote geschieht, eine Vorstellung auf, nach der das Gerichtsverfahren den gerechten Zustand wieder herzustellen hat: der Rechtsbruch ist die discordia in der Gemeinschaft, die durch die christlichen Normen in einer gottgefälligen Ordnung lebt. Die Zerspaltung dieser Ordnung durch den Rechtsbruch gilt es im Verfahren wieder zurück zu führen. Durch die gerichtliche Verhandlung und Sühne ordnet sich die Gemeinschaft über die misericordia mit dem Rechtsbrecher und verbrecherischen Sünder erneut einvernehmlich (concordia) und findet auf diesem Weg zum Einklang mit Gott zurück. Die genaue Vorstellung von dem Handlungsablauf und der Zweckbestimmung der einzelnen Teile dieses Formulars macht deutlich, welche Funktion der Dekalog am Ende eines Sendgerichtes annimmt. Auch an diesem Beispiel wird erkennbar, dass erst durch die Kontrastierung der gattungsspezifischen Disposition des Textes (die 101 Ob die Reihenfolge der angesprochenen Gebote ihre soziale Bedeutung reflektiert, in dem sie durch die Häufigkeit an Relevanz gewinnen, muss hier offen bleiben.
Zehn Gebote einmal in gereimter Form und einmal als Prosafassung) unterschiedli che Aufgaben sichtbar werden, die aus dem Text selbst nicht unmittelbar abzulesen sind. Erst das Textumfeld, der katechetische Unterricht auf der einen Seite und das (gemeinsame) Aufsagen der Zehn Gebote am Ende des geistliches Gerichtes auf der anderen Seite, lässt erkennen, dass der inhaltlich weitgehend gleichbleibende Text für seine jeweilige Funktion durch textliche Merkmale disponiert wird. Die Reimform als Memorialtechnik entspricht mittelalterlicher Unterrichtsgepflogenheiten. Der Prosatext am Ende eines Verfahrens eignet sich möglicher Weise als Grundlage eines Aufsagens oder Vorsprechens des Textes in der Gruppe. Sicher ist, dass bei de Formen letztlich zur stadtbürgerlichen Selbstversicherung und geistlichen Vermittlung der gemeinschaftlichen, auch sozial wirksamen Lebensnormen in unter schiedlichen Bezugsrahmen (Schule/Gericht) dienen sollen. Gattungsmerkmale und Gebrauchsfunktionen scheinen aufeinander abgestimmt zu sein. An der bis hierher vorgestellten Argumentation wird deutlich, dass das, was landläufig als Tradition verstanden wird, weniger in dem Aspekt greifbar wird, formale oder stoffliche Bezüge herzustellen, sondern darin, dass sich mit dem Vortrag der Dekaloge soziale Handlungen verbinden, die sich in der Textgestalt, der Gattung und der Gebrauchsfunktion eingezeichnet haben und daher am Text nachvollziehbar sind. Konkret bedeutet das für die Dekaloge, dass sich die christ liche Gesellschaft im gemeinsamen Vortrag der Zehn Gebote auf ihre Normen be sann. In der Schlussinszenierung eines Gerichtsverfahrens geschah vom sozialen Kontext weit mehr. Durch die Anwesenheitspflicht waren zunächst alle beteiligten Laien Beobachter des Sendgerichts, konnten aber durch gegenseitige Anzeige zu Angeklagten und möglicher Weise Verurteilten und zu Anklägern werden. Damit würde sichtbar werden, nach mittelalterlicher Vorstellung, dass die zur Sprache ge brachten Verfehlungen der Anwesenden Ausdruck einer verborgenen Zwietracht innerhalb der Gemeinschaft wäre; diese aufzudecken und zurückzuführen ist die Aufgabe des Sendgerichts. Zunächst sollte sie sichtbar werden durch den ungleichen Status der Anwesenden (Ankläger: Angeklagter). Das Ziel des Sendgerichtes bestand mit Blick auf die Situation der Gemeinschaft, diese Zweitracht zu überwinden und zu nivellieren, um die Mitglieder der Gemeinschaft vor der Kirche, wie dem Glauben in den gleichen Status zurückzuführen. Das gemeinsame Sprechen des Dekalogs ist Ausdruck dafür, dass die Gemeinschaft jede Unterscheidungen ihrer Mitglieder über wunden hat. Die mit den Geboten verbundenen Normen galten für die Mitglieder des Gerichts (Richter und Schöffen), die unbeteiligten Beobachter und die möglicher Weise Verurteilten gleicher maßen. Das heißt, dass die durch ein Vergehen entstande ne discordia in der Sühne vor dem Gericht aufgehoben und die Ordnung Gottes wie der hergestellt wurde vor der alle Anwesenden gleich sind. Dies bedeutet weiterhin, dass der gemeinsame Vortrag nicht nur die Vergewisserung der geltenden Normen ist sondern auch die Herstellung gleichrangiger Mitglieder der Gemeinden und der Aufhebung trennender Vergehen oder Sünden. Traditionen stehen demnach im un mittelbaren Zusammenhang mit sozialen Handlungen und Strukturen und sind nur in diesem Kontext verständlich.
Die Tradition erhebt sich in dem gemeinsamen Vortrag und Vermittlungs bemühungen christlicher Werte. Der hervorgehobene Gemeinschaftscharakter die ser Vermittlungsbemühungen stellt das entscheidende Element für die Tradition dar. Andere Faktoren ordnen sich diesem Verlangen nach Vergemeinschaftung unter. Damit wird erkennbar, was zuvor als die Disposition der Texte durch ihre an der Gattung orientierte Gebrauchsfunktion benannt wurde, sie richtet den Text auf die sozialen Normen und Traditionen aus. 3.4. Liturgische Gebete und Privatgebete
Die Bedeutung dessen, was in dem vorhergehenden Abschnitt als gattungsbestimm te Gebrauchsform bezeichnet wurde, ist noch deutlicher zu klären, in wie weit das Verhältnis dieser Gebrauchsform mit Traditionen näher bestimmt werden kann. Gegenstand der anschließenden Untersuchung sind zwei Gebete, an denen kontrastiv die Einflussnahme der Gebrauchsformen auf die jeweilige Textkonstitution erläutert werden soll. „Praefatio“ des Johannes-Evangeliums aus einer Franziskaner-Handschrift aus dem 1. Drittel des 15. Jahrhunderts
Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 4° 61 (422) Pap. 4° 252 Bll. XV. Jh. (1427) 2 sp. Bl. 242 rb- 242va ehemals Franziskaner-Kloster in Brandenburg Das zur Diskussion stehende Gebet, das sich aus dem Einleitungsteil des JohannesEvangeliums VV 1-14 herleitet, der sog. „Praefatio“: „In principium erat verbum“, ist bereits im 5. Jahrhundert als Gebetstexte genutzt worden. Ablesen lässt sich die Gebetsfunktion dieses Auszug aus dem Johannes-Evangelium darin, dass Augustinus sich dagegen verwahrte, den Gebetstext in einen magischen Spruch zu verwandeln, indem er auf Pergamentreste geschrieben und auf die Stirn gelegt, als Spruch gegen Kopfschmerzen verwendet wurde. Im klösterlichen Leben soll der Eintrag dieses Textes in Codices als Segen zum besonderen Schutz des Buches eingetragen worden sein. Erwähnt werden in der Literatur neben dem kirchlichen Gebrauch - Reinigung der Wöchnerinnen - vor allem außerkirchliche Verwendungen dieses Textes, in dem er wie ein Bannspruch gegen Elementarschäden, gegen geschlechtliches Unvermögen oder zum Schätzegraben herangezogen wurde. Zunächst in lateinischer Sprache gesprochen, ist davon auszugehen, dass dieses Gebet ab dem 12. Jahrhundert auch volkssprachlich existierte. Im mittelniederdeutschen Gebiet sind volkssprachliche schriftliche Fassungen ab dem 14. Jahrhundert belegt. Der Text wurde als Gebet gesprochen und hat offensichtlich unterschiedliche Funktionen innerhalb der Liturgie übernommen. Hervorzuheben ist die Tatsache, dass dieser Abschnitt als Perikopentext in der Weihnachtsliturgie gelesen wurde. Wie schon bei den zuvor besprochenen Dekalog-Texten übernimmt auch dieser Text verschiedene Funktionen als Perikope und Gebetstext und es ist davon auszugehen, dass gerade an
dieser Akzentverschiebung im Gebrauch der Texte etwas sichtbar gemacht werden kann, was das postulierte Wechselverhältnis von gattungsbezogener Gebrauchsfunktion einer seits und Faktoren der Tradition andererseits plausibel macht. Aus den Unterschieden, die an den Texten nachzuzeichnen sein werden, müssten Faktoren greifbar werden und sich näher bestimmen lassen, die auf die Texte einwirken. Betrachtet man einige der Gebetstexte aus dem 14. und 15. Jahrhundert, so wird erkennbar, dass der Text dieses Gebets schon als weitgehend gefestigt angesehen wer den kann. Als Vergleichstexte wurden folgende Fassungen herangezogen: Eine Fassung (a) aus dem Benediktiner-Kloster Benediktbeuren, Anfang 14. Jahrhundert.102 Aus der Mitte des 14. Jahrhunderts eine Fassung (b) aus einem Evangelistar, Berlin, SBB-PK Ms. Germ. Quart. 533, wahrscheinlich aus Thüringen stammend.103 Dann folgt die Brandenburger Fassung (c) aus dem dortigen Franziskaner-Kloster, heute Berlin, SBB-PK Ms. Theol. Lat. 4° 61 (422). Sie ist in einer theologischen Sammelhandschrift enthalten und stammt wahrscheinlich aus dem 1. Drittel des 15. Jahrhunderts. Aus dem ehemaligen Dominikaner-Kloster aus Bremen stammt die Version (d), die Stammler in sein „Mittelniederdeutsches Lesebuch“ auf nahm.104 Wahrscheinlich ist diese um 1490 entstanden. Die jüngste Fassung (e) ist wahrscheinlich um 1500 in Ebstorf niedergeschrieben worden.105 Borchling weist noch eine Anzahl weiterer Fassungen aus dem 15. Jahrhundert nach.106 Unter Heranziehen der fünf oben genannten Zeugen ist die Brandenburger Fassung in einen komplexen Textkonsolidierungsprozess einzuordnen. Als Beispiel sei auf den Vers 8 und Vers 9 dieses Gebets verwiesen, in dem nicht sinntragende Wortumstellungen ebenso sichtbar sind wie Wortveränderungen, die eher auf regio nalsprachliche Besonderheiten („niewer“ : „sundir“ : „men“) oder auf Aspekte der Sprachentwicklung verweisen und für keine möglichen theologischen oder inhaltli chen Veränderungen stehen. 102Schönbach (1904), bes. S. 95-97. München, SB clm 4660 Cod. buranus, Bl. l r. 103 Feudel (1961). 104 Stammler (1921), S. 60. Bei Rosenfeld (1962), S. 180 - trägt diese Handschrift die Sigle „V“. Rosenfeld datiert die Handschrift auf 1480. 105 Schröder (1889), S. 7f. Entgegen der üblichen Annahme, Ebstorf als ZisterzienserinnenKloster zu sehen, das St. Mauritius geweiht war, bezeichnet Schröder (s.o.) das Kloster, als Benediktinerinnen-Kloster. 106 Borchling 1,108: Hamburg, StUB Hs XII, 4°, XV. Jahrhundert, Bll. 152v- 153r. Ehemaliger Beginen-Konvent in Hamburg. - Borchling I, 270: Brüssel, Königl. Bibliothek Nr. 14688, XV. Jahrhundert. - Borchling I, 311: Osnabrück, Bibliothek des Ratsgymnasiums. Mscr. C XVI, Ende XV. Jahrhundert. - Borchling II, 36: Kopenhagen, Königliche Bibliothek GKS 8° 3423, XV. Jahrhundert, Bll .168r ff. - Borchling III, 35: Wolfenbüttel, HAB Cod. Heimst. 1183, Bll. 179v 180r- Borchling III, 70: Wölfenbüttel, HAB Cod. Heimst. 1279, Fol. 238r - 240. - Borchling III, 70: Wolfenbüttel, HAB Cod. Heimst. 1298, Bll. 114v-115v. - Borchling III, 89: Wolfenbüttel, HAB Cod. Heimst. 1329, Bll. 5V- 8V. - Borchling IV, 148ff: Nürnberg, GM Nr. 22403, 12°, 2. Hälfte XV. Jahrhundert. Bll. 289r - 290v. - Löfstedt vermerkt eine Teileintragung einer Hand 8 auf Bl. 205v der Praefatio bis Vers 7 in einer Gebetshandschrift, Wolfenbüttel, HAB Cod. Heimst. 1318, wahrscheinlich aus einem Frauenkloster in Hildesheim, wahrscheinlich XV. Jahrhundert. Löfstedt (1935), S. 4 und 7. - Zwei weitere bei Borchling genannte Zeugen in Nürnberg und Trier ließen sich nicht verifizieren.
Vers 8
A) er was nicht daz liecht niwer daz er ° geziuch ° were ° des liechtes B) nicht waz her daz licht sundir daz her ° bezugete ° ° von dem lichte C) her was nicht dat licht sundern dat hy eyn ruoch ° [was] ° des lichtes D) he was dat licht nicht men dat he ene tuchnisse gheve ° von dem lichte E) he was nicht dat licht men dat he ° tuchnisse gheven scholde van dem lichte Vers 9 A) Daz wäre liecht ist daz ° daz ein igesleichen mennisch erliuchtet der 0 0 0 in disiu weit 0 0 bechumt B) iz waz eyn war licht 0 daz irluchtet eyn iclich mensche der do kumende ist in dese weit 0 0 0 C) it was dat wäre lieh [t] dat dar verluoctet 0 allen minschen dy dar kuomet 0 D) Dat was dat wäre licht dat dar vorluchtet enen iewelcken mynschen de 0 0 0 in desse werlt kamende is 0 E) id was ein wäre licht dat dar vorluchtet 0 alle miszken de dar kumpt 0 in dusse werldt 0 0 0 Neben Stellen wie den zitierten, gibt es auch Verse, die völlig andere Befunde ent halten. Auffällig hierbei sind die beiden W 10 und 13, auf die bereits Schönbach in seinen Abhandlungen zur altdeutschen Predigt eingegangen ist.107Er diskutiert dieses Gebet im Rahmen der Auseinandersetzung mit Berthold von Regensburg und seiner Predigttätigkeit gegen die Katarer. In Vers 13 werden die Betenden hervorgehoben, die sich nicht hinreißen lassen von der Wollust des Blutes oder der des Fleisches, noch sich der Willkür von Männern zu unterwerfen, sondern sich ausschließlich in ihrer Gotteskindschaft verstehen. „noch van des mannes willen suonder dat he van gode gheboren is...“ Eine solche Gebetszeile kann innerhalb eines Männerklosters, und die Variante, die Schönbach diskutiert stammt aus dem Benediktiner-Kloster Benediktbeuren, le diglich missverstanden werden. Nicht „der Willkür unterworfen sein“ könnte sich z.B. auf das Bestrafungsrecht der Äbte bezogen haben und Ungehorsam herausfor dern, eines der schwersten Vergehen innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft.108 Hinzu kommt, dass es im 14. und 15. Jahrhundert keine andere Deutungs möglichkeit des Begriffes „mann“ gibt als die geschlechtsspezifische Bezeichnung für den männlichen Menschen. Die vielleicht noch in altsächsischer oder indogerma nischer Zeit mögliche Bedeutungsvariante, „mann“ als allgemeine Bezeichnung für „Mensch“ zu lesen, ist in dieser Zeit längst ungebräuchlich. Die beiden Zeugen hinge gen, die aus Frauenklöstern stammen (Fassung d + e), aber auch die anderen Fassungen (b + c) kennen diese Phrase selbstverständlich. Mit dieser Formulierung wird also explizit von einer geschlechtsspezifisch festgeschriebenen und sexuell konnotierten 107Schönbach (1904), S. 87-99. 108 Vgl. Benediktinerregeln 7, 34 und 35. Regula benedicti (1996).
Willkür gesprochen, die vom Mann oder von Männern ausgeht und von der der oder die Betende sich unabhängig machen muss gegenüber Gott. Damit erweitert sich der Blick des Betenden nicht unerheblich. Er oder sie soll sich frei machen von den eige nen Begierden und Lüsten, aber auch von allen von außen kommenden Ansprüchen an die eigene Person, diese Ansprüche werden jedoch insbesondere an Vertretern des männlichen Geschlechts festgemacht. Nun war das Franziskaner-Kloster in Brandenburg, aus der die zu bestimmen de Fassung stammt, ein Männerkloster und es stellt sich die Frage, warum in einem Benediktiner-Kloster der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts diese Formulierung möglicher Weise fortgelassen wurde, um Ungehorsam vorzubeugen, dagegen für ein Franziskaner-Kloster des 15. Jahrhunderts diese Textpassage allem Anschein nach nicht fehlen kann. Diesen Prozess kann man beschreiben im Rahmen dessen, was oben als Textkonsolidierung bezeichnet wurde. Textkonsolidierung meint eine Tendenz zur sukzessiven Anpassung und Vereinheitlichung eines (aus dem lateinischen übersetz ten) Textes in seiner Wort- und Motivwahl, in seiner syntaktischen Konstruktion und in seinen inhaltlichen Aspekten. Vielleicht ließe sich thesenartig formulieren, dass die Nähe des Gebetstextes zum Evangelium und der Einsatz des Textes im Rahmen der Liturgie (z.B. als Lektio) es allem Anschein nach unmöglich macht, in den Text einzugreifen oder ihn zu verändern. Das Evangelium und die Perikope bie tet diesen Text mit der entsprechenden lateinischen Formulierung: „Qui non ex sanguinibus. Neque ex voluntate carnis, neque ex volutate viri. Sed ex deo nati sunt“109 dürfte demnach normierend die Textstruktur des Gebetstextes gefestigt haben. Der Evangelientext wird dem Gebetstext übergeordnet und wird damit zum „Normtext“. Das würde die Bedingungen, unter denen der Gebetstext sich entwickeln kann, eingrenzen. Komplexer in ihrer Problematik erscheint die Variante in V 10, auf die Schönbach ebenfalls ausführlich eingeht. Die Betonung der Abhängigkeit der Welt durch ihren Charakter als von Gott geschaffener Raum, lässt die Benediktbeurer Fassung (a) aus. Aus vielerlei Überlegungen vermeinte Schönbach, in diesem Text eine häretische Position ablesen zu können, die er im Kreis der Katarer zu bestimmen können glaub te. Dabei bliebe immer noch die Frage offen, warum gerade in dieser Handschrift, einer gewöhnlichen Gebetshandschrift, ein solch „gefährlicher“ Text festgehalten worden sein sollte. Schumann hat bereits die Argumentation von Schönbach deshalb angezweifelt, weil es sich bei dieser Gebetseintragung um einen Nachtrag handelt.110 Aber die Argumentation von Schönbach bezüglich der Fassung aus Benediktbeuren verliert in dem Moment an Brisanz, in dem festgestellt wird, dass die Handschrift aus Ebstorf eine vergleichbare Fassung birgt. Die Rekonstruktionen von möglichen Argumenten, die Schönbach bietet, werden fadenscheinig, wenn sowohl aus einem Männerkloster wie aus einem Frauenkloster im Abstand von über 150 Jahren zwei Handschriften in zwei weit auseinander liegenden Regionen die nämliche Fassung 109 Zitiert nach der Bildseite 7a des Brandenburger Evangelistars (1961). 1,0 Schumann CB II, 72.
bewahrt wurden. Auch hier gilt, dass die normierende Kraft des Evangeliums wirk sam gewesen sein müsste, dass nämlich dieser Text von den Mönchen oder Nonnen jederzeit in der Bibel nachgelesen werden konnte und natürlich findet sich diese Passage sowohl in den Evangelienabschriften wie in den Perikopen: „In mundo erat et mundus per ipsum factus est et mundus eum non cognovit.. .“ln Die Frage stellt sich, ob der Text im 14. und 15. Jahrhundert möglicher Weise Funktionen in der Liturgie übernahm, die es vielleicht nicht als notwendig erscheinen ließen, an dieser Stelle des Gebetstextes an Gott als Creator der Welt zu erinnern. Zumindest zwei der fünf Zeugen geben einen Hinweis auf die konkrete Gebrauchsfunktion des Textes in der Liturgie. So heißt es in der Benediktbeurer Handschrift: „durch disiu rede des hailigen ewangelii vergebe uons uonser herre alle uonser missetat. amen“1112 Allem Anschein nach steht dieser Textauszug aus der Bibel, worauf dieser Nachsatz der Benediktbeurer Fassung (a) explizit Bezug nimmt („hailigen ewange lii“), im Kontext mit Beicht- und Sühneritualen in Klöstern. Interessant ist, dass die ses Gebet hier mit einer mittelalterlichen Gattungsbezeichnung, der “rede“ bezeichnet wird. Der Texthersteller benutzt keine Bezeichnung für Gebet, was vielleicht zu ver muten wäre, sondern klassifiziert den Text mit dem vieldeutigen Begriff „rede“. Diese Gattungsbezeichnung erfasst die Bedeutung einer Verabredung oder Übereinkunft (was für ein Beichtritual nicht abwegig scheint), aber auch die des Gedichttextes im Gegensatz zur Melodie und schließlich beinhaltete der Begriff die Bedeutung eines Lehrgedichts resp. unstrophisch-konstruierten Reimtextes. Allem Anschein nach wollte der Texthersteller den didaktischen Aspekt dieser Version der Praefatio her ausstreichen und verstand sie als „Lehrtext“ Mit Blick auf die Funktion gibt auch die Brandenburger Fassung (c) einen entsprechenden Hinweis. An den Rand nahe dem Ende des Textes vermerkt der Schreiber: „desse wort de hyr sint ghelesen de muote aflat unser suo[n]de wesen“113 Damit wird deutlich, dass die Lektüre der Praefatio im Zusammenhang mit ei nem Bußritual steht. Die Lesung dieses Abschnitts aus dem Johannesevangelium führt demnach zu einem Ablass von Sünden. Dem Vortrag oder dem stillen Repetieren dieses Gebetstextes wird in diesen beiden Handschriften eine übereinstimmende Funktion zugeschrieben. Die Praefatio als Gebetstext führt in den Zusammenhang eines Beichtrituals: durch die Lektüre werden dem Beichtenden seine Sünden ver geben. Damit übernimmt die Praefatio eine entsprechende Funktion in einem kirchlichen Ritual wie es zuvor am Dekalog im kirchlichen Gericht bestimmt wor den war. Durch das im Beichtritual vorgesehene Bekenntnis der Sünden und das Bereuen dieser Verfehlungen stellt sich der Betende als Angeklagter offensicht lich in den Gegensatz zur Ordnung Gottes. Wie auch in der Predigt zum Jüngsten 111 Zitiert nach: Brandenburger Evangeliar (1961), Bildseite 6. 1.2 Schönbach (1904), S. 96. 1.3 Vgl. Textband, S. 53.
Gericht ist dieses reumütige Bekenntnis Voraussetzung für die Rückführung in die göttliche Ordnung.114 Das Ritual sieht aber nicht nur die ausgrenzende Funktion des Sündenbekenntnisses vor, sondern zugleich auch die Reintegration des sich bekennenden Sünders in die Ordnung. Der Übergang von dem beklagten Sünder zum rehabilitierten Teilhaber der göttlichen Ordnung wird durch die Lektüre der Praefatio gewährleistet. Anknüpfend an die Bedeutung des Wortes als Voraussetzung der Schöpfung und der Schöpfungsordnung durch Gott werden dem Betenden we sentliche Aspekte der Genesis vor Augen geführt und die dagegen sich abgrenzende Verblendung des Menschen vor der Allmacht Gottes unterstrichen. Versteht man den Text in dieser Gebrauchsfunktion, so wird ersichtlich, das ein zelne Texthersteller die Auffassung zu vertreten schienen, dass im Zusammenhang nicht das Amt Gottes als Weltenschöpfer von Bedeutung ist, sondern ausschließlich als Richter. Besonders die Passage, in der davon gesprochen wird, dass das fleischge wordene Wort Gottes - Christus - in seine Schöpfung tritt, deren Mitglieder ihn aber nicht erkennen, spricht von der Gottferne der Menschen, die in ihrer Abhängigkeit von irdischen und fleischlichen Begierden und ihre Verblendung durch eigene Willkürlichkeiten blind zu sein scheinen für die Nähe Gottes. Das ist als Parallelstelle durchaus geeignet für einen Leser dieses Gebets sich seiner eigenen Gottferne - z.B. im Ungehorsam gegenüber den Klosteroberen - als sündhaftes Wesen zu verstehen. Mit Kenntnis von der Funktion des Textes und dem Verständnis, mit dem die ser Text im Mittelalter gesehen wurde, ihn als „Lehrgedicht“ zu verwenden, macht es möglich die Beobachtungen zu den Vers 10 und 13 zusammenzufassen. Deutlich wird, dass die Funktion des Textes sein Verständnis erhellt. Die Bestimmung des Textes als Teil eines Beichtrituals lässt sowohl die sündhafte Gottferne verständlich werden und die Bedeutung Gottes in seinem Richteramt her vortreten. (V 10) Zugleich ist auch die Tatsache, dass die Stärkung des Bewusstseins von der Unabhängigkeit gegenüber eigenen und fremden Ansprüchen, wie sie in V 13 greifbar wurden, Teil des Textes ist und im Zusammenhang mit der Beichte zu ver stehen. Es sollen mögliche Entschuldigungsgründe, warum bestimmte Handlungen von der / vom Beichtenden vollzogen wurden, ausgeschlossen werden. Nach dieser Auffassung scheint die (oder der) Beichtende im stärkeren Maße in Verantwortung für sein Tun zu stehen. Dazu soll offensichtlich ein Text genutzt werden, der stärker seinem Ursprungstext entspricht. Die normierende Kraft des Evangeliums zeigt sich in diesem Gebetstext gehalten von einem Ritual. Dabei wird sichtbar, dass das Ritual nicht in jedem Fall das gleiche gewesen sein muss. Es ist nachzuvollziehen, dass der Text in ein Beichtritual einbezogen war und diese Rituale in Zusammenhang mit dem normierenden Evangelientext den Gebetstext stabilisieren. So steht zu vermu ten, dass in dem Moment, an dem der Text z.B. aus dem Beichtritual entlassen wird, sich der Text verändert. Deutlich wird das an dem Directorium in der Wienhausener 114 Ein vergleichbarer Vorgang wie er bei den Dekalogen zu beobachten war. Wird in den Dekalogen die Reorganisation der Gemeinschaft durch das gemeinsame Sprechen der Gebote hergestellt, das zugleich eine Selbstvergewisserung der Gemeinschaft bedeutet, soll nach dem Sündenbekenntnis und dem Beichtritual der Bekennende durch die Lektüre oder das Aufsagen/ Nachsprechen der „Praefatio“ als Teil der Ordnung Gottes reintegriert werden.
Version. Hier wird der Text der Privatlektüre anempfohlen, der vor dem ersten Sprechen des Tages, demnach stumm gelesen werden sollte, zur Sicherheit des eige nen Lebensraumes beiträgt: „Hir beghinnet sick dat ewangelium des hilghen apostelsz Johannes; we dat alle daghe list, er he spricht, de wart vorwert vor donner, blixem unde aller vorgiftnisse unde vor dem snellen unvorsichtighen dode.“ Damit wird der Gebetstext durch die Nähe zum dogmatisierten Evangelientext gebraucht und durch außertextliche Faktoren bestimmt, so ist ein Text relativ stabil. Löst sich ein Text aus seinem Ritual und wird z.B. als Privatlektüre - also in eine andere Gebrauchsfunktion gestellt - eingebracht, steigt die Bereitschaft des Textes zu Varianten. In diesem Zusammenhang muss der Begriff des Rituals skizziert werden. Ein nicht näher bestimmtes Beichtritual stellt für das besprochene Gebet den außertextli chen Handlungsrahmen dar, in den dieser Gebetstext gestellt wird. „Rituale verstehe ich als kollektive, institutionalisierte und formalisierte zeichen hafte Handlungen durch die soziale Wirklichkeit konstituiert wird. Rituale wer den von einem Kollektiv vollzogen und sind auf die integrierende Partizipation der Mitglieder des Kollektivs ausgerichtet; wer anwesend ist und dem Kollektiv angehört, ist an dem Ritual beteiligt. Institutionalisiert ist die Handlung inso fern, als ihre Rahmenbedingungen und Handlungsträger festgelegt sind und die Handlung als ganze auf Wiederholbarkeit angelegt ist. Formalisiert ist sie darin, dass ihre Handlungsabläufe vorgegeben und gleichbleibend sind: die Einhaltung dieser Abläufe ist für den Zweckder Handlung entscheidend. Soziale Wirklichkeit wird in Ritualen durch zeichenhaftes Handeln konstituiert, [...].115