Tobias Barreto, Sílvio Romero und die Deutschen: Die Rezeption deutschsprachiger Autoren in der brasilianischen Rechtskultur (1869–1889) 3515124462, 9783515124461

Wie gelangten Denk- und Interpretationsfiguren aus der deutschen Zoologie oder der deutschen Rechtswissenschaft nach Bra

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German Pages 234 [242] Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Einleitung
1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien
1.1 Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten in Pernambuco und São Paulo
1.2 Die Figur des Bacharel
1.3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten
2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens
2.1 „Evolution“ als Paradigma
2.2 Der Streit zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus
2.3 Der internationale Kontext: Nationalismus und „Kulturkampf“
2.4 Die portugiesischsprachige „Generation 1870“
2.5 Die Pioniere der „Recife Schule“ und ihr Durchbruch in der brasilianischen Rechtskultur
2.6 Die Bewegung der „Recife Schule“
2.7 Die Nachwirkung der „Recife Schule“
2.8 Der Einfluss Barretos und Romeros auf das Zivilgesetzbuch Beviláquas
2.9 Der Einfluss der „Recife Schule“ auf die Modernisten der 1920er Jahre
3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze
3.1 Die Anfangsjahre in Recife
3.2 Die Geburt des „Deutschen Kämpfers“
3.3 Der politische Aktivist
3.4 Die Rolle als Frauenrechtler
3.5 Die Professur an der Rechtsfakultät
3.6 Die letzten Jahre des Kampfes
4 Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros
4.1 Die Anfangsjahre in Sergipe, Rio de Janeiro und Recife
4.2 Literaturhistoriker und Ethnologe: Die Rückkehr nach Rio
4.3 Das Meisterwerk Geschichte der brasilianischen Literatur und das politische Leben
4.4 Romeros „Ideologie des branqueamento“
5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren
5.1 Die Bedeutung der Revue des Deux Mondes
5.2 Die Bedeutung der Religionskritik
5.3 Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache
5.4 Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes
5.5 Der Bruch mit dem französischen kulturellen Einfluss
5.6 Die Kritik an Alexandre Herculano
5.7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel
6 Barretos Haeckel-Rezeption
6.1 Ernst Haeckel und der Monismus
6.2 „Der Haeckelismus in der Zoologie“
6.3 Die Kritik an Karl Semper
6.4 Barreto als Regionalpolitiker
6.5 Barretos rechtswissenschaftliche Aufnahme von Haeckels Evolutionismus
7 Der „Kampf ums Recht“: Barretos und Romeros Rezeption der rechtssoziologischen Ansätze Jherings
7.1 Barretos erste Begegnung mit Jhering
7.2 Die Vermittlung über französische Medien
7.3 Barretos „neue Intuition des Rechts“
7.4 Der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz
7.5 Barretos Arbeit als Anwalt: Sklaven als Träger von Rechten
7.6 Barretos erste Formulierung eines „Urheberrechts“ in Brasilien
7.7 Barretos monistische Rechtsauffassung und Jherings französische Note in Brasilien
8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien
8.1 Aufklärung und „Rasse“
8.2 Die Biologisierung der menschlichen Unterschiede im 19. Jahrhundert
8.3 Die Rezeption der Rassentheorien in Brasilien
8.4 „Rassen“ und branqueamento im Kontext des Abolitionismus
8.5 Romero und die „Ideologie des branqueamento“
9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels
9.1 Die Bedeutung von „Rasse“ in Romeros Methode der Literaturkritik
9.2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus
Schlussbetrachtung: Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte?
Quellenverzeichnis
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 3515124462, 9783515124461

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Ricardo Borrmann

Tobias Barreto, Sílvio Romero und die Deutschen Die Rezeption deutschsprachiger Autoren in der brasilianischen Rechtskultur (1869–1889) Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte – 109

beiträge zur europäischen überseegeschichte vormals: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte begründet von Rudolf von Albertini, fortgeführt von Eberhard Schmitt, herausgegeben von Markus A. Denzel, Mark Häberlein und Hermann Joseph Hiery Band 109

Tobias Barreto, Sílvio Romero und die Deutschen Die Rezeption deutschsprachiger Autoren in der brasilianischen Rechtskultur (1869–1889) Ricardo Borrmann

Franz Steiner Verlag

Coverabbildung: Postkarte von Tobias Barreto, Jahr unbekannt (18--) Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Biblioteca Nacional, Rio de Janeiro, Brasilien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12446-1 (Print) ISBN 978-3-515-12447-8 (E-Book)

The sands of time were eroded by a river of constant change (Genesis, Firth of Fifth, 1973) Cenilda da Silva Viana, „Nininha“ (1947–2019), in memoriam

Inhalt Danksagung

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Einleitung

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1

Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien 1 1 Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten in Pernambuco und São Paulo 1 2 Die Figur des Bacharel 1 3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten 2 21 22 23 24 25

33 36 41 43

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Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens „Evolution“ als Paradigma Der Streit zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus Der internationale Kontext: Nationalismus und „Kulturkampf “ Die portugiesischsprachige „Generation 1870“ Die Pioniere der „Recife Schule“ und ihr Durchbruch in der brasilianischen Rechtskultur Die Bewegung der „Recife Schule“ Die Nachwirkung der „Recife Schule“ Der Einfluss Barretos und Romeros auf das Zivilgesetzbuch Beviláquas Der Einfluss der „Recife Schule“ auf die Modernisten der 1920er Jahre

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Tobias Barreto: Eine biographische Skizze Die Anfangsjahre in Recife Die Geburt des „Deutschen Kämpfers“ Der politische Aktivist Die Rolle als Frauenrechtler Die Professur an der Rechtsfakultät Die letzten Jahre des Kampfes

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Inhalt

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Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros Die Anfangsjahre in Sergipe, Rio de Janeiro und Recife Literaturhistoriker und Ethnologe: Die Rückkehr nach Rio Das Meisterwerk Geschichte der brasilianischen Literatur und das politische Leben 4 4 Romeros „Ideologie des branqueamento“ 5 51 52 53 54

Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren Die Bedeutung der Revue des Deux Mondes Die Bedeutung der Religionskritik Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes 5 5 Der Bruch mit dem französischen kulturellen Einfluss 5 6 Die Kritik an Alexandre Herculano 5 7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel 6 61 62 63 64 65

Barretos Haeckel-Rezeption Ernst Haeckel und der Monismus „Der Haeckelismus in der Zoologie“ Die Kritik an Karl Semper Barreto als Regionalpolitiker Barretos rechtswissenschaftliche Aufnahme von Haeckels Evolutionismus

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Der „Kampf ums Recht“: Barretos und Romeros Rezeption der rechtssoziologischen Ansätze Jherings Barretos erste Begegnung mit Jhering Die Vermittlung über französische Medien Barretos „neue Intuition des Rechts“ Der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz Barretos Arbeit als Anwalt: Sklaven als Träger von Rechten Barretos erste Formulierung eines „Urheberrechts“ in Brasilien Barretos monistische Rechtsauffassung und Jherings französische Note in Brasilien

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„Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien Aufklärung und „Rasse“ Die Biologisierung der menschlichen Unterschiede im 19 Jahrhundert Die Rezeption der Rassentheorien in Brasilien

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Inhalt

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8 4 „Rassen“ und branqueamento im Kontext des Abolitionismus 8 5 Romero und die „Ideologie des branqueamento“

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9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels 9 1 Die Bedeutung von „Rasse“ in Romeros Methode der Literaturkritik 9 2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus

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Schlussbetrachtung: Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte?

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Quellenverzeichnis

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Danksagung Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich um die Drucklegung meiner Dissertationsschrift, die 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München verteidigt wurde Ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) erlaubte es mir zwischen 2012 und 2016, mich auf mein Forschungsprojekt zu konzentrieren Prof Dr Ursula Prutsch (Erstbetreuerin) und Prof Dr Enrique Rodrigues-Moura (Zweitbetreuer) haben mich auf diesem Weg begleitet Ich danke ihnen und Prof Dr Kärin Nickelsen für die gründliche Begutachtung anlässlich der Disputation Prof Gisálio Cerqueira Filho (Politik) und Prof Gizlene Neder (Geschichte) meiner „Heimatuniversität“ UFF (Universidade Federal Fluminense) in Niterói/Rio de Janeiro haben von Anbeginn zum Aufbau dieses Forschungsprojektes beigetragen Meine Eltern Cristina Tereza Gaulia und Gerd Dieter Borrmann haben mich in meinem Bestreben unterstützt und mir in schwierigen Momenten den Mut gegeben weiterzumachen Mein Bruder Lucas Drummond inspirierte mich durch seinen künstlerischen Umgang mit dem Leben Bärbel und Josef Hilbert sind mir eine zweite Familie geworden und haben meinen Aufenthalt in München mit glücklichen Stunden bereichert Mein engster Familienkreis brachte mir immer wieder große Freude aus der Ferne: die Oma Luise Schulz, Luiz Gaulia, Andrea und Eduarda Nagle sowie Alessandro Monteiro (Mussa) und Monica Loeb Ohne die Hingabe von Nininha (in memoriam) hätte ich es nicht bis hierher geschafft Paulo Sérgio eröffnete mir neue Horizonte Meinen langjährig Vertrauten danke ich für prägende Momente, die Teil meiner Persönlichkeit geworden sind: Daniella Diniz, Marcelo Neder, Gustavo Daou, Pedro Victor Brandão, Julio Costantini, Gustavo Fonseca und Clarisse Kalume Meine Schulfreundinnen und -freunde Felipe Franciss, Carolina São Paulo, Teresa Borges, Breno Faria, Jeannine Velte sowie Bruno Dunker waren stets für mich da, wenn ich sie brauchte Auch meine Freunde aus Deutschland liegen mir sehr am Herzen: der Hamburger Martin Kores sowie aus der „Münchener Zeit“ Thomas Biechl (via Germering) und Pater Jorgiano dos Santos (via Cruzeiro do Sul, in Acre) Den „Freundinnen und Freunden fürs Leben“ des Stipendiaten-Programms, Francisco Prata Gaspar (Chiquinho), Bárbara Thomazella, Patrícia Santos sowie den Chilenen Nico González und Andrés Neumann, bin ich für viele gemeinsame Entdeckungen dankbar Von den

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Danksagung

Kollegen des Laboratório Cidade e Poder (LCP) bzw der Escola de Niterói, Ana Paula Barcelos und Jefferson de Almeida Pinto, habe ich viel gelernt Meine ewige Deutschlehrerin, Monika Hackstein, hat mich beim Studium dieser Sprache unterstützt und gefördert wie keine weitere Bei der Erstellung des Manuskripts konnte ich auf die Expertise von Itacy Nunez zählen Dem „Engel“ Ulla Engelberg sowie Markus Hediger danke ich für ihre sorgfältigen und geduldigen Lektüren Mark Häberlein bin ich für die Vermittlung des Manuskripts zu Dank verpflichtet und den beiden weiteren Herausgebern, Markus A Denzel und Hermann Hiery, für die Aufnahme in die Reihe „Beiträge zur europäischen Überseegeschichte“ Katharina Stüdemann und Sarah-Vanessa Schäfer vom Franz Steiner Verlag setzten sich dafür ein, dass diese Publikation zu einem erfolgreichen Abschluss gelangte Obwohl Wissenschaft stets das Ergebnis eines kollektiven Konstrukts ist, bin ich allein für die Ausführungen in diesem Buch und seine möglichen Schwachpunkte verantwortlich Ich habe diese Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen und gemäß den Regeln der akademischen Kunst geschaffen Bremen, im Juni 2019

Einleitung Deutschsprachiges Gedankengut erfuhr in den letzten Jahrzehnten des 19   Jahrhunderts eine intensive Rezeption in Brasilien 1 Das heißt jedoch nicht, dass deutschsprachige Autoren dort vorher nicht wahrgenommen wurden Als die beiden Naturforscher Carl Friedrich Philipp von Martius (1794–1868) und Johann Baptist von Spix (1781–1826) zwischen 1817 und 1820 durch das südamerikanische Land reisten, stellten sie fest, dass Immanuel Kant (1724–1804) dort bereits bekannt und geschätzt war Die Vermittlung durch die französische Kultur blieb ihnen allerdings auch nicht verborgen – der deutschsprachige Philosoph wurde nämlich über den Umweg französischsprachiger Quellen und Autoren rezipiert 2 Erst ab dem letzten Quartal des 19   Jahrhunderts fand in Brasilien eine systematische Rezeption des deutschsprachigen Gedankenguts im Bereich der Hochkultur (der Philosophie und der Wissenschaft, vor allem der Rechtswissenschaften) statt 3 Ab diesem Zeitpunkt wurden deutschsprachige Autoren, Akademiker und Wissenschaftler zu einem festen Bestandteil des brasilianischen intellektuellen Repertoires 4 1

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Siehe João Cruz Costa, „Tobias Barreto, Ein Verkünder des ‚Germanismus‘ in Brasilien“, in: Egon Schaden und Carlos Fouquet (Hg ), Staden-Jahrbuch – Beiträge zur Brasilkunde (São Paulo: Instituto Hans Staden, 1957), Bd  5, 128–129; ders , „As Novas Idéias“, in: Sérgio Buarque de Holanda und Pedro Moacyr Campos (Hg ), História Geral da Civilização Brasileira, Bd  2: Brasil Monárquico, 1 Teil: Processo de Emancipação (São Paulo: Difusão Européia do Livro, 1962), 179–181; Gilberto Freyre, Nós e a Europa germânica; em torno de alguns aspectos das relações do Brasil com a cultura germânica no decorrer do século XIX (Rio de Janeiro: Grifo Edições, 1971), 22–23, und Riolando Azzi, A crise da cristandade e o projeto liberal (São Paulo: Edições Paulinas, 1991), 96–98 Siehe ebd 89–90 Zur ursprünglichen Rezeption Kants in Brasilien durch französische Autoren siehe vor allem Costa, „Verkünder“, 128–129, und Miguel Reale, „A Doutrina de Kant no Brasil“, in: Adolpho Crippa (Hg ), As idéias filosóficas no Brasil (São Paulo: Convívio, 1978), 225–238 Siehe Freyre, Nós e a Europa germânica, 22–23 Der Begriff „Repertoire“ gehört mittlerweile zum alltäglichen Sprachgebrauch und seine Verwendung als Konzept in den Geisteswissenschaften geht auf die Arbeit des Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002) zurück Er ist eng mit dessen Konzepten von „Habitus“ und „Feld“ in den Geisteswissenschaften verbunden Ein „Repertoire“ markiert eine Reihe von Praktiken, Diskursen und Regeln, die einen bestimmten „Habitus“ prägen Siehe Pierre Bourdieu, Outline of a Theory of Practice (Cambridge: University Press, 2003), 7 Auflage, 2 und 20 Zu einer Vertiefung des Begriffs von „Habitus“ und „Feld“ vor dem Hintergrund von Bourdieus Werk siehe Pierre Guibentif, Foucault, Luhman, Habermas, Bourdieu  – Une génération repense le droit (Paris: L G D J , 2010), 247–299 In der vorliegenden Arbeit wird auf die umfassende Sicht Ann Swindlers verwiesen, die „Reper-

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Einleitung

Dieser Prozess stellte aber damals keine landesweite Tendenz dar Er beschränkte sich zunächst auf die nordöstliche Provinz Pernambuco mit ihrer dynamischen Hauptstadt Recife und wurde von einer besonderen Gruppe junger Intellektueller angestoßen, die zwischen den 1860er und 1870er Jahren ihre Ausbildung an der dortigen Rechtsfakultät erhalten hatten Die führenden Köpfe dieser Gruppe, die später als „Recife Schule“ in die Geschichtsbücher einging, waren die Intellektuellen und Juristen Tobias Barreto (1839–1889) und Sílvio Romero (1851–1914) Die „Recife Schule“ fiel in der französisch geprägten Hochkultur Brasiliens durch eine begeisterte Aufnahme deutschsprachiger Autoren auf 5 Diese „Schule“ brachte neue Denkanstöße und neue Quellen in das intellektuelle Repertoire ein und sorgte für eine Erneuerung und Erweiterung der brasilianischen Wissenschaftskultur, vor allem im Bereich des Rechtsdenkens Barreto und Romero traten für eine wissenschaftliche Weltanschauung jenseits der scholastischen Metaphysik thomistischer Prägung der Jesuiten ein, die die Bildungslandschaft des Landes mit ihren Seminaren zu dieser Zeit noch stark beeinflussten6 und widersetzten sich dem Positivismus französischer Couleur, der innerhalb der brasilianischen intellektuellen Elite sehr populär war 7 Diese Geisteshaltung bewog die beiden Juristen, die Strukturen der Hochschulausbildung in Brasilien zu hinterfragen, die sich auf das Kolonialerbe Portugals und auf die intellektuelle Prägung durch Frankreich stützte Das portugiesische Erbe – beruhend auf Rhetorik, Metaphysik und Naturrechtslehre – hatte sich aufgrund des Einflusses der Universität von Coimbra auch in den brasilianischen Rechtsfakultäten durchgesetzt Vor allem, weil Barreto und Romero dieses portugiesische Kolonialerbe in der Bildung infrage stellten, werden sie zur „Generation 1870“ gezählt,8 die mit kritischen Ein-

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8

toire“ als „‚tool kit‘ of habits, skills, and styles from which people construct strategies of action“ versteht Siehe Ann Swidler, „Culture in Action: Symbols and Strategies“, in: American Sociologial Review 51:2 (Apr 1986), 273–286 Der Begriff „Repertoire“ wird in Bezug auf die brasilianischen Intellektuellen von der Soziologin Angela Alonso in ihrer sozialpolitischen Analyse über die „Generation 1870“ verwendet Siehe dazu Angela Alonso, „Crítica e Contestação: o movimento reformista da geração 1870“, in: Revista Brasileira de Ciências Sociais 15:44 (Okt 2000), 35–55 Siehe Freyre, Nós e a Europa germânica Siehe Fernando Azevedo, A cultura brasileira (Introdução ao Estudo da Cultura no Brasil) (Brasília: UNB, 1963), 4 Auflage, und Maria José Garcia Werebe, „A educação“, in: Sérgio Buarque de Holanda und Pedro Moacyr Campos (Hg ), História Geral da Civilização Brasileira, Bd  2: Brasil Monárquico, 4  Teil: Declínio e Queda do Império (São Paulo: Difusão Européia do Livro, 1971), 366–383 Zu diesem Einfluss des Positivismus, vor allem Auguste Comtes und Emile Littrés, innerhalb der brasilianischen politischen Elite siehe Emília Viotti da Costa, „Brazil: the Age of Reform, 1870– 1889“, in: Leslie Bethell (Hg ), The Cambridge History of Latin America (Cambridge: University Press, 1986), Bd  5: 1870–1930, 749–750 Ab nun zit als CHLA Für die vorliegende Untersuchung wurde der Vorschlag des Literaturkritikers Roberto Venturas übernommen, den Begriff „Generation 1870“ immer in Anführungsstrichen zu verwenden, um die Illusion einer homogenen und einheitlichen Gruppe zu vermeiden Siehe dazu Roberto Ventura, Estilo tropical: história cultural e polêmicas literárias no Brasil, 1870–1914 (São Paulo: Companhia das Letras, 1991), 10 Das Gleiche gilt für den Begriff „Recife Schule“, der im weiteren Verlauf immer in

Einleitung

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sichten für eine Wende im Kulturpanorama der portugiesischsprachigen Welt sorgte 9 Zum ersten Mal wurden deutschsprachige Autoren konsequent und bewusst als intellektuell-politisches Programm rezipiert Diese Rezeption beinhaltete zudem ein Novum: Da Barreto die deutsche Sprache erlernte, konnte er sich die deutschsprachigen Autoren in ihrer Originalsprache aneignen und so die Mediation französischsprachiger Quellen oder Kommentatoren umgehen Die Konsultation der Originaltexte bedeutete eine Zäsur im brasilianischen intellektuellen Repertoire Zu den von Barreto und Romero am häufigsten zitierten deutschsprachigen Autoren zählen der Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering (1818–1892) und der Zoologe Ernst Haeckel (1834–1919), die ihre jeweiligen Disziplinen im 19   Jahrhundert maßgeblich prägten Beide wurden in Brasilien zunächst von Juristen rezipiert und so beeinflussten ihre Denkansätze zuallererst die Rechtskultur Diese überwiegend rechtswissenschaftliche Rezeption ist außergewöhnlich und veranschaulicht die Bedeutung bzw Macht der beiden Rechtsfakultäten in Recife und São Paulo, aber auch den Einfluss der juristischen Kultur auf die brasilianische Geisteslandschaft Bis zum Ende des 19  Jahrhunderts dominierten sie das gesamte Spektrum der brasilianischen Geisteswissenschaften An den beiden Fakultäten ließen sich nicht nur Politiker und Staatsbeamte ausbilden, sondern auch zukünftige Journalisten, Schriftsteller und Künstler 10 Nach der Unabhängigkeit von Portugal im Jahre 1822 wurde Brasilien zum Kaiserreich und von einem Mitglied des portugiesischen Königshauses Braganza regiert Zu der Zeit, als Barreto und Romero das Rechtsstudium in Recife Ende der 1860er bzw Anfang der 1870er Jahre abschlossen, kam es zu einer Staatskrise, die letztlich 1889 zur

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Anführungsstrichen gesetzt wird An dieser Stelle möchte ich auch auf den Soziologen Benedict Anderson hinweisen, der feststellt, dass es sich bei allen „Gemeinschaften“ im Grunde genommen um erfundene Traditionen handelt Siehe Benedict Anderson, Imaginated Communities Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (London u a : Verso, 2002), überarbeitete Auflage Zur Bedeutung der „Generation 1870“ für eine Erneuerung des Kulturpanoramas Brasiliens siehe Antonio Candido, O método crítico de Sílvio Romero (Rio de Janeiro: Ouro sobre Azul, 2006), 45 Die Historikerin Lilia Schwarcz konstatiert, dass die „Generation 1870“ dafür verantwortlich war, Brasilien in die Moderne zu führen, indem sie für ein laizistisches Weltbild mit wissenschaftlicher Prägung eintrat und damit den Bruch mit religiösen Wertvorstellungen herbeiführen wollte Diese Wende wurde, Schwarcz zufolge, durch die Infragestellung der Naturrechtslehre ausgelöst Siehe Lilia Moritz Schwarcz, O espetáculo das raças: cientistas, instituições e questão racial no Brasil – 1870–1930 (São Paulo: Companhia das Letras, 1993), 197 Zur Bedeutung der portugiesischsprachigen „Generation 1870“ und ihrer transatlantischen Verbindungen zu Brasilien siehe Enrique Rodrigues-Moura, „Territorio, Moral y Nación en los pulpitres de la Escuela Olavo Bilac y Manoel Bomfim“, in: ARBOR Ciencia, Pensamiento y Cultura 183:724 (März/April 2007), 227–241 Zur Bedeutung der Rechtsfakultäten in Brasilien siehe vor allem Américo Jacobina Lacombe, „A Cultura Jurídica“, in: Sérgio Buarque de Holanda und Pedro Moacyr Campos (Hg ), História Geral da Civilização Brasileira, Bd  2: Brasil Monárquico, 3 Teil: Reações e Transações (São Paulo: Difusão Européia do Livro, 1967), 363–364; Werebe, „Educação“, 374–375; Alberto Venancio Filho, Das Arcadas ao Bacharelismo: 150 anos de ensino jurídico no Brasil (São Paulo: Perspectiva, 2011), 2  Auflage, und Gizlene Neder, Discurso jurídico e ordem burguesa no Brasil (Porto Alegre: Sergio Antonio Fabris, 1995), 99–130

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Einleitung

Ausrufung der Republik führte und auch Auswirkungen auf das Kulturpanorama Brasiliens zeitigte: Die mit den alten Eliten verbundenen wissenschaftlichen Wertmaßstäbe und Schulen wurden von der „Generation 1870“ als veraltet und rückständig deklariert In der Wirtschaft gerieten die alten Zuckerrohrprovinzen im Nordosten Brasiliens angesichts der wachsenden Macht der Kaffeeproduktion im Südosten ins Wanken Gesellschaftlich wurde die Sklaverei von den Abolitionisten immer mehr infrage gestellt und zunehmend als Hindernis für den Fortschritt des Landes wahrgenommen Weiters bildeten sich tiefe Gräben zwischen Staat und Kirche, die historisch gesehen eine zentrale Säule der politischen Herrschaft darstellte 11 Diese religiös-politischen Konflikte waren allerdings keine Eigenheit Brasiliens, sie verstärkten sich in der gesamten europäisch-christlichen Welt nach dem Ersten Vatikanischen Konzil in den Jahren 1869/1870 und äußerten sich im Streit zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus 12 In Brasilien spitzte sich die parteipolitische Krise mit der Spaltung der traditionellen Liberalen Partei und der darauf folgenden Gründung der ersten Republikanischen Partei 1870 weiter zu 13 Außerdem wurde das Militär nach dem Ende des Paraguayischen Krieges (1864–1870) zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der einen und Paraguay auf der anderen Seite zu einem immer wichtigeren politischen Akteur 14 Vor dem Hintergrund dieser kulturpolitischen Krise leiteten Barreto und Romero die Rezeption deutschsprachiger Autoren ein, die sich im 20  Jahrhundert noch weiter ausbreiten sollte Zielsetzung Im 20  Jahrhundert wurde es in der brasilianischen Rechtskultur zu einem Muss, sich mit deutschsprachigen Autoren zu ‚schmücken‘, wenn auch häufig ohne tiefergehende Kenntnisse ihrer Ideen und Theorien In der Fachliteratur wird der Einfluss deutschsprachiger Rechtstheorien auf brasilianische Juristen immer wieder betont 15 In der

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Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 741, und John Lynch, „The Catholic Church in Latin America, 1830–1930“, in: Bethell, CHLA (1986), Bd  4: 1870–1930, 536 Siehe dazu ebd , 536–537 Wolfram Kaiser, „,Clericalism – that is our enemy!‘: European anticlericalism and the culture wars“, in: Christopher Clark und Wolfram Kaiser (Hg ), Culture Wars: Secular-Catholic Conflict in Nineteenth-Century Europa (Cambridge: University Press, 2003), 47–76 Siehe Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 725 Siehe ebd 757–758, und Richard Graham, „Brazil from the middle of the nineteenth century to the Paraguayan War“, in: CHLA (1985), Bd  3: From Independence to c 1870, 747–794 Siehe etwa Karl Heinsheimer, „Vorwort“, in: Ders , Brasilien Codigo Civil, V–VI; Pontes de Miranda, „Einleitung“, in: Ebd , XVII–XLV; Santiago Dantas, Dois momentos de Rui Barbosa: conferências (Rio de Janeiro: Casa de Rui Barbosa, 1951), 82; Miguel Reale, „Deutsches Rechtsdenken in der Rechtsfakultät von São Paulo“, in: Jürgen Samtleben und Ralf Schmidt (Hg ), Medienrecht, Wirtschaftsrecht und Ausländerrecht im deutsch-brasilianischen Dialog (Frankfurt a M : Lang, 1997), Schriften der Deutsch-Brasilianischen Juristenvereinigung, Bd  25, 17–25; Jan Peter Schmidt, Zi-

Zielsetzung

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Vergangenheit griffen allerdings brasilianische Juristen  – unter ihnen auch prominente Rechtsgelehrte wie Rui Barbosa (1849–1923) oder Augusto Teixeira de Freitas (1816–1883)16 – auf französische Übersetzungen oder Kommentare zurück, wenn sie deutschsprachige Rechtswissenschaftler zitierten 17 Diese Verfahrensweise hat sich bis heute nicht grundsätzlich geändert Nur eine geringe Anzahl von Rechtswissenschaftlern verfügt über ein breitgefächertes Wissen über Diskussionen der deutschen Wissenschaftskultur, sodass nur wenigen bekannt ist, in welchem kulturpolitischen Kontext die Rezeption deutschsprachiger Autoren im 19  Jahrhundert geschah, welche Bedeutung sie in der (Rechts)Kultur des Landes hatte und wem sie ursprünglich zu verdanken ist Die Gewohnheit, deutschsprachiges Gedankengut durch einen französisch-positivistischen (oft konservativen) Filter zu rezipieren, ist ein Charakteristikum der brasilianischen (Rechts)Kultur und ist auf den großen Einfluss des Comte’schen

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vilrechtskodifikation in Brasilien – Strukturfragen und Regelungsprobleme in historisch-vergleichender Perspektive (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009), 36–38; Zeno Velloso, Teixeira de Freitas e Pontes de Miranda (Belém: Unama, 2010), und Jan Peter Schmidt, „Vida e obra de Pontes de Miranda a partir de uma perspectiva alemã – Com especial referência à tricotomia ‚existência, validade e eficácia‘ do negócio jurídico“, in: Revista Fórum de Direito Civil (RFDC) 3:5 ( Jan –April 2014), 135–158 Zu einer kritischen Beschreibung dieses deutschsprachigen Einflusses siehe vor allem Gizlene Neder und Gisálio Cerqueira Filho, Idéias jurídicas e autoridade na família (Rio de Janeiro: Revan, 2007), und Ricardo G Borrmann, „Cultura Política Germânica, Relações de Força e Recepção no Brasil a partir do Pensamento de Rudolf von Jhering, Ernst Haeckel e Hans Kelsen (1879–1939)“, in: Passagens Revista Internacional de História Política e Cultura Jurídica 3:3 (Sept –Dez 2011), 398–414 Häufig wird über die deutschsprachigen Lektüren oder die Prägung des berühmten Juristen und Politikers Rui Barbosa oder über den prägenden Einfluss Friedrich Carl von Savignys (1779–1861) auf die zivilrechtlichen Arbeiten von Augusto Teixeira de Freitas berichtet Siehe Cláudia Lima Marques, „Cem anos de Código Civil Alemão: O BGB de 1896 e o Código Civil Brasileiro de 1916“, in: Revista da Faculdade de Direito da UFRGS 13 (1997), 71–97; Schmidt, Zivilrechtskodifikation, 36; Octavio Luiz Rodrigues Junior, A influência do BGB e da doutrina alemã no direito civil brasileiro do século XX, in: Revista dos Tribunais 938 (Dez 2013), 79–155 Beide gelten als Gründerväter der brasilianischen Rechtswissenschaften, wobei die Bedeutung von Tobias Barreto in der Regel von der Literatur vernachlässigt wird Barbosa wird als „einer der führenden Köpfe der jungen Republik und Autor ihrer Verfassung“ beschrieben Siehe Jan Peter Schmidt, Zivilrechtskodifikation, 43 Weiterhin gilt Barbosa „im öffentlichen Bewusstsein Brasiliens als personifizierte Verfassungsgeschichte der Ersten Republik und als Klassiker des liberalen Konstitutionalismus“ Siehe auch Wolf Paul, s v „Barbosa, Rui (1849–1923)“, in: Michael Stolleis (Hg ), Juristen: ein biographisches Lexikon: von der Antike bis zum 20  Jahrhundert (München: Beck, 1995), 63–64 Zum Mythos rund um die Figur Rui Barbosas siehe Flávia Beatriz Ferreira de Nazareth, „A história intelectual de Rui Barbosa e o habeas corpus“, in: XIV Encontro Regional da ANPUH-RIO – memória e patrimônio (Rio de Janeiro/RJ, 19 –23 Juli 2010), o S Zu einer kritischen Einsicht über den Einfluss deutschsprachiger Rechtswissenschaftler auf Rui Barbosa siehe Neder und Cerqueira Filho, Idéias jurídicas, und dies , „Os filhos da lei“, in: Revista Brasileira da Ciências Sociais (RBCS) 16:45 (Feb 2011), 113–125 Sie griffen aber auf französische Kommentare und Übersetzungen zurück, wenn sie deutschsprachige Rechtswissenschaftler zitierten Siehe Ruy Barbosa, „Introdução do Tradutor“, in: Johann Joseph Ignaz von Döllinger, O Papa e o Concílio: a questão religiosa Por Janus Versão e Introdução de Ruy Barbosa (Rio de Janeiro: Brown & Evaristo 1877), I–CCLXXXV

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Einleitung

Positivismus im 19  Jahrhundert zurückzuführen 18 Der französische Positivismus prägte die brasilianische Wissenschaftskultur nachhaltig, was sich vor allem in der Rechtsgeschichte deutlich zeigt Der Umweg der Rezeption deutschsprachiger Autoren über französische Quellen führte jedoch zu Missverständnissen, verschiedenen Strömungen oder partikulären Appropriationen Seitens der klassischen brasilianischen ideengeschichtlichen Historiographie der 1950er–1970er Jahre wurden solche Rezeptionsprozesse meistens als passiver „Import“ europäischen Gedankenguts interpretiert Die Besonderheiten dieser Aneignungsprozesse, die mit den kulturpolitischen Verhältnissen verbunden waren, werden dabei übersehen Weiterhin wird häufig behauptet, die Rechtskultur in Brasilien sei von deutschsprachigen Rechtstheoretikern stark beeinflusst,19 diese Einflussnahme kulturhistorisch jedoch nicht weiter situiert Nicht selten mündet dies in die vorschnelle Behauptung, das brasilianische Rechtssystem sei „germanisch-römisch“ geprägt So ist aber im 19  Jahrhundert neben dem Einfluss des deutschsprachigen Rechts auf die brasilianischen Rechtswissenschaften auch das französische und portugiesische Erbe in der intellektuellen Kultur Brasiliens bedeutsam Das wirft folgende Fragen auf: Wann wurden deutschsprachige Autoren erstmals in Brasilien intensiv rezipiert und wer waren die Hauptakteure dieser Rezeption? Unter welchen kulturpolitischen Bedingungen wurde diese Rezeption zunächst vollzogen? Ziel der vorliegenden Analyse ist es, den Ursprung der Rezeption deutschsprachiger Autoren in der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte zu identifizieren und sie in ihrem historischen und kulturpolitischen Kontext des 19  Jahrhunderts darzulegen Exemplarisch soll dies anhand der Rezeption der Universitätsprofessoren Ernst Haeckel und Rudolf von Jhering durch die Brasilianer Tobias Barreto und Sílvio Romero untersucht werden Diese Auswahl wurde deshalb getroffen, weil die zentrale Bedeutung dieser beiden Intellektuellen für die brasilianische Wissenschaftskultur heutzutage wenig bekannt ist Die historischen Fundamente der brasilianischen Wissenskultur zu analysieren und dabei den Beitrag deutschsprachiger Wissenschaftler wie Jhering und Haeckel herauszuarbeiten, stellt ein weiteres Ziel der vorliegenden Abhandlung dar Damit soll die Basis der modernen brasilianischen Wissenschaftskultur in historischer Hinsicht kritisch aufgearbeitet werden Hierzu sollen auch die lokalen kulturpolitischen Kräfteverhältnisse näher beleuchtet werden, in deren Rahmen Ideen und Theorien aufgenommen und angeeignet wurden

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Zum Einfluss des Positivismus französischer Prägung in Brasilien siehe vor allem Charles A Hale, „Political and Social Ideas in Latin America, 1870–1930“, in: Bethell, CHLA (1986), 367–441 Siehe auch Ivan Lins, História do positivismo no Brasil (São Paulo: Companhia editora nacional, 1964) Siehe Schmidt, Zivilrechtskodifikation, 36–46, sowie Neder und Cerqueira Filho, Idéias jurídicas, 118–131

Stand der Forschung

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Stand der Forschung Über die Bedeutung von Barreto und Romero für die brasilianische Ideengeschichte wurde bereits viel geschrieben, allerdings fehlt bislang eine Einschätzung der historischen Bedeutung ihrer Rezeption deutschsprachiger Autoren für die Wissenschaftskultur des Landes Die meisten dieser Arbeiten wurden innerhalb des ideengeschichtlichen Paradigmas der 1950er und 1970er Jahre verfasst und das Werk Barretos und Romeros wurde positivistisch in unterschiedlichen Stufen seiner „Evolution“ anhand von geschlossenen Kategorien, wie etwa „Positivismus“, „Eklektizismus“, „Materialismus“, „Evolutionismus“, „Monismus“ und „Kulturalismus“ eingeordnet 20 Die kulturpolitischen Verhältnisse, in denen Barreto und Romero agierten, erhielten nur beschränkte Aufmerksamkeit seitens der Analysen oder wurden gar nicht betrachtet Außerdem wurden die lokalen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen, in die beide Intellektuelle verwickelt waren und die ihre Rezeption grundsätzlich prägten, kaum oder gar nicht wahrgenommen Vielmehr wurde ihr Werk den Denkströmungen der europäischen Philosophiegeschichte des 19  Jahrhunderts gemäß evolutionistisch eingeordnet 21 Ein anderer kritischer Punkt der alten Systematisierungen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts ist das Fehlen kritischer Quellenforschung Die Fachliteratur stützte sich fast ausschließlich auf alte Quellen, bei denen es sich meistens um Berichte und Texte von Barreto und Romero selbst handelte oder von ihren Nachfolgern in der „Recife Schule“ Die politischen Streitigkeiten, in deren Rahmen diese Werke verfasst wurden, wurden dabei jedoch vernachlässigt Aus diesem Grund ist es notwendig, sol20

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Paradigmatisch für diese Tradition sind die folgenden Monographien: João Cruz Costa, Contribuição à história das idéias no Brasil O desenvolvimento da filosofia no Brasil e a evolução histórica nacional (Rio de Janeiro: José Olympio, 1956); Miguel Reale, „O culturalismo da escola do Recife“, in: Horizontes do Direito e da História (São Paulo: Saraiva, 1956); Antonio Paim, A filosofia da Escola do Recife (Rio de Janeiro: Saga, 1966); Paulo Mercadante, A consciência conservadora no Brasil Contribuição ao estudo da formação brasileira (Rio de Janeiro: Civilização Brasileira, 1972), 2  Auflage; Paulo Mercadante und Antonio Paim, Tobias Barreto na cultura brasileira: uma reavaliação, eingeleitet von Miguel Reale (São Paulo: Grijalbo, 1972); Miguel Reale, „Introdução – Significado e Importância do Culturalismo de Tobias Barreto“, in: Ebd , 15–25; Antonio Paim, História das idéias filosóficas no Brasil, eingeleitet von Miguel Reale (São Paulo: Grijalbo, 1974); Paulo Mercadante, „As Raízes do Ecletismo Brasileiro“, in: Crippa, As idéias filosóficas, 59–79, und Nelson Saldanha, „A ‚Escola do Recife‘ na Evolução do Pensamento Brasileiro“, in: Crippa, As idéias filosóficas, 81–114; Miguel Reale, „A cultura no pensamento de Tobias Barreto“, in: Ders (Hg ), O Pensamento de Tobias Barreto Colóquio Lisboa, 4 a 7 de Julho de 1990 (Lisboa: Universidade Nova de Lisboa, FCSH, Instituto Pluridisciplinar de História das Ideias, 1991), 15–20; Vamireh Chacon, Formação das Ciências Sociais no Brasil (Da Escola do Recife ao Código Civil) (Brasília: Paralelo 15, 2008); António Braz Teixeira, „Rumos da Filosofia Jurídica Luso-Brasileira de Oitocentos“, in: António Braz Teixeira und Renato Epifânio (Hg ), A Filosofia Jurídica Luso-Brasileira do século XIX X Colóquio Tobias Barreto (Lisboa: MIL, 2016), 7–30, und José Maurício de Carvalho, „A Filosofia Culturalista do Direito de Tobias Barreto“, in: Ebd , 221–232 Zu einer Kritik dieser Tradition siehe Alonso, „Crítica e contestação“

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Einleitung

che Deutungen zu aktualisieren und Barretos und Romeros Rezeption von Theorien aus dem Ausland und ihre Lesegewohnheiten im Lichte ihres eigenen intellektuellen Werdegangs zu betrachten und die lokalen politisch-ideologischen Spannungen miteinzubeziehen Auf diese Weise können Unterschiede oder Distanzierungen von manchen Theorien und Ideen aus dem Ausland innerhalb dieser neuen politischen Kultur erkannt werden Die Analyse der Rezeption des deutschsprachigen Gedankenguts an den konkreten Beispielen Jhering und Haeckel durch Barreto und Romero bietet eine solche Möglichkeit Die vorliegende Untersuchung zielt insofern darauf ab, eine Alternative zu den alten Deutungen der Ideengeschichte zu erarbeiten und damit ihre positivistischen Kategorisierungen zu hinterfragen Dies wird es erlauben, das Denken der im Fokus stehenden brasilianischen Intellektuellen durch ihre eigenständige Rezeption bestimmter Ideen innerhalb ihrer kulturpolitischen Realität zu interpretieren Die klassischen Interpretationen von Barretos Werk stammen aus den 1950er und 1960er Jahren und wurden von dem katholisch-konservativen Juristen und Philosophen Miguel Reale (1910–2006) angestoßen Laut dessen Deutung rezipierte Barreto nach einer (kurzen) „Phase“ einer positivistischen Kritik an der Metaphysik und an der Scholastik, die ihn an die Lehre Auguste Comtes heranführte, mit großer Begeisterung Haeckels Monismus 22 Am Ende seines Lebens soll Barreto dieser Auffassung zufolge seine monistischen Überzeugungen relativiert und durch die Aufnahme der Philosophie Kants einen „frühen“ Neokantianismus in Brasilien initiiert haben 23 Diese spätere Phase in Barretos intellektuellem Werdegang bezeichnet Reale als „Kulturalismus“, weil Barreto sich hier in seinem Denken angeblich mehr und mehr der Bedeutung menschlicher und kultureller Faktoren im Gegensatz zum „mechanischen“ Drang der Natur gemäß Haeckels Monismus widmete Reale charakterisiert diese Perspektive Barretos als eine Vorrangstellung der ethischen über die physische Ebene,24 was sich gut in die thomistische Tradition eines Jacques Maritains (1882–1973) einfügt,25 der bei katholischen Denkern zu dieser Zeit sehr populär war 26 Eine Analyse von Barretos und Romeros Werk auf der Basis ihrer eigenständigen Rezeption ausländischer Theorien und Autoren wirft hingegen neues Licht auf ihre Werke Deutungen über unterschiedliche „Denkphasen“ und einen „Kulturalismus“ kantischer Prägung seitens Barreto sollen daher nachstehend infrage gestellt werden

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Siehe Miguel Reale, „O culturalismo da escola do Recife“, und Saldanha, „A ‚Escola do Recife‘ na Evolução do Pensamento Brasileiro“, 106–108 Siehe ebd Siehe Reale, „A Doutrina de Kant no Brasil“, 233–236 Maritains Auffassung fand in Brasilien nach dem Zweiten Weltkrieg viele Anhänger, vor allem unter denjenigen, die sich (wie Reale) zuvor mit dem brasilianischen Faschismus (Integralismo) identifizierten, und sich später als katholische Intellektuelle darstellen wollten Siehe Fábio Bertonha, „Corporativist Thinking in Miguel Reale: Readings of Italian Fascism in Brazilian Integralism“, in: Revista Brasileira de História 33:66 (2013), 225–242 Siehe Antonio Carlos Villaça O pensamento católico no Brasil (Rio de Janeiro: Zahar, 1975), 14

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Stattdessen soll hier vielmehr die These vertreten werden, dass Barreto seinen monistischen Überzeugungen zeitlebens treu blieb und dass sein Denken deutliche Anzeichen eines Antiklerikalismus, Antithomismus und zugleich einen politischen Liberalismus aufwies Barretos und Romeros Werke wurden hinsichtlich ihrer Rezeption deutschsprachiger Autoren bisher nie einer ausführlichen Aufarbeitung der Quellen ihrer Lektüren unterzogen Vor allem ignorierten die brasilianischen Forschungen, welche Bedeutung die rezipierten Autoren und Ideen in Europa hatten und waren deshalb nicht in der Lage, die unterschiedlichen Aneignungsprozesse in einem anderen Land nachzuvollziehen Die ideengeschichtlichen Deutungen analysieren die Werke Barretos und Romeros als seien diese einer „philosophischen Evolution“ ausgesetzt gewesen oder als hätten die beiden unterschiedliche „Denkphasen“ durchlaufen 27 Ihre Ideen wurden dabei nicht selten als Kopien oder gar Fälschungen ausländischer Ansätze interpretiert, als unangemessen bezeichnet oder abgewertet Ihre Schriften wurden sogar als „unphilosophisch“, „widersprüchlich“ oder „unsystematisch“ charakterisiert, weil sie sich nicht am Maßstab der philosophiehistorischen Denkgattungen Europas messen ließen 28 Ihr Beitrag für die brasilianische Kultur wurde demzufolge oft unterschätzt oder als zweitrangig bewertet Damit wurde Brasilien aber eine eigene philosophische Tradition abgesprochen, da ihr Fundament demnach nur aus Kopien oder Fälschungen bestanden habe Der sogenannte Mangel an „echten“ philosophischen Debatten bzw Ansätzen wurde dann ebenso Intellektuellen wie Barreto und Romero untergeschoben 29 Diese Lesart führte schließlich dazu, dass die geistige Leistung dieser beiden brasilianischen Intellektuellen für die Kultur ihres Landes unzureichend bewertet wurde, denn der Blickwinkel war deutlich jener der europäischen und eurozentristischen ideengeschichtlichen Kategorien, die einfach auf die brasilianische Geisteskultur übertragen wurden 30 Solche ideenhistorischen Studien aus der Mitte des 20  Jahrhunderts übten einen prägenden Einfluss auf nachfolgende Generationen aus und diese positivistische Lesart spiegelt sich auch in aktuellen Arbeiten wider 31 In der Konsequenz wird das Gedankengut Barretos und Romeros bis heute in „evolutionistischer“ Art und Weise dargestellt und beide werden häufig immer noch als „Positivisten“ oder als „Kulturalisten“ wahrgenommen Solche Interpretationen sind ein Indiz für den nachhaltigen Einfluss des französischen Positivismus (mit seinem Streben nach evolutionistischer Kategorisierung) in der intellektuellen Kultur Brasiliens Die zugrunde liegenden Denkkategorien werden auch heutzutage immer noch verwendet, die politischen Ver27 28 29 30 31

Siehe Paulo Mercadante und Antonio Paim, „Introdução“, in: Tobias Barreto, Estudos de filosofia, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2013), 39–68; Antonio Paim, „A Trajetória Filosófica de Tobias Barreto“, in: Ebd , 439–453 Siehe vor allem Costa, Contribuição Siehe ebd Siehe ders , „Verkünder“ Siehe etwa Teixeira, „Rumos da Filosofia Jurídica“, und Carvalho, „A Filosofia Culturalista“

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Einleitung

hältnisse und individuellen Lebenswegen der konkreten historischen Akteure bleiben unberücksichtigt 32 Es verdankt sich der Literaturkritik und zunächst nicht der Geschichtsschreibung, dass diese ideengeschichtliche Tradition in Brasilien hinterfragt wurde Nachdem Antonio Candido (1918–2017) mit seiner Monographie Formação da Literatura Brasileira33 in den 1950er Jahren erste Schritte in diese Richtung unternommen hatte, setzte eine kritische Auseinandersetzung mit einzelnen Intellektuellen und deren Werken ein 34 Andere Geisteswissenschaftler folgten Candidos Beispiel und analysierten brasilianische Intellektuelle aus dem 19  Jahrhundert in literaturhistorischer oder soziologischer Weise Diese Studien gelangten zu neuen Erkenntnissen, auch über die Rolle Barretos und Romeros für die brasilianische Kultur Vor diesem Hintergrund wurde auch der Beitrag der „Recife Schule“ für die brasilianische Ideengeschichte ab den 1980ern und 1990ern völlig neu bewertet 35 Die Recherchen der Anthropologin Lilia Schwarcz über die Aufnahme von Rassendiskursen in den Rechtsfakultäten, Forschungseinrichtungen und naturwissenschaftlichen Museen, wie etwa dem Museu Nacional in Rio und dem Museu Paulista in São Paulo, verliehen der akademischen Diskussion über die Rezeption evolutionistischer Theorien in Brasilien einen neuen Impuls 36 Zusätzlich hob die Arbeit der Soziologin Angela Alonso Anfang der 2000er Jahre das Wissen über die „Generation 1870“ auf eine neue Ebene:37 Basierend auf Ansätzen der politischen Soziologie Charles Tillys (1929– 2008) analysierte sie diese Generation nicht im Hinblick auf die gelungene Schaffung eines philosophischen Systems, sondern sah deren Innovationen im Geistesleben vielmehr als eine Reaktion auf den Status Quo in einer Zeit der offenen politischen Krise 32

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Auch Reale wurde in den 1930er Jahren in dieser Tradition ausgebildet, die das brasilianische Hochschulsystem stark prägte Vor allem in der Rechtsfakultät von São Paulo, wo er studierte, gab es einen Einfluss des Positivismus französischer Couleur Siehe dazu Schwarcz, Espetáculo, 188–225, und Fernando Augusto Fernandes, Poder e saber: campo jurídico e ideologia (Rio de Janeiro: Revan, 2012), 29–47 Siehe das folgende zweibändige Werk Candidos: Antonio Candido, Formação da literatura brasileira (Momentos decisivos) (São Paulo: Martins Fontes, 1959), Bd  1: 1750–1836, und Bd  2: 1836–1880 Siehe beispielsweise Candidos Monographie über Romeros Methode der Literaturkritik von 1945: Candido, O método crítico Siehe Flora Sussekind und Roberto Ventura, História e dependência: cultura e sociedade em Manoel Bomfim (São Paulo: Ed Moderna, 1984); Roberto Ventura, Escritores, Escravos e Mestiços em um País Tropical – Literatura, historiografia e ensaísmo no Brasil, Beiträge zur Soziologie und Sozialkunde Lateinamerikas, hg von Hanns-Albert Steger, Bd  43 (München: Wilhelm Fink, 1987), 39 Teile von Venturas Promotionsarbeit erschienen Anfang der 1990er Jahre in Brasilien als Buch unter dem Titel Estilo Tropical Siehe Ventura, Estilo tropical Siehe Schwarcz, Espetáculo Siehe Alonso, „Crítica e Contestação“ Alonsos Doktorarbeit wurde 2000 verteidigt und erschien 2002 als Buchpublikation: Dies , Idéias em movimento: a geração de 1870 na crise do Brasil-Império (São Paulo: Paz e Terra, 2002) Das Buch wurde 2015 auch auf Französisch veröffentlicht: Dies , Idées en Mouvement: La génération de 1870 dans la crise du Brésil-Empire (Aix-en-Provence: Le Poisson Volant, 2015)

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der monarchistischen Herrschaft Alonso setzte sich allerdings mit den einzelnen Individuen nur insofern auseinander, als dass sie sie in unterschiedliche Gruppierungen unterteilte und als Teil der „Generation 1870“ betrachtete Die Autorin behandelt individuelle Lebenswege und Rezeptionen in ihrer Studie daher nur indirekt Die ersten biographischen Skizzen über Barreto wurden von seinem engsten Freund, Mitstreiter und Unterstützer Sílvio Romero verfasst Bereits in seinem ersten Buch A Philosophia no Brasil aus dem Jahre 1878 lieferte Romero eine ausführliche Darstellung von Barretos intellektuellem Werdegang In seinem bekanntesten Œuvre, A Historia da Litteratura Brazileira aus dem Jahre 1888, beschrieb er detailliert Barretos Werk 38 Erste Biographien über Barreto erschienen ab den 1930er Jahren Eine der ältesten und bis heute noch eine der umfassendsten Arbeiten ist die Biographie des Juristen Hermes Lima (1902–1978) von 1939, die nach wie vor als Standardwerk gilt 39 Trotz ihrer unbestrittenen Verdienste und zahlreicher wichtiger Erkenntnisse stammen die meisten solcher Untersuchungen jedoch aus den 1930er und 1940er Jahren und gelten in vielfacher Hinsicht als überholt 40 Die jüngste Biographie über Barreto stammt aus dem Jahr 2006 und wurde von Paulo Mercadante (1923–2013) verfasst Sie entspricht der alten ideengeschichtlichen Tradition und gelangt zu keinen neuen 38 39

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Siehe Sylvio Roméro, A Philosophia no Brasil – Ensaio Crítico, Apontamentos para a História da Litteratura Brasileira no Século XIX (Typographia da „Deutsche Zeitung“, 1878), 137–173, und ders , Historia da Litteratura, 1248–1382 Siehe Hermes Lima, Tobias Barreto (A Época e o Homem), Em apêndice o Discurso em mangas de camisa com as notas e adições (São Paulo: Companhia Editora Nacional, 1957), 2 Auflage Eine weitere klassische Monographie über Barreto ist die von Gilberto Amado (1887–1969) von 1934 Gilberto Amado war, wie Barreto, Jurist und gehörte zur Generation des fin-de-siècle Er studierte zu Beginn des 20  Jahrhunderts in Recife Später wurde er, wie Lima, Mitglied der „Brasilianischen Akademie der Schriftsteller“ (ABL) Siehe Gilberto Amado, Tobias Barreto (Rio de Janeiro: Ariel, 1934) Erwähnenswert ist auch die Arbeit des Strafrechtlers Roberto Lira (1902–1982) über Tobias Barreto von 1937 Siehe Roberto Lira, Tobias Barreto, o Homem-Pêndulo (Rio de Janeiro: Companhia Editora Nacional, 1937) Siehe etwa Carlos Süssekind de Mendonça, Sílvio Romero  – Sua formação intelectual 1851–1880 (São Paulo: Companhia Editora Nacional, 1938), und Lima, Tobias Barreto Weitere biographische Daten zu Barreto sind in den folgenden Arbeiten zu finden: Clóvis Beviláqua, Juristas Philosophos (Bahia: Livraria Magalhães, 1897), 107–130; ders , História da Faculdade de Direito do Recife (Brasília: INL, 1977), 2  Auflage, insbesondere ab 348; Luiz Pinto Ferreira, Tobias Barreto e a Nova Escola do Recife (Rio de Janeiro: José Konfino, 1958), 2  Auflage; Mercadante und Paim, Tobias Barreto; Evaristo de Moraes Filho, Medo à utopia: o pensamento social de Tobias Barreto e Sílvio Romero (Rio de Janeiro: Beco do Azougue, 2014); Luiz Antonio Barreto (ab nun als L A Barreto aufgeführt), Tobias Barreto (Aracaju: Sociedade Editorial de Sergipe, 1994) Außerdem befindet sich in jedem Band von Barretos Gesamtwerk eine kleine „Bibliographie“ des Juristen Sie wurde von Luiz Antonio Barreto, einem der Herausgeber, verfasst Dort befindet sich auch eine ausführliche Auflistung von Biographien und Artikeln (in portugiesischer Sprache) über den brasilianischen Intellektuellen Siehe etwa Luiz Antonio Barreto, „Tobias Barreto: uma Biobibliografia“ in: Tobias Barreto, Estudos Alemães, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2012), 11–38 Einträge über Barreto sind ebenso in den folgenden Enzyklopädien zu finden: Stolleis, Juristen, 65–66, und Rafael Domingo (Hg ), Juristas Universales – Juristas del siglo XIX: de Savigny a Kelsen (Madrid: Pons, 2004), Bd  3, 466–468

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Forschungserkenntnissen und liefert auch keine neuen Quellen 41 Der Titel des Werks „Feiticeiro da Tribo“ evoziert Barreto als Zauberer (feiticeiro) – um nicht zu sagen als Schamane – eines exotischen „Stamms“ (tribo), eine Beschreibung, die den Eurozentrismus der Analyse offenkundig zutage treten lässt, anstatt diesen zu hinterfragen Erst in den 1990er Jahren brachte ein europäischer Autor, der italienische Rechtshistoriker Mario Losano, neue Quellen in die Barreto-Studien ein Durch gründliche Forschung in europäischen Archiven gelang es ihm, neue Einsichten vor allem zu Barretos intellektuellem Kreis, zu seiner Wahrnehmung in Deutschland und zu seiner Rezeption von Jherings Ideen zu gewinnen 42 Losano hob die aktive Seite von Barretos eigenständiger, bahnbrechender Aneignung ausländischer Theorien hervor und analysierte sie unabhängig von europäischen Modellen Er bezeichnete Barretos Rezeption als eine „Fusion“ unterschiedlicher Ansätze 43 Allerdings unterliegt auch Losano noch dem nachhaltigen Einfluss Reales (der das Vorwort zu seiner Monographie verfasste) und auch er beendet seinen Aufsatz mit der Aufteilung von Barretos intellektuellem Werdegang in (drei) „Phasen“ 44 Trotz seiner Bedeutung für die Wissenschaftskultur Brasiliens – insbesondere für die Rechtsgeschichte – findet Barreto in der europäischen Literatur kaum Erwähnung Ganz anders als die Sekundärliteratur über Jhering und Haeckel, die äußerst umfangreich ausfällt,45 allerdings gibt es nur wenige Monographien, die sich mit der Rezeption ihrer Ideen in Lateinamerika befassen 46 Die wenigen Studien, die es darüber gibt, setzen sich mit diesem Thema aus der Perspektive eines einfachen „Imports“ von Wissen aus Europa auseinander, ohne die jeweiligen nationalen bzw regionalen politischen Begebenheiten und die ideologischen Verhältnisse der einzelnen Autoren zu

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Siehe Paulo Mercadante, Tobias Barreto: o feiticeiro da tribo (Rio de Janeiro: UniverCidade, 2006) Mario G Losano, „Tobias Barreto und die Rezeption Jherings in Brasilien“, in: Okko Behrends (Hg ), Jherings Rechtsdenken: Theorie und Pragmatik in Dienste evolutionärer Rechtsethik (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996), 77–96 (von nun an zit als „Rezeption“) Auch auf Italienisch als Teil eines vollständigen Bandes über Barreto: Siehe ders , „Tobias Barreto e la recezione di Rudolf von Jhering in Brasile, in: Ders Un giurista tropicale Tobias Barreto fra Brasile reale e Germania ideale (Roma: GLF editori Laterza, 2000), 111–134 Siehe Losano, „Rezeption“, 84 Siehe ebd , 95–96 Zu Rudolf von Jhering siehe etwa die folgenden Bände: Franz Wieacker und Christian Wollschläger, Jherings Erbe Göttinger Symposion zur 150 Wiederkehr des Geburtstages von Rudolf von Jhering (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1970); Behrends, Jherings Rechtsdenken, und Mario Losano, Sistema e estrutura no direito, Bd  1: Das origens à escola histórica (São Paulo: Martins Fontes, 2008) Zu Ernst Haeckel siehe vor allem Olaf Breidbach, Ernst Haeckel: Bilderwelten der Natur (München: Prestel, 2006) und Uwe Hoßfeld, Absolute Ernst Haeckel (Freiburg: Orange Press, 2010) Siehe etwa Losano, „Rezeption“, 77–96; Luis Manuel Lloredo Alix, „Ideología y filosofía en el positivismo jurídico de Rudolf von Jhering“ (Diss Universidad Carlos III de Madrid, 2010) (von nun an zit als „Ideología“), 148–155, und Olaf Breidbach, „Haeckel-Rezeption um 1900“, in: Jürgen John und Justus H Ulbricht (Hg ), Jena – Ein nationaler Erinnerungsort (Köln: Böhlau, 2007), 431–444

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berücksichtigen Rückstrahlende Effekte nach Europa werden dementsprechend noch seltener wahrgenommen 47 Theoretische Ansätze Die vorliegende Untersuchung hat die Absicht, den transatlantischen und historischen Prozess der Rezeption bestimmter europäischer Autoren und Ideen in Brasilien zu analysieren Der Fokus der Abhandlung wird sich auf deren Adaptation bzw Akkulturation auf dem „neuen“ Kontinent richten Deswegen werden die Unterschiede im Zuge solcher Rezeptionen und Aneignungen im Mittelpunkt stehen 48 Die Differenzen weisen auf die Eigenständigkeit der Rezeptionsprozesse in der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte hin und widersprechen der immer noch bestehenden Auffassung eines passiven „Imports“ von Wissen Gleichzeitig schließt dieser theoretische Zugriff weder die Existenz von ungleichen Kräfteverhältnissen noch Machtasymmetrien aus, hauptsächlich wenn es um die Verteilung von Ressourcen und den Zugang zu bestimmten Quellen geht Die Analyse knüpft an eine Reihe von Ansätzen an, die sich in den letzten Jahrzehnten in der Geschichtsschreibung etablierten Hinter dem Ausdruck „Postkolonialismus“ etwa verbirgt sich das von dem Literaturtheoretiker Edward Said (1935–2003) erarbeitete Konzept der cultural resistance 49 Said äußert sich darüber folgendermaßen: 47

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Ausnahmen bilden die folgenden Arbeiten: Mario Losano, Un giurista tropicale Tobias Barreto fra Brasile reale e Germania ideale (Roma: Laterza, 2000); Nelson Papavero, „Fritz Müller e a Comprovação da Teoria de Darwin“, in: Heloisa Maria Bertol u a (Hg ), A Recepção do Darwinismo no Brasil (Rio de Janeiro: Fiocruz, 2003), 29–44; Olaf Breidbach, „The Conceptual Framework of Evolutionary Morphology in the Studies of Ernst Haeckel and Fritz Müller“, in: Theory in Biosciences 124 (2006), 265–280, und Katharina Schmidt-Loske, Christian Westerkamp u a , Fritz und Hermann Müller – Naturforschung Für Darwin Beiträge eines Symposiums im Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig in Bonn 2010 (Rangsdorf: Basilisken-Presse, 2013) Rezeption und Aneignung wird im Sinne von Roger Chartiers Geschichte der Lektüre verstanden Der Autor unterstreicht die aktive Beteiligung des Lesers in einem anderen kulturpolitischen Kontext bei der Sinnkonstruktion von bestimmten Ideen, Theorien und Büchern Siehe dazu Roger Chartier, Lesewelten Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit (Frankfurt a M : Campus, 1990) Siehe Edward W Said, Culture and Imperialism (London: Vintage Books, 1994), xii Die Debatte um den Postkolonialismus dauert mittlerweile bereits seit mehreren Jahrzehnten an Basierend auf Ansätzen des Poststrukturalismus, die auf Michel Foucault (1926–1984) und Jacques Derrida (1930–2004) zurückgehen, beeinflusste das Werk Saids später weitere Autoren, wie etwa Gayatri Chakravorty Spivak, Homi K Bhabha und Terry Eagleton, um nur einige zu nennen Siehe Gayatri Chakravorty Spivak, „Can the Subaltern Speak?“, in: Cary Nelson und Lawrence Grossberg (Hg ), Marxism and the Interpretation of Culture (London: Macmillan, 1988), 271–313; Ders , „Thinking about Said: Pages from a Memoir“, in: Critical Inquiry 31:2 (Winter, 2005), 519–525; Homi K Bhabha (Hg ), Nation and Narration (London: Routledge, 1990), und Terry Eagleton, Literary Theory: an Introduction: Anniversary Edition (Malden/MA: Blackwell, 2008) Ein kleines Resümee über die Geschichte des Terminus „Postkolonialismus“ befindet sich in Shohat und Stam, Unthinking Eurocentrism, 13–54 Eine Definition des Konzepts ist in Ania Loomba, Colonialism/Postcolonialism

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Einleitung

„Never was it the case that the imperial encounter pitted an active Western intruder against a supine or inert non-Western native; there was always some form of active resistance and, in the overwhelming majority of cases, the resistance finally won out“ 50 Die theoretischen und methodischen Ansätze der „Buch- und Lesegeschichte“ Robert Darntons und Roger Chartiers sind für das Folgende ebenfalls wichtig,51 weil beide die Lesegewohnheiten nicht als eine „spontane“ und „natürliche“ oder gar passive Aktivität interpretieren, sondern grundsätzlich als eine „kulturelle Praktik“, die dadurch einerseits dem historischen Prozess und andererseits auch der persönlichen „Aneignung“ durch den Leser bzw die Leserin ausgesetzt ist 52 Dieses Verständnis einer „Lesegeschichte“ betont auch das „Widerstandspotential“ der Leserschaft, weil damit deren aktive Teilhabe bei der Sinnkonstruktion hervorgehoben wird Die Vorstellung einer aktiven Rezeption von Büchern, Ideen oder Wissen ist ein zentraler Aspekt bei Darnton und Chartier Darnton geht auch auf die Wichtigkeit sekundärer Werke ein, die üblicherweise (und seiner Meinung nach fälschlicherweise) von der politischen Geschichte ignoriert wurden Seiner Auffassung zufolge sagen populäre Publikationen mehr über die „Mentalität“ einer bestimmten Zeit aus als sogenannte Meisterwerke, etwa über die Zensursysteme, die Publikationsstrategien und den Büchermarkt 53 Das Thema der Rezeption wurde in den letzten Jahrzehnten auch innerhalb der Soziologie und der Kulturtheorie im Rahmen von Studien über Medien und Massenkommunikation diskutiert, z B sehr intensiv von Stuart Hall (1932–2014) In dessen Studie über „Encoding“ und „Decoding“ von kulturellen Botschaften, die auf Ansätzen der Semiotik von Roland Barthes (1915–1980) und Umberto Eco (1932–2016) ba-

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(London: Routledge, 2005),7–90, zu finden Zu einer Zusammenfassung über die postkolonialen Theorien und die theoretischen Beiträge unterschiedlicher Autoren siehe María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung (Bielefeld: Transcript, 2005) Siehe Said, Culture and Imperialism, xii Siehe dazu Robert Darnton, „History of Reading“, in: Peter Burke (ab nun Burke) (Hg ), New Perspectives in Historical Writing (Pennsylvania: State University Press, 1991), 140–167, und Roger Chartier, „Do livro à leitura“, in: Ders (Hg ), Práticas da leitura, mit einer Einleitung zur brasilianischen Übersetzung von Alcir Pécora (São Paulo: Estação Liberdade, 1996), 77–105 Siehe Alcir Pécora, „O Campo das práticas da leitura, segundo Chartier Introdução à edição brasileira“, in: Chartier, Práticas, 14–15 Siehe Maria Lúcia Garcia Pallares-Burke, As muitas faces da história Nove entrevistas (São Paulo: UNESP, 2000), 234–235 Große Bekanntheit erlangte Darnton durch sein Buch Das große Katzenmassaker, in dem er das mentale Universum der Bauern und Handwerker im Vorfeld der Französischen Revolution darstellt und damit Wesentliches für eine Geschichte des „Kleinen Mannes“ leistete – eine history from below, die auf den Alltag und nicht ausschließlich auf große politische Ereignisse fokussiert Siehe Robert Darnton, The Great Cat Massacre and Other Episodes in French Cultural History (New York: Basic Books, 2009), und Pallares-Burke, As muitas faces, 235 Der Ausdruck history from below wird von Peter Burke im Sinne einer „Neuen Geschichte“ verwendet Siehe dazu Burke, „Overture: the New History“, in: Ders , New Perspectives, 4–20 Über die Perspektive der history from below siehe auch Jim Sharpe „History from Below“, in: Ebd , 24–41

Theoretische Ansätze

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siert, schreibt Hall dem Publikum eine relevante Partizipation beim „Decoding“ des kulturellen Inhalts innerhalb seines eigenen sozialen Kontextes zu 54 Die Rezeptionstheorie wurde auch von der Anthropologin Lila Abu-Lughod in einer für die vorliegende Untersuchung wertvollen Art ausführlich dargestellt Sie spricht von den Effekten der neuen Technologien der Massenmedien auf lokaler Ebene und hebt die aktive Verwendung von neuen Technologien seitens der Nutzer hervor: „It is not just that people themselves seem to embrace the technologies and actively use them for their own purposes, but they select, incorporate and redeploy what comes their way“ 55 Dies kann auch für die Rezeption von Theorien, Büchern und Ideen im 19  Jahrhundert, wie etwa bei Barreto und Romero, behauptet werden Abu-Lughod kritisiert die strikte Trennung von „global“ und „lokal“ eindeutig, da ihrer Ansicht nach globale Inhalte und Technologien immer auch einen lokalen Charakter aufweisen, der eng mit dem soziopolitischen Kontext und mit der Umgebung der Akteure verknüpft ist Diese lokale Seite stellt einen nicht unbedeutenden Teil der Sinnkonstruktion dar, sei es bei Technologien, Kunstwerken oder immateriellen Gütern wie Wissen Das alte Paradigma der Dependenztheorie, das von der Passivität der Konsumenten im Zuge des Wirtschaftsimperialismus ausgeht, wird durch Abu-Lughods Ansatz infrage gestellt und die Idee einer zwangsläufigen Verbindung zwischen globalen wirtschaftlichen Strukturen und der Entwicklung in der „Dritten Welt“ relativiert 56 Abu-Lughod vertritt stattdessen die Auffassung, dass die Grenzen zwischen „globalen“ und „lokalen“ Inhalten in der Praxis durchlässig sind 57 Vor dem Hintergrund neuere historischer Erkenntnisse erweist sich der transnationale Ansatz einer Verflechtungsgeschichte (histoire croisée) von Bénédicte Zimmermann und Michael Werner, der auf den transferanalytischen Grundlagen Michel Espagnes aufbaut,58 als hilfreiches Werkzeug, um unterschiedliche und dynamische Rezeptionsprozesse zu erschließen Mit ihrer Konzentration auf Konflikte und Widersprüche innerhalb der Rezeptionsmechanismen versucht die Verflechtungsgeschichte

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Siehe Douglas M Kellner und Meenakshi Gigi Durham, „Introduction to Part II“, in: Meenakshi Gigi Durham und Douglas M Kellner (Hg ), Media and Cultural Studies: Keywords (Malden/MA: Blackwell, 2006), 95 So beschreibt Hall diesen Prozess: „The consumption or reception […] is thus also itself a ‚moment‘ of the production process in its larger sense, though the latter is ‚predominant‘ because it is the ‚point of departure for the realization‘ of the message Production and reception […] are not, therefore identical, but they are related: they are differentiated moments within the totality formed by the social relations of the communicative process as a whole “ Siehe Stuart Hall, „Encoding/Decoding“, in: Ebd , 163–173 Siehe Lila Abu-Lughod, „Bedouins, Cassettes and Technologies of Public Culture“, in: Middle East Report 159: Popular Culture ( Juli/Aug 1989), 8 Siehe Annabelle Sreberny, „The Global and the Local in International Communications“, in: Meenakshi und Kellener, Media, 606 Siehe ebd , 618 Michel Espagne und Michael Werner (Hg ), Transferts Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (Paris: Editions Recherche sur les Civilisations, 1988)

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Einleitung

sich damit von einer auf Nationalstaaten fokussierten Geschichtsschreibung zu distanzieren 59 Das Thema der gegenseitigen Austauschprozesse und Einflüsse zwischen globalen und lokalen Ebenen, wie zwischen Europa und dem amerikanischen Kontinent in postkolonialer bzw interrelationaler Hinsicht wurde von Susan Buck-Morss aufgearbeitet In ihrem Essay Hegel und Haiti zeigt sie, wie der deutsche Philosoph Georg Friedrich Hegel (1770–1831) in seinem Werk von den Nachrichten aus der Karibik über die Sklavenrevolte in Haiti beeinflusst wurde 60 Ideen, Bücher, Publikationen, Nachrichten und Briefwechsel fließen selbstverständlich nicht nur in eine einzige Richtung Lateinamerikanische oder brasilianische Intellektuelle waren in dieser Hinsicht nicht rein passive Empfänger von Anregungen aus Europa Texte und Werke, die transnational zirkulieren, werden je nach Kontext unterschiedlich interpretiert und angeeignet Es waren nicht nur Waren, die mit den Schiffen aus (oder nach) Europa und der ganzen Welt nach (oder aus) Südamerika kamen Außer Rohstoffen fanden auch Schriften, Ideen und Theorien in diversen Kontexten Anwendung,61 wenngleich in anderer Art und Weise als an ihrem Ursprungsort Ebenso gab es auch eine „Wechselwirkung“, da Reiseberichte, Nachrichten und Menschen von Lateinamerika nach Europa gelangten 62 Gegenseitige Instrumentalisierungen weisen dabei auf verschiedene politische Interessen innerhalb einer vielseitigen politisch-intellektuellen Konstellation hin, die meistens lokale, regionale und transnationale Ebenen miteinander verbinden Daraus resultierte eine Fülle von Kontakten und Austauschprozessen, die eine nicht überschaubare Rolle bei der Rezeption von Wissen auf beiden Seiten des Atlantiks spielte Struktur und methodische Vorgehensweise Im Anschluss an diese Einleitung widmet sich das erste Kapitel der vorliegenden Analyse der intellektuellen Geschichte Brasiliens im letzten Quartal des 19  Jahrhunderts, das eine bewusste Rezeption von Ideen und Theorien aus dem deutschsprachigen Kulturraum aufweist Der Schwerpunkt soll hierbei auf der Bedeutung der Rechtsfakultäten (und der Rechtskultur insgesamt) für die Geisteslandschaft Brasiliens liegen Es geht im Wesentlichen darum, das intellektuelle Erbe der Kolonialmacht Portugal durch den Einfluss der Universität von Coimbra auf die beiden brasilianischen Rechts59 60 61 62

Siehe Michael Werner und Bénédicte Zimmermann, „Vergleich, Transfer, Verflechtung Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen“, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2002), 607–636 Siehe Susan Buck-Morss, „Hegel and Haiti“, in: Critical Inquiry 26:4 (Sommer, 2000), 821–865 Siehe Maeße und Standke, „Dynamik“, in: Angermüller und Maeße, Moving (Con)Texts, 9 Dies zeigt sich nach Morsses Beschreibung etwa beim Verhalten sogenannter zivilisierter Akteure, die durch die Konfrontation mit Sichtweisen oder Waren aus der „neuen“ Welt ihre Lebensweise änderten Siehe dazu Buck-Morss, „Hegel and Haiti“

Struktur und methodische Vorgehensweise

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fakultäten (in Recife und in São Paulo) zu erfassen Dort bildete sich der mit Abstand größte Teil der politischen und intellektuellen Elite, die das Land durch das zweite Kaiserreich (1840–1889) führte Das Hauptaugenmerk gilt daher der Herausarbeitung der Relevanz der Rechtsfakultäten für den geisteswissenschaftlichen Kontext der alten Kolonie sowie auf dem französischen Einfluss der kulturellen Prägung auf der Ebene der Hochkultur durch das portugiesische Bildungserbe für die brasilianische Wissenschaftskultur Dabei kommt der Figur des Bacharels („Jura-Bakkalaureus“) ein sozialpolitisches Gewicht zu, weil sie ein Markenzeichen der brasilianischen politischen Kultur ist und die Machtstellung der Juristen deutlich erkennen lässt Im Anschluss daran sollen historisch bedeutsame regionale Unterschiede der beiden Rechtsfakultäten Recife und São Paulo für die intellektuelle Geschichte Brasiliens erläutert werden Im folgenden zweiten Kapitel soll die Bewegung der „Recife Schule“, zu der Barreto und Romero als Leitfiguren gehörten, charakterisiert und ihre Stellung innerhalb der brasilianischen (Rechts)Kultur erfasst werden Ziel ist eine Darlegung der kulturpolitischen Kräfteverhältnisse im letzten Viertel des 19  Jahrhunderts, in dem deutschsprachige Autoren zum ersten Mal konsequent rezipiert und somit erstmalig zu einem relevanten Bestandteil des brasilianischen intellektuellen Repertoires wurden Die Kapitel drei und vier stellen zwei kleine intellektuelle Biographien der beiden zentralen Akteure für diese Untersuchung, der Juristen Tobias Barreto und Sílvio Romero, dar, die wegen ihrer Vorreiterrolle bei der Rezeption deutschsprachiger Autoren in der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen sollen Barreto warb aktiv für die deutsche Wissenschaftskultur und machte daraus ein politisch-intellektuelles Programm, weshalb sein Werdegang für die Argumentation besonders aufschlussreich ist Die Biographien Barretos und Romeros beginnen mit den intellektuellen Anfangsjahren in der armen und rückständigen Provinz Sergipe (ungefähr 300 km nördlich von Salvador da Bahia) und enden mit der Ernennung zu Professoren an der Rechtsfakultät in Recife bzw in Rio de Janeiro, wodurch beide die Gelegenheit hatten, die nachkommende Studentenschaft von ihren Ideen zu überzeugen Auch die politisch-ideologischen Konflikte dieser beiden streitbaren Zeitgenossen auf regionaler und nationaler Ebene, die in der Presse dokumentiert sind, sollen hierbei berücksichtigt werden Die Kapitel fünf bis neun bilden schließlich den Kern der Untersuchung Hier wird die frühe Rezeption Ernst Haeckels und Rudolf von Jherings durch Barreto und Romero innerhalb der brasilianischen politischen Kultur verortet Die Bedeutung dieses Prozesses für die intellektuelle Geschichte des Landes soll herausgearbeitet und der unterschiedliche Vollzug bei Barreto und Romero dargelegt werden Hierfür werden im fünften Kapitel Barretos und Romeros Lesegewohnheiten und Lesequellen anhand einiger ausgesuchter und beispielhafter Essays aus ihrem Werk analysiert Das Ziel ist es, Barretos intellektuellen Weg hin zu den deutschsprachigen Quellen und Autoren dazustellen Die Analyse der französischen Zeitschrift Revue des Deux Mondes sowie der beiden deutschsprachigen Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Lite-

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Einleitung

ratur des Auslandes sollen dabei im Fokus der Argumentation stehen Bei der Revue handelt es sich um die von der brasilianischen intellektuellen Elite meistgelesene ausländische Zeitschrift, die auch Barreto und sein Freund Romero in ihrer Studentenzeit an der Rechtsfakultät begeistert aufnahmen Bei den beiden anderen Publikationen handelt es sich um die ersten Zeitschriften in deutscher Sprache, die Barreto las und die er auch als Quellen in seinen Texten erwähnte Wie daraus zu erkennen ist, kam deutsch-jüdischen Autoren liberaler Couleur im Zuge seiner Aneignung der deutschen Sprache eine besondere Bedeutung zu Dies schlug sich entsprechend in seiner Rezeption deutschsprachiger Autoren nieder Für Barretos intellektuellen Werdegang war das Erlernen der deutschen Sprache zentral, denn die deutschsprachigen Lektüren prägten seine Art von „Germanismus“ nachhaltig Das Fehlen eines solchen Schrittes bei Romero zeigt sich in seiner von Barreto unterschiedlichen Rezeption deutschsprachiger Autoren Romero blieb stets seinen französischen Lektüren aus der Jugendzeit verbunden und tendierte daher zu einer positivistisch geprägten sozial-evolutionistischen Rezeption Den Schluss des fünften Kapitels bildet die Beschreibung von Barretos Begegnung mit dem Werk des Zoologen Ernst Haeckel, die sein Denken maßgeblich prägte Haeckels Ideen inspirierten Barreto, biblische Vorstellungen zu attackieren und im Zuge dessen die katholische Vormachtstellung und den Einfluss der thomistischen Scholastik in der akademischen Kultur Brasiliens Im sechsten Kapitel soll auf die partikuläre Rezeption von Haeckels monistischem Weltblick durch Barreto anhand einiger ausgewählter Essays eingegangen werden Dabei wird seine Schrift „Haeckelismus in der Zoologie“ (O Haeckelismo na Zoologia) von 1880 im Zentrum der Betrachtung stehen Dort verteidigt Barreto die Position Haeckels gegen die Kritik des Naturforschers Karl Semper (1832–1893) und bekennt sich deutlich zum Monismus In diesem Zusammenhang ist Barretos Rolle als Politiker im Regionalparlament Pernambucos wichtig, weil sie beispielhaft für die Aufnahme von Haeckels monistischen Überzeugungen in der brasilianischen kulturpolitischen Realität ist In seiner Funktion als Abgeordneter setzte sich Barreto für die Gründung einer Hochschuleinrichtung für Frauen ein und stellte sich damit gegen die Auffassung der meisten seiner Kollegen, die noch von der geistigen Inferiorität der Frau überzeugt waren Barreto konterkarierte die Argumente seiner Gegner mit der Evolutionstheorie Haeckels und erwies sich auf diesem Gebiet als Pionier in der brasilianischen Bildungsgeschichte Den Abschluss des Kapitels bildet die Untersuchung von Barretos ersten juristischen Schriften aus den Jahren 1881–1882, wobei das Augenmerk auf seiner Aneignung von Haeckels Monismus innerhalb einer rechtswissenschaftlichen Perspektive und die Verknüpfungen mit Jherings Rechtssoziologie gerichtet werden soll Das nachfolgende siebte Kapitel behandelt Barretos Rezeption von Rudolf von Jherings rechtssoziologischen Ansätzen in dessen juristischem Werk Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei Barretos Schriften aus den Jahren 1881–1882, die als Grundlage seines rechtswissenschaftlichen Werks gelten und die er im Zuge seiner Bewerbung auf eine Professur an der Rechtsfakultät verfasste Zentral in diesem Kontext sind Ro-

Struktur und methodische Vorgehensweise

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meros Instrumentalisierung des Namens Jherings aus Anlass seiner Doktorverteidigung 1875 sowie Barretos Übersetzung von Auszügen aus Jherings Werk Jurisprudenz des täglichen Lebens (1873) Hiermit soll auf die Bedeutung Jherings zivilrechtlicher Ansichten auf Barretos praktische Tätigkeit als Anwalt in der brasilianischen Provinz aufmerksam gemacht werden Das Kapitel schließt mit dem Hinweis auf Barretos Ablehnung des (Rassen)Determinismus als Beispiel für eine eigenständige Aneignung von Haeckels Evolutionismus Im Anschluss daran sollen im achten Kapitel „Rasse“ und die Vorstellung der allmählichen Aufhellung der Bevölkerung durch Rassenmischung, die sogenannte Ideologie des branqueamento (branqueamento = weiß machen/werden), historisch dargestellt werden Die Auffassung, die Bevölkerung würde durch Rassenvermischung nach einigen Jahrzehnten immer weißer,63 war gegen Ende des 19  Jahrhunderts sehr verbreitet Romeros Theorien von einer „gemischten“ brasilianischen Kultur brachten Wesentliches für die Untermauerung einer solchen Auffassung ein Sie diente als mächtiges Argument für die Befürworter der europäischen Migration als Lösung für das absehbare Ende der Sklaverei Das branqueamento bildet einen zentralen Aspekt des brasilianischen Rassismus und Romero war mit seiner positiven Vision über die Rassenmischung einer der Hauptverantwortlichen für den politischen Erfolg dieser Ideologie in der Geschichte des südamerikanischen Landes Das neunte Kapitel widmet sich Romeros Aufnahme des Haeckel’schen Evolutionismus, die als Gegensatz zu Barretos Rezeption zu sehen ist Anders als sein Freund blieb Romero dem Denken des französischen Positivismus verhaftet und dessen sozial-evolutionistischen bzw deterministischen Ansätzen Jedoch trug er durch seine eigenständige Appropriation der europäischen Rassen- und Evolutionstheorien – insbesondere Haeckels und Spencers – mit seinen Studien zu einer differenzierten Wahrnehmung der Besonderheit von Brasiliens kultureller Identität als „gemischt“ (cultura mestiça) bei 64 Diese Vorstellung erlangte im 20  Jahrhundert einen gewissen Erfolg als soziologische Erklärungskategorie und wurde von dem erwachenden Nationalismus politisch instrumentalisiert Hierfür sollen Auszüge aus Romeros erster großer Monographie, A Philosophia no Brasil von 1878, und aus seiner Kampfschrift Zéverissimações inéptas da critica von 1909 herangezogen werden In der Schlussbetrachtung soll eine abschließende Würdigung erfolgen und eine Verbindung zwischen Barreto und Romero zu der ersten Generation moderner Künstler gezogen werden Aufgrund ihrer kreativen Aneignung von Theorien aus dem Aus-

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Siehe dazu Andreas Hofbauer, „Von Farben und Rassen: Macht und Identität in Brasilien“, in: Zeitschrift für Ethnologie 127:1 (2002), 17–39 Diese Auffassung wurde später von dem Arzt und Eugeniker Edgard Roquette-Pinto (1884–1954) sowie von dem Soziologen Gilberto Freyre als wichtiger Ansatzpunkt für die Konstruktion einer brasilianischen Rassendemokratie aufgenommen, siehe dessen Buch Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa Grande e Senzala, 1933)

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Einleitung

land, vor allem von deutschsprachigen Autoren, können die beiden Intellektuellen aus dem 19  Jahrhundert als Vorreiter der Idee einer „kannibalistischen“ Einverleibung von Anregungen gelten, die das künstlerische Programm der sogenannten Modernisten im 20  Jahrhundert kennzeichnete

1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien Anders als im spanischsprachigen Lateinamerika, wo die ersten Universitäten schon früh durch die Kolonialmacht Spanien gegründet worden waren, war die Errichtung von Hochschulen in Brasilien ein spätes Phänomen, das sich erst im 19  Jahrhundert vollzog Dies ist ein deutlicher Unterschied zwischen der portugiesischen und der spanischen Kolonialpolitik in Amerika 1 Bis ins 19  Jahrhundert hinein war die Bildungslandschaft in Brasilien von religiösen Seminaren geprägt, vor allem von denjenigen der Jesuiten Die Vertreibung des Ordens durch Marquês de Pombal im Jahre 1759 sorgte für eine bildungspolitische Wende in der Kolonie 2 Zu Beginn war die Lage chaotisch, weil die Regierung die entstandene Lücke nicht schließen konnte Allmählich aber gewannen im Laufe der weiteren Entwicklung andere religiöse Orden Raum und Einfluss 3

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Siehe hierzu Sérgio Buarque de Holanda, Raízes do Brasil (São Paulo: Companhia das Letras, 1995), 26 Auflage, 98, und Venancio Filho, Arcadas Sebastião José de Carvalho e Mello (1699–1782) und später Marquês de Pombal (1770) waren zwischen 1756 und 1777 mächtige Staatssekretäre unter König José I (1714–1777), dem „Reformator“ Nach dem Erdbeben von 1755, das Lissabon erschütterte, gewann Pombal als politische Figur an Relevanz Er konnte sich hierbei als geschickter Krisenmanager durchsetzen und wollte Portugal reformiere Siehe Gizlene Neder, Iluminismo jurídico-penal luso-brasileiro: obediência e submissão (Rio de Janeiro: Revan, 2007), 2  Auflage, 106–107 Zur sogenannten Ära Pombal und ihrer Bedeutung in der Geschichte Portugals und Brasiliens siehe die folgenden Bände: Luis Reis Torgal und Isabel Vargues (Hg ), O Marquês de Pombal e o seu Tempo (Coimbra: Universidade de Coimbra, 1982–3), Sonderheft 2: Centenário da sua Morte; Antonio Paim und Adolpho Crippa (Hg ), Pombal e a cultura brasileira (Rio de Janeiro: Tempo Brasileiro, 1982) Für eine aktuellere Aufsatzsammlung siehe Francisco Falcon und Claudia Rodrigues (Hg ), A „Época Pombalina“ no mundo luso-brasileiro (Rio de Janeiro: FGV, 2015) Eine umfassende politische Biographie Pombals befindet sich in Kenneth Maxwell, Pombal, Paradox of the Enlightenment (Cambridge: University Press, 1995) Siehe Werebe, „A educação“, 366–383 Zum Einfluss der Jesuiten im brasilianischen Kulturpanorama siehe den Klassiker von Azevedo, A cultura brasileira Zu diesem Einfluss in den Rechtswissenschaften siehe Venancio Filho, Arcadas, 1–12

34 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien Das faktische Monopol der Universität von Coimbra war Teil einer sehr bewussten Strategie der Kolonialpolitik Portugals gegenüber seinen Überseebesitzungen Die Abhängigkeit der Kolonien wurde verstärkt, indem die Eliten ihre Ausbildung in Portugal absolvierten Zunächst kam diese Strategie der Verbreitung einer missionarischen Einstellung mit religiöser Prägung zugute und wurde dann von der Regierung Pombal für ihr eigenes zentralistisches Machtprojekt regalistischer Prägung instrumentalisiert 4 Bis zur Eröffnung der ersten Rechtsfakultäten ab 1828 – nach der Unabhängigkeit von Portugal (1822) – mussten alle Brasilianer ihre Hochschuldiplome in Coimbra erlangen, weshalb diese portugiesische Universität die brasilianische intellektuelle Landschaft entscheidend prägte Der Einfluss der Universität lässt sich vor allem im Rechtsdenken beobachten: Die gesamte Generation von Juristen und Politikern, die Brasilien in die Unabhängigkeit führen sollte – die „Generation 1780“5 – wurde nach den großen bildungspolitischen Reformen von 1772 an der Universität von Coimbra ausgebildet Diese Reformen fanden unter dem mächtigen Staatssekretär von König José I (dem „Reformator“, 1714– 1777) statt, Sebastião José de Carvalho e Mello (1699–1782), der berühmte Marquês de Pombal 6 Mit einer ausgeprägt antijesuitischen Politik7 erschütterte Pombal die jesuitische Vormachtstellung im Bildungswesen Seine Politik hatte große Konsequenzen, nicht nur für Portugal, sondern auch für die brasilianische Kolonie In Brasilien war der Einfluss der Jesuiten im Bildungsbereich bis zu diesem Zeitpunkt außerordentlich groß 8 Erst nach dem Umzug des portugiesischen Hofes nach Brasilien im Jahre 1808 im Zuge der napoleonischen Kriege wurden dort die ersten Hochschulen gegründet Diese Zeit bewirkte eine Zäsur im kulturellen Leben der Kolonie Kurz darauf erhielt Brasilien einen neuen Status und wurde zum Vereinigten Königreich erhoben (1815), was letztlich 1822 zur politischen Unabhängigkeit führte 9 Bereits beim Betreten des 4 5

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Siehe Lacombe, „A Cultura jurídica“, 361 Siehe dazu Kenneth Maxwell, „The Generation of the 1790s and the Idea of Luso-Brazilian Empire“, in: Dauril Alden (Hg ), Colonial Roots of Modern Brazil Papers of the Newberry Library Conference (Berkeley: University of California Press, 1973), 107–144, und Guilherme Pereira das Neves, História, teoria e variações (Rio de Janeiro: Contra Capa, 2011) Siehe Eddy Stols, „Brasilien“, in: Raymond Th Buve und John R Fischer (Hg ), Lateinamerika von 1760 bis 1900, Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd  2 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1992), 127 Zu Pombals antijesuitischer Politik siehe vor allem Azzi, A crise da cristandade, 55–58; José Eduardo Franco, „Os catequismos antijesuíticos As obras fundadoras do antijesuitismo do Marquês de Pombal“, in: Revista Lusófona de Ciência das Religiões 4:7/8 (2005), 247–268; Ders , O mito dos jesuítas Em Portugal, no Brasil e no Oriente (Séculos XVI a XX) (Lisboa: Gradiva, 2006), Bd  1: Das Origens ao Marquês de Pombal, und Evergton Sales Souza, „The Catholic Enlightenment in Portugal“, in: Ulrich Lehner und Michael Printy (Hg ), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe (Boston: Brill, 2010), 359–402 Azevedo, A cultura brasileira; Werebe, „A educação“, und Stols, „Brasilien“, 126–127 Siehe Werebe, „A educação“, 367–368, und Lúcia Maria Bastos Pereira das Neves und Humberto Fernandes Machado, O Império do Brasil (Rio de Janeiro: Nova Fronteira, 1999), 47–48

1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien

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brasilianischen Bodens verkündete Dom João VI (1767–1826) die Öffnung der brasilianischen Häfen für befreundete Nationen Davon profitierte vor allem England, das die Flucht der königlichen Familie nach Brasilien logistisch unterstützt und den Fluchtplan mitgestaltet hatte Portugals Handel war seit Langem vom Export von Primärgütern (vor allem aus den Kolonien) nach England politisch abhängig 10 Die Entscheidung des portugiesischen Herrschers, in die Kolonie zu fliehen, beflügelte den Austausch zwischen Brasilien und der Weltmacht England Mit der Intensivierung des Warenhandels kamen auch neue Menschen, Bücher und Ideen ins Land 11 Es begann eine Zeit kultureller Blüte, hauptsächlich für die Hauptstadt Rio de Janeiro, die sich zur Residenzstadt eines europäischen Reiches wandelte Die Nationalbibliothek (Biblioteca Nacional) wurde gegründet (1810) und entwickelte sich mit einem Bestand von 60 000 Büchern zur damals größten Bibliothek Lateinamerikas Auch eine königliche Druckerei (Imprensa Régia) wurde eingerichtet, was zu einer stärkeren Verbreitung von Publikationen und Schriften führte und den intellektuellen Austausch förderte 12 Von 1808 bis 1823 ließ Hipólito José da Costa (1774–1823), der heutzutage als Gründervater und Patron der brasilianischen Presse wahrgenommen wird, seine Zeitung Correio Brasiliense noch in London drucken 13 Fortan wurden die ersten Zeitschriften auf brasilianischem Boden gedruckt und die Zahl der Buchhandlungen wuchs stetig Zu dieser Zeit kamen vor allem französische Buchhändler ins Land, die vor der Restauration in Frankreich geflüchtet waren und ein sicheres Exil suchten In ihren Koffern brachten sie französische Bücher der Aufklärung mit, unter ihnen auch verbotene 14 Ferner wurde in Rio de Janeiro ein botanischer Garten mit einer vielfältigen Flora und Fauna angelegt Der kulturelle Aufschwung zeigte sich ebenso in einer Änderung der Mentalität und in neuen Gewohnheiten, etwa in der Verbreitung der europäischen – vor allem der französischen – Etikette und Mode 15 Zur gleichen Zeit wurden die ersten Hochschulen gegründet, nämlich 1808 ein medizinischer bzw chirurgischer Ausbildungskurs im nordöstlichen Salvador und in Rio de Janeiro sowie dort auch die Marineakademie (Academia da Marinha) und 1810 die Militärakademie für Artillerie und Befestigungswesen (Escola de Artilharia e Fortificações) Weiterhin wurde ein Militärarchiv (Arquivo Militar) errichtet 16 Alle diese Institutionen wurden 10 11

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Siehe dazu Celso Furtado, Formação econômica do Brasil (São Paulo: Companhia Editora Nacional, 2003), 38–44 Siehe dazu Lúcia Maria Bastos Pereira das Neves und Tania Maria Tavares Bessone da Cruz Ferreira „Booksellers in Rio de Janeiro: The Book Trade and Circulation of Ideas from 1808 to 1831“, in: Ana Cláudia Suriani da Silva (Hg ), Books and Periodicals in Brazil 1768–1930: a Transatlantic Perspective (London: Legenda, 2014), 35–51 Stols, „Brasilien“, 128 Ebd Siehe Neves und Machado, O Império do Brasil, 47–54 Über französische Buchhändler in Rio de Janeiro nach 1808 siehe auch Neves und Ferreira, „Booksellers in Rio de Janeiro“, 35–61 Siehe Neves und Machado, O Império do Brasil, 41–47 Siehe Stols, „Brasilien“, 134

36 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien aus pragmatischen Gründen ins Leben gerufen, da die neue Elite Militär und Ingenieure zum Schutz des Hofes benötigte und die wachsende Truppe ihrerseits ärztliche Versorgung brauchte Diese auf exklusiven Vorstellungen basierende Form der Ausbildung prägte das gesamte brasilianische Bildungspanorama bis ins 20  Jahrhundert hinein Es handelte sich um eine Ausbildung, die von der Elite und für die Sorgen der Eliten geschaffen worden war Die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung sowie weiterer fachlicher Austausch wurden weitgehend vernachlässigt und die wissenschaftliche Forschung litt unter diesen Bedingungen 17 Kennzeichnend für diese Art der Hochschulausbildung als Prestigeprojekt für Eliten ist die Anzahl der Studierenden an den Rechtsfakultäten zwischen 1855 und 1864 im Vergleich zu anderen Fakultäten: 8 036 Rechtsstudenten, 2 682 Medizinstudenten und 533 Pharmaziestudenten 18 Das Land benötigte gar nicht so viele Juristen: Diese Zahlen zeugen von der Bedeutung der Rechtskultur bzw vom politischen und sozialen Prestige der Juristen im Lande sowie von dem geringen Ansehen praktischer oder anderer fachlicher Disziplinen – ein Erbe der portugiesischen bildungspolitischen Auffassung, die eng mit der jesuitischen scholastisch-rhetorischen Tradition verbunden war Diese Einstellung prägt teilweise bis heute das Bildungssystem in Brasilien Es ist elitär und, was die juristischen Fakultäten angeht, in vielen Bereichen immer noch forschungs- und praxisfern 19 1.1 Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten in Pernambuco und São Paulo Nach seiner Unabhängigkeit von Portugal im Jahre 1822 wurde Brasilien ein Kaiserreich, das von Pedro I (1798–1834), einem Mitglied des portugiesischen Hauses Bragança geführt wurde Wirtschaftlich war die ehemalige Kolonie ein Agrarland, das vom Zuckerexport und ab Mitte des 19  Jahrhunderts immer mehr auch vom Kaffeeanbau abhängig war Dieser Anbau wurde von Sklaven auf riesigen Gütern (fazendas) geleistet, die im Nordosten und Südosten des Landes von Großgrundbesitzern betrieben wurden Diese verfügten über eine nahezu feudalistische Macht auf lokaler Ebene, beeinflussten Wahlen und besaßen zumeist die Verfügungsgewalt über exekutive und judikative Strukturen, wie etwa Justiz oder Polizei Damit konnten die Landesherren die Interessen ihrer Klientel vollständig bedienen Solche Charakteristika machen bis heu-

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Werebe, „A educação“, 368–369 Ebd , 374 Siehe ebd , 367–370 Zur Ankunft des portugiesischen Könighauses und zu dem französischen Einfluss im kulturpolitischen Panorama der Hauptstadt Rio de Janeiro siehe Kirsten Schultz, Tropical Versailles: Empire, Monarchy, and the Portuguese Royal Court in Rio de Janeiro, 1808–1821 (New York: Routledge, 2001)

1 1 Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten in Pernambuco und São Paulo

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te die Grundlagen der brasilianischen politischen Kultur aus, die von lokalen patriarchalischen Machtstrukturen, von Klientelismus und rigiden sozial-ethnischen Hierarchien geprägt sind Selbst die Priester waren im 19  Jahrhundert auf lokaler Ebene von der Macht und Unterstützung der Großgrundbesitzer, der fazendeiros, abhängig Oft befanden sich sogar Kirchen oder kleine Kapellen auf den Gütern selbst Jede kleine „Verbesserung“ im lokalen Leben oblag dem guten Willen desjenigen, der die paternalistische Macht ausübte Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, dass Regeln und Rechte ohne Ansehen der Person fremd blieben, da dies eine deutliche Beschränkung der patrimonialen Macht bedeutet hätte Die Gutsherren verfügten über ein weites Netz von Abhängigen in einem System, das den Vasallitätsverhältnissen im Mittelalter ähnelte Es entwickelte sich in der politischen Kultur ein Machtsystem der Vetternwirtschaft und des Klientelismus, das von einigen wenigen Familien dominiert wurde 20 Individuelle Rechte zählten in diesem System wenig, stattdessen die guten Beziehungen zur lokalen patriarchalischen Instanz, die über das Leben der Menschen bestimmte, einer vornehmlich äußerst kleinen Gruppe „freier Männer“ 21 Die große Mehrheit der Bevölkerung profitierte nicht von dem Reichtum, der von den Großgrundbesitzern und ihren Familien durch den Export von Primärgütern erwirtschaftet wurde Er verteilte sich meist auf eine begrenzte Anzahl von Händlern portugiesischer oder ausländischer Herkunft und natürlich auf die fazendeiros mit ihren lokalen Machtstrukturen Die Söhne der Gutsherren oder einige auserwählte „Abhängige“ wurden in die wenigen Hochschulen des Landes oder ins Ausland geschickt – meistens an die Universität von Coimbra –, um dort ein Jura-, Medizin- oder Theologiediplom zu erwerben So konnten sie sich langfristig ihr Prestige und ihren politischen Einfluss sichern Diese Macht erstreckte sich bis an den Hof in der Hauptstadt Rio de Janeiro, wo eine Adelselite regierte Im politischen Zentrum Brasiliens herrschte eine Art politische Aristokratie, die sich um den Kaiser bewegte Sie bestimmte das parlamentarisch-politische Leben und erließ die Gesetze Meistens wussten die Parlamentarier und Politiker nur wenig davon, was sich in den entlegenen Regionen des Landes ereignete, sodass die Hauptstadt mit ihren politischen Eliten zusammen mit dem Kaiser eine Art Mikrokosmos bilde20

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Zu einer Beschreibung dieser Ausübung patrimonialer Macht auf der lokalen Ebene siehe die folgenden Monographien: Victor Nunes Leal, Coronelismo, enxada e voto O município e o regime representativo no Brasil, Prefácio Barbosa Lima Sobrinho (São Paulo: Alfa-Omega, 1975), 2  Auflage Zur englischsprachigen Ausgabe siehe ders , Coronelismo, the municipality and representative government in Brazil, übers von June Henfrey, mit einer Einleitung von Alberto Venancio Filho (Cambridge: University Press, 1977) Zum gleichen Thema siehe auch Maria Isaura Pereira de Queiroz, O mandonismo local na vida política brasileira e outros ensaios (São Paulo: Alfa-Omega, 1976) Siehe dazu den Aufsatz des Literaturkritikers Roberto Schwarz, „As idéias fora do lugar“, in: Ders , Ao vencedor as batatas: forma literária e processo social no início do romance brasileiro (São Paulo: Duas Cidades, 2000), 11–31 Siehe auch Maria Silvia de Carvalho Franco, „A Dominação Pessoal“, in: Ders , Homens livres na ordem escravocrata (São Paulo: Fundação Editora da Unesp, 1997), 4  Auflage, 65–113

38 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien te 22 Die Bevölkerung in den Provinzregionen war der patrimonialen Befehlsgewalt der Großgrundbesitzer und deren lokalen Machtkämpfen mehrheitlich ausgeliefert Die Vernachlässigung der Provinzen durch die Regierung in der Hauptstadt führte zu heftigen politischen und militärischen Auseinandersetzungen während des gesamten 19   Jahrhunderts Der Grund für die Streitigkeiten lag meist in der regionalen Umsetzung nationaler Verordnungen, die im politischen Machtzentrum in Rio erlassen wurden Sie mündeten in eine Auseinandersetzung um „Zentralismus“ und „Föderalismus“, der die politische und rechtliche Geschichte Brasiliens prägen sollte Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten spiegelt ein ganz praktisches Bedürfnis der politischen Elite des Landes wider Bis dahin hatte die Universität von Coimbra die Kolonie mit einer ausreichenden Anzahl von Juristen versorgt 23 Die „Generation 1780“, die das Land in die Unabhängigkeit führte, wurde dort ausgebildet und trug Maßgebliches zur Idee eines (luso-)brasilianischen Reiches bei 24 Die Errichtung der Jura-Fakultäten sollte im Zeichen der Unabhängigkeit und des nationalen Aufbaus verstanden werden Nach der Unabhängigkeit brauchte der neu gegründete nationale Staat neue bürokratische und politische Führungskräfte und musste daher dafür sorgen, dass die politische Elite bzw die neue Staatsbürokratie im eigenen Land ausgebildet wurde 25 Die Rechtsfakultäten galten seinerzeit als Voraussetzung für eine starke Nation, die ihre eigene Bürokratie, Verwaltung und Führungselite selbst hervorbringen konnte Nicht nur in Brasilien kamen die meisten Staatsmänner aus juristischen oder militärischen Rängen, auch unter Pombal wurde die juristische Ausbildung in der portugiesischsprachigen Welt gestärkt: Die nach Luis Antonio Verneys (1713–1792) pädagogischen Ansätzen26 und Pombals politischem Regalismus reformierte Rechtsfakultät in Coimbra galt mit ihren Bemühungen um das „Nationale Recht“ (Direito Pátrio) als Grundstein für die Verbreitung der Nationalstaatsideologie mit einem zen-

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Zur politischen Kultur der kaiserlichen brasilianischen Gesellschaft siehe z B Alonso, Idéias em movimento, 51–96 Zu einer detaillerten geschichtlichen Darstellung des brasilianischen Kaiserreiches siehe Emília Viotti da Costa, Da Monarquia a República: momentos decisivos (São Paulo: UNESP, 2010), 9 Auflage Siehe Lacombe, Cultura jurídica, 361 Siehe Neves und Machado, O Império do Brasil, 50, und Neder, Iluminismo, 135 Siehe dazu Schwarcz, Espetáculo, 185–186, Gizlene Neder, Discurso jurídico, 99–130, und Lacombe, „A Cultura jurídica“, 363 Verneys Arbeit steht wie keine andere für die Wende in der portugiesischen Pädagogik bis dato Nach dem hegemonialen Einfluss der Jesuiten bis zu ihrer Vertreibung 1759 stellten Verneys Ideen einen klaren Gegensatz zur scholastischen Lernmethode Ratio Studiorum dar Verney wird deswegen gern als portugiesischer Aufklärer dargestellt Sein Manuskript wurde zunächst unter dem Pseudonym Frei Barbadinho in Form von Briefen verfasst und 1746, noch unter Dom João V , heimlich als O Verdadeiro Método de Estudar veröffentlicht Als Oratorianer war Verney ein eindeutiger Feind der Inazianer Zur Bedeutung von Verneys pädagogischer Methode in der portugiesischsprachigen Welt siehe vor allem Paim, História das idéias, 155–163; Simon Schwartzman, Formação da comunidade científica no Brasil (São Paulo: Nacional, 1979), 45–46; Azzi, A crise da cristandade, 47–55; Souza, „Catholic Enlightenment“, 359–363

1 1 Die Gründung der ersten Rechtsfakultäten in Pernambuco und São Paulo

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tralisierten Staat mit einem Monarchen an der Spitze 27 Außerdem waren die juristischen Hochschulen in der neuen „nationalen“ Realität Brasiliens unerlässlich, weil das Land so schnell wie möglich neue Gesetze brauchte Dazu gehörten ein Zivilgesetzbuch sowie neue strafrechtliche Verordnungen, da sich das Land andernfalls weiter an die portugiesische königliche Gesetzgebung (Ordenações) aus der Kolonialzeit hätte anlehnen müssen 28 Die ersten juristischen Hochschulen wurden 1827 nach einem kaiserlichen Dekret ins Leben gerufen und öffneten ihre Tore im darauf folgenden Jahr Nach einer langen Debatte über den Standort entschied sich die politische Führung für São Paulo im Südosten des Landes und Olinda in der nordöstlichen Provinz Pernambuco 29 1854 wurde die Hochschule in Olinda endgültig in die Provinzhauptstadt Recife verlegt 30 Coimbra war eindeutig das Vorbild für die neu gegründeten Rechtsfakultäten in Brasilien Die Debatten über den Erlass der Statuten für die neuen Fakultäten waren stark vom Vorbild der portugiesischen Universität geprägt 31 Letztlich stützten sich die Statuten der brasilianischen Fakultäten – die sogenannten Estatutos-Chachoeira32 – auf die 27 28

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Siehe dazu Neder, Iluminismo, 117–135 Siehe Neder, Discurso, 120 Die Ordenações waren die wichtigsten Quellen des portugiesischen Rechts, benannt nach den jeweiligen Königen, die sie erließen Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal 1822 waren es die Ordenações Filipinas, die seit 1603 galten Sie „waren während der Besetzung Portugals durch Spanien auf Initiative von Felipe II erarbeitet und von Felipe III verkündet worden“ Siehe dazu Schmidt, Zivilrechtskodifikation, 5–8 Über ihre Langlebigkeit bemerkt Zivilrechtler Jan Peter Schmidt Folgendes: „Bemerkenswert ist dabei auch, dass die Ordenações Filipinas erst im Jahr 1867 durch Erlass des ersten portugiesischen Zivilgesetzbuches außer Kraft gesetzt wurden Im unabhängigen Brasilien galten sie gar bis 1917 Bezeichnend ist dabei auch, dass die Ordenações Filipinas zweimal unbeschadet die politische Trennung von dem Land überstanden, das sie geschaffen hatte: Das erste Mal im Jahre 1640, als Portugal seine Unabhängigkeit von Spanien zurückerlangte, unter dessen Fremdherrschaft die Ordenações Filipinas erlassen worden waren, das zweite Mal im Jahr 1822, als Brasilien sich von Portugal lossagte, die Geltung der Ordenações Filipinas aber aufrecht erhielt Die Geltung der Ordenações Filipinas über einen Zeitraum von drei Jahrhunderten veranschaulicht sehr gut drei Merkmale des brasilianischen Rechts: zum Ersten seine starke Verwurzelung im portugiesischen Recht, zum Zweiten seine große Kontinuität und zum Dritten seinen Zentralismus: Trotz seiner kontinentalen Ausmaße galt in Brasilien – jedenfalls in formaler Hinsicht – immer einheitliches Recht“ Ebd , 7 Das erste Zivilgesetzbuch von 1916 (1917 in Kraft getreten) wurde von Barreto-Verehrer Clóvis Beviláqua und Mitglied der „Recife Schule“ entworfen, im Auftrag des Justizministers und künftigen Präsidenten Epitácio Pessoa (1865–1942) Das Werk zeigt einen starken Einfluss deutschsprachiger Rechtswissenschaftler, die Beviláqua über Barreto vermittelt bekam und häufig zitiert Siehe dazu Beviláqua, Código Civil Siehe Venancio Filho, Arcadas, 17–18 Siehe Schwarcz, Espetáculo, 185–186 Zu einer ausführlichen Beschreibung des Prozesses der Gründung der Rechtsfakultäten in Brasilien siehe Venancio Filho, Arcadas, 28–74 Zu einer ausführlichen Geschichte der beiden ersten Rechtsfakultäten in Brasilien siehe Beviláqua, História, und Spencer Vampré, Memórias para a História da Academia de São Paulo (Brasília: INL/MEC, 1977), 2  Auflage Siehe Neder, Iluminismo, 135–148 Mehr zur Erlassung der Statuten und die Gründung der Rechtsfakultäten in Venancio Filho, Arcadas, 28–39

40 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien reformierten Richtlinien Coimbras aus Pombals Zeiten Zudem war die ganze erste Generation von Professoren beider Fakultäten in Coimbra ausgebildet worden 33 Es sollte aber noch bis in die zweite Hälfte des 19  Jahrhunderts dauern, bis die erste Generation einheimischer „Bakkalaureus“ (bacharéis) an die Macht kam 34 Das „portugiesische Erbe“ (herança ibérica) in der brasilianischen (Rechts)Kultur war hegemonisch bis Tobias Barreto und Sílvio Romero im letzten Viertel des 19  Jahrhunderts mit ihrer Rezeption neuer Theorien und Ideen aus dem Ausland für eine Zäsur sorgten Diese fand genau in der Zeit einer soziopolitischen Krise während der kaiserlichen Herrschaft statt Damals gelang es Barreto und Romero durch die Rezeption neuer Quellen, vor allem aus der deutschsprachigen Wissenschaftskultur, die portugiesisch-französische und durch Pombals Reformen geprägte Bildungstradition35 zu hinterfragen Keine Hochschule stand stärker für diese Tradition als die Universität von Coimbra Die ersten Jahre der Rechtsfakultäten waren von prekären Zuständen geprägt Die Studienpläne waren schlecht organisiert und die Einrichtungen mangelhaft 36 Trotzdem sind sich die Analysten darüber einig, dass an diesen Fakultäten wichtige Bausteine für die politische Ordnung und für das brasilianische Rechtsdenken im Zweiten Kaiserreich (1840–1889) entstanden 37 Im Grunde betrachteten die Eliten die Rechtsfakultäten als einen Ort, an dem sie ihre Adelsdiplome und die Legitimation für ihren Eintritt in die Politik und Staatsbürokratie erhielten 38 Aufgrund ihrer Verflechtung mit dem aktuellen politischen Leben wurden die Fakultäten sogar als „Vorsaal des Parlaments“ (ante-sala do Parlamento) bezeichnet 39 Tatsächlich kamen die meisten Führungsköpfe aus ihren Reihen, sodass sie als Kaderschmiede für die politische Elite galt 40 Im Vergleich zu anderen Ausbildungsbereichen wie etwa dem Ingenieurwesen oder der Medizin stieg die Zahl der Jurastudenten in der zweiten Hälfte des 19  Jahrhunderts rapide an Diese Tendenz erklärt sich durch das soziale und politische Prestige, das mit dem Titel eines Jura-Bakkalaureus verbunden war 41 Durch ihr Vorbild prägte Coimbra die brasilianische Rechtskultur am nachhaltigsten, aber nicht nur diese, sondern auch die intellektuelle Geschichte des Landes insgesamt Nicht nur Politiker, auch viele Künstler, Schriftsteller und Intellektuellen absolvierten eine juristische Ausbildung Es gab nicht so viele Fachgebiete wie heute, denn diese sollten sich auf der Hochschulebene erst im 20  Jahrhundert durchsetzen 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Siehe Neder, Iluminismo, 135–148 Siehe Lacombe, „A cultura jurídica“, 362 Siehe dazu Costa, „As Novas Idéias“, 179–180 Venancio Filho, Arcadas, 28–74 und 115–116 Siehe Lacombe, „A Cultura jurídica“, 364 Siehe Werebe, „A educação“, 374–375 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 130 Siehe Neves und Machado, O Império do Brasil, 228 Siehe Werebe, „A educação“, 374–375, und Schwarcz, Espetáculo, 186

1.2 Die Figur des Bacharel

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Die Rechtsfakultäten in Brasilien monopolisierten faktisch das ganze Spektrum der geisteswissenschaftlichen Hochschulausbildung, denn dort wurden auch Philosophie, Literatur, Geschichte, Sozialwissenschaften und Journalismus praktiziert, insbesondere außerhalb der Hörsäle 42 Die Fachbereiche oder „Akademien“ (academias),43 wie sie genannt wurden, wuchsen zu wahren „Kulturmikrokosmen“ (núcleos de cultura) heran, in denen Zeitschriften, Publikationen und Ideen zirkulierten, sodass sich hier ein reges intellektuelles Leben entwickelte 44 Dieses Monopol der Rechtsfakultäten wurde erst mit der republikanischen Bildungsreform Benjamin Constant45 (1891) aufgebrochen Die Reform geschah im Geiste der Dezentralisierung, der die Republik ab 1889 im Bildungswesen den Weg öffnete Schon im Kaiserreich (1879) hatte die Reform Leôncio de Carvalho46 versucht, „freie Hochschulen“ (Escolas Livres) im Zeichen einer liberalen Bildungsauffassung einzuführen, deren Wirkung allerdings sehr begrenzt geblieben war 47 1.2 Die Figur des Bacharel Die prägende Rolle der Rechtsfakultäten für die brasilianische Geistesgeschichte als Ausbildungsstätte für die intellektuelle und politische Elite spiegelt sich auch in einer außergewöhnlichen Figur von soziopolitischer Bedeutung wider, die es in dieser Form anderswo nicht gab: dem berühmten Bacharel bzw „Jura-Bakkalaureus“ Dieser ist in erster Linie jemand, der über ein Jura-Diplom und damit über einen höheren sozialen und politischen Status verfügt Das Phänomen des Bacharelismo und seine Bedeutung in der politischen Kultur Brasiliens wurde auch in diversen Studien untersucht und interpretiert 48 Es ist ein Zeichen für die Verflechtungen zwischen der politischen und

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Siehe Venancio Filho, Arcadas, 113–178 Dieser Name geht auf „Denkerakademien“ im 18   Jahrhundert zurück, in denen debattiert und Wissen ausgetauscht wurde: „Die gesammelten Ideen und Erfahrungen wurden in Akademien und anderen Einrichtungen der Realität des Vaterlandes ausgesetzt, denen meist kein langes Leben vergönnt war “ Siehe Stols, „Brasilien“, 127 Siehe Lacombe, „A cultura jurídica“, 364 Mehr zur kulturellen Bedeutung der Rechtsfakultäten in Eurico Jorge Campelo Cabral, „O liberalismo em Pernambuco: as metamorfoses políticas de uma época (1800–1825)“ (Diss Universidade Federal de Pernambuco, 2008), 92–94, und Venancio, Arcadas, 143 Nach dem Bildungsminister Benjamin Constant Botelho de Magalhães (1836–1891) benannt Nach dem Minister und Kabinettschef Carlos Leôncio da Silva Carvalho (1847–1912) benannt Siehe Venancio Filho, Arcadas, 273 Zum Phänomen des Bacharelismo in der brasilianischen Gesellschaft siehe die folgenden Klassiker der soziologisch-politischen Literatur in Brasilien: Holanda, Raízes, vor allem Kapitel 6, „Novos Tempos“, 153–167 Deutsche Auflage: Ders , Die Wurzeln Brasiliens: Essay (Berlin: Suhrkamp, 2013); Gilberto Freyre, Sobrados e mucambos: entendimento e interpretação (Recife: Fundação Joaquim Nabuco, 1996) Deutsche Auflage: Ders , Das Land in der Stadt: die Entwicklung der urbanen Gesellschaft Brasiliens (Klett-Cotta, 1982), und Faoro, Os donos do poder Zum Einfluss der Bacharel

42 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien der juristischen Kultur in Brasilien Seine Wurzeln liegen in der portugiesischen politischen Kultur mit ihrer adligen richterlich-klerikalen Schicht bzw ihren Politik-Dienern Die daraus entstandene Nobilitätskultur achtete Arbeit gering und legte viel Wert auf rhetorisches Wissen 49 In diesem adligen System wurden Hochschuldiplome als Prestigeobjekte geschätzt 50 Die Ursprünge einer solchen akademischen Kultur liegen in der jesuitischen Ausbildung mit ihrer Figur des „Bakkalaureus“ 51 Die Hochschulausbildung an sich galt im 19  Jahrhundert primär als Zeichen von Nobilität und Zugehörigkeit zu einem höheren hierarchischen Rang, aber nicht unbedingt als Zeichen für den Erwerb bestimmter praktischer Fachkompetenzen 52 Hinzu kommt noch die Tatsache, dass in Brasilien damals eine Hochschulausbildung nur einer verschwindend geringen Minderheit der Bevölkerung zugänglich war 53 Meistens handelte es sich wie gesagt um die Familienmitglieder der Großgrundbesitzer oder der traditionellen Eliten des Landes, die an die beiden Fakultäten gelangten Das Konzept einer Ausbildung für die Massen war völlig fremd und sogar unerwünscht: Der größte Teil der Bevölkerung konnte kaum lesen und schreiben,54 sodass jemand, der diese Fähigkeit besaß, bereits als privilegiert galt 55 Wegen der Bedeutung des Bacharel in der Geschichte Brasiliens, wird dieses Land nach der Gründung der Republik 1889 auch als „Land des Bakkalaureus“ (Terra dos Bacharéis) bezeichnet Zur Zeit der ersten Republik zwischen 1889 und 1930 kam den diplomierten Bacharéis zusammen mit dem Militär bei der Führung des Landes eine Vormachtstellung zu56  – viele Politiker, Abgeordnete, Minister, Senatoren und bald auch Präsidenten waren Bacharéis Auch heute heißt es in Brasilien noch, Erfolg habe man in diesem „Land der Doktoren“ (Terra de Doutores) nur mit einem Jura- oder Medizinstudium – auch wenn in den meisten Fällen kein richtiger, durch ein Studium erworbener Doktortitel vorliegt

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im politischen Leben Brasiliens siehe ebenso Sérgio França Adorno de Abreu, Os aprendizes do poder: o bacharelismo liberal na política brasiliera (Rio de Janeiro: Paz e Terra, 1988); Venancio Filho, Arcadas, 271–302, und Neder, Discurso jurídico, 99–130 Siehe dazu insbesondere Venancio Filho, Arcadas, 4–5 und 276–277 Schwarcz, Espetáculo, 186 Venancio Filho, Arcadas, 271–278 Werebe, „A educação“, 368–375 Ebd Ebd , 369 Ebd So wurde die erbärmliche Lage in der brasilianischen Bildung im 19  Jahrhundert beschrieben Siehe Adorno, Aprendizes, und Venancio Filho, Arcadas, 271–302

1 3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten

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1.3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten Trotz ihrer gemeinsamen Wurzeln in Coimbra und in der Ausbildungskultur der Jesuiten (Rhetorik und Metaphysik) weisen die beiden Fakultäten in São Paulo und in Recife Unterschiede auf, die mit den jeweiligen regionalen Kontexten zusammenhängen Zunächst wurden beide stark von den religiösen Seminaren geprägt, die bis dahin in der Hochschulbildung überwogen 57 Dieser Einfluss zeigt sich konkret in der materiellen (Not)Lage der Rechtsfakultäten in ihren Gründungsjahren:58 Beide wurden in ehemaligen Klöstern (zunächst provisorisch) angesiedelt und übernahmen dadurch nicht nur etwas vom Geist der jeweiligen religiösen Orden, sondern konkret auch ihre Bücher und Bibliotheken 59 Zum soziopolitischen und wirtschaftlichen Hintergrund von Recife gehört der wichtige Handelshafen der Stadt Nach der holländischen Besetzung zwischen 1630 und 1654 erfuhr die Stadt einen starken Bevölkerungszuwachs und eine bedeutende Händlerschicht entstand 60 Im geistigen Panorama Pernambucos wird den Oratorianern eine wichtige Rolle zugeschrieben Zwischen 1679 und 1680 installierte sich dieser Orden in der Stadt und füllte nach der Vertreibung der Jesuiten 1759 die dadurch entstandene Lücke aus, sodass ihre kulturelle und intellektuelle Bedeutung wuchs Zusammen mit den Benediktinern, die in Olinda (nahe bei Recife) ansäßig waren, teilten sich die Oratorianer (und früher auch die Jesuiten) den Zugriff auf die Bildung in der Region 61 Die Rechtsfakultät wurde vorerst im Benediktinerkloster in Olinda angesiedelt und war dem starken Einfluss dieses Ordens ausgesetzt, der von kontemplativer und geistiger Orientierung gekennzeichnet ist Diese zeigt sich in ihrer großen Wertschätzung des Studiums und auch in der Offenheit zur humanistischen Tradition Viele benediktinische Glaubensbrüder beteiligten sich an den politischen Revolten der Provinz in der ersten Hälfte des 19  Jahrhunderts 62 Außerdem wurde die Rechtsfakultät von Recife ebenso vom politisch-ideologischen Geist Pernambucos beeinflusst und spürte die durch die Unabhängigkeitsbewegungen von 1817 und 1824 ausgelöste liberale Stimmung der Provinz 63 Die meisten Analysten sind sich über die bildungspolitische Bedeutung der Oratorianer und ihres Seminars von Olinda (Seminário de Olinda) in diesen Revolten einig 64

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Dieses Argument wird ausführlicher in Neder, Discurso jurídico, 99–130, und dies , Iluminismo, 141–148, dargestellt Siehe auch Fernandes, Poder e saber, 29–47 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 36 Venancio Filho, Arcadas, 28–74, und Cabral, „O liberalismo em Pernambuco“, 94 Siehe Denis Bernardes, „Notas sobre a formação social do Nordeste“, in: Lua Nova 71 (2007), 41–79 Siehe ders , O patriotismo constitucional: Pernambuco, 1820–1822 (São Paulo: Hucitec, 2006), 131–138 Siehe Stols, Brasilien, 128, und Neder, Iluminismo, 147 Siehe Neder, Iluminismo, 145 Siehe Amaro Quinta, „A agitação republicana no nordeste“, in: Sérgio Buarque de Holanda und Pedro Moacyr Campos (Hg ), História Geral da Civilização Brasileira, Bd  2: Brasil Monárquico,

44 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien Das Seminar wurde 1800 von José Joaquim da Cunha Azeredo Coutinho (1742– 1821) gegründet Er war der Cousin des reformistischen Rektors Coimbras, Francisco de Lemos Faria Pereira Coutinho (1735–1822), der von der Pombal-Regierung 1770 ernannt worden war,65 um die Reformen der Universität voranzutreiben Das Seminar war bedeutend, weil es andere Studenten aus der Region anzog und für den Aufbau des sozial-intellektuellen Netzwerks, das hinter den Revolten stand, äußerst wichtig war 66 Dennoch beschränkt sich die Bedeutung der Oratorianer für die Gründungsjahre der Rechtsfakultät nicht nur auf diesen geistigen Aspekt Der Historiker Denis Bernardes, der den Einfluss der Oratorianer in Recife untersuchte, betont, dass die Bibliothek der Rechtsfakultät von Olinda/Recife den Buchbestand der Oratorianer erbte 67 Dort befanden sich viele Werke des modernen empirischen Gedankenguts, wie etwa von Isaac Newton (1643–1727), Christian Wolff (1679–1754) oder Pieter van Musschenbroek (1692–1761) 68 So war der Konvent der Oratorianer das größte Zentrum intellektueller Aktivität im Norden Brasiliens zu Beginn des 19  Jahrhunderts Von dort aus wurden beispielsweise Newtons Ideen und das moderne empirische Denken verbreitet Bernardes vermutet, dass auch Frei Caneca (1779–1825), Mitgestalter der Bewegungen von 1817 und 1824, Zugang zu diesen Büchern hatte Damals gab es keine öffentlichen Bibliotheken und laut den Quellen war die der Oratorianer eine der größten, wenn nicht die größte, im Norden des Landes Sie spielte sicherlich eine wichtige Rolle für den geistigen Austausch und somit für das intellektuelle Leben des Nordostens 69 Die Fakultät von São Paulo hingegen wurde vom franziskanischen Erbe geprägt 70 Wegen fehlender Alternativen wurde die Fakultät im Konvent jenes Ordens installiert, wo sie sich noch heute befindet Die Franziskaner waren mit ihrem Seminar in São Paulo sehr einflussreich und prägten die Bildungslandschaft mit ihrer Disziplin und ihren pragmatischen Ansichten 71 Bezeichnend ist, dass heute dort die Jura-Fakultät als Faculdade do Largo do São Francisco bekannt ist (abgekürzt als Sanfran für „Sankt Franziskus“) und ihre Studenten werden als „Franziskaner“ (franciscanos) bezeichnet Der

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3  Teil: Reações e Transações (São Paulo: Difusão Européia do Livro, 1967), 209–210, und Bernardes, Patriotismo, 46 Siehe dazu Azzi, A crise da cristandade, 29–31; Souza, „Catholic Enlightenment“, 389–391 Mehr zu Azeredo Coutinho in: http://linux an gov br/mapa/?p=8959, letzter Zugriff am 04 10 2017 Siehe Bernardes, Patriotismo, 136–139 Ebd , 136 Ebd Ebd , 136–139 Zur Bedeutung dieser liberalen Atmosphäre Pernambucos auf der Rechtsfakultät siehe Neder, Discurso jurídico, 102 Über die Bedeutung von Büchern und die Zirkulation von Ideen in Rio de Janeiro im ersten Quartal des 19  Jahrhunderts siehe Neves und Ferreira, „Booksellers in Rio de Janeiro“ Eine detaillierte Biographie über die Bedeutung von Bibliotheken und die Zirkulation von Büchern befindet sich in Bernardes, Patriotismo, 47 Fn 3 Zur Geschichte der Rechtsfakultät in São Paulo siehe Vampré, Memórias und Adorno, Aprendizes Neder, Discurso jurídico, 103

1 3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten

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Pragmatismus Pombalscher Art und die franziskanische Weltanschauung verbanden sich in dieser Provinz gut mit den Machtinteressen der lokalen Oligarchien Parallel dazu profilierte sich die Fakultät im nordöstlichen Recife durch ihre Öffnung zur philosophischen und aufgeklärten Denkart sowie durch die liberale Atmosphäre der Stadt Die Rechtswissenschaften in São Paulo vertraten hingegen eine dogmatische Ansicht des Rechts, was sich in den Rechtsverfahren widerspiegelte 72 Der politische Liberalismus war eine notwendige Ideologie für die Eliten des Landes im Streit mit der Kolonialmacht und fand sowohl in São Paulo als auch in Recife Befürworter Nun hing der Aufbau der Rechtsfakultäten direkt mit der Abkoppelung von Portugal zusammen: Die neue Nation brauchte eine eigenständige Kaderschmiede für ihre Eliten und die Staatsbürokratie, die im Zeichen von Zentralismus und nationalem Aufbau ausgebildet sein sollte In dieser Hinsicht war die pragmatische und nationalistische Einstellung Coimbras nach Pombals Reformen ein gemeinsames Erbe für beide Fakultäten, weil, wie bereits dargelegt, alle ihrer ersten Professoren und die ganze Generation, die das Land durch den Unabhängigkeitsprozess führte, dort ausgebildet worden waren Der Aufbau der Rechtsfakultäten war in dieser Hinsicht eine direkte Konsequenz dieses Prozesses Die Differenzen zwischen den beiden Fakultäten resultierten aus den unterschiedlichen regionalen kulturpolitischen Kontexten bzw religiösen Hintergründen 73 Dem Pragmatismus der Franziskaner und der regionalen Oligarchien in São Paulo fügt sich ein weiteres Erbe hinzu, nämlich der ausgeprägte Militarismus des ersten Direktors der Fakultät, General José Arouche de Toledo Rendon (1756–1834), der sie in ihren Anfangsjahren maßgeblich prägte In der Folge öffnete sich das Rechtsdenken dort dem orthodoxen Positivismus, der die ideologische Grundlage für die Ausrufung der Republik 1889 lieferte 74 Später entwickelte sich verstärkt autoritäres und nationalistisches Gedankengut in São Paulo durch den Einfluss von Intellektuellen, wie etwa Alberto Torres (1865–1917), Alberto Salles (1855–1904) und Pedro Lessa (1859–1921) 75 Dieses Gedankengut basierte auf nationalistischen und korporativistischen Ansätzen, die in den 1920er und 1930er Jahren sehr erfolgreich waren und durch Persönlichkeiten wie Plínio Salgado (1895–1975) und Miguel Reale (1910–2006) in Brasilien repräsentiert wurden Beide waren in den 1930er Jahren Mitglieder der Aliança Integralista Brasileira, der brasilianischen Variante des Faschismus 76 Im Lauf der Jahre drückten sich solche regionalen kulturpolitischen Unterschiede zwischen den Fakultäten in den Profilen ihrer jeweiligen Studenten aus São Paulo

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Siehe Neder, Iluminismo, 145–146 Der ausgeprägte Dogmatismus in der Rechtsausbildung an der Rechtsfakultät von São Paulo wird im Detail auch von Fernandes, Poder e saber, 29–47 analysiert Siehe Neder, Discurso jurídico, 103 Ebd , 103–110 Ebd , 105 Siehe Bertonha, „Corporativist thinking“

46 1 Das portugiesische bildungspolitische Erbe und die Bedeutung der Rechtskultur in Brasilien etablierte sich als Schule der Politiker, während die Fakultät in Recife für ihr freigeistiges Denken und ihre philosophische Offenheit für neue Ideen wahrgenommen wurde 77 Die Existenz von Persönlichkeiten wie Barreto und Romero sowie der gesamten intellektuellen Bewegung der „Recife Schule“ untermauert diese Vorstellung 78 Beide Fakultäten (Recife und São Paulo) etablierten sich zweifelsohne als große kulturelle Anziehungsorte, in denen neue Ideen sowie Publikationen verbreitet wurden In der Rechtsfakultät von Recife, die wegen der Rezeption deutschsprachiger Autoren im Fokus dieser Arbeit steht, entwickelte sich ein dynamisches soziokulturelles Panorama, das sich im Buchdruck, in Freidenker-Gesellschaften und der Pressevielfalt zeigte Viele Studenten behaupteten damals sogar, auf den Schulbänken weniger gelernt zu haben als in den Kneipen der Bohème, in Burschenschaften, in Diskussionsvereinen oder durch das spannende intellektuelle Leben der Stadt 79 Auch journalistische Aktivitäten zogen viele junge Intellektuelle an, unter ihnen Barreto und Romero selbst Denn die Jahre zwischen 1860 und 1870, als in Recife viele der berühmtesten brasilianischen Juristen der Generation des fin-de-siècle studierten, sahen auch die Verbreitung von vielen Zeitschriften und sonstigen Blättern Die Studenten widmeten sich dem Journalismus, der Literatur und Poesie, der Kunst in den Theaterhäusern und auf Bühnen, in Literaturgremien und in der Freimaurerei 80 Dort entstand eine für die Verbreitung von Ideen und Büchern günstige intellektuelle Stimmung, zunächst ermutigt durch die Bedeutung der Oratorianer und dann durch die Gründung der Rechtsfakultät 81 Damals wurden in Recife auch zahlreiche neue Zeitschriften und Kalenderbücher publiziert, deren Veröffentlichung erst mit der Inbetriebnahme von neuen Druckereien möglich war 82 Ohne eine solche Landschaft für ein intellektuelles Leben mit öffentlichen Plattformen wären die Aktivitäten von Tobias Barreto und Sílvio Romero im letzten Quartal des 19  Jahrhunderts nicht möglich gewesen Das Monopol der beiden Rechtsfakultäten in Recife und in São Paulo auf das Hochschulstudium in Brasilien wurde erst nach der Ausrufung der Republik 1891 beendet Dies geschah mit der fast zeitgleichen Gründung der Rechtsfakultäten von Rio de Janeiro und Bahia als Folge der ersten republikanischen Bildungsreform (Benjamin Constant), die im Geiste der „freien Ausbildung“ (ensino livre) verfasst wurde Damit veranlasste die Verfassung der Republik von 1891 endlich die lang ersehnte Dezentralisierung der Hochschulausbildung in Brasilien 83 Immerhin hatten die beiden ersten Rechtsfakultäten mit ihrer langwährenden Dominanz die Rechtskultur in Brasilien geprägt und spielten auch weiter eine wichtige Rolle im politisch-intellektuellen Leben 77 78 79 80 81 82 83

Siehe Venancio Filho, Arcadas, 165, und Neder, Iluminismo, 143 Siehe Neder, Discurso jurídico, 103–110 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 130–144 Ebd , 136–144 Siehe Cabral, „O liberalismo em Pernambuco“, 94 Siehe ebd Siehe Venancio Filho, Arcadas, 179–199

1 3 Die regionalen Unterschiede zwischen den beiden Rechtsfakultäten

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Die letzte Bildungsreform im Kaiserreich namens Leôncio de Carvalho (1879) hatte trotz der flammenden Diskussionen, die sie bewirkte, geringe praktische Effekte 84 Erst nach der Republik durften die ersten freien Fakultäten ihre Türen öffnen 85 Im März respektive April 1891 wurden die berühmten Freien Rechts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultäten von Rio de Janeiro (Faculdade Livre de Ciências Jurídicas e Sociais do Rio de Janeiro) und die Freie Rechtsfakultät von Bahia (Faculdade Livre de Direito da Bahia) ins Leben gerufen Beide erfuhren einen starken Einfluss von Recife, weil viele ihrer Professoren dort ausgebildet worden waren oder ursprünglich dort gelehrt hatten und später nach Rio oder Bahia kamen 86 Unter ihnen befanden sich Sílvio Romero und auch Clóvis Beviláqua (1859–1944), der ein großer Bewunderer von Barretos Ideen war und späterer Verfasser des brasilianischen Zivilgesetzbuches von 1916, das bis 2002 gelten sollte Durch Barreto kam er in Kontakt mit deutschsprachigen Juristen, die ihn stark in seinem zivilrechtlichen Werk beeinflussten Dies galt insbesondere für Rudolf von Jhering, zu dessen großem Vermittler Barreto wurde Dieser Einfluss einer rechtssoziologischen Auffassung schlug sich durch die Verankerung der Zivilrechte im Gesetzbuch praktisch nieder 87 Weitere Fakultäten wurden in Ouro Preto (1892) (nachher in Belo Horizonte) und in Porto Alegre (1900) gegründet Bis 1930 wurden noch zwei Fakultäten errichtet, eine in Pará (1902) und eine weitere in Ceará (1903) 88

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Ebd , 87–91 Ebd , 185 Siehe ebd , Neder, Iluminismo, 143–144 Siehe Mario G Losano, Studien zu Jhering und Gerber (Ebelsbach: Rolf Gremer, 1984), Teil 2, 168 Von nun zit als Studien Siehe Venancio Filho, Arcadas, 185–194

2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens „Alles wird infrage gestellt“ (tudo se põe em discussão), beteuert Romero in einer klassischen Aussage der brasilianischen Ideengeschichte, die die Geburtsstunde der „Recife Schule“ kennzeichnet 1 Das versteht sich vor allem als Kritik an den Säulen der politisch-intellektuellen Elite des Landes, insbesondere am portugiesischen bildungspolitischen Erbe und an der französischen intellektuellen Prägung der Eliten: die eklektizistische Philosophie, der Katholizismus mit seiner (thomistischen) Scholastik und der romantische Spiritualismus waren klare Feindbilder der „Recife Schule“ Diese Kritik stand im Kontext einer politischen, institutionellen, sozialen und zugleich kulturellen Krise, in der sowohl traditionelle Grundlagen als auch Denkformen in Abrede gestellt wurden In diesem Zusammenhang rezipiert die brasilianische „Generation 1870“ ein „Mosaik von ‚Ismen‘“2 und bei dieser Rezeption übernahm die „Recife Schule“ eine landesweit führende Rolle 3 Evolutionismus, Positivismus, Naturalismus, Darwinismus und letztlich auch Monismus tauchten damals als Schlag- und Kampfworte auf, die heftige Auseinandersetzungen auslösten Als Romero die oben erwähnte Kritik mit einem historischen Abstand von 30 Jahren verfasste, waren die früheren „Neuheiten“ weder so neu noch politisch so bedrohlich wie in den 1870er Jahren, als er und Barreto ihren intellektuellen Werdegang im politischen Journalismus initiierten Andere Zeiten waren angebrochen: Barreto war längst tot und die Republik seit 1889 in Kraft, weswegen Romeros Aussage den Eindruck einer Generationenbilanz erweckt Er wollte sich zweifelsohne im Nachhinein als „Sprachrohr“ seiner Generation ein Denkmal setzen und mit seinen Kampfparolen die historische Bedeutung der „Recife Schule“ für die intellektuelle Geschichte Brasiliens hervorheben Und er wollte dabei auch seine eigene Rolle und

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Siehe Sílvio Romero, „O Brasil Social de Euclides da Cunha“, in: Ders , Realidades e ilusões no Brasil: Parlamentarismo e presidencialismo e outros ensaios, hg von Hildon Rocha (Petrópolis: Vozes, 1979), 162–163 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Schwarcz, Espetáculo, 38 Siehe Romero, „O Brasil Social“, 162–163

2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

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die seines intellektuellen Gefährten Barreto, der von verschiedenen Seiten immer wieder kritisiert und boykottiert wurde, unterstreichen Schließlich hatte Romero Barreto kurz vor dessen Tod versprochen, sein intellektuelles Erbe vor „Verleumdern“ zu schützen: „Ich bitte dich um eines“, schrieb Barreto an den Freund in einem seiner letzten Briefe, „wenn ich sterbe, schütze mein Erbe vor den Klauen der Verleumder“ 4 Das tat Romero auch, indem er das Werk des Freundes, auch im Hinblick auf seine eigenen Dispute, teilweise politisch-intellektuell instrumentalisierte: Romero war für die meisten posthumen Publikationen von Barretos Texten verantwortlich und versah sie mit zahlreichen Fußnoten und Anmerkungen, mit deren Hilfe er Barretos Schriften in seinem eigenem Sinn auslegte 5 Barretos Werk erfuhr zwei historische Instrumentalisierungen: eine erste unmittelbar nach seinem Tod durch seinen intellektuellen Mitstreiter und Freund Sílvio Romero Sie wurde im Sinne der Aufhebung der Bedeutung der „Recife Schule“ innerhalb von Brasiliens Geistesgeschichte betrieben Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass viele von Barretos Schriften nur dank Romeros Engagement die nachfolgenden Generationen erreichten Ohne sein Bemühen wären viele davon vermutlich gar nicht veröffentlicht worden und vielleicht sogar verloren gegangen Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte es einen neuen Versuch seitens Miguel Reales und seiner Kollegen vom Instituto Brasileiro de Filosofia6 geben, Barretos Denken in einem neuen ideologischen Rahmen zu interpretieren Diese Umdeutung geschah vor dem Hintergrund des katholischen Humanismus thomistischer Prägung eines Jacques Maritain und der Neubelebung des (Neo)Thomismus innerhalb der „Katholischen Aktion“ Der Ansatz Reales und seiner Gruppe zielte darauf ab, Barretos radikalen Liberalismus, Antiklerikalismus und Antithomismus in einer Periode der Schwächung der liberalen Kräfte nach 15 Jahren (1930–1945) durch den autoritären Kurs von Machthaber Getúlio Vargas und nach den Jahren seiner Diktatur (1937–1945) zu benutzen, um den Estado Novo („Neuen Staat“) zu zügeln Reale bemühte sich, Barretos Denken 4 5

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Im Original: „Peço-lhe uma coisa: se eu morrer, salve a minha memória das garras de tratantes …“ Brief Tobias Barretos an Sílvio Romero, Recife, 22 9 1887, in: Barreto, Estudos Alemães, 245 Frei übersetzt aus dem Portugiesischen Als ein erstes Beispiel für eine Auslegung in Romeros eigenem Sinne kann die oben zitierte Rede gelten, siehe Sílvio Romero, „O Brasil Social de Euclides da Cunha“, in: Ders , Realidades e ilusões no Brasil: Parlamentarismo e presidencialismo e outros ensaios, hg von Hildon Rocha (Petrópolis: Vozes, 1979) Ein weiteres Beispiel für Romeros Instrumentalisierung ist sein für die zweite Auflage des Estudos Alemães 1892 verfasstes Vorwort Considerações Indispensáveis („unverzichtbare Betrachtungen“) Siehe Sílvio Romero, „Considerações Indispensáveis“, in: Tobias Barreto, Estudos Alemães, Obras Completas VIII, Edição do Estado do Sergipe (Rio de Janeiro: Pongetti & C , 1926), XIII–XXVII Dazu siehe Dirk Heinrich, „Die Escola de São Paulo und der akademische Kontext um Brasilien der 50er Jahre“, in: Susanne Klengel und Holger Siever (Hg ), Das Dritte Ufer: Vilém Flusser und Brasilien: Kontexte – Migration – Übersetzungen (Würzburg: Königshausen und Neumann, 2009), 51–62, und Izabela Maria Furtado Kestler, „Exil: Flussers intellektuelles Netzwerk in Brasilien“, in: Ebd , 99–110

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

eine katholische Färbung im Sinne von Maritains Thomismus zu geben Im Grunde beraubte Reale teilweise Barretos Denken seiner monistischen Weltsicht, weil diese grundsätzlich dem Thomismus entgegenstand 2.1 „Evolution“ als Paradigma Trotz der Rhetorik, die Romero in vielen seiner Texte über die „Recife Schule“ verwendete und die bezeichnend für die brasilianische juristische Kultur des 19  Jahrhunderts war, sind seine Worte symptomatisch für die Art und Weise, wie die damalige Generation die politische und intellektuelle Lage beurteilte Er sah sich selbst und auch Barreto als „Kämpfer“ für ein neues Gedankengut bzw für eine neue Mentalität, die dem bisherigen „Rückstand“ entgegengesetzt werden sollte 7 Sie sahen sich als „Reformatoren“, die dem brasilianischen Denken den „Fortschritt“ bringen würden Die Ideologie des Fortschrittes und der Evolution im Sinne Charles Darwins (1809– 1882) prägte – wie bei vielen ihrer Zeit – ihre Denkweise, denn sie glaubten an einen unverzüglichen Aufbruch der modernen Gesellschaften in Richtung „Fortschritt“ Vor diesem Hintergrund kam es zu Spekulationen darüber, was diesen Prozess verhindern oder beschleunigen könnte Diese Frage beschäftigte sowohl das politische und soziale Denken als auch die neuen wissenschaftlichen Diskurse, die sich damals ausbreiteten Häufig waren sie mit rassistischen und sozial-evolutionistischen Ansätzen beladen 8 Der biologisch-evolutionistische Diskurs wurde zum Paradigma und beeinflusste damit auch den Sprachgebrauch Intellektueller wie Barreto und Romero, die sich selbst als Erneurer sahen 9 Zudem eigneten sie sich deutschsprachige Autoren wie etwa Haeckel an, die eine neue Form der wissenschaftlichen Weltanschauung vertraten, um gegen Scholastik und Naturrecht zu argumentieren Deswegen diente der Zoologe 7

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Siehe dazu Sylvio Roméro, Zéverissimações ineptas da critica (repulsas e desabafos) (Porto: Officinas do ‚Commercio do Porto‘, 1909), 1 Auflage, 41 Paradigmatisch dafür ist auch ders , Evolução da litteratura brasileira (Vista synthetica)), Com uma biographia do auctor por Dunshee de Abranches, (o O : Campanha, 1905), 129–134 Siehe auch Barreto, „O Atraso da Filosofia entre Nós“, in: Estudos de filosofia, 172–191 Die Historikerin Emília Viotti da Costa definiert die damalige Lage der brasilianischen Intellektuellen folgendermaßen: „In the eyes of the reformers Europe symbolized progress, and to be progressive meant to recreate the models of European elites Living in a country dependent on European markets they looked towards Europe for arguments and models, which not only served as guides but conferred prestige and authority In spite of the proliferation of cultural institutions, newspapers, and journals and the constant increase in the number able to read, the conditions for the independent production of ideas were far from ideal Most of the population continued to be illiterate (78 per cent in 1872) […] All this created obstacles for an internal debate of ideas conductive to the creation of a relatively autonomous culture ‚We are consumers, not producers of ideas‘, commented Tobias Barreto, a leading intellectual of the 1870s and 1880s “ So Barretos Kritik am Mainstream, zitiert nach Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 749 Siehe Schwarcz, Espetáculo, 57

2 2 Der Streit zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus

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beiden brasilianischen Juristen als Werkzeug in diesem wahren „Kampf der Ideen“ Sie setzten sich mit der „Rückständigkeit“ auseinander, die durch die politischen und intellektuellen Eliten portugiesisch-katholischer Prägung mit ihren französischen Gewohnheiten verkörpert wurde 10 In diesem Kontext wurden seitens brasilianischer Intellektueller neue europäische Denker rezipiert, und zwar nicht nur französische und englische (Darwin), sondern zum ersten Mal auch deutschsprachige 11 Barreto war vor allem von denjenigen deutschsprachigen Autoren fasziniert, die gegen die Scholastik und die Metaphysik katholischer Prägung argumentierten Diese deutliche antischolastische und antithomistische Sichtweise war unter „Evolutionisten“ und „Darwinisten“ tief ausgeprägt 12 Sie passte zum antiklerikalen Weltblick Barretos und Romeros und ließ sich nicht nur gegen den französischen eklektisch-romantischen Einfluss bei der brasilianischen Elite instrumentalisieren, sondern auch gegen die neue Welle der Positivisten Comte’scher Prägung Vor allem nach dem Deutsch-Französischen Krieg wurden die Deutschen zu ‚Erzfeinden‘ alles Französischen auf der Weltbühne, auch oder gar hauptsächlich in der Kultur Deutschsprachiges Schriftgut lieferte insofern zumeist ein willkommenes Argumentationsmaterial für antifranzösische Kritik 2.2 Der Streit zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus Das Erste Vatikanische Konzil zwischen 1869 und 1870 beflügelte bereits existierende historische Dispute innerhalb des katholischen Glaubens, wie etwa denjenigen zwischen den Anhängern des Ultramontanismus und des Antiultramontanismus Weiterhin brachte der Deutsch-Französische Krieg die wachsenden Nationalismen mitten in Europa zum Vorschein In dieser Konjunktur war die Rezeption von deutschsprachigen Wissenschaftlern von politischer Bedeutung, besonders in einer Kultur, die vom intellektuellen Einfluss Frankreichs geprägt war Die deutschsprachige wissenschaftliche Kultur wurde von Barreto und Romero als Gegensatz zu allem verstanden, was sie ideologisch bekämpfen wollten: Restauration, Eklektizismus, thomistische Scholastik, Katholizismus, romantischen Spiritualismus und später den französischen Positivismus von Auguste Comte (1798–1857) Seiner Kritik an der Metaphysik zum Trotz passte Comtes Denken gut zum sozial-evolutionistischen Determinismus und 10 11

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Siehe Barreto, „Carta ao Redator da Deutsche Zeitung do Rio de Janeiro“, in: Estudos Alemães, 53–54 So fasste Viotti da Costa die Lage zusammen: „Placed between an oligarchy they wanted to combat and the masses they did not trust, the reformers of the 1870s and the 1880s found their inspiration in positivism They abandoned Cousin and Jouffroy’s eclectism – which had served the elites of the Regency in the 1830s and the Conciliation of the 1850s and 1860s – to embrace Comte and Spencer Those authors offered them a doctrine, a method of analysis, a political theory, and most of all the reassuring conviction that mankind was inevitably driven to progress […]“ Siehe Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 749 Siehe Breidbach, „Haeckel-Rezeption“

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

zu den autoritären politischen Vorstellungen der brasilianischen Elite Es wurde deswegen begeistert vom brasilianischen Establishment aufgenommen, vor allem seitens des Militärs, das später den Ausruf der Republik anführte Im Jahr 1869 schloss Tobias Barreto sein Jura-Studium an der Rechtsfakultät von Recife ab Von nun an widmete er sich intensiver seiner Tätigkeit als Journalist und Kritiker, die sein ganzes Leben prägen sollte Seinen eigenen Aussagen zufolge war es ebenfalls in diesem Jahr, dass er das Studium der deutschen Sprache (allerdings noch nicht intensiv) aufnahm 13 Die Jahre 1869–1870 lassen ein Momentum des Aufbruchs sowohl in der brasilianischen Geschichte als auch auf der internationalen Bühne aufblitzen Zu dieser Zeit setzten sich viele materielle und technische Veränderungen als Ergebnis von Industrialisierung und Urbanisierung in Brasilien durch, vor allem bei den Verkehrsmitteln und in den Kommunikationsmöglichkeiten 14 Ein weiteres wichtiges Ereignis war das Ende des Paraguayischen Kriegs (1864–1870) zwischen Argentinien, Uruguay, Brasilien einerseits und Paraguay andererseits Dieser internationale Konflikt machte das Militär zu einem immer bedeutenderen Akteur auf der politischen Bühne Brasiliens Dadurch wurden auch die Differenzen zwischen Militär und Aristokratie immer deutlicher 15 Bereits 1868 kam es zu einer Spaltung in den Reihen der traditionellen Liberalen Partei, die auf tiefe Gräben innerhalb der Machtelite hinwies und die Krise in der Politik offenbarte 16 Sozialpolitisch konnten die Gegner der Sklaverei – die Abolitionisten – mit ihren Forderungen nicht mehr überhört werden Dadurch wurde das ganze Produktionssystem, das sich auf schwarzafrikanische Zwangsarbeit stützte, infrage gestellt Die Agrarelite sah sich mit Befürchtungen produktionswirtschaftlicher und sozialer Natur konfrontiert Die Abschaffung der Sklaverei schürte die Ängste der Elite vor der Rache der Sklaven an ihren alten Herren Die produktive Basis des Landes war auf Großplantagen angelegt und in erster Linie auf den Export primärer Güter ausgerichtet (Zucker und ab der Mitte des 19  Jahrhunderts immer mehr auch Kaffee) Die Zuckerherren des Nordostens repräsentierten diesen Produktionsmodus, der auf der Arbeit von schwarzen Männern und Frauen beruhte 17 Ab 1871 wurde die Krise unübersehbar: Nach einer langen Amtszeit der Liberalen Partei, löste eine Koalition der Konservativen die alte Regierung ab und präsentierte eine Reformagenda Das neue Kabinett sollte die Krise eindämmen und das Land wie13 14

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Brief Tobias Barretos an Carvalho Lima Júnior, Escada, 6 8 1880, in: Barreto, Estudos Alemães, 223 Siehe dazu Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 725–778; ders , Da Monarquia à República, 253–271, Alonso, Idéias em movimento, 92–96, und José Murillo de Carvalho, „A Vida Política“, in: Ders (Hg ), A construção nacional 1830–1889, História contemporânea do Brasil, Bd  2 (Rio de Janeiro: Objetiva, 2012), 111–116 Siehe Graham, „Brazil from the middle of the nineteenth century“ Siehe Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 725–778; Carvalho, „A Vida Política“, 83–129, und Alonso, Idéias em movimento, 112–130 Siehe Graham, „Brazil from the middle of the nineteenth century“, 747–794

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der auf Kurs bringen Aber die Reformen vertieften die politischen Wunden nur noch mehr: Die konservative Machtkoalition rund um Staatschef Rio Branco, der zwischen 1871 und 1875 regierte, markierte eine sozialpolitische Wende in der Geschichte des Kaiserreichs von Pedro II , die zugleich den Anfang seines Endes einläutete Der von dem Freimauer José Maria da Silva Paranhos (1819–1880), Graf von Rio Branco, vorgeschlagene Reformkurs setzte Maßnahmen wie das Lei do Ventre Livre (1871) durch Dieses Gesetz gewährte den Nachkommen der Sklaven die Freiheit Trotz seiner beinahe vollständigen Wirkungslosigkeit in der Praxis – denn die Kinder blieben in der Regel unter der Einflusssphäre ihrer Besitzer, bis sie das 21 Lebensjahr erreicht hatten – wirkte das Gesetz in der angespannten politisch-ideologischen Lage wie eine Bombe Die Aussicht auf ein Ende der Sklaverei ließ den Konflikt der Regierung mit den alten Großgrundbesitzern aus dem Nordosten, die ihr Geschäft hauptsächlich mit Sklavenarbeit betrieben, eskalieren 18 Vor diesem Hintergrund trat die Regierung immer stärker für eine staatlich geförderte Immigration von europäischen Arbeitern als Lösung des Problems ein Aber diese Scheinlösung verschärfte die Differenzen: Unter den Einwanderern befanden sich viele, die einen anderen religiösen Glauben, andere Lebensweisen oder politische Vorstellungen hatten – dies inmitten des „Kulturkampfes“ der katholischen Kirche gegen Liberalismus und Materialismus und den wachsenden Auseinandersetzungen zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus Die Migration fiel mit einem Prozess der allmählichen Urbanisierung als Ergebnis einer noch keimenden Industrialisierung zusammen Viele Migranten, die sich nicht mit den äußerst schlechten Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft abfinden wollten, zogen in die Städte 19 Sie waren auch bereit, für bessere Lebensbedingungen zu kämpfen und verfügten meist über eine bessere Ausbildung als die große Mehrheit der einheimischen Bevölkerung Viele von ihnen gründeten Zeitschriften und Verlage und betätigten sich als Kaufleute oder Lehrer 20 Während der Regierungszeit Rio Brancos (1871–1875) wurden einige wichtige technische Innovationen auf den Weg gebracht, die zu einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen in Brasilien führten Gleichzeitig waren sie das Ergebnis eines Prozesses des wirtschaftlichen Wachstums und der langsamen Umgestaltung der produktiven Struktur im Lande, die seit Mitte des Jahrhunderts allmählich in Bewegung kam Ab 1850 sah das Land eine Entfaltung der Wirtschaft, die durch das Verbot des Sklavenhandels animiert wurde Es stand mehr Kapital zur Verfügung, das in andere 18 19 20

Siehe dazu Jeffrey D Needell, „Brasilien 1830–1889“, in: Lateinamerika von 1760 bis 1900, 475–481 Zum „Lei do Ventre Livre“ siehe Keila Grinberg, O fiador dos brasileiros (Rio de Janeiro: Civilização Brasileira, 2002), 318 Zu diesem Prozess der gesellschaftlichen Änderung ab 1870 siehe vor allem Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 725–778; Sidney Chalhoub, „População e Sociedade“, in: A construção nacional, 37–81, und Needell, „Brasilien 1830–1889“, 475–493 Siehe Costa, Da Monarquia à República, 253–271

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wirtschaftliche Bereiche investiert werden konnte Diese Gelder wurden in den neuen Kaffeeplantagen im Südosten des Landes angelegt, sodass den alten Zuckerplantagen im Nordosten ihre Stellung als produktiver Mittelpunkt allmählich entzogen wurde Diese Erneuerung brachte eine wachsende Migration (vor allem aus Europa) mit sich und führte zu einer Urbanisierung und einem Diversifizierungsprozess verschiedener Aktivitäten Urbanisation und Diversifizierung der produktiven Struktur forderten ihrerseits den Ausbau der staatlichen Bürokratie So wurden neuen Stellen und Möglichkeiten geschaffen, vor allem in der mittleren Bürokratie und auch in der Ausbildung 21 Unter Rio Branco fand zum Beispiel die erste landesweite Volkszählung (senso) statt 22 Zudem wurden die telegraphischen Kabel bis nach Europa verlegt, was den transatlantischen Informations- und Nachrichtenaustausch deutlich beschleunigte Die interne Kommunikation zwischen den Provinzen wurde durch Dampfschiffe und das Eisenbahnnetz erleichtert Die Regierung führte eine nationale Einheitsreform ein und ergriff Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft Das alles zusammen stärkte den Büchermarkt, intensivierte die Ideenzirkulation und förderte auch die Gründung neuer Zeitschriften und Verlage Diese erhielten nun durch die Verbreitung der Druckmaschinen einen deutlichen Impuls 23 Ohne diese materiellen Neuerungen wäre es Barreto nicht möglich gewesen, später seine eigenen Zeitschriften in einem kleinen Dorf im Nordosten zu publizieren Brasilien blieb von den politisch-religiösen Disputen zwischen den Jesuiten und Ultramontanen einerseits und den Jansenisten, Regalisten, Freimaurern, Materialisten, Liberalen und Freidenkern andererseits, die nach dem Ersten Vatikanischen Konzil eskalierten, nicht unberührt Bald sollte diese Krise auch das Kabinett Rio Brancos in seinem Kern treffen Das Erste Vatikanische Konzil von 1869–1870 fand während der Prozesse der Nationaleinigungen in Europa (hauptsächlich in Italien und Deutschland) statt Seine bekannteste Resolution war die Pastor Aeternis, die die Unfehlbarkeit des Papstes verkündete und die zwischen Staat und Kirche schwelenden Konflikte wegen der wachsenden Nationalismen schürte Deswegen wurden damals auch der Jansenismus-Gallikanismus, der Rationalismus und der Materialismus als Sünde verurteilt Einer der Wegbereiter dieser neuen Richtung Roms war die bereits im Dezember 1864 verabschiedete Enzyklika Quanta Cura In ihrem bekannten Anhang Syllabus Errorum wurden durch den Papst die „Fehler“ der Moderne verurteilt und dadurch die Gräben in den politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen weltweit vertieft Protestantismus, Freimaurerei, Naturalismus, Materialismus, Jansenismus, Judaismus, Liberalismus und Sozialismus wurden allesamt zu Feinden des katholischen Glaubens erklärt

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Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 725–735 Siehe dazu Chalhoub, „População e Sociedade“, 41–46 Siehe Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 753–755

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Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Brasilien waren durch den politischen Regalismus geregelt Dieser lässt sich auf die alte portugiesische Tradition zurückführen und sah sich unter Pombals Staatszentralismus im Sinne seines aufgeklärten Absolutismus gestärkt Das hieß vor allem, dass der brasilianische Staat das Recht hatte, seine Bischöfe selbst zu ernennen (das sogenannte kaiserliche placet), die als staatliche Funktionäre bezahlt wurden Diese Richtung eines halbstaatlichen Klerus fand breite Akzeptanz in weiten Teilen der politischen Elite des Landes, die stark von Freimaurern geprägt war Kaiser Pedro II (1825–1891) selbst soll Mitglied der Freimaurer gewesen sein Die angespannten Beziehungen zwischen Staat und Kirche spitzten sich nach dem Ersten Vatikanischen Konzil deutlich zu und mündeten in einen offenen Konflikt zwischen Regierung und Kirche während Rio Brancos Amtszeit 24 Seit Pius IX romzentralistischem Kurs und noch deutlicher nach dem Konzil sahen sich viele Klerikale in ihren ultramontanen Überzeugungen von Rom unterstützt Vor diesem Hintergrund wendete der neu ernannte Bischof von Olinda Dom Vital (1844–1878) die neuen, vom Vatikan geförderten Richtlinien gegen die Freimaurerei an Vital ließ die Teilnahme von Freimaurern an katholischen Messen verbieten und rief damit einen Streit mit der Spitze der Regierung hervor Dieser führte zu einer zunehmenden Belastung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche, die letztlich in einer Kabinettskrise endete Inzwischen hatte sich auch der Bischof von Pará Macedo Costa (1830–1891) seinem Amtskollegen von Olinda angeschlossen und als Konsequenz ihres kühnen Verhaltens wurden beiden Bischöfe verhaftet, was in der Geschichte Brasiliens einmalig war Die Krise erforderte eine direkte Intervention des Kaisers, der die Entscheidung des Regierungschefs unterstützte Zwei Jahre später erhielten die Priester allerdings das kaiserliche Pardon Die Krise war trotzdem noch lange nicht zu Ende: Sie stärkte die Stimmen derjenigen, die eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche forderten – „freie Kirche im freien Staat“ (Igreja livre no Estado livre) war ihr Motto Dieser Anspruch wurde bis in die republikanische Zeit hinein aufrechterhalten In den Geschichtsbüchern wird diese Staatskrise als „religiöse Frage“ (Questão Religiosa) oder „Bischofsfrage“ (Questão dos Bispos) bezeichnet 25 Die Beziehungen zwischen Staat und Kirche verbesserten sich entscheidend erst in den 1930er Jahren durch eine neue Allianz zwischen politischer und religiöser Macht, die unter der Vargas-Regierung geschmiedet wurde 26

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Siehe Costa, „Brazil: the Age of Reform“, 755–757, und Grinberg, Fiador, 318–319 Mehr Details dazu siehe Jefferson de Almeida Pinto, „A Congregação da Missão e a ‚Questão Religiosa‘ no Segundo Reinado“, in: XXVII Simpósio Nacional de História Conhecimento histórico e diálogo social (Natal/RN, 22 –26 Juli 2013), o S ; Roque Spencer M de Barros, „A Questão Religiosa“, in: HGCB, 4 Teil: Declínio e Queda do Império, 338–365; Antonio Carlos Villaça História da Questão Religiosa (Rio de Janeiro: Francisco Alves, 1974) Siehe dazu vor allem Simon Schwartzman, Helena Maria Bousquet Bomeny und Vanda Maria Ribeiro Costa, Tempos de Capanema (São Paulo: Paz e Terra, 2000), 69–93

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

2.3 Der internationale Kontext: Nationalismus und „Kulturkampf “ Angesichts der wachsenden Nationalismen und der darauffolgenden Säkularisierungen kann das Erste Vatikanische Konzil, das zwischen Dezember 1869 und Juli 1870 stattfand, als ein Versuch der katholischen Kirche verstanden werden, die Macht des Vatikans zu stärken Der Glaube sollte sich weltweit der einheitlichen Kontrolle des Papstes unterwerfen und die von Rom unabhängigen Richtungen sollten geschwächt werden Das Dogma der „Unfehlbarkeit des Papstes“ verschärfte die bereits existierenden Streitigkeiten innerhalb des Katholizismus und mit den jeweiligen staatlichen Mächten und ihren Säkularisierungsansprüchen Beispiele hierfür sind die „Römische Frage“, die dem italienischen Risorgimento den Weg bahnte, sowie der „Kulturkampf “ des deutschen Kanzlers Otto von Bismarck (1815–1898) gegen die katholische Kirche 27 Letzterer hatte große Konsequenzen für die Kultur und spielte eine besondere Rolle im intellektuellen und politischen Leben Aus diesen polarisierenden Konflikten resultierten zwei Positionen: Die der Antiultramontanen (Romkritiker) und die der Ultramontanen (Romunterstützer, insbesondere die Jesuiten) 28 Die Haltung Bismarcks gegenüber dem Römischen Stuhl wurde von vielen Intellektuellen, Wissenschaftlern und Gelehrten unterstützt, die in der Kirche einen Gegner ihrer Freiheit und ihres wissenschaftlichen Weltbildes sahen Das war der Fall bei den sogenannten Darwinisten, Materialisten und Monisten, zu denen sich Ernst Haeckel zählte und der damals als der „deutsche Darwinist“ überhaupt galt 29 Die Spannungen in der Kulturpolitik wurden durch die eskalierenden Polarisierungen nur noch schärfer: Viele wurden entweder als Romkritiker eingestuft (und standen dadurch auf Bismarcks Seite) oder als Sympathisanten papsttreuer Positionen Liberale Haltungen hatten es innerhalb solch gespannter Gegensätzlichkeiten schwer und gerieten dadurch unter Druck Solch ein Kontext bot reichen Nährboden für die politisch-ideologische Instrumentalisierung wissenschaftlicher Theorien In Deutschland zum Beispiel drückte sich der Konflikt zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus deutlich in der vom Theologen Johann Joseph Ignaz von Döllinger (1799–1890) geführten Spaltung der „Altkatholiken“ aus Diese Teilung innerhalb des Katholizismus zog Bayern und die Ludwig-Maximilians-Universität mitten in die politischen Dispute um Romtreue und Romgegner und hatte vielschichtige transatlantische Auswirkungen Döllingers bekannteste Schrift Römische Briefe vom Konzil des Quirinus (Pseudonym für Döllinger und seinen Lieblingsschüler Lord 27

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Zu Bismarcks Kulturkampf mit der katholischen Kirche siehe Sun-Ryol Kim, Die Vorgeschichte der Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung von 1919: Eine Untersuchung über das Verhältnis von Staat und Kirche in Preußen seit der Reichsgründung von 1871 (Hamburg: Lit, 1996), 48–58 Siehe dazu Clark und Kaiser, Culture Wars Siehe Richard Weikart, „The Origins of Social Darwinism in Germany, 1859–1895“, in: Journal of the History of Ideias 54:3 ( Juli 1993), 475

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Acton, 1834–1902) gegen die Unfehlbarkeit des Papstes und die ultramontane Richtung Roms30 wurde in vielen anderen Ländern begeistert rezipiert, so auch in Brasilien Döllinger verfasste seine Schrift als deutliche Ablehnung des Ersten Vatikanischen Konzils und der Unfehlbarkeit des Papstes, in der er für eine eindeutige Trennung zwischen Staat und Kirche plädierte Deswegen wurde er 1871 vom Erzbischof von München Gregor von Scherr (1804–1877) exkommuniziert Im folgenden Jahr aber wurde er zum Rektor der LMU ernannt und bahnte einem deutlich antiultramontanen Kurs bei den theologischen Studien der Universität den Weg, die mit der bis dahin starken Jesuitischen Schule in der Stadt konkurrieren sollte Döllingers Beziehungen zu Personen mit jansenistischer Ausrichtung innerhalb des katholischen Glaubens sind bekannt: Als erste Amtshandlung lud er den jansenistischen Priester Henricus Loos (1813–1873) von der Kirche in Holland nach München ein 31 1873 wurde Döllinger außerdem zum Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt 32 Es lag auch im Interesse der bayerischen Politik, sich als aufgeklärt und modern darzustellen, deswegen unterstützte sie den Druck auf die Jesuiten, die als ein Werkzeug Roms angesehen wurden Überdies besaß die Kirche wertvolle Reichtümer, die das Interesse der Politik erweckten Die Spuren solcher religiös-politischen Konflikte finden sich auch in Brasilien, hauptsächlich in der Beziehung zwischen Staat und Kirche, Regierung und Klerus wieder So entstand die historisch relevante Questão Religiosa, von der auch das intellektuelle Leben in Form von Zuspitzungen bereits existierender Konflikte zwischen Klerikalen und Antiklerikalen betroffen war 1870 begann der Deutsch-Französische Krieg, der eine Zäsur in der europäischen Politik und Kultur auslöste Mit Deutschland entstand ein neuer vereinigter Nationalstaat mitten in Europa mit seinen eigenen kulturellen, identitätsstiftenden Ansprüchen, der versuchte, allmählich mehr Platz auf der internationalen Bühne zu erobern Die französische Niederlage im Jahre 1871 krönte die endgültige Vereinigung der deutschen Territorien unter der Führung des Staatsministers Bismarck und des Hauses der Hohenzollern Der Sieg bedeutete den Erfolg seiner „kleindeutschen Lösung“ ohne die Beteiligung Österreichs und unter der politischen Herrschaft des preußischen Kaisers Diese „Prägung der Nation“ wurde von der Figur des Monarchen Wilhelm I

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Siehe Theologische Realenzyklopädie Online (1982), s v „Döllinger, Johann Joseph Ignaz (1799–1890)“, Bd  9, 20–26, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München: https:// www-degruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 09_020_42?pi=0&moduleId=common-word-wheel&dbJumpTo=D%C3%B6llinger, letzter Zugriff am 29 9 2016 Ab nun zitiert als TRO Siehe Encyclopedia Britannica (1910), s v „Döllinger, Johann Joseph Ignaz von (1799–1890)“, Bd  8, 11   Auflage, 390–392, abrufbar unter Internet Archive: https://archive org/details/EB1911WMF, letzter Zugriff am 4 10 2016 Ab nun zit als EB Siehe dazu Horst Fuhrmann, Ignaz von Döllinger: ein exkommunizierter Theologe als Akademiepräsident und Historiker (Stuttgart: Hirzel, 1999)

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

(1797–1888) zusammen mit seinem überstarken Minister verkörpert Der militärpolitische Sieg Preußens hatte gleichzeitig Konsequenzen für die Kultur: Frankreich hatte jetzt einen neuen Gegner auf der kulturpolitischen Ebene, der ihm auch in seiner Rolle als Kulturnation Konkurrenz bieten sollte In diesem Kontext ist der Ausdruck „Kulturkampf “ einleuchtend, weil er für diese neue Stellung Deutschlands (unter preußischer Führung) steht, dessen militärische und wirtschaftspolitische Stärke schon seit einiger Zeit spürbar gewesen war 33 Dieser Aufstieg eines neuen Akteurs auf der internationalen Bühne mit diversen Ansprüchen auf kultureller, politischer und wissenschaftlicher Ebene wurde auch von den damaligen französischen Medien bemerkt und vermittelt Auf diesem Weg wurden viele brasilianische Intellektuelle darüber informiert, die sich ja grundsätzlich an den französischen Medien orientierten Frankreich galt im Brasilien der zweiten Hälfte des 19  Jahrhunderts als die Kulturnation schlechthin Der französische Einfluss prägte sich zunächst durch die ehemalige Kolonialmacht Portugal im Kulturpanorama Brasiliens ein Frankreich stand aber nach dem Deutsch-Französischen Krieg nicht mehr allein mit England am Horizont, denn Deutschland, der neue Akteur, bot sich nach dem Sieg von 1871 als Alternative zu Frankreichs Vormachtstellung, auch auf der kulturellen Ebene Das Deutsche Reich wurde von nun an immer öfter mit der modernsten Technik, mit wissenschaftlicher Entwicklung und neuen philosophischen Ansätzen in Verbindung gebracht und von manchen jungen brasilianischen Intellektuellen nach der Niederlage Frankreichs als Gegenbild zum Katholizismus, zur Restauration, zum portugiesischen intellektuellen Erbe und zum Rückstand gesehen – alles Begriffe, die sie von nun an mit Frankreichs geistigem Einfluss verbanden Mit einem staatlich geförderten Universitäts- und Ausbildungssystem setzte sich „deutsche“ Wissenschaft weltweit durch und bot, zusammen mit dem britischen Pragmatismus, neue Modelle und intellektuelle Quellen für die Wissenschaft und die Hochschulbildung in anderen Ländern an Auch die wachsende Migration ab Mitte des 19  Jahrhunderts bot neue Kontakte und Austauschmöglichkeiten, da die Migranten andere Weltanschauungen und Traditionen mitbrachten In diesem Kontext der kulturpolitischen Krise tauchte eine neue intellektuelle Schicht auf, die an den Hochschulen Brasiliens ausgebildet worden war, aber von einer Karriere in der Staatspolitik und -bürokratie ausgeschlossen blieb Sie verfügte jedoch über das kulturelle Kapital und schien entschlossen zu sein, gegen das alte politische Establishment des Landes mit ihrer Frankophilie und Rhetorik zu protestieren 34 Auch die machtnahe klerikale Kaste wurde zur Zielscheibe ihrer Proteste Diese neuen Intel-

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Diese aggressivere Politik Preußens im kulturellen Bereich zeigt sich z B deutlich in dem exponentiellen Anstieg der Buchproduktion gleich nach dem Krieg gegen Frankreich 1870 und der subsequenten Vereinigung Deutschlands Siehe Wolfram Siemann, Gesellschaft im Aufbruch – Deutschland 1849–1871 (Frankfurt a M : Suhrkamp, 1990), 69 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 135–142

2 4 Die portugiesischsprachige „Generation 1870“

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lektuellen stellten sich gegen den französischen Eklektizismus, den romantischen Spiritualismus und die thomistische Scholastik, die bisher die Geisteskultur prägten Sie warben für neue Wege in der Philosophie, Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst Es gab kein Feld, auf dem die alten Traditionen der brasilianischen Eliten stärker spürbar waren als auf dem der Rechtskultur Sie repräsentierte die Ideologie der führenden brasilianischen Elite mit ihren naturrechtlichen und scholastischen Lehren, die vom portugiesischen Bildungserbe durch Coimbra überliefert worden war In Zeiten, in denen die Monarchie immer mehr bröckelte und allmählich die politische Unterstützung in verschiedenen Bereichen verlor – die der Zuckerherren, des Klerus, des Militärs und von Teilen des politischen Establishments – entwickelte sich eine aufgeheizte Atmosphäre Die politischen Gräben zwischen Ultramontanen und den Freimaurern, die in der Regierung vertreten waren, trugen zusätzlich zur Eskalation der Krise bei 2.4 Die portugiesischsprachige „Generation 1870“ Vor dem Hintergrund dieses ausgedehnten kulturpolitischen Bebens ist das Entstehen der portugiesischsprachigen „Generation 1870“ zu verorten Sie war bereit, neue Ideen und Ansätze aufzunehmen und zu verbreiten, um alte Denkformen zu konterkarieren Ihr Agieren darf aber nicht außerhalb des historischen Rahmens der politisch-religiösen Konflikte zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus verstanden werden Neue Intellektuelle wie etwa diejenigen der „Recife Schule“ oder des „Cenáculo“ in Portugal sorgten für Unruhe, aber auch für Erneuerung sowohl in der Kunst als auch im Geistesleben 35 Die „Recife Schule“ steht paradigmatisch für die brasilianische „Generation 1870“, obwohl sie, im Gegensatz etwa zum portugiesischen „Cenáculo“, keine institutionalisierte Gruppe war Die intensiven Verflechtungen zwischen den Hauptanführern der „Recife Schule“ und der Gruppe von Antero de Quental (1842–1891) und Eça de Queiroz (1845–1900) um die Zeitschrift „Cenáculo“ werden durch ihren intellektuellen Austausch belegt Solche Beziehungen nahmen beispielsweise durch die gemeinsame Initiative Revista de Estudos Livres Gestalt an Es handelte sich dabei um eine transatlantische Zeitschrift, die zwischen 1883 und 1886 monatlich erschien (sowohl in Portugal als auch in Brasilien) An ihr waren viele Intellektuelle auf beiden Seiten des Atlantiks beteiligt: Eindrucksvolle Beispiele sind etwa Teófilo Braga (1843– 1924), António José Teixeira (1830–1900), Américo Brasiliense (1833–1896), Moniz Barreto (1865–1896), Oliveira Martins (1845–1894), Karl von Koseritz (1830–1890),

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Zu mehr Informationen über die portugiesische „Generation 1870“ im kulturpolitischen Panorama Portugals siehe António Teixeira Fernandes, Igreja e Sociedade na Monarquia Constitucional e na Primeira República (Porto: estratégias criativas, o D ), 41

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

Isidoro Martins Júnior (1860–1904) sowie Tobias Barreto, Sílvio Romero und Clóvis Beviláqua – Kernfiguren der „Recife Schule“ 36 In Brasilien brachte das Kabinett des Freimaurers Rio Branco die politische Krise zum Vorschein Von diesem Zeitpunkt an wurde das alte Denken immer stärker von Intellektuellen kritisiert, die direkt aus den Hochschuleinrichtungen des Landes kamen – hier vor allem aus den Rechtsfakultäten Diese junge Intelligenz war, wie oben gezeigt, offen für die wissenschaftlichen und geistigen Innovationen, die in Europa kursierten, wie etwa Positivismus, Evolutionismus, Darwinismus, Materialismus, Naturalismus und Monismus Zusammen mit dem Abolitionismus, Republikanismus und Antiultramontanismus gehörten solche Tendenzen damals zum neuen Repertoire der Kritiker 37 „Eine Fülle neuer Ideen flog über uns herein“ (Uma bando de ideias novas esvoaçou sobre nós),38 so drückte sich Romero über die Lage aus Er selbst betrachtete sich als Teil der Gruppe der „Erneuer“ im geistigen Sinne Sie vertraten erstmalig eine offene Opposition zum portugiesischen kulturpolitischen Erbe, das in der Rechtskultur durch die fast monopolitische Stellung der Jura-Fakultäten deutlich zu spüren war und die Hochkultur in Brasilien prägte Diese neue Generation von Kritikern war aber selbst ein Produkt dieser Institutionen Allerdings gab es deutliche Unterschiede zwischen Recife und São Paulo, die in den politisch-intellektuellen und praktischen Ansichten ihrer ehemaligen Schüler bemerkbar wurden: São Paulo vertrat weiterhin einen pragmatischen Ansatz und lieferte weiterhin die Mehrheit der politischen Führungsköpfe Währenddessen war Recife offener für kulturellen Innovationen, neue Ideen und liberale politische Richtungen 39 2.5 Die Pioniere der „Recife Schule“ und ihr Durchbruch in der brasilianischen Rechtskultur Die Söhne der Eliten wurden meistens an die beiden Rechtsfakultäten des Landes geschickt Diese Zentren übten das faktische Monopol über die formelle geisteswissenschaftliche Hochschulausbildung in Brasilien aus Die daraus entstandene Anziehungskraft trug dazu bei, dass sich in ihrer Umgebung ein dynamisches kulturelles Leben mit Cafés, Büchereien, Burschenschaften, Gesellschaften, Zeitschriften und Verlagen entwickelte Ideen wurden intensiv diskutiert und ausgetauscht Die formelle Ausbildung war oftmals zweitrangig Viele der damaligen Schüler behaupten sogar, sie hätten

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Siehe Revista de Estudos Livres, unter Hemeroteca Municipal de Lisboa: http://hemerotecadigital cm-lisboa pt/, letzter Zugriff am 29 9 2016 Siehe Alonso, „Crítica e contestação“, 35 Sílvio Romero, „O Brasil Social de Euclides da Cunha“, 163 Siehe Neder, Iluminismo, 143

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mehr in den Cafés und Kneipen als in den Unterrichtsräumen gelernt 40 Diplome und Scheine hingegen waren sehr wichtig in der brasilianischen patriarchalischen Gesellschaft aristokratischer Prägung, in der viel Wert auf solche Zeugnisse gelegt wurde Vor allem für die Eliten galten diese als Zeichen des Prestiges, d h der Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht Bis heute werden in der Rechtskultur und in der Staatsbürokratie des Landes Scheinen und Stempeln eine besondere Funktion zuerkannt Zudem waren die Rechtsfakultäten die wichtigsten Ausbildungsstätten für die politische Führung und die staatliche Bürokratie Der Einfluss der portugiesischen Rechtskultur war äußerst präsent Die meisten Professoren waren, vor allem in den ersten Jahren nach der Gründung, an der Universität von Coimbra ausgebildet worden und damit Vermittler der portugiesischen Rechtskultur nach Pombals Reformen Letztlich galten die von Pombals Regierung reformierten Statuten vom Ende des 18  Jahrhunderts als Vorbild für den Aufbau der Jurastudien in Brasilien 41 Trotz der Reformen, die Portugal unter Pombal erlebte, konnte die jahrhundertelange jesuitisch-thomistische Prägung bei der Ausbildung nicht über Nacht aufgelöst werden 42 Sie blieb als eine Art Grundlage immer noch präsent – etwa in der Präferenz für kontemplatives Wissen Dieses theologische Erbe zeigte sich in der Bedeutung der thomistischen Scholastik und des Naturrechts in der Rechtskultur sowie in der Politik absolutistischer Prägung 43 Brasilien war hier keine Ausnahme Dort hatten sich die Jesuiten mit ihren Schulen die Dominanz über die Ausbildung bis weit ins 18  Jahrhundert hinein erhalten Dieser Einfluss war vor allem in der Überbewertung des Formalismus und der Rhetorik in der juristischen Ausbildung greifbar sowie in der hohen Wertschätzung naturrechtlicher und scholastischer Konzeptionen – trotz der Reformen Pombals in der zweiten Hälfte des 18  Jahrhunderts mit ihrem Fokus auf ein „Nationales Recht“ Ab den 1850er Jahren wurden in Europa die neuen wissenschaftlichen Ansätze immer prägnanter Sie setzten eine gezielte Untersuchung der Natur und instrumentale Spekulation voraus, statt Wert auf die Offenbarung von „ewigen“ Weisheiten zu legen, wie es in der Scholastik der Fall war 44 Darwins Publikation Entstehung der Arten von 1859 bedeutete in diesem Sinne einen Durchbruch, weil sie zu einer Zäsur im wissenschaftlichen Diskurs führte und für die Durchsetzung der Biologie bzw Zoologie als Modell der Wissenschaften sorgte Darwins Evolutionstheorie stand für ein säkulares, wissenschaftliches und modernes Paradigma Andere Disziplinen wurden davon

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Venancio Filho, Arcadas, 133–134 Siehe Neder, Iluminismo, 135 Siehe ebd , 19–20 Siehe ebd , 111–112 Siehe Paim, História das idéias

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

beeinflusst und orientierten sich daran Auch die Rechtswissenschaften blieben von dieser Tendenz nicht ausgeschlossen 45 Auf der intellektuellen und wissenschaftlichen Ebene richteten sich die Augen der brasilianischen Eliten auf die Ereignisse in Europa, vor allem in Frankreich und Portugal wegen der engen intellektuellen Beziehungen mit der ehemaligen Metropole, die nach der Unabhängigkeit nicht einfach ausgelöscht wurden 46 Frankreich lieferte die kulturellen Vorbilder, die dementsprechend die Ansichten der Bildungselite prägten Politiker der „Julimonarchie“, wie etwa Adolphe Thiers (1797–1877) oder François Guizot (1787–1874) oder Intellektuellen-Politiker der neuen Dritten Republik, wie León Gambetta oder Jules Ferry, wurden von brasilianischen Politikern und Intellektuellen bewundert und in deren Reden bzw Schriften häufig zitiert 47 Weiterhin informierte sich die intellektuelle Elite des Landes über internationale Geschehnisse grundsätzlich über französische Zeitschriften 48 Die Sitten orientierten sich an der Pariser Mode und ihren Trends 49 Brasilien wollte sich als modernes Land zeigen und auch als solches gesehen werden 50 Das ist eine Konstante in der brasilianischen Geschichte, obwohl die Vorstellung dessen, was „Moderne“ bedeutet, im Laufe der Zeit immer unterschiedlich wahrgenommen wurde Die Etikette der Hochkultur war französisch Viele lernten die Sprache, weil sie als gehoben und als Symbol für eine höhere Schicht galt Die Mehrheit der Bevölkerung allerdings hatte überhaupt keinen Zugang zu irgendeiner Form von Ausbildung Die Sklaverei herrschte, wie bereits gezeigt, als die dominante Arbeitsform und prägte das Bild der Städte und des Landes 51 Barreto und Romero waren Vorreiter in Brasilien, als es um den Aufbau einer wissenschaftlich fundierten Perspektive des Rechtes, der Literaturkritik und der Ethnologie (grundsätzlich im Falle Romeros) ging Sie warben für neue Ansätze in der (Rechts)Kultur Somit förderten sie einen geistigen Umbruch, indem sie für das Studium der Wissenschaften und gegen die weit verbreitete Rhetorik und formalistische Ausbildung eintraten Die akademische Rechtsauffassung in Brasilien war sehr von alten Formeln und naturrechtlichen Vorstellungen geprägt Sie legte keine großen Wert auf die praktischen Fragen der Zeit und die Bedürfnisse nach Rechtsstaatlichkeit der Mehrheit der Bevölkerung 52 Brasilien hatte beispielsweise noch kein Zivilgesetzbuch und orientierte sich immer noch an den alten kolonialen Ordenações aus Portugal Auf der anderen Seite besaß das Land schon seit 1832 eine Strafrechtsordnung, die für die 45 46 47 48 49 50 51 52

Siehe Schwarcz, Espetáculo, 71–75 Siehe Leslie Bethell, „O Brasil no Mundo“, in: Carvalho, A construção nacional, 153 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 172–173, und José Murillo de Carvalho, „As Marcas do Período“, in: A construção nacional, 27 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 53 Siehe Bethell, „O Brasil no Mundo“, 153 Siehe ebd , 156–157 Siehe Freyre, Sobrados e mucambos Siehe Werebe, „Educação“, 375, und Venancio Filho, Arcadas, 96

2 5 Die Pioniere der „Recife Schule“ und ihr Durchbruch in der brasilianischen Rechtskultur

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damalige Zeit als sehr modern galt 53 Das war typisch für eine äußerst hierarchische Staatsordnung mit sklavischen Zügen: Das Strafrecht, und zwar ein sehr strenges, trat vor den Zivilgesetzen, die individuelle Rechte gewähren sollten, in Kraft 54 Das erste Zivilgesetzbuch Brasiliens wurde erst von dem Juristen Clóvis Beviláqua verfasst, der als Mitglied der „Recife Schule“ wahrgenommen wird und sich als ein Verehrer Barretos bezeichnet Darin ist tatsächlich der Einfluss deutschsprachiger Jurisprudenz spürbar 55 Die Zivilgesetze traten erst 1917 nach langjährigen Streitigkeiten im Senat wegen ihres fortschrittlichen Charakters vor allem im Eherecht in Kraft 56 Die Neigung beider Intellektueller – Barreto und Romero – zu Naturalismus, Evolutionismus und Monismus bedeutete eine politisch-intellektuelle Ansage gegen Teile der Gesellschaftselite Dies hing mit einer heftigen Kritik gegen Wissensformen zusammen, die noch auf religiösen, theologischen und naturrechtlichen Ansätzen beruhten Die Naturwissenschaften hingegen übten mit ihren Beobachtungen und Methoden zur Erforschung der Naturwelt eine starke Anziehungskraft aus Aufgrund ihrer Ablehnung der religiösen Metaphysik und der Theologie sahen Barreto und Romero in der Evolutionstheorie eine Art Modell für andere Felder (wie etwa für das Recht), die ebenso eine wissenschaftliche Fundierung ihrer Erkenntnisse anstrebten Vor diesem Hintergrund benutzten die beiden Brasilianer die Naturwissenschaften mit den evolutionstheoretischen Ansätzen Darwins als Vorbild und als Werkzeug in ihrem Kampf gegen all das, was sie bekämpften: die Romantik mit ihrer Rhetorik, die eklektizistische Philosophie, die Theologie mit ihrem Thomismus – kurzum alles, was von der damaligen politischen und gebildeten Elite und vom katholischen Klerus, als geltendes Wissen akzeptiert wurde In diesem intellektuellen Kontext soll die Rezeption deutschsprachiger Autoren, die die Hauptanführer der „Recife Schule“ Barreto und Romero im Rechtsdenken anbahnten, wahrgenommen werden Hauptsächlich Barreto lässt sich durch seinen „Germanismus“ kennzeichnen Dieser bedeutete eine offensive Werbung für die deutschsprachige wissenschaftliche Kultur durch Autoren, die wie Jhering und Haeckel seiner Auffassung zufolge die neue wissenschaftliche Weltanschauung repräsentierten Das heißt allerdings nicht, dass deutschsprachige Autoren vorher in Brasilien nicht rezipiert wurden, allerdings meistens nur indirekt, durch französische oder portugie-

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Siehe Lacombe, „A Cultura Jurídica“, 357–358 Siehe Grinberg, Fiador, 101–132 Siehe Losano, Studien, 168 Vor diesem Hintergrund werden die Leistungen Barretos und Romeros von dem Literaturkritiker Antonio Candido präzise definiert: „O Naturalismo crítico de Sílvio Romero e Tobias Barreto teve, no Brasil, função social de combate, em prol da mentalidade científica e de uma orientação intelectual liberta do formalismo colonial e do beletrismo romântico Um dos postulados que propugnou foi a introdução do método científico e do estudo das ciências “ Siehe Candido, O método crítico, 198 Siehe Neder und Cerqueira Filho, Idéias jurídicas, 129–130

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

sische Quellen und Übersetzungen 57 Es gab aber bereits viele Migranten im Lande, die mit der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur vertraut und darin sogar ausgebildet waren Indes machten sie daraus keine (politisch-intellektuelle) Botschaft im Sinne eines Programms Einige solcher Migranten waren Naturforscher, Ärzte und Wissenschaftler, die manchmal sogar mehr Verbindungen zur wissenschaftlichen Gemeinschaft in Europa hatten (und dort dementsprechend stärker für ihre Leistungen wahrgenommen wurden) als in Brasilien Ein klassisches Beispiel dafür ist der deutsch-brasilianische Naturforscher Fritz Müller (1822–1897), der in Südbrasilien seine Forschungen durchführte und unter anderem mit Darwin und Haeckel jahrelang korrespondierte Müller galt mit seinen Recherchen als einer der wichtigsten Vertreter der Deszendenztheorie 58 Erst durch den Impuls Barretos und Romeros aus Recife entstand im Süden des Landes unter deutschsprachigen Migranten eine geradezu politisch-ideologische Kampagne für die deutschsprachige wissenschaftliche Kultur, in der vor allem für Haeckels Monismus geworben wurde Diese Bewegung verband sich mit dem Aufbau einer deutsch-brasilianischen Identität unter Migranten und sah sich hauptsächlich von dem Journalisten und Publizisten mit deutschem Hintergrund, Karl von Koseritz, ermutigt 59 Er wurde zum engen Freund und großen Unterstützer Barretos und Romeros60 und kam mit Haeckel sowie mit anderen Persönlichkeiten aus den Wissenschaften und der Politik in Brasilien und in Deutschland in Kontakt Daraus entstand ein regelrechtes intellektuelles Netzwerk zur gegenseitigen Unterstützung, das Politik 57 58

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Villaça, O pensamento católico, 42–45 Siehe dazu E S Russell, Form and Function – A Contribution to the History of Animal Morphology (London: John Murray, 1916); Harald Lorenzen und Ekkehard Höxtermann, „Fritz Müller (1822– 1897) und seine Schrift Für Darwin (1864) im Spiegel der Korrespondenz mit Max Schultze (1825– 1874)“, in: Ekkerhard Höxtermann, Joachim Kaasch u  a (Hg ), Von der „Entwickelungsmechanik“ zur Entwicklungsbiologie Beiträge zur 11 Jahrestagung der DGGTB in Neuburg a d Donau 2002, Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, hg von der Deutschen Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie, Bd  10 (Berlin: VWB, 2004), 103–115; Nelson Papavero, „Fritz Müller e a Comprovação da Teoria de Darwin“, in: Heloisa Maria Bertol u a (Hg ), A Recepção do Darwinismo no Brasil (Rio de Janeiro: Fiocruz, 2003), 29–44; Luiz Roberto Fontes und Stefano Carlo Filippo Hagen, Fritz Müller – Príncipe dos Observadores; Fritz Müller – Fürst der Beobachter (São Paulo: Instituto Martius Staden, 2012) und Katharina Schmidt-Loske, Christian Westerkamp u a , Fritz und Hermann Müller Siehe Romero, Evolução, 119 Zu Koseritz siehe Carlos H Oberacker Jr , Carlos von Koseritz (São Paulo: Anhambi, 1961) und René Gertz, Karl von Koseritz Seleção de Textos (Porto Alegre: Edipucrs, 1999) Siehe ebenso die aktuellste Monographie zum Thema: Tiago Weizenmann, „‚Sou, como sabem …‘: Karl von Koseritz e a imprensa em Porto Alegre no século XIX (1864–1890)“ (Diss PUCRS, 2015) Siehe auch Imgart Grützmann, „Intelectuais de fala alemã no Brasil do século XIX: o caso de Karl von Koseritz (1830–1890)“, in: História Unisinos 11:1 ( Jan –April 2007), 123–133, und Tiago Weizenmann, „Karl von Koseritz e o Debate Cientificista: Uma Perspectiva sobre o Evolucionismo na Segunda Metade do Dezenove Brasileiro“, in: XI Encontro Estadual de História ANPUHRS – História, Memória, Patrimônio (Rio Grande/RS: Universidade Federal do Rio Grande – FURG), 23 –27 Juli 2012, 661–676 Siehe Romero, Evolução, 119–120

2 5 Die Pioniere der „Recife Schule“ und ihr Durchbruch in der brasilianischen Rechtskultur

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mit Wissenschaft verknüpfte und den Instrumentalisierungen lokaler und regionaler Couleur ausgesetzt war Barreto und Romero führten eine geradezu kämpferische „Ideenpropaganda“61 für das deutschsprachige Gedankengut und die deutschsprachige Wissenschaftskultur Diese sahen sie als die Voraussetzung für den intellektuellen Fortschritt in einer vom dominanten Einfluss der französischen Kultur geprägten Landschaft Diese Rezeption brachte einen Durchbruch mit sich, weil sie mit der Einführung neuer Quellen, neuer Autoren, neuer Ansätze und neuer Modelle die Gewohnheiten der brasilianischen (Rechts)Kultur nachhaltig veränderte In der brasilianischen Rechtsgeschichte gibt es eine Zeit „vor“ und „nach“ Barreto 62 In dieser Zäsur besetzten die deutschsprachigen Autoren eine zentrale Rolle, weil sie die Ansätze für Barretos Durchbruch in der Wissenschaftskultur Brasiliens lieferten Haeckel und Jhering waren die beiden prominentesten, aber nicht die einzigen Sie waren vielleicht paradigmatisch, weil sie für eine neue wissenschaftliche Auffassung in ihren jeweiligen Feldern sorgten – Zoologie und Rechtswissenschaften Außerdem repräsentierten die beiden den Gegensatz zum alten Erbe der Scholastik, zur Religiosität und zur Neigung der brasilianischen Eliten zur französischen Kultur (die vor allem in der Hauptstadt Rio sehr prägend war), und so wurden sie auch von Barreto rezipiert Durch das wegweisende Agieren Barretos wurde ein Novum in der bisherigen brasilianischen Rechtskultur erreicht: Dadurch, dass er sich dem Studium der deutschen Sprache widmete und sich deutschsprachige Autoren und Zeitschriften direkt aneignen konnte, konnte er auf indirekte Quellen, auf französische oder anderssprachige Übersetzungen, Kommentare oder Zeitungen verzichten Dieser Schritt ermöglichte ihm einen echten und tiefen Kontakt mit der deutschsprachigen Wissenschaftskultur insgesamt Gleichzeitig erlaubte ihm dies, die gewohnte Kulturvermittlung Frankreichs infrage zu stellen Nach dieser von Barreto und Romero eingeleiteten Wende wurden weitere deutschsprachige Autoren rezipiert Die Tendenz, sich in den Rechtswissenschaften auf deutschsprachige Autoren zu stützen, setzte sich im 20  Jahrhundert weiter durch, und auch der Mainstream eignete sie sich später an Hauptsächlich aber war es das Verdienst von Andersdenkenden wie Barreto und Romero, dass sich das brasilianische Recht erstmals für deutschsprachige Autoren öffnete bzw geöffnet wurde Zur damaligen Zeit wurde ihr Durchbruch aber als ein rebellierender Akt von Außenseitern im politischen System angesehen, die sich den Ideen des Status quo nicht anpassten und diese hinterfragten Was aber zunächst als innovativ und als Vorgehen gegen das intellektuelle Muster galt, sollte im historischen Kontext der 1930er Jahre mit einem neuen Inhalt versehen werden Die Aufnahme von deutschsprachigen Rechtsgelehrten posi-

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Siehe ders , Zéverissimações, 41 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 100

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

tionierte sich als neues Prestigeobjekt einer sich formierenden staatszentralistischen Rechtsausbildung mit autoritären Zügen unter der Regierung von Getúlio Vargas 63 Damit verlor sie ihren kritischen Charakter und gewann einen neuen Status Diese neue Lage führte zu einer gewissen Idealisierung des deutschsprachigen Rechts und der Rolle der Rechtsgelehrten als erhabene, beinahe „perfekte“ Menschen Den Juristen kam ab den 1930er Jahren eine besondere Bedeutung in der brasilianischen politischen Kultur zu, die nichts mehr mit der wissenschaftlichen und hinterfragenden Einstellung von liberalen Intellektuellen wie Barreto und Romero zu tun hatte, sondern mit einer neuen zentralistischen Staatsauffassung mit korporatistischen Zügen Darin galten die Juristen als Träger eines besonderen Fachwissens über den Staat und seine Rechtsordnung 64 Ab den 1930er Jahren wurde vor diesem Hintergrund unter den Juristen in Brasilien ein gewisses Unbehagen ausgelöst, als diese zugeben mussten, nicht mit der deutschsprachigen Rechtskultur vertraut zu sein Wenn jemand als respektabler Jurist wahrgenommen werden wollte, sollte er von sich behaupten können, die deutsche Sprache zu beherrschen Als Barreto diese im 19  Jahrhundert gründlich studierte, um deutschsprachige Autoren im Original lesen zu können, wurde er hingegen als Außenseiter kritisiert Die Zeiten änderten sich und mit ihnen die (Rechts)Kultur 2.6 Die Bewegung der „Recife Schule“ Die „Recife Schule“ war keine Geistesschule im traditionellen Sinn Weder war sie an einem konkreten Ort (z B einer Institution) fest angesiedelt, noch vertraten die mit ihr verbundenen Intellektuellen eine monolithische Lehre Die „Schule“ war äußerst heterogen, was ihre einzelnen „Mitglieder“ betraf 65 Dennoch waren diese durch einige historische Faktoren verbunden, die es erlauben, von einer „Schule“ im weiten Sinn zu sprechen Allgegenwärtig ist die Figur Barretos, der als Gründervater gilt, weil er auf alle „Nachfolger“ größeren oder geringeren Einfluss ausübte66 – vor allem durch seine Werbung für die Rezeption der deutschsprachigen Wissenschaftskultur Deswegen wurde die „Recife Schule“ auch als „Tobias Schule“ (Escola de Tobias) oder „teuto-sergipanische Schule“ (Escola teuto-sergipana) nach Barretos Heimatprovinz Sergipe bezeichnet Zu 63 64

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Über die staatszentralistischen Reformen in der Rechtsausbildung siehe Fernandes, Poder e saber Hier war die Rezeption eines österreichischen Juristen mit jüdischem Hintergrund (und liberalen Überzeugungen) vom Rang eines Hans Kelsens, der in seiner Heimat für den Parlamentarismus und gegen den autoritären Staat eintrat, sehr wichtig Deswegen wurde er auch als liberaler Jude verfolgt und musste ins Exil Siehe dazu Borrmann, „A recepção de Hans Kelsen“ Siehe dazu Alonso, Idéias em movimento, 134–142; Moraes Filho, Medo à utopia, 45, und Lima, Tobias Barreto, 235–236 Siehe Lima, Tobias Barreto, 236

2 6 Die Bewegung der „Recife Schule“

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dem letzten Begriff bemerkte Barreto, dass diese Bezeichnung vom katholisch-konservativen Literaten Carlos de Laet (1847–1927) aus der Hauptstadt Rio de Janeiro eingeführt wurde,67 um sich über seinen „Germanismus“ lustig zu machen 68 Die meisten, die mit der „Schule“ in Verbindung gebracht werden, waren Juristen und erhielten ihre Ausbildung an der Rechtsfakultät von Recife in den letzten Jahrzehnten des 19  Jahrhunderts Ohne die juristische Ausbildung an jener Fakultät oder die intellektuell-anregende Stimmung in der Stadt Recife wäre die Existenz der „Schule“ undenkbar Insgesamt ist die „Bewegung“ von einer ausgeprägten Kritik am intellektuellen Status quo gekennzeichnet Vor diesem Hintergrund wurden neue Ansätze für die Rechtskultur vorgeschlagen, die mit einer wissenschaftlichen Untermauerung des Rechts verknüpft waren Ein weiterer Aspekt ist die mehr oder minder große Beeinflussung der meisten Intellektuellen durch die deutschsprachige wissenschaftliche Kultur Es war genau diese begeisterte Aufnahme, das Studium und die Vermittlung deutschsprachiger Autoren, die der „Schule“ und dem Pionier Barreto das Etikett „Germanismus“ eintrug Die Soziologin Angela Alonso fügt schließlich eine soziokulturelle Gemeinsamkeit hinzu, die die „Generation 1870“ prägte: Ihrer Meinung nach handelte es sich dabei meistens um Individuen, die trotz ihres Zugangs zu einem äußerst elitären Ausbildungssystem von höheren politischen Posten in der Staatsbürokratie oder in der Politik ausgeschlossen blieben Sie verfügten über ein bestimmtes „symbolisches Kapital“ im Sinne Pierre Bourdieus (1930–2002), ihnen wurden aber die damit verbundenen Stellen verweigert Daraus ergab sich eine soziologische Disposition zur Rebellion gegen den politischen Mainstream, so Alonso 69 Durch die Entwicklung neuer Ansätze, vor allem mit der Einführung neuer Autoren und Lesequellen, führte die Kritik der „Recife Schule“ zu einer Erneuerung in der brasilianischen Hochkultur insgesamt, besonders im Rechtsdenken Diese Erneuerung beschränkte sich dennoch nicht auf das Recht, obwohl sie vor allem hierin wegen der Bedeutung der Rechtsstudien in Brasilien paradigmatisch zu beobachten ist Die „Recife Schule“ wandte sich von der thomistischen Scholastik und von naturrechtlichen Konzepten ab und einer praktischeren und den damaligen wissenschaftlichen Maßstäben näheren Perspektive zu Diese war enger mit den Neuheiten verbunden, die in Europa zirkulierten Weiterhin bewirkten die Intellektuellen der „Recife Schule“ endlich einen Bruch mit der alten Tradition des portugiesischen Rechtsdenkens aus Pombals Zeit – dem sogenannten iberischen Erbe (matriz ibérica) 70 Deswegen ist es erst seit dem Wirken Barretos möglich, von Rechtswissenschaften in Brasilien zu

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Siehe Romero, Evolução, 116 Mehr zu Carlos de Laet in Villaça, O pensamento católico, 61–68 Siehe Barreto, Estudos Alemães (Recife: Typographia Central, 1883), 1 Auflage, 2 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 135–142 Siehe Nelson Saldanha, História das idéias políticas no Brasil (Recife: Universidade Federal de Pernambuco Imprensa Universitária, 1968)

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

sprechen, weil er von diesem Erbe in der juristischen Ausbildung deutlich abrückt Innerhalb dieses (intellektuell-politischen) Projekts ist der Rezeption deutschsprachiger Autoren eine zentrale Bedeutung zuzuordnen Zusammen mit seinem Mitstreiter Sílvio Romero war Barreto der Wegbereiter der „Schule“, weil sie beide zur ersten Generation gehörten Sie hatten große Relevanz für das brasilianische sozialpolitische Denken Allerdings wird ihr diesbezüglicher Beitrag heutzutage in der Rechtsgeschichte in Brasilien teilweise vernachlässigt oder zu gering eingeschätzt Barreto und Romero brachten dem Land auch für das weite Feld der Kultur neue Impulse, weshalb sich ihr Einfluss nicht nur auf das Rechtsdenken beschränkte Galt Barreto als verantwortlich für die Einführung von neuen wissenschaftlichen (rechtssoziologischen) Ansätzen im Recht, so wird Romero mit seiner mehrbändigen Geschichte der brasilianischen Literatur (História da Litteratura Brazileira, 1888) als Gründervater dieser Disziplin (Literaturgeschichte) wahrgenommen 71 Romeros Werk gilt in der Rassendiskussion gegen Ende des 19  Jahrhunderts als grundlegend, weil es auf die kulturelle Bedeutung der „Rassenmischung“ (mestiçagem) bzw des „Mischlings“ (mestiço) in der brasilianischen Geschichte aufmerksam machte und damit auch neue Ansätze schuf Deshalb wurde Romero auch in der breiten Öffentlichkeit bekannter als Barreto, dessen Namen bis heute in vieler Hinsicht unbekannt ist Ließ sich Barreto vom philosophischen Monismus Ernst Haeckels und der juristischen soziologischen Einstellung Jherings stark beeinflussen, so stand Romero auch dem etwas späteren Sozialevolutionismus Herbert Spencers (1820–1903) nahe Haeckels Monismus übte zwar auch auf Romero Einfluss aus, aber weniger durch eigene Lektüren als durch Barretos Anregungen Angesichts dieses Panoramas waren die Mitglieder der „Generation 1870“, vor allem der „Recife Schule“, die Ersten, die die Frage nach der Spezifität der brasilianischen Kultur stellten Vor allem Romeros Studien über die Geschichte der brasilianischen Literatur und ihre ethnologische Wurzeln gelten als wegweisend, denn sie trugen zur Definition einer „nationalen Kultur“ Brasiliens bei Ihre Ansätze waren die Grundlage für die modernistische Bewegung, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20  Jahrhunderts durchsetzen sollte 72 2.7 Die Nachwirkung der „Recife Schule“ Durch ihre Schriften, Lehrtätigkeiten an Hochschulen sowie durch ihre journalistischen Aktivitäten und auch als Politiker übten Barreto und Romero nachhaltigen Einfluss in der brasilianischen Geistesgeschichte aus, obwohl ihre Bedeutung heutzutage etwas in Vergessenheit geraten ist oder falsch beurteilt wird Beide machten vielleicht

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Siehe Candido, O método crítico Siehe dazu vor allem Paes, Canaã; Candido, O método crítico und Ventura, Estilo tropical

2 7 Die Nachwirkung der „Recife Schule“

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die Quintessenz der hommes des lettres des 19  Jahrhunderts aus und vertraten diesen Typus in der „Generation 1870“ exemplarisch Vielfältig und allgemein versiert in der humanistischen Tradition jenes Jahrhunderts, achteten sie auf keine Fachgrenzen Sie äußerten sich über Recht und Ethnologie genauso wie über Politik, Literatur, Kunst, Geschichte und Religionskritik Sie agierten als Journalisten, Schriftsteller, Dichter, Akademiker, Politiker und sogar als Musiker – Barreto soll ein talentierter Gitarrist gewesen sein73 und verfasste auch verschiedene Texte über Musikkritik Auch als Literaturkritiker war er tätig:74 Er soll der Vorreiter der Rezeption des deutschen Schriftstellers jüdischen Hintergrunds Heinrich Heine (1797–1856) in Brasilien gewesen sein 75 Die Historikerin Gizlene Neder unterstreicht diesen landesweiten Einfluss der „Recife Schule“ hauptsächlich in Rio de Janeiro, weil viele ihrer Hauptfiguren dorthin umzogen und dort wichtige Lehrposten aufnahmen, wie etwa die Beispiele Romeros und Beviláquas zeigen Neder und der Politikwissenschaftler Gisálio Cerqueira Filho fügen hinzu: „Diese Juristen waren maßgeblich an der universitären Bildung des Rechtswesens der Stadt beteiligt, was auch Auswirkungen auf die ihm verwandten Gebiete hatte “76 Üblicherweise wird die „Recife Schule“ in drei Phasen unterteilt Diese Teilung wurde zum ersten Mal von Romero selbst vorgeschlagen und später von Beviláqua in seinem Werk über die Geschichte der Rechtsfakultät von Recife (1927) aufgenommen 77 Sie hängt eng mit der intellektuellen Laufbahn Barretos zusammen und diente Romeros evolutionistischen Ansichten sowie seiner Hervorhebung der Bedeutsam-

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Lima, Tobias Barreto, 3 Tobias Barreto, Crítica de literatura e arte (Rio de Janeiro: Ed Record, 1990) Zu Barretos Rezeption Heinrich Heines siehe Marisol Santos Moreira, „A Recepção de Heinrich Heine em Tobias Barreto“ (Magisterarbeit, Universidade Federal do Rio de Janeiro, o D ) So führen Neder und Cerqueira Filho ihre Erklärung weiter: „Zunächst wurde dieser Einfluss aber auf dem Gebiet des Rechtsdenkens sichtbar, vor allem wegen Barretos Tätigkeit als Professor an der Rechtsfakultät in Recife ab 1882 Erstens waren alle ‚Mitglieder‘ der ‚Recife Schule‘ Juristen, von denen sich die meisten später einer Lehrtätigkeit widmeten Zweitens übte Tobias Barreto als Professor der Rechtsfakultät nachhaltigen Einfluss auf eine ganz neue Generation von Schülern aus, die ihm folgten, später landesweit wichtige Posten übernahmen und zu bekannten Intellektuellen und Juristen wurden Das bekannteste Beispiel ist Clóvis Beviláqua, der unter die Präsidentschaft von Campos Salles (1898–1902) das Zivilgesetzbuch verfasste, das aber erst 1916 erlassen wurde Drittens war es erst ab 1891, also nach der Gründung der neuen Rechtsfakultät in Rio, möglich, eine Spezialisierung als Rechts- und Sozialwissenschaftler zu erlangen, obwohl diese immer noch von den Rechtsstudien abhing Bis dahin dominierten ganz alleine die Rechtsstudien das Feld der Geisteswissenschaften in Brasilien Diese Situation blieb bis weit ins 20  Jahrhundert hinein bestehen, denn die ersten sozialwissenschaftlichen unabhängigen Kurse wurden in den 1930er Jahren etabliert “ Siehe Gizlene Neder und Gisálio Cerqueira Filho, „A Teoria Política no Brasil e o Brasil na Teoria Política“, in: 4º Encontro da Associação Brasileira de Ciência Política (ABCP) (PUC-RJ, 21 –24 Juli 2004), o S Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe dazu Roméro, Historia da Litteratura Brazileira (Rio de Janeiro: B L Garnier, 1888), Bd  2: 1830–1877, 1248–1382, Fn 1; Ders , Provocações e Debates (Contribuições para o Estudo do Brazil Social) (Porto: Livraria Chardon, 1910), 219–220, 346–347; und Beviláqua, História

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

keit seines Freundes Später wurden auf dieser Kategorisierung neue Interpretationen aufgebaut, allerdings mit anderen politisch-ideologischen Zielen: Antonio Paim und die Gruppe um Miguel Reale instrumentalisierten nach dem Zweiten Weltkrieg die von Romero angelegte Periodeneinteilung, um Barretos angebliche „philosophische Evolution“ in eine bestimmte Richtung zu interpretieren, nämlich im Sinne von Reales katholisch-„kulturalistischem“ Blickwinkel Reales Ziel war damals, den radikalen Liberalismus Barretos – der mit seinem Antithomismus einherging – im Sinne von Jacques Maritains katholischer Lehre thomistischer Prägung umzudeuten Barretos Ideen wurden somit in einem neuen Kontext aufgefasst und ihnen wurde ihr Monismus entzogen Sein Denken erhielt eine neokantianische Couleur Laut Romeros ursprünglicher Deutung umspannte die erste Phase der „Recife Schule“ Barretos Erlebnisse als junger patriotischer Dichter vor und während des Paraguayischen Krieges, als nationalistische Parolen en vogue waren Diese Periode war geprägt von Barretos Disputen mit dem bahianischen Dichter Castro Alves (1847–1871) um die Vormachtstellung in der Dichterlandschaft Recifes Diese „poetische“ und „romantische“ Phase dauerte laut Romero von Barretos Ankunft in Recife 1863 bis 1868, als er noch Schüler der Rechtsfakultät war Damals stand Barreto unter dem prägenden Einfluss des romantischen Schriftstellers Victor Hugos (1802–1885) 78 Danach begann das „goldene Zeitalter“, die „philosophisch-kritische Phase“,79 als sich die beiden – Romero und Barreto – in Recife als Studenten kennenlernten Die Krise im politischen System wird mit der Spaltung der Liberalen Partei 1868 offenbar, denn „eine Fülle neuer Ideen schwebte in den Äther aus allen Ecken des Horizonts“ (Um bando de idéias novas esvoaçou sobre nós de todos os pontos do horizonte),80 wie Romero sich ausdrückte, und wurde von der „Generation 1870“ begeistert aufgegriffen Diese Phase hielt bis 1882 an, obwohl Romero selbst „nach acht Jahren konstanter Polemiken“, wie er es beschrieb, Recife 1876 verließ 81 1882 wurde Barreto Professor an der Rechtsfakultät von Recife und Romeros Einteilung zufolge begann damit die „juristisch-philosophische“ Phase 82 Ab diesem Zeitpunkt verfasste Barreto seine berühmtesten juristischen Texte, die in den Bänden „Unmündige und Wahnsinnige“ (Menores e Loucos, 1884) und „Bestehende Fragen der Philosophie und des Rechts“ (Questões Vigentes de Philosophia e de Direito, 1888) vereint sind Diese zwei Bücher sind von enormer Bedeutung für die brasilianische Rechtsgeschichte, weil sie tatsächlich für die Gründung einer neuen rechtswissenschaftlichen Auffassung stehen Hier ist die Rezeption Jherings prägend, denn der Jurist war der Wegbereiter für die von Barreto eingeleitete Wende im brasilianischen Recht

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Siehe ders , Zéverissimações, 36 Siehe ders , Provocações, 346 Siehe ebd , 359 Siehe ders , Evolução, 140 Siehe ders , Provocações, 219

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Allerdings erscheint nach einer inhaltlichen Analyse von Barretos Schriften diese Aufteilung etwas unpräzise, weil dieser sich schon länger rechtswissenschaftlichen Themen widmete Barreto ordnete seine Schriften und Essays nicht fachsystematisch, wie sie dann später von Romero und anderen veröffentlicht wurden Viele seiner Texte wurden als Essays in den Medien veröffentlicht, ohne dass sie ein klares akademisch-wissenschaftliches Programm verfolgt hätten Barreto verfasste seine Texte essayistisch, d h während seiner Tätigkeit als Literaturkritiker schrieb er z B auch über Recht; wenn er philosophische Ansätze diskutierte, betrieb er auch Religionskritik; und als er über Recht schrieb, behandelte er ebenso naturhistorisch-zoologische Diskussionen, wie sich in seiner Rezeption von Haeckels Ideen zeigt Außerdem verfasste Barreto einige seiner wegweisenden Arbeiten, die seine neue Auffassung von Recht behandeln, schon vor 1882, nämlich in den Jahren 1880–1881 Beispielhaft dafür sind etwa „Einige Gedanken über das sogenannte Recht auf Bestrafen“ (Algumas Ideias sobre Chamado Fundamento do Direito de Punir) von 1881, in denen er die Grundlagen seiner zukünftigen strafrechtlichen Theorie aus „Unmündige und Wahnsinnige“ (Menores e Loucos) anlegte,83 ebenso wie die Schrift „Über eine neue Intuition des Rechts“ (Sobre uma Nova Intuição do Direito) aus dem gleichen Jahr 84 Dort stellte er seine „neue Rechtsintuition“ (Nova Intuição do Direito) vor, wie er diese selbst nannte In diesen beiden grundlegenden Schriften verbindet Barreto Haeckels monistische Ansätze aus seiner Schrift Generelle Morphologie der Organismen (1866) mit Jherings Zwecktheorie des Rechts aus seinem Spätwerk Der Zweck im Recht (1877–1883) 85 Fest steht allerdings, dass Barreto sich nach dem Erlangen des Lehrstuhls an der Rechtsfakultät eine neue Anhängerschaft unter jungen Studenten schaffen konnte: Jetzt war er nicht nur auf die Medien und seine unabhängigen Publikationen beschränkt, sondern konnte auch Zuhörer aus der Bildungselite durch die Vorlesungen mit seinen Ideen überzeugen Eine ganze Generation von Juristen wurde unter seinem Einfluss herangezogen und ließ sich von seiner Empfehlung von deutschsprachigen Autoren begeistern Einige von ihnen wurden später ebenfalls zu Spezialisten in ihren Fachgebieten, wie etwa der schon erwähnte Zivilrechtler Beviláqua Er erklärte sich

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Siehe Barreto, „Algumas Ideias sobre o Chamado Fundamento do Direito de Punir“, in: Ders , Menores e Loucos em Direito Criminal (Recife: Typographia Central, 1886), 2 Ausgabe, 124–145 Siehe Barreto, „Sobre uma Nova Intuição do Direito“, in: Estudos de filosofia, 242–273 Von nun an zit als „Intuição“ Siehe Haeckel, Ernst Generelle Morphologie der Organismen: allgemeine Grundzüge der Organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Darwin reformierte Deszendenz-Theorie (Berlin: Georg Reimer, 1866), Bd  1: Allgemeine Anatomie der Organismen; Bd  2: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen; Jhering, Rudolf von „Vorrede“, in: Ders , Der Zweck im Recht (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1884), XI–XII

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

als Anhänger Barretos und war Herausgeber von Jherings Werken auf Portugiesisch Er verfasste dazu verschiedene Einführungen und Kommentare 86 Die „Recife Schule“ überschritt durch den nachhaltigen Einfluss Barretos und Romeros auf die kommenden Generationen deutlich die Grenzen der Provinz Pernambuco und des Nordostens Brasiliens Ehemalige Schüler waren später in diversen Bereichen der Kultur tätig So sprach Beviláqua über eine landesweite „Ausstrahlung“ der „Recife Schule“ durch Barretos Schüler 87 Anfang des 20  Jahrhunderts, als Romero sich gegen die Vorwürfe seines größten Kritikers José Veríssimo (1857–1916) verteidigte, der Germanismus der „Recife Schule“ sei gescheitert und habe über die Stadt hinaus keine weitere Resonanz gefunden,88 fügte Romero einige Namen hinzu, die mit der „Schule“ verbunden waren, wie etwa den Diplomaten und Professor João C De Sousa Bandeira (1865–1917), dessen Bruder, den Arzt Raymundo Carneiro de Souza Bandeira (1855–1929) und Alfredo de Carvalho (1870–1916), der in Hamburg Ingenieurwissenschaften studierte Außerdem behauptete er, alle würden die deutsche Sprache kennen und ließen sich von deutschsprachigen Werken beeinflussen 89 Über den landesweiten Einfluss der von Barreto initiierten Ansätze ergänzte Romero noch Folgendes: „Die Bewegung ging zehn Jahre später nach Rio de Janeiro […] Capistrano de Abreu, Antonio H de Sousa Bandeira […] João Ribeiro, Ferreira de Araujo, Francisco de Castro, F Fajardo, Rodolpho Brasil, Candido Jucá, Augusto Franco (Letzterer in Minas), alle widmeten sich dem Studium der deutschen Sprache und der Lektüre deutschsprachiger Bücher “90

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Siehe dazu etwa Rudolf von Jhering, Questões e estudos de direito, übers von João Vieira de Araújo, Clóvis Beviláqua, Adherbal de Carvalho (Bahia: Livraria Progresso, 1955) Siehe Beviláqua, História, 373 Romero zählt noch folgende Namen als zur „Recife Schule“ gehörig auf: Celso de Magalhães, Vitoriano Palhares, Castro Alves, Souza Pinto, Clóvis Beviláqua, Martins Júnior, Artur Orlando, Inglês de Sousa, Farias Neves Sobrinho, Viveiros de Castro, França Pereira, Fausto Cardoso, Guimersindo Bessa Siehe Romero, „Explicações indispensáveis“, in: Barreto, Vários Escritos, Obras completas (Sergipe: Edição do Estado do Sergipe, 1926), XI–LVIII Siehe dazu José Veríssimo, História da literatura brasileira: de Bento Teixeira, 1601 a Machado de Assis, 1908 (Brasília: UNB, 1981), Intr de Heron de Alencar, 4 Auflage, 233–239 Siehe Romero, Zéverissimações, 42 Im Original: „O movimento passou ao Rio de Janeiro dez annos mais tarde […] Capistrano de Abreu, Antonio H de Sousa Bandeira […] João Ribeiro, Ferreira de Araujo, Francisco de Castro, F Fajardo, Rodolpho Brasil, Candido Jucá, Augusto Franco (este em Minas), todos applicaram-se ao estudo da lingua e á leitura de livros alemães “ Siehe ebd , 43 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

2 8 Der Einfluss Barretos und Romeros auf das Zivilgesetzbuch Beviláquas

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2.8 Der Einfluss Barretos und Romeros auf das Zivilgesetzbuch Beviláquas Ein weiterer Verehrer Barretos war der Jurist Clóvis Beviláqua Er stammte aus der Provinz Ceará91 und kam zum Jurastudium nach Recife, wo er zwischen 1878 und 1882 studierte Der zukünftige Zivilrechtler war kein direkter Schüler Barretos, rezipierte allerdings dessen Einfluss der deutschsprachigen Rechtswissenschaften und wurde davon in seiner juristischen Arbeit deutlich geprägt Barreto wird von Beviláqua neben Rechtsgelehrten wie Rudolf von Jhering oder Hermann Post (1839–1895) in sein Pantheon der Juristen-Philosophen gestellt  – ebenso wie Romero 92 Vor allem übernahm Beviláqua von Barreto seine intellektuelle Vorliebe für deutschsprachige Rechtswissenschaftler, deren Studium er sich widmete Dieser Einfluss von deutschsprachigen Autoren floss nun in seine Werke als Jurist ein Darin sind nicht nur die prägenden Einflüsse Jherings wiederzufinden, dessen Sonderrolle im eigenen juristischen Denken er immer wieder unterstrich, sondern auch von vielen anderen, die um die Jahrhundertwende internationale Reputation erlangten Hier ist die Rede zum Beispiel von Karl Friedrich von Gerber (1823–1891)93 – immer mit Jhering verbunden und als einer der Riesen im Privatrecht wahrgenommen –, Josef Kohler (1849–1919), dem Vater der vergleichenden Rechtswissenschaften und zugleich Pionier des Urheberrechts 94 Für seine Beiträge auf dem Gebiet des vergleichenden Rechts gilt Beviláqua als Vater dieser Disziplin in Brasilien Auch Bernhard Windscheid (1817–1892), einer der wichtigen Mitgestalter des deutschen BGB, übte großen Einfluss auf den brasilianischen Juristen aus und kommt im Gesetzbuch von 1916 häufig vor 95 Von Gerber und Jhering übernahm Beviláqua die Auffassung des öffentlichen Rechts als streng systematische Wissenschaft96 sowie die Bedeutung des Privatrechts als Garant für juristische Stabilität und für individuelle Rechte Obwohl diese deutschsprachigen Autoren in ihren Heimaten politisch konservativ waren und stark mit der nationalistischen Ideologie eines stark zentralistischen Staats in Verbindung gebracht werden,97 hatten sie in Brasilien (durch Beviláqua wie durch Barreto davor) eine libe-

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Mehr zu Beviláqua in der jüngsten Forschung und zur historischen Konstruktion seiner Biographie: Wilton C L Silva, A construção biográfica de Clóvis Beviláqua: Memórias de admiração e de estigmas (São Paulo: Alameda, 2016), 1 Auflage Siehe Beviláqua, Juristas, 107–130 Zur Bedeutung Gerbers für die Rechtswissenschaften und seinen mit Jhering äußerst engen intellektuellen Werdegang siehe Losano, Studien Siehe dazu Karl-Nikolaus Peifer, „The Return of the Commons – Copyright History as a Common Source“, in: Roman Deazley u a (Hg ), Priviledge and Property – Essays on the History of Copyright (Cambridge: Open Book), 2010, 354 Siehe dazu Ulrich Falk, s v „Windscheid, Bernhard (1817–1892)“, in: Stolleis (Hg ), Juristen, 654– 655, und Clóvis Bevilácqua, Código Civil dos Estados Unidos do Brasil, comentado por Clóvis Bevilácqua (Rio de Janeiro: Ed Rio, 1984) Siehe Alix, „Ideología y filosofía“, 270 Siehe ebd , 442–443

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

ral-fortschrittliche Rezeption 98 Vor diesem Hintergrund nahm Beviláqua Jhering und Gerber als Fundament für die juristische Verankerung von privaten Garantien, wie etwa die Rechte von illegitimen Kindern in der Ehe oder soziale Gesetze seitens des Staats 99 Diese Rechte waren Brasilien mit seiner patriarchalischen politischen Kultur, wo alle Rechte vom Herren stammten, fremd 1899 wurde Beviláqua, damals Professor für vergleichendes Recht an der Fakultät von Recife, vom Staatspräsidenten Campos Salles (1841–1913) mit der schwierigen Aufgabe beauftragt, ein Zivilgesetzbuch für Brasilien zu verfassen Diese Einladung erhielt er vom Justizminister Epitácio Pessoa (1865–1942), seinem ehemaligen Kommilitonen und späteren Präsidenten Brasiliens (1919–1922) An dieser Aufgabe waren bereits zuvor viele prominente Juristen gescheitert, darunter der berühmte Zivilrechtler Augusto Teixeira de Freitas,100 der portugiesische Rechtsgelehrte Visconde de Seabra (1798–1895) und Autor des portugiesischen Gesetzbuches von 1867, sowie der Senator Nabuco de Araújo (1813–1878), Vater des Star-Abolitionisten und Diplomaten Joaquim Nabuco (1849–1910) Beviláqua hingegen vollendete seinen Beitrag in Rekordzeit, noch vor dem Ende des 19  Jahrhunderts, obwohl die Arbeit wegen ihres fortschrittlichen Charakters in der Politik viel Widerstand fand Nach langjährigen Diskussionen im Senat, wo sein Projekt vom berühmten Juristen-Politiker Rui Barbosa heftige Kritik erfuhr, wurde der Código Civil Brasileiro 1916 endlich erlassen und trat im nächsten Jahr in Kraft Er galt bis 2002, als er durch ein neues Gesetz ersetzt wurde Bis heute gilt Beviláquas Gesetzbuch als ein zäsurbildendes Werk im brasilianischen Zivilrecht 101 Der deutschsprachige Einfluss in seinem Werk ist unübersehbar 102 Der Jurist Wolf Paul betont, dass Beviláqua durch sein Gesetzbuch „die zivilistische Doktrin Brasiliens durch betonte Assimilierung deutschen pandektenwissenschaftlichen und positivrechtlichen Denkens auf eine neue Grundlage“ stellte Damit gilt es als „Gründerwerk der brasilianischen Zivilrechtswissenschaften“ 103 Zusammen mit den bereits Erwähnten, Tobias Barreto, Augusto Teixeira de Freitas, Rui Barbosa und Pontes de Miranda (1892–1979), reiht sich Beviláqua ein in die äußerst selektive Gruppen brasilianischer Juristen, die in Michael Stolleis’ juristischem Standard-Lexikon beschrieben werden 104

Siehe Ignacio Poveda, s v „Clóvis Beviláqua (1859–1944)“, in: Domingo, Juristas Universales, 729 Siehe auch Alix, „Ideología y filosofia“, 149 99 Siehe Poveda, „Clóvis Beviláqua“, 729 100 Zum Mythos rund um Teixeira de Freitas als Zivilrechtler und zum Einfluss seines ausgeprägten Katholizismus siehe den folgenden kritischen Aufsatz des Juristen Henrique Barahona: Ders , „O ‚mandato divino‘ de Teixeira de Freitas: o jurista entre a loucura e a fé“, in: Anais do XXVI Simpósio Nacional de História – ANPUH (São Paulo, Juli 2011) 101 Siehe Paul, s v „Beviláqua, Clóvis (1859–1944)“, in: Stolleis (Hg ), Juristen, 86 102 Siehe Beviláqua, Código Civil 103 Siehe Paul, „Beviláqua, Clóvis“, 86 Siehe auch Poveda, „Clóvis Beviláqua“, 729 104 Siehe Paul, „Beviláqua, Clóvis“, 85–86

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2 9 Der Einfluss der „Recife Schule“ auf die Modernisten der 1920er Jahre

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2.9 Der Einfluss der „Recife Schule“ auf die Modernisten der 1920er Jahre Für die landesweite „Ausstrahlung“ der „Recife Schule“ innerhalb der brasilianischen Kulturgeschichte spricht ihr prägender Einfluss auf die junge Generation von Künstlern, wie etwa auf die modernistische Bewegung (movimento modernista) in den 1920er Jahren In dieser Hinsicht ließ sich Gilberto Freyre (1900–1987) in seinem Meisterwerk Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa Grande e Senzala) aus dem Jahre 1933105 von Romeros Theorie der „Rassenmischung“ beeinflussen Der Schriftsteller Mário de Andrade (1893–1945) konnte in seinen Sammlungen über populäre Poesie- und Musiktraditionen auf Romeros ethnologischen Arbeiten aufbauen 106 Somit wurden viele der Ansätze der „Recife Schule“ von den Gestaltern der brasilianischen Moderne (modernismo) rezipiert Das anschaulichste Beispiel dafür ist Graça Aranha (1868–1931), der seinen Abschluss an der Rechtsfakultät von Recife machte, ein ehemaliger Schüler Barretos war, sich als sein Anhänger erklärte und als Wegbereiter des Modernismus (modernismo) in den 1920er Jahren gilt 107 Als Jurastudent besuchte Aranha Barretos Vorlesungen und wurde in seinen engeren Studentenkreis aufgenommen:108 „Durch ihn [Barreto] wurde ich ein freier Mensch Durch ihn kam ich heraus aus den Nebeln des falschen Verständnisses des Universums und des Lebens Durch ihn stärkte ich meine unabhängige und souveräne Persönlichkeit“, gibt Aranha zu 109 Nach der ersten Begegnung mit dem Rechtsprofessor, so Aranha, trennte er sich geistig nie mehr von Barreto 110 Beruflich wurde Aranha später Diplomat und lebte jahrelang in Europa Bekannt wurde er aber als Schriftsteller und Intellektueller Überdies wird er als einer der Vorreiter der „Woche der Modernen Kunst“ von 1922 (Semana de Arte Moderna de 1922) wahrgenommen 111 Zusammen mit anderen Künstlern und Intellektuellen wie Mário de Andrade, Sérgio Buarque de Holanda, Anita Malfatti (1889–1964), Tarcila do Amaral (1886–1973), Manuel Bandeira (1886–1968), Oswald de Andrade (1890–1954), Menotti del Picchia (1892–1988) und Emiliano Di Cavalcan-

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Siehe dazu Gilberto Freyre, Herrenhaus und Sklavenhütte Ein Bild der brasilianischen Gesellschaft (Casa grande e Senzala) (München: Klett-Cotta im Dt Taschenbuch Verlag, 1990) Siehe dazu Sílvio Romero, Estudos sobre a Poesia Popular do Brasil (Petrópolis: Editora Vozes LTDA , 1977), 2 Auflage Siehe Waldman, „À ‚Frente‘ da Semana de Arte Moderna“, 71–79 Der Literaturkritiker José Paulo Paes betont, teilweise mit Aranhas eigenen Worten, die Prägung Barretos auf diesen Siehe Paes, Canaã, 15 Im Original: „Por ele me fiz homem livre Por ele saí dos nevoeiros de uma falsa compreensão do Universo e da Vida Por ele afirmei minha personalidade independente e soberana “ Siehe ebd , 15 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Venancio Filho, Arcadas, 100 „Die Woche“ (A Semana) war eine Kunstausstellung aus Anlass der 100-jährigen Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal, die zum ersten Mal eine Ausstellung experimenteller avantgardistischer Künstler in Brasilien bot Bei dieser Gelegenheit hielt Aranha die Eröffnungsrede Siehe Waldman, „À ‚Frente‘ da Semana“, 71–79 Siehe Paes, Canaã, 14

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2 Die „Recife Schule“ im intellektuellen Panorama Brasiliens

ti (1891–1960) gehörte Aranha zum Mitgestalter der Zeitschrift Klaxon, einem Sprachrohr der modernistischen Bewegung in Brasilien 112 Außerdem gehört er zusammen mit Romero, Barreto und Beviláqua zur selektiven Gruppe der Gründungsmitglieder der „Brasilianischen Akademie der Literatur“ (Academia Brasileira de Letras) Zum Patron seines Lehrstuhls wählte er symbolisch Tobias Barreto, dessen Rolle als sein Geistesvater er in seinen Schriften nie genug betonen konnte Die Wirkung Barretos auf den Jurastudenten Aranha beschreibt er selbst mit folgenden Worten: „Was er sagte, war neu, tiefgründig und suggestiv Es eröffnete ein neues Zeitalter in der brasilianischen Intelligenz und wir pflückten daraus die neuen Samen, ohne zu wissen, wie sie unseren Geist befruchten würden, aber sicher, dass sie uns veränderten“ 113 In seiner Autobiographie 1931 bezeichnete Aranha den alten Professor als „größten Mann Brasiliens“, bis dahin „weder übertroffen noch erreicht von keinem anderen“ 114 Durch ihre kreative Aneignung ausländischer Ideen antizipierten Barreto und Romero fast 50 Jahre das „Motto“ der jungen Generation moderner Künstler aus den 1920er Jahren in Brasilien (die sogenannten Modernistas von 1922), wie etwa Mario de Andrade und Oswald de Andrade Diese erhoben mit dem „Kannibalistischen Manifest“ (Manifesto Antropófago) von 1928115 die „Einverleibung“ von Einflüssen und Kunstgattungen aus dem Ausland zu ihrem Programm Aus diesem Grund können Barreto und Romero mit ihren Ideenrezeptionen vor allem deutschsprachiger Autoren als Bindeglieder des 19   Jahrhunderts zur „Generation 1922“ angesehen werden Wie gezeigt werden konnte, wird das am Beispiel der Verbindung der beiden Intellektuellen aus dem 19  Jahrhundert mit den frühen Modernisten, insbesondere zu dem Schriftsteller Graça Aranha besonders deutlich,116 der als Vorreiter der Woche der modernen Kunstschau (Semena de Arte Moderna) gilt und gegen Ende des 19  Jahrhunderts Barretos Schüler in Recife war 117

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Siehe ebd Im Original: „O que ele dizia era novo, profundo, sugestivo Abria uma nova época na inteligência brasileira e nós recolhíamos a nova semente, sem saber como ela frutificaria em nossos espíritos, mas seguro de que por ela nos transformávamos “ Siehe Venancio Filho, Arcadas, 99 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „o maior homem do Brasil até hoje, não excedido, nem mesmo igualado, por nenhum outro“ Ebd , 111 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe dazu Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura, Brasilien Eine Kulturgeschichte (Bielefeld: transcript, 2013), 121–122 Siehe José Paulo Paes, Canaã e o Ideário Modernista (São Paulo: Edusp, 1992) Siehe Thaís Waldman, „À ‚Frente‘ da Semana de Arte Moderna: a presença de Graça Aranha e Paulo Prado“, in: Revista Estudos Históricos 23:45 ( Jan –Juni 2010), 71–94

3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze Geboren wurde Tobias Barreto de Menezes am 7 Juni 1839 in der Zuckerrohr-Provinz Sergipe, im Hinterland Brasiliens Er stammt aus der 650 Kilometer südlich von Recife liegenden kleinen Dorfgemeinde Vila de Campos do Rio Real,1 in der trockenen Binnenlandschaft Sergipes (agreste sergipano) Das Dorf trägt seit 1948 seinen Namen (Município de Tobias Barreto) Als Sohn eines einfachen Notars2 wuchs er in bescheidenen Familienverhältnissen auf und hatte keine einfache Kindheit 3 Barreto wurde als uneheliches Kind geboren Sein Vater war bereits mit einer anderen Frau verheiratet und hatte auch Kinder aus der ersten Ehe Deshalb wuchs er bei seiner Mutter und Großmutter auf, was damals in der konservativen und katholisch geprägten Gesellschaft des ländlichen Brasiliens keine Selbstverständlichkeit war Erst später wurde er vom Vater anerkannt, der dann seine Mutter heiratete 4 Von dieser engen Beziehung zu Mutter und Großmutter wurde er in seiner Kindheit geprägt Nach der Grunderziehung in seiner Heimatgemeinde Campos ging er bereits mit zwölf Jahren nach Estância, um eine Ausbildung in Latein zu bekommen 5 Wegen finanzieller Schwierigkeiten konnte er seinen Lateinkurs erst mit 15 Jahren 1854 in Lagarto (die Heimatstadt Sílvio Romeros) abschließen 6 Im selben Jahr bewarb er sich auf eine Stelle als Vertretungslehrer für lateinische Grammatik, bestand die Examina, wurde aber nicht angestellt Dennoch zeigte sich schon hier sein Talent für Fremdsprachen, das er während seines Lebens noch weiterentwickeln sollte 1856, also zwei Jahre später, bewarb er sich erneut um einen Posten als Lateinlehrer in dem etwas größeren Dorf Itabaiana, ebenfalls im kargen Hinterland seiner Provinz Diesmal wurde er angestellt und übernahm die Stelle Anfang 1857, als er 17 Jahre alt war Die Nachricht von seinem Erfolg und vom Talent des jungen Mannes soll sich in der Provinz schnell ver-

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Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 49 Ebd , 29 Siehe Lima, Tobias Barreto, 1 Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 53–58 Siehe Lima, Tobias Barreto, 2 Siehe ebd

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

breitet haben 7 So beschreibt einer seiner ersten Biographen, der Jurist Hermes Lima, die Bedeutung der Ausbildung in Latein als Aufstiegschance für Barreto, der keinen adligen Hintergrund im damaligen patrimonialen-sklavischen Brasilien besaß: „Im patriarchalischen, von Sklaverei und Analphabetismus geprägten Hinterland konnte der kleine Mulatte ohne jeden Hintergrund dank Latein, einer Sprache des Luxus, eine erste Bruchstelle in der Mauer, die ihn von der feinen und dirigierenden Elite trennte, schaffen Er eroberte sich damit zweifelsohne ein Wappen und schuf sich eine Verwandtschaft mit Vergil Latein adelte “8

Der bereits seit 1856 emanzipierte junge Mann lebte bis 1859 in Itabaiana, mit kürzeren Aufenthalten in seinem Heimatdorf Itabaiana verfügte schon über eine kleine gebildete Elite, was ihm Zugang zu Kultur und zu einigen Privatbibliotheken ermöglichte In dieser Zeit konnte er sich neuer Lektüre widmen und setzte sich vor allem mit Studien der Bibel auseinander 9 Dann brach er auf, um sein Hochschulstudium aufzunehmen: Seine Absicht war es, entweder das Priesterseminar oder die Rechtsfakultät zu besuchen Er erhielt dafür eine sechsjährige Lizenz von der Provinz, die jedoch unbezahlt war, was ihn immer wieder in finanzielle Notlagen brachte 10 Zunächst begab sich der junge Mann 1861 in die dynamische Provinzhauptstadt Salvador da Bahia (ebenso im Nordosten des Landes), entschlossen, dort das Priesterseminar zu besuchen 11 Angeblich soll ihn folgender Vorfall davon abgehalten haben, dem geistlichen Weg zu folgen Romero berichtet davon, dass Barreto gleich in der ersten Nacht des Seminars verwiesen wurde, weil er nachts Gitarre gespielt haben soll Später in derselben Nacht, brach in seiner Pension Feuer aus und er verlor das Wenige, das er bei sich hatte Gleichzeitig gehörte damit sein Wunsch nach einem Leben als Geistlicher der Vergangenheit an Nach diesen Ereignissen suchte er entfernte Verwandte in Salvador auf, wo er zunächst Unterkunft fand In dieser Stadt kam er zum ersten Mal in Kontakt mit der deutschen Sprache, weil ein entfernter Onkel von ihm in Deutschland studiert haben soll und von der deutschsprachigen Literatur begeistert war Er beeinflusste Barreto stark, vor allem in seinem Bestreben, Dichter zu werden 12 Salvador war bis 1763 der Regierungssitz Brasiliens und bot als einer der wichtigsten Städte des Landes in der wirtschaftlich bedeutenden Provinz Bahia dem jungen Mann vom Land einiges mehr an Möglichkeiten, sei es an Kultur, Ausbildung und auch an 7 8

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Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 69 Im Original: „No sertão patriarcal, escravocrata e analfabeto de Sergipe, graças ao latim, língua de luxo, abria o caboclinho sem eira nem beira a primeira brecha no muro que o separava do pessoal fino e dirigente Conquistara um brasão, tornando-se familiar de Virgílio O latim enobrecia “ Siehe Lima, Tobias Barreto, 2 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 73–74 Siehe L A Barreto, „Biobibliografia“, 11 Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 76 Siehe ebd , 78 ff

3 1 Die Anfangsjahre in Recife

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Bohème 13 Gerade diese zog Barreto am stärksten an Er genoss das Nachtleben der Stadt und begann, seine ersten Gedichte zu verfassen In dieser Periode besuchte er das bekannte philosophische Seminar von Frei Itaparica, das ihn in seinen philosophischen Interessen deutlich förderte Damals entdeckte er die romantischen Dichter, vor allem Victor Hugo, der ihn mit seinem freien Geist prägte 14 Aus finanziellen Gründen blieb ihm jedoch keine andere Wahl, als in seine Heimat Campos zurückzukehren Dort verbrachte er den größten Teil des Jahres 1862, bevor er sich endlich entschloss, noch vor Jahresende nach Recife aufzubrechen, um das juristische Studium an der berühmten Rechtsfakultät aufzunehmen Auf der Schiffsreise dorthin machte er noch Halt in verschiedenen Städten des Nordostens, wie etwa in Maceió, wo er als Dichter, Lateinlehrer und Stipendiat der Provinzregierung Sergipes in der Öffentlichkeit auftrat 15 Er erreichte die Hauptstadt Recife erst im Dezember 1862 Wie er selbst behauptete, kam er „nur mit ein wenig Geld in der Tasche“ (trazendo apenas na alegibeira (ainda me lembro) 95$000) an 16 Hier begann eine neue Periode seines Lebens Diese Stadt sollte ihn für den Rest seines Lebens prägen und mit ihr blieb sein Ruf als Intellektueller und Befürworter der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur nachhaltig verbunden 3.1 Die Anfangsjahre in Recife Nach den Aufnahmeprüfungen konnte sich Barreto 1864 endlich an der Rechtsfakultät immatrikulieren Bis dahin schlug er sich mit Privatunterricht durch 17 Noch vor seinem Abschluss 1869 kam es zu einem Ereignis, das später zum Anlass für seinen ausgeprägten Antithomismus und Antiklerikalismus wurde Der Vorfall zeugt ebenfalls von der damaligen kulturpolitischen Stimmung Brasiliens: 1865 bewarb sich Barreto um eine Stelle als Philosophielehrer an dem prestigereichen Internat Ginásio Pernambucano, wo die Söhne der Elite des Nordostens für die Aufnahmeprüfungen an der Rechtsfakultät vorbereitet wurden Barreto erhielt den Posten nicht Zwei Jahre danach allerdings versuchte er es nochmals In den Examina qualifizierte er sich mit den besten Ergebnissen, wurde aber für die Stelle nicht berücksichtigt Die Erklärung

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Dazu meint sein Biograph Lima: „Er war ein Bohemien, Tanz- und Musikveranstaltungen gefielen ihm, er sang und spielte Gitarre auf geschätzte Weise […] Er bewahrte sich seine Lebenslust und sein Vergnügen an der Bohème immer, ohne auf die Konvenienzen zu achten Dieses sein Temperament machte ihm im Umgang mit der in Äußerlichkeiten sehr formalistischen Gesellschaft zu schaffen “ Siehe Lima, Tobias Barreto, 3 und 28–29 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 6 Siehe L A Barreto, „Biobibliografia“, 11 Brief Tobias Barretos an Carvalho Lima Júnior, 6 8 1880, 222 Siehe Mercadante, Tobias Barreto, 108

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dafür war sein Status als lediger Mann 18 An seiner Stelle wurde der Zweitplatzierte engagiert – der in Rio diplomierte Arzt und Doktor der Philosophie in Louvain (Belgien) José Soriano de Souza (1833–1895) 19 Soriano entwickelte sich zu einem bekannten Vertreter des Neothomismus und auch des Ultramontanismus in Brasilien des 19  Jahrhunderts 20 In seinem Werk Lições de Filosofia Elementar, Racional e Moral von 1871 setzt sich Soriano mit der thomistischen Lehre auseinander, die er darin zusammenfassend vorstellt 21 In seiner Gegenschrift „Die Rückständigkeit der Philosophie unter uns“ (O Atraso da Filosofia entre Nós) von 1872 verurteilte Barreto seinen Gegner genau für seine Umarmung des Thomismus Barretos Meinung zufolge stand diese mittelalterliche katholische Lehre für die „Rückständigkeit“ (atraso) in der Philosophie und hinderte Brasilien an Fortschritten im Geistesdenken 22 Weiterhin legte Barreto dort seine antithomistische Position eindeutig dar, die sich nun durch seine Rezeption deutschsprachiger Wissenschaftler wie etwa Haeckel zu festigen begann Den Standpunkt Sorianos stellte er schon damals infrage, indem er sich auf zahlreiche deutschsprachige Philosophen und Schriftsteller wie Immanuel Kant (1724–1804), Georg Friedrich Hegel (1770–1831), Friedrich Schlegel (1772–1829), Georg Büchner (1813–1837), Ferdinand Christian Baur (1792–1860), David Friedrich Strauss (1808–1874) berief Weiterhin zitierte er liberale Radikale vom Rang des Journalisten und Literaturhistorikers Julian Schmidt (1818–1886) oder des Literaten Gustav Freytag (1816–1895) 23 Als Schwarzer ohne die notwendigen Familienbeziehungen litt er lange unter den rassistischen und patriarchalen Vorurteilen der brasilianischen Gesellschaft und sollte während seiner Karriere als Intellektueller immer wieder damit konfrontiert werden 24 Barreto traf auf unüberwindbare Hürden, die aus Rassismus und sozialer Ungerechtigkeit entstanden waren Solche Vorfälle lösten seinen Widerstand und seine Rebellion gegen ausgeprägte Determinismen aus 25 Nach diesen Ereignissen begann er mit der Rezeption deutschsprachiger Autoren, wie schon ausgeführt, als ein aufständischer Akt gegen den dominanten eklektischen Spiritualismus und die intellektuellen Sitten, die er mit den Eliten verbunden sah Kulturpolitischer Hintergrund war die Krise der etablierten Politik und des alten (monarchischen) Regimes Die Wirtschaft entwickel-

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20 21 22 23 24 25

Ebd , 8 Mehr zu Sorianos Biographie und seiner Bedeutung für das katholische Denken im Zweiten Kaiserreich siehe Ubiratan Borges de Macedo, „O Pensamento Católico no Segundo Reinado e a Ação de Soriano de Souza“, in: Crippa, As idéias filosóficas, 185–223, und Villaça O pensamento católico, 46–52 Siehe ebd , 47, und Macedo, „Pensamento Católico“, 191 Ebd , 214–218 Siehe Barreto, „O Atraso da Filosofia“, 175–176 Ebd , 180–181 und 191 Siehe Lima, Tobias Barreto, 13 Ebd

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te sich und neue Arbeitsformen wurden gefordert Migranten kamen aus der ganzen Welt, brachten neues Gedankengut wie etwa Anarchismus und Sozialismus mit sich, das Land urbanisierte sich rasch Die Rechtskultur in Brasilien aber hielt immer noch an ihren theologischen und romantischen Wurzeln fest Genau diese begann die junge „Generation 1870“ anzuzweifeln Nun zogen die neuen wissenschaftlichen Diskurse die Jugend an Schon vor seinem Abschluss an der Rechtsfakultät 1868 widmete er sich intensiver dem Journalismus und der Rolle eines Kritikers in der Presse – Tätigkeiten, die er sein ganzes Leben lang leidenschaftlich ausüben würde Der Journalismus bot ausgebildeten Juristen, die nicht zu traditionellen Familien gehörten (und daher geringere Chancen in der höheren Staatsbürokratie oder in der Politik hatten), eine gute Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen Deswegen gingen viele Juristen (wie etwa Barreto und Romero) nach ihrem Abschluss fast selbstverständlich in den Journalismus – „Der akademische Journalismus, sei es mit seiner literarischen Seite oder seiner politischen Seite, hat immer das größte Interesse der Jura-Studenten erweckt“, erklärt der Rechtshistoriker Venancio Filho 26 In solchen „akademischen“ Blättern veröffentlichte Barreto seine ersten Schriften Diese setzten ein Zeichen für unabhängiges philosophisches Denken, fügt Barreto-Biograph Hermes Lima hinzu 27 Einige seiner damaligen Zeitungsartikel, wie etwa „Guizot und die spiritualistische Schule des 19  Jahrhunderts“ (Guizot e a Escola Espiritualista do Século XIX), belegen dieses Engagement in den Medien bereits ab 1868 28 In jenem Jahr lernte er auch seinen Freund und Mitstreiter fürs Leben Sílvio Romero kennen Diese Freundschaft war ein Einschnitt im Leben der beiden, wie Letzterer selbst immer wieder betonte 29 Als sich die beiden begegneten, waren sie noch Studenten an der Rechtsfakultät in Recife, Barreto befand sich im dritten und Romero im ersten Semester Barreto beeindruckte den späteren brasilianischen Literaturhistoriker, Ethnologen und ab 1897 Gründungsmitglied der prestigeträchtigen „Brasilianischen Akademie der Schriftsteller“ (Academia Brasileira de Letras) tief 30 Romero unterstrich in seinen Werken ständig die Bedeutung Barretos für die geistliche Entwicklung des Landes und betonte oft genug dessen Einflussnahme auf ihn 31 Die Begegnung der beiden Jura-Studenten 26 27 28 29 30 31

Im original: „O jornalismo acadêmico, seja na sua feição literária, seja na sua feição política, despertou sempre o maior interesse entre os estudantes dos cursos jurídicos “ Siehe Venancio Filho, Arcadas, 136 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe Lima, Tobias Barreto, 19 Siehe Barreto, „Guizot e a Escola Espiritualista do Século XIX“, in: Estudo de filosofia, 71–75, und ders , „A Propósito de uma Teoria de S Tomás de Aquino“, in: Ebd , 76–81 Siehe Roméro, Historia da Litteratura, Bd  2: 1830–1877, 1248–1382, und ders , „Considerações Indispensáveis“, XIII–XXVII Hildon Rocha, „Cronologia da Vida e da Obra de Sílvio Romero“, in: Romero, Estudos sobre a Poesia, 27 Siehe Roméro, A Philosophia no Brasil, 137–187; ders , Provocações e Debates und „Considerações Indispensáveis“, in: Estudos Alemães

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markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der „Recife Schule“ 32 Oft verteidigten beide gemeinsame Positionen als Kritiker in der Öffentlichkeit und kämpften für neue Ideen und politische Botschaften, wie etwa im Falle von Barretos Auseinandersetzung mit dem katholischen Blatt O Católico im Jahre 1870 33 Das juristische Studium schloss Barreto erst Ende 1869 ab Im gleichen Jahr heiratete er die Tochter eines Großgrundbesitzers34 und sein Sohn wurde geboren Er selbst beschreibt jene Jahre der Jura-Ausbildung in einem Brief an den republikanischen Poeten (und ebenfalls Sergipaner) Francisco Antônio de Carvalho Lima Júnior (1859–1929), in dem er diesem eine kleine Zusammenfassung seines Lebens gibt: „Im März 63 hatte ich Pocken und konnte mich nicht, wie ich es wollte, im ersten Jahrgang der Fakultät immatrikulieren Ich besuchte während des ganzen Jahres den Geographieund Geometrieunterricht am Colégio das Artes; im November schrieb ich die Aufnahmeprüfungen in 4 Fächern und im März des folgenden Jahres die Prüfung für die 3 fehlenden Fächer und konnte mich an der Rechtsfakultät immatrikulieren (1864) Weil ich mehr als 40 Mal vom Kurs abwesend war, verlor ich das 3 Jahr (1866), das ich dann wiederholen musste, und deswegen schloss ich statt 68 erst 1869 (15 November) den juristischen Kurs ab, im gleichen Jahr, in dem ich heiratete (11 Februar), somit holte ich mein Diplom bereits als verheirateter Mann mit einem neugeborenen Sohn “35

Ebenfalls 1869 soll er mit dem Studium der deutschen Sprache, wenn auch nicht tiefgründig, angefangen haben, wie er weiter berichtet: „Hier ist es wichtig anzumerken – damit eine gewisse Vorstellung, die üblicherweise akzeptiert wird, ich hätte mich Deutschland erst aus Anlass oder nach seinem Krieg mit Frankreich gewidmet –, dass ich bereits im Jahr 1869, noch während meiner Zeit an der Fakultät, anfing, die deutsche Grammatik zu studieren, nun aber wegen der akademischen Tätigkeiten nicht vorwärts kommen konnte “36

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Siehe Romero, Evolução, 138 Siehe Barreto, „Polêmica com O Católico“, in: Ders , Crítica de religião, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2012), 94–122 Mercadante, Tobias Barreto, 153 Im Original: „Em março de 63 fui acometido de varíola, e não pude matricular-me, como queria no 1o Ano da Faculdade Levei todo esse ano a cursar no Colégio das Artes as aulas de geografia e geometria; em novembro prestei exame de 4, e em março do ano seguinte das 3 últimas matérias, matriculando-me no curso jurídico (1864) Por dar mais de 40 faltas perdi o 3o Ano (1866), que tive de repetir; e destarte, devendo formar-me em 68, formei-me em 1869 (15 de novembro), ano em que me casara (11 de fevereiro), tendo-me, pois formado já casado e com filho de poucos dias de nascido “ Brief Tobias Barretos an Carvalho Lima Júnior, 6 8 1880, 223 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen „Aqui importa notar – e para destruir uma certa ideia, geralmente aceita, de que eu me dedicara à Alemanha, por ocasião ou depois de guerra desta com a França – que já no ano de 69, ainda acadêmico, eu começara a fazer estudo de gramática alemã, não podendo, porém ir muito avante, por causa das ocupações acadêmicas “ Ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

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Romero hingegen behauptet, Barreto habe erst ab 1870 angefangen, sich mit dem Erlernen der deutschen Sprache zu beschäftigen 37 Tatsache ist, dass seine ersten Zitate deutschsprachiger Quellen aus diesem Jahr stammen und in Zeitungsartikeln zu finden sind 38 Das Jahr 1870 soll für ihn schwierig angefangen haben – persönliche Zweifel, Sorge um die Familie und finanzielle Probleme entzogen ihm die Energie So äußert er sich über diese Periode: „Im Jahr 70 war ich in Sergipe und brachte meine verwitwete Mutter (mein Vater starb 1867) in die Provinz Pernambuco zu mir, wo sie 1873 starb Das ganze Jahr 70 verbrachte ich in Recife voller Schwierigkeiten und Unsicherheiten über die Art von Leben, das ich umarmen wollte Wenig konnte ich mich nun dem Deutschen widmen Allerdings arbeitete ich in dieser Zeit von Juli bis Dezember in der Redaktion der Zeitung O Americano Im darauffolgenden Jahr zog ich nach Escada und, gleichzeitig mit der Ausübung des Anwaltsberufes, widmete ich mich auch voll und ganz dem Studium der deutschen Sprache, bei dem ich nie einen Lehrer hatte; ich bin komplett Autodidakt – oder ein Selbstlehrer “39

Zunächst versuchte er, seinen Lebensunterhalt durch Privatunterricht zu sichern; später gründete er ein Vorbereitungskolleg für zukünftige Studenten, scheiterte jedoch mit beiden Initiativen Ab 1870 unterstützte er nachweislich liberale politische Positionen, denn er trat in die Liberale Partei ein, die damals in Opposition zur regierenden Konservativen Partei in der Provinz Pernambuco stand 40 Im Laufe desselben Jahres begann er für das Blatt O Americano zu schreiben, das er von Juni bis Dezember mitleitete Es handelte sich um eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift liberaler Richtung, die von Franklin Távora (1842–1888)41 ins Leben gerufen worden war In seinen Artikeln in dieser Zeitschrift durfte Barreto seine Ideen und liberalen Positionen zum Ausdruck bringen und zitierte erstmals deutschsprachige Autoren in der Originalsprache Möglicherweise war es überhaupt das erste Mal im Nordosten Brasiliens, dass dies in einem für die breitere Öffentlichkeit gedachten Medium geschah Der erste deutschsprachige Autor, den Barreto öfter auf Deutsch zitierte, war der liberal-radikale Orientalist und Theologe jüdischer Herkunft Georg Heinrich August Ewald (1803–1875) Dieser gehörte zu den „Göttinger Sieben“, die wegen ihrer 37 38 39

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Siehe Roméro, Evolução, 121 Siehe etwa Barreto, „Notas e Estudos sobre Critica Religiosa“, in: O Americano, 19 7 1870, 31–32 Im Original: „No ano de 70 estive em Sergipe, de onde trouxe minha mãe viúva (meu pai morreu em 1867) para esta província, na qual morreu em 1873 Todo esse ano de 70 passei no Recife, cheio de dificuldades e embaraços sobre o gênero de vida que deveria abraçar Pouco pude, então, cultivar o alemão Redigi, porém, durante esse tempo o jornal intitulado O Americano, de julho a dezembro No ano seguinte vim para a Escada e, entregando-me à profissão de advogado, entreguei-me também de todo ao estudo da língua alemã, na qual nunca tive mestre; sou completamente um autodidata – ou mestre de mim mesmo“ Siehe Brief Tobias Barretos an Carvalho Lima Júnior, 6 8 1880, 223 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen L A Barreto, „Biobibliografia“, 10 Mehr zu Távora in Beviláqua, História, 353

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

Unterstützung für die Beibehaltung der fortschrittlichen Verfassung Hannovers 1837 aus der Universität Göttingen zwangsentlassen wurden An den Protestaktionen gegen diese Maßnahme waren auch die Brüder Grimm beteiligt und Ewald nahm später, wie Jacob Grimm (1785–1863), an der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche teil Barreto begann gerade, mit einem Grammatikbuch der Brüder Grimm die deutsche Sprache zu lernen Sein Zugang zur deutschsprachigen Kultur erfolgte also zunächst durch liberal geprägte Figuren der deutschen Geschichte, wie Ewald und die Grimms Die Schriften, die Barreto in der Americano veröffentlichte, brachten ihn in Schwierigkeiten mit einigen katholischen Kreisen, die begannen, ihn öffentlich in den Medien anzugreifen Die meiste Kritik kam aus den Reihen der Zeitung O Católico Barreto verteidigte sich dagegen in seinen Zeitungsartikeln in der O Americano Solche Auseinandersetzungen erstreckten sich bis ins Jahr 1870 hinein Nach diesen heftigen Debatten war Barreto für seine liberal-radikale Haltung, seine religionskritischen Positionen und für seine geradezu antiklerikalen Ansichten in Pernambuco bekannt Sein Eintritt in die Liberale Partei galt somit als deutliches Bekenntnis zu seinem Liberalismus, der sich nun vollständig verfestigt hatte Seine Religionskritik war für ihn der Anlass, sich noch mehr für die deutschsprachige Denkkultur zu interessieren und diese auch gezielt zu studieren Folglich war es dieses Thema, das zunächst am stärksten seine Aufmerksamkeit weckte 3.2 Die Geburt des „Deutschen Kämpfers“ Nach den Auseinandersetzungen mit der Zeitschrift O Católico und erneuten finanziellen Schwierigkeiten entschied sich Barreto Anfang 1871, in die kleine, 60 Kilometer südlich von Recife gelegene Dorfgemeinde Escada zu ziehen 42 Dort besaß sein Schwiegervater ein Gut Mit einigen Unterbrechungen ließ er sich dort bis 1881 nieder Er praktizierte als Anwalt in der Gemeinde und fand endlich mehr Zeit, sich in das Studium der deutschen Sprache und deutschsprachiger Autoren zu vertiefen Er lernte die Sprache als Autodidakt und ohne jegliches pädagogische Hilfsmittel, bis er sich schließlich schriftlich und beinahe fehlerfrei ausdrücken konnte In Escada gründete er ab 1874 einige Zeitschriften, die eine Wende in der brasilianischen Publizistik markieren Zwei davon waren vollständig in deutscher Sprache verfasst und wurden mittels seiner eigenen Privatdruckerei veröffentlicht Sie hießen Um Signal dos Tem42

Siehe Lima, Tobias Barreto, 26 Sein Biograph Lima beschreibt den Umzug nach Escada als den am besten kalkulierten Akt im Leben Tobias Angeblich erhoffte er sich durch die Ehe mit der Tochter eines Coronel des Hinterlands den ihm bis jetzt verweigerten, aber ersehnten Zugang zur Oberschicht Der Plan ging nicht auf, wie sich bald herausstellte Barreto konnte sich der konservativen und biederen Atmosphäre des Hinterlands nicht beugen, geriet in Konflikte mit allem und jedem, vor allem mit den herrschenden Werten der familiären und persönlichen Beziehungen anstelle verbriefter gültiger Rechte, die seine Aufmerksamkeit erregten Siehe ebd , 23

3 2 Die Geburt des „Deutschen Kämpfers“

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pos („Ein Zeichen der Zeiten“, 1874) und Der Deutsche Kämpfer (1875) 43 Obwohl die Leserschaft solcher Blätter im Hinterland Pernambucos sicherlich sehr gering war, gelangte er durch diese Unternehmungen in Kontakt zu einem weiten Kreis deutschsprachiger Korrespondenten, insbesondere im Südosten und im Süden des Landes, wie zum Beispiel zu dem Verleger der Allgemeinen Deutschen Zeitung in Rio, Richard Matthes,44 und dem deutsch-brasilianischen Publizisten Karl von Koseritz 45 Letzterer wurde zum größten Vermittler von Barretos Ideen im Süden Brasiliens Der Name „Der Deutsche Kämpfer“ steht exemplarisch für Barretos Selbstbild: Er sah sich nämlich als Kämpfer für deutsches Gedankengut innerhalb eines ihm äußerst feindlich gesonnenen Milieus Sein Brief an die Allgemeine Deutsche Zeitung 1875 verrät Grundlegendes über Barretos Absichten und über die Bedeutung Deutschlands innerhalb seines intellektuellen Projekts, nämlich die deutschsprachige Wissenschaftskultur zu vermitteln:46 „In einem Lande, wo sich Alles heute französisch geberdet, in einem Lande, wo man noch heute schwerlich drei Personen findet, die auch nur einigermassen die grosse Bedeutung der wissenschaftlichen Bildung des deutschen Volkes kennen, in solch’ einem Lande konnte sich Deutschland keine Anhänger und Verehrer erwerben Für uns füllte Frankreich die ganze Geschichte aus, Deutschland war nicht viel mehr als ein geographischer Begriff, – ein Kapitel der Astronomie Denn gleichwie ein Nebelstern, kaum geträumt, im Abgrunde des Unendlichen sich verliert, entzog sich unserer Betrachtung das edle Vaterland der bedeutendsten Köpfe der Gegenwart Vergebens hatten die Deutschen, Männer wie Schopenhauer und Strauss; von diesen und anderen wissenschaftlichen Grössen wussten wir gar nichts, es wäre denn, dass wir sie durch das französische Fernglas, und zwar durch die verkleinernde Seite, kennen gelernt hätten […] Da Brasilien […] Jahre lang hinter anderen Ländern der civilisirten Welt zurückgeblieben, so hat es vorzugsweise die Aneignung des deutschen Geisteslebens nöthig […] Mehr als 43 44

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L A Barreto, „Biobibliografia“, 13 „Die Allgemeine Deutsche Zeitung war eine von 1874 bis 1889 in Rio de Janeiro herausgegebene Zeitung, die zunächst zweimal pro Woche, später wöchentlich erschien Die Herausgeber der Zeitung wechselten mehrmals: Richard Matthes, H A Gruber, Robert Rogall, Fernando Schmid und zuletzt Julius Curtius Auf vier Seiten bot sie meist einen Leitartikel, ein Feuilleton, politische Nachrichten aus dem Ausland, Nachrichten aus den brasilianischen Provinzen, vermischte Nachrichten sowie einen Anzeigenteil In einigen Ausgaben bot sie außerdem eine Presseschau diverser anderer deutschsprachiger Zeitungen Brasiliens “ Siehe https://bndigital bn gov br/artigos/ allgemeine-deutsche-zeitung-jornal-alemao-geral, letzter Zugriff am 13 12 2017 Roméro, „Considerações Indispensáveis“, XVIII–XIX Eine portugiesische Übersetzung befindet sich in Barreto, „Carta ao Redator“, 52–54 Teile davon wurden von Barreto in seiner 1876 veröffentlichten Broschüre in deutscher Sprache „Brasilien, wie es ist in literarischer Hinsicht betrachtet“ Das folgende Zitat wurde danach zitiert Es handelt sich nicht um eine Übersetzung und verleiht deswegen Auskunft über Barretos Stil, sich in der deutschen Sprache auszudrücken Siehe „O Brasil como ele é do ponto de vista literário“, in: Ders , Monografias em alemão, hg von Vamireh Chacon (Rio de Janeiro: Record, 1990), 53–131

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

je bedürfen wir Brasilianer, Deutschland kennen zu lernen Fehlte es uns bisher an einem genügenden Organe für die Kunde des grossen Volkes von Denkern und Kritikern, so sind Sie im Stande, diesem Mangel abzuhelfen und eine sehr fühlbare Lücke auszufüllen Es kommt nur darauf an, die Liebe zum Deutschthum unter uns zu entzünden und unsern Geist in Bahnen zu leiten, auf welcher wir die Vortheile der neuesten Bildung schnell und sicherer erreichen, als auf dem bisher eingeschlagenen, oft im Sande verlaufenden Wege der Anhängerei an das Franzosenthum “47

Seinen proklamierten „Germanismus“ machte er in seiner Zeitschrift Der Deutsche Kämpfer zum Programm gegen eine bestimmte Denkkultur im Lande, für die das „Franzosenthum“, wie er selbst schreibt, stand Er sah seine eigene Zeitschrift als „ein ernstes Organ für den Betrieb des Deutschtums im Norden Brasiliens“, deren Absicht es war, das „Interesse des Publikums zu verfolgen“ und „unserem Vaterlande in den großen freien Strom deutscher Geistesbewegung zu helfen“ 48 Sein Ziel war es, „einen neuen Weg für das Studium der deutschen Wissenschaft und Literatur“ anzubahnen 49 Über das breite Spektrum an Themen, die in der Zeitschrift bearbeitet werden sollten, äußert er sich folgendermaßen: „Der ‚Deutsche Kämpfer‘ tritt ins Leben, ohne sich zu irgendeinem Glaubensakte zu bekennen Soweit es gewünscht wird oder zweckmäßig erscheint, werden natürlich auch die politischen Angelegenheiten vom freisinnigen Standpunkt aus besprochen werden “50 So verfasste er im Vorwort zur Zeitschrift die kulturpolitischen Richtlinien seines Programms, das kennzeichnend war für seinen antifranzösischen „Germanismus“: „Galt es noch bis vor kürzem für eine [sic] Zeichen vorgeschrittener Bildung über Deutschland hinwegzuweisen, so ist jedem, der seinen Kopf am rechten Flecke hat jetzt deshalb einleuchtend, dass ein Volk des Denkens auch ein Volk der Tat sein kann: der ernsten und grossen daraus resultierenden Aufgaben gegenüber, mit denen sich Leute alle [sic] Nationen beschäftigen und die unwiderstehlich Vorwärts zu treiben wuerde es sonderbar genug sein, wenn Brasilien einzig und allein trotzdem gleichgültig bliebe Denn vorbei für einmal ist jene Zeit wo man Deutschland und dessen berühmte grosse Männer ignorieren konnte, ohne sich der beleidigten Zivilisation schuldig zu machen; vorbei für immer die Zeit, wo das Franzosentum gut reden hatte, und Wissenschaft und Philosophie aussahen [sic], wie eigentlich französische Waren die man sich um [sic] jeden Preis ankaufen möchte Man darf noch nicht unerwaehnt lassen, dass eine [sic] neue Weg für das Studium der deutschen Wissenschaft und Literatur durch die Herrn Herausgeber unternommene Arbeit

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Siehe Barreto, „O Brasil como ele é“, 64 und 68 Siehe Barreto, „Apresentação de Der Deutsche Kaempfer“, in: Estudos Alemães, 89 Das Zitat wurde leicht bearbeitet und korrigiert Siehe ebd Das Zitat wurde leicht bearbeitet und korrigiert Ebd Das Zitat wurde leicht bearbeitet und korrigiert

3 2 Die Geburt des „Deutschen Kämpfers“

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dieser Publikation bei uns inauguriert wird Es handelt sich um nichts geringeres als ein erster [sic] Organ für den Betrieb des Deutschtums im [sic] Nord Brasilien zu schaffen “51

Ausschlaggebend für seine weiteren Kontakte zu deutschsprachigen Korrespondenten war sein „Brief an die Redaktion der Deutschen Zeitung von Rio de Janeiro“ (Carta ao Redator da Deutsche Zeitung do Rio de Janeiro) von 1874, mit dem er für seine Zeitung Um Signal dos Tempos warb 52 Dieser Brief wurde in der Presse veröffentlicht und spielte eine wichtige Rolle für den Aufbau von Barretos deutschsprachigem Korrespondentenkreis, weil dadurch der Kontakt zu dem Journalisten deutscher Herkunft Karl von Koseritz hergestellt wurde Barreto sah sich als „Kämpfer“ für die deutsche Sprache und Kultur, als Verfechter des deutschen Gedankengutes gegenüber der Dominanz des „Französischtums“ und der religiösen Prägung in der Geisteskultur Brasiliens Er betrachtete es auch in einer späteren Schrift als „seine Lebensaufgabe“ (missão da minha vida), andere für die „reiche juristische Literatur Deutschlands“ (rica literatura jurídica alemã) und für den „hohen wissenschaftlichen Geist dieser beispielhaften Nation“ (alto espírito científico desse país exemplar) zu begeistern 53 Seine Vorliebe für deutsches Gedankengut war so stark, dass seine Texte manchmal sogar deutsch-nationalistische Töne aufwiesen, die jedoch als unkritische Aussagen gesehen werden können Den erwähnten Brief etwa schließt er mit folgender Parole: „Deutschland, Deutschland über Alles! Über Alles in der Welt!“54 Diese Worte sollten im Zusammenhang mit seinem intellektuellen Programm und im politischen Kontext Brasiliens verstanden werden und nicht als eine direkte Bekundung zum Deutschnationalismus oder gar zum Militarismus Preußens, schon gar nicht zu rassistischen Diskursen über die Überlegenheit einer deutschen „Rasse“ Barreto positionierte sich später entschieden gegen den rassischen Determinismus und den Sozialdarwinismus vieler seiner Zeitgenossen Mit seinem Bekenntnis zu „Deutschland“ hatte er durchaus einen wissenschaftlichen Einfluss auf die Geisteskultur im Sinn Er rezipierte auch viele deutsch-jüdische Autoren, wusste den kulturellen Beitrag jüdischer Intellektueller zu schätzen, die er sein Leben lang zitieren sollte und lehnte den Antisemitismus kategorisch ab Seine Vorliebe für deutsch-jüdische (liberale) Autoren macht deutlich,

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Barreto, „Apresentação de Der Deutsche Kämpfer“, in: Chacon, Formação das ciências sociais, 219– 220, Fehler im Original Der Deutsche Kämpfer war mit dem folgenden Untertitel versorgt „Literarisches und ‚per accidens‘ politisches Zeitungsblatt Für die Ausbreitung des Deutschtums im Norden Brasilien herausgegeben von Muhlert & Cie “, so Alberto Carvalho Die Zeitschrift wurde in der Tipografia Mercantil aus der Provinzhauptstadt Recife verlegt und nur fünf Ausgaben wurden veröffentlicht, vom 2 August bis 12 September 1875 Keine Bibliothek verfügt über Barretos Zeitschrift, ihr Fund wäre für die brasilianische Geistesgeschichte äußerst bedeutsam Siehe ebd , 222 Siehe Barreto, „Carta ao Redator“, 52–54 Siehe Barreto, „Jurisprudência da vida diária“, in: Ders , Estudos de direito (Campinas: Bookseller, 2000), 469–470 Siehe Barreto, „O Brasil como ele é“, 70

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

dass er sich vor allem für die deutschsprachige liberale Denkkultur interessierte, die von Intellektuellen und Wissenschaftlern mit jüdischem Hintergrund im 19   Jahrhundert geprägt wurde Zum Thema „Militarismus“ äußert er sich in seinen Artikeln kaum, was sich durch seine „Ideenpropaganda“ in einem der deutschsprachigen Wissenschaftskultur gegenüber äußerst feindlichen (frankophilen) Milieu erklären lässt In einer späteren Schrift, in der er den Rassendeterminismus bekämpft, äußert er sich sehr kritisch über die Politik Bismarck-Deutschlands, die bei ihm keine großen Sympathien erweckte 55 Im Hinblick auf den Rassendeterminismus kritisiert er im gleichen Artikel deutlich Paul Lilienfelds (1829–1903) soziobiologische Ansätze Den wissenschaftlichen Rassismus insgesamt betrachtet er als rein „ethnologische Manie“ und fügt noch hinzu: „Ich hätte es gerne, wenn Lilienfeld nach Brasilien kommen würde, um mit seinen Theorien in Schwierigkeiten zu geraten angesichts dessen, was bei uns zu beobachten ist Die so genannten unterlegenen Rassen bleiben nicht immer zurück Das Söhnchen des Schwarzen oder der Mulatte lassen das reinste arische Blut oft weit hinter sich “56

Dazu muss erklärt werden: Als schwarzer Intellektuelle wusste er selbst sehr genau, was es bedeutete, Zielscheibe von Vorurteilen und Rassismus zu sein, denn er bekam es sein Leben lang immer wieder zu spüren Lilienfelds Aussagen widerlegt er mit den Ansichten des liberal-radikalen Julius Fröbel (1805–1893)  – dem Gründervater der Kindergärten – den Barreto sehr schätzte Auch in seinem „Germanismus“ sieht sein Biograph Hermes Lima Spuren einer Strategie gegen Rassismus und Diskriminierung in der brasilianischen Gesellschaft In dieser Hinsicht war sein Germanismus auch Teil einer Differenzierungsstrategie, die patriarchalisch-sklavische Gesellschaft Brasiliens aus der Ruhe zu bringen 57 3.3 Der politische Aktivist Trotz seiner vielen Aktivitäten als Verleger in Escada zog er sich nie aus den politischen Diskussionen im Lande zurück, wie seine zahlreichen Zeitungsartikel aus jener Zeit beweisen Diese Texte wurden entweder in von Barreto gegründeten Zeitschriften oder in der Presse in Recife veröffentlicht Exemplarisch für dieses Engagement

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Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas a um dos Motes do Dia, ou Variações Antissociológicas“, in: Estudos de filosofia, 318 Im Original: „Eu quisera que Lilienfeld viesse ao Brasil, para ver-se atrapalhado com a aplicação de sua teoria ao que se observa entre nós As chamadas raças inferiores nem sempre ficam atrás O filhinho do negro, ou do mulato, muitas vezes leva de vencida o seu coevo de puríssimo sangue ariano “ Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 355 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Lima, Tobias Barreto, 26

3 3 Der politische Aktivist

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sind seine Essays über die politische Lage Brasiliens 58 Darin sprach Barreto eine äußerst scharfe Kritik an den herrschenden patriarchalischen Verhältnissen in den Provinzen aus und machte auf die soziale Ungerechtigkeit aufmerksam, die zusammen mit der Sklaverei immer noch die Realität in den Zuckerrohr-Provinzen ausmachte Gleichzeitig stellte er vielleicht erstmalig im brasilianischen soziopolitischen Denken den kleinen Mann in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und betonte die Macht der Zuckerrohr-Aristokratie, die im ländlichen Brasilien fast allmächtig regierte, ohne auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zu achten 59 Gute Beispiele dafür sind Schriften wie etwa „Die Politik in Escada“ (Política da Escada) und die klassische politische Abhandlung „Ein Diskurs mit aufgekrempelten Hemdsärmeln“ (Um Discurso em Mangas de Camisa) 60 Dieser war ursprünglich eine Rede Barretos, gehalten im September 1877 bei der Eröffnung des von ihm gegründeten Clube Popular da Escada und 1879 in der Presse (Jornal do Recife) veröffentlicht 61 Sein Ziel war es, ein Forum für kulturpolitische Diskussionen zu bieten und damit das Bewusstsein der Bevölkerung aus Escada für die tiefen sozialen Ungerechtigkeiten im Lande zu wecken In seiner Rede machte Barreto die prekäre bildungspolitische Situation für den „kulturellen Rückstand“ des Landes verantwortlich Er kritisierte zum Beispiel den Umstand, dass in Brasilien viel mehr Geld in das Polizeiwesen als in das Bildungswesen investiert wurde 62 Ferner machte er Front gegen den unechten Liberalismus der aristokratischen Elite Brasiliens Für Barreto war der brasilianische Republikanismus nicht mehr als „ein glänzendes Stück französischer Literatur“ (um belo pedaço de literatura francesa),63 so realitätsfern war die Auffassung der brasilianischen Republikaner Deswegen sagte er auf Deutsch: „In Brasilien treibt man Republik, wie man die Lektüre der Romane Zolas treibt: ohne Kritik oder Überzeugung, nur aus bewusster oder unbewusster Liebe zu Frankreich“ 64 Der klassischen Erklärung der Eliten, das Volk sei wegen seiner Rohheit für seine Misere selbst verantwortlich, setzte er die ungerechten sozialen Verhältnisse, die Sklaverei und die bildungspolitische Situation entgegen Damit richtete er den Fokus auf die mangelnden Rechte, die politische Struktur und das juristische System des Landes Auf der einen Seite machte er dadurch in seinen Analysen die Eliten mit ihrem Egoismus dafür verantwortlich, dass sich nichts änderte Auf der anderen Seite wollte Barreto bei den einfachen Menschen das Bewusstsein für ihre rechtlose Lage stärken und den Willen erwecken, für ihre Rechte zu kämpfen 65 „Die brasilianische Gesellschaft“, 58 59 60 61 62 63 64 65

Siehe Barreto, Crítica política e social, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: Record, 1990) Siehe Barreto, „Um Discurso em Mangas de Camisa“, in: Lima, Tobias Barreto, 286–312 Siehe ebd Siehe ebd , 286–287 Siehe ebd , 307 Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 318 Siehe ebd Zitat leicht bearbeitet und korrigiert Siehe etwa Barreto, „Discurso“, 302–308

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

so beschreibt sie Barreto, „ist eine Gesellschaft der Privilegien, wenn diese nicht in Gesetzen verankert sind, dann durch die Gewohnheiten geprägt, und die Gesetze sind Komplizen, weil sie nicht entschieden dagegensteuern“ 66 Darin „spielen Talent und Tugenden keine Rolle, um Individuen zu unterscheiden, sondern nur der soziale Hintergrund“ 67 Was in diesem System zählte, war eigentlich das „Adligsein“ (fidalguia), oder sein Subprodukt – das Geld 68 Die Bevölkerung und ihre Rechte standen an letzter Stelle in dieser hoch hierarchisierten Sozialpyramide Für die Eliten war das „Volk“ einfach eine „abstrakte Zahl“ (número abstrato), ergänzt Barreto, ohne jedes Recht, einfach „verfolgt, erniedrigt und von den Großen hin und her geschoben“ 69 Seine Forderungen nach der juristisch-institutionellen Verankerung von Rechten waren nicht rein rhetorisch: Er setzte seine Überzeugungen auch in der Praxis durch: Als Anwalt setzte er sich in Escada für die Rechte der Schwächeren ein In seiner Tätigkeit verteidigte er zum Beispiel einen davongejagten Landarbeiter gegen eine reiche Landbesitzerin oder eine ehemalige Sklavin gegen den Versuch, sie wieder zu versklaven, oder auch eine enterbte Waise In all diesen Fällen vertrat Barreto äußerst moderne zivilrechtliche Positionen, für die er sich oft von den deutschen Rechtswissenschaftlern, allen voran von Rudolf von Jhering, inspirieren ließ 70 Für diese Pionierarbeit bei der Analyse der brasilianischen soziopolitischen Realität in den Provinzen des Landes, so wie diese in dem „Diskurs mit aufgekrempelten Hemdsärmeln“ dargelegt ist, wird Barreto zusammen mit Romero als Bindeglied zur modernistischen brasilianischen Generation der 1920er Jahre und deren Gesellschaftskritik betrachtet 71 In seiner Zeit in Escada unternahm Barreto regelmäßige Besuche in die Hauptstadt Recife, um immer wieder neue – meistens deutschsprachige – Bücher zu erwerben 1875 wurde sein erstes Buch veröffentlicht – „Essays und Studien zur Philosophie und Kritik“ (Ensaios e Estudos de Philosofia e Critica), dessen Erscheinen in den Medien nicht unbemerkt blieb 72 Darin zitiert er weitgehend deutschsprachige Autoren, die erstmalig in einem Buch für das breite Publikum in Originalsprache erschienen All seinen Auseinandersetzungen mit den lokalen Eliten zum Trotz fand Barreto in Escada, gemessen an den Umständen, Ruhe und eine sichere finanzielle Grundlage, um sich seiner Leidenschaft für das Studium der deutschen Sprache und deutschspra66 67 68 69 70 71 72

Im Original: „[…] a sociedade brasiliera […] é uma a sociedade de privilégios, senão criados pela lei, criados pelos costumes, de cujos dislates a lei é cúmplice, não lhes opondo a precisa resistência “ Siehe Barreto, „Discurso“, 296 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „[…] o talento e a virtude não servem para marcar distinção entre os indivíduos, considerados como frações sociais “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 296 Im Original: „perseguido, humilhado […], a ponto de sôbre êle os grandes disputarem e lançarem os dados “ Siehe ebd , 298 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Dazu Losano, „Rezeption“, 85–89 Siehe Paes, Canaã, 55 Siehe Tobias Barreto, Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage

3 4 Die Rolle als Frauenrechtler

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chiger Autoren hinzugeben Allerdings sah er sich durch seine Erfahrung als Anwalt mit den politischen Problemen des Landes in der Praxis konfrontiert 73 Das Leben in der Provinz war für Barreto eine wertvolle Erfahrung, weil dort alle sozialen Ungleichheiten und politischen Probleme des Landes offen zutage traten 74 Gegen Ende des Jahrzehnts kandidierte Barreto als Abgeordneter von Escada für das Regionale Parlament in Recife und erhielt ein zweijähriges Mandat (1878–1879) Die Zeitungen der Hauptstadt berichteten über dieses Ereignis Sein Auftritt auf dem politischen Parkett war kurz, blieb aber wegen der Streitbarkeit, mit der er für seine Ideen vor allem im Bildungsbereich warb, nicht unbeachtet 3.4 Die Rolle als Frauenrechtler Als Regionalpolitiker setzte sich Barreto in Recife unermüdlich für das Recht der Frauen auf eine Hochschulausbildung ein Er sah in der Abhängigkeit der Frauen von den Männern eine der Grundstrukturen einer katholisch-patriarchalischen Gesellschaft wie der brasilianischen 75 Deswegen kämpfte er für die Vergabe von Ausbildungsstipendien an Frauen, die ihre Ausbildung im Ausland machen wollten – und dies gegen Ende des 19  Jahrhunderts, im Nordosten Brasiliens Aber nicht nur das: Als RegionalAbgeordneter reichte er selbst einen Antrag für den Aufbau einer Hochschuleinrichtung für Frauen ein 76 In den damaligen Debatten im Regionalparlament untermauerte er seine Positionen mit Beispielen berühmter Frauen in Europa, die nach ihrer Ausbildung eine erfolgreiche Karriere gemacht hatten 77 Barretos Kontrahenten beriefen sich hingegen auf Recherchen über Gehirnmessungen, um ihre (religiös-geprägten) Ansichten über die angebliche Untauglichkeit der Frauen für Hochschulstudien zu beweisen 78 Dagegen zitierte Barreto Haeckel und Darwin mit ihren deszendenztheoretischen Ansätzen, um sich gegen solche angeblich wissenschaftlichen Argumente seiner Kritiker zu wehren 79 Wiedergewählt wurde Barreto natürlich nicht, obwohl sein Aufruf für die Rechte der Frauen Spuren im politischen Leben der Provinz hinterließ Als öffentliche Persönlichkeit war er von nun an untrennbar mit liberalen politischen Überzeugungen verbunden Bis heute ist die Frage der Frauenrechte noch brisant, nicht nur in Brasilien, sondern weltweit, und ruft in vielen Ländern Debatten hervor, die sich auf religiöse Positionen berufen 73 74 75 76 77 78 79

Siehe Lima, Tobias Barreto, 32 Siehe Paes, Canaã, 55 Siehe Barreto, „Educação da Mulher II“, in: Crítica política e social, 170–173 Barreto, „Projeto de um Partenogógio“, in: Critica política e social, 190–192, und ders , „Projeto no  129“, in: Ebd , 193–199 Siehe Barreto, „Educação da Mulher“, 165–182, und ders , „Ainda a Educação da Mulher“, 184–189 Siehe Barreto, „Educação da Mulher II“, 168–167 Siehe ebd , 164 und 169

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

Nach seiner Wahlniederlage blieb Barreto noch bis 1881 in Escada, bis er sich gezwungen sah, das kleine Dorf wegen zunehmender Probleme zu verlassen Nach dem Tod seines Schwiegervaters rebellierten die an Barretos Schwager vererbten Sklaven und wollten zu Barreto überlaufen, weil er sie nämlich alle befreien wollte 80 Wegen seiner schwierigen Persönlichkeit und seiner kritischen Ansichten war Barreto schon längst ins Visier der lokalen Mächtigen geraten Nun konspirierten die Konservativen des Dorfes gegen den Außenseiter, der sich nicht anpassen wollte und Unbehagen provozierte 81 Seine politischen Positionen sowie seine vielen Schriften und Zeitschriften waren für die kleine Zuckerrohr-Provinz einfach zu liberal und avantgardistisch Auch sein überall bekanntes politisches Engagement in der Liberalen Partei hatte sicherlich dazu beigetragen, die Geduld der lokalen Mächtigen zu strapazieren 82 3.5 Die Professur an der Rechtsfakultät 1882 fand eine Wende statt: Nach einem schwierigen öffentlichen Examen gelang es Barreto, den Posten eines außerordentlichen Professors (lente substituto) an der Rechtsfakultät von Recife zu erlangen Die mündliche Prüfung wurde damals zu einem öffentlichen Ereignis und von den Studenten als Kampf zwischen „Alt“ und „Neu“ bewertet, in dem Barreto zweifelsohne das „Neue“ repräsentierte Ohne seine Rezeption deutschsprachigen Gedankengutes wäre diese Erneuerung weder denkbar noch möglich gewesen  – sie war sein Werkzeug, sein Mittel dafür 83 Viele behaupten, die Geschichte der Rechtsfakultät in Recife lasse sich in eine Zeit „vor“ und „nach“ Barreto einteilen 84 Seine Ankunft dort bedeutete „den Einzug frischer Luft, neuer Ideen, neuer Vorstellungen in der damaligen Mentalität“ 85 Barreto sah sich selbst als Kämpfer auf dem Schlachtfeld der Ideen Auf seiner Seite stand die akademische Jugend, die über seinen Sieg jubelte 86 Sie sah sich durch ihn repräsentiert und begeisterte sich an seinen Auftritten, seinen neuen Ideen für die Rechtswissenschaften Die Debatten waren heftig, aber am Ende erwies sich Barreto als Sieger Im Publikum stand der 13-jährige Graça Aranha, zukünftiger Schriftsteller, der gerade an der Hochschule angekommen war und das Procedere als Augenzeuge miterlebte Die Beschreibungen Aranhas spiegeln die damals in zwei Lager gespaltene Stimmung wider Vor allem zeugt sie von

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L A Barreto, „Biobibliografia“, 13 Lima, Tobias Barreto, 30–31 Ebd , 23–26 Siehe L A Barreto, „Biobibliografia“, 14 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 114 Im Original: „[…] entrada de ar novo, de novas ideias, de novas concepções na mentalidade de então“ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Venancio Filho, Arcadas, 99–100

3 5 Die Professur an der Rechtsfakultät

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der Unterstützung, die Barreto als „Erneuerer“ seitens der Jugend genoss 87 Dennoch wollte die Kommission Barreto nicht aufnehmen, obwohl er die Prüfungen als Bester absolvierte Erst nach Intervention des Kaisers durfte er den Posten übernehmen 88 Mit dem Erlangen des Lehrstuhls erreichten seine Ideen eine ganz neue Hörerschaft, obwohl sein Name in der Öffentlichkeit nicht unbekannt war 89 Von nun an konnten seine Ideen eine neue Generation von Studenten begeistern Dabei spielten vor allem die deutschsprachigen Wissenschaftler, die er in seinen Vorlesungen vermittelte, eine tragende Rolle In dieser Zeit widmete er sich mehr den rechtswissenschaftlichen Studien, vor allem Jherings Schriften, den er seit 1875 kannte und der einen zentralen Part in Barretos wissenschaftlicher Rechtsauffassung einnahm Zurück in Recife betätigte sich Barreto weiter als Gesellschaftskritiker in den Medien Sein ganzes Leben war gekennzeichnet von seinen journalistischen Aktivitäten, sei es in Themengebieten wie Politik, Religion, Literatur, Kunst oder in den Geisteswissenschaften Seine größten (politisch-ideologischen) Auseinandersetzungen in dieser Zeit fanden mit den Priestern aus der Provinz Maranhão statt 90 Es war die Zeit nach dem Ersten Vatikanischen Konzil, das den Ultramontanismus innerhalb des katholischen Glaubens gestärkt hatte Damals waren Barretos Kenntnisse der deutschen Sprache bereits so gefestigt, dass er sich gegen Kritiken bei solchen Debatten meistens mit deutschsprachigen Autoren und Zitaten in deutscher Sprache wappnete Vor allem Haeckel wurde von ihm in solchen Auseinandersetzungen häufig zitiert Barreto bekannte sich deutlich zum monistischen Weltbild, was ihm viel Kritik einbrachte Die Debatten erhielten große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit von Recife und Barreto verfestigte nun seinen Ruf als freier Denker mit antikatholischer und antimonarchistischer Haltung Dem Thomismus der Klerikalen, der vor allem nach dem Konzil zur offiziellen Doktrin („Neothomismus“) der katholischen Kirche erhoben wurde, setzte er Haeckel und Darwin entgegen Er betonte seinen materialistischen Monismus und verband diesen mit seinem „Germanismus“ 91 Im Mai 1883 kam es zu einem unglaublichen Moment der Freude in Barretos Leben Nach all den Kritiken und Verurteilungen konnte er sich endlich in seinem Engagement für die deutsche Kultur und Wissenschaft bestätigt fühlen Es handelte sich durchaus um eine Anerkennung politischer Natur: Anlässlich des Besuchs des Prinzen Heinrich von Preußen (1862–1929) in der Provinz Pernambuco wurde er zu einem Mittagessen auf dessen Schiff eingeladen und durfte als einziger Brasilianer dabei sein und den Prinzen auf Deutsch begrüßen Dieses Geschehnis wurde als Lohn für sein 87 88 89 90 91

Ebd Siehe Carlos H Oberacker Jr , „Tobias Barreto, o mais significativo germanista do Brasil“, in: Monografias em alemão, 273 Siehe Lima, Tobias Barreto, 208 Siehe Barreto, „Polêmica com A Civilzação“, in: Crítica de religião, 179–188, und Veríssimo, História da literatura, 233 Siehe Barreto, „Polêmica com A Civilzação“, 182–188

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3 Tobias Barreto: Eine biographische Skizze

Bemühen um die deutsche Kultur angesehen und beweist, dass sein Ruf als „Germanist“ die Grenzen Recifes überschritten hatte und er auch im deutschsprachigen Raum wahrgenommen wurde 92 Am nächsten Tag reiste der Prinz mit seinen Begleitern nach Escada und Barreto durfte ihn bei der Visite seiner ehemaligen Dorfgemeinde begleiten 93 Für ihn waren es unvergessliche Tage, durch die er sich für seine jahrelangen Bemühungen um die deutsche Kultur in dem dafür äußerst ungünstigen Milieu des Hinterlandes Brasiliens endlich anerkannt sah Er betrachtete diesen Moment zudem als eine Art „Triumph“ und berichtet über seine Gefühle bei der Begegnung mit einem Mitglied des Hauses Hohenzollern in einer bezeichnenden Schrift namens „Himmelfahrt und Escadafahrt“ 94 Allein der Titel ist kennzeichnend für seine Gefühle der Erlösung Einige Jahre zuvor (1879) wurde ein Profil Barretos in der Zeitschrift Die Gartenlaube veröffentlicht Dort bezeichnete ihn der Autor als „‚Deutschen Kämpfer‘ von Pernambuco“ 95 Der vierseitige Artikel wurde von Alfred Waeldler (alias Albrecht Wilhelm Sellin, 1841–1933)96 verfasst und steht für die Wahrnehmung Barretos in Deutschland als „Germanist“ und „Fürsprecher“ der deutschen Kultur im nordöstlichen Brasilien 97 Das Porträt bzw sein Kontakt zu Sellin kam durch den Journalisten Karl von Koseritz, seit 1874 Anhänger und Vermittler Barretos in Südbrasilien sowie bekennender Monist, zustande 3.6 Die letzten Jahre des Kampfes Beschreibungen berichten einhellig darüber, dass Barreto wie auch Romero ihr ganzes Leben lang leidenschaftlich debattierten 98 Zudem wollte Barreto nicht nur kritisieren, er wollte auch aufklären und die rechtlichen Studien methodisch und inhaltlich reformieren Als Schwarzer ohne adligen Hintergrund, der neue Ideen in die Rechtswissenschaften einführte und mit Leidenschaft jenseits der aristokratischen Etikette der Elite seine Positionen vertrat, wurde er von seinen Kollegen an der Rechtsfakultät nicht 92 93 94 95 96

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Der Besuch des Prinzen wird von Koseritz in seinem Band „Bilder aus Brasilien“ ausführlich beschrieben Siehe Karl von Koseritz, Bilder aus Brasilien (Leipzig: o A , 1885) Siehe Koseritz, Bilder aus Brasilien, 198–201 Siehe Barreto, „Himmelfahrt und Escadafahrt“, in: Ders , Estudos Alemães (1926), 503–508 Alfred Waeldler, „Der ‚deutsche Kämpfer‘ von Pernambuco“, in: Die Gartenlaube – Illustrirtes Familienblatt 42 (Leipzig: Ernst Keil, Jahrgang 1879), 700 Mehr zu Sellin in: http://biographien kulturimpuls org/list php, letzter Zugriff am 21 9 2016; Norbert, Klatt, Der Nachlass von Wilhelm Hübbe-Schleiden in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: Verzeichnis der Materialien und Korrespondenten; mit bibliographischen Angaben (Göttingen: Klatt, 1996), 287, und Bernd Haunfelder, Die Liberalen Abgeordneten des Deutschen Reichstags – Ein Biographisches Handbuch (Münster: Aschendorff, 2004), 183 Siehe Waeldler, „Der ‚deutsche Kämpfer‘ von Pernambuco“, 700–703 Siehe Lima, Tobias Barreto, 248–285, und Beviláqua, História, 372

3 6 Die letzten Jahre des Kampfes

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gerade geschätzt: vor allem deswegen, weil er diese in Verlegenheit brachte, indem er sie mit ihrem Unwissen und veralteten Lehren konfrontierte Er machte sich dadurch viele Feinde und war an vielen Streitigkeiten beteiligt – die Jugend und die Studenten aber waren auf seiner Seite 99 Wegen dieser Auseinandersetzungen bekam er den Titel eines ordentlichen Professors erst kurz vor seinem Tod, als er schon sehr geschwächt war und die Fakultät kaum mehr betreten konnte 100 Die Debatten, in die er oft verwickelt war und die er teilweise auch suchte, brachten ihn in einen Zustand körperlicher Erschöpfung Nach einer schweren Erkrankung konnte er seine Vorlesungen an der Rechtsfakultät nicht mehr halten Bald wurde ihm aus diesem Grund sein Lohn entzogen und er geriet wieder in finanzielle Schwierigkeiten Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich allmählich In den letzten Lebensjahren war er sogar auf die Spenden von Freunden angewiesen, um überleben zu können Immer stand Romero hinter ihm, der allzeit bereit war, dem Freund zu helfen und ihm Geld zu verschaffen Andere, wie etwa Karl von Koseritz, versuchten, Gelder für ihn zu sammeln, um ihm eine Reise in sein geliebtes Deutschland in diesen letzten Jahren zu ermöglichen, aber die Hilfe kam zu spät: Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends und eine Reise war unmöglich Barreto hatte nie seine Heimat Brasilien und nicht einmal das Gebiet des Nordostens verlassen, obwohl seine Ideen und sein Wirken prägend für das Land waren Der Rechtsprofessor aus Sergipe war während seiner 50 Lebensjahre nicht einmal in der Hauptstadt Rio de Janeiro Doch auch in Deutschland wurde er wahrgenommen und als brasilianischer „Germanist“ anerkannt – als „Deutscher Kämpfer von Pernambuco“ 101 Er starb in elendem Zustand am 26 Juni 1889, wenige Monate vor der Ausrufung der Republik am 15 November Sein letzter Brief an Romero vom 19 Juni, eine Woche vor seinem Tod, wurde von seinem Sohn Pedro unterschrieben, da er selbst dazu nicht mehr in der Lage war Dort beschreibt er sich selbst als „Rentner der öffentlichen Wohltätigkeit“ (pensionista da caridade pública) und bat um weitere finanzielle Unterstützung, da er am Ende seiner Möglichkeiten war – pekuniär genauso wie körperlich, denn er schien sich bewusst zu sein, dass er sich nicht mehr erholen würde 102

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Siehe insbesondere Lima, Tobias Barreto, 193–247 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 102 Siehe Waeldler, „Der ‚deutsche Kämpfer‘ von Pernambuco“, 700 Siehe Brief Tobias Barretos an Sílvio Romero, Recife, 19 6 1889, in: Estudos Alemães, 246 Siehe auch Lima, Tobias Barreto, 44

4 Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros Im Gegensatz zu seinem Freund Tobias Barreto widmete sich Sílvio Romero nie so intensiv dem Erlernen der deutschen Sprache Deswegen hatte er keinen direkten Zugang zu den deutschsprachigen Quellen und konnte deutschsprachige Autoren nicht so gründlich wie Barreto studieren Obwohl Romero dies immer wieder bestritt, zeigen seine Lesequellen und -gewohnheiten, dass er stark von französischen Autoren und Quellen beeinflusst war, beispielsweise von Auguste Comte und Hippolyte Taine, aber auch von Thomas Buckle (1821–1862) und vor allem von Herbert Spencer 1 Es handelt sich hierbei allesamt um Autoren, die vom Determinismus geprägt waren Von deutschsprachigen Autoren hatte er lediglich Kenntnis aus zweiter Hand, nämlich entweder durch die Lektüre französischer Kommentare und Bücher oder durch Barreto, der ihm auch vieles vermittelte Romero leistete Grundlegendes für die Geschichte der brasilianischen Literatur und für die Ethnologie, indem er für die Aufnahme wissenschaftlicher Methoden in diesen Disziplinen eintrat 2 Zudem leistete er wichtige Quellenrecherche in diesen Bereichen 3 In der Geschichte der brasilianischen Literatur war Romero der Erste, so der Literaturkritiker Antonio Candido (1918–2017), der systematische Arbeit leistete 4 In der Ethnologie war er einer der Pioniere des Studiums der folkloristischen Traditionen des Volkes, vor allem in den Provinzen Brasiliens 5 Er wertete die Figur des Sertanejo (des einfachen Mannes des kargen Hinterlandes) und dessen kulturellen Beitrag durch seine Forschung auf 6 Damit trug der Literaturkritiker dazu bei, die Gräben zwischen Hochkultur und Populärkultur aufzuheben Außerdem war er auch einer der 1 2 3 4 5 6

Siehe Candido, O método crítico, 48–49 Ebd , 63 Ebd , 97–98 Siehe ebd , 154–62 Ebd , 95–98 Siehe dazu Roberto Ventura, „História e Crítica em Sílvio Romero“, in: Sílvio Romero, Compêndio de história da literatura brasileira, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: Imago, 2001), 13–15, und Antonio Dimas, „O turbulento e fecundo Sílvio Romero“, in: André Botelho und Li-

4 1 Die Anfangsjahre in Sergipe, Rio de Janeiro und Recife

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Ersten, der die Bedeutung der schwarzafrikanischen Traditionen für die brasilianische Kultur entscheidend betonte und erforschte 7 4.1 Die Anfangsjahre in Sergipe, Rio de Janeiro und Recife Romeros Wurzeln liegen wie im Falle Barretos in der Provinz Sergipe im nordöstlichen Teil Brasiliens 8 Geboren wurde er am 21 April 1851 in der kleinen Dorfgemeinde Lagarto – „Eidechse“ auf Portugiesisch Nach einer Grundbildung in seinem Heimatdorf ging er 1863 in die Hauptstadt Rio de Janeiro, um seinen Gymnasialabschluss zu erwerben 9 Diese Zeit in Rio ist prägend für Romeros Ausbildung, denn er lernte durch einige seiner Gymnasiallehrer deutschsprachige Autoren kennen und begann sie früh zu schätzen, wie er selbst immer wieder hervorhob 10 Allerdings steht zu bezweifeln, dass er diese in der Originalsprache lesen konnte Ende der 1860er Jahre kam Romero mit 18 Jahren nach Recife, um das Jurastudium an der Rechtsfakultät aufzunehmen Wie Barreto, profitierte auch er von der anregenden kulturellen Atmosphäre der Stadt, in der neue Ideen, Bücher und Zeitschriften zirkulierten 11 Über die Stimmung der Provinzhauptstadt in der zweiten Hälfte des 19   Jahrhunderts äußerte sich Candido folgendermaßen: „Recife war bereits damals ein intensives Austauschzentrum, in dem Wissenschaft und zeitgenössische Philosophie vermittelt wurden […] Es scheint daher richtig, dass sich zunächst in Pernambuco ein für die Zirkulation neuer Ideen günstiges Umfeld formierte “12

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lia Moritz Schwarcz (Hg ), Um enigma chamado Brasil: 29 intérpretes e um país (São Paulo: Companhia das Letras, 2009), 77 Siehe Candido, O método crítico, 65 Zur Biographie Romero sei hier verwiesen auf: Beviláqua, Juristas; Mendonça, Sílvio Romero; Sylvio Rabello, Itinerário de Sílvio Romero (Rio de Janeiro: José Olímpio, 1944); Candido, O método crítico; Luís Washington Vita, „Introdução“, in: Sílvio Romero, Obra Filosófica (Rio de Janeiro: José Olympio, 1969), XI–XXIII; Evaristo de Moraes Filho, „O Pensamento Político-Social de Sílvio Romero“, in: Romero, Realidades e ilusões no Brasil, 29–53; Ventura, Estilo tropical; Maria Aparecida Resende Mota, Sílvio Romero: dilemas e combates no Brasil da virada do século XX (Rio de Janeiro: FGV, 2000); Alberto Venancio Filho, „Introdução“ e „Cronologia“, in: Sílvio Romero, Introdução a Doutrina contra doutrina (São Paulo: Companhia das Letras, 2001), 7–31; Ventura, „História e Crítica“, in: Romero, Compêndio de história da literatura, 9–21; L A Barreto, „Sílvio Romero, uma Informação Biobliográfica“, in: Ebd , 407–415; Alberto Luiz Schneider, Sílvio Romero, hermeneuta do Brasil (São Paulo: Annablume, 2005); Dimas, „O turbulento e fecundo Sílvio Romero“, 74–89; Venâncio Filho, Arcadas, 97–99; Moraes Filho, Medo à utopia Zu einer vollständigen Bibliographie von und über Romero siehe Romero, Compêndio de história da literatura, 416–435 Siehe L A Barreto, „Informação Biobliográfica“, 407–408 Romero, Zéverissimações, 36 L A Barreto, „Informação Biobliográfica“, 408 Im Original: „… o Recife já era centro de fermentação intensa, onde se divulgavam a ciência e a filosofia contemporânea … Parece certo, portanto, ter-se constituído em Pernambuco o primeiro

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4 Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros

Für die aufregende geistige Atmosphäre Recifes steht, dass viele Kommilitonen Romeros an der Fakultät später bedeutsame Persönlichkeiten in der zukünftigen Politik Brasiliens wurden, wie etwa der spätere Diplomat und Abolitionist Joaquim Nabuco, der Literat Tristão de Alencar Araripe Júnior (1848–1911), der Historiker Capistrano de Abreu (1853–1927) und selbstverständlich auch sein zukünftiger Mitstreiter Tobias Barreto 13 Zu ihm entwickelte Romero eine lebenslange Freundschaft, die beide Lebenswege zutiefst prägte Es entstand daraus eine enge intellektuelle und politische Partnerschaft, die auf gegenseitige Unterstützung beruhte Die Beziehung der beiden sollte die brasilianische Geistesgeschichte grundlegend ändern Schon als Jurastudent begann sich Romero wie viele seine Kommilitonen journalistisch zu engagieren14 und wie Barreto sollte ihn diese Tätigkeit sein ganzes Leben begleiten 1873, vier Jahre nach Barreto (1869), bekam er sein Diplom und trat nun in die hochangesehene Sozialschicht der „Bakkalaureus“ (bacharéis) ein 15 Gleich nach dem Abschluss seines Studiums wurde er Staatsanwalt in der Dorfgemeinde Estância in seiner Heimatprovinz Sergipe und später zum Regionalabgeordneten gewählt Das war der Auftakt seiner politischen Karriere, in der er sich an vielen Debatten beteiligte 16 Bald aber verzichtete er auf sein Amt und kehrte nach Recife zurück, um sich als Lehrer am prestigeträchtigen Vorbereitungskolleg für die Rechtsfakultät (Colégio das Artes) zu bewerben Ähnlich wie Tobias Barreto Jahre zuvor schnitt er am besten ab, bekam aber den Posten nicht Die Ausschreibung wurde damals ohne weitere Begründung annulliert 17 Im Jahr 1875 fand die legendäre öffentliche Verteidigung seiner Doktorarbeit statt, bei der Romero den „Tod der Metaphysik“ vor einer äußerst konservativen Prüfungskomission ankündigte Gleichzeitig beleidigte er die Professoren durch seinen provokanten Auftritt und sein Zitat des damals fast unbekannten Rechtsgelehrten Rudolf von Jhering Daraufhin verließ er den Saal ohne den Doktortitel Im folgenden Jahr 1876 kandidierte er erneut für die Stelle eines Lehrers der Philosophie am Colégio das Artes wurde aber wieder nicht berufen Jahre danach bewarb er sich allerdings für den Lehrerposten für Philosophie am angesehenen Internat Pedro II in Rio de Janeiro und schlug einen alten Kontrahenten aus Recife So lehrte er jahrelang Philosophie an einer der berühmtesten öffentlichen Schuleinrichtungen Rios 18

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ambiente em que circulavam as idéias novas …“ Siehe Candido, O método crítico, 46 und 49 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 45–49 Siehe L A Barreto, „Informação Biobliográfica“, 409 Über die Bedeutung des journalistischen Berufs, der die damals öffentliche Sphären maßgeblich beeinflusste, in der Ideen diskutiert wurden und Literaturkritik begann, siehe Candido, O método crítico, 37 Siehe L A Barreto, „Informação Biobliográfica“, 409 Siehe Moraes Filho, „O Pensamento Político-Social“, 32–33 Siehe Venancio Filho, Arcadas, 98 Siehe Vita, „Introdução“, XIV

4 2 Literaturhistoriker und Ethnologe: Die Rückkehr nach Rio

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4.2 Literaturhistoriker und Ethnologe: Die Rückkehr nach Rio Während Barretos Wirkung sich mehr im Bereich des Rechtsdenkens und der Philosophie zeigt, ist Sílvio Romero eher für seine zahlreichen Beiträge im Bereich der Literaturkritik und der Ethnologie bekannt Durch seine sozial-evolutionistische Perspektive gab er beiden Bereichen neue Impulse Sowohl in seinen Arbeiten über Literaturgeschichte als auch in seinen kultur-ethnologischen Monographien versuchte er, diese Disziplinen auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen 19 Für seinen Einfluss in der brasilianischen Literaturgeschichte wird er vom Literaturkritiker Antonio Candido als „Begründer der modernen Literaturkritik in Brasilien“20 bezeichnet Candido fügt noch hinzu, dies bedeute keineswegs, dass es vor Romero keine solche in Brasilien gegeben habe 21 Allerdings war er der Erste, der für die Aufstellung einer natur-evolutionistischen und historischen Methode in der Literaturkritik warb Auch für die kulturhistorischen Studien der Folklore (folclore) in den Provinzen Brasiliens und für die populäre Musiktradition waren seine Beiträge wegweisend In diesen Gebräuchen sah er den Einfluss des „Mischlings“ (mestiço) in Brasilien als kulturelle Besonderheit und ebenso als einen Beitrag für die Welt Für diese Leistungen gilt er als Gründervater der brasilianischen Kulturethnologie 22 Mitte der 1870er Jahre verließ Romero Recife und siedelte nach zweieinhalb Jahren als Richter nach Paraty (in der Provinz Rio de Janeiro) über Ab 1879 zog er in die Hauptstadt Rio de Janeiro 23 Dort verfolgte er eine Karriere als Hochschullehrer, Journalist und Schriftsteller 1880 wurde er an dem hochangesehenen kaiserlichen Gymnasial-Internat Pedro II mit einer Arbeit Über die philosophische Deutung in der Entwicklung von historischen Fakten (Da Interpretação Filosófica na Evolução dos Fatos Históricos)24 zum Professor der Philosophie ernannt In dieser Abhandlung und seiner Monographie A Literatura Brasileira e a Crítica Moderna sind die Grundlagen seines kritischen Werkes und die Ansätze seines Denkens niedergelegt 25 Romero war damals 30 Jahre alt – nur elf Jahre zuvor, 1869 in Recife, hatte er mit seinen ersten Schriften sein intellektuelles Leben begonnen Der Grundrahmen dessen, was nach Antonio Candido seine „kritischen Methode“ (método crítico) ausmacht – also Romeros Methode der Literaturanalyse – war nun gegeben: Hauptsächlich handelte es sich um eine auf sozialen und ethnischen Faktoren basierende (evolutionistische) historische Analyse der Kulturformation Brasiliens 26 19 20 21 22 23 24 25 26

Siehe Candido, O método crítico, 163–194 Ebd , 17 Ebd Ebd , 171–188 Ebd , 54 Siehe Vita, „Introdução“, XIV Siehe Candido, O método crítico, 55 Ebd , 53–55

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4 Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros

4.3 Das Meisterwerk Geschichte der brasilianischen Literatur und das politische Leben Für die Jahre von 1880 bis 1888 stellt Candido eine zweite Phase in Romeros intellektuellem Werdegang fest In dieser Zeit widmete er sich mehr denn je der Analyse der Poesie und der Folklore und wandte sich damit mehr der kulturethnologischen Deutung Brasiliens zu Aus dieser Zeit stammen Werke wie etwa Der Naturalismus in der Literatur (O Naturalismo em literatura, kennzeichnend für seine „kritische Methode“), Populäre Gesänge aus Brasilien (Cantos Populares do Brasil), Studien zur zeitgenössischen Literatur (Estudos de Literatura Contemporânea), Brasilianische Ethnographie (Etnografia Brasileira), die schließlich in seinem Meisterwerk von 1888 ihren Höhepunkt fanden In diesen Werken sind nach Candidos Auffassung bereits die Fundamente seines Denkens gelegt27 und er erreichte sozusagen seine Reife, als er 1888 sein Standardwerk Geschichte der brasilianischen Literatur (Historia da Litteratura Brazileira) verfasste 28 Ab 1888 begann eine Phase in Romeros Leben, in der er sich mehr den politischen und philosophischen Fragen widmete 29 Diese Zeit koinzidiert mit seiner Tätigkeit als Politiker, zunächst in seiner Heimatprovinz Sergipe und dann in Rio 30 In der Hauptstadt war er ebenfalls in verschiedene literarische und politische Debatten involviert 31 Gegen Ende der Monarchie setzte er sich mit vielen politischen Schriften für die Republik und für die Befreiung der Sklaven ein 32 Durch seinen Umzug in die Hauptstadt dehnte er seinen intellektuellen Einfluss aus, sei es durch seine Tätigkeit als Dozent oder als Schriftsteller und Kritiker Gegen Ende des 19  Jahrhunderts übernahm er den Lehrstuhl für Rechtsphilosophie an der 1891 gegründeten Faculdade Livre de Ciências Jurídicas e Sociais do Rio de Janeiro 33 Zudem nahm er 1897 an der Gründung der Brasilianischen Akademie der Literatur (Acadêmica Brasileira de Letras) teil Die Akademie wurde von einer Gruppe um den damals schon renommierten Schriftsteller Machado de Assis (1839–1908) nach dem Vorbild der französischen Academie Française ins Leben gerufen Auf Romeros Vorschlag kam auch Tobias Barreto als Gründungsmitglied hinzu, obwohl dieser nie in Rio war Anfang des 20  Jahrhunderts wurde Romero ebenfalls Politiker im Abgeordnetenhaus der Hauptstadt In dieser Funktion übernahm er den Vorstand der Revisionskommission (Comissão dos 21) des von Clóvis Beviláqua verfassten Zivilgesetzbuches In

27 28 29 30 31 32 33

Ebd , 91–117 Ebd , 91, 117 Ebd , 133 Siehe Moraes Filho, „O Pensamento Político-Social“, 33–35 Siehe Ventura, Estilo tropical, S 74–80 Siehe Candido, O método crítico, 217 Siehe Venancio Filho, „Cronologia“, 26

4.4 Romeros „Ideologie des branqueamento“

101

dieser Kommission trat er in eine scharfe Auseinandersetzung mit dem katholischen Abgeordneten Rui Barbosa und verteidigte Beviláquas Werk gegen dessen Kritik 34 In seinem Werk widmete sich Romero zunehmend kulturethnologischen und politischen Fragen Der Einfluss der „Rasse“ war für ihn ein zentraler Aspekt in der Formation eines Volkes Er sah in dem „Mischling“ (mestiço) das transformatorische Element in der brasilianischen Kultur und definierte ihn als einen „neuen Typus“, der besser angepasst an das Leben in den Tropen sei 35 Über Brasilien meinte er Folgendes: „Die Rassenmischung überwiegt Alle Brasilianer sind Mestizen [mestiços], wenn nicht im Blut, so zumindest in ihren Ideen Die Schöpfer dieses Ursprungs waren: der Portugiese, der Schwarze, der Indigene, die physische Umwelt und die fremdländische Imitation “36 4.4 Romeros „Ideologie des branqueamento“ Romero eignete sich einen sozialen Evolutionismus an und strebte nach einer Hervorhebung der kulturellen Besonderheit Brasiliens – so entdeckte er den mestiço und formulierte eine Theorie der „Rassenmischung“ (mestiçagem) für Brasilien, basierend auf dem Mythos dreier Rassen, nämlich der weißen Portugiesen, der Schwarzafrikaner und der Indigenen 37 Obwohl er die soziologische Kategorie des mestiço als eine positive brasilianische kulturelle Besonderheit definierte, sah er die Durchsetzung der „überlegenen“ weißen Rasse als unvermeidbar an Die Zukunft des Landes lag in einem branqueamento („Aufhellung“) der Gesellschaft durch Rassenmischung Durch diesen Prozess sollte sich der kulturelle Beitrag des mestiço in einer „neuen Kultur“ in der tropischen Zivilisation durchsetzen Die Überlegungen Romeros bezüglich der „Rassenmischung“ und der „Rassendemokratie“ beeinflussten den Soziologen Gilberto Freyre in seinem Klassiker Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa-Grande e Senzala) aus dem Jahre 1933 Der Arianismus hingegen, präsent in Romeros Theorie der Rassenmischung und dem Ansatz der Überlegenheit einer „weißen Rasse“, untermauerte später auch den „Rassismus“ und die Sehnsucht eines konservativen Theoretikers wie Oliveira Vianna (1883–1951) nach einer autoritären (staatlich gelenkten) politischen Lösung „von oben“ für Brasilien 38 34 35 36 37 38

Siehe Beviláqua, História, 376 Candido, O método crítico, 95–96 Im Original: „predomina a mestiçagem Todo brasiliero é um mestiço, quando não no sangue, nas idéias Os operários deste fato inicial hão sido: o português, o negro, o índio, o meio físico e a imitação estrangeira “ Zit nach Candido, O método crítico, 105 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe Schwarcz, Espetáculo, 180 und 201–203 Siehe ebenso Dimas, „O turbulento e fecundo Sílvio Romero“, 81–82 Siehe Candido, O método crítico, 99, und Ventura, Estilo tropical, 65 Mehr zu Oliveira Viannas sozial-evolutionistische Perspektive in ders, Evolução do povo brasileiro (São Paulo: Monteiro Loba-

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4 Die französisch-positivistische Prägung Sílvio Romeros

Während Romero für die Rassenmischung und ein nationales und einheitliches Bildungsmodell eintrat, warb Vianna für einen autoritären und zentralistischen Staat mit faschistischen Zügen,39 der sich in Vargas’ Diktatur des Estado Novo (1937–1945) realisieren sollte Romeros Studien über populäre Kultur in Brasilien und folkloristische Musiktraditionen gaben hingegen den Anstoß zu einer vermehrten Wertschätzung der Gebräuche des Hinterlandes sowie vieler schwarzafrikanischer Beiträge Auf solchen Ansätzen baute dann später der Modernist und Schriftsteller Mário de Andrade auf, hauptsächlich in seinen Studien über die populäre Musik in den 1930er Jahren 40

39 40

to & Co , 1923) Zu dieser Lösung „von oben“ siehe Gisálio Cerqueira Filho, Autoritarismo afetivo: a Prússia como sentimento (São Paulo: Escuta, 2005) Siehe ebd , 159–160 Zu den Verbindungen zwischen der „Recife Schule“ und den Modernisten der 1920er Jahre siehe den Literaturkritiker José Paulo Paes, Canaã, 77–78

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren In den Jahren 1869–1870 wurde Deutschland respektive Preußen oft in der französischen Zeitschrift Revue des Deux Mondes erwähnt Das Blatt machte das von der brasilianischen gebildeten Elite meistgelesene internationale Medium aus 1 Dort wurde häufig über die Leistungen Preußens in der Bildung berichtet In der Ausgabe vom März/April 1869 beispielsweise beschreibt der Artikel „Über die Sekundärbildung in Europa“ (De L’Enseignement Secondaire en Europe)2 lobend das preußische Erziehungssystem, das mit der reformatorischen Bewegung in Verbindung gebracht wurde Folgendes wird darin festgehalten: „Die deutschen Schulen wurden vor 300 Jahren von den religiösen Reformatoren erneuert, denn die Anhänger Luthers waren insgesamt gebildete und gelehrte Menschen […] Man braucht sich nicht wundern, dass sich die Schulen in Preußen von den Traditionen des Mittelalters befreit haben Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass sie sich dem vorherrschenden Einfluss der zentralen Regierung entzogen haben; auch heute sind sie noch in ausreichendem Maß der Handhabe der Gemeinderäte unterstellt Nicht weniger bemerkenswert ist es, dass moderne Wissenschaften den größten Teil der Studienprogramme ausmachen, und dabei ganz ihrer Verehrung für die Geisteswissenschaften treu bleiben “3

1 2

3

Siehe Alonso, Idéias em movimento, 53 Siehe M H Blerzy, „De l’Enseignement Secondaire en Europe“, in: Revue des Deux Mondes (ab nun R2M), März–April 1869 (1 3 1869), 96–128 Alle Nummern der R2M wurden bei der digitalen Sammlung der Bayerischen Staatsbibliothek konsultiert: https://opacplus bsb-muenchen de/ metaopac/start do Im Original: „Les écoles allemands furent régénérées, il y a trois cents ans, par les réformateurs religieux, car les partisans de Luther étaient en général des hommes instruits et lettrés […] On ne doit pas s’étonner que les écoles de la Prusse se soient débarrassées des traditions du moyen âge Il y a plutôt lieu d’admirer qu’elles aient échappé à l’influence prépondérante du gouvernement central; elles sont encore aujourd’hui soumises dans une juste mesure à l’action dirigeante de conseils provinciaux Il n’est pas moins remarquable que les programmes des études aient fait dans une large place aux sciences modernes tout en restant fidèles au culte des humanités “ Siehe ebd , 118–119 Frei aus dem Französischen übersetzt

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Das Deutschland- bzw Preußenbild, das in der Revue vermittelte wurde, war allerdings äußerst widersprüchlich Einerseits wurde die neue Nation für ihre Leistungen in der Wissenschaft bewundert, andererseits wurde immer wieder auf die ständig wachsende Bedrohung hingewiesen, die von ihrer militärischen Aufrüstung und von ihren expansionistischen Ansprüchen ausgingen Dieses Gefühl der Unsicherheit, das Preußen erweckte, steigerte sich in jenen Jahren exponentiell in der Revue, vor allem wegen der Gefahr einer militärischen Konfrontation mit Frankreich Die Texte über die wissenschaftlichen Leistungen wurden weniger, diejenigen über die militärische Macht Preußens entsprechend mehr Noch in der Ausgabe von September/Oktober 1869 befindet sich ein Artikel über L’Enseignement Supérieur des Sciences en Allemagne 4 Darin wird das deutsche Hochschulsystem für seine Effizienz hoch gelobt: „In einer Zeit, in der wir den strahlenden Aufstieg der deutschen Bildung und Wissenschaft erleben, haben nur noch wenige Menschen in Frankreich das Gefühl einer Überlegenheit, die in einigen Jahren von der ganzen Welt anerkannt werden könnte, auch seitens der Regierung Deutschland hat seither noch wieder neue Fortschritte gemacht Wer weiß, ob wir so viel verlorenes Terrain zurückgewinnen könnten, ohne einen dieser ungeheuerlichen Kraftakte, wie jener, der Frankreich mit einem Mal die École normale, die École polytechique, das Conservatoire des arts et métiers, das Bureau des longitudes, das Muséum brachte? Es ist zumindest notwendig, dass wir in die Organisation der Bildung in Deutschland eintauchen, um den ihr innewohnenden Geist zu verstehen und um ihn uns anzueignen, sofern das möglich ist Es ist schön für eine Nation zu sehen, wie ihre Institutionen von einer anderen beneidet werden, aber es ist genauso lobenswert, für sich selbst die anderswo gemachten Fortschritte zu beneiden: Das ist der erste Schritt, um sie bei sich einzuführen “5

Der französische Theologe Ernest Renan (1823–1892) brachte dieses Gefühl 1868 hinsichtlich deutscher Fortschritte in Wissenschaft und Technik im Vergleich zu Frankreich wie kein anderer zum Ausdruck: „Was in Sadowa gewann, war die deutsche Wissenschaft, waren die deutschen Tugenden, war der Protestantismus, die deutsche 4 5

Siehe M George Pouchet, „L’Enseignement Supérieur des Sciences en Allemagne“, in: R2M, Sept –Okt 1869 (15 9 1869), 430–449 Im Original: „A l’époque où nous assistions ainsi au réveil éclatant des études et de la science allemandes, peu de personnes avaient en France le sentiment d’une supériorité qui allait être quelques années plus tarde reconnue par tout le monde, même par le gouvernement L’Allemagne depuis ce temps a fait encore de nouveaux progres Qui sait si nous pourrions regagner tant de terrain perdu sans un de ces prodigieux élans, comme celui qui donna d’un seul coup à la France l’École normale, L’École polytechnique, le Conservatoire des arts et métiers, le Bureau des longitudes, le Muséum? Du moins est-il necessaire de nous bien pénétrer de l’organisation de l’enseignement en Allemagne, afin d’en comprendre l’esprit et de nous l’approprier, si cela est posible Il est beau pour une nation de voir ses institutions enviées par une autre; mais il est louable aussi d’envier pour soimême les progres réalisés ailleurs: c’est le premier effort pour les introduire chez soi “ Siehe ebd , 431 Frei aus Französischen übersetzt

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

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Philosophie, es war Luther, es war Kant, es waren Fichte und Hegel “6 Renan selbst wurde in jenen Jahren von der gebildeten Elite Brasiliens begeistert rezipiert Auch Barreto schätzte ihn anfangs für seine Schriften zur kritischen Theologie und seine Verbreitung des deutschsprachigen Gedankenguts bzw der deutschsprachigen Philosophie Renan nahm die Ansätze der Hegel’schen Philosophie auf und wurde für die Vermittlung der „Tübinger Schule“ von Ferdinand Baur und David Strauss in der Theologiekritik bekannt Vor dem Hintergrund der Dispute zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus näherte er sich trotz seiner katholischen Herkunft protestantischen und jansenistischen Richtungen deutlich an 7 Renans Werdegang zeigt, dass selbst im Frankreich jener Jahre die deutsche Wissenschaft und Philosophie bei der gebildeten Elite Akzeptanz fand Tatsächlich zeigen die Quellen, vor allem die Artikel in der Revue von 1869–1870, dass das sich formierende „Deutsche Reich“ für seine Fortschritte in der Bildungspolitik und der Wissenschaftskultur in den französischen Medien bewundert wurde Schon im Jahr 1870 überwogen in der Revue Titel wie „Das preußische Heer in 1870“ (L’Armée prussienne en 1870),8 „Preußen und Deutschland“ (La Prusse et l’Allemagne),9 „Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich“ (La Guerre entre L’Allemagne et la France),10 „Die Mittel Frankreichs und Preußens im Krieg“ (Les Ressources de la France et de la Prusse dans la Guerre),11 „Die Moral des Kriegs Preußens   – Kant und Herr Bismarck“ (La Morale de la Guerre de la Prusse  – Kant et M de Bismarck) 12 Immerhin wurde noch 1870 mit Hochachtung von den wissenschaftlichen Entwicklungen Preußens berichtet, obwohl sich diese Schilderungen schon mit Befürchtungen einer militärischen Eskalation vermengten: „Es handelt sich hier darum, die Distanz zwischen Theorie und Praxis eines Volkes zu unterscheiden Niemand bestreitet die Größe der wissenschaftlichen Leistungen Deutschlands, die Feinheit seines ästhetischen und moralischen Bewusstseins, die Kultur seiner Intelligenz Wenn man seine Philosophen liest, wie etwa Hegel, seine Historiker, wie etwa Gervinus und Mommsen, seine Theologen, wie etwa Strauss, würde man sagen, dass jene

6 7 8 9 10 11 12

Im Original: „Quem venceu em Sadow foi a ciência alemã, foram as virtudes alemãs, foi o protestantismo, foi a filosofia alemã, foi Lutero, foi Kant, foi Fichte e foi Hegel“ Siehe Oberacker, „Tobias Barreto“, 269 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe EB (1910), s v „Renan, Ernest (1823–1892)“, Bd  11, 11 Auflage, 93–95, abrufbar unter Internet Archive: https://archive org/details/EB1911WMF, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe F Rougement, „L’Armée Prussiene en 1870“, in: R2M, Jan –Feb 1870 (1 1 1870), 5–24 Siehe Victor Cherbuliez, „La Prusse et l’Allemagne“, in: R2M, Jan –Feb 1870 (15 1 1870), 273–315 Siehe Ernest Renan, „La Guerre entre l’Allemagne et la France“, in: R2M, Sept –Okt 1870 (1 9 1870), 264–283 Siehe Paul Leroy-Beaulieu, „Les Ressources de la France et de la Prusse dans la Guerre“, in: R2M, Sept –Okt 1870 (1 9 1870), 135–155 Siehe E Caro, „La Morale de la Prusse  – Kant et M de Bismarck“, in: R2M, Nov –Dez 1870 (15 12 1870), 577–594

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Bewegung von Ideen, seitdem die Menschheit zu denken fähig ist, darauf zurückzuführen ist, dass Deutschland die endgültige Vernunft der Menschheit ausmacht, die Spitze der Geschichte, den prädestinierten Ort, woraus eines Tages die Verwandlung der Welt durch die reine Vernunft, die Zivilisation durch die Wissenschaft, erstrahlen wird Ich kann es nachvollziehen, wenn man solche Ideen erlebt, dass eine gewisse Anzahl von unseren Volksgenossen sich von dieser Seuche des deutschen Idealismus anstecken ließen, und dass sie sich reichlich von den verführerischen Schlücken betrinken ließen, die seine Denker ihnen anbieten, seine Philosophen, seine Dichter, Schiller und Goethe, Lessing, Kant, Schelling, Hegel “13

Angesichts einer Analyse der Auflagen von 1869–1870 der Revue des Deux Mondes ist festzustellen, dass Barretos Interesse für die deutschsprachige Wissenskultur stark durch die französischen Diskussionen in der Revue gefördert wurde Seine Schriften jener Jahre weisen oft auf Referenzen und Autoren hin, die aus der Revue stammten Der junge Intellektuelle hatte zunächst keine anderen Lesegewohnheiten als die brasilianische gebildete Elite, denn auch er verschaffte sich wie sie seine Informationen über die aktuellen kulturphilosophischen und politischen Themen im Ausland durch die französischen Zeitschriften und deren Autoren – allen voran die Revue Des Weiteren ist in der Auflage der Revue vom März/April 1869 ein Artikel über die „Allgemeine Naturgeschichte – Ursprung der Spezies und der Pflanzen“ (Histoire naturelle générale – Origine des especes et végétales) des französischen Naturalisten Jean Louis Armand de Quatrefages (1810–1892) zu finden 14 Es handelt sich um einen dreiteiligen Beitrag, in dessen letztem Teil, der „Theorie von progressiver Wandlung und von rascher Wandlung – Affenursprung des Menschen“ (Théories de la transformation progressive et de la transformation brusque – origine simienne de l’homme), Ernst Haeckel mehrfach zitiert wird und als „ein durch zahlreiche Recherchen und wichtige Veröffentlichungen berühmter deutscher Naturalist“ (un naturaliste allemande bien connu

13

14

Im Original: „C’est le cas de mesurer la distance qui sépare la théorie de la pratique d’un peuple Rien n’égale la hauteur des déclarations scientifiques de l’Allemagne, la délicatesse de sa conscience esthétique et morale, la culture de son intelligence A lire ses philosophes, tels que Hegel, ses historiens, tels que Gervinus et Mommsen, ses théologiens, tels que Strauss, on dirait que dont le mouvement des idées, depuis que l’humanité pensé, aboutit à eux, que l’Allemagne est la raison finale de l’humanité, le point culminant de l’histoire, le foyer prédestiné d’où rayonnera un jour la transformation du monde par la raison pure, la civilization par la science Je comprends qu’en vivant des ces idées, un certain nombre de nos compatriotes ses soient laissé gagner à cette contagion de l’idéalism germanique, et qu’ils aient bu à longs traits l’ivresse dans les coupes enchantées que leur présentaient ces penseurs, ces philosophes, ces poètes, Schiller et Goethe, Lessing, Kant, Schelling, Hegel “ Siehe ebd , 581 Frei aus Französischen übersetzt A de Quatrefages, „Histoire Naturelle Générale  – Origine des Espéces Animales et Végétales, Bd  5: Théorie de la Transformation Progressive et de la Transformation Brusque – Origine Simienne de L’Homme, dernier partie“, in: R2M, März–April 1869 (1 4 1869), 638–672

5.1 Die Bedeutung der Revue des Deux Mondes

107

par de nombreuse recherches et d’importants publications)15 dargestellt wird In einer Fußnote wird noch Folgendes hinzugefügt: „Herr Haeckel hat unter anderem ein großes Werk veröffentlicht, in dem er die Gesamtheit der tierischen Welt aus dem Blickwinkel von Darwins Ideen darstellt, und das mit einer detaillierten Klassifizierung versehen ist, die vom Autor selbst als Genealogien aufgefasst wird “16

Dies war nicht das letzte Mal, dass Haeckel in jenen Jahren in der Revue erwähnt wurde Die Bezugnahmen auf Haeckel stehen dafür, dass deutschsprachige Akademiker und Wissenschaftler von dieser Zeitschrift wie auch von anderen französischen Medien, in hohem Maß rezipiert und wahrgenommen wurden Es ist anzunehmen, dass Barreto Haeckels Namen zum ersten Mal in diesem Medium begegnet ist; allerdings sollte es noch bis 1874 dauern, ehe er sich in einem seiner Zeitungsartikel in Pernambuco direkt auf Haeckel bezog 17 5.1 Die Bedeutung der Revue des Deux Mondes Im Jornal do Recife von 5 Juni 1869 befindet sich auf der zweiten Seite ein Artikel mit dem Titel „Ein Kampf der Giganten“ (Uma Luta de Gigantes),18 der mit Tobias B de Menezes signiert ist Dabei handelt es sich um eine beispielhafte Schrift des jungen Intellektuellen zu jener Zeit, die deutliche Hinweise auf seine damaligen Lesegewohnheiten liefert Er stand damals völlig im Bann französischer Quellen und deren Autoren wurden gern von der brasilianischen Elite zitiert, die ihre Ausbildung in einer der beiden Rechtsfakultäten durchlaufen hatte Autoren wie etwa Victor Cousin (1792– 1867), Guizot, Théodore Simon Jouffroy (1796–1842), Étienne Vacherot (1809–1897), Edmond Scherer (1815–1889), die ganzen Autoren der „Julimonarchie“ und der Restauration waren hochgeschätzt und kamen sehr häufig in Zeitungsartikeln sowie in politischen Reden vor 19 Barreto war hier keine Ausnahme: Er selbst hatte 1869 sein Jura-Studium in Recife abgeschlossen und widmete sich von nun an dem Journalismus und seiner Tätigkeit als Kritiker in den Medien Recifes Die erwähnte Schrift illustriert

15 16

17 18 19

Siehe ebd , 660 Frei aus Französischen übersetzt Im Original: „M Haeckel a publié entre autres un grand ouvrage dans lequel l’ensemble du règne animal est envisage au point de vue des idées de Darwin et accompagné de classifications détaillées regardées par l’auteur comme autant de généalogies “ Siehe ebd Frei aus dem Französischen übersetzt Siehe Barreto, „Sobre a Filosofia do Inconsciente“, in: Estudos de filosofia, 192–195 Siehe Barreto, „Uma luta de gigantes“, in: Jornal do Recife (5 6 1869), 2 Ebenso in Barreto, Crítica de religião, 58–63 Alle brasilianischen Zeitschriften, die in diesem Kapitel zitiert werden, wurden unter Hemeroteca Digitial da Biblioteca Nacional konsultiert, siehe http://memoria bn br/ Siehe Alonso, Idéias em movimento, 172

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

seinen intellektuellen Werdegang und lässt keinen Zweifel über seine Lektüren zu dieser Zeit Im zweiten Abschnitt seines Essays erwähnt er die Revue des Deux Mondes 20 Es handelt sich hierbei ausgerechnet um diejenige Ausgabe der Revue, die den bereits zitierten Artikel über das deutsche Schulsystem und den Bericht von Quatrefages (der Haeckel erwähnt) enthält Das Blatt war, wie bereits ausgeführt, die meistgelesene ausländische Zeitschrift der brasilianischen gebildeten Elite im Zweiten Kaiserreich Sie war deren wichtigste Informationsquelle für die philosophischen, politischen, religiösen und literarischen Debatten, die im Ausland geführt wurden Sie erlangte dadurch ein erhebliches Gewicht innerhalb der politisch-intellektuellen Landschaft Brasiliens und stand als Zeichen für die Bedeutung des französischen kulturellen Einflusses Es ist nicht verwunderlich, dass die Zeitschrift ihre größte Anzahl von Abonnenten außerhalb Frankreichs in Brasilien hatte und auch zu der Lieblingslektüre von Kaiser Pedro II zählte 21 Die Revue wurde 1829 von dem französischen Chemiker François Buloz (1803– 1877)22 gegründet Ab 1830 zirkulierte sie als monatliches Heft für kulturpolitische Themen23 und ist heute das älteste noch existierende Magazin 24 Seit ihrer ersten Auflage verfolgte die Revue einen deutlich internationalen Kurs So lautet ihr erstes Editorial vom 1 August 1829: „Wir werden über die parlamentarischen Debatten in ihren Zusammenhängen mit der Außenpolitik berichten, oder über die großen administrativen Fragen, die das Interesse Frankreichs erwecken könnten Manchmal zieht das, was unsere Geister bewegt, auch lebendig die Aufmerksamkeit in anderen Regionen der Welt auf sich, und dieser Blickwinkel bietet uns keineswegs einen uninteressanten Überblick, weil es uns erlaubt wahrzunehmen, wie die gleichen Prinzipien unterschiedlich in Frankreich, England, Brasilien und Deutschland, am Delaware und an den Ufern des südlichen Meeres verstanden und angewendet werden “25

20 21 22 23 24 25

Siehe Barreto, „Uma luta de gigantes“, in: Jornal do Recife, 2 Siehe dazu Nelson Werneck Sodré, História da imprensa no Brasil (São Paulo: INTERCOM, 2011), 295–296 Zur Bedeutung der Revue als Quelle für die brasilianische Elite siehe noch Alonso, Idéias em movimento, 53 Buloz wird heute als „Vater“ des französischen Journalismus wahrgenommen Siehe Anonym, Cent Ans de Vie Française à la Revue des Deus Mondex: Le Livre du Centenaire (Paris: Hachette, 1929), 12 Ab nun zit als Le Livre du Centenaire Siehe http://www revuedesdeuxmondes fr/qui-sommes-nous, letzter Zugriff am 12 9 2016 Im Original: „Nous rendrons compte des débats parlamentaires dans leur rapports avec politique extérieure, ou les grandes questions d’administration qui pourraient exciter l’intérêt de la France Quelquefois ce qui ocupe le plus vivement nos esprits se trouve agite au même moment vers un autre point du globe, et ce ne sera pas un des rapprochements les moins-intéressans qu’offrira ce recueil que de voir les mêmes príncipes diversement compris et appliqués en France et en Anglaterre, au Brésil et en Allemagne, sur les bords de la Delaware et sur les rivages de la mer du Sud “ Siehe Le Livre du Centenaire, 10 Frei aus dem Französischen übersetzt

5.1 Die Bedeutung der Revue des Deux Mondes

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In diesem Statement fallen Brasilien und Deutschland sofort auf, was die Bedeutung beider Länder für das damalige Frankreich unterstreicht Schon in der ersten Auflage erschien ein Artikel über „Die finanzielle Lage Brasiliens“ (La Situation financière du Brèsil), was erneut die kulturpolitische Relevanz des Landes betont 26 Die Revue hatte eindeutig zum Ziel, die französische Kultur weltweit zu vermitteln und zugleich ein Forum für die Diskussion der wichtigsten politischen Fragen der Zeit zu bieten 27 Auch in der literarischen Welt war die Revue von großer Relevanz Vor allem durch Kolumnen wie etwa Bulletin bibliographiques, Chroniques de la Quinzaine und Revue littéraire wurde in Frankreich über Literatur, besonders über Autoren der Romantik, intensiv berichtet In der Zeitschrift schrieben zudem viele der bekanntesten französischen Kritiker und Schriftsteller des 19  Jahrhunderts wie etwa Saint-Beuve (1804–1869), Victor Hugo (1802–1885), Georges Sand (1804–1876), Honoré de Balzac (1799–1850), Alexandre Dumas (1802–1870) oder Henri-Marie Stendhal (1783–1842) 28 Auch international war die Zeitschrift bedeutsam: Heinrich Heine veröffentlichte dort während seines Aufenthaltes in Frankreich 29 Von der ersten Ausgabe an wurden die Geschehnisse auf der anderen Seite des Rheins debattiert, wie etwa die Texte des Historikers Edgar Quinet (1803–1875) deutlich machen Er berichtet über philosophische, literarische, historische und politische Studien in den deutschen Gebieten Die Vermittlung dieses Deutschlandbilds durch die Revue sollte Barreto sehr beeindrucken, hauptsächlich nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–1871, denn von da an wurde Deutschland international als Feindbild der Franzosen dargestellt Politisch war die Revue „liberal-nationalistisch“ und stand der „Julimonarchie“ zunächst kritisch gegenüber 30 Später änderte sich dieses Profil langsam und sie wurde zum Forum des Establishments, sodass die Zeitschrift während des Kaiserreiches von Louis-Philippe (1830–1848) eine Blütezeit erlebte Später publizierte das ganze Pantheon der Intellektuellen der III Republik wie etwa Émile Littré (1801–1881), Pierre Laffitte (1823–1903), Jules Simon (1814–1896), Hippolyte Taine (1828–1893) und Ernest Renan (1823–1892) dort und die Zeitschrift etablierte sich als Forum der Academie Française 31 In der Philosophie war der Positivismus mit Littré stark repräsentiert, aber vor allem etablierte sich die Revue als Organ einer eklektizistischen französischen 26 27 28 29

30 31

Siehe ebd , 11 Zur Bedeutung der Revue für die Vermittlung des französischen Romantismus in der Literatur siehe Jean-Thomas Nordmann, La Critique Littéraire Française au XIXe siècle (1800–1914) (Paris: Libr Générale Française, 2001), 66–69 Siehe Le Livre du Centenaire, 139–141 Der Kritiker Jean-Thomas Nordmann behauptet Folgendes über die Relevanz der Revue als Vermittler internationaler Autoren, Zitat hier frei übersetzt: „Die Revue des Deux Mondes hilft der französischen Öffentlichkeit, die ausländische Literatur zu entdecken “ (La Revue des Deux-Mondes aide le public française à decouvrir les littératures étrangères) Siehe Nordmann, La Critique Littéraire, 66 Über die politischen Positionen ihres Gründers siehe Le Livre du Centenaire, 185–186 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 172–173

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Philosophie mit Autoren, wie Cousin, Jules Simon, Vacherot, Taine, Paul Janet (1823– 1899) und anderen Auch die brennenden religiösen Fragen der damaligen Zeit fanden in der Revue ein bedeutendes Echo, vor allem mit der Religionskritik Ernest Renans Barreto selbst sollte sich noch in weiteren Angelegenheiten der Zeitschrift Revue des Deux Mondes zuwenden Seine Artikel aus dem Jahr 1868 zeigen, dass er schon seit längerer Zeit die Debatten dort aufmerksam verfolgte Drei davon sind beispielhaft: „Guizot und die spiritualistische Schule des XIX   Jahrhunderts“ (Guizot e a Escola Espiritualista do Século XIX), „Mit Bezug auf eine Theorie von S Thomas von Aquin“ (A Propósito de uma Teoria de S Tomás de Aquino) und „Theologie und Theodizee sind keine Wissenschaften“ (Teologia e Teodicéia não são Ciências) 32 Hier zitiert Barreto französische Philosophen und Schriftsteller wie Royer-Collard (1763–1845), Cousin, Maine de Biran (1766–1824), Jouffroy und hauptsächlich Guizot Damit erwähnt er das ganze Spektrum von Themen und Autoren, die in der Revue dargestellt wurden Barretos Beschäftigung mit Guizot, der durchaus ein konservativer Politiker war,33 und seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Spiritualismus“ sind geradezu paradigmatisch Hier wird klar, dass Barreto sich den Spiritualismus für seine Kritik an der Theologie und an der scholastischen Methode aneignete Guizot, Mitglied der Academie Française, wurde von dem Brasilianer als „illustrer Philosoph“ beschrieben und für seine Qualitäten als Staatsmann bewundert Über seinen eklektischen Spiritualismus schreibt Barreto noch Folgendes: „Trotz diverser einzelner Tendenzen, die das freie Denken in unserer Zeit aufnahm, die allgemeine Tendenz des Jahrhunderts ist der Spiritualismus“34 In seinen Schriften pries er diese Philosophie, ganz im Sinne Guizots, für die Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden bei der Analyse geistiger Phänomene 35 Die Schrift über Thomas von Aquin (1225–1274) macht Barretos kritische Position dem Thomismus gegenüber deutlich36 – diese Lehre wurde von Papst Pius IX (1792–1878) zur offiziellen Lehre seiner ultramontanistischen Politik erklärt Kritik am Thomismus wurde zu einer Konstanten im intellektuellen Leben des brasilianischen Juristen, denn er gab seine antithomistischen Überzeugungen, die mit einem ausgeprägten Antiklerikalismus einhergehen, niemals auf In dem genannten Artikel über die Theorie Aquins lehnte er sich allerdings an einen thomistischen Philosophen aus Katalonien namens Jaime Luciano Antonio Balmes y Urpiá (1810–1848) an, dessen

32 33 34 35 36

Siehe Barreto, „Guizot“, in: Estudo de filosofia, 71–75, und ders , „A propósito“, und ders , „Teologia e Teodiceia não São Ciências“, in: Ebd , 82–88 Siehe Carvalho, „As marcas do período“, 27, und Alonso, Idéias em movimento, 54–55 Im Original: „Não obstante as diversas tendências particulares que o livre-pensar há tomado em nossa época, a tendência geral do século é o espiritualismo “ Siehe Barreto, „Guizot“, 71 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe ebd , 73 Siehe Barreto, „A Propósito“, 76–81

5 2 Die Bedeutung der Religionskritik

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Namen Barreto übrigens mit dem französischem Accent nannte – „Balmès“ 37 Anscheinend lag Barreto die französische Übersetzung seines Werks vor – typisch für die damalige brasilianische Lesegewohnheiten in der Hochkultur Seine Neigung zum Pantheismus des Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677) wird hier deutlich spürbar, wenn Barreto mit Spott und Ironie auf die kritischen Kommentare von „Balmès“ über Spinozas Pantheismus eingeht,38 den er später sogar auf Deutsch lesen würde 39 Der opportunistische Liberalismus des brasilianischen politischen Establishments im Zweiten Kaiserreich war auf eine „Harmonisierung des Konträren“40 angelegt Deswegen kann diese liberale Gesinnung auch politisch-ideologisch als eine Mischung zwischen Guizot und Thomas von Aquin beschrieben werden, die als Zeichen für Staatsvernunft im Sinne politischer Nüchternheit und Gemeinsinn gelten 41 Eine solche Auffassung von Politik und Liberalismus differenzierte sich deutlich von der radikaleren Haltung eines Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) mit seinen Ideen vom „Gemeinwillen“ (Vom Gesellschaftsvertrag, 1762) oder von der „Zivilerziehung“ (Émile, 1762) Vor diesem Hintergrund beschrieb der berühmte brasilianische Soziologe Florestan Fernandes (1920–1995) die brasilianische Gesellschaft damals als eine „ultraselektive Zivilgesellschaft“, weil viele aus ihr ausgeschlossen waren 42 5.2 Die Bedeutung der Religionskritik In Barretos hier bereits erwähntem Zeitungsartikel vom Juni 1869 („Ein Kampf der Giganten“) bezieht sich der Autor direkt auf die Auseinandersetzungen zwischen dem französischen Philosophen Étienne Vacherot (1809–1897) und dem (Oratorianer) Priester Alphonse Joseph Gratry (1805–1872), über die in jenem Jahr in der Revue des Deux Mondes ausführlich berichtet wurde Gegenstand der Debatte war Vacherots neu erschienenes Buch La Religion (1869), in dem er sich für eine „historisch-kritische Methode“ in der Religionskritik aussprach 43 Diese Methode orientierte sich bei ihrer Analyse biblischer Quellen an den Ansätzen der historischen Forschung 44 In seiner 37 38 39 40 41 42 43 44

Siehe ebd , 78 Siehe ebd , 79 Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante pelo dominio da sciencia biblica“, in: Ensaios e Estudos, 149 Siehe Alonso, Idéias em movimento, 54 Ebd , 61–62 Zit nach ebd , 59 Siehe EB, s v „Vacherot, Étienne (1809–1897)“, Bd   27, 11 Auflage, 834, abrufbar unter Internet Archive: https://archive org/details/EB1911WMF, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe TRO, s v „Tübinger Schulen“, Bd  34, 165–171, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München: https://www-degruyter-com emedien ub uni-muenchen de/ view/TRE/TRE 34_165_26?pi=0&moduleId=common-word-wheel&dbJumpTo=T%C3% BCbinger%20SChulen, letzter Zugriff am 4 10 2016

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Argumentation stützte sich Vacherot auf die deutschsprachige Tradition der Theologiekritik nach Hegel und Friedrich Schleiermacher (1768–1834), deren Denken er allerdings nur indirekt über Victor Cousin und Jules Michelet (1798–1874) kannte 45 Vacherot zitiert in seiner Antwort auf Gratrys Thesen führende deutsche Theologen wie etwa David Friedrich Strauss und Ferdinand Christian Baur – die Galionsfiguren der „Tübinger Schule“ der Religionskritik46 – und wirft Gratry vor, die Grundsätze der Philosophie Hegels nicht verstanden zu haben Gratry seinerseits war ein scharfer Kritiker Ernest Renans wie auch der Hegel’schen Philosophie In seinen Schriften bezog Barreto deutlich Stellung für Vacherots Ansichten Die Position Barretos zeigt eine noch wesentlich radikalere Einstellung, weil er für eine Form der Religionskritik eintrat, die der historischen Tradition der „Tübinger Schule“ sehr nahestand und den Jansenismus Gatrys eindeutig ablehnte Barreto kannte diese Tradition nur durch sekundäre Quellen, nämlich durch Vacherots Vermittlung in der Revue, mit der sich Barreto in dieser Zeit intensiv befasste Hier zeigt sich, dass er damals noch unter dem starken Einfluss französischer Quellen und Autoren stand Die Spaltung zwischen Ultramontanismus und Jansenismus, die im Kontext des wachsenden Nationalismus und der Säkularisierungswelle zu verstehen ist, wurde damals innerhalb des katholischen Glaubens immer deutlicher Rom löste mit der zentralistischen Politik von Pius IX eine Stärkung ultramontanischer Positionen innerhalb der katholischen Kirche aus Französische Autoren, wie etwa Vacherot und Renan, sprachen sich für einen Antiklerikalismus aus, der in Zeiten des „Kulturkampfes“ manchen religiös-politischen Richtungen (mit antiultramontanischen bzw jansenistischen und regalistischen Neigungen) gefiel In Brasilien wurde diese antiklerikale-jansenistische Haltung von wesentlichen Teilen der politischen Eliten aufgenommen, die von Freimaurern geprägt war und den politischen Regalismus des portugiesischen Erbes unterstützte Die „Religiöse Frage“ (Questão Religiosa) ab 1872 ist ein Resultat solch zugespitzter Konflikte, die sich im Ersten Vatikanischen Konzil offenbarten 47 Dieser weit verbreitete Antiklerikalismus drückte sich durch Veröffentlichungen diverser Flugblätter gegen Roms ultramontanischen Kurs aus Beispiele dafür sind in Brasilien etwa Bände wie die „Memoiren“ (Memórias) von Cristiano Ottoni (1811– 1896) von 1875, „Reminiszenzen in der Presse und der Diplomatie (1870–1910)“ (Reminiscências na Imprensa e na Diplomacia (1870–1910)) von Francisco Cunha (1835–1913), „Kirche und die Staat“ (Igreja e o Estado) von Saldanha Marinho (1816–1895) oder „Die Drei Philosophien: theologische Philosophie“ (As três filosofias: filosofia teológica, 1874) von Luiz Pereira Barreto (1840–1923) Auch einige Schriften von Joaquim Nabuco, dem Abolitionisten und Diplomaten sowie von Kabinettschef Rio Branco können 45 46 47

Siehe Clark und Kaiser, Culture Wars, 86 Siehe ebd Mehr zur „Religiösen Frage“ (Questão Religiosa) in: Villaça, História; Barros, „A Questão Religiosa“, und Pinto, „A Congregação da Missão“

5 2 Die Bedeutung der Religionskritik

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hierzu gerechnet werden 48 Ein weiteres berühmtes Beispiel für die romkritische Haltung in der politischen Szene ist die Übersetzung der klassischen antikurialistischen Schrift Der Papst und das Konzil von Janus (1869) des Theologen Ignaz von Döllinger: Das Buch wurde damals aus dem Französischen von dem ehrgeizigen Juristen und späteren Politiker Rui Barbosa mit O Papa e o Concílio (1877) übersetzt 49 Diese Übersetzung weist auf den damaligen Antiklerikalismus des ehemaligen Schülers der Rechtsfakultät in São Paulo hin, die durch ihre pragmatische politische Haltung gekennzeichnet war 50 Barbosa setzte sich damals für die Trennung zwischen Staat und Kirche ein Bald betrachtete allmählich auch ein größerer Teil des Klerus die Bindung zwischen politischer und religiöser Macht als schädlich für die Kirche, sodass am Ende des Kaiserreichs viele Klerikale deutlich für eine Trennung zwischen Staat und Kirche warben Diese wurde in der Republik endgültig realisiert 51 Die Spaltung führte allerdings zu einem temporären Machtverlust der Kirche innerhalb der Staatspolitik in den ersten republikanischen Jahren 52 Später aber versöhnte sich Barbosa mit dem Katholizismus und versuchte, seine frühere antiklerikalische (jansenistische) Haltung zu verschleiern und auch seine Übersetzung Döllingers aufzuweichen Er ist allerdings kein Einzelfall in der brasilianischen Politik jener Zeit Viele andere Politiker versöhnten sich mit ihrem alten Glauben Zur Jahrhundertwende wurde diese Tendenz geradezu Mode53 im alten monarchistischen Establishment, als während der ersten Jahre der Republik der autoritäre positivistisch geprägte Kurs der Militärs den Ton angab Diese Versöhnung steht als ein Zeichen für die Sehnsucht der alten politischen Elite nach der (in den Anfangszeiten der Republik) so heftig kritisierten Monarchie Barbosa wurde später zum politischen Kontrahenten Romeros im Senat und kritisierte dort heftig das Zivilgesetzbuch Beviláquas für seinen fortschrittlichen Charakter im Familienrecht Barbosa wollte unbedingt die Zivilehe verhindern, die der ehemalige Recife-Schüler Beviláqua hiermit vorbereitet hatte 54 Joaquim Nabuco zeigte ein ähnliches Verhalten wie Barbosa nach Ausrufung der Republik 1889 Brasiliens bekanntester Abolitionist versöhnte sich in den USA unter dem Einfluss des Oratonianers Kardinal John Henry Newman (1801–1890) mit dem 48 49

50 51 52 53 54

Siehe Pinto, „A Congregação da Missão“, 4, und Alonso, Idéias em movimento, 173 Siehe Lima, Tobias Barreto, 168–169, und Rui Barbosa, A Questão Religiosa O Papa e o Concílio por Janus (Rio de Janeiro: Brown & Evaristo, 1877), Versão e introdução de Rui Barbosa Siehe dazu auch Flávia Beatriz Ferreira de Nazareth, „O que seria a obra de Rui Barbosa?“, in: XXVII Simpósio Nacional de História Conhecimento histórico e diálogo social (Natal/RN, 22 –26 Juli 2013), o S Siehe Neder, Discurso jurídico, 102–107, und Fernandes, Poder e saber, 29–47 Siehe Lima, Tobias Barreto, 224–225 Villaça, O pensamento católico; Pinto, Jefferson de Almeida Ideias jurídico-penais e cultura religiosa em Minas Gerais na passagem à modernidade (1890–1955) (Rio e Janeiro: Multifoco, 2013), 17–18 Auch in Europa, insbesondere im Falle Vacherots Siehe Clark und Kaiser, Culture Wars, 86 Dazu siehe Neder und Cerqueira Filho, Idéias jurídicas, 129–130, und Neder, Duas margens: idéias jurídicas e sentimentos políticos no Brasil e em Portugal na passagem à modernidade (Rio de Janeiro: Revan, 2011), 105–186

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Katholizismus 55 Nabuco war auch ein großer Verehrer des Franzosen Renans, dem er in seinen „Memoiren“ ein gesamtes Kapitel widmete 56 Auch hier gibt es Parallelen zwischen der brasilianischen politischen Kultur und den französischen Intellektuellen Vacherot etwa, von Rui Barbosa intensiv gelesen, soll sich am Ende seines Lebens mit seinem katholischen Glauben ausgesöhnt und von seinem romkritischen Ansichten früherer Zeiten distanziert haben Romero dagegen gab, wie Barreto auch, nach der Ausrufung der Republik seine antiklerikale, religiös-kritische Haltung nie auf, sondern blieb seinem radikalen Liberalismus antithomistischer Couleur treu 57 Er wurde nun zum schärfsten Kritiker des autoritären Positivismus der Militärs während der Republik Deutsche Denker wie etwa Kant, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), Hegel und Strauss wurden oft in der Revue besprochen Die Debatten in der Zeitschrift machten Barreto auf die deutschsprachigen Philosophen aufmerksam Barretos damalige Artikel und Lesegewohnheiten zeigen, wie seine spätere Vorliebe für die deutsche Philosophie durch sein Interesse an der Religionskritik geweckt wurde Die Kritik des Thomismus der Ultramontanen (oder ihres Neothomismus) interessierte ihn sichtlich Im Gegensatz zur großen Mehrheit der brasilianischen intellektuellen Elite würden weder er noch Romero sich von ihren radikalen Positionen gegenüber der Monarchie, der Theologie und der Kirche später entfernen oder diese gar bereuen Im Gegenteil – Barreto blieb seinem liberal-radikalen Geist treu Dies geschah auch dadurch, dass er sich immer mehr auf das Studium deutschsprachiger Autoren konzentrierte und gleichzeitig den französischen intellektuellen Einfluss auf die Eliten scharf angriff 58 Er hatte nämlich in der deutschsprachigen Wissenskultur und Philosophie seine Waffe für diese Schlacht gefunden 5.3 Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache Barretos Lesequellen und die Themen, die er in seinen Artikeln zwischen 1868 und 1869 aufarbeitete, zeigen, dass er die damaligen Debatten in der Revue aufmerksam verfolgte Sein Interesse für deutschsprachige Autoren wurde hauptsächlich durch das Thema der Religionskritik, mit dem er sich damals beschäftigte, geweckt Die Artikel in der Revue spielten in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle In dem bereits zitierten Beitrag in der Revue von September/Oktober 1869 über L’Enseignement 55 56

57 58

Siehe dazu Villaça, O pensamento católico, 68, und Neder, Duas margens, 166 Renan schrieb häufig Artikel für die Zeitschriften Revue des Deux Mondes und Jornal des Debáts und machte die deutschsprachige biblische Exegese von Friedrich Strauss damit einem breiten Publikum zugänglich (in Frankreich sowie in Brasilien) Siehe EB (1910), s v „Renan, Ernest (1823–1892)“, 94–95, und Alonso, Idéias em movimento, 173 Siehe ebd Siehe dazu Barreto, „O Brasil como ele é“

5 3 Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache

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Supérieur des Sciences en Allemagne befindet sich ein weiterer Name, der für Barreto wesentlich wurde: der Theologe und Orientalist Georg Heinrich August Ewald In der französischen Zeitschrift wird er als „Orientalist aus Göttingen“ beschrieben (l’orientaliste de Goettingue) 59 Ewald war der erste deutschsprachige Autor, den Barreto im Original zitierte Dies geschah in der Zeitung O Americano in einer Serie von Berichten unter dem Titel „Bemerkungen und Studien zur Religionskritik“ (Notas e Estudos sobre a Crítica Religiosa), die zwischen Juni und August 1870 erschien 60 Diese Zeitschrift zirkulierte zwischen April und Oktober jenes Jahres und wurde von dem Liberalen Franklin Távora61 zusammen mit Minervino A da Silva Leão gegründet Sie verstand sich als politisches und literarisches Wochenblatt mit liberaler Richtung Ab der Ausgabe vom 5 6 1870 übernahm Barreto die Stelle des Verlegers zusammen mit Leão und ersetzte Távora, der die Zeitschrift verließ 62 Kurz zuvor war Barreto der Liberalen Partei beigetreten und begann, sich durch seine Zeitungsartikel stärker politisch zu engagieren Auf der letzten Seite der Revue aus dem Jahr 1869, nach dem Bulletin Bibliographique, befindet sich eine Auflistung ihrer Verkaufsstellen weltweit, zusammen mit dem Preis der Abonnements In der Rubrik Brèsil sind „Rio de Janeiro (B -L Garnier)“ und „Pernambuco (De Lailhacar et Co )“ zu lesen 63 Bei der letzten Ortsangabe – De Lailhacar – handelt es sich um die Buchhandlung, in der laut Romero Barreto seine ersten deutschsprachigen Bücher bestellte: eine Grammatik der Brüder Grimm und das Buch Ewalds über die Geschichte Israels 64 Früher dürfte er sich dort auch seine Exemplare der Revue verschafft haben So äußerte sich Romero wortwörtlich darüber: „1870 entschied sich Tobias Barreto für das deutsche Denken mit jener Leidenschaftlichkeit, die all seinem Tun das Gepräge gab, mit jener Leichtigkeit des Lernens, die ihn auszeichnete Er begab sich in den Bücherladen von Laillacard in der Rua do Imperador in Recife, kaufte sich dort ein deutsches Wörterbuch und eine deutsche Grammatik und bestellte ferner die Geschichte des Volkes Israel von Ewald Dies war das erste deutsche Buch, das der Sergipaner Träumer [poeta] besaß “65 59 60 61

62 63 64 65

Siehe Pouchet, „L’Enseignement Supérieur“, 445 Frei aus dem Französischen übersetzt Siehe Barreto, „Notas e Estudos sobre a Critica Religiosa“, in: O Americano (16 6 1870), 31–32; Ebd (3 7 1870), 39; Ebd (24 7 1870), 51–52; Ebd (31 7 1870), 55–53; Ebd (7 8 1870), 59; Ebd (14 8 1870), 63–134; Ebd (21 8 1870), 66–67 Távora engagierte sich vorher wie Barreto in der Zeitschrift O Liberal, die sich als Organ der liberalen Partei Pernambucos definierte Dort schrieben beide patriotische Verse und Texte zur Zeit des Paraguayischen Kriegs Siehe Tobias Barreto, „Diante dos Voluntários de Pernambuco“, in: O Liberal, 3 Jg , 107:1–2 (16 03 1870) Mehr zu Távoras Werdegang befindet sich in Beviláqua, História, 361 Siehe O Americano (5 6 1870), 1 Siehe R2M (15 12 1869), 1090 Siehe Romero, Evolução, 121–122 Zit nach Costa, „Verkünder“, 131 Im Original: „Foi então, em 1870, que Tobias Barreto se decidiu pelos germanicos Com aquelle ardor que elle punha em tudo, com aquella enorme facilidade de

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Die Artikel Barretos von 1870 in der O Americano sind paradigmatisch für seinen intellektuellen Werdegang und provozierten eine heftige Reaktion des katholischen Blattes O Católico Mit dessen Verleger, dem Erzkatholiken Conselheiro Pedro Autran da Mata Albuquerque (1805–1881), führte Barreto während des Jahres 1870 mittels seiner Zeitung eine scharfe Debatte Die Auseinandersetzungen mit O Católico zogen sich durch das ganze Jahr 1870 Sie wurden in seiner Reihe von Kritiken namens „Chroniken der Absurditäten“ (Crônica dos Disparates) in der O Americano während des Ersten Vatikanischen Konzils veröffentlicht 66 Dort wird Barretos Antithomismus ebenso wie seine Nähe zu deutschsprachigen Autoren fassbar, und der Intellektuelle wurde in der Öffentlichkeit Pernambucos für seine liberale und antiklerikale Einstellung berühmt In seinen Schriften beschrieb Barreto die Summa Theologica – das größte Werk Thomas von Aquins, verfasst zwischen 1265–1274  – etwa als „speckige Seiten“ (páginas cebentas) Die Philosophie des mittelalterlichen Theologen bezeichnete er als „unbeweglich“ (imóvel) und forderte, dass man sie verbrenne Deutlicher geht es kaum 67 In seinem ersten Artikel dieser Reihe vom April 1870, „Die Religion vor der Psychologie“ (A Religião perante a Psycologia), erwähnt er noch ausschließlich französische Autoren wie Vacherot und Comte Allerdings kritisiert er Ersteren bereits für seine „positivistische Haltung“ 68 Irgendwann zwischen Mai und Juni muss er Ewalds Die Geschichte des Volkes Israel (1843–1859)69 erworben haben Auch noch in seinem großen Zeitungsartikel vom 13 5 1870, „Die Männer und die Prinzipien“ (Os Homens e os Princípios), erwähnt Barreto weder deutschsprachige Autoren noch deutschsprachige Quellen, hingegen viele französischsprachige Dort äußert er sich über die politische Konjunktur Brasiliens und setzt sich für die Liberale Partei und seine eigenen Ansichten ein 70 Die Zeitung, in der der Artikel zu lesen war, O Liberal, bezeichnete sich fortan als „Organ der Liberalen Partei“ 71 Die Tatsache, dass Barreto damals in einem politischen Artikel keinen einzigen deutschsprachigen Autoren erwähnte, sondern sich an die gewohnten französischen Referenzen anlehnte, be-

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70 71

aprender que o distiguia, entrou na loja de livros de Laillacard, no Recife, á rua do Imperador, comprou um diccionario e uma grammatica alemães, e pediu ao livreiro que lhe mandasse buscar na Europa a Geschichte des Volkes Israel, de Ewald Foi este o primeiro livro allemão que o poeta segipano possuiu “ Siehe Romero, Evolução, 121–122 Die Debatte wurde als „Polemica com O Católico“ veröffentlicht Siehe Barreto, Crítica de religião, 94–122 Siehe ebd , 107 und 113 Siehe Barreto, „A religião perante a psycologia“, in: O Americano (8 5 1870), 7–8 Barreto besaß die dritte Ausgabe von 1864 Siehe den folgenden Ausstellungskatalog zu Barretos deutschsprachige Bücherbestand: Anonym, Mostra bibliográfica da exposição Tobias Barreto: as marcas de um homem: 170 anos de nascimento, 1839–1889, Edição patrocinada pela Faculdade de Direito do Recife em comemoração aos 170 anos de nascimento de Tobias Barreto (Recife: UFPE, 2009), 19–20 Ebd , 7 Siehe Barreto, „Os homens e os princípios“, in: O Liberal (13 5 1870), 1

5 3 Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache

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weist, dass er erst durch die Thematik der Religionskritik Zugang zur deutschsprachigen Wissenskultur erhielt Dass Ewald seine erste Quelle auf Deutsch war, trägt keine geringe politische Botschaft in sich: Sie steht für seine liberal-radikalen Neigungen, die sich in jenen Jahren – gerade durch seine Dispute mit den Ultramontanen im Kontext des Ersten Vatikanischen Konzils – verschärften Georg Heinrich Ewald gehörte zu den Freidenkern und Liberalen in der deutschen Wissenschaftskultur des 19  Jahrhunderts Geboren wurde er 1803 im Königreich Hannover als Sohn eines jüdischen Tuchmachers Als Zeichen seines politischen Liberalismus zählen die Mitbegründung des „Deutschen Protestanten Vereins“ (1863)72 zusammen mit dem Schweizer Strafrechtler Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) und die Vertretung der Stadt Hannover durch ihn in der oppositionellen Welfenpartei im norddeutschen und dann im deutschen Reichstag von 1869 bis zu seinem Tod 1872 73 Ewald studierte Theologie in seiner Heimatstadt Göttingen, die sein politisches Leben prägte, und spezialisierte sich auf orientalische Sprachen Bereits mit 23 Jahren übernahm er an der Universität die Professur für dieses Fach Er wurde später für seine Leistungen in dieser Disziplin weit bekannt 74 Im Dezember 1837 erlebte Ewald eine Wende in seinem Leben, die zugleich seine intellektuelle Laufbahn einschneidend änderte, als er zusammen mit anderen sechs Kollegen der Göttinger Universität gegen die Absetzung der liberalen Hannoveranischen Verfassung von 1833 seitens des neuen Königs Ernst August I (1771–1851) protestierte und deswegen aus seinen Amt entlassen wurde Unter diesen Professoren, die in den Geschichtsbüchern als die „Göttinger Sieben“ bezeichnet werden, waren auch die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (1786–1859), die ebenso für ihre liberalen Überzeugungen bekannt waren 75 Damals saß auch der junge Jura-Student Rudolf Jhering in den Bänken der Universität und dürfte den ganzen Prozess mitverfolgt haben 76 Dieses historische Geschehen ist in der deutschen Geschichte von großer Bedeutung und gilt als eines der Vorgeschehnisse der Märzrevolution 1848 77 72

73

74 75 76 77

Siehe dazu TRO, s v „Protestantenverein“, Bd  27, 538–542, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München: https://www-degruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 27_538_10?pi=0&moduleId=common-word-wheel&dbJumpTo=Protestanten %20VEr, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe TRO s v „Ewald, Georg Heinrich August (1803–1875)“, Bd   10, 694–696, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München: https://www-degruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 10_694_43?pi=0&moduleId=commonword-wheel&dbJumpTo=Ewald, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe ebd Siehe Steffen Martus, „‚Was den studenten aus meinem kram taugt‘ Die Brüder Grimm als Professoren – und als Mitstreiter der ‚Göttinger Sieben‘ “, in: Forschung Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1 (2015), 10–13 Siehe dazu Okko Behrends, s v „Jhering, Caspar Rudolf von“, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, 211–215, abrufbar unter http://www ostfriesischelandschaft de/776 html?&type=0&uid =2299&cHash=2e0173c9f643dd472f8300eb443ce0eb, letzter Zugriff am 13 9 2016 Siehe Alix, „Ideología y filosofía“, 428

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Nach dem Vorfall in Göttingen kam Ewald nach Tübingen, wo er zunächst einen Lehrstuhl an der Philosophischen und danach an der Theologischen Fakultät erhielt Zu seinen Schülern in dieser Zeit zählen wichtige Sprachwissenschaftler des 19  Jahrhunderts wie etwa August Schleicher (1821–1868), August Dillmann (1823–1894) und Rudolf von Roth (1821–1895) 78 In der Zeit in Tübingen schrieb er auch seine bekanntesten Werke, wie etwa Die Geschichte des Volkes Israel, die zwischen 1843 und 1859 als siebenbändiges Werk erschien 79 Augenfällig ist Ewalds Ansatz einer historischen Exegese, für die er später bekannt wurde und die auch Barretos Interesse weckte 80 Als Intellektueller ist Ewald schwierig einzuordnen, weil er sowohl in einen heftigen Kampf gegen die Orthodoxie involviert war, aber auch den Rationalismus der „Tübinger Schule“ kritisierte 81 Seine Zeit in Tübingen ist darüber hinaus gezeichnet von Auseinandersetzungen mit der führenden Figur jener Schule der historischen Exegese, Christian Ferdinand Baur 82 1848 nahm er, wie bereits erwähnt, zusammen mit seinem ehemaligen Kollegen aus Göttingen, Jacob Grimm, an der Frankfurter Nationalversammlung teil, die die liberale Paulskirchenverfassung auf den Weg brachte 1863 war er ebenfalls in Frankfurt Mitbegründer des „Deutschen Protestanten Vereins“ (DPV) Dort verteidigte er seine liberale politische Haltung weiter, als er den Ultramontanismus sowie den Eingriff des Staats oder der Kirche in die Unabhängigkeit der Wissenschaft und des freien Denkens bekämpfte83 – für all diese Überzeugungen stand auch Barreto Weiterhin stellte sich Ewald gegen eine deutsche Vereinigung unter preußischer Vormachtstellung und wurde für seine politischen Auffassungen von der Philosophischen Fakultät in Göttingen, in die er 1848 zurückkehren durfte, nochmals ausgeschlossen Ende der 1860er Jahre wurde er Reichstagsabgeordneter und kritisierte den Militarismus Preußens scharf Er starb 1872 in seiner Geburtsstadt Göttingen 84 Wenn Barreto Ewald zitierte, war dies also als ein politisches Statement zu sehen, wie aus der Biographie des Göttinger Professors hervorgeht In weiteren Artikeln gegen die Attacken von O Católico stützt er sich auf Ewalds Werk über das Volk Israel

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Siehe Neue Deutsche Biographie 4 (1959), s v „Ewald, Georg Heinrich August von“, abrufbar unter http://www deutschebiographie de/pnd118682857 html, letzter Zugriff am 13 9 2016 Ab nun zitiert als NDB Siehe TRO, s v „Ewald, Georg Heinrich August (1803–1875)“ Ebd Siehe ebd Mehr zu Baur in: Ebd , s v „Baur, Ferdinand Christian (1792–1860)“, Bd  5, 352–359, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München: https://wwwdegruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 05_352_36?pi=0&moduleId= common-word-wheel&dbJumpTo=Baur, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe Allgemeine Deutsche Biographie (1877), s v „Ewald, Georg Heinrich“ [Onlinefassung], abrufbar unter http://www deutsche-biographie de/pnd118682857 html, letzter Zugriff am 13 9 2016 Ab nun ADB Siehe ebd Siehe ebd

5 3 Barretos erste Lektüre in der deutschen Sprache

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Hierbei ist zu bemerken, dass er beim Verfassen der Artikel in O Americano noch am Anfang seines Studiums der deutschen Sprache und seiner Lektüre Ewalds gewesen sein muss, da er meistens niedrige Seitenzahlen oder das Vorwort zitierte Doch es genügte, um kritische Reaktionen brasilianischer Klerikale hervorzurufen Im genannten Artikel zitierte Barreto auch das Buch Das Christentum der drei Jahrhunderte des Theologen und Vaters der „Tübinger Schule“ Christian Ferdinand Baur Dies verdeutlicht erneut, dass sich Barreto mit seinen Lektüren im religionskritischen Diskurs bewegte 85 Bezeichnend ist, dass er Ewald zitierte, um den französischen Theologen Ernest Renan zu kritisieren, einen Autor, den er früher sehr geschätzt hatte Ewald folgend wirft er diesem „Oberflächlichkeit“ (superficialidade) vor, typisch für eine „päpstlich-französische Erziehung“ (educação católica-francesa),86 die Barreto selbst an der Elite kritisierte An dieser Stelle wird Ewald wörtlich zitiert und ein Gegner Barretos wird offenkundig, den er sein Leben lang bekämpfen wird: der Einfluss des portugiesischen Kolonialerbes auf die Rechtskultur Später sollte sich Barreto auf Ewald stützen, um Renans Antisemitismus aufzuzeigen 87 Der junge brasilianische Jurist erwähnte Renan zum ersten Mal in seinem 1869 erschienenen Artikel über Vacherot und Gratry Damals las er fast ausschließlich die französischen Autoren der Revue, die religionskritisch, aber auch jansenistisch geprägt waren Dies deutet auf eine kritische Einsicht Barretos gegenüber dem Ultramontanismus der katholischen Kirche hin Allerdings las er noch hauptsächlich französische Quellen Die Lektüre von Ewalds Werk erlaubte es Barreto, in seinen kritischen Positionen einen anderen Schritt zu wagen, weil jener deutschsprachige Akademiker jüdischer Herkunft und protestantisch-liberal geprägt war Vor diesem Hintergrund ist Renans Werdegang geradezu symptomatisch für eine bestimmte Haltung der brasilianischen intellektuellen Elite, gegen die Barreto sich wehrte Der französische Intellektuelle war einer der am häufigsten publizierten Schriftsteller der Revue des Deux Mondes und des Jornal des Débats, in denen noch viele andere französische Autoren vermittelt wurden Wie viele andere Autoren der Revue war auch er Mitglied der Academie Française 88 Er war also kein unwichtiger Autor dieser Zeit, denn er spielte vor allem bei der Vermittlung der deutschsprachigen Philosophie in Frankreich eine bedeutende Rolle 89 Der katholische Renan begann zunächst mit dem Studium des aufgeklärten schottischen Philosophen Thomas Reid (1710–1796) und des Oratorianers und Jansenisten Nicolas Malebranche (1638–1715) Bald wurde er auf die deutsche Philosophie Kants, 85 86 87 88 89

Siehe Barreto, „Notas e Estudos sobre a Critica Religiosa“, in: O Americano (16 6 1870), 32, und ebd (14 8 1870), 63 Siehe ebd (7 8 1870), 59 Diese Ausdücke werden von Barreto selbst auf Deutsch, aus Ewalds Werk, in Klammern verwendet Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 121–149 Ebd Siehe EB (1910), s v „Renan, Ernest (1823–1892)“, 94–95

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Hegels und Herders aufmerksam Später schloss er sich den Oratorianern an90 – Kennzeichen seines Jansenismus, der auch in Brasilien stark verbreitet war und sich gut mit dem vorherrschenden Regalismus vereinen ließ Renans bekanntestes Buch La Vie de Jesu von 1863 baut im Wesentlichen auf David Strauss’ Das Leben Jesu (1835) auf 91 Dieses Werk wurde von der Kirche heftig kritisiert, weil es Christus als menschliche Figur darstellt Renans größtes Werk allerdings war die Histoire des Origines du Christianisme, angelegt in sieben Bänden und zwischen 1863 und 1881 publiziert 92 Weiterhin schrieb er eine Histoire Général des Langues Semitiques (1855) In diesem Buch bereitete Renan, so Barreto, die „Grundlagen für die aktuellen Vorurteile gegenüber den intellektuellen Mängeln der Juden“ (as bases dos prejuízos correntes sobre as lacunas intelectuais dos judeus) 93 Einige Stellen dieses Werkes wurden wegen antisemitisch-rassistischer Äußerungen verurteilt und gewannen später lediglich das Lob Benito Mussolinis (1883– 1945) Renan näherte sich der kritischen Exegese der „Tübinger Schule“ und war einer der großen Vermittler des Theologen David Friedrich Strauss in Frankreich, mit dem er auch korrespondierte 94 Der Professor des Collège de France erlangte auch im deutschsprachigen Raum Anerkennung: 1859 wurde er in die Preußische Akademie der Wissenschaften und 1860 als auswärtiges Mitglied in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen 95 Auch seine Rezeption in Brasilien darf nicht unterschätzt werden Hauptsächlich wurden seine Beiträge in der Revue gelesen und er erlangte große Bekanntheit 96 Vor allem sein Werk La Réforme Intellectuelle et Morale (1871), das für eine moralisch-gesellschaftliche Umstellung in Frankreich warb, wurde sehr populär Renan bediente damit zwei in den brasilianischen Debatten gegen Ende des 19   Jahrhunderts geschätzte Themen: Kritik am Ultramontanismus und ein moralisch-gesellschaftliches (konservatives) politisches Programm 97 Deswegen widmete der berühmte Politiker Joaquim Nabuco ihm auch ein ganzes Kapitel in seiner Autobiographie „Meine Erziehung“ (Minha Formação, 1900) Renans Lebenslauf ist wie derjenige von Vacherot typisch für einen katholischen Intellektuellen in den damaligen Umbruchzeiten Beide vertraten zur Zeit des Vatikanischen Konzils eine ablehnende Haltung gegenüber dem Ultramontanismus, der den katholischen Glauben damals spaltete Später versöhnten sie sich mit ihrem Glauben und akzeptierten konservativere politische Positionen gegenüber der Monarchie 90 91 92 93 94 95 96 97

Ebd Siehe ebd und ADB (1893), s v „Strauß, David Friedrich“ [Onlinefassung], abrufbar unter http:// www deutsche-biographie de/pnd118619055 html, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe EB (1910), s v „Renan, Ernest (1823–1892)“, 94–95 Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 142 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe ADB (1893), s v „Strauß, David Friedrich“ Siehe EB (1910), s v „Renan, Ernest (1823–1892)“, 94–95 Siehe Veríssimo, História da literatura, 15 Alonso, Idéias em movimento, 173 und 204

5.4 Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes

121

Gleiches lässt sich über Teile des brasilianischen Establishments sagen, die zunächst sehr kritisch gegenüber der Monarchie eingestellt waren, für die Republik und den Abolitionismus eintraten, gleichzeitig aber zum alten monarchischen System gehörten und sich später mit diesem Erbe aussöhnten (wie Joaquim Nabuco und Rui Barbosa) In republikanischen Zeiten sollten sie dann mit ihrer Kritik am positivistischen Kurs der Militärs ihre monarchisch-katholische Prägung wieder deutlich zeigen 5.4 Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes Beschäftigt man sich mit Barretos Lesequellen, lässt sich unschwer feststellen, dass das Denken von David Friedrich Strauss prägend für ihn war 1874 verfasste er sogar einen Nachruf auf Strauss in deutscher Sprache 98 Dieser wurde Teil von Barretos erstem Buch Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica von 1875 99 Strauss gilt als Wegbereiter einer materialistischen Weltansicht, die später auch in Ludwig Feuerbachs (1804–1872) und Eduard von Hartmanns (1842–1906) Materialismus und Haeckels Monismus einfloss Diese Auffassung von Strauss zeigte sich vor allem in seinem späteren Werk Der alte und der neue Glaube (1872): Dort gab er seine hegelianische zugunsten einer eher materialistischen Weltanschauung auf Den Materialismus beschrieb Strauss nun als „das mühsam errungene Ergebnis fortgesetzter Natur- und Geschichtsforschung, im Gegensatze gegen die christlich-kirchliche“ 100 In diesem Werk legt Strauss einerseits sein Verhältnis zum Christentum und andererseits die Grundzüge seines Materialismus dar Die Frage, ob er und seine Gefährten noch Christen seien, beantwortet er mit einem eindeutigen „Nein“ 101

Siehe Barreto, „Sobre David Strauss (Um fragmento biographico)“, in: Ders , Ensaios e Estudos, 151–159, auch in Barreto, Crítica de religião, 168–173 99 Über Strauss’ Leistungen für die Philosophie wird Folgendes behauptet: „Durch sein Leben Jesu wurde Strauß’ Name einerseits von der Kirche sowie von weiten Teilen der Akademie marginalisiert und zum Symbol des ungläubigen Theologen stilisiert Andererseits löste er eine exegetische, theologische und religionsphilosophische Diskussion aus, deren grundsätzliche Fragen die Theologie bis in die Gegenwart beschäftigen Durch seine radikale Infragestellung sämtlicher zeitgenössischer theologischer Entwürfe nahm er geradezu zentrale Fragen des Verhältnisses von Glauben, Wissen und Geschichte vorweg, ohne indes selbst eine systematisch-theologisch befriedigende Antwort zu geben Strauß knüpfte an die durch die Aufklärung evident gewordenen historisch-kritischen Fragestellungen an, bündelte und spitzte sie in seiner Bibel- und Dogmenkritik radikal zu “ Siehe TRO, s v „Strauss, David Friedrich (1808–1874)“, Bd  32, 241–246, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München unter https://wwwdegruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 32_241_19?pi=0&moduleId= common-word-wheel&dbJumpTo=Strauss, letzter Zugriff am 4 10 2016 100 Ebd 101 Siehe ebd

98

122

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

In seinem Nachruf auf Strauss gibt Barreto zwei interessante Quellen an, die als Bindeglied für die Fortsetzung seiner Lektüren deutschsprachiger Autoren von zentraler Bedeutung sind, vor allem für seine spätere Begegnung mit Ernst Haeckel Es handelt sich hier um die deutschen Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes 102 Diese beiden Quellenangaben sagen viel über Barretos damalige Lesegewohnheiten aus und sind kennzeichnend für sein politisch-intellektuelles Programm Die Gegenwart erschien erstmals 1872 und kam bis 1931 in Berlin als „Wochenzeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“ heraus 103 Eindrucksvoll und aussagekräftig über die politische Richtung des Blattes ist die Biographie seines Herausgebers und Gründers Paul Lindau (1839–1919) Der Schriftsteller, Journalist und Theaterleiter jüdischer Herkunft gab in Deutschland gegen Ende des 19  Jahrhunderts verschiedene Blätter heraus, bis er 1871 Die Gegenwart sowie die Monatsschrift Nord und Süd gründete 104 Für beide konnte er damals viele prominente Autoren gewinnen, wie etwa die Schriftsteller Berthold Auerbach (1812–1882)105 und Theodor Fontane (1819–1898), sodass Die Gegenwart durch die veröffentlichten Essays zu einem einflussreichen Blatt im Kulturpanorama Berlins wurde 106 Anfänglich war die Zeitschrift mit dem Herausgeber Lindau und seinem Nachfolger Theophil Zolling (1849–1901)107 bismarckfreundlich, nach der Übernahme durch Heinrich Ilgestein (1875–1943) 1912 erlebte sie allerdings eine Wende zu einem linksliberalen Kurs Bei Kriegsbeginn gingen von der Zeitschrift kriegsgegnerische Stimmen aus Die Gegenwart grenzte sich von den sozialdemokratischen Kräften ab, verstärkte ihr bürgerlich-demokratisches Profil in ihren letzten Jahren und wurde zu einem Forum für die Kritik an europäischen totalitären Regimen 108 Die erste Nummer des Magazins für die Literatur des Auslandes109 erschien in der Nacht vom 24 auf den 25 Januar 1832 als Folge der Julirevolution 1830, die zu einer 102 Siehe Barreto, „Sobre David Strauss“, 154–156 103 Siehe dazu http://www haraldfischerverlag de/hfv/KLP/gegenwart php, letzter Zugriff am 1 07 15 104 Siehe NDB 14 (1985), s v „Lindau, Paul“ [Onlinefassung], abrufbar unter http://www deutschebiographie de/pnd118780034 html, letzter Zugriff am 4 10 2016 105 Auerbach wird auch in zwei weiteren Artikeln Barretos behandelt, die in der Folge ebenfalls analysiert werden Sie heißen Uma excursão de dilettante pelo dominio da sciencia bilblica und Auerbach e Victor Hugo Beide wurden in seinem ersten Buch Ensaios e Estudos veröffentlicht In beiden erwähnt Barreto oft die Zeitschriften Gegenwart und Magazin Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 121–149, und ders , „Auberbach e Victor Hugo“, in: Ensaios e Estudos, 91–111 106 Siehe NDB 14 (1985), s v „Lindau, Paul“ 107 Siehe http://www zeno org/Meyers-1905/A/Zolling?hl=theophil+zolling, letzter Zugriff am 2 11 17 108 Siehe http://www haraldfischerverlag de/hfv/KLP/gegenwart php, letzter Zugriff am 1 07 15 109 Eine interessante Quelle über die Entstehung des Magazins sowie über seinen Begründer Joseph Lehmann ist ein langer Nachruf vom 1 März 1873 anlässlich seines Todes Eine der anderen wenigen Quellen über Lehmann ist sein Eintrag an der NBD Dort ist übrigens sein Todesjahr falsch als 1871 notiert Aus dem Nachruf im Magazin ist zu entnehmen, dass er tatsächlich am 19 Februar 1873 starb Siehe Magazin für die Literatur des Auslands (ab nun Magazin) (1 3 1873), 125–128, und

5.4 Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes

123

Flut von politischen, sozialen und literarischen Schriften im Ausland führte 110 Gegründet wurde es von dem Journalisten jüdischer Herkunft Joseph Lehmann (1801–1873) als Rezessionszeitschrift in Form einer Beilage für die Preußische Staats-Zeitung 111 Den Posten des Redakteurs erhielt Lehmann 1819 auf eine Empfehlung Alexander von Humboldts (1769–1859) 112 Wie sein brasilianischer Leser Barreto wird auch Lehmann als sprachbegabt beschrieben Autodidaktisch lernte er die meisten westeuropäischen und skandinavischen Sprachen 113 Anlässlich der Revolten vom März 1848, die die absolute Monarchie zu Grabe trugen, schied er aus der Redaktion der Staats-Zeitung aus und verzichtete auf seinen Beamtenstatus, durfte das Magazin aber selbstständig weiterführen und arbeitete 1849 einige Zeit bei der Konstitutionellen Zeitung 114 Außer Humboldt zählten zu seinem frühen Freundeskreis auch Heinrich Heine115 (1797– 1856) 116 In seinem Nachruf im Magazin von 1 März 1873 werden seine politischen Überzeugungen folgendermaßen beschrieben: „Lehmann gehörte keiner politischen Richtung als disziplinierter Parteimann an; wohl aber war er von Grund seiner Seele ein Mann der freien Entwicklung […] Bei einer unbegrenzten Liebe zu dem alten historischen Preussenthum war er doch schon, und das lange vor 1848, ein Mann der Einigung Deutschlands […] aber als der Radikalismus des Jahres 1848 überhand nahm, stellte er sich fest auf die rechte Seite “117

Kurz gesagt: er war geistig liberal und politisch konservativ Damals bedeutete das vor allem „bismarcktreu“ Über seinen Freundeskreis behauptet der Artikel noch: „Zu den nähesten Freunden seiner letzten Jahre zählte er Deutschlands erste Dichter Auerbach, Spielhagen und Rodenberg waren in lebhaften Verkehr mit ihm Vom Ersteren hatte er sich vor einigen Tagen ein Wort über Dickens erbeten […] Mit Hoffmann von Fallersleben stand er seit langen Jahren, insbesondere aber noch durch das Interesse für die Vlamingen in literarischem und persönlichem trauten Verkehr “118

110 111 112 113 114 115 116 117 118

NDB 14 (1985), s v „Lehmann, Joseph“ [Onlinefassung], abrufbar unter http://www deutschebiographie de/pnd116867094 html, letzter Zugriff am 4 10 2016 Siehe Magazin, 1 3 1873, 126 Später Staats-Anzeiger und erst nach der Einigung Deutschlands Deutscher Reichs- und Preußischer Staats-Anzeiger, siehe ebd Siehe NDB 14 (1985), s v „Lehmann, Joseph“ Siehe ebd Siehe Magazin (1 3 1873), 126 Obwohl wenig in der Fachliteratur erwähnt, war Barreto einer der ersten Vermittler Heines in Brasilien Über die Rezeption Barretos von Heine und ihre politische Bedeutung siehe Moreira, „A recepção de Heinrich Heine“ Siehe Magazin (1 3 1873), 126 Siehe ebd , 127 Siehe ebd , 128

124

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

Zur Frage über die Rolle der von ihm gegründeten Zeitschriften im Ausland und über die Art und Weise, wie Barreto damit in Kontakt kam, ist die folgende Passage bezeichnend: „Nicht der kleinste Theil gebührt dem ‚Magazin‘ von dem Verdienste, die Deutschen von dem Ausland genau unterrichtet zu haben Nicht nackte Resumptionen oder Kritiken von Büchern, nein ein volles Bild der Volkscharaktere war im Laufe der Jahre den deutschen Lesern durch das ‚Magazin‘ aufgegangen, oder auch durch andere Zeitungen und Journale vermittelt worden, welchen das ‚Magazin‘ ergiebigen Stoff bot “119

Diese Zeitschrift wurde also von den Deutschen im Ausland begeistert gelesen Zur begrenzten Leserschaft Barretos deutschsprachiger Zeitungen gehörte zweifelsohne die deutschsprachige Gemeinde Pernambucos Mit dieser war er laut Romero in Kontakt, seitdem er 1870 angefangen hatte, sich intensiver mit der deutschen Sprache zu beschäftigen 120 Es ist zu vermuten, dass diese Gemeinde ihm die deutsche Zeitschrift vermittelte Das im Magazin vermittelte Deutschlandbild prägte Barretos Vorstellungen in jenen Jahren Als entschiedener Gegner des kulturellen Einflusses Frankreichs stand Barreto einer leidenschaftlichen Schwarz-Weiß-Malerei bezüglich Deutschland offen gegenüber Es ist nicht auszuschließen, dass er das Magazin als Vorbild im Kopf hatte, als er die deutschsprachigen Blätter „Ein Zeichen der Zeiten“ (Um Signal dos Tempos) und Der deutsche Kämpfer in den 1870er Jahren gründete Barreto erwähnte das Magazin zum ersten Mal in seiner Schrift „Ein dilettantischer Exkurs in die Domänen der biblischen Wissenschaft“ (Uma excursão de dilettante pelo dominio da sciencia biblica), die er zwischen 1871 und 1873 verfasste und später in seinem ersten Buch Essays und Studien der Philosophie und Kritik (Ensaios e Estudos de Philosofia e Critica, 1875) veröffentlichte 121 Barretos Buch war vielleicht das erste, das deutschsprachige Autoren in ihrer Originalsprache und deutschsprachige Zeitschriften in einem für die breite Öffentlichkeit verfassten Band in Brasilien erwähnte Dort stützte sich der Jurist auf Ewalds Ansätze aus der Geschichte des Volkes Israel und stellte sich dezidiert antisemitischen Äußerungen entgegen, die er als Resultat von Feindseligkeit, Fanatismus und Barbarei klassifizierte In der Folge betonte er noch den kulturellen Beitrag des „semitischen Volkes“ zur deutschsprachigen Kultur 122 Er drückt sich dabei ganz deutlich aus:

119 Siehe ebd , 127 120 Siehe Romero, Evolução, 121–122 121 Barreto zitiert in diesem Zusammenhang den Band Chwolsons Die Semitischen Völker Versuch einer Charakteristik von 1872, obwohl das nicht heißt, dass er direkten Zugang zu diesem Werk hatte Er kannte es aus dem Artikel im Magazin Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 121–149 Siehe dazu auch Orest Danilowitsch Chwolson, Die Seminitischen Völker Versuch einer Charakteristik (Berlin: Franz Duncker, 1872) 122 Siehe ebd , 121 Dort wird das Werk Ewalds von Barreto ständig zitiert

5.4 Die Zeitschriften Die Gegenwart und Magazin für die Literatur des Auslandes

125

„Der nun gegen das verehrte israelische Volk gerichtete Hass, aus den fanatischen Herzen immer noch schlecht ausgelöscht, ist ein Zeichen der Barbarei, das die westliche Zivilisation immer beschämen wird Ich für meinen Teil gestehe, unterschiedliche Gefühle zu haben “123

Es handelt sich hier um einen beispielhaften Text Barretos, denn er nahm deutlich gegen den damals wachsenden Antisemitismus Stellung In vielen seiner Schriften stützte er sich weitgehend auf die deutsch-jüdische liberale Kultur, die er sehr schätzte und immer wieder lobte, wie die Analyse seiner Quellen offenbart In seiner Schrift kritisierte Barreto scharf die Ansichten Ernest Renans, insbesondere für seine antisemitischen und rassistischen Thesen im Buch Histoire Générale et Systeme Comparé des Langues Sémitiques, von 1855 Überzeugt durch die Lektüre Ewalds sowie durch viele andere deutschsprachige Autoren jüdischer Herkunft, denen er sich durch die Zeitschriften Magazin und Die Gegenwart genähert hatte, wurde ihm klar, wie bedeutend der jüdische Beitrag für die deutschsprachige Geisteskultur insgesamt war Mit Ewald suchte sich Barreto einen äußerst liberalen Repräsentanten der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur aus und widerspricht den Positionen Renans und seinem Rassendeterminismus Damit greift er zwei hochpolitische Themen in Brasilien auf, nämlich den wissenschaftlichen Rassismus und den Rassendeterminismus, die sich gegen Ende des 19  Jahrhunderts beide deutlich im Aufschwung befanden Er bezog in dieser Thematik (im Gegensatz zu Romero) in aller Schärfe gegen jegliche rassebedingten Determinismen Stellung und zeigte keinerlei Begeisterung für die sozial-deterministische Soziologie eines Herbert Spencers, wie es sein Freund tun sollte Dies führte zu einer äußerst skeptischen Ansicht Barretos der Soziologie gegenüber, die sich in seiner Schrift Glosas Heterodoxas (1884–87) in aller Vehemenz ausdrücken sollte 124 Mit dem Ende der Sklaverei rückte die Rassendebatte in den Mittelpunkt der intellektuellen und wissenschaftlichen Debatten in Brasilien Barretos fortschrittliche Haltung in dieser Hinsicht wurde größtenteils von seinem Einstieg in die deutschsprachige intellektuelle Kultur durch deutsch-jüdische (meistens liberale) Autoren beeinflusst In seinem Text über Bibelkritik von 1871–1873 führte Barreto Renans fehlende Analyse auf dessen katholische Erziehung zurück und legte damit den Finger in die religiös-politische Wunde, die während des Pontifikats Pius IX durch die Aufwertung des (Neo)Thomismus vertieft worden war 125 In der Folge widersprach der brasilia-

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Im Original: „O rancor outrora votado à venerada gente israelita, e ainda mal extinto em corações fanáticos, é um rasgo der barbaria, que há de sempre envergonhar a civilização ocidental Por minha parte, confesso-me possuido de um sentimento diverso “ Siehe ebd , 142 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen 124 Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“ 125 Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 143

126

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

nische Intellektuelle der Meinung des französischen Philosophen Edmond Scherer (1815–1889) über die angebliche ursprüngliche Simplizität des jüdischen Denkens und wies auch hier jede Form von Rassendeterminismus mit deutlichen Worten zurück 126 Laut Barreto führten rassendeterministische Vorstellungen zu einer beschränkten Sichtweise und einem vereinfachten Denken In diesem Zusammenhang begründete er seine Auffassung von den Leistungen der jüdischen Kultur mit einem anderen bekannten deutschen Denker, der zur Aufklärung gehörte und mit dem „Sturm und Drang“ untrennbar verbunden war, dem Philosophen Johann Gottfried von Herder (1744–1803) 127 Aus seinen Aussagen wird ersichtlich, dass Barreto durch seine Lektüren deutschsprachiger jüdischer Autoren, wie etwa Ewald oder Auerbach, von der Bedeutung des jüdischen kulturellen Beitrags überzeugt war Barreto führte seine Argumentation weiter mit einem Hinweis auf den Band Die Semitischen Voelker Versuch einer Charakteristik, verfasst von dem russischen Physiker jüdischer Herkunft Orest Danilowitsch Chwolson (1852–1934), den Barreto „Professor Chwolson“ nennt 128 Bezeichnenderweise bezieht sich Barreto das erste Mal (in einer Fußnote) auf das Magazin für die Literatur des Auslandes auf dessen erste Ausgabe von 1873 Wird diese Ausgabe vom 25 Januar näher betrachtet, ist dort eine Besprechung des Buches von Chwolson Die Semitischen Völker zu finden, die auf einem Vortrag im Februar 1871 an der Universität von St Petersburg basiert und später in Schriftform veröffentlicht wurde 129 Viele Passagen Barretos, vor allem seine Kritiken an Renan, ähneln sehr der Buchbesprechung im Magazin Hier ist festzustellen, dass Barreto Chwolsons Arbeit selbst nicht gelesen hatte, sondern nur die Zusammenfassung der Debatte aus der Zeitschrift kannte An manchen Stellen schreibt er sogar einige Passagen des Magazins ab, die er einfach ins Portugiesische übersetzt So behauptet Barreto, dass „Renan in seiner Histoire Générale des Langues Sémitiques, die Grundlagen der aktuellen Vorurteile über die intellektuellen Mängel der Juden legte“ 130 Im Magazin hingegen steht, „die Quelle der in wissenschaftlicher Gewandung verbreiteten Vorurteile über die Semiten ist Ernst Renans Buch […]“ 131 Während Barreto in seiner Kritik einerseits folgendermaßen weiterschrieb, „der Name des Autors reicht, um die verführerische Aufnahme, die seine Theorie sah, zu erklären“,132 wird andererseits im 126 127 128 129 130 131 132

Siehe ebd , 144 Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 144 Zu Herder siehe The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Sommer 2015), s v „Johann Gottfried von Herder“, abrufbar unter http://plato stanford edu/archives/sum2015/entries/herder, letzter Zugriff am 2 7 15 Siehe ebd , 145 Siehe Magazin (25 1 1873), 52–54 Siehe dazu auch Chwolson, Die Seminitischen Völker Im Original: „Em sua Histoire Générale des Langues Sémitiques, lançou Renan as bases dos prejuízos correntes sobre as lacunas intelectuais dos judeus“ Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 142 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe Magazin (25 1 1873), 52 Im Original: „O nome do autor é suficiente para explicar a facilidade da conquista que obteve a sua teoria“ Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 142 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt

5 5 Der Bruch mit dem französischen kulturellen Einfluss

127

Magazin behauptet, „nur das hohe Ansehen und der begründete Ruhm Renans machen es erlässlich, dass die Widerlegung seiner Ansichten eine Ruhe und Gemessenheit bewahrt hat“ 133 In beiden Schriften, in Barretos sowie in Chwolsons, wird ein Rassendeterminismus abgelehnt Bei Barreto war es die Aussage eines Schwarzen über den üblichen Rassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung in Brasilien Dort herrschte immer noch die Sklaverei als dominierende Arbeitsform Bei Chwolson hingegen war es das Statement eines Juden in einem zunehmend antisemitischen Europa gegen Ende des 19  Jahrhunderts Letztlich ist Barretos Zitat über Chwolson eine Zusammenstellung aus verschiedenen Seiten des Buches, die ursprünglich aus der Rezension stammten 134 Barreto hatte demnach von Chwolsons Schrift nur Kenntnisse aus zweiter Hand so wie einst von den deutschsprachigen Autoren, auf die er durch die französische Zeitschrift Revue des Deux Mondes stieß Diesmal aber ist ein deutlicher Unterschied zu erkennen: Er zitiert ein deutschsprachiges Organ – ein absolutes Novum in der brasilianischen intellektuellen Landschaft 5.5 Der Bruch mit dem französischen kulturellen Einfluss In Barretos Chwolson-Zitat taucht noch eine andere Figur auf, die ebenfalls bedeutend für seine intellektuelle Entwicklung war: der jüdische Schriftsteller Berthold Auerbach Auch Auerbach lernte Barreto durch seine Lektüren des Magazins kennen Auerbach wurde zum Gegenstand eines seiner weiteren Essays, „Auerbach und Victor Hugo“ (Auerbach e Victor Hugo) (1873), der ebenfalls in seinem ersten Buch von 1875 erschien 135 Dort kritisiert Barreto harsch die französische Literatur für ihre exzessive „Phraseologie“ (phraseomania), die die Gewohnheiten der brasilianischen Eliten stark prägte – vor allem in der Politik 136 Damit brach Barreto offensichtlich mit seinen alten Lesequellen, vor allem mit der Revue des Deux Mondes, die er selbst vorher aufmerksam und begeistert gelesen hatte Barretos Kritik an der Zeitschrift bezog sich auf die vermeintliche Vernachlässigung deutschsprachiger Errungenschaften in der literarisch-philosophischen Welt nach dem Deutsch-Französischen Krieg 137 Barretos Kritik an der Revue ist so nicht ganz zutreffend, obwohl eine Änderung in der Berichterstattung während der damaligen nationalistischen Zeiten deutlich zu erkennen ist Der genannte Artikel Barretos über Auerbach und Hugo ist beispielhaft für seine neue Haltung gegenüber Deutschland

133 134 135 136 137

Siehe Magazin (25 1 1873), 52 Siehe Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 145 Siehe ders , „Auerbach e Victor Hugo“, 91–111 Siehe ebd , 106 Siehe ebd , 105–106

128

5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

als einem Hort der kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung sowie als Gegensatz zu Frankreich Selbst Hugo, den er früher hoch schätzte, kritisierte er für seine angebliche Rhetorik gegen Deutschland138 und stellte ihm die Verdienste Auerbachs für die deutschsprachige populär-literarische Welt gegenüber „Berthold Auerbach ist in Deutschland das aktivste Organ, vielleicht sogar das robusteste der populären Literatur“,139 meint Barreto Sein Artikel ist eine eindeutige Kampfansage gegen den monopolistischen Einfluss der französischen Kultur innerhalb Brasiliens, den er für den kulturellen Rückstand des Landes verantwortlich macht 140 Die deutschsprachige Kultur hingegen werde, seiner Meinung nach, von der brasilianischen Öffentlichkeit bewusst ignoriert: „Über die deutliche anti-germanische Tendenz der Bevölkerung hinaus ist in dieser Hinsicht die Übereinstimmung darüber seitens der Regierung mit der sogenannten öffentlichen Meinung äußerst bemerkenswert “141 Zugleich beklagt er eine „anti-germanische Tendenz“ (tendencia antigermanica),142 die seiner Auffassung zufolge im Land herrsche Als Konsequenz plädierte er für die Einführung der deutschen Sprache als Unterrichtsfach an den brasilianischen Grundschulen 143 Dieser Moment markiert den finalen Bruch mit dem französischen kulturellen Erbe bei Barreto Die Revue wurde fortan von Barreto wegen ihrer Haltung Deutschland gegenüber angegriffen 144 Die französischen Autoren, die er früher enthusiastisch studierte, selbst sein Jugendheld Victor Hugo, ernten nur noch scharfe Worte In dem Artikel gibt er das Magazin und Die Gegenwart mehrmals als Quelle an, zitiert zahlreiche deutschsprachige Denker, wie etwa Strauss, Kant, Fichte, Schiller, Hegel, Goethe, Humboldt, Herder, Lessing und endet mit folgenden Worten auf Deutsch aus einem Lied des Schriftstellers Friedrich von Bodenstedt (1819–1892): „Ha! Franzosen, Franzosen, den Tag habt in Acht!“145 Auch in seiner Kritik an Renan setzte Barreto diesem die Leistungen der modernen jüdischen Kultur bzw Auerbachs entgegen In dem bereits erwähnten Essay über die Bibelkritik (Uma excursão de dilettante pelo dominio da sciencia biblica) zitiert Barreto Auerbachs Spinoza Ein historischer Roman und stellte diesen Philosophen dem Jansenisten René Descartes (1596–1650) gegenüber 146

138 139 140 141 142 143 144 145 146

Siehe ebd , 102 Im Original: „Berthold Auerbach é na Allemanha o orgão mais activo, senão o mais robusto da litteratura popular“ Siehe ebd , 99 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe ebd 94 Im Original: „Além de ser manifesta a tendencia anti-germanica do povo, é sobremodo significativo o accordo em que, neste sentido, está o governo com a chamada opinião publica “ Siehe ebd , 95 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Siehe ebd Siehe ebd Siehe ebd , 105 Siehe ebd , 110 Siehe ders , „Uma excursão de dilettante“, 148–149

5 6 Die Kritik an Alexandre Herculano

129

5.6 Die Kritik an Alexandre Herculano In Barretos zweitem Artikel in seinem ersten Buch (Ensaios e Estudos de Philosofia e Critica) mit dem Titel „Über eine Schrift von A Herculano“ (Sobre um escripto de A   Herculano) führt er wieder mehrfach die deutschen Zeitschriften Die Gegenwart und das Magazin als Quellen an 147 Er greift hier den portugiesischen Schriftsteller und Historiker Alexandre Herculano (1810–1877) an, ein bekannter jansenistischer Kritiker der Unfehlbarkeit des Papstes 148 Anlass für Barretos Auseinandersetzung waren Herculanos Äußerungen in dem Brief „Die Untersagung der Casino Konferenzen“ (A Supressão das Conferências do Casino) von 1871, der als Antwort an die portugiesische Regierung zu verstehen ist, die die so bezeichneten Konferenzen von 1871 verbieten wollte Es handelte sich hierbei um Vortragszyklen für Sozialisten und liberal-avantgardistische Intellektuelle der portugiesischen „Generation 1870“ um Antero de Quentals und Eça de Queiroz’ (1845–1900) Gruppe der „Cenáculo“, die in einem Casino in Lissabon abgehalten wurden Barreto gibt unmissverständlich zu verstehen, dass er den Beschluss der portugiesischen Regierung als einen Angriff auf die Meinungsfreiheit empfand In seinem Artikel zielt er aber auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Herculanos Ideen ab, denn es lag ihm vor allem daran, dessen jansenistische Ansichten anzugreifen Barretos Schrift rief eine heftige Debatte in der brasilianischen Öffentlichkeit hervor: Er wagte es dort, die von der brasilianischen Elite hochgeschätzte und beinahe unantastbare Figur Herculanos wegen seines Jansenismus öffentlich zu kritisieren Schon allein das wurde von den brasilianischen Intellektuellen als Sünde betrachtet Das hinter Barretos Kritik stehende Politikum an Herculano ist deutlich: Die Art und Weise, wie er sich mit deutschsprachigen Autoren anmaßte, gegen Herculanos Ansichten anzugehen, sind typisch für ihn Der Artikel löste entsprechend erste Kritiken brasilianischer Medien an Barretos angeblichen „Germanismus“ aus Der Essay ist kennzeichnend für die angespannte religiöse Lage, die nach dem Ersten Vatikanischen Konzil herrschte Er kritisiert Herculanos Konzept eines „wahren Katholizismus“ (catolicismo verdadeiro),149 das sich von dem aktuellen Kurs Roms unter Pius IX abgrenzte Barreto erhebt gegen Herculano den Vorwurf, er versuche durch seine Nähe zu den französischen Religionskritikern, wie etwa Renan, Sympathien für eine Reform des katholischen Glaubens zu erwecken 150 Barreto offenbarte damit in aller Deutlichkeit

147 Siehe ders , „Sobre um escripto de A Herculano“, in: Ensaios e estudos, 47–89 148 Zu den Einfluss Herculanos in der brasilianischen Rechtsgeschichte siehe Neder, Duas margens, 146–86 149 Hier bezieht sich Barreto auf ein Zitat Herculanos aus dessen „Konferenzen“, jedoch ohne jede nähere Quellenangabe Siehe Barreto, „A Herculano“, 67 150 Siehe ebd , 53–60

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

seine antiklerikale bzw antithomistische Position, die dem Jansenismus vieler Politiker in Brasilien entgegenstand Barreto griff weiter an: „Es handelt sich um das übliche Lied, das diejenigen, die von einer Reform träumen im Namen des Unreformierbaren singen; es ist der Kriegsschrei der Anhänger des sogenannten Altkatholizismus oder Neoprotestantismus: Zwei Wörter, die das Gleiche bedeuten “151

Barreto kritisierte Herculano dafür, dass er sich grundsätzlich auf katholische Theologen und jansenistische Autoren wie etwa Jacques Bossuet (1627–1704) und Blaise Pascal (1623–1662) stützte Dagegen lehnte er selbst sich an deutsche Religionskritiker wie Strauss und Baur an und hob den Fundamentalismus des katholischen Glaubens hervor, den Herculano retten wolle: „Wenn die Kirche heilig sein sollte, wenn die Kirche bis zum Ende der Zeiten zu halten sein sollte, wie sind dann die vielen Laster und Missstände zu erklären, die sie erniedrigen und sie zu erschüttern versprechen?“152 Er hielt Herculano vor, das Unreformierbare reformieren zu wollen 153 Zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils wünschten sich viele Katholiken eine umfassende Reform des katholischen Glaubens Die Streitigkeiten zwischen Ultramontanisten und Jansenisten/Altkatholiken/Antiultramontanisten erreichte nun ihren Höhepunkt In seiner Kritik baute Barreto auf deutschsprachige Autoren, um Herculano zu widersprechen Ein Beispiel dafür ist der Schweizer Jurist Johann Caspar Bluntschli, der zusammen mit Ewald den „Deutschen Protestanten Verein“ gründete Barreto stützte sich in seiner Kritik am Vorgehen des Papstes (Pius IX ) auf Bluntschlis Ansätze Er greift dabei als Quellenangabe auf Die Gegenwart (in der Ausgabe von 1872) zurück, was beweist, dass er auch diesen Autor zunächst durch seine Lektüre jenes Blattes kannte 154 Weiterhin kritisiert Barreto noch den Altkatholiken Ignaz von Döllinger Döllingers Auseinandersetzung mit dem Heiligen Stuhl wurde damals vom brasilianischen politischen Mainstream begeistert rezipiert, wie bereits in dem Beispiel der brasilianischen Übersetzung von Rui Barbosa deutlich wurde In seiner Kritik bezog er sich auch noch auf einen weiteren deutschsprachigen Autor, nämlich den monistischen Philosophen Eduard von Hartmann (1842–1906) 155 Hartmann folgend bezeichnet Barreto Döllingers Kritik als „neoprotestantisch“ (neopro-

151 152 153 154 155

Im Original: „E’ a vulgar cantilena dos sonhadores de reformas para o irreformavel; é o grito de guerra que repetem os arautos do chamado velho catholicismo ou neoprotestantismo: duas palavras que dizem a mesma cousa “ Siehe ebd , 58 Frei aus dem Portugiesischen übersetzt Im Original: „Se a Igreja é divina, se a Igreja é perdurável até o fim dos tempos, como explicar tantos vícios e achaques que a deturpam, que promettem derribal-a?“ Siehe ebd , 59 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 66 Siehe ebd , 73 Siehe NDB 7 (1966), s v „Hartmann, Karl Robert Eduard von“ [Onlinefassung], abrufbar unter http://www deutsche-biographie de/pnd118546252 html, letzter Zugriff am 4 10 2016

5 7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel

131

testantismo döllingeriano)156 und zitiert folgende Aussage des deutschen Philosophen: „Wohl selten war die Welt Zeuge eines wahren Schauspiels, als der gegenwärtigen Bewegung der gebildeten Katholiken gegen die Unfehlbarkeit “157 Hartmann bildete das Bindeglied zwischen Barreto und Haeckel, denn durch sein Werk lernte Barreto den Namen des Zoologen aus Jena kennen 5.7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel Die Analyse von Barretos Lesequellen zeigt, dass er sowohl auf Hartmann als auch auf Bluntschli über die deutschsprachigen Zeitschriften Magazin für die Literatur des Auslandes und Die Gegenwart stieß In der Ausgabe aus dem Jahr 1873 der Gegenwart, die Barreto am häufigsten in seinen Schriften jener Jahre zitiert, wird oft über Hartmann berichtet Ein Beispiel ist die Ausgabe vom 22 Februar, in der Hartmann folgendermaßen erwähnt wird: „Alle die großen Religionsschöpfer bis zu unseren neuesten Philosophen Schopenhauer und v Hartmann haben die Unerlässlichkeit dieses menschlichen Mitgefühls [das Mitleid] […] nachgewiesen “158 Wie so oft wurde er auch hier zusammen mit dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1869) zitiert – eine Vorgehensweise, die sich auch Barreto aneignete Das Magazin erwähnt Barreto erstmalig in seinem bereits analysierten Artikel der Jahre 1871–1873 (Uma excursão de dilettante pelo o dominio da sciencia biblica) 159 Dort bezieht er sich zunächst auf dessen erste Ausgabe vom 4 Januar 1873, in der Hartmann zusammen mit anderen berühmten deutschen Philosophen wie etwa Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer in einem „Rückblick auf die englische Literatur des vorigen Jahres“ erwähnt wird: „Die strenge Philosophie Deutschlands, sonst den Engländern meist unzugänglich, hat in dem dreibändigen Kant for English Readers vom Dubliner Universitäts-Professor Mahaffh einen tüchtigen Lehrer und Dolmetscher gefunden Nun fehlen freilich noch Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer und Hartmann und, wie bei uns, deren Nach- und Verfolger “160

Hartmann wird in dieser Ausgabe zusammen mit den „Großen“ der deutschen Philosophie vorgestellt, was für seine damalige Popularität in Deutschland spricht 161 Barre156 157 158 159 160 161

Siehe Barreto, „A Herculano“, 74 Hier zitiert Barreto Hartmann auf Deutsch aus der Gegenwart Siehe Barreto, „A Herculano“, 73 Siehe Magazin (22 2 1873(, 119 Barreto, „Uma excursão de dilettante“, 121–149 Siehe ebd (4 1 1873), 9 In der NDB z B wird über die erste Publikation der „Philosophie des Unbewussten“ Folgendes behauptet: „Ihr Erscheinen im November 1868 machte ihn über Nacht bekannt und erregte großes Aufsehen Nicht zuletzt wegen der heftigen Auseinandersetzungen um den darin vertretenen

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5 Barretos Rezeption deutschsprachiger Autoren

to wusste demnach von diesem Autor sehr wahrscheinlich durch seine Lektüren des Magazins Er beschrieb Hartmann als den berühmten „Militär-Philosophen“ (militar filósofo) 162 Tatsächlich trat der 1842 geborene Berliner 1858 in das Garde-ArtillerieRegiment ein, schied aber als Premierleutnant 1865 nach einer Verletzung aus Danach widmete er sich mehr und mehr der philosophischen Reflektion und befasste sich insbesondere mit den Werken Schopenhauers, Hegels und Schellings 1868 erschien sein Buch Philosophie des Unbewussten, das ihn über Nacht bekannt werden ließ Er wurde kurzzeitig richtiggehend populär, lehnte aber Professuren in Leipzig, Göttingen und Berlin ab Hartmann widmete sich vor allem Fragen der Psychologie und ihrer Verbindung mit der Philosophie und gilt als Vertreter eines Transzendentalen Realismus 163 Auch wird er häufig mit Monismus und Pantheismus in Verbindung gebracht 164 In dem vorletzten Essay in Barretos erstem Buch (Ensaios e Estudos) mit dem Titel „Die Muse des Glücks“ (A Musa da Felicidade)165 zitiert Barreto die sechste Auflage (1876) von Hartmanns Philosophie des Unbewussten 166 Noch in der ersten Auflage dieses Bandes, ursprünglich im Jahr 1874 veröffentlicht,167 erwähnt Hartmann kein einziges Mal den Jenaer Zoologen Ernst Haeckel, der damals schon relativ berühmt war 168 In der sechsten Auflage hingegen, die Barreto vorlag, wird der Name Haeckels bereits in der Einleitung mehrmals genannt – Haeckel und Hartmann hatten ab Oktober 1874 Briefkontakt aufgenommen 169 Dort positionierte sich Letzterer gegenüber Haeckels Theorie und distanzierte sich von dessen mechanistischem Monismus Insofern vertrat Hartmann eine Art „philosophischen Monismus“, wie Barreto dies nennen würde 170

162 163 164 165

166 167 168 169 170

Pessimismus, den H s erste Frau in zwei unter ihrem Mädchennamen veröffentlichten Schriften verteidigte, erlebte dieses Jugendwerk innerhalb von zehn Jahren acht Auflagen Angebotene Professuren in Leipzig, Göttingen und Berlin schlug er aus, teils um seine geistige Unabhängigkeit zu wahren, teils wegen seines Knieleidens, das ihn nach einem neuen Sturz und drei vergeblichen Operationen zwang, nur noch liegend zu arbeiten “ Siehe NDB 7 (1966), s v „Hartmann, Karl Robert Eduard von“ Siehe Barreto, „Sobre a Filosofia do Incosciente“, 194 Siehe NDB 7 (1966), s v „Hartmann, Karl Robert Eduard von“ Siehe etwa Robert Wirth, Ueber Monismus (Pantheismus) mit Berücksichtigung der ‚Philosophie des Unbewussten‘ (Plauen: F E Neupert, 1874), 1–2 Dieser Text wurde im November 1874 verfasst und handelt hauptsächlich von dem Prosatext Die Muse des Glücks des österreichischen Dichters Heinrich Landesmann (1821–1902) Siehe Barreto, „A Musa da felicidade“, in: Ensaios e estudos, 177–181 Dies beweist ebenso, dass Barreto sich nicht nur für deutsche Autoren, sondern allgemein für die deutschsprachige Kultur interessierte Siehe Barreto, ebd , 179 Siehe NDB 7 (1966), s v „Hartmann, Karl Robert Eduard von“ Siehe Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten Versuch einer Weltanschauung (Berlin: Carl Duncker, 1869) Die Korrespondenz zwischen den beiden umfasst 9 Briefe zwischen Oktober 1874 und Oktober 1876 Siehe Uwe Hoßfeld und Olaf Breidbach, Haeckel-Korrespondenz: Übersicht über den Briefbestand des Ernst Haeckel-Archivs (Berlin: VWB, 2005), 299 Barreto spricht von einem „naturalistischen Monismus“ (monismo naturalístico) Haeckels und einem „philosophischen Monismus“ (monismo filosófico) Hartmanns Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 319

5 7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel

133

In dieser ersten Abhandlung über Hartmanns Buch erwähnt Barreto den Berliner Philosophen immer in Verbindung mit Arthur Schopenhauer, wie er es auch im Magazin handhabte 171 Barreto betrachtete Hartmanns Philosophie als „eine Evolution von Schopenhauers Ansätzen“ (uma evolução do schopenhauerismo),172 hier wieder eine ähnliche Auffassung wie er sie schon im Magazin vertreten hatte Barreto unterstützte Haeckels Ansicht in Bezug auf die noch verbliebenen metaphysischen Anleihen in Hartmanns Philosophie Laut Barreto hielt Hartmanns Philosophie in dieser Hinsicht keiner rigorosen Analyse stand 173 Im Gegensatz zu den üblichen Kritikern Hartmanns, schätzte ihn Barreto allerdings für seinen umfassenden Pessimismus gegenüber metaphysischen Illusionen und für sein „tugendhaftens Verhalten“ (virtude) 174 Hartmann ist es also zu verdanken, dass Barreto auf Haeckel aufmerksam wurde Von nun an sollte er sich in seinen Texten immer mehr an Haeckels monistische Grundsätze anlehnen und immer wieder auf die Ideen des Zoologen in seinen Auseinandersetzungen zurückgreifen 175

171 172 173 174 175

Siehe Barreto, „Sobre a Filosofia do Inconsciente“, 193 Siehe ebd Im Original: „Bem fundada me parece, neste sentido, a opinião de Haeckel, que por sua vez adota a de um certo crítico anônimo da Filosofia do Incosciente; como todo, como sistema metafísico, o trabalho de Hartmann não se sustenta em frente de uma análise rigorosa “ Siehe ebd , 194–195 Ebd , 195 Später (1887) sollte sich Barreto wieder einigen Ansätzen Hartmanns annähern, um damit Haeckels mechanistische Ansichten zu relativieren Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 320

6 Barretos Haeckel-Rezeption Es liegt nahe, dass Barreto dem Namen Haeckel zum ersten Mal anlässlich seiner Lektüren der Revue des Deux Mondes Ende der 1860er Jahre begegnete Als erster Inhaber eines Zoologielehrstuhls in Jena wurde er damals häufig in naturwissenschaftlichen Diskussionen der Zeitschrift erwähnt Das Thema der Evolutionstheorie wurde in jenen Jahren intensiv debattiert, was sich auch in den Ausgaben der Revue des Deux Mondes niederschlug Als Beleg dafür lässt sich eine spätere Bemerkung Barretos aus dem Jahr 1884 über den Begriff „Evolutionist“ (évolutionniste) anführen So behauptete er, der Ausdruck sei zum ersten Mal in französischer Sprache in der Revue des Deux Mondes von 1 Januar 1869 gebraucht worden 1 Daraus kann geschlossen werden, dass er die von ihr dort behandelten Autoren und Themen in jenen Jahren aufmerksam verfolgte Überdies wurde Haeckel schon seit Jahren als bekannter Vertreter von Darwins Evolutionslehre in der Öffentlichkeit wahrgenommen 2 So wird er zum Beispiel in der Ausgabe von März/April 1869 in einem Artikel des französischen Naturalisten Quatrefages als ein „naturaliste allemand bien connu par de nombreuses recherches et d’importants publications“ erwähnt 3 Barreto kannte diese Ausgabe, in der auch die Auseinandersetzungen zwischen dem Philosophen Vacherot und dem Priester Gratry zu lesen waren Außerdem dürfte Haeckel zumindest seit der Veröffentlichung seines Buches Natürliche Schöpfungsgeschichte im Jahr 1868 einem breiteren Publikum bekannt gewesen sein 4 Allerdings begann Barreto erst nach einem intensiveren Studium der deutschen Sprache ab 1870 und durch seine Begegnung mit dem Philosophen Eduard von Hartmann, sich mit Haeckels Ideen sorgfältig zu beschäftigen Haeckels monistische Weltauffassung sollte ihn begeistern und ihn lebenslang prägen Sie diente ihm vor allem

1 2 3 4

Siehe Barreto, „Notas a Lápis sobre a Evolução Emocional e Mental do Homem“, in: Estudos de filosofia, 293 Dazu Weikart, „Origins“; Robert J Richards, The Tragic Sense of Life: Ernst Haeckel and the Struggle over Evolutionary Thought (Chicago: University Press, 2008), und Breidbach, „Haeckel-Rezeption“ Quatrefages, „Histoire Naturelle Générale“, 660 Erika Krauße, Ernst Haeckel (Leipzig: BSB Teubner, 1987), 2 erg Auflage, 79

6 Barretos Haeckel-Rezeption

135

als Basis für einen wissenschaftlichen Aufbau des Rechts (von Theologie, Naturrecht und Pandektismus befreit) und sollte ihm, zusammen mit Jherings rechtstheoretischen Ansätzen, bei der Entwicklung einer neuen Rechtskultur mit wissenschaftlichen Grundlagen in Brasilien helfen In seinem Essay über Hartmanns Buch Philosophie des Unbewussten erwähnt Barreto 1874 Haeckels Namen5 erstmalig und zitiert im gleichen Artikel auch den Philosophen Schopenhauer 6 In einer Fußnote zum Text bemerkt Sílvio Romero, dass damals weder Schopenhauer noch Hartmann ins Französische oder Portugiesische übersetzt waren Das Repertoire deutschsprachiger Autoren, das Barreto damals einführte, war demnach ein Novum in Brasilien 7 Das Gleiche gilt für Haeckel, der erst 1877 eine Übersetzung ins Französische erfuhr 8 Dies bedeutete, dass Barreto zu dieser Zeit die deutsche Sprache bereits gut beherrschte, sodass er solche Autoren lesen und verstehen sowie ihre Ideen vermitteln konnte – und all dies ohne jene „Krücken“, wie er selbst behauptete, also ohne die Hilfe eines Kommentars oder einer französischen Übersetzung 9 Das macht die Besonderheit seiner Rezeption aus: Das Studium der deutschen Sprache, das es ihm ermöglichte, die Autoren in ihrer Originalsprache zu lesen Dies eröffnete Barreto einen anderen Zugang zu den jeweiligen Debatten und insgesamt zu einem besseren Verständnis des deutschen kulturpolitischen Kontextes Hinzu kommt, dass die in Brasilien herrschende französische Kulturmediation keineswegs unpolitisch war, denn sie trug die Zeichen des Kolonialerbes und einer katholisch-thomistischen Tradition der Jesuiten in den Hochschulstudien Barretos Text, in dem er Haeckels Namen erstmals zitiert (Sobre a Filosofia do Inconsciente), erschien am 31 Oktober 1874 in seiner selbstgedruckten Zeitschrift Um Signal dos Tempos 10 Allein die Existenz seiner auf Deutsch verfassten Zeitschrift betont Barretos weit fortgeschrittene deutsche Sprachkenntnisse Er konnte bereits nach nur vier Jahren ohne jegliche pädagogische Unterstützung einwandfrei und nahezu fehlerlos auf Deutsch schreiben Viele seiner Kritiker, die als Ziel die Herabwürdigung von Barretos Initiativen vor Augen hatten, meinten, er sei der einzige Leser seiner eigenen Publikationen auf Deutsch in der kleine Dorfgemeinde Escada gewesen 11 Es mag richtig sein, dass seine Schriften nur eine äußerst geringe Leserschaft fanden, dennoch darf die kulturpolitische Bedeutung solcher Initiativen für Barretos intellektuelle Laufbahn nicht unterschätzt werden Denn durch sie gelangte Barreto in Kontakt mit weiteren deutschsprachigen Zirkeln, zunächst in Pernambuco, bald aber auch in weiteren Regionen Brasiliens Sein Ruf als Vertreter des „Germanismus“ oder auch als Vermittler 5 6 7 8 9 10 11

Barreto, „Sobre a Filosofia do Incosciente“, 192–195 Ebd , 193 Siehe ebd , 195 Fn M Ebd , 192 Fn 1 Barreto, „Carta ao Redator“, 53 Barreto, „Sobre a Filosofia do Incosciente“,192 Fn 1 Siehe Veríssimo, História da literatura, 236

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

der deutschsprachigen Kultur im Nordosten verbreitete sich, großteils dank solcher Blätter, die er selbst in Escada auf Deutsch veröffentlichte Sie waren für eine deutschsprachige Leserschaft bestimmt, und er wurde von einem größeren Publikum wahrgenommen, selbst in Deutschland So konnte Barreto seinen Kreis deutschsprachiger Kontakte in Brasilien ausbauen Diese Ausweitung erwies sich für die Vermittlung seiner Ideen als bedeutsam Er schickte nämlich seine in Escada gedruckte kleine Zeitschrift an eine deutschsprachige Zeitung in Rio de Janeiro – die Allgemeine Deutsche Zeitung – und konnte damit eine neue Leserschaft für seine Ideen gewinnen Ein gutes Beispiel dafür ist der deutsch-brasilianische Journalist Karl von Koseritz Er war von Barretos Ideen so begeistert, dass er zu seinem wichtigsten Vermittler im Süden wurde Später bekannte sich Koseritz eindeutig zum Monismus Haeckel’scher Prägung und nahm sogar Kontakt zu dem Jenaer Professor auf 12 Durch die Vermittlung von Koseritz erfuhr auch Haeckel von Barretos Rezeption seiner Ideen im Nordosten Brasiliens Barretos Erwähnung von Haeckel war höchstwahrscheinlich der erste Auftritt des deutschen Zoologen (basierend auf deutschsprachigen Quellen) in einem für die breitere Öffentlichkeit gedachten Medium in Brasilien Zu betonen gilt auch, dass diese Aussage keineswegs die Tatsache ausschließt, dass er schon vorher in engen Naturforscherkreisen mit meistens europäischem Hintergrund in Brasilien längst bekannt war Das gilt vor allem für den Naturforscher deutscher Herkunft Fritz Müller, der seit 1865 im Süden des Landes Briefverkehr mit Haeckel pflegte 13 6.1 Ernst Haeckel und der Monismus Eine Gemeinsamkeit zwischen Rudolf von Jhering und Ernst Haeckel, deren Rezeption in Brasilien durch Barreto und Romero Gegenstand dieser Recherche ist – besteht darin, dass beide Bahnbrechendes in ihren jeweiligen Fachbereichen leisteten und in ihnen neue Wege aufzeigten 14 Deswegen erfuhren ihre Theorien auch teilweise widersprüchliche Rezeptionen und unterschiedliche Deutungen Die Rechtssoziologie Jherings soll ausführlicher im kommenden Kapitel behandelt werden, das die Rezeption seines Werks durch Barreto zum Gegenstand der Analyse haben wird

12 13 14

Guilhermino Cesar, História da Literatura do Rio Grande do Sul (Rio de Janeiro: Globo, 1956), 252–255 Ab nun zit als História Siehe Hoßfeld und Breidbach, Haeckel-Korrespondenz, 452 Eine detaillierte biographische Darstellung beider Autoren würde den Rahmen dieses Buches sprengen, daher sei hier verwiesen auf folgende Literatur über Haeckel hingewiesen: Krauße, Ernst Haeckel; Mario A Di Gregorio, From Here to Eternity – Ernst Haeckel and Scientific Faith (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2005); Richards, The Tragic Sense of Life, und Hoßfeld, Absolute Ernst Haeckel

6 1 Ernst Haeckel und der Monismus

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In seinem 1866 veröffentlichten Werk Generelle Morphologie der Organismen versuchte Haeckel die Biologie gemäß seiner eigenen Auffassung der darwinistischen Ansätze neu aufzustellen „Die Morphologie“ kann als „das eigentliche Hauptwerk Haeckels angesehen werden, denn es enthält bereits alle seine Grundgedanken zur Evolutionstheorie, welche er später in weiteren Arbeiten ausbaute“ 15 Weiterhin formulierte Haeckel in diesem Werk eine über Darwin hinausgehende Hypothese über die Entstehung des Lebens auf der Erde, die er dann in seiner 1868 veröffentlichten Natürlichen Schöpfungsgeschichte erweiterte 16 Dieses Buch prägte Barretos Rezeption von Haeckels Monismus deutlich, wie seine Zitate des deutschen Zoologen zeigen Haeckels Ansatz und seine Forderungen nach einer mechanisch-kausalen Betrachtung der Natur ließen ihn zum Helden der Gegner katholischer und klerikaler Auffassungen werden 17 Sein Biograph Robert J Richards beschrieb ihn zum Beispiel als „embodiement of the Anti-Christ“ in Zeiten von Bismarcks Kulturkampf gegen die katholische Kirche von Pius IX 18 Haeckels Ideen erlangten damals großen Publikumserfolg, allerdings erst durch die Veröffentlichung der Natürlichen Schöpfungsgeschichte 1868 Das Buch erfuhr 1877 seine erste Übersetzung ins Französische durch Charles Retournau (1831–1902) und wurde mit einer biographischen Einleitung durch Charles Martins (1806–1889) versehen, der Professor für Naturgeschichte an der Universität von Montpellier war 19 Dabei handelte es sich um eine populärwissenschaftliche Darstellung seiner Grundideen, die Haeckel bereits in seiner vorangegangenen Monographie vorgelegt hatte Dieses Werk machte Haeckel weltberühmt und wurde in viele Sprachen übersetzt 20 Barreto zitierte in Brasilien die fünfte erweiterte deutsche Auflage von 1874 21 Haeckel hatte immer den Anspruch, mehr als rein wissenschaftliche Arbeiten zu leisten und beabsichtigte tatsächlich eine Weltanschauung zu begründen, die auf den Lehren der Evolutionstheorie basierte: „Er wird einige Jahre später hierin explizit, als er in seiner kleinen Schrift zum Monismus eine dezidiert anti-klerikale Position einnimmt und diese eben mit Verweis auf eine neue, an die Evolutionsbiologie angelehnte Weltanschauung begründet “22 Diese weltanschauliche Position Haeckels wurde

15 16 17 18 19 20 21

22

Siehe Erika Krauße und Rosemarie Nöthlich, Museum Ernst-Haeckel-Haus der Friedrich-SchillerUniversität Jena (Braunschweig: Westermann, 1990), 46 Krauße und Nöthlich, Ernst-Haeckel-Haus, 49–59 Breidbach, „Haeckel-Rezeption“, 431 Richards, The Tragic Sense of Life, 371–372 Siehe Ernst Haeckel, Histoire de la création des êtres organisé d’aprés les lois naturelles: conférences scientifiques sur la doctrine de l’évolution en général et celle de Darwin, Goethe et Lamarck en particulier, übers von Ch Letourneau (Paris: C Reinwald, 1877), 2 Auflage Krauße und Nöthlich, Ernst-Haeckel-Haus, 59 Siehe Barreto, „O Haeckelismo na Zoologia“, in: Estudos Alemães, 8 Siehe auch Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte: Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicklungslehre im Allmeinen und diejenigen von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen (Berlin: Georg Reimer, 1874), 5 verb Auflage Breidbach, „Haeckel-Rezeption“, 431

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

in vielen Ländern als „argumentative Waffe gegen die klerikale Ordnungsmacht genutzt“23 und so wurde auch Barreto stark davon angezogen Der Jenaer Professor erklärte den „Monismus“24 im vierten Teil seines Werks Welträtsel als ein „Band zwischen Religion und Wissenschaft“ 25 Der von ihm 1866 entworfene Monismus gründete auf einem Konzept der „Einheit der Natur“, wonach sowohl das Anorganische als auch das Organische durch ein „allgemeingültiges Kausalgesetz“ beherrscht wird 26 Damit verstand Haeckel die Wissenschaft als „Ganzes“ und machte in der Generellen Morphologie die klassische Aussage: „Alle wahre Wissenschaft […] ist Naturphilosophie“ 27 Laut dieser Auffassung bilden alle Wissenschaften eine „Einheit“, so wie Geist und Materie, Kraft und Stoff 28 Diese Ansicht vertrat er den klerikalen Fraktionen sowie anderen Wissenschaftlern gegenüber und schaffte dadurch zahlreiche politische Konflikte Die Verbreitung seiner monistischen Sicht in Schriften und durch akademische Tätigkeiten reichte Haeckel jedoch nicht, er wollte diese auch institutionalisieren Mit diesem Ziel im Blick gründete er nach einem gescheiterten Versuch 1904 beim Internationalen Friedenskongress in Rom am 11 Januar 1906 im Zoologischen Institut in Jena endlich den „Deutschen Monistenbund“ 29 Neben Haeckel nahmen an dieser Initiative Schüler und Freunde, wie etwa Wilhelm Bölsche (1861–1939), Wilhelm Breitenbach (1856–1937) und Heinrich Schmidt (1874–1935), teil Die Verbreitung des monistischen Gedankenguts sollte durch die Zeitschrift Blätter des Deutschen Monistenbundes geschehen Der Monistenbund rief viel Kritik hervor und führte sogar zur Gründung einer Gegenorganisation, dem evangelisch orientierten Keplerbund (1907) 30 Um der Wirksamkeit des Bundes der Monisten Aufschwung zu verleihen, wurde der angesehe23 24

25 26 27 28 29 30

Ebd Zum Begriff „Monismus“ ist Folgendes zu bemerken: „Monismus […] ist die in der Regel sehr allgemeine Bezeichnung für eine Weltanschauung bzw Weltdeutung, die im Unterschied zum Dualismus oder Pluralismus als Grund der Wirklichkeit nur ein einziges absolutes Prinzip annimmt und die Welt in allen ihren Erscheinungsformen als eine einheitliche Größe zu begreifen versucht […] Im letzten Drittel des 19 Jh erhielt der Begriff Monismus im Zusammenhang mit der Rezeption der Evolutionslehre Ch Darwins in Deutschland einen neuen und besonderen Bedeutungsinhalt, der zu einer enormen Popularisierung des Wortes führte […] Nach dem Ersten Weltkrieg hat der Begriff Monismus nur noch im Umfeld des Deutschen Monistenbundes und bei einigen freireligiösen Gemeinschaften als popularphilosophie, religiös-weltanschauliche Formel Verwendung gefunden “ Siehe dazu TRO (1994), s v „Monismus/Monistenbund“, Bd   23, 212–219, abrufbar unter Gruyter Online, via Universitätsbibliothek der LMU München unter https://wwwdegruyter-com emedien ub uni-muenchen de/view/TRE/TRE 23_212_1?pi=0&moduleId= common-word-wheel&dbJumpTo=Monismus, letzter Zugriff am 5 10 2016 Krauße und Nöthlich, Ernst-Haeckel-Haus, 93 Siehe NDB 7 (1966), s v „Haeckel, Ernst“ [Onlinefassung], abrufbar unter https://www deutschebiographie de/gnd118544381 html#ndbcontent, letzter Zugriff am 5 10 2016 Ebd Ebd Krauße und Nöthlich, Ernst-Haeckel-Haus, 96 Krauße und Nöthlich, Ernst-Haeckel-Haus, 96–100

6 2 „Der Haeckelismus in der Zoologie“

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ne Leipziger Physiker, Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) 1911 zum Vorsitzenden gewählt Unter seiner Leitung fand im September 1911 in Hamburg der erste Internationale Monistenbund-Kongress statt Zu diesem Anlass wurde eine neue Zeitschrift – Monisten Jahrhundert – ins Leben gerufen Ein „Komitee Konfessionslos“ unterstrich die antiklerikale Auffassung des Bundes 31 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs geriet allerdings der Aufschwung der von Haeckel und Ostwald angeführten monistischen Bewegung ins Wanken Die antiklerikale Bewegung, mit der die Initiative verbunden war, sah sich durch die kirchliche Offensive nach der Jahrhundertwende – mit der „Katholischen Aktion“ und der „neothomistischen Reaktion“ der Kirche – deutlich geschwächt Auch ständige Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung selbst führten schließlich zur Distanzierung Haeckels und zum Rücktritt Ostwalds 32 Viele Autoren betrachten Haeckel als Vorreiter des Sozialdarwinismus, der gegen Ende des 19  Jahrhunderts auch in Deutschland populär wurde 33 Anders als Darwin, der zunächst zögerte, seine Feststellungen auf die Gesellschaft zu übertragen, zögerte Haeckel nicht, den „Kampf ums Dasein“ auf das menschliche Leben auszudehnen 34 Er prägte durch seine Ansätze das Fach der Zoologie im 19  Jahrhundert maßgeblich Sein Werk hatte großen Erfolg und wurde in viele Sprachen übersetzt Unangefochten gilt er als Darwins Vermittler in Deutschland, auch wenn er sich mit seiner monistischen Weltanschauung vom britischen Forscher unterschied Mit dem englischen Naturforscher blieb er durch einen langjährigen Briefwechsel verbunden, der bis zum Tod Darwins andauerte Weiterhin führte er zahlreiche Korrespondenzen mit brasilianischen und in Brasilien angesiedelten deutschsprachigen Forschern 35 Haeckel starb am 9  August 1919 in seiner Villa in Jena Er wurde 85 Jahre alt 6.2 „Der Haeckelismus in der Zoologie“ „Der Haeckelismus in der Zoologie“ hieß Barretos Schrift, in der er sich zum ersten Mal ausführlicher mit den Ideen Ernst Haeckels auseinandersetzte Sie erschien ursprünglich in seiner in Escada veröffentlichten deutschsprachigen Zeitschrift Estudos Alemães („Deutsche Studien“), jeweils in den Ausgaben vom 1 Oktober und vom 2 November 31 32 33 34

35

Ebd , 102 Ebd Weikart, „Origins“, 480 Ebd , 473–780 Weil er sich dem Feudalismus, der Religion und der Theologie widersetzte und für ein laissez-faire stand, war der Sozialdarwinismus eine Ideologie von liberal-radikalen Kräften, die in den 1860er und 1870er Jahren folgendermaßen beschrieben wurde: „Laissez faire was considered a progressive doctrine, not reactionary, as many modern scholars writing in Social Darwinisms imply“ Siehe ebd , 474 Siehe dazu Hoßfeld und Breidbach, Haeckel-Korrespondenz

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

1880 Später war sie Gegenstand einer Buchpublikation seiner gleichnamigen Essaysammlung Estudos Alemães von 1883 36 Barreto bezog sich bereits ab 1874 ständig auf die Ideen Haeckels, und „Der Haeckelismus in der Zoologie“ war zusammen mit seinen späteren „Bleistiftnotizen über die emotionale und mentale Evolution des Menschen“ (Notas a Lápis sobre a Evolução Emocional e Mental do Homem, von 1884) repräsentativ für seine Rezeption der Evolutionstheorie bzw Haeckels Monismus 37 Deswegen soll diese erste Schrift über Haeckel im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen Barreto griff bei verschiedenen Anlässen – sei es in Artikeln oder Büchern, bei Vorlesungen oder Reden – ab 1874 immer wieder auf Haeckels Ideen zurück Dies wird sowohl in seinen juristischen Texten als auch in seinen politischen Reden als Regional-Abgeordneter in Recife Ende der 1870er Jahre deutlich Typisch für seine Haeckel-Rezeption sind seine scharfen Polemiken gegen die Artikel klerikaler Gruppen im Jahr 1883, die in dem katholischen Blatt A Civilização abgedruckt waren Durch diese Auseinandersetzung entstanden viele wertvolle Schriften Barretos, in denen er sich mit der deutschen Literatur und Kultur befasste und diese auch vermittelte Der Name Haeckel taucht darin immer wieder als Unterstützung für Barretos Argumente gegen die theologisch-thomistischen Auffassungen solcher reliösen Gruppierungen auf Barretos Kontrahenten warfen ihm „antikatholische Positionen“ (manifestações anticatólicas) bei seinen Angriffen vor 38 Diese Debatten sind ein gutes Beispiel für Barretos antiklerikale Haltung wie auch für seine Aneignung von Haeckels Monismus Spätestens zu diesem Anlass Anfang der 1880er Jahre – die Diskussion stieß auf breites mediales Interesse in Recife – wurde Barreto als antireligiöser, antitheologischer und antithomistischer „Ritter“ in der brasilianischen (Rechts)Kultur wahrgenommen 39 Die Rechtsthematik beschäftigte Barreto ab 1881 immer mehr Zu dieser Zeit bereitete er sich auf die Rückkehr nach Recife und zugleich auf die Ausschreibung an der Rechtsfakultät von Recife vor, die im kommenden Jahr stattfinden sollte 40 Aus dieser Periode stammen, wie oben bereits dargelegt, wichtige Studien, in denen er die Grundlagen seines Rechtsdenkens erarbeitete, wie etwa „Über eine neue Intuition des Rechts“ (Sobre uma nova intuição do Direito) und „Einige Gedanken über das sogenannte Recht auf Bestrafung“ (Algumas Ideias sobre o Chamado Direito de Punir), beide von 1881 41 Darin distanzierte sich Barreto klar von der theologisch-thomistischen Auffassung von Verbrechen als „moralischer Krankheit“, von Strafe als einer Art „Opfergabe“ 36 37 38 39 40 41

Barreto, „O Haeckelismo“, 77–99 Barreto, „Notas a Lápis“, 292–308 Barreto, „Polêmica com A Civilização“, in: Crítica de religião, 179 Ebd , 178–320 Siehe ders , Estudos de filosofia, 228 Fn U Der erste Essay kam als Nachwort zur 2 Auflage seines Buches über Strafrecht – Menores e Loucos, in dem er seine strafrechtlichen Auffassungen darstellte, heraus, der zweite Essay fand Eingang in die letzte zu seinen Lebzeiten veröffentlichte Sammlung Questões Vigentes de Philosophia e de Direito von 1888 Siehe Barreto, Estudos de filosofia, 228, Fn U

6 3 Die Kritik an Karl Semper

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und „Medizin“ dagegen Allerdings kritisierte er ebenso die neuen Richtungen der italienischen positivistischen strafrechtlichen Schule von Cesare Lombroso (1835–1909) mit ihrer Vorstellung von Straftat als Ergebnis vererbter biologischer Faktoren Solche Theorien passten mit eugenischen Ansätzen gut zusammen und fanden in Brasilien begeisterte Aufnahme um die Jahrhundertwende 42 Barreto hingegen versuchte Straftat und Kriminologie auf soziokulturelle Wurzeln zurückzuführen In dieser Hinsicht verstand er die Strafe im Sinne von Jherings Rechtssoziologie,43 also als Wiedergutmachung für die verursachten Schäden an der Gesellschaft 44 Durch Barreto wurde eine Straftat zum ersten Mal in Brasilien weder als religiös-moralischer Fehler betrachtet noch als Resultat von Vererbung, sondern sie bekam eine juristische Untermauerung Aus diesem Grund kann Barreto als Vater einer wissenschaftlichen strafrechtlichen Auffassung in Brasilien bezeichnet werden 45 Seine Aufnahme der juristischen Ansätze Jherings sowie Haeckels Evolutionismus spielten dabei eine grundlegende Rolle 6.3 Die Kritik an Karl Semper In seinem Artikel über den „Haeckelismus“46 beruft sich Barreto auf Haeckel als den „weisen Professor von der Universität Jena“ (o sábio professor de Jena) 47 Der beste Weg, ihn zu würdigen, sei, seine Werke grundlegend zu studieren und sich damit in seinen lebendigen und aufklärenden Geist einzulesen Genau das tat sein Anhänger in dieser kämpferischen Werbeschrift für Haeckels Ansichten in den Naturwissenschaften bzw in der Zoologie Zunächst wird der Jenaer Professor zusammen mit einer Reihe anderer deutschsprachiger Autoren, wie dem Theologen David Strauss und dem Philosophen Hartmann zitiert 48 Diese Aufzählung – genau in dieser Reihenfolge – bestätigt wieder Barretos bereits analysierten intellektuellen Weg bezüglich Haeckels Ideen: zunächst durch die historische Religionskritik Strauss und dann durch den philosophischen Monismus Hartmanns

42 43 44 45

46 47 48

Beviláqua, Juristas, 126–127 Siehe nächstes Kapitel Siehe Barreto, „Algumas Ideias“, in: Menores e Loucos Über die Bedeutung der von Barreto gelegten Ansätze für die strafrechtliche Theorie in Brasilien, behauptete Beviláqua Folgendes: „Deswegen denke ich, hätte Barreto uns einfach dieses kleine Buch [Unmündige und Wahnsinnige] hinterlassen, es wäre ihm trotzdem eine ehrenvolle Position in der einheimischen Literatur sicher gewesen“ Im Original: „Penso, por isso, que, si de Tobias Barreto não nos restasse mais do que esse pequeno livro, tam fortemente pensado e tam artisticamente feito, ainda assim, estava ganha para elle uma vantajosa posição na litteratura pátria “ Beviláqua, História, 371 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Dieser Begriff entstand als Kritik Sempers an Haeckels Einsichten in die Zoologie Siehe Barreto, „O Haeckelismo“, 80–81 Ebd , 78 Ebd

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

In seinem Essay „O Haeckelismo“ bezieht Barreto Stellung für Haeckel in Bezug auf die Kritiken des Würzburger Professors für Zoologie und Anatomie, Karl Semper, in dessen gleichnamigen Buch Haeckelismus in der Zoologie von 1876 In der Folge verteidigte Barreto Haeckels Positionen gegen die Kritiken der sogenannten empirischen Schule (escola empírica) oder der „empiristischen Naturalisten“ (naturalistas empíricos) wie Carl Claus (1835–1899), Alexandre Agassiz (1835–1910), Elias Metschnkoff (1845–1916) und weitere wie Alexander Götte (1840–1922), Wilhelm His (1831–1904), Friedrich Michelis (1815–1886), Adolf Bastian (1826–1905) und Julius Wigand (1821– 1886) 49 Semper äußerte seine Vorstellungen, so notierte Barreto, in einer Konferenz in Hamburg in den 1870er Jahren Damals wurde Haeckel von diesen Autoren ein „naturphilosophischer“ Ansatz in der Zoologie vorgeworfen 50 An dieser Stelle gibt Barreto Haeckels Werk Ziele und Wege der heutigen Entwicklungsgeschichte von 1875 als Untermauerung seiner Argumente an 51 Den Kritiken an Haeckel und Darwin zufolge überschritten beide Naturforscher den Rahmen der „reinen“ wissenschaftlichen Beobachtungen mit ihren Thesen, als sie über die historische Entwicklung der Evolution der Wesen berichteten Solche Ansichten waren laut ihren Kritikern nicht durch rein wissenschaftliche Beobachtungen begründet und bewegten sich folglich im Bereich purer Spekulation Damit wurde vor allem die Idee der Abstammung des Menschen vom Affen infrage gestellt52 – einer der kardinalen Punkte in Darwins Deszendenztheorie Die These vom Menschen als von Affen stammend gilt als elementarer Widerspruch zur religiösen Vorstellung im Buch Genesis und wurde deswegen von Antiklerikalen wie etwa Haeckel mit aller Radikalität aufgenommen und verbreitet Nicht ohne Grund widmete Karl Marx (1818–1883) Darwin mit seiner Idee einer naturhistorischen Entwicklung der Wesen sein Meisterwerk Das Kapital über die von jeglichen theologischen Ansätzen befreite Entwicklung der Kapitalakkumulation und ihrer soziopolitischen Mechanismen 53 Die gleichen Motive steckten hinter Barretos begeisterter Aufnahme von Haeckels monistischen Ansichten im Hinblick auf den Aufbau einer Rechtstheorie auf wissenschaftlicher Basis: Kritik an der thomistischen Metaphysik und am religiös-katholischen Weltbild Dass Barretos Kritik sowohl an die scholastische Theologie als auch an die kurien-skeptischen Katholiken (Antiultramontanen/Jansenisten/Altkatholiken) gerichtet war, belegen seine Erwähnungen von Haeckels Kritiker, dem katholischen Priester Friedrich Michelis, in seinem Buch Haeckelogonie – Ein akademischer Protest gegen Haeckels Anthropogenie von 1875 Michelis war ebenso ein bekannter Widersacher von

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Ebd , 79–81 Ebd , 81 Ebd Ebd , 85–89 Siehe Ricardo Borrmann, „Tal Mercado, Tal Príncipe: o paradigma da perfeição na economia política burguesa“ (Magisterarbeit Universidade Federal Fluminense, 2009), 25–26

6 3 Die Kritik an Karl Semper

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Darwins Evolutionstheorie und hatte zahlreiche Publikationen in dieser Richtung vorzuweisen Nach 1871, also nach Ignaz von Döllingers Wirken, schloss er sich den Altkatholiken an Barreto beschrieb ihn in einer bezeichnenden Fußnote, nachdem er Michelis Buch auf Deutsch gelesen hatte, in seiner typischen polemischen Art: „Dieser Herr Michelis ist ein alter Katholiker und Antivatikanist, der Papier und Tinte verschwendete, um zu beweisen, dass der Papst nicht unfehlbar ist, wie er in anderen Zeiten sie auch verschwendet hätte, um zu beweisen, dass ‚Ei kein Fisch ist‘ oder‚ der Mischling Mensch ist‘“54

Barreto zitiert Haeckel in diesem Essay hauptsächlich aus seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte in der fünften Auflage von 1874, in der Haeckel versuchte, die Schöpfungsgeschichte aus dem Blickwinkel der Evolutionstheorie zu erklären Dieses Werk stellte einen Affront gegenüber der biblischen Erzählung über die Ursprünge der Menschheit dar Barreto verstand diese Attacke genau und instrumentalisierte sie für seine eigenen antiklerikalen und liberal-radikalen politischen Positionen in Brasilien und übersetzte auf Portugiesisch eine lange Stelle aus der Natürlichen Schöpfungsgeschichte Dieser Auszug resümiert alle Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten induktiven und deduktiven Methoden, die hinter Sempers Kritik an dem deutschen Professor steckten Hier die Stelle bei Haeckel im Original: „Während aber ein rein spekulatives, absolut philosophisches Lehrgebäude, welches sich nicht um die unerlässliche Grundlage der empirischen Thatsachen kümmert, ein Luftschloß wird, das die erste beste Erfahrung über den Haufen wirft, so bleibt andrerseits ein rein empirisches, absolut aus Thatsachen zusammengesetztes Lehrgebäude ein wüster Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebäudes verdienen wird Die nackten, durch die Erfahrung selbst gestellten Thatsachen sind immer nur die rohen Bausteine, und ohne die denkende Berwerthung, ohne die philosophische Verknüpfung derselben kann keine Wissenschaft sich aufbauen […] nur durch die innigste Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von Philosophie und Empirie [entsteht] das unerschütterliche Gebäude der wahren, monistischen Wissenschaft, oder was dasselbe ist, der Naturwissenschaft Aus dieser beklagenswerthen Entfremdung der Naturforschung von der Philosophie, und aus dem rohen Empirismus, der heutzutage leider von den meisten Naturforschern als ‚exacte Wissenschaft‘ gepriesen wird, entspringen jene seltsamen Quersprünge des Verstandes, jene groben Verstöße gegen die elementare Logik, jenes Unvermögen zu den einfachsten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allem Wegen der Naturwissen-

54

Im Original: „Este Sr Michelis é o velho catholico anti-vaticanista, que gastou papel e tinta em demonstrar que papa não é infallivel, como podera gasta-los em outros tempos, para provar que ‚ôvo não é peixe‘ ou que ‚caboclo é gente‘“ Siehe Barreto, „O Haeckelismo“, 80–81, Fn 5 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

schaft, ganz besonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen können […] Es ist daher nicht zu verwundern, wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefere innere Wahrheit der Descendenztheorie gänzlich verschlossen bleibt “55

In Barretos Essay über Haeckels Zoologie wird klar, dass er dieses Fach als den neuesten Wissenschaftszweig ansah, der ein Modell für alle anderen Wissenschaften lieferte 56 Haeckel war in dieser Hinsicht der Begründer oder zumindest der Hauptvermittler einer solchen wissenschaftlichen Auffassung Barreto zeigt sich durch seine Rezeption Haeckels als zutiefst überzeugter Darwinist Überdies bewies er, dass er die Grundlagen der Deszendenztheorie genau erfasst hatte, als er die Ursprünge von Darwins Vorstellung des struggle for life und der Selektion auf Thomas Robert Malthus (1766–1834) zurückführte 57 Politisch instrumentalisierte der brasilianische Intellektuelle wie bereits angedeutet solche Ideen gegen die klerikalen Gruppierungen im Lande und gegen den Thomismus In den Zeiten nach dem Ersten Vatikanischen Konzil sah die Welt die Zuspitzung der Spannungen zwischen Ultramontanen und Jesuiten einerseits und Jansenisten und Altkatholiken andererseits Der „Kulturkampf “ in Deutschland lief auf Hochtouren und die katholische Kirche versuchte, die Lehren Thomas von Aquins im Zuge ihrer Zentralisierungspolitik als offizielle Lehre durchzusetzen Säkularismus, Protestantismus, Freidenkertum und die modernen Wissenschaften wurden in diesem Kontext seitens Rom durch den Syllabus errorum („Verzeichnis der Irrtümer“) bei der Enzyklika Quanta Cura (1864) verurteilt Vor diesem Hintergrund verortete Barreto die Bedeutung von Haeckels zoologischen Ansätzen und, basierend auf Haeckels/Darwins Evolutionslehre, unterstrich er die Abstammung des Menschen vom Affen 58 Innerhalb dieses Kontextes ist auch Barretos Kritik an Semper bzw seine Verteidigung Haeckels zu verstehen Semper warf Haeckel vor, seine Entwicklungen der Evolutionslehre seien eine Degeneration der wahren Wissenschaft zu einer Naturphilosophie oder einer spekulativen Metaphysik 59 Barreto hingegen schloss sich der Bezeichnung „Haeckelismus“ an – ursprünglich als eine Kritik an Haeckel gedacht – und äußerte zusätzlich den Wunsch, dass „der mutige Professor aus Jena noch für lange Zeit uns erziehen und aufklären möge“ 60

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Zit nach Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, 640–641 Das Zitat von Barreto auf Portugiesisch befindet sich in ders , „O Haeckelismo“, 219–220 Siehe Barreto, „O Haeckelismo“, 88–89 Ebd , 85–86 Ebd , 88–89 Ebd Im Original: „Possa o valente professor de Jena continuar, ainda por muito tempo, á instruir-nos e illuminar-nos “ Siehe ebd , 99 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

6 4 Barreto als Regionalpolitiker

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6.4 Barreto als Regionalpolitiker Die Frauenrechte waren, wie im Kapitel über seinen politischen Aktivismus bereits gezeigt, ein zentrales Thema in Barretos intellektuellem und politischem Leben Obwohl er als Charmeur bekannt war, zeigte Barreto in seinen Schriften immer Respekt gegenüber den Frauen: Er kämpfte in seiner weniger bekannten Tätigkeit als Regionalpolitiker für die Konsolidierung der Zivilrechte, vor allem für den Anspruch von Frauen auf Hochschulbildung Hier zeigte sich Barretos Besorgtheit um die Emanzipation der Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft sowie um die Bürgerrechte in aller Deutlichkeit, denn er legte sehr fortschrittliche pädagogische Konzepte vor Der Einfluss deutschsprachiger, vor allem jüdischer Autoren, ist in seinem politischen Kampf von grundsätzlicher Bedeutung Auch Haeckels Ideen tauchen immer wieder zur Untermauerung von Barretos Positionen auf, vor allem in den parlamentarischen Debatten Der Jurist griff als Abgeordneter die ausgeprägten religiösen Vorstellungen heftig an, die als „wissenschaftliche“ Argumente getarnt auftraten Beviláqua würdigte später, Barreto sei ein „ergebener Freund der Frauen“ (amigo devotado das mulheres), indem er sie als Rechtssubjekte betrachtete, was im 19  Jahrhundert keineswegs einer selbstverständlichen Haltung entsprach 61 Weiters eröffnete Barreto seinen 1883 veröffentlichten Sammelband Estudos Alemães mit einem Essay über die „Die Seele der Frau“ (A alma da mulher) 62 Diese Schrift ist beispielhaft für seine Vorstellungen bezüglich der Rechte der Frauen sowie über die Bedeutung, die er der Erziehung und der Bildung zusprach Im ersten Teil des Essays vom Juli 1874 kommentierte er das Buch des liberal-jüdischen Autors Adolph Jellinek (1821–1893), Die Psyche des Weibes von 1873 Barreto zitierte außerdem die jüdische Vorkämpferin der Frauenemanzipation Fanny Lewald (1811–1889) 63 In jenem Text kommentierte er das 1879 von ihm als Parlamentarier eingereichte Projekt Partenogógio – eine Hochschule für Frauen, die an das deutsche Modell der „Mittelschule“ und „Höheren Schule“ anknüpfte 64 Im Artikel offenbarte er die Vorurteile, Frauen seien ausschließlich zum Zweck des Gebärens geboren und hätten deswegen keine Rechte auf höhere Bildung und positionierte sich damit deutlich gegen diese religiös verankerte Auffassung 65 Seine äußerst fortschrittliche Meinung über die Ehe und über die Rolle der Frauen in der Gesellschaft ist hier zu erkennen Um seine Auffassung zu bekräftigen, zitiert er in der Folge Frauenrechtlerinnen, Schriftstellerinnen und Intellektuelle, wie etwa Marianna Hainisch (1839–1936), Augusta von Litrow (1819–1890), Johanna Leitenberger (1818–1893) und Josephina Wertheimstein

61 62 63 64 65

Beviláqua, História, 370 Siehe Barreto, „A alma da mulher“, in: Estudos Alemães, 7–35 Ebd , 8 Ebd , 24 Fn 9 Siehe ebd , 23

146

6 Barretos Haeckel-Rezeption

(1820–1894) Weiterhin gab Barreto die Zeitschrift Frauenanwalt als Quelle an,66 die als Organ des von Jenny Hirsch (1829–1902) gegründeten „Lette-Vereins für Frauenbildung“ galt Barreto plädierte dafür, dass Frauen sich ausbilden durften und stellte sich auf die Seite der fortschrittlichen und liberalen Pädagogen seiner Zeit, wie etwa Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782–1852) und Adolph Diesterweg (1790–1866) 67 Als Abgeordneter der Liberalen Partei für den Wahlkreis Escada im Regionalparlament Pernambucos durfte Barreto in den Jahren 1878 und 1879 seine Positionen für die Emanzipation der Frauen verteidigen Während seines Mandats stellte er sich vielen Auseinandersetzungen, weil er als Befürworter von äußerst unkonventionellen Maßnahmen für die damalige Zeit galt Seine Überzeugungen brachten ihm die Verachtung vieler seiner Kollegen ein Zunächst unterstützte er das Projekt seines Kollegen Silvino Guilherme de Barros (1834–1903), bekannt als Barão de Nazaré, einer Frau ein Stipendium der Provinzregierung Pernambucos zu gewähren Die Kandidatin wollte damals in den USA oder in der Schweiz ihr Studium der Medizin absolvieren Zu diesem umstrittenen Projekt, das im Provinzialparlament heftige Diskussionen über die Fähigkeiten von Frauen für Hochschulstudien erweckte, fügte Barreto einen weiteren Anspruch einer anderen Frau hinzu, die ebenso ihr Studium im Ausland durchführen wollte 68 Laut dem Erziehungsforscher José Ricardo Freitas Nunes hatte Barreto damals gute Gründe, das Projekt Nazarés zu unterstützen: Erstens war er damals stark von seinen jüngsten Lektüren des Buches Die wissenschaftliche Emanzipation der Frauen aus dem Jahr 1874 von der deutsch-jüdischen Frauenrechtlerin Marianne Adelaide Hedwig Dohm (1831–1919) beeinflusst Zweitens hatte er als Lehrer an Privatschulen bereits Erfahrungen mit Koedukation gemacht 69 Dem Pädagogen Freitas Nunes zufolge hinterfragte mancher Intellektuelle der damaligen Zeit, wie etwa die Beispiele Barretos und Barão de Nazarés sowie des berühmten Bildungspolitikers aus São Paulo Leôncio de Carvalho (1847–1912) zeigen, die Vorstellungen der klassischen Historiographie, derzufolge das Thema „Bildung“ erst in der Republik als wichtiger politischer Anspruch erhoben wurde Zudem kritisiert Freitas Nunes mit seiner Arbeit die positivistische Auffassung der klassischen Bildungsgeschichte Brasiliens, die sich nur auf die großen historischen Ereignisse konzentrierte 70 Solch eine Richtung in der Geschichtsschreibung hatte nur Augen für die „berühmten Figuren“ und vernachlässigte deshalb kleinere Initiativen, wie etwa die von Barreto in der Provinz Pernambuco Dies trug dazu 66 67 68 69 70

Ebd , 16 und 22 Ebd , 26 Siehe Barreto, „Educação da Mulher“, in: Crítica política e social, 158–161, und Barreto, „Educação da Mulher II“, 162–182 Siehe José Ricardo Freitas Nunes, „Tobias Barreto e o Projeto de Lei No 129/1879“ (Magisterarbeit Universidade Tiradentes), 2012, 74 Nunes, „Tobias Barreto e o Projeto“, 93

6 4 Barreto als Regionalpolitiker

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bei, dass Barretos Einsatz und seine Projekte bezüglich des Rechtes der Frauen auf Ausbildung teilweise in Vergessenheit gerieten Das Thema der Frauenrechte bzw der Gleichstellung von Mann und Frau führt auch heute immer noch zu Auseinandersetzungen, weshalb kein Interesse daran besteht hervorzuheben, dass solche Fragen bereits im 19  Jahrhundert von Liberal-Radikalen diskutiert und als relevant wahrgenommen wurden Überdies weist die ganze Debatte darauf hin, dass Barreto schon damals auf die Bedeutung der Bildung für die Entwicklung einer starken (Zivil-)Gesellschaft von kritischen Bürgerinnen und Bürgern hinwies Damit war er auch einer der Pioniere in den pädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen Brasiliens Erst in den ersten Jahrzehnten des 20  Jahrhunderts gewann diese Thematik mit den Erneuerern der Escola Nova um den Reformpädagogen Anísio Teixeira (1900–1971) in Brasilien an landesweiter politischer Bedeutung 71 Durch seine fortschrittlichen und äußerst liberalen Ansätze kann Barreto deswegen als einer der Vorläufer der reformatorischen Bewegung der Escola Nova aus den 1920er–1930er Jahren verortet werden 72 Diesen Schritt machte Barreto, indem er sich Ideen deutschsprachiger intellektueller Männer und Frauen aneignete, wie etwa Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), Philipp Friedrich Hermann Klencke (1813–1881), Eduard von Hartmann, Josefina Freytag, Marianne Adelaide Hedwig Dohm, Friedrich Wilhelm Adolph Diesterweg, Johann Heinrich Pestalozzi und Friedrich Wilhelm August Fröbel, die alle immer wieder in seinen Schriften erwähnt werden 73 Die letzten drei distanzierten sich zum Beispiel immer deutlicher von einer individuell ausgerichteten Pädagogik und näherten sich damit einer neuen, gesellschaftsorientierten pädagogischen Auffassung Sie gelten deswegen als Gründerfiguren der „Sozialpädagogik“ 74 In seinen Debatten am Provinzparlament 1879 über das Projekt seines Mitstreiters Barão de Nazaré verteidigte Barreto das Recht der Frauen auf Hochschulbildung gegen die Meinung der Mehrheit der Abgeordneten Vor allem der Arzt Malaquias Antonio Gonçalves berief sich auf physiologische Methoden der Gehirnmessung (Phrenologie), um Nazarés und Barretos Projekt zu attackieren Bei solchen parlamentarischen Diskussionen zitierte Barreto einen seiner Lieblingsautoren, nämlich Ernst Haeckel, als Kämpfer gegen diese auf der Religion basierenden und als „wissenschaft-

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Siehe dazu Hermes Lima, Anísio Teixeira: Estadista da Educação (São Paulo: Civilização Brasileira, 1978) Siehe Nunes, „Tobias Barreto e o Projeto“ Ebd , 85–91 Diesterweg etwa soll diesen Begriff zum ersten Mal verwendet haben, Pestalozzi seinerseits war stark von Rousseaus liberalen pädagogischen Ansichten beeinflusst und setzte sich vor allem für die Bildung sozial benachteiligter Schichten ein, indem er 1774 eine Schule in Neuhof gründete Fröbel hingegen war ein Anhänger der von Pestalozzi eingeleiteten Wende und ist als Begründer der weitverbreiteten „Kindergärten“ in die Geschichte eingegangen Siehe ebd , 88–89 Über deren Einfluss auf Barreto siehe ders , „A alma da Mulher“, 26

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

lich“ verkleideten Argumente über die geistige Unterlegenheit der Frauen Hinter dieser ganzen Debatte steckten die damals noch populären physiologischen Prinzipien der deutschen Anatomen Franz Joseph Gall (1758–1828), die von der italienischen Kriminologie durch Cesare Lombroso rezipiert wurden und ebenso in Brasilien große Akzeptanz erfuhren Es handelte sich um die Theorien der Messung der Gehirnmasse, die am Anfang des 19  Jahrhunderts viele Forscher beschäftigten 75 Durch seine Argumente zeigte Barreto die alten thomistischen Ansätze auf, die hinter solchen Diskursen steckten, und deckte die religiösen Vorstellungen der Abgeordneten auf Der brasilianische Intellektuelle warf seinem größten Kontrahenten, dem Abgeordneten Malaquias, vor, religiöse Dogmen unter dem Mantel der Wissenschaft verstecken zu wollen In der Folge berief sich Barreto auf Darwin und seine „natürliche Selektion“ sowie auf Haeckel, um die phrenologischen Methoden Galls zu widerlegen Solche Theorien betrachtete der Brasilianer als „veraltet“ (decrépita), „verwandt mit dem Katholizismus“ (filiada ao catolicismo) und „Geschwister des Dogmas der Erbsünde“ (irmã do dogma do pecado original) 76 Was hier für die Konservativen auf dem Spiel stand, war laut Barreto das Ende der Unterwerfung der Frauen innerhalb einer männerdominierten patriarchalischen Gesellschaft So äußerte sich Barreto diesbezüglich in einer seiner Reden: „Unter uns gesagt, herrscht in den familiären Verhältnissen immer noch das biblische Prinzip des weiblichen Gehorsams Die Frau lebt immer noch unter der absoluten Macht des Mannes Sie hat nicht, wie es sein sollte, das gleiche Recht wie ihr Mann, z B in der Erziehung der Kinder; sie beugt sich, wie eine Sklavin, dem herrschenden ehelichen Willen Diese Verhältnisse, behaupte ich, sollten von einer sanfteren Weise reguliert werden, die einer Zivilisation angemessener sind “77

Laut Barreto hat diese Vorstellung des Gehorsams der Frauen gegenüber den Männern eine alte Tradition, die historisch verankert ist und so führte er seine Argumentation weiter: „– [Diese Vorstellung] ist die Tochter des Dogmas der Erbsünde, ist vom Alten ins Neue Testament herübergekommen und wurde von den Doktrinen des heiligen Paulus übernommen […] sie ist die paulinische Doktrin, die Lehre des Katholizismus, dessen Einfluss in der italienischen Jurisprudenz des Mittelalters übertragen wurde, aber nicht nur dort, auch in der deutschen Jurisprudenz des 15 16 und 17  Jahrhunderts […] ‚Das Weib ist geboren, um zu gebären‘ Und die italienischen Juristen, wie fast alle ihrer Zeit, hatten schon vorgefertigte Sätze, um die weibliche Inferiorität zu benennen  – consilium invalidum, imbecillitas, infirmitas 75 76 77

Siehe Schwarcz, Espetáculo, 65 Barreto, „Ainda a Educação da Mulher“, 183 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 170 Freie Überszetung aus dem Portugiesischen

5 7 Von Eduard von Hartmann zu Ernst Haeckel

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animi etc […], was bedeuten sollte, die Frau hätte keinen Kopf, sie wäre schwach in ihrer Urteilskraft! […] Was für ein Unsinn! […] – Ich weiß nicht, Herr Präsident, wie der noble Abgeordnete, Antagonist des Projekts, emanzipierter in dieser Hinsicht, so weit kommen kann, sich mit der Heiligen Kirche zu verbinden, Paulus zu umarmen Tja, da ist es, meine Herren: ich habe bereits eine Konversion durchgeführt, ich habe Herrn Dr Malaquias konvertiert […] – Verzeiht: ich bin in den Armen der Wissenschaft […] – Sie irren sich: Sie sind mit dem Katholizismus, mit Paulus, mit den heiligen Priestern, die an dem vernünftigen Geist der Frauen zweifelten, wie man heute an ihrem Gehirn zweifelt, Sie sind mit der mittelalterlichen katholischen Jurisprudenz vereint, Sie sind mit alledem“ 78

In der Folge argumentierte Barreto mit einer historischen Darstellung über zahlreiche erfolgreiche Frauen, von den alten Griechen bis hin zu zeitgenössischen Frauenrechtlerinnen wie etwa Hedwig Dohm oder Nadeschda Suslowa (1843–1918) – der ersten Frau, die in Zürich Medizin studierte Er brachte Beispiele von diversen Frauen, die in Europa eine Hochschule besuchten und danach erfolgreiche Karrieren in ihren jeweiligen Fachgebieten machten Als weitere Unterstützung seiner Argumente bezüglich der intellektuellen Emanzipation der Frauen zitierte Barreto aus Dohms Die wissenschaftliche Emanzipation der Frauen,79 wo diese geschlechtsspezifische Unterschiede auf kulturelle Faktoren zurückführte und nicht exklusiv auf eine biologische Determination der Geschlechter Weiterhin zitierte er die Zeitschrift Frauenanwalt der feministischen Bewegung in Deutschland 80 Zum Schluss enthüllte Barreto in seinen politischen Debatten die religiösen Wurzeln, auf denen die Argumentation seiner Kritiker in der katholisch geprägten und konservativen brasilianischen Gesellschaft des 19  Jahrhunderts beruhten Wegen solcher Projekte und Ideen war es eigentlich selbstverständlich, dass Barreto keine zweite Amtszeit bekam Nach seiner Wahlniederlage wurde sein Projekt 1884 zu den Akten gelegt 81 Es war eines der ersten Projekte in Brasilien für die Bildung der Frauen 82

78 79 80 81 82

Ebd , 171 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 166 und 173 Barreto, „Ainda a Educação da Mulher“, 185 Siehe Barreto, „Projeto no 129“, 199 Nunes, „ Tobias Barreto e o Projeto“, 93

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

6.5 Barretos rechtswissenschaftliche Aufnahme von Haeckels Evolutionismus Barretos Rezeption von Haeckels Evolutionismus lässt sich nicht von seinem Anspruch lösen, die brasilianische Rechtswissenschaft auf eine neue Grundlage zu stellen und damit die alte Rechtsausbildung in den juristischen Fakultäten zu hinterfragen Die Frage, welchen Theorien des Rechts oder welchen juristischen Ansätzen Barreto durch seine Rezeption von Haeckels Monismus widersprach, lässt sich durch sein strafrechtliches Werk beantworten, exemplarisch durch seinen Essay „Einige Gedanken über den sogenannten Anspruch auf Strafe“ (Algumas Ideias sobre o Chamado Fundamento do Direito de Punir), in dem er den Grundstein für seine Kriminaltheorie legt 83 Der Aufsatz steht paradigmatisch für seine Auffassungen im Bereich des Strafrechts und kann als Vorläufer von Barretos Großwerk über das Thema „Minderjährige und Wahnsinnige“ (Menores e Loucos) von 1884 gelten Seinen Text eröffnete Barreto mit einer harten Kritik an der Metaphysik, die bereits den Ton seiner gesamten Schrift aufzeigt Er lehnte metaphysische Konzepte und theologische Vorstellungen als Grundlage für eine rechtswissenschaftliche Diskussion über Strafrecht ab Seine Hauptfrage kreist um die Ursprünge und Fundamente des Strafrechts und den Anspruch auf Strafe In dieser Hinsicht bezog er sich zunächst auf Comte, dann auf David Hume (1711–1776) und zum Schluss auf Kant Er zitiert den Prolog aus dessen Kritik der reinen Vernunft von 1781 in Originalsprache 84 Barretos Motiv muss vor dem Hintergrund der Kritik an metaphysischen und thomistischen Ansätzen verstanden werden, die damals immer noch die strafrechtlichen Diskussionen in Brasilien dominierten (und bis heute noch in den Köpfen vieler Juristen vorhanden sind) Vor allem beabsichtigte er, den theologisch-religiösen Auffassungen von Strafe als einem Sacrificium entgegenzutreten und, wie er selbst sagte, das Strafrecht mit einer wissenschaftlichen Grundlage zu versorgen So fasst er sein Anliegen folgendermaßen zusammen: „Das Recht zum Bestrafen ist ein wissenschaftlicher Begriff, das heißt, es ist eine Formel, eine Art mathematischer Notation, durch die die Wissenschaft die allgemeine und fast tägliche Tatsache der Bestrafung von Kriminellen, die die soziale Ordnung durch ihr Verhalten stören oder beleidigen, benennt “85

83 84 85

Siehe Barreto, „Algumas Ideias“, in: Menores e Loucos, 124–145 Siehe ebd , 127 Im Original: „O direito de punir é um conceito scientifico, isto é, uma formula, uma especie de notação algebrica, por meio da qual a sciencia designa o facto geral e quasi quotidiano da imposição de penas aos crimininosos, aos que perturbam e offendem, por seus actos, a ordem social “ Ebd , 128 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

6 5 Barretos rechtswissenschaftliche Aufnahme von Haeckels Evolutionismus

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Mit dem Ausdruck „wissenschaftlicher Begriff “ (conceito científico) will er das gleiche Verständnis vermitteln wie Haeckel durch sein evolutionistisches Weltbild, das heißt, im Grunde eine Ablehnung alles Theologischen oder Naturrechtlichen Deswegen greift Barreto hier die Grundlage der Evolutionstheorie auf, denn in dieser Hinsicht lieferten Haeckels monistische Ansätze wieder das Modell für seine Auffassung von „Wissenschaftlichkeit“ Was Barreto in erster Linie kritisierte, war eine „romantische Auffassung“ (teoria romântica) des Strafrechts 86 Lange vor Michel Foucaults (1926– 1984) Theorien über Wahnsinnige, Gesellschaft und Gefängnisse behauptete der brasilianische Rechtsanwalt bereits im 19  Jahrhundert, diese seien grundsätzlich eine „Erweiterung“ von Sanatorien, und Straftaten würden als „Krankheiten“ behandelt 87 Dies machte für Barreto eine mittelalterliche Vorstellung aus, die keineswegs den wissenschaftlichen Standards entsprach Laut diesen alten Konzepten bedeutete Strafe ein „Medikament“ Barreto stellte sich die Frage, ob „die Gesellschaft“ (a sociedade) mit ihren „repressiven Maßnahmen gegen Straftaten“ (medidas repressivas contra o crime) überhaupt „in einer rationalen Weise vorgehe“ (procede de um modo racional) und ob sie angemessen seien 88 Obwohl nicht direkt benannt, betrieb Barreto damit heftige Kritik an den thomistischen Konzepten der Strafe als „Opfergabe“ Solche Konzepte hätten seiner Meinung nach keinen Platz in einer modernen, rechtlich-wissenschaftlich orientierten Gesellschaft In seinen Argumenten lehnte Barreto eine moralische Konzeption des Strafrechts ab und versuchte, dem Strafrecht eine wissenschaftliche Untermauerung zu verleihen An dieser Stelle bezieht er sich auf Haeckel und Darwin und deren Konzepte einer historischen Evolution Weiterhin hinterfragt er den Gedanken einer auf religiösen Ansätzen basierenden Moraljustiz und bezieht sich auf Naturforscher, um zu betonen, dass der „menschliche Geist Sohn der Erde ist“ (pensamento humano é um filho da terra) und deswegen keine himmlischen Wurzeln habe 89 Gleichzeitig beruft sich Barreto auf Jherings Großwerk Zweck im Recht von 1877, in dem dieser das Recht als „Inbegriff der durch äußeren Zwang, d h durch die Staatsgewalt gesicherten Lebensbedingungen der Gesellschaft im weiteren Sinn“90 definierte Diese Auffassung ergänzte Barreto nun mit einer Idee aus dem Werk Kultur und Rechtsleben (1865) des

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Ebd , 129 Siehe ebd Barreto leistete damit eine unmittelbare Kritik avant la lettre an den modernen „Strafgesellschaften“ und an der Angemessenheit jeder Strafe Vgl dazu auch Michel Foucault, Die Strafgesellschaft: Vorlesung am Collège de France 1972–1973 (Berlin: Suhrkamp, 2015) Barreto, „Direito de Punir“, 129 Ebd , 131 Siehe Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1877), Bd  1, 499 Original: „o conjuncto das condições de existencia da sociedade, asseguradas por uma co-acção externa, isto é, pelo poder publico“, so Barretos Übersetzung Siehe Barreto, „Direito de Punir“, 133

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6 Barretos Haeckel-Rezeption

Rechtswissenschaftlers Wilhelm Arnolds (1826–1883), das Recht sei „eine Funktion des nationalen Lebens“ 91 Barreto bezieht sich in der Folge auf Haeckels Natürliche Schöpfungsgeschichte, in der dieser behauptet, alle Erkenntnisse des Geistes, auch die a priori, basierten ursprünglich auf der Erfahrung und der Praxis und entwickelten sich durch Vererbung und Entwicklung Das Gleiche gelte laut Barreto für die Rechtsdispositiven 92 Was ihn bewegte, war die Positivität des Rechts als Grundlage gegen eine juristische Kultur, die auf der religiösen Moral beruhte Wie auch der Jurist Hermann Post93 in seinem Werk Der Ursprung des Rechts von 1876, leugnet auch Barreto nicht, dass „Strafe“ und „menschliche Opfer“ ursprünglich als ein einziges Prinzip betrachtet wurden und dass bis in seine eigene Zeit hinein diese alte Fassung „bewusst oder unbewusst“ weiter Geltung zeige 94 Diese gewohnte Verbindung zwischen Strafe und Opfertum, die zu Racheakten führte, sollte sich modernen und wissenschaftlicheren rechtlichen Maßnahmen unterordnen und sich damit dem aktuellen kulturellen Stadium der Zivilisation anpassen 95 Daher definierte Barreto „Strafe“ nicht als ein juristisches Konzept, sondern als eine rein politische Maßnahme Juristisch relevant war für ihn allein die Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens, der durch eine bestimmte Straftat verursacht wurde 96 Laut Barreto wird durch das Begehen einer Straftat die Gesellschaft gestört und damit auch ihr Rechtssystem Die Wiederherstellung dieses Rechtes bedeutet für ihn in erster Linie die Kompensation für den verursachten Schaden Alles, was über dieses Konzept hinausgeht, gehöre in seiner Vorstellung nicht zum Recht und sei daher nicht mehr als ein politischer Akt 97 Als Beispiel für seine Ansicht zog der brasilianische Rechtsgelehrte die Hinrichtung von Nikolai Ryssakow (1861–1881) und dessen Mittätern heran Die Todesstrafe hatte nicht die Macht, den von Ryssakow getöteten Kaiser Alexander II (1818–1881) ins Leben zurückzubringen 98 Hier kommt nun Jhering mit seiner Theorie des Rechts ins Spiel, derzufolge es an einen (sozialpolitischen) Zweck gebunden ist,99 sodass der soziale Zweck einer Strafe als Wiedergutmachung an der Gesellschaft, die in erster Linie gestört wurde, in den Vordergrund rückt Barreto widmete sich Jherings Zwecktheorie ausführlicher in seinem Essay „Über eine neue Intuition des Rechts“ (Sobre uma Nova

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Ebd , 134 Ebd Mehr zur Bedeutung Posts für die Rechtswissenschaften und seinen Einfluss auf den brasilianischen Juristen Clóvis Beviláqua siehe Beviláqua, Juristas, 85–106 Barreto, „Direito de Punir“, 143 Ebd Ebd Ebd Ebd Ebd , 144

6 5 Barretos rechtswissenschaftliche Aufnahme von Haeckels Evolutionismus

153

Intuição do Direito) von 1881 Auch darin taucht wieder Haeckels Monismus als Grundlage für seine neue „Intuition“ des Rechts auf In dem Essay „Einige Gedanken über den sogenannten Anspruch auf Strafe“ (Algumas Ideias sobre o Chamado Fundamento do Direito de Punir), der 1886 auch als Nachwort zur zweiten Auflage seines strafrechtlichen Hauptwerkes „Unmündige und Wahnsinnige“ (Menores e Loucos) Verwendung fand, bot Barreto schon einige Ideen über die psychosozialen Wurzeln der Straftat an, die später in seinem letzten Band weiterentwickelt wurden In der strafrechtlichen Debatte eignete er sich Haeckels und Darwins Ideen an, um sowohl die „Positive Schule der Kriminologie“ Cesare Lombrosos als auch die „Klassische Schule der Kriminologie“ Cesare Beccarias (1738–1794) zu kritisieren Diese Auseinandersetzung führt er in aller Deutlichkeit in seinem Werk „Unmündige und Wahnsinnige“ Dort beschäftigt er sich mit den Ideen Lombrosos in dessen Werk Uomo Deliquente (1876) über die Typisierung von Verbrechern anhand von Körpermerkmalen

7 Der „Kampf ums Recht“: Barretos und Romeros Rezeption der rechtssoziologischen Ansätze Jherings Rechtsphilosophisch wurde Rudolf von Jhering in seinen frühen Jahren maßgeblich von Friedrich Carl von Savignys (1779–1861) „Historischer Rechtsschule“ geprägt, vor allem durch die systematische „Begriffsjurisprudenz“ seines „streng begrifflich-juristisch arbeitenden Meisterschülers“ Georg Friedrich Puchta (1798–1846) 1 Angelehnt an seine, an der Logik orientierten Auffassung der Jurisprudenz förderte Jhering eine rechtliche Systematik, auf die später Hans Kelsen (1881–1973) aufbauen sollte 2 Vielleicht kann Jhering in diesem Sinne als „Link“ zwischen dem römisch-fokussierten Konzept der „Historischen Schule“ Savignys/Puchtas und der modernen logischen Systematisierung Kelsens bezeichnet werden 3 Später aber kehrte sich Jhering allmählich von dieser, auf römische Quellen fokussierende „Pandektenlehre“ ab und kritisierte sie, indem er für eine mehr an der Praxis orientierte und soziologisch fundierte Rechtswissenschaft eintrat Aus der „Begriffsjurisprudenz“ seines Meisters Puchta entwickelte er eine auf Interessen fundierte Rechtslehre Damit gilt er als einer der Väter der Rechtssoziologie 4 Nicht nur philosophisch, sondern auch zivilrechtlich und privatrechtlich engagierte sich Jhering In seinen Jahrbüchern für Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts veröffentlichte er zahlreiche weniger bekannte Schriften, die sich mit praktischen Fragen der Jurisprudenz beschäftigten 5 Vielleicht sind es seine Leistungen auf

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BLO, 2 Siehe Mario G Losano, Sistema e estrutura no direito, Bd  2: O Século XX (São Paulo: Martins Fontes, 2010), und ders , Dichtung und Wahrheit in Jherings Konstruktionslehre (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1970) Diese Aussage basiert auf einer Anregung Losanos Siehe ders , Sistema e estrutura, Bd  2, XXXII, 39 und 52 Die zwei großen Stücke seines Früh- und Spätwerks blieben unvollendet, Der Geist des römischen Rechts (das er Puchta widmete) und Der Zweck im Recht, das auf Barreto großen Einfluss hatte Siehe Losano, Der Briefwechsel Jherings, 22 Siehe ebd , 22–23

7 1 Barretos erste Begegnung mit Jhering

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diesem Gebiet, die einem größeren Publikum bekannt sind, obwohl die meisten seinen Namen gar nicht wahrnehmen, insbesondere außerhalb spezifischer Fachkreise Jherings Schaffen im Bereich des Privatrechts war grundlegend Er prägte entscheidende juristische Begriffe, die heutzutage im allgemeinen Gebrauch sind, wie etwa den des „Besitzes“ Mit seiner Schrift Culpa in Contrahendo (1861) weitete er die Idee einer Haftung für vorvertragliche Pflichtverletzungen und beeinflusste mit seiner Theorie wesentlich die zukünftigen Entwicklungen im Vertragsrecht 6 Durch seine soziologisch-praktische Einstellung widmete er sich auch intensiv dem Studium konkreter juristischer Fälle, die besonders komplizierte rechtliche Konstellationen aufwiesen Deshalb gilt er als einer der Pioniere der sogenannten Fallstudien, die heutzutage in den Rechtswissenschaften gang und gäbe sind Für solche Leistungen wurde er von Barreto sehr geschätzt Nur wenige Rechtsgelehrte beeinflussten die juristischen Studien in der zweiten Hälfte des 19  Jahrhunderts so stark wie Jhering 7 7.1 Barretos erste Begegnung mit Jhering Zur Rezeption Jherings in Lateinamerika ist Folgendes anzumerken: Die Einführung seiner Ideen geschah in Brasilien viel früher, bereits im 19  Jahrhundert, als in anderen Teilen des lateinamerikanischen Kontinents und „ergab sich in einer direkten Form, während sie in anderen Teilen des Kontinents dank der Mediation einiger spanischer Juristen stattfand“ 8 Diese Besonderheit der Rezeption von Jherings Theorien in Brasilien ist vor allem dem Einsatz „eines der berühmtesten Juristen der brasilianischen Rechtsgeschichte zu verdanken“9 – Tobias Barreto Diese besondere Form der Aneignung von Jhering in Brasilien wurzelt jedoch, wie bereits zu sehen war, in dem französischen Einfluss der brasilianischen (Rechts)Kultur des 19  Jahrhunderts, dem Barreto in der frühen Phase seines intellektuellen Schaffens ausgesetzt war, wie dies typisch für

6

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Zur Bedeutung dieses Werks siehe Yoav Ben-Dror, „The Perennial Ambiguity of Culpa in Contrahendo“, in: The American Journal of Legal History, 27:2 (Apr 1983), 142–198; Paulo Mota Pinto, „Nota introdutória“, in: Rudolf von Jhering, Culpa in contrahendo (Coimbra: Almedina, 2008), V– XIX Siehe dazu auch Renata Carlos Steiner, „Interesse positivo e interesse negativo: a reparação de danos no Direito Privado brasileiro“ (Diss Universidade de São Paulo, 2016) Der Autor dankt der Juristin und Jhering-Forscherin Renata Steiner für ihre Hinweise und Erklärungen zu diesem Thema in der geführten E-Mail-Korrespondenz vom 22 11 2014, 02 05 2015 und 29 11 2017 NDB 10 (1974), s v „Jhering, Rudolf von “ [Onlinefassung], abrufbar unter http://www deutschebiographie de/pnd118555367 html Im Original: „[La introducción del alemán en Brasil] se dió de manera directa, mientras que en el resto del continente tuvo lugar gracias a la mediación de algunos juristas españoles “ Siehe Alix, „Ideología y filosofía“, 148 Freie Übersetzung aus dem Spanischen Im Original: „uno de los juristas más célebres de la historia jurídica brasileña “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Spanischen

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7 Der „Kampf ums Recht“

die brasilianische gebildete Elite üblich war, die ihre Ausbildung an den Rechtsfakultäten von Recife oder São Paulo durchlief 10 Wie zuvor bei dem Zoologen Ernst Haeckel stellt sich auch hier wieder die folgende Frage, nun mit Bezug auf Rudolf von Jhering: Wie kam der junge Intellektuelle Barreto dazu, im nordöstlichen Brasiliens Jherings Rechtstheorie zu lesen und zu studieren? Wie stieß er auf den Namen des deutschen Juristen? Anders als bei Haeckel, wurde der Name Jherings nicht von Barreto an Romero vermittelt, sondern umgekehrt Allerdings war der Auslöser für die Jhering-Rezeption in Brasilien der übliche: Wieder geschah der erste Kontakt durch eine französische Quelle Gerade, weil Romeros Kenntnisse der deutschen Sprache – im Gegensatz zu Barretos – nicht so groß waren und er, seinen Kritiken an den intellektuellen Gewohnheiten der Elite zum Trotz, von der französischen Kulturvermittlung abhing, kam er auf diesem Wege mit dem Namen des damals bereits berühmten Rechtstheoretikers Jhering in Berührung Romero hat den Namen Jherings zum ersten Mal anlässlich seiner – in der brasilianischen Ideengeschichte berühmten – Verteidigung seines Doktortitels 1875 erwähnt Der ambitionierte Doktorand hatte mit der Nennung Jherings sicherlich die Absicht, den brasilianischen juristischen Mainstream mit seinen „veralteten“ Konzepten zu provozieren – und dies nicht nur durch die Erwähnung des den meisten unbekannten Jherings, sondern auch durch sein provokatives Auftreten insgesamt Barreto war wie gesagt anwesend und berichtete darüber in einigen seiner Schriften, die Verdienste Romeros durch dessen rebellischen Akt anerkennend 11 Bei seiner Verteidigung hatte Romero zweifelsohne die Absicht, wie es bei ihm und Barreto üblich war, die Kongregation der Rechtsfakultät mit seinen kritischen Ansichten über Metaphysik und Naturrecht zu schockieren Wie Barreto war auch Romero ein geborener Polemiker 12 Ihm war sicherlich bewusst, was er tat und was er damit bewirkte Vielleicht nahm er sich sogar den polemischen Stil seines Freundes und Mitstreiters Barreto zum Vorbild und wollte mit ihm konkurrieren Sein rebellischer Auftritt vor der unzweifelhaft konservativen Prüfungskommission, die für alte metaphysisch-thomistische Denkformen stand, ging in die brasilianische Rechtsgeschichte ein:13 Er verkündete in seiner Präsentation vor der Kommission die Devise „Tod der Metaphysik“ und erwähnte, wahrscheinlich zum ersten Mal in einer öffentlichen Veranstaltung in Brasilien, den Namen des bis dato unbekannten Juristen Rudolf von Jhering Sein Auftritt erhielt nicht wegen seiner fachlichen Innovationen erhebliche

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Der Jurist Luis Manuel Lloredo Alix hebt die französische Prägung Brasiliens in der Politik durch August Comtes Positivismus hervor und verweist diesbezüglich auf den Satz „Ordnung und Fortschritt“ (Ordem e Progresso) der Nationalfahne als einen Beleg Siehe ebd , 149 Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 462 Siehe dazu auch Mendonça, Sílvio Romero, 133–134 Siehe dazu Ventura, Estilo tropical, 71–80 Siehe Mendonça, Sílvio Romero, 124–127

7 2 Die Vermittlung über französische Medien

157

Aufmerksamkeit, sondern wegen seines ausgesprochen frechen Verhaltens gegenüber der Kommission, die selbstredend an ihren alten Vorstellungen festhielt Aufgrund seines spektakulären Auftritts erlangte Romero seinen Doktortitel nicht und sah sich zusätzlich der Beleidigung angeklagt, was aber letztlich nicht weiter verfolgt wurde Doch nicht allein durch seine äußerst selbstbewusste und fast unverschämte Haltung schockierte Romero die alten Rechtswissenschaftler Auch inhaltlich hatte der junge Jurist – damals in seinem unvollendeten 24 Lebensjahr – etwas Neues zu bieten Der Jurist und Philosoph Arthur Orlando (1858–1916),14 ein Verehrer Barretos und Romeros, behauptete ein paar Jahre später, das Zitat Jherings verursachte das Erschrecken der Kommission vor der Neuheit, und trug zugleich zu den Gründen für sein Scheitern bei der Doktorprüfung bei 15 Viele Jahre später, in seiner Antwort auf die Kritiken des Literaten José Veríssimo, beschrieb Romero selbst sein Verhalten als „einen Schrei der Begeisterung, eine jugendliche Sehnsucht“ (brado de entusiasmo, um anseio de juvenilidade)16 und erklärte noch, die Metaphysik, die er damals angriff, sei die aprioristische, scholastische und dogmatische Art gewesen 17 Der neue Autor namens Jhering wirkte stark auch auf seinen Freund Barreto Dieser zeigte sich so begeistert, dass er danach die Schrift „Soll die Metaphysik als tot betrachtet werden?“ (Deve a Metafísica ser Considerada Morta) verfasste,18 in der er Romero in Schutz nahm 19 Von nun an sollten Jherings rechtstheoretische Ansätze Barretos Denken nicht mehr loslassen Vor allem die soziologisch-praktische Vorstellungen des Rechts übten auf seine juristischen Schriften eine große Wirkung aus Jherings Einfluss wirkte viel stärker auf Barreto als auf seinen ersten Vermittler Romero, der sich danach nicht mehr intensiv mit Jherings Rechtstheorie beschäftigte Tatsächlich war Barreto derjenige, der sein Werk von nun an und erstmalig in Brasilien auf Deutsch nachhaltig studierte und der für die Weitervermittlung seines Namens dort verantwortlich war 7.2 Die Vermittlung über französische Medien Einige Monate vor Romeros Verteidigung im März 1875 erschien in der französischen Zeitschrift Journal des Débats vom 31 8 1874 eine Rezension über Jherings Großwerk Zweck im Recht 20 Das Journal des Débats zählte, wie bereits dargelegt, zusammen mit 14 15 16 17 18 19 20

Mehr zu Orlandos Biographie auf der Webseite der Brasilianischen Akademie der Schriftsteller ABL: http://www academia org br/academicos/artur-orlando/biografia, letzter Zugriff am 21 9 2016 Mehr zu seinem Wirken siehe Chacon, Formação das ciências sociais, 75–88 Siehe Mendonça, Sílvio Romero, 132 Ebd , 139 Siehe ebd Barreto, „Deve a Metafísica ser Considerada Morta?“, in: Estudos de filosofia, 199–202 Mendonça, Sílvio Romero, 134 Siehe Journal des Débats Politiques et Littéraires 3 (31 8 1874)

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7 Der „Kampf ums Recht“

der Revue des Deux Mondes zu den meist gelesenen ausländischen Medien in Brasilien 21 Die Rezension Jherings war direkt nach einem Bericht über die französische Übersetzung von Herbert Spencers Principes de Psychologie abgedruckt, in der eine äußerst scharfe Kritik an der Metaphysik geübt wurde Die Rezension erschien auf der dritten Seite in einem Bericht über die Sitzung am 29 August 1874 an der Academie des Sciences Morales et Politiques, in der (fast) alle Schriftsteller der Revue Mitglieder waren 22 Romero pflegte sein ganzes Leben lang eine Vorliebe für die deterministische Soziologie Spencers und ließ sich stark von dessen Ideen beeinflussen Seine Beschäftigung mit Spencers Metaphysik-Kritik sollte später noch ausführlicher werden, als er sich für sein akademisches Comeback vorbereitete 1876 arbeitete Romero an seinem Werk Die Philosophie in Brasilien (A Philosophia no Brasil), in dem er seine französische Quellen vorstellte und auch Spencer einen Ehrenplatz gewährte 23 Im Journal des Debáts werden Spencer und sein Werk wie folgt dargestellt: „Herr Léveque bietet der Académie die Übersetzung des ersten Bandes von Herrn Herbert Spencers Principes de psychologie, erstellt von Frau Ribot und Alfr Espinas Die Übersetzer haben der Philosophie einen wahren Dienst erwiesen Herr Herbert Spencer ist ein kühner und innovativer Denker, dessen Theorien, manchmal sehr umfassend und sehr subtil, eine außergewöhnlich große Rolle in der englischen zeitgenössischen Philosophie ausübt Trotz einiger Ähnlichkeiten, gehört Herr H Spencer nicht zur französischen positivistischen Schule Er hat sie allerdings in einer speziellen Broschüre in Schutz genommen, als er behauptete, dass die Punkte mit denen er mit Herr Comte einverstanden wäre, nicht besonders zu seiner Philosophie passten und mit denjenigen, die dazu passten, nicht einverstanden wäre Ohne die psychologische Doktrin des Herrn Herbert Spencer heute darstellen zu wollen, glaubt sich Herr Léveque verpflichtet, ihre Hauptmerkmale vorstellen zu müssen: sie ist der grundlegenden Idee der Evolution untergeordnet und vom Autor in seinen Ersten Prinzipien vorgestellt; sie offenbart die sowohl externe als auch interne Erfahrung und behauptet alles sei unerkennbar, was diese Erfahrung nicht erreicht Oder die Erfahrung erreiche nicht die Substanz als untrennbare Einheit; d h die Metaphysik zu einem Minimum zu reduzieren Ist aber Herr H Spencer ein Gegner der Metaphysik, tut er nur Recht diese ausführlich zu kennen und zu studieren, damit er sie auch erfolgreich bekämpfen kann Durch diese französische Version, haben ihre Übersetzer dieses Werk einem breiterem Publik zugänglich gemacht Sie haben ihr Bestes getan und, wenn ihre Übersetzung manchmal auch etwas bizarr erscheint, ist sie es deswegen, weil Herr H Spencers seinen

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Alonso, Idéias em movimento, 172 Siehe Journal des Débats (31 8 1874), 3 Siehe Mendonça, Sílvio Romero, 141–142

7 2 Die Vermittlung über französische Medien

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eigenen Sprachgebrauch hat und ihre Übersetzer glaubten diesen respektieren zu müssen, um seinem Denken gerecht zu werden “24

Auf der gleichen Seite wird über Jherings berühmtes Spätwerk Zweck im Recht folgendermaßen berichtet: „Herr Vainberg führt weiter aus und fasst die Lektüre aus seiner Mémoire zusammen: Die Meinung der modernen Deutschen über die Rechtsauffassung Nachdem er die Rechtshistorische Schule von Savigny diskutierte, lieferte er einen Überblick zum absoluten Idealismus Hegels, zur pietistischen Schule Stahls und letztendlich zur modernen Schule Iherings Eigentlich bringt er darin das, was er als ihre Schwächen betrachtet, zum Vorschein Herr Vainberg beschäftigt sich vor allem mit der Analyse einer neulich erschienen Schrift von Herrn Ihering, die in Deutschland für viel Aufregung sorgte und deren Übersetzung auf Französisch zukünftig in Belgien erscheinen soll Diese Schrift heißt: Der Kampf ums Recht (Le combat, oder la lutte, pour le droit ) Herr Ihering ist der Auffassung, dass jeder Bürger wie jede Nation für seine Rechte einstehen sollte “25

Wie aus dieser Quelle zu entnehmen ist, spielten französische Vehikel bei der Vermittlung der „modernen Meinungen der Deutschen über das Recht“ (les opinions modernes 24

25

Im Original: „M Léveque offre à l’Académie la traduction du premier volume des Principes de psychologie de M Herbert Spencer, par MM Ribot et Alfr Espinas Les traducteurs ont rendu un réel service à la philosophie M Herbert Spencer est un penseur hardi et novateur, dont les théories, à la fois très vastes et très subtiles, occupent dans la philosophie anglaise contemporaine la place la plus large Malgré certaines ressemblances, M H Spencer n’appartient pas à l’école positiviste française Il s’en est d’aillers défendu dans une brochure spéciale, déclarant que les points sur lesquels il s’accorde avec M Comte ne sont pas propres à ce philosophie, et, sur ceux qui lui sont propres il est en désaccord avec lui Sans vouloir exposer aujourd’hui la doctrine psychologiste de M Herbert Spencer, M Léveque croit devoir indiquer les deux traits qui la caractérisent: elle est dominée par l’idée fondamentale de l’evolution, posée et explique par l’auteur dans son livre des Premiers principes; elle relève de l’expérience tant externe qu’interne et déclare inconnaissable tout ce que l’expérience n’atteint pas Or, d’après lui, l’experience n’atteint pas la substance à titre d’unité indivisible; c’est réduire la métaphysique à un minimum Mais si M H Spencer est un adversaire de la métaphysique, il est bon le connaître et de l’étudier à fond pour le combattre avex succès En le mettant en français, les traducteurs l’ont rendu accessible à un plus grand nombre de lecteurs Ils ont fait de leur mieux, et si leur traduction est parfois un peu bizarre, c’est que M H Spencer a sa langue personelle et qu’ils ont cru devoir la respecter pour mieux respecter sa pensée “ Siehe Journal des Débats (31 8 1874), 3 Freie Übersetzung aus dem Französischen Im Original: „M Vainberg continue et achève la lecture de son Mémoire sur: Les opinions modernes des Allemands sur la notion du droit Après avoir discuté l’école historique de Savigny, l’auteur passe successivement en revue l’idéalisme absolu de Hegel, l’école piétiste et Stahl, enfin l’école moderne et Ihering, et en fait resortir ce qu’il considère comme leurs côtés faibles M Vainberg s’arrête surtout à l’analyse d’un récent écrit de M Ihering, qui a fait du bruit en Allemagne et dont la traduction française doit prochainement paraître en Belgique Cet écrit est intitulé: Der Kampf um das Recht (Le combat, ou la lutte, pour le droit) M Ihering y soutient que tout citoyen comme toute nation doit toujours défendre son droit “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Französischen

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7 Der „Kampf ums Recht“

des Allemands sur la notion du droit) im Ausland, vor allem in Brasilien, eine wichtige Rolle Es ist daher gut möglich, dass sich Romero auch für seinen spektakulären Auftritt vor der Prüfungskommission von diesem Artikel in der Zeitschrift Journal des Débats inspirieren ließ 26 7.3 Barretos „neue Intuition des Rechts“ Die erste Schrift, in der sich Barreto grundlegend mit Jherings Ideen beschäftigte, war der 1881 verfasste Essay „Über eine neue Intuition des Rechts“ (Sobre uma Nova Intuição do Direito) 27 Ab 1880 begann sich Barreto mehr mit der juristischen Thematik auseinanderzusetzen, weil er schon eine akademische Stelle in Recife im Blick hatte Deswegen ist diese Schrift paradigmatisch für seine Rechtsauffassungen und stellt ein gutes Beispiel für Barretos Rezeption von Jherings Ideen dar Bereits im Auftakt seines Essays provoziert Barreto, indem er folgendes Zitat Jherings aus Kampf ums Recht auf Deutsch als Motto voranstellt: „Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu der Kampf “ 28 Barreto gab also unmissverständlich zu verstehen, an wen er seine Kampfschrift für eine neue Rechtsauffassung richtete: Genau wie Romero bei seiner Doktorverteidigung zielte Barreto auf die konservativen Dozenten der Rechtsfakultät und die gesamte brasilianische Rechtskultur mit ihren metaphysisch-exegetischen und naturrechtlichen Konzepten ab Die Professoren schätzten wissenschaftliche Forschungen nicht, so Barreto, sondern sie seien, wie die Soldaten und Priester, reine „Wächter der Krone und der Kirche“ (guarde de honra da coroa e do altar) 29 Religiöse Dispute standen zu dieser Zeit als einflussreiche Machtgeplänkel auf der politischen Bühne und weckten bei vielen Intellektuellen eine scharfe Kritik an der jesuitischen Prägung der Bildung in Brasilien Diesen thomistisch-jesuitischen Einfluss betrachtete Barreto als Hemmnis für den wissenschaftlichen Fortschritt des Landes Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre verfolgte der Vatikan von Papst Pius IX , wie oben bereits angedeutet, einen romzentralistischen Kurs, der deutliche Wirkung weltweit in der Politik zeigte 30 In den vom Vatikanischen Konzil erlassenen dogmatischen Verfassungen Dei Filius und Pastor Aeternus (1870) stellte die Kirche den Liberalismus, den Sozialismus und die Wissenschaft als Fehleinschätzungen des Jahrhunderts dar, und verkündete zugleich die Unfehlbarkeit des Papsts Mit dem vorher in Kraft gesetzten Syllabus (1864) verurteilte die Kirche zusätzlich die Entwicklung 26 27 28 29 30

Es ist auch möglich, dass Jherings Erwähnung auch als eine Botschaft an Barreto, der auch im Saal anwesend war, gedacht war Barreto, „Sobre uma Nova Intuição do Direito“, in: Estudos de filosofia, 242–273 Von nun an zit als „Intuição“ Ebd , 242 Die harte Meinung Barretos über die Professorenschaft der Rechtsfakultät befindet in: Ebd , 243 Alonso, Idéias em movimento, 173

7 3 Barretos „neue Intuition des Rechts“

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wissenschaftlicher Theorien sowie die Evolutionstheorie Darwins und griff die Freimaurerei wegen ihres politischen Engagements an Die intellektuelle Bewegung der „Generation 1870“ positionierte sich entschieden gegen diese politisch-religiöse Richtung und stand damit für die Laizität des Staates und für die geistige Freiheit 31 In diesem von der Opposition zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus geprägten historischen Kontext repräsentierte das französische Denken für Barreto die Ideologie der alten juristisch-politischen Eliten des Landes Diese sahen sich mit der kaiserlichen Machtstruktur und der Sklaverei ebenso wie mit dem alten Klerus eng verbunden Barretos Kritik richtete sich gegen veraltete Rechtsvorstellungen, die in seinen Augen auf Naturrecht und religiös-moralischen Ansätzen fußten Diese Auffassung wurde mehrheitlich von der älteren Generation von Professoren an der Rechtsfakultät repräsentiert Barreto selbst stellte sein Programm dagegen durch den Juristen Hermann Post vor: „Die Rechtswissenschaft, so Hermann Post, darf nicht mehr mit der Theologie verbrüdert sein, in dem sie sich darauf beschränkt, den Corpus Juris durchzublättern, wie die Theologie dies mit der Bibel tut “32 Damit wollte Barreto, wie Post und Jhering, vor allem die juristisch-romanische Dogmatik, die alte Pandektenlehre, die den Corpus Juris als die juristische Bibel ansah, hinterfragen Barreto stand für einen Methodenwechsel im Rechtsdenken, wie seine deutschen Vorbilder Jhering und Post Diese neue Methode war für Barreto, nach Darwin und Haeckel, historisch und von der Entwicklungsidee her geregelt Der Ansatz von Darwin und Haeckel wurde durch Post und Jhering in die Rechtswissenschaften aufgenommen Und so erklärte Barreto auch seiner Leserschaft, was er unter einer neuen „Intuition des Rechts“ verstand: „dieser Prinzip- und Methodenwandel macht den ersten Schritt für eine neue Intuition des Rechts aus, die allmählich mehr vom Bedürfnis vorangetrieben wird, der Jurisprudenz einen eigenständigen Platz im organischen System der Wissenschaften zu gewähren Die Methode, auf die ich mich beziehe, ist die historisch-naturalistische, es ist die Methode, die heute allgemein in allen Zweigen des fortgeschrittenen Wissens, zur Beobachtung und zur Reflexion im Rahmen des Rechts, so wie in anderen Arten natürlicher Phänomene, angewandt wird Sein regulatorisches Prinzip ist der Entwicklungsgedanke, im Rahmen dessen das Recht, mit all seinen Erscheinungsbildern von Konstanz und Immobilität, auch einem Prozess der konstanten Transformation untergeordnet ist “33 31 32 33

Ebd Im Original: „A ciência do direito, diz Hermann Post, não deve continuar a ser uma irmã da teologia, limitando-se a folhear contemplativamente o Corpus Júris, como esta folheia a bíblia “ Siehe Barreto, „Intuição“, 244 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „é […] nessa mudança de princípio e de método que consiste o primeiro passo para uma nova intuição do direito, intuição que vai sendo cada vez mais exigida pela necessidade de assinar à jurisprudência um lugar próprio no sistema orgânico das ciências O método a que me

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7 Der „Kampf ums Recht“

Das Recht sollte sich neuen wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, die von den Naturwissenschaften festgelegt wurden, vor allem von der Evolutionstheorie, anpassen, denn Haeckel und Darwin hatten mit ihren Theorien das Modell für die neue „dominante wissenschaftliche Intuition“ (intuição científica dominante)34 geliefert, so Barretos Vorstellungen: „Die Kontroverse überschreitet die reine Rechtsauffassung, die sich an die dominante wissenschaftliche Konzeption anpassen soll Die Doktoren sollten darüber nicht erschrecken, und die Priester sollten mich nicht verurteilen: Diese herrschende Intuition ist, das habe ich bereits gesagt, der Darwinismus-Haeckelianismus Die Namen Darwins und Haeckels – ich weiß es nur zu gut – klingen nicht so gut in den Ohren der Freudigen, die ihre Ruhe in den Höhen des Himmels finden und deswegen Haeckel und Darwin als bedauernswert betrachten, hauptsächlich, weil sie sie nie gelesen haben Aber das ist für mich nicht Grund genug, meinen Exkurs nicht weiter zu führen “35

Der Zivilrechtler Beviláqua fügt hinzu, dass sich Barreto der Rechtsphilosophie der Schule Jherings und Posts anschloss, die die genealogische Theorie Darwins und Haeckels in die Rechtswissenschaften aufnahm 36 Meistens erweckte die darwinistische Lehre Schrecken unter Juristen, so Barreto 37 Über die Rezeption von Jherings Ideen in Brasilien meinte der Rechtsgelehrte aus Recife noch Folgendes, nicht ohne Kritik an dem französischen Einfluss auf den brasilianischen juristischen Mainstream: „Den Lesern sollte er [ Jhering] bereits bekannt sein, wenn nicht durch die meisten seiner Werke, zumindest doch durch einige davon, durch seinen Geist des römischen Rechts oder durch Kampf ums Recht etwa, die auf Französisch übersetzt sind, oder, wie ich schon einmal sagte, als Violinschlüssel für den Gebrauch der Dilettanten zu finden sind “38

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refiro é o histórico-naturalístico, é o método hoje comum a todos os ramos de conhecimento mais adiantados, a observação e a reflexão aplicadas à esfera do direito, do mesmo modo que se aplicam outras ordens de fenômenos naturais O princípio regulador é a ideia de desenvolvimento, em virtude da qual o direito, com todas as suas aparências de constância e imobilidade, também se acha, como tudo mais, em perpétuo fieri, sujeito a um processo de transformação perpétua “ Ebd , 245 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 247 Im Original: „A controvérsia estende-se à própria concepção do Direito, que deve modificar-se de maneira adaptada à intuição científica dominante Os doutores não se possuam de espanto, e os padres não me condenem: essa intuição dominante, já o disse, é a darwínico-haeckeliana Os nomes de Darwin e Haeckel – bem o sei – não soam de modo agradável aos ouvidos dos felizes que encontraram a serenidade nas alturas, que acham portanto Haeckel e Darwin dignos de lástima, principalmente porque nunca os leram Mas isto não é uma razão para que eu deixe de prosseguir na minha viagem “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Beviláqua, Juristas, 23 Siehe Barreto, „Intuição“, 247–248 Im Original: „O leitor deve conhecê-lo [ Jhering], se não por todas, por algumas de suas produções, pelo Geist des roemischen Rechts, pelo Kampf ums Recht, por exemplo, que se acham traduzidos em

7 3 Barretos „neue Intuition des Rechts“

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In der Folge zitierte Barreto den deutschen Rechtswissenschaftler in seiner Vorrede zum Zweck im Recht, in dem dieser die Bedeutung der darwinistischen Theorie für sein eigenes Denken hervorhebt Er zitierte Jherings Werk (den er als „großen Geist“ beschrieb) in dessen fünften Auflage, die sich in Barretos Bücherbestand befand 39 Hier die Originalstelle, die Barreto auf Portugiesisch übersetzt zitierte: „Ich meinerseits maße mir kein Urtheil über die Richtigkeit der Darwinschen Theorie an, obschon gerade die Resultate, zu denen ich meinerseits in Bezug auf die historische Entwicklung des Rechts gelangt bin, sie auf meinem Gebiete im vollsten Masse bestätigen “40 Zu bemerken ist, dass Barretos Übersetzung mit Jherings Original-Text völlig übereinstimmt 41 Über das alte, von der historischen Exegese und der Scholastik geprägte Recht äußerte er sich folgendermaßen: „Aber dieses alte Konzept ist schon längst tot, oder zumindest kann es nicht den Ansprüchen des neuen Geistes entsprechen “42 Ausschlag gebend ist für Barreto Jherings Konzept des „Zwecks“ im Recht 43 Es erlaubte ihm, nicht nur das Naturrecht der klassischen italienischen Schule Francesco Carraras (1805–1888) und Enrico Pessinas (1828–1916), sondern auch die Idee eines mit Gott verbundenen Gesetzes der Theologie zu hinterfragen 44 Damit trat er in Jherings Fußstapfen und kritisierte auch die thomistisch-scholastische Auffassung der Perfektion des Corpus Juris Civilis, an dessen Exegese die Rechtswissenschaften in Brasilien sich bis dahin orientiert hatten 45 Weiterhin kritisiert Barreto eine große Anzahl von Autoren, die von absoluten Naturrechten sprechen, wie etwa Hugo Grotius (1583–1645), Samuel von Puffendorf (1632–1694), Jakob Thomasius (1622–1684) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) Alle übten einen großen Einfluss auf den Jansenismus aus, der damals von weiten Teilen der kaiserlichen politischen Elite befürwortet wurde Barreto meinte hingegen, Kant und Rousseau seien die Grundlagen für ein neues rationales Konzept des Rechts Anschließend erwähnt er noch eine ganze Reihe von (deutschsprachigen) Philosophen, die diese neue historische Auffassung des Rechts begründeten, unter ihnen Hegel, Fichte und den von ihm geschätzten Julius Fröbel (1805–1893), bevor er zu Jherings Beitrag zur Entwicklung einer neuen Rechtsintuition kam Mit Fröbel hob Barreto die Bedeutung der Kultur im menschlichen Leben als Einführung zu Jherings Rechtsdenken hervor: „Die Kultur“, zitierte

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francês, ou como eu já disse uma ocasião, reduzidos à clave de sol para uso dos diletantes “ Siehe ebd , 248 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Anonym, Mostra bibliográfica da exposição Tobias Barreto, 23 Siehe Rudolf von Jhering, „Vorrede“, in: Ders , Der Zweck im Recht (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1884), XI–XII Siehe Barreto, „Intuição“, 248 Im Original: „Mas essa velha concepção morreu, ou pelo menos não se acha em estado de corresponder às exigências do espírito novo “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 249 Ebd , 252 Ebd , 254

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7 Der „Kampf ums Recht“

er Fröbel, „im Gegensatz zu der Natur, ist der generelle Prozess des Lebens, betrachtet nicht als kausaler Zusammenhang, sondern als Mittel und Zweck Sie macht die eigentliche vitale Entwicklung aus“ 46 Der Ansatz, der diese neue „Intuition des Rechts“ untermauert, sei die monistische Weltauffassung, so Barreto: „So lautet die Konzeption, die mit dem monistischen Weltblick im Einklang steht Vor dem modernen Bewusstsein bedeutet das Recht einen modus vivendi; es bedeutet die Beruhigung des Antagonismus zwischen den sozialen Kräften, so wie vor dem modernen Teleskop das Planetensystem als friedliches Zusammenleben zwischen den Sternen erscheint“ 47

In der Konsequenz daraus definiert er sein Konzept des Rechts als „eine menschliche Schöpfung“ (uma criação humana), als dem „Prozess des Kampfes“ untergeordnet, dessen Zweck und Ziel der Friede ist Darin spielen Erbe und Adaptation an die historischen Bedingungen der Menschentwicklung eine große Rolle: „Lassen wir uns davon überzeugen: Das Recht ist eine menschliche Schöpfung; es macht eine der Formen des sozialen Lebens aus, das Leben durch Zwang, von einem Punkt an in dem das Miteinanderleben nicht mehr alleine durch die Liebe möglich sei; was Savigny dazu brachte, zu behaupten, dass die Existenz des Rechts eine Konsequenz unserer Nicht-Perfektion sei Die beste Lehre vom Recht ist diejenige, die uns vom großen Meister aus Göttingen beigebracht wird: ‚Inbegriff der durch äußeren Zwang gesicherten Lebensbedingungen der Gesellschaft‘ Würden wir zu dem Begriff Lebensbedingungen noch ‚evolutionär‘ hinzufügen, weil die Gesellschaft nicht nur weiter existieren möchte, sondern sich auch zu entwickeln anstrebt, dann hätten wir ein gerechteres Konzept und Definition des Rechts “48

In seiner Absicht, das Recht auf wissenschaftlicher Basis zu reformieren, sprach er sich dafür aus, dass die Rechtswissenschaften nicht isoliert betrachtet werden dürften Sie seien Teil eines Ganzen, zu denen die Zoologie unabdingbar gehöre Es komme so-

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Im Original: „A cultura em oposição à natureza é o processo geral da vida, apreciado, não segundo a relação de causa e efeito, mas segundo meio e fim Ela é o desenvolvimento vital“ Siehe ebd , 263 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „Tal é a concepção que está de acordo com a intuição monística do mundo Perante a consciência moderna, o direito é um modus vivendi; é a pacificação do antagonismo das forças sociais, da mesma forma que, perante o telescópio moderno, os sistemas planetários são tratados de paz entre as estrelas“ Ebd , 265 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „Convençamo-nos portanto: o direito é uma criação humana; é um dos modos de vida social, a vida pela coação, até onde não é possível a vida pelo amor; o que fez Savigny dizer que a necessidade e a existência do direito são uma consequência da imperfeição do nosso estado O seu melhor conceito científico é o que ensina o grande mestre de Göttingen [ Jhering]: ‚o conjunto de condições existênciais da sociedade coativamente asseguradas ‘ Se ao epíteto existenciais adicionarmos – evolucionais –, pois que a sociedade não quer somente existir, mas também desenvolver-se, teremos a mais justa concepção e definição do direito “ Ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

7 4 Der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz

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mit darauf an, die Rechtsstudien als Teil der modernen Wissenschaften zu betrachten, deren Standards von der darwinistischen Evolutionstheorie angelegt worden seien: Darwin und Haeckel legten die Gesetze der natürlichen Entwicklung der Wesen fest und das Recht beschäftige sich mit den Gesetzen des sozialen Menschen in seiner historischen Evolution Somit betrachtete er den Menschen des Rechts nicht als unterschiedlich zu den Wesen in der Zoologie Wie in der zoologischen Welt sind die Menschen auch einer gewissen historischen Entwicklung zugeordnet und das Recht als menschliche Schöpfung ist ebenso dieser Evolution ausgesetzt Barreto geht so weit zu behaupten, dass auch im juristischen Bereich die „Ontogenie eine Wiederholung der Phylogenie“ darstelle, ein klarer Bezug auf Haeckels klassisches „phylogenetisches Gesetz“ In diesem Sinne nahm er Jherings rechtliche Auffassung auf und erklärte das Recht als einem Adaptationsprozess untergeordnet 49 Dieser sei aber keine mechanisch-kausale Verbindung, sondern hänge von den Menschen in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen ab Barreto kommt dann wieder zu Jherings Ansatz in Zweck im Recht und fasst dessen Verdienste wie folgt zusammen: „Es ist das große Verdienst R von Jherings, den Weg durch eine solche Frage gebahnt zu haben Für ihn ist das Recht ein Zweckphänomen Die Idee vom Zweck oder von einem damit zu erreichenden Ziel ist die schöpferische Kraft hinter allen juristischen Dispositiven, deren Wert nicht durch die Wahrhaftigkeit dieser oder jener spekulativen These festzustellen ist, sondern einfach durch die Anwendbarkeit und Angemessenheit seiner praktischen Prinzipien “50

Ab Barreto legte die brasilianische Rechtskultur allmählich ihren Fokus auf praktische Probleme und wandte sich von der rhetorischen Tradition ihres portugiesischen Erbes ab Durch seine Rezeption Jherings begründete Barreto somit die brasilianische Rechtssoziologie Dieses Interesse für praktische Fragen innerhalb der Jurisprudenz stand im Gegensatz zu den rhetorischen und exegetischen Sorgen des juristischen Mainstreams im damaligen Brasilien 7.4 Der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz Das kleine Büchlein Jurisprudenz des täglichen Lebens von 1873 wurde von Jhering ursprünglich als eine Sammlung konkreter Fälle, die ein besonderes rechtliches Interesse

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Ebd , 266–269 Im Original: „É grande mérito de R von Ihering ter aberto caminho a uma tal indagação Para ele o direito é um fenômeno finalístico A ideia de um fim ou de um alvo a atingir é a criadora de todos os institutos jurídicos, cujo valor não se determina pela verdade desta ou daquela tese especulativa, mas somente pela aplicabilidade e conveniência dos seus princípios práticos “ Ebd , 272 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

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7 Der „Kampf ums Recht“

boten, für Lehrzwecke verfasst 51 Seine Rezeption ist ein gutes Beispiel für Barretos Begeisterung für die Lösung praktischer Probleme im Bereich des Zivilrechts Jhering beabsichtigte mit seinem Buch, eine praxisnähere Komponente in den Unterricht einzuführen Sein Ziel war es, sich damit von der traditionellen und äußerst formalistischen Rechtsausbildung zu distanzieren und sich konkreten Fällen des täglichen Lebens anzunähern 52 Barreto war von diesem Vorgehen begeistert und übersetzte einige der von Jhering beschriebenen Fälle „zum akademischen Gebrauch“ 53 Dies war die erste Übersetzung von Jherings Schriften ins Portugiesische und ist bis heute die einzige Übersetzung dieses wenig wahrgenommenen Werks Jherings über konkrete Rechtsfälle in dieser Sprache Jhering war damals in Brasilien viel weniger für seine praktischen Ansichten der Jurisprudenz bekannt als für seine großen rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Werke wie etwa Geist des römischen Rechts und Kampf ums Recht, die rasch in Französische übersetzt wurden 54 Über Jherings Rezeption in Brasilien äußerte sich Barreto in seinem Artikel von 1878, der auch seine Übersetzung enthielt Dort behauptete er, dass der große Jurist aus Göttingen seit Romeros kühner Erwähnung anlässlicher seiner Disputatio 1875 in Brasilien bereits hinlänglich eingeführt sei 55 Folgendes führt er dazu aus: „Nicht so sehr durch seine tiefgründige Arbeit Geist des Römischen Rechts, einem bewussten Werk, durch das er mit den rigiden und harten überlieferten Traditionen dieses Rechts brach und sich gegen das, was er das ganze Geklingel germanischer Sittlichkeits Melodien nannte, stellte, d h die alte Illusion von Tacitus von einer Perfektion der Sitten unter den alten Germanen – nicht so sehr durch dieses Werk, behaupte ich, viel mehr durch seine kleinere Schrift Der Kampf ums Recht, eine Gelegenheitsschrift, ohne Zweifel, allerdings nicht weniger tief und gut durchdacht, bei dem das geniale Darwinische Konzept des Struggle for life von der Naturebene auf die Gesellschaftsebene transportiert wurde und das Recht als ein Kapitel der Naturgeschichte kapitulierte – der weise Jurist besitzt hier bereits einen Ehrenplatz unter den Doktoren “56 51

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Siehe Rudolf von Jhering, „Vorwort zur achten vermehrten Auflage“, in: Ders , Die Jurisprudenz des täglichen Lebens Eine Sammlung an Vorfälle des gewöhnlichen Lebens anküpfender Rechtsfragen Zum akademischen Gebrauch bearbeitet und herausgegeben von Dr Rudolf von Jhering ( Jena: Gustav Fischer, 1893), 9 Auflage, o S Alix, „Ideología y filosofía“, 150 Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 469 Der Ausdruck wurde von Jhering selbst verwendet und steht auf dem Deckblatt seiner Schriften, gleich nach dem Titel Siehe Jhering, Jurisprudenz Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 462 Die erste französische Übersetzung Jherings von AlexandreFrançois Meydieu erschien 1875: Le Combat pour le Droit Siehe Losano, „Rezeption“, 83 Zu einer vollständigen Bibliographie von Jherings Werken siehe ders , Studien, 207–273 Im Original: „Rudolf von Ihering, segundo alguns indícios, está aclimatizado entre nós “ Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 462 Im Original: „Não tanto pelo seu profundo trabalho O espírito do direito romano, obra conscienciosa na qual rompeu [ Jhering] com as tradições recebidas do rigor e dureza desse direito, e insur-

7 4 Der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz

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Der Auszug belegt, dass sich Barreto von Jherings Bruch mit der rechtshistorischen Schule Savignys und ihrem Fokus auf die römischen Quellen angezogen fühlte und er Jherings Abkehr von Savignys Pandektenschule begeistert aufnahm Weiterhin stellte er fest, Jhering genieße nicht mehr „das Privileg“ (o privilégio), in Brasilien „geflissentlich ignoriert zu werden“ (ser caprichosamente ignorado) 57 Damit meinte er, dass Jherings Werke dort nicht nur „Partitur blieben“ (não ficaram na partitura), sondern „sich auf Französisch übersetzt befinden, oder, wie ich schon einmal sagte, als Violinschlüssel für den Gebrauch der Dilettanten zu finden sind“ (se acham traduzidas em francês, ou, como eu já disse uma ocasião, reduzidos à clave de sol para uso dos diletantes) 58 Barreto bezieht sich damit auf die Tatsache, dass ein Jurist wie Savigny von den brasilianischen Juristen mehrheitlich durch französische Werke bekannt war Beviláqua ergänzt noch, dass der Jurist und Politiker Lafayette Rodrigues Pereira (bekannt als Conselheiro Lafayette, 1834–1917) den Namen Jherings in seinem Werk Recht der Dinge (Direito das Cousas) von 1877 erwähnte Dies trug sicher auch zur Verbreitung des Namens des deutschen Rechtsprofessors bei Beviláqua selbst erklärte, er habe von Jhering zum ersten Mal 1881 gehört, als er noch die Fakultät in Recife besuchte 59 Erst später, so Beviláqua, habe er selbst die Gelegenheit gehabt, Jherings größere Werke, wie etwa Kampf ums Recht und Zweck im Recht, kennenzulernen und er gab an, diese „voller Leidenschaft verschlungen zu haben“ (devorei, preso de emoção) 60 Allerdings, so betont der brasilianische Zivilrechtler, komme Barreto das Verdienst zu, Jhering schon früh bekannt gemacht zu haben 61 Dies ist als Beleg dafür zu werten, dass manche deutsch-

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giu-se contra o que ele chama das ganze Geklingel germanischer Sittlichkeits Melodien, isto é a velha ilusão, provida de Tácito, de uma exemplar perfeição de costumes entre os antigos germanos, não tanto por essa obra, digo eu, como pelo pequeno escrito A luta pelo direito, escrito de ocasião, sem dúvida, porém não menos profundo e bem pensado, onde a genial concepção darwínica do Struggle for life é transportada do domínio da natureza para o domínio da sociedade, e o direito se resigna a ser um capítulo da história natural, o sábio jurista já ocupa aqui, no meio dos doutores, um lugar de honra “ Ebd , 463 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 461 Ebd Im gleichen Jahr, bemerkte er noch, hätten die Studenten der Fakultät in São Paulo eine Zeitschrift namens „Jhering“ ins Leben gerufen Siehe dazu Beviláqua, Juristas, 61–62 und Fn 1 Diese Information scheint ihren Ursprung in einem Bericht Hermann von Jherings zu haben, konnte aber laut Mario Losano durch seine Recherchen nicht mit Quellen geprüft werden Siehe Losano, „Rezeption“, 81 Fn 13 Beviláqua, Juristas, 62 Es ist dennoch anzumerken, dass Beviláqua selbst zwei von Jherings Hauptwerken, Geist des Römischen Rechts und Kampf um Recht Ende des 19  Jahrhunderts auf Spanisch respektive Französisch (in der Übersetzung Medieus) zitiert Weiterhin zitiert er mehrmals Jhering durch einen Kommentator namens M de Jong, Rudolf von Jhering, eine Skizze, Berlin, 1888, und auch andere französische Quellen Immerhin zitiert er Zweck im Recht in der Originalsprache, zwar nur die ersten Seiten, was zeigt, dass er damals noch in den Anfängen seiner Lektüren auf Deutsch war Somit wiederholt sogar ein aufgeklärter Jurist und Barreto-Anhänger die (französischen) Lesegewohnheiten der brasilianischen Elite Siehe ebd Siehe ebd 62

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7 Der „Kampf ums Recht“

sprachige Juristen, wie etwa Jhering, durch Barreto eine äußerst frühe Rezeption in Brasilien erhielten, nämlich noch im 19  Jahrhundert Er betrieb eine nahezu simultane Vermittlung von Jherings Ideen Brasilien, denn bereits ein Jahr nach dem Erscheinen der dritten Auflage der Jurisprudenz 1878 verfasste Barreto seinen Artikel mit der Übersetzung einiger Auszüge aus Jherings Werk Sein Ziel war es, Jhering damit einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen 1877 erschien der erste Band von Jherings Großwerk Zweck im Recht, den Barreto studierte und in seinen Schriften oft zitierte Dieses Werk erschien erst 1901 auf Französisch, als L’Evolution du Droit 62 Jherings Konzept vom Zweck wurde von seinem französischsprachigen Übersetzer (der belgische Jurist Octave Louis Marie Ghislain de Meulenaere) deutlich in evolutionistischer Weise Comte’scher Prägung interpretiert Seine Version diente als Grundlage für eine portugiesische Übersetzung aus dem Jahr 1956 63 Das Jheringsche Konzept des „Zwecks“ wurde nun zur „Evolution“ in einem Land, das in seinem Geistesleben bereits stark vom französischen Positivismus geprägt war Kein Wunder, dass Jhering dort als „Positivist“ betrachtet und Barreto manchmal genauso bezeichnet wird 64 Barreto suchte sich bei seiner Übersetzung des Jheringschen Textes diejenigen Teile aus, die am meisten mit der brasilianischen Realität zu tun hatten oder die sein besonderes Interesse weckten Die von ihm übersetzten Ausschnitte handeln meistens von Situationen des täglichen Lebens, wie etwa Zugreisen, Theaterbesuche, Konzerte oder Vorfälle im privaten und im gesellschaftlichen Leben 65 Die Fragen, die Jhering bewegten, zielten auf eine mögliche juristische Auffassung gewöhnlicher Ereignisse des alltäglichen Lebens und auch auf die Haftungsfrage ab Der Begriff der „Haftung“ ist übrigens eine typisch deutsche (rechtliche) Frage, die es ihm erlaubte, sich von der klassischen Exegese römischer Quellen abzuwenden und mit diesem und anderen juristischen Konzepten auf die Bedürfnisse des modernen Lebens einzugehen Barreto war an solchen konkreten Fragestellungen äußerst interessiert Schließlich endete er seine Schrift mit einer bezeichnenden Aussage und mit einem Bekenntnis zum „Germanismus“: „Ich wünschte mir sehr, dieser kleine Bericht über einen der Schätze der reichen deutschen Rechtsliteratur möge ein wenig mehr den Geschmack und die Begeisterung unseres wissenschaftlichen Geistes für dieses beispielhafte Land, für diese Nation erwecken, die gleichzeitig heroisch und denkerisch ist, und in aller Offenheit, wie ich schon einmal sagte, den alten Mythos von Pallas Athene, der Göttin der Waffen und der Bildung, der Wissenschaft mit Helm, realisiert “66

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Siehe Losano, Studien, 250 Siehe dazu ebd , 256 Dazu siehe Borrmann, „Cultura Política“, 398–414 Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 461–470 Im Original; „Quem me dera somente que esta ligeira apreciação de um dos produtos da rica literatura jurística da Alemanha pudesse despertar um pouco mais o gosto e entuasiasmo pelo alto

7 5 Barretos Arbeit als Anwalt: Sklaven als Träger von Rechten

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Barreto sprach von der Überlegenheit der deutschen wissenschaftlichen Kultur mit Blick auf die vorherrschende Verehrung der französischen Autoren in seiner eigenen politischen Kultur Diese Neigung beschrieb er als eine „kolonisierte“ (colofônica) Attitüde der Eliten in Brasilien 67 Er betrachtete es als „die einzige Mission seines Lebens“ (única missão de minha vida), eine „Kreuzung“ (cruzamento) der deutschen und der brasilianischen Kultur zu „predigen“ (pregar)68 und verteidigte als Pionier eine „Fusion“ beider Wissenskulturen 69 Ein solcher Anspruch sollte später auch im Diskurs der modernistischen Kulturbewegung des 20  Jahrhunderts stehen 7.5 Barretos Arbeit als Anwalt: Sklaven als Träger von Rechten Der Rechtshistoriker Mario Losano hebt in seiner Untersuchung Jherings deutlichen Einfluss auf die forensische Arbeit Barretos hervor, die dieser in seinen Escada-Jahren als Anwalt ausübte 70 Barreto selbst bezeichnete diese praktische Erfahrung in der kleinen Dorfgemeinde Escada als den Ursprung seiner neuen Rechtsauffassung, für die Jhering eine wesentliche Rolle als Wegbereiter spielte 71 Vor diesem Hintergrund unterstreicht Losano, dass Barreto die Interessenjurisprudenz Jhering’scher Prägung unter neuen Konstellationen anwandte, die sich von denjenigen unterschieden, in denen sie Gestalt angenommen hatten Barreto machte damit aus der Aufarbeitung des Gedankengutes Jherings eine „Verschmelzung“ dessen mit der brasilianischen Kultur 72 Darin besteht seine verkündete „Kreuzung unserer Ideen mit den deutschen“ (cruzamento das nossas com as idéias germânicas) als eines der „wirksamsten Mittel zur Ingangsetzung eines Prozesses der intellektuellen Differenzierung“ (um dos agentes mais poderosos para fazer-nos entrar num processo de diferenciação cerebral) 73 Zudem erinnert Losano noch daran, dass in jenen Jahren die Idee einer „Vermischung von Kulturen“ im Mittelpunkt der Definition der Eigenständigkeit der brasilianischen Kultur und Literatur stand 74 Romero etwa wurde später einer der größten Theoretiker dieses Prozesses der kulturellen (Ver-)Mischung (mestiçagem)

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espírito científico desse país exemplar, dessa nação ao mesmo tempo heróica e pensadora, que realiza à nossa vista, como uma vez eu o disse, o velho mito de Palas Athené, a deusa das armas e das letras, a ciência de capacete “ Siehe ebd , 470 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd Ebd Siehe dazu Losano, „Rezeption“, 83–82 Ebd , 85–89 Ebd , 85–86 Ebd , 84 Siehe Barreto, „Jurisprudência“, 470 Übersetzung ins Deutsche aus Losano, „Rezeption“, 84 Ebd

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7 Der „Kampf ums Recht“

Barretos Dorf Escada lag, wie bereits dargestellt, mitten in einem Gebiet von Zuckerrohrplantagen, wo noch Sklaverei herrschte Diese Form der Arbeit war damals in ganz Brasilien üblich Der brasilianische Jurist hingegen war mit seinem liberal-radikalen Gedankengut ein scharfer Gegner der Sklaverei, die erst 1888 mit dem „Goldenen Gesetz“ (Lei Áurea) abgeschafft wurde Brasilien war das letzte Land auf dem amerikanischen Kontinent und eine der letzten Nationen der Welt, die diesen Schritt vollzog 75 Wie oben schon angedeutet, gibt es drei berühmte Verfahren, bei denen der Einfluss von Jherings praktischer Jurisprudenz Barreto in seinem forensischen Wirken deutlich zu sehen ist Im ersten Fall verteidigte der brasilianische Anwalt einen Landarbeiter, der von der Eigentümerin einer Plantage – in einem typischen Fall alltäglicher Gewalt in der Zuckerrohrwirtschaft des nordöstlichen Brasiliens – aus dem Haus gejagt wurde und deswegen seine Ernte verlor Im zweiten Fall verteidigte Barreto eine ehemalige Sklavin, die wieder versklavt zu werden drohte Im dritten Fall handelte es sich um eine enterbte Waise 76 Bei seiner Verteidigung zitierte Barreto im ersten Fall wörtlich Beispiele, die auf Jherings Jurisprudenz zurückzuführen sind 77 Damit schienen ihm die Machtverhältnisse der archaischen Strukturen der brasilianischen Provinz Brasiliens fremd zu sein Sein Anliegen war es, die Fälle in Jhering’scher Weise (rein juristisch) zu klären, darum fragte er sich in erster Linie „ob die Beziehung zwischen der Eigentümerin der Zuckerrohrmühlen und dem Landarbeiter eine rechtliche ist und welcher Art diese ist“ 78 Er vertrat deutlich zu moderne Positionen für diese sehr patriarchalischen Verhältnisse im Nordosten des Landes 79 Barreto war wegen seiner fortschrittlichen juristischen Anschauungen seiner Zeit voraus und musste zwangsläufig als Anwalt im rückständigen Escada scheitern Allerdings dienten ihm diese Erfahrungen dazu, seine rechtstheoretischen Ansichten im Sinne einer wissenschaftlich fundierten Perspektive des Rechts weiterzuentwickeln Es dauerte nicht allzu lang, da schuf er sich mit seinen juristischen Positionen und als Sklaven- und Minderheitenverteidiger unter den Zuckerrohrherren so viele Feinde, 75 76 77 78 79

Siehe dazu Emília Viotti da Costa, „Da Escravidão ao Trabalho Livre“, in: Ders , Da Monarquia à República, 345–366 Siehe Losano, „Rezeption“, 85–89 Ebd , 86 Ebd Über Barretos Aneigung Jherings Ideen ist der folgende Vergleich kennzeichnend: „Diese kritische Absorption einer ausländischen Kultur geht sogar bis zur Anpassung von Beispielen und Zitaten auf die Situation der Tropen In dem Essay über die Jurisprudenz des täglichen Lebens zitiert Barreto an einer bestimmten Stelle den nordamerikanischen Denker Ralph Waldo Emerson (1803–1882), der den Schriftsteller mit einem Schlittschuhläufer vergleicht, der zum Teil dahin fährt, wo er will, zum anderen Teil aber dahin, wohin ihn seine Schlittschuhe tragen ‚Ich aber‘, schreibt Barreto, ‚verstehe wirklich nicht viel vom Schlittschuhlaufen und kann mir diese Idee besser vorstellen, wenn ich das Bild eines Kanufahrers auf unseren Flüssen nehme: teilweise kommt er dort an, wo er will, teilweise aber auch dort, wo es ihm die Kraft der Strömung erlaubt‘ Einem ähnlichen Gedankengang folgt auch seine Anwendung der Interessenjurisprudenz auf die Situation im Nordeste “ Siehe Losano, „Rezeption“, 87

7 6 Barretos erste Formulierung eines „Urheberrechts“ in Brasilien

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dass er keinen anderen Weg sah, als das Dorf zu verlassen 80 Anschließend bereitete er sich für die Bewerbung an der Rechtsfakultät vor, die 1882 stattfand 81 7.6 Barretos erste Formulierung eines „Urheberrechts“ in Brasilien Den meisten brasilianischen Juristen, die sich heute mit Privatrecht beschäftigen, ist nicht bewusst, dass der Ausdruck direito autoral („Urheberrecht“) zum ersten Mal von Barreto innerhalb der brasilianischen Rechtstradition verwendet wurde 82 In seinen Thesen für die Bewerbung für eine Professur an der Rechtsfakultät von Recife 1882 führte er das „Urheberrecht“ als Teil des Personenrechts ein 83 Damals weckte dieser Zusatz kein größeres Interesse seitens der Prüfungskommission Deswegen sah sich Barreto danach verpflichtet, eine Schrift darüber zu veröffentlichen, in der er seine Beweggründe näher darlegte Er nahm dabei Bezug auf eine Diskussion aus dem deutschsprachigen Recht, die auf Rechtsgelehrte wie Jhering, Josef Kohler (1849–1919), Heinrich Dernburg (1829–1907) und Bluntschli zurückging 84 Seine Absicht war es, den französischen Ausdruck proprieté litteraire, der bis dahin in der brasilianischen Rechtsprechung Gebrauch fand, als unzureichend zu erklären Damit definierte Barreto im brasilianischen Recht erstmalig das „Urheberrecht“ wie in der deutschsprachigen Debatte, als einen Teil des Privat- und Personenrechts und führte eine für die damalige Zeit äußerst moderne Auffassung ein Mit diesem Schritt erreichte Barreto eine Erweiterung des bis dahin verwendeten französischen Begriffs der proprieté litteraire 85 Dieses Konzept wurde als reines Verleger-Recht wahrgenommen Der brasilianische Jurist hingegen inkludierte durch den deutschen Ausdruck auch die Rechte der Autoren als weiteres Personenrecht In dieser Hinsicht vertrat er eine außerordentlich fortschrittliche Ansicht über die Thematik, weil er daran auch ein „Immaterialgüterrecht“ anknüpfte und damit die neuesten Richtungen nach dem Rechtswissenschaftler Josef Kohler einarbeitete 86 Diese Auffassung fand von nun an immer mehr Akzeptanz in der Jurisprudenz 87 Der Begriff direito autoral („Urheberrecht“) fand allerdings erst 1898, nach Barretos Tod, in der brasilianischen Rechtsprechung einen Platz Sein Name wurde dabei gar nicht erwähnt, ob-

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Siehe L A Barreto, „Biobibliografia“, 11 Siehe Barreto, „Direito de Punir“, 229 Siehe Barreto, „O que se deve entender por direito autoral“, in: Estudos Alemães, 251–271 Ab nun zit als „Direito autoral“ Siehe ebd , 251 und 254 Siehe Beviláqua, História, 371 Siehe Barreto, „Direito autoral“, 450 Die Literatur betrachtet Kohler als Vorreiter des „Immaterialgüterrechts“ in Deutschland Siehe Peifer, „The Return of the Commons“, 354 Beviláqua, História, 371

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7 Der „Kampf ums Recht“

wohl er die juristischen Grundlagen dafür legte und die zukünftigen Entwicklungen in dieser Richtung den bahnbrechenden Charakter seiner Überlegungen bewiesen 88 Barretos Anhänger Beviláqua erkannte und betonte allerdings die Bedeutung von Barretos Vorschlägen für die Diskussion um das Urheberrecht: „Es war Tobias’ ehrenhaftes Verdienst, zum ersten Mal unter uns diese Frage in seiner exakten wissenschaftlichen Weise aufgearbeitet zu haben, und er hatte zudem das Glück, einen Ausdruck dafür gefunden zu haben, der allgemeine Akzeptanz fand “89 7.7 Barretos monistische Rechtsauffassung und Jherings französische Note in Brasilien Barreto und Romero verstanden das Recht wie Jhering, was sie jedoch nicht daran hinderte, sich Jherings Definitionen in ihrer eigenen Art und Weise anzueignen und diese mit Blick auf die brasilianische Realität zu ergänzen, zu adaptieren oder gar zu instrumentalisieren 90 Jhering nahm in den Rechtswissenschaften das darwinistische Konzept eines „Kampfes“ auf und Barreto fügte dieses in seine monistische Weltanschauung ein, die er von Haeckel übernommen hatte Somit sah er das Recht als ein Produkt der menschlichen Kultur und damit gleichermaßen dem Evolutionsprozess unterworfen 91 Auch scheute er sich nicht, Beiträge anderer Denker, wie etwa Hermann Post in der Rechtsphilosophie oder Ludwig Noiré (1829–1889) in der Philosophie, anzueignen, um seine eigene kulturpolitische und intellektuelle Kampagne gegen das Naturrecht und den Thomismus in Brasilien voranzutreiben Romero tat Ähnliches mit Jherings (und Haeckels) Ideen, nur rezipierte er diese auf seine sozial-evolutionistische, anti-metaphysische Sichtweise, die vom französischen Positivismus und von den deterministischen Lektüren seiner Jugendzeit geprägt war Barreto und Romero wollten mit ihrer Aufnahme von deutschen Rechtswissenschaftlern wie Rudolf von Jhering und Hermann Post den Dogmatismus der alten Rechtstraditionen kritisieren, die in den alten römischen Quellen oder in der Scholastik eine Art von Bibel sahen, als seien Gesetze in Stein gemeißelt oder kämen vom Himmel oder aus dem römischen Kodex 92 Beviláqua fügt noch hinzu, Barretos Ziel sei es auch gewesen, „eine streng wissenschaftliche Methode bei den Rechtsstudien zu begründen“ 93 Diesen Anspruch aber hatte Romero nicht, denn er widmete sich wei88 89 90 91 92 93

Siehe ebd Im Original: Dazu meinte Beviláqua: „Cabe […] a Tobias a honra de ter, pela primeira vez, entre nós, colocado a questão, em sua exata postura científica, e a felicidade de ter encontrado uma expressão que obteve aceitação geral “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 116–117 Siehe Barreto, „Intuição“, 262–283 Ebd , 244–245 Beviláqua, Juristas, 122

7 7 Barretos monistische Rechtsauffassung und Jherings französische Note in Brasilien

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ter in seinem intellektuellen Werdegang den literarischen Studien und ethnologischen Fragen Diese Kritik an der exklusiven Auseinandersetzung mit dem Corpus Juris der Römer oder mit der thomistischen Scholastik wird ganz deutlich, wenn Barreto mit Verweis auf Hermann Posts Kritik an den alten metaphysischen oder römisch-dogmatischen Traditionen behauptet, diese seien gegen den „Geist aller deutschen Wissenschaft“ (espírito de toda a ciência alemã) 94 Romero und Barreto sahen die „deutsche Wissenschaft“ Haeckels und Jherings als Modell gegen die scholastische Metaphysik und die reine Exegese der römischen Quellen, die immer noch die Rechtsausbildung und die Wissenschaftskultur in Brasilien dominierten Vor diesem Hintergrund ist Barretos Behauptung zu verstehen, dass (wie auch Jhering meinte), Recht keine „himmlische Schöpfung“ (filho do céu) sei 95 Es handele sich grundsätzlich um ein „Produkt der menschlichen Kultur“ (fruto da cultura humana), so der brasilianische Jurist 96 Wenn er meinte, Recht sei keine „himmlische Schöpfung“, sondern ein historisches Phänomen, das ebenso einer gewissen sozial-historischen Entwicklung untergeordnet sei, rezipierte er, wie später Romero in seiner Literaturgeschichte dies auch tat, in einer ganz besonderen Art die monistischen Vorstellungen In diesem Zusammenhang zitierte Barreto den liberalen Erziehungspädagogen Julius Fröbel, der wie er selbst gegen die Sklaverei kämpfte, jedoch in den USA: „Kultur“, so Fröbel, „im Vergleich zur Natur stellt ihre Antithese dar und macht den allgemeinen Lebensprozess aus“ 97 Hier distanzierte er sich von Haeckels Mechanizismus, der gegen Ende des 19  Jahrhunderts als Grundlage für den Sozialdarwinismus diente 98 Romero ging diesen Schritt wegen seines ausgeprägten deterministischen Blicks nicht Er wurde stark von Autoren wie Buckle, Taine und Comte beeinflusst Außerdem hatte er die deutsche Sprache nicht ausreichend gelernt, um sich Autoren und Diskussionen der deutschsprachigen Wissenslandschaft wie Fröbel anzueignen Barreto war der Meinung, die Menschen seien dazu fähig, ihre menschlichen Instinkte im Sinne der Kultur zu gestalten und diese Triebe angesichts eines Prozesses der Zivilisation zu lenken 99 Im Hinblick auf diesen „Prozess der Zivilisation“ spielt das Recht nach Barretos Auffassung eine wesentliche Rolle, weil es den Menschen die Fähigkeit gebe, diesen Prozess zu gestalten und zu ordnen Damit formuliert er Jherings Aussage in Zweck im Recht anders, denn der Göttinger Professor behauptete in seinem Spätwerk, Recht sei „die Voraussetzung, an welche das friedliche Zusammenleben“ – sowohl von den „Schwächeren“ als auch von den „Mächtigen“ – „geknüpft 94 95 96 97 98 99

Siehe Barreto, „Intuição“, 245 Siehe ebd , 264 Ebd , 262 „A cultura em oposição à natureza é o processo geral da vida “ Siehe ebd , 263 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Weikart, „Origins“, 480 Siehe insbesondere Barreto, Intuição, 262

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7 Der „Kampf ums Recht“

ist“ 100 Jhering ergänzt noch Folgendes: „Die Willkür des Mächtigen bleibt fortan immer noch möglich, aber nur um den Preis der Rechtsverletzung“ 101 Barreto hingegen behauptete, Recht sei eine Form der Gewalt, weil es zur menschlichen Kultursphäre gehöre Allerdings sei es ihm zufolge die Gewalt, die die primitive Gewalt töte und sie überflüssig mache (a força, que matou a própria força) 102 Damit wäre laut Barreto der „Rechtsmensch“ (o homem do direito) vom „zoologischen Menschen“ (homem da zoologia) nicht wesentlich zu unterscheiden 103 In diesem Punkt verbindet sich wieder die Evolutionstheorie Haeckels mit Barretos Rechtsphilosophie Jhering’scher Prägung Beide Menschen-Typen unterliegen einem Prozess der „Evolution“, der sich durch „Erbe“ (herança) und „Adaptation“ (adaptação) entwickelt 104 Damit ist die Rechtswissenschaft auch eine Wissenschaft, deren Gegenstand die Menschen sind, und die einem historisch-evolutiven Prozess untergeordnet ist Hier wiederholt Barreto Jherings Motto, „der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts“105 und ergänzt, es sei somit „praktischen“ (menschlichen) „Prinzipien“ unterworfen (princípios práticos) 106 Er distanziert sich damit, wie gesagt, von der metaphysischen Tradition des Naturrechts und vom rechtshistorischen Dogmatismus Savignys Letzterer war in Brasilien zu dieser Zeit äußerst populär107 durch die Übersetzungen in französischer Sprache – auch dies wieder ein symptomatisches Zeichen für die Dominanz französischer Quellen in der brasilianischen Rechtskultur 108 Die evolutionistische Auffassung Jherings als eines der Elemente der historischen Entwicklung des Rechts führte dazu, dass sein Meisterwerk Zweck im Recht in Frankreich als L’Evolution du Droit übersetzt wurde 109 Damit rückte die „Zweckjurisprudenz“ des deutschen Rechtsgelehrten, der Kern seiner Theorie, in den Hintergrund und die positivistischen Aspekte der „Evolution“ in Comte’scher Manier in den Vordergrund In Brasilien wurde vor diesem Hintergrund ein zweitrangiges Element in Jherings Rechtstheorie in einem anderen politischen Kontext durch eine (nicht unpolitische) Übersetzung zum Hauptaugenmerk Außerdem blieben bei dieser französischen Übersetzung des belgischen Juristen Octave Louis Marie Ghislain de Meulenaere110 einige Passagen

Siehe Jhering, Der Zweck im Recht (1884), 540 Siehe ebd Siehe Barreto, „Intuição“, 264 Ebd , 266–267 Ebd , 269 Siehe Jhering, Der Zweck im Recht (1884) Barreto, „Intuição“, 272 Siehe dazu Neder und Cerqueira Filho, „Filhos da Lei“, in: Dies , Idéias jurídicas, 119–120, und Borrmann, „Cultura Política“, 398–414 108 Siehe dazu Borrmann, „Cultura Política“, sowie Neder und Cerqueira Filho, „Filhos da Lei“ 109 Siehe Jhering, L’Evolution du Droit (Zweck im Recht), übers von O de Meulenaere (Paris: Chevalier-Marescq, 1901) 110 Siehe dazu Losano, Studien, 168–169 und 245–250, und Alix, „Ideología y filosofía“, 105 Über die Bedeutung von Meulenaeres Übersetzungen in Lateinamerika äußerte sich Mario Losano: „1947

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7 7 Barretos monistische Rechtsauffassung und Jherings französische Note in Brasilien

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aus Jherings Werk, die den widersprüchlichen Charakter des Rechts als soziokulturelle und menschliche Schöpfung betonen, einfach ausgeschlossen 111 Damit bekam Jherings Rechtsdenken in der frankophilen Welt eine Prägung als „positivistisch“ und so wurde er von der Mehrheit der brasilianischen Juristen  – Barretos Bemühungen zum Trotz – auch aufgenommen Die Konsequenzen aus Jherings Zwecktheorie wurden nicht richtig erkannt So geschah es mit der deutschen Rechtskultur insgesamt in Brasilien – sie wurde meistens durch die Brille französischer Beeinflussung gesehen Barreto konnte diese französisch gefärbte Rezeption vermeiden, da er selbst Deutsch einwandfrei lesen und schreiben konnte Er besaß in seinem Buchbestand Jherings Werk im Original Romero hingegen setzte sich mit der französischen Übersetzung Jherings auseinander und vertiefte damit seine bereits französisch-positivistisch geprägte Vision des deutschen Rechtswissenschaftlers Symptomatisch für diese französische Rezeption deutscher Rechtswissenschaften in Brasilien ist noch, dass das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ebenfalls vom Belgier Octave de Meulenaere übersetzt wurde112 und diese Übersetzung auf Französisch sich in vielen relevanten juristischen Bibliotheken, wie etwa in der des Gerichtshofs in Rio de Janeiro, befindet113 Im Hinblick auf diese kulturelle Vormachtstellung der französischen Wissenschaftskultur im 19  Jahrhundert Brasiliens schlug Barreto als Gegensatz nicht nur das Studium von deutschsprachigen Wissenschaftlern vom Rang Jherings und Haeckels vor, sondern auch das der deutschen Sprache 114 Seine Bewunderung für Haeckel hinderte Barreto aber nicht daran, die spätere Entwicklung seiner Theorien zu kritisieren und diese mit dem philosophischen Monismus des Sprachphilosophen Ludwig Noirés zu mäßigen 115 Er sei dennoch sein Leben lang

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stellt José Ortega y Gasset (1883–1955) dem argentinischen Leser eine gekürzte Ausgabe von Geist des römischen Rechts vor Auf diesem und anderen Wegen, nicht zuletzt durch die vom belgischen Richter Octave de Meulenaere ausgeführten französischen Übersetzungen, sind die Lehren Jherings im spanischsprechenden Lateinamerika verbreitet und integrierender Bestandteil des lokalen Rechtsdenkens geworden […] Diese Übersicht über die Verbreitung von Jherings Gedanken unter den Juristen kontinentaleuropäischer Bildung wäre recht unvollständig, würde man das Interesse unerwähnt lassen, mit dem Jherings Werke in Frankreich übersetzt und besprochen wurden Dem unermüdlichen Schaffen Octave de Meulenaeres haben wir die französische Übersetzung fast des gesamten Korpus der Werke Jherings zu verdanken Es ist seine französische Übersetzung, die wir oft als Ausgangstext für die Übersetzungen in anderen Sprachen vorfinden “ Siehe Losano, Studien, 168–169 Siehe Borrmann, „Cultura Política“, 409–411 Meulenaere war der Hauptverantwortliche für die Vermittlung Jherings in Frankreich Dennoch bewirkten seine Übersetzungen keine ernsthafte Rezeption seines Gedankenguts dort, so die Spezialisten Mario Losano und Luís Manuel Alix Siehe dazu Losano, Studien, 168–169, und Alix, „Ideología y filosofía“, 105 Siehe Borrmann, „Cultura Política“, 409–410 Über diese französische Rezeption deutschsprachigen Rechtsdenkens in den zivilrechtlichen Diskussionen über die Einführung der Zivilehe in Brasilien und die Rolle Rui Barbosas darin siehe Neder und Cerqueira Filho, „Filhos da Lei“, 107–131 Barreto, „Intuição“, 267–269 Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 319–320

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7 Der „Kampf ums Recht“

ein „Monist“ geblieben, versicherte er, kritisierte aber den Anspruch der Soziologie, die Theorien Darwins und Haeckels gegen Ende des 19  Jahrhunderts über die Grenzen der Naturgeschichte hinaus in die Gesellschaftsanalyse aufzunehmen 116 Dieser deterministische Blick, den Romero trotz seiner Kritik nicht loslassen konnte, assoziierte Barreto eher mit der französischen positivistischen Tradition als mit der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur Er bezog sich immer wieder auf Haeckel als dem „hervorragenden Meister aus Jena“ (insigne mestre de Jena),117 dessen Theorien er als Modell für eine wissenschaftliche Weltanschauung sah Im Gegenzug kritisierte er die ganze Soziologie von Gustave Le Bon (1841–1931), von Émile Durkheim (1858–1917) und auch von Spencer, denen er deterministische Ansichten vorwarf Das war der Grund, warum er die Soziologie eher mit Skepsis und Kritik betrachtete Er sah diesen neuen Wissenszweig als ein Produkt des Positivismus Comte’scher und französischer kultureller Prägung In seinem Spätwerk von 1887, in dem er den Determinismus heftig angriff, hinterfragte Barreto das Argument, alles sei durch die Natur im menschlichen Leben bestimmt – was für ihn ein fragwürdiges Argument darstellte 118 In der Folge machte er zwei beispielhafte Aussagen zu seiner Position bezüglich jeder Form von Determinismus, sei er rassisch oder geschlechtsbestimmt Erstens behauptete er, dass „das Söhnchen des Schwarzen oder des Mulatten“ (o filhinho do negro, ou do mulato), das er selbst war, „vielmals das reinste arische Blut hinter sich lasse“ (muitas vezes leva de vencida o seu coevo de puríssimo sangue ariano) 119 Zweitens fragte er, wie es „natürlich“ sein könne, „dass die Frau wegen ihrer Schwäche, immer eine Sklavin des Mannes sei“ (que a mulher, por sua fraqueza, seja sempre uma escrava do homem) Denn es sei „kulturell, dass sie ihm gegenüber gleichgestellt wird, manchmal sogar ihm überlegen ist Die Gynäkokratie […] drücke einen der höchsten Gewinne der Kultur über die Natur aus“, versicherte er 120

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Siehe ebd , 312–356 Siehe ebd , 356 Ebd , 324–325 Ebd , 355 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen „[…] é cultural que ela mantenha-se em pé de igualdade, quando não lhe seja até superior A ginecocracia, que os poetas não estão longe de admitir, exprimiria uma das mais altas vitórias ganhas pela cultura sobre a natureza“ Ebd , 326 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien In der vorliegenden Analyse wird Hautfarbe und „Rasse“ nicht als biologische Tatsache verstanden, sondern als rein sozial-ideologisches Konstrukt interpretiert und innerhalb des historischen Prozesses aufgearbeitet 1 Dadurch wird versucht, Romeros Beitrag zum Rassendiskurs zu verorten und auf seine Aneignung von Haeckels Evolutionismus in der „Ideologie des branqueamento“ aufmerksam zu machen Diese Ideologie bildet historisch das Fundament des brasilianischen Rassenkonzepts – und legte damit die Grundlagen für den Rassismus in Brasilien Laut dem Anthropologen Andreas Hofbauer lassen sich klare Zusammenhänge zwischen der „Ideologie des branqueamento“ und der Ausübung patrimonialer Macht in Brasilien sehen 2 Die Trennung zwischen „schwarz“ und „weiß“ als Exklusionsmechanismus ist älter als die modernen rigiden und biologisierten Vorstellungen von „Rasse“ Seit der Antike wurde die Farbe „Weiß“ in weiten Teilen Europas mit Vorstellungen des „Guten“, „Schönen“, „Reinen“ und „Göttlichen“ verbunden, die Farbe „Schwarz“ hingegen mit dem „Bösen“, „Finsteren“, „Diabolischen“ und „Sinnlichen“ Im europäischen Mittelalter wurde dieser Gegensatz auf christliche Wertvorstellungen übertragen und als Grundlage für moralische und religiöse Prinzipien instrumentalisiert Damals funk-

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Siehe hierzu ausführlicher Andreas Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘ e o Ideário do ‚Branqueamento‘ no Século XIX  – Bases Ideológicas do Racismo Brasileiro“, in: Teoria e Pesquisa 42/43 ( Jan –Juli 2003), 63–110 Auch auf Deutsch als ders , „Das Konzept der ‚Rasse‘ und die Idee des branqueamento im Brasilien des 19  Jahrhunderts – Ideologische Grundlagen des ‚brasilianischen Rassismus‘“, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1 (2003), o S Siehe auch ders , „Von Farben und Rassen“ und ders , Uma história de branqueamento ou o negro em questão (São Paulo: UNESP, 2006) In diesem Kapitel wird eine jahrzehntelange Debatte über „Rasse“ und „Rassismus“ in Brasilien zusammenfassend dargestellt Die vollständige Auflistung einer Bibliographie dazu befindet sich in Costa, Da Monarquia à República, 368–369 Zu einer ausführlichen historischen Analyse siehe: Ventura, Estilo tropical, Schwarcz, Espetáculo; Marcos Chor Maio und Ricardo Ventura Santos (Hg ), Raça, ciência e sociedade (Rio de Janeiro: Fiocruz, 1996); Hofbauer, Uma história de branqueamento, und Thomas E Skidmore, Preto no Branco: raça e nacionalidade no pensamento brasileiro (1870–1930) (São Paulo: Companhia das Letras, 2012) Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 68

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

tionierte der Ein- und Ausschließungsmechanismus über die religiöse Zugehörigkeit zum katholischen Glauben und die unterschiedlichen Hautfarben wurden meistens als Ergebnis solcher Zugehörigkeit wahrgenommen Hautfarben waren demzufolge religiös-moralischen Kriterien untergeordnet 3 Durch seinen universalistischen Anspruch entwickelte der katholische Glaube ein Missionierungsgebot, das sich in militarisierter Form in den Kreuzzügen durchsetzte, mit einem Feindbild gegenüber Ungläubigen und anderen monotheistischen Religionen (Islam, Judentum) Durch die „Heiligen Kriege“ gegen die in „Sünde lebenden“ Menschen gelang es der katholische Kirche, die Idee des modernen (und überwiegend katholischen) Europas zu prägen 4 Die iberische Halbinsel, die vom katholischen Glauben stark beeinflusst war, steht als Paradebeispiel für diesen religiös motivierten Exklusionsmechanismus im Mittelalter: Das zeigt sich etwa im Fall der Juden in Portugal, die zu „neuen Christen“ (cristãos novos) konvertieren mussten, andernfalls erlitten sie Vertreibungen und Verfolgungen Eine Assoziation zwischen „dunkel“ und „nicht-katholisch“ oder „nicht-gläubig“ setzte sich damals fest, weswegen fast alle überseeischen Bevölkerungsgruppen als „Neger“ bezeichnet wurden 5 Dieser Missionierungsgeist, gepaart mit einem stark ausgeprägten Militarismus, lieferte den ideologischen Nährboden für die Seeexpansion und die Conquistas von Übersee-Territorien von der iberischen Halbinsel aus 6 Die Expansion wurde als religiöser Kampf gegen das „Unheilige“ und für die Rettung von Seelen, die ein Leben im Sünde führten, angesehen Diese Völker wurden dann zum katholischen Glauben konvertiert Anhand dieser Begründung der katholischen Kirche wurde letztlich der gesamte Sklavenhandel faktisch seitens der katholischen Kirche gebilligt 7 Der Jesuit Manuel da Nóbrega (1517–1570), der vom portugiesischen König dazu berufen worden war, das koloniale Projekt geistlich zu führen, bezeichnete die indigenen Bevölkerungen in seinen Briefen als „Schwarze“ und rechtfertigte damit die „heiligen Kriege“ gegen sie 8 Die Jesuiten agierten im Geiste der Missionierung und gegen die „Feinde“ des (katholischen) Glaubens in einer Art, die sich spätestens seit den Kreuzzügen in Europa quasi militärisch ausprägte Erst später nahmen die Jesuiten in ihren „Missionen“ die Indigenen als Schützlinge auf und konvertierten diese zum

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Siehe dazu ebd , 70–71 Die Verbindung zwischen schwarzer Hautfarbe und Sklavensein liegt wahrscheinlich in biblischen Interpretationen des Noah-Fluchs aus dem 6 und 7  Jahrhundert, so Hofbauer Siehe ebd , 71 An seinen Grenzen entstehen bis heute noch zahlreiche Konflikte Hofbauer betont, dass der große portugiesische Schriftsteller Camões in seinem Meisterwerk Os Luzíadas die Bezeichnung „Neger“ für verschiedene Völker benutzte, die nah dem Äquator lebten: sowohl Afrikaner als auch Indianer Siehe ebd , 103, Fn 26 Ebd , 70 Über den Militarismus auf der Iberischen Halbinsel als ideologische Charakteristik der portugiesischen Seeexpansion siehe Neder, Iluminismo, 33–100 Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 73 Ebd , 71

8 1 Aufklärung und „Rasse“

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katholischen Glauben und dessen Lehre So verurteilte über ein Jahrhundert später einer der bedeutsamsten Jesuiten-Prediger des 17  Jahrhunderts, Pater Antonio Vieira (1608–1697), die Sklavenherren, weil sie Indigene als „Schwarze“ bezeichneten und sie zu Sklaven machen wollten In vielen Verordnungen jenes Jahrhunderts wurde die Bezeichnung „schwarz“ für Indigene fortan gesetzlich unterbunden 9 Der Jesuitenorden wurde im Zuge der Gegenreformation im 16   Jahrhundert gegründet Die „Inazianer“, benannt nach ihrem Begründer Ignatius von Loyola (1491– 1556), sahen sich selbst als „Soldaten Christi“ und lebten nach dem Motto ihres geistlichen Vaters perinde ac cadaver (Kadavergehorsam) 10 Sie sind auch historisch für ihren strikten Gehorsam dem Papst in Rom gegenüber (Ultramontanismus) bekannt In der iberischen Welt, hauptsächlich in den Kolonialgebieten, übten die Jesuiten einen enormen Einfluss aus 11 Mit ihren Schulen und Missionen kontrollierten sie das Bildungswesen fast konkurrenzlos bis in die zweite Hälfte des 18   Jahrhunderts, als sie aus Portugal und Spanien vertrieben wurden Vor allem ihre Lehrmethode der Ratio Studiorum, die maßgeblich auf scholastischen und thomistischen Lehren basierte, war bildungspolitisch prägend in der portugiesischsprachigen Welt 8.1 Aufklärung und „Rasse“ Mit der Aufklärung im 18  Jahrhundert entwickelte sich eine wachsende Besorgnis, die Verhältnisse zwischen Mensch und Natur außerhalb von religiös-moralischen Weltbildern zu erfassen In dieser Zeit begannen sich die Erklärungen für die menschlichen Unterschiede von den alten religiösen Vorstellungen abzukoppeln und auf physischen Kriterien sowie neuen Methoden aufzubauen Dabei traten geographische und klimatische Faktoren als wichtiger Grundsatz für diese neuen Begründungen der Unterschiede zwischen den Menschen auf 12 Parallel dazu verabschiedeten sich viele Denker

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Ebd Der Missionierungsgeist von damals wird so beschrieben: „Der Transport afrikanischer Sklaven in die ‚Neue Welt‘ wurde folglich im Jesuitendiskurs als ‚resgate‘ (Erlösung, Rettung) propagiert – also als eine Art von ‚Rettungsaktion‘, die eine ‚Reintegration‘ von ‚angeschwärzten‘ Menschen in die große Familie der Christenheit ermöglichen sollte In jenen an die Sklaven gerichteten Predigten stellte Vieira der Versklavung des Körpers eine mögliche Befreiung ihrer Seelen gegenüber Galt die Taufe als erster wesentlicher Schritt zur ‚Reinwaschung‘ der Seelen, sollte ein frommes und untertänig geführtes Sklavenleben mit einer spirituellen  – ‚ewigen‘  – Freiheit belohnt werden, die viel bedeutender sei als die durch den Sklavenfreibrief erhaltene Befreiung des Körpers “ Siehe ders , „Das Konzept der ‚Rasse‘“, o S Siehe Neder, Iluminismo, 204 Mehr zum Motto der Jesuiten in Gisálio Cerqueira Filho, Édipo e Excesso: reflexões sobre lei e política (Porto Alegre: Sérgio Antônio Fabris), 2002, 90–91 Siehe Azevedo, A cultura brasileira Hofbauer betont noch, dass trotzdem beide Auffassungen – religiöse sowie physisch-geographische – noch lange parallel existierten und sich gegenseitig beeinflussten Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 74–75

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

der Aufklärung von den früheren idyllischen Vorstellungen über entlegene Regionen der Welt – vor allem von den sogenannten Tropen als einem „verlorenen Paradies“ – und negativere Ansichten darüber entwickelten sich Sie entfernten sich dabei nicht von den einstigen moralischen Werten, obwohl sie jetzt auf externen, angeblich natürlichen Faktoren beruhen sollten Das zeigt sich etwa in der Vorstellung von den „Tropen“ als einem Ort des „unmoralischen“ Lebens par excellence Harte klimatische Bedingungen führten dieser Ansicht nach zu einer körperlichen Erschlaffung, die wiederum die Menschen daran hindere, sich intellektuell zu entwickeln Daher würde die Bevölkerung der Tropen meistens ein „faules“ Leben führen und sei deswegen der Sklaverei zuzueignen 13 Montesquieu (1689–1755) beispielsweise stellte eine klare Verbindung zwischen den klimatisch-geophysischen Faktoren und den verschiedenen Staatsformen her Obwohl der aufgeklärte Theoretiker die Sklaverei aus ethischen und juristischen Gründen verurteilte, begünstigte er sie durch die moralischen Konsequenzen aus seiner klimatischen Theorie Wie Montesquieu unterstützten auch andere aufgeklärte Denker mit ihren Überzeugungen die Sklaverei und den europäischen Kolonialismus Darüber hinaus trugen sie auch mit deterministischen Ansätzen dazu bei, dass sich ein Rassenkonzept formierte 14 Ein weiteres Beispiel für einen deterministischen Blickwinkel stellt der Philosoph Corneille de Pauw (1739–1799) dar 15 In seiner Arbeit Recherches philosophiques sur les Américains (1774) ging er von einer „Degeneration“ der tierischen und pflanzlichen Spezies Amerikas aus und positionierte sich gegen die damals geläufigen romantischen Visionen eines tropischen Paradieses Er argumentierte, dass durch den schlechten Einfluss der äußerst harten klimatischen Bedingungen die amerikanischen Urbevölkerungen dazu verdammt seien, Völker „ohne Geschichte“ zu bleiben 16 Ihnen blieb demnach ein Ausweg aus solchen „wilden“ Zuständen verschlossen 17 Allerdings wurde „Rasse“ immer noch als umkehrbares Phänomen betrachtet Der Unterschied zu den früheren (religiösen) Vorstellungen liegt darin, dass die menschlichen Hautfarbenunterschiede jetzt als das Resultat von externen klimatischen Faktoren betrachtet wurden Die „Tropen“ erhielten damit die Konnotation als „unreines“ und „ungeeigne-

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Ventura, Estilo tropical, 19–29 Siehe ebd , 7 Als Paradebeispiel für einen geographisch begründeten Determinismus kann die Histoire naturelle générale et particulière des französischen Naturalisten Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon (1707–1788) gesehen werden, deren erster Band 1749 erschien Siehe Hofbauer, Uma história de branqueamento, 106 Zu der deterministischen Konsequenz seiner Argumentation, bei der er sich auf Montesquieu beruft, siehe ebd , 23 Hofbauer, Uma história de branqueamento, 111 Ventura, Estilo tropical, 23 Ebd Die Verbindung zwischen einem solchen Diskurs und einer eurozentrischen Weltordnung, die die verschiedenen Menschen hierarchisch unterteilte und diesen verschiedene historische Bedeutungen zuordnet, liegt auf der Hand Siehe ebd , 10

8 2 Die Biologisierung der menschlichen Unterschiede im 19 Jahrhundert

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tes“ Ambiente für die Entwicklung der Menschen, weil dafür dort angeblich ungünstige klimatische Bedingungen herrschten 8.2 Die Biologisierung der menschlichen Unterschiede im 19. Jahrhundert Die allmähliche Konsolidierung individueller Rechte ab dem Ende des 18   Jahrhunderts, die sich im Zuge der „Bürgerrevolutionen“ und des Anspruchs auf neue Rechte im darauf folgenden Jahrhundert etablierten, führte zu komplexeren staatlichen Strukturen und ebenso zur wachsenden Bürokratisierung des menschlichen Lebens 18 Nun wurden die alten religiösen Weltbilder in Teilen Europas hinterfragt Diese Infragestellung brachte eine allmähliche Unabhängigkeit von religiös-moralischen Erklärungen mit sich und schlug sich regelrecht in einer wissenschaftlich-klassifikatorischen „Manie“ nieder 19 Wissenschaft wurde mehr denn je auf objektive und beobachtbare Faktoren abgestellt Dabei orientierten sich die Forschenden immer mehr an spezifischen (als wissenschaftlich geltenden) Prozeduren und Methoden Vor diesem Hintergrund wurden „Rassen“ zunächst als etwas von externen geophysischen Faktoren Bedingtes gesehen und später eher als ein Produkt interner menschlicher Faktoren 20 Kant etwa verwendete das deutsche Wort „Keime“, um sich auf solche internen Mechanismen zu beziehen 21 Zu Beginn des 19  Jahrhunderts hielt der Begriff „Rasse“ in der Fachliteratur endgültig Einzug, als Georges Cuvier (1769–1832) ihn in Verbindung mit der Idee von immanenten Unterschieden zwischen den Menschen verwendete Das Rassenkonzept trat damit in klaren Widerspruch mit der humanistischen Tradition Rousseaus, der die Menschheit als grundsätzlich „gleich“ betrachtete (daher auch als Subjekte mit gleichen Rechten) 22 Dieser Akzent auf festgelegte menschliche Unterschiede, die auf biologische, vererbte Charakteristika zurückzuführen seien, gab den Ausschlag für verschiedene klassifikatorische Studien über den Menschen Typische Beispiele dafür sind die phrenologischen Ansätze des Anatoms Franz Josef Gall (1758–1828) und des Wissenschaftlers Anders Retzius (1796–1860) oder die Kriminalanthropologie von Cesare Lombroso (1835–1909) Paul Broca (1824–1880) beispielsweise argumentierte, dass die Unterschiede zwischen Menschen auf ihren „rassischen Strukturen“ beruhten und diese durch die Schädelvermessung festgestellt werden könnten 23 Zusammen mit Gall 18 19 20 21 22 23

Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 75 Siehe Schwarcz, Epetáculo, 63 und 119 Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 75 Mehr Details über diesen Prozess der Biologisierung der menschlichen Unterschiede in der Wissenschaftsgeschichte siehe ders , Uma história de branqueamento, 118–139 Siehe ebd , 122 Siehe Schwarcz, Espetáculo, 63 Ebd , 67

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

glaubte Broca, dass Rassenmischung grundsätzlich schlecht für die Entwicklung der Menschheit sei und zu einer hybriden und in der Folge sterilen „Rasse“ führen würde Solche Ansichten wurden bald zu einer wissenschaftlichen Mode, auch in Brasilien Lombroso zum Beispiel stand mit seiner Kriminologie für ein klares deterministisches Modell und führte Straftaten auf physische und vererbte Faktoren zurück Zu einer solchen Vorstellung standen die kriminalistischen Ansätze Barretos – der das Verbrechen als Resultat von kulturgesellschaftlichen Bedingungen ansah – deutlich im Widerspruch Die Publikation von Charles Darwins Entstehung der Arten 1856 bedeutete eine Zäsur in der Welt der Wissenschaften Das Werk führte ein neues Paradigma ein und setzte in Bezug auf Naturforschung eine Neu-Orientierung in Gang, die auch von der jungen „Generation 1870“ in Brasilien nicht unbemerkt blieb Die leicht zugängliche Sprache des Werkes machte die darin enthaltenen Feststellungen einem breiteren Publikum verständlich 24 Damit wurden Darwins evolutionistische Ansätze von vielen anderen Fächern als Grundlage aufgenommen Konzepte wie survival of the fittest, competition, evolution, hereditarity waren bald in jedermanns Munde, obwohl Darwin seiner „Deszendenztheorie“ zunächst einen strikt biologischen Fokus verlieh 25 Bald entwickelte sich daraus eine neue sozial-darwinistische Generation in vielen (neuen) Fächern Ab dem letzten Viertel des 19   Jahrhunderts gründete etwa Herbert Spencer eine evolutionistische Soziologie nach Darwins Ansätzen Thomas Buckle brachte seinerseits eine deterministische Betrachtungsweise der Geschichte mit naturhistorischen Zügen auf den Weg 26 Beide Autoren beeinflussten Romero tief in der Niederschrift seines Großwerks Geschichte der brasilianischen Literatur (Historia da Litteratura Brazileira) von 1888 Rassendeterministische Theorien gewannen mehr Akzeptanz unter Gelehrten und in Brasilien verlief diese Entwicklung nicht anders, da sich seine Bildungselite an Europa orientierte Aber auf dem europäischen Kontinent wurde Rassenmischung grundsätzlich als etwas Negatives betrachtet 27 In Brasilien bekamen solche deterministischen Ansätze mit Bezug auf die menschlichen Rasssen, besonders nach Romeros Wirken ab dem letzten Quartal des 19  Jahrhunderts, eine andere Rezeption, zumal sie in einer anderen politischen Kultur aufgenommen wurden Da solche Rassentheorien die Feststellung einer Hierarchie der Menschen mit sich brachten, folgte auch bald eine Theorie zur „Verbesserung“ der Menschen durch die Förderung bestimmter rassischer Merkmale So entstand die „Eugenik“ als Konsequenz der Rezeption darwinisti-

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Ebd , 72 Die Möglichkeiten sozialpolitischer Instrumentalisierungen solcher Ideen, wie survival of the fittest und natural selection für die Begründung der europäischen neokolonialen Politik gegen Ende des 19  Jahrhunderts sind offensichtlich Siehe ebd , 71–75 Ebd , 73 Siehe ebd , 76–78

8 2 Die Biologisierung der menschlichen Unterschiede im 19 Jahrhundert

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scher Ansätze bei der Betrachtung von Rassen: „eu“ bedeutet „gut“ und „genos“ heißt Geschlecht „Eugenik“ wäre dann die Theorie des „guten“ Menschengeschlechts28 und hätte als Wissenschaft in der geltenden Praxis die Aufgabe, die natürlichen Fähigkeiten durch eine Auswahl der besseren, am meisten entwickelten „Rassen“ zu fördern 29 Die eugenischen Ansichten meinten, „Fortschritt“ sei den rassisch „reinen“ Gesellschaften vorbehalten und Rassenmischungen seien für den Prozess der „Degeneration“ und der gesellschaftlichen „Dekadenz“ verantwortlich Die Menschheit wäre in diesem Sinne von der Natur her in ihrem Wesen nicht gleichgestellt 30 Der Theologe Ernest Renan, der in Brasilien auch unter Gelehrten große Akzeptanz erfuhr, sprach von der Existenz drei verschiedener Rassen – der weißen, schwarzen und gelben Diese wiesen seiner Meinung zufolge spezifische Ursprünge und unterschiedliche Entwicklungen auf Der Soziologe Gustave Le Bon (1841–1931) hingegen begründete in der Sozialpsychologie verschiedene Gesellschaftsgruppen anhand von rassischen Faktoren Auch Hippolyte Taine war ein Befürworter des Determinismus Seine Gedanken darüber basierten auf Rassenunterschieden und er verstand die unterschiedlichen Nationen grundsätzlich als das Resultat von Rasse, Klima und Temperament 31 Alle drei Autoren – Renan, Le Bon und Taine – übten großen Einfluss auf Romero aus Im Gegensatz zu Barreto wurde Romero nicht so stark von den deutschsprachigen liberalen Autoren geprägt, vor allem ließ er sich nicht so tiefgehend wie sein Freund von deutsch-jüdischen Autoren wie etwa Ewald, Auerbach oder Fröbel beeinflussen Am deutlichsten wurde jede Möglichkeit einer positiven Entwicklung für die gemischten Rassen von dem französischen Diplomaten Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) abgelehnt In seinem Essai sur l’inegalité des races humaines (1853–1855) krönte er die Vorstellung einer „Degeneration“ durch die Mischung verschiedener Rassen Er betrachtete die gemischten Rassen als „Untermenschen“, degeneriert und dekadent Gobineau war 15 Monate lang selbst in offizieller Funktion in Brasilien Er beschrieb die brasilianische Bevölkerung als „komplett Mulatte, vergiftet in ihrem Blut

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Der Begriff „Eugenie“ wurde erstmals 1883 von dem englischen Wissenschaftler Francis Galton (1822–1911) verwendet Nach seiner Lektüre der Entstehung der Arten schrieb er 1869 Hereditary genius, das bis heute als Grundlagentext der „Eugenik“ als Disziplin gilt Galton verstand die diversen menschlichen Fähigkeiten als das Ergebnis von ererbten Faktoren (Hereditarity) anstatt als aus kulturellen Unterschieden resultierend Dies stand im klaren Gegensatz zu Rousseaus Vorstellung, die mehr auf Erziehung und Kultur setzte Dessen Meinung zufolge waren alle Menschen von Natur aus gleich Galton drückte sich hingegen so aus: „I suppose to show in this book, that a man’s natural abilities are derived by inheritance “ Siehe ebd 78–79 Solche Feststellungen sind ein deutlicher Gegensatz zu den Studien des kulturellen Evolutionismus von Lewis Morgan (1818–1881), Edward Tylor (1832–1917) oder James Frazer (1854–1941), die als Gründerväter der Kulturanthropologie gelten Ebd , 75 Ebd , 78–80 Ebd , 82–83 Auch der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873), der 1865 selbst in Brasilien war, sah in der Rassenmischung einen Degenerationsfaktor Siehe ebd , 17

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

und Geist, und erschreckend hässlich “32 Seine Ansichten stehen exemplarisch für eine pessimistische (und für die damalige Zeit) auch als „wissenschaftlich“ geltende Ansicht über die negativen Effekte von Rassenmischung In einer Zeit, in der das politische Establishment ein Narrativ des Erfolges und der kulturellen Differenzierung suchte, hatten seine äußerst negativen Vorstellungen über Brasilien allerdings nicht viel Erfolg 33 „Rassenreinheit“ und Homogenität waren damals in Europa die höchsten Gebote für nationalen Erfolg Ausgerechnet in einer Zeit des nationalen Aufbaus, den Brasilien mit neuen wissenschaftlichen Institutionen, wie etwa Forschungszentren, Fakultäten und Museen, sich selbst als modernes Land auf der internationalen Bühne zu präsentieren versuchte, wirkte die Rassenmischung wie eine Hürde für seinen Erfolg als Nation International wurde es grundsätzlich als „rassisch“ gemischt wahrgenommen und mit diesem „Problem“ mussten die brasilianischen Führungsköpfe und Intellektuellen umgehen Vor diesem Kontext trat eine differenzierte und äußerst bemerkenswerte Rezeption der Rassentheorie auf, zu der Romero einen wesentlichen Beitrag leistete 8.3 Die Rezeption der Rassentheorien in Brasilien Der Liberalismus erwies sich angesichts des Unabhängigkeitsprozesses von Portugal zunächst als notwendige Ideologie der Eliten, erlangte aber als Weg zur politischen Durchsetzung von Rechten keine allgemeine Geltung für die Mehrheit der Menschen 34 In Zeiten, in denen die Sklaverei als System von allen Seiten hinterfragt wurde, kam die Kernidee der Rassentheorie  – biologische, naturwissenschaftlich fundierte Hierarchien, vor allem rassisch-sozial bedingt – dem Projekt der Herrschenden sehr gelegen, denn mit ihr wurden Menschen wieder in feste Hierarchien eingeordnet Sklaven wurden in Brasilien meistens als „Sache“, als „Besitz“ wahrgenommen und die Eliten des Landes sehnten sich nach einer begrenzten Form von Bürgerschaft nach dem offiziellen Ende der Sklaverei 1888 Darin blieben die Schwarzen von jeglichen Bürgerrechten ausgeschlossen 35 In der Mitte dieser Gesellschaftsstruktur hingegen bewegte sich eine Masse von „Bürgern“ zweiter Klasse, deren Rechte und ihre Durchsetzung von den paternalistischen Beziehungen zu irgendeinem Herrn sowie von irgendeiner Form von Vetternwirtschaft abhingen 36 Allerdings sah sich die brasilianische gebildete Elite mit einem Problem konfrontiert: Brasilien war ein von Rassenmischung geprägtes Land und die meisten Wissenschaftler sahen diese als Hindernis für die Entwicklung und den Fortschritt einer Nation

32 33 34 35 36

Siehe ebd Siehe Hofbauer, Uma história de branqueamento, 129 Siehe dazu Neder, Discurso jurídico, 103 Siehe dazu Grinberg, Fiador Siehe Schwarz, „As idéias fora do lugar“

8 3 Die Rezeption der Rassentheorien in Brasilien

185

Das Land blieb von den Rassentheorien, die schon mindestens seit der Mitte des 19  Jahrhunderts in Europa kursierten, nicht ausgeschlossen Es war weltweit in den Handelsströmen gut vernetzt und nahm auch teil am Wissenszirkulationsprozess, der damit verbunden war 37 Die brasilianische gebildete Elite zeigte große Begeisterung für die internationalen Debatten, die sie, wie bereits gezeigt, vor allem durch ausländische Zeitschriften wie Revue de Deux Mondes, Journal des Débats und Quarterly Review verfolgte Ein weiterer bildungspolitischer Faktor, der zu dieser begeisterten Rezeption der Rassentheorien in Brasilien im letzten Quartal des 19  Jahrhunderts beitrug, war der Anspruch, sich als moderne Nation zu präsentieren Zudem reifte dort damals eine Generation heran, die bereits in den einheimischen Bildungszentren ihre Ausbildung erhalten hatte und dementsprechend offen für die Rezeption solcher wissenschaftlichen Diskurse war Diese „Männer der Wissenschaft“ sahen sich eng mit ihren Ausbildungsinstitutionen verbunden und ihre Diskurse waren durch diese institutionelle Zugehörigkeit legitimiert 38 Weiterhin setzten sich nach Darwin die Biologie und die Zoologie mit ihrer Evolutionstheorie als Modell für andere neue Wissenszweige durch, die damals entstanden 39 „Rassen“ waren aber in Brasilien bereits seit den Anfängen der Kolonisation als Exklusionsmechanismus vorhanden und stellten deshalb nichts Neues dar, obwohl sie davor primär eine religiös-moralische Konnotation hatten 40 Produkt des neuen politischen Kontextes hingegen war die „fixe“, „biologisierte“ Auffassung von „Rassen“ Allerdings nahmen die Rassentheorien in Brasilien eine andere Form an, die sich mit den kulturpolitischen Besonderheiten des Landes eng verknüpfen lässt, denn ein striktes biologisiertes Verständnis von „Rasse“ konnte sich dort nicht durchsetzen 41 Diese unterschiedliche Rezeption lässt sich in zwei Hauptpunkten zusammenfassen: Erstens wurde gemäß dem religiös-thomistischen kulturellen Erbe ein strikt biologisiertes Rassenkonzept abgelehnt und zweitens fand die grundsätzlich negative Auffassung von Rassenmischung mit Hinblick auf die deutliche ethnische Vielfalt seiner Bevölkerung nicht so viele Anhänger 42 Seit der Kolonialzeit herrschten in Brasilien, wie oben bereits dargestellt, patrimoniale Machtstrukturen, die stark von Vasallitätsverhältnissen43 geprägt waren, in einer von Sklaverei geprägten und hoch hierarchisierten Gesellschaft Jede Beziehung hing viel mehr von Abhängigkeitsbindungen an die Herrschaften ab als von jeder Form

37 38 39 40 41 42 43

Siehe Schwarcz, Espetáculo, 41, und Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 76 Schwarcz, Espetáculo, 49–51 Ebd , 40 Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 76 Mehr Details zu den Gründen dafür befinden sich in Costa, Da Monarquia à República, 375 Ebd , 375, und Skidmore, Preto no Branco, 99 Detaillierte bibliographische Hinweise dazu befinden sich in Costa, Da Monarquia à República, 380 Fn 27

186

8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

juristischer Regeln 44 Dabei wurden gesetzlich verankerte Verbindlichkeiten oder die Institutionalisierung von Rechten als eine Beschränkung der personalistischen (und „gnädigen“) Machtausübung der Herren wahrgenommen Juristische und bürokratische Regeln setzen meistens eine gewisse Unpersönlichkeit voraus, die sich mit einem solchen patrimonialen System in Konfrontation befand 45 Historisch betrachtet ist Brasilien allerdings ein Land der personalen Bindungen Regeln existierten, aber was in der Praxis zählte, waren nicht selten die persönlichen Beziehungen, Sympathien oder Zugehörigkeiten Der berühmte Historiker Sérgio Buarque de Holanda definierte in seinem klassischen Werk Wurzel Brasiliens (1936) die „Herzlichkeit“ (cordialidade) als prägnanteste Charakteristik der brasilianischen politischen Kultur 46 Das hängt deutlich mit der patrimonialen Machtstruktur des Landes zusammen und mit der Art, wie der „Liberalismus“ von der Elite rezipiert wurde Wegen der im Land herrschenden Machtverhältnisse war er grundsätzlich „fehl am Platz“ (fora do lugar) 47 Vor diesem Hintergrund  – und gemäß der katholischen Tradition des Landes  – wurden „Rassen“ in Brasilien nie so strikt als ein fixes biologisches Konzept rezipiert Folglich hing die Rassenideologie hier, anders als in Europa, nicht direkt mit einer strengen, objektiven Beschreibung der Hautfarbenpigmentation zusammen Es entwickelte sich daher ein besonderes Konzept, das vielmehr mit dem soziopolitischen Kontext verbunden war 48 Diese spezifische (und äußerst widersprüchliche) Aneignung der Rassenidee blieb von den europäischen Forschungsreisenden im 19   Jahrhundert nicht unbemerkt Da sie mit bestimmten soziopolitischen Situationen zusammenhing, konnte sie immer wieder neu definiert werden In diesem Sinne notierte der bayerische Maler Johann Moritz Rugendas (1802–1858), der mit einer russischen Expedition (Langsdorff)49 nach Brasilien kam, eine für ihn merkwürdige Form der Hautfarbenbezeichnung: „So sonderbar es daher auch scheinen mag, so ist die Entscheidung über die Farbe eines Menschen in Brasilien nicht sowohl eine Sache des Augenscheins oder der Physiologie als der Gesetzgebung und Polizei, und jeder, der nicht wirklich entschieden schwarz ist und die Zeichen der afrikanische Race nicht unverkennbar und unvermischt an sich trägt, kann unter Umständen als weiß angesehen werden […] Verbindungen zwischen Weißen und Mulattinnen entstehen auch häufig dadurch, dass wohlhabende farbige Eltern sehr gerne ihre Töchter an Weiße verheiraten […] In allen diesen Verhältnissen ist ein

44 45 46 47 48 49

Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 76 Siehe Costa, Da Monarquia à República, 380–382 Siehe Holanda, Die Wurzeln Brasiliens, 177–178 Siehe Schwarz, „As idéias fora do lugar“ Über die konservative Rezeption liberalen Gedankenguts seitens der brasilianischen Elite in einer von Sklaverei und Klientelismus geprägten Gesellschaft siehe Neder, Os compromissos conservadores Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 76–77 Siehe Prutsch und Rodrigues-Moura, Brasilien, 53–58

8.4 „Rassen“ und branqueamento im Kontext des Abolitionismus

187

beständiges Streben der dunklen Farben, ihre Nachkommenschaft der weißen Farbe zu nähern, der Schlüssel zu manchen Erscheinungen und Vorfällen, die dem Europäer auffallend scheinen können “50

Die hier bestehende Analyse möchte nicht den Eindruck erwecken, in Brasilien sei es einfacher gewesen, Sklave zu sein,51 sondern einfach deutlich machen, dass die „Aufhellung“ der Hautfarbe eine konstruierte „Idee“ oder „Ideologie“ mit ihren historischen Wurzeln war und sich gut der brasilianischen soziopolitischen Ordnung anpasste In diesem System übte die Aussicht der sozialen „Mobilität“ für Sklaven durch die Aussicht eines „Freilassungsbriefs“ (Carta de Alforria) eine äußerst wichtige politische Funktion aus Eine solche Carta war durch gute Beziehungen zum Herrn erreichbar Die Perspektive der Befreiung war dabei sehr erfolgreich, Proteste und Rebellionen der „schwarzen“ Bevölkerung einzudämmen 52 Die „Freilassung“ (Alforria) war somit meistens eine (religiöse) gnädige Tat des Herren und oft mit einer „Aufhellung“ der Hautfarbe (im sozialpolitischen Sinne) verbunden:53 „Schwarz“ bedeutete damit Sklavendasein und ein Unterdrückter, ein Wesen „zweiter Klasse“ Deswegen wollte niemand in Brasilien mit der schwarzen Farbe identifiziert werden 54 Die Aussicht auf eine Freilassung (Alforria) hatte in der brasilianischen Gesellschaft eine ähnliche Funktion wie der Mythos vom selfmade man in den USA 55 8.4 „Rassen“ und branqueamento im Kontext des Abolitionismus Die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien war ein langsamer Prozess, der sich durch das ganze 19  Jahrhundert zog Sie wurde zunächst eher durch internationalen Druck in Gang gesetzt, vor allem seitens Englands, als durch eine eigene Überzeugung der Eliten 56 In der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts waren die ersten Stimmen gegen die Sklaverei in Brasilien zu hören, weil sie gegen die religiös-moralischen Werte des katholischen Glaubens verstoße, so die Ansicht Die Sklaverei verhindere somit den 50 51 52 53 54

55 56

Zitat aus dem deutschsprachigen Artikel von Hofbauer, „Das Konzept der ‚Rasse‘“, o S Ders, „O Conceito de ‚Raça‘“, 77 Andererseits verhinderte sie die Entstehung eines stark ausgeprägten „schwarzen“ Bewusstseins Ebd , 78 Siehe ebd , 78–79, und Costa, Da Monarquia à República, 376–377 In Brasilien geschieht es oft, dass „dunkelhäutige“ Menschen rassistisch agieren Es ist verständlich, dass sich angesichts der politischen Konstellation mit Bezug auf die sklavische Vergangenheit des Landes kaum jemand selbst als „schwarz“ wahrnehmen möchte, da er sich dadurch als soziopolitisch Minderwertiger Vorurteilen aussetzen würde Dadurch entwickelte sich historisch eine Vielzahl von Bezeichnungen für die Hautfarben, die bis heute bei Bevölkerungsumfragen verwendet werden Ebd , 369–370 Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 79

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

Fortschritt des Landes, weil sie die Entwicklung menschlicher Fähigkeiten beschränke und deswegen Verachtung verdiene Seit ihren Anfängen ging damit die Kampagne gegen die Sklaverei mit der Förderung europäischer Migration Hand in Hand Diese wurde immer mehr als Voraussetzung einer Modernisierung des Landes ab der Mitte des 19  Jahrhunderts angesehen 57 1871 wurde die berühmte Lei do Ventre Livre unter Regierungschef Rio Branco sanktioniert 58 Damit sahen sich die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes mit der Aussicht auf ein baldiges Ende der Sklaverei konfrontiert In diesem Kontext wurden die Stimmen für einen Import ausländischer, insbesondere europäischer Arbeitskräfte immer lauter und stärker Ein Hinweis darauf ist zweifelsohne die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Immigration (Sociedade Internacional de Imigração) 1866 Die Migration von europäischen Arbeitskräften wurde dann als Voraussetzung für eine wirtschaftliche und produktive Modernisierung des Landes betrachtet, die schwarze Bevölkerung und die Sklaverei hingegen allmählich mehr als Hindernis für den Fortschritt und die Industrialisierung wahrgenommen 59 Der Jurist und Diplomat Joaquim Nabuco gilt als einer der größten Befürworter des Abolitionismus Gleichermaßen war er 1880 Begründer der Brasilianischen Gesellschaft gegen die Sklaverei (Sociedade Brasileira contra a Escravidão) Seine Schriften wie etwa O Abolicionismo (1883) stehen paradigmatisch für die abolitionistische Kampagne in Brasilien Darin stellte er einen klaren Zusammenhang zwischen der europäischen Migration und der Modernisierung des Landes her Lang vor Gilberto Freyres klassischem Werk Herrenhaus und Sklavenhütte (1933) sprach Nabuco in seinen politischen Reden über ein harmonisches Zusammenleben zwischen Weißen und Schwarzen in Brasilien und stellte Vergleiche zur angespannten Lage zwischen den „Rassen“ in den USA an 60 Sicherlich war es sein Ziel, dadurch die Angst der Eliten vor der Abschaffung der Sklaverei einzudämmen und deswegen setzte er seinen Akzent auf ökonomische Argumente: Die Sklaverei sei eine rückständige Produktionsform, die nicht den Standards des Fortschritts entspreche Zugleich war Nabuco einer der größten Befürworter einer staatlich geförderten Migration aus Europa Im Gegensatz zu den europäischen Rassentheorien, die in der Rassenmischung eine Verdammnis sahen, erkannte er darin eine Erlösung für Brasilien In der Rassenmischung lag seiner Meinung nach die Zukunft des Landes, denn sie würde zu einer höheren Form der Zivilisation führen Zudem schätzte Nabuco die Einwanderung europäischer Arbeitskräfte als einen Weg zum Fortschritt Somit schaffte er es, liberales Gedankengut mit sozialdarwinistischen Ansätzen zu verbinden 61

57 58 59 60 61

Ebd , 82 Näheres dazu im Kapitel „,Evolution‘ als Paradigma“ Ebd , 81–82 Ebd , 82 Ebd

8.5 Romero und die „Ideologie des branqueamento“

189

8.5 Romero und die „Ideologie des branqueamento“ Sílvio Romero verknüpfte auf innovative Weise liberales Gedankengut mit den Rassenideologien aus Europa Dies tat er in einer Zeit, in der solche Theorien eng mit dem Wort „Wissenschaft“ verbunden waren Das Phänomen und die Bedeutung der „Generation 1870“ bei der Rezeption wissenschaftlicher und (sozial-)deterministischer Vorbilder kann folgendermaßen zusammengefasst werden: „es blieb der Generation 1870 die Aufgabe, in Brasilien die kulturelle Moderne einzuführen, weil sie den Durchbruch mit den religiösen Vorstellungen anstrebte und für eine laizistische Weltanschauung stand Somit gewann in diesem Kontext eine Widerstandsbewegung gegen die naturrechtlichen Theorien deutlich an Kraft […] Die Rezeption solcher wissenschaftlich deterministischer Theorien bedeutete die Aufnahme eines säkularen und weltlichen Diskurses, der im brasilianischen Kontext als ein Kampfinstrument gegen eine Reihe von etablierten Institutionen eingesetzt wurde “62

Gegen die romantische Tradition der kaiserlichen Elite war Romero mit seinen Theorien der Erste, der das Thema des schwarzafrikanischen kulturellen Beitrags für die Prägung einer neuen (und besonderen) brasilianischen Kultur tiefgreifend analysierte und diesen positiv einschätzte Seine Innovation war die Folgende: In der von den meisten Analysten verachteten und gefürchteten Rassenmischung sah er einen Differenzierungsfaktor für die Prägung einer einzigartigen nationalen Kultur Zudem nahm er den Ansatz der Verbindung zwischen „Rasse“ und „Nation“ konsequent auf Darin hatte Brasilien eine kulturelle und ethnologische Einzigartigkeit anzubieten Während Romero in der Rassenmischung eine unumkehrbare Charakteristik Brasiliens sah, glaubte er gleichzeitig ebenso fest an die Überlegenheit der weißen „Rasse“ 63 Demzufolge machte für ihn aber die Rassenmischung nicht nur die Besonderheit des brasilianischen Charakters aus, sondern sie war gleichsam die Voraussetzung für den zukünftigen Erfolg des Landes 64 Ausgehend von den rassistischen Ansätzen konstruierte er dann eine Theorie der „Rassenmischung“ (mestiçagem) und stellte gleichzeitig eine „Ideologie“ oder auch den Mythos des branqueamentos auf

62

63 64

Im Original: „coube à Geração de 1870 a introdução do Brasil na ‚modernidade cultural‘, na medida em que se propunha o rompimento com o pensamento religioso em prol de uma visão laica do mundo Com efeito, a partir desse momento toma força um movimento de contestação à teoria do direito natural […] A recepção dessas teoria científicas deterministas significava a entrada de um discurso secular e temporal que, no contexto brasileiro, transformava-se em instrumento de combate a uma série de instituições assentadas “ Siehe Schwarcz, Espetáculo, 197 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 65–67 Ebd , 96

190

8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

Zwischen den drei „ursprünglichen“ Rassen hielt Romero die weiße und europäische „Rasse“ allerdings für deutlich überlegen 65 In einem langjährigen Prozess würde dennoch eine neue „Rasse“ und Kultur aus ihrer Kreuzung entstehen, die „gemischt“ (mestiça) war und besser für das Leben in den „Tropen“ geeignet sei Diese neue Konstellation definiere die „nationale“ Besonderheit Brasiliens und sei gleichzeitig dessen kulturanthropologischer Beitrag an die Welt 66 Romero hatte also eine durchaus positive und teilweise auch nationalistische Ansicht von der Rassenmischung und wertete damit den Beitrag der Folklore und der lokalen Traditionen auf – vor allem mit der Figur des Sertanejo67 und mit schwarzafrikanischen Traditionen Damit war Romero der Erste, der ganz deutlich den Wert einer „gemischten Kultur“ zum Mittelpunkt seiner Theorie machte Ausgehend von einer völlig konträren Auffassung gegenüber den „Mestizen“ trug der Arzt Raimundo Nina Rodrigues (1862–1906) zur Begründung einer schwarzafrikanischen Ethnologie und zum Studium der schwarzen religiösen Traditionen maßgeblich bei 68 Er trat als klarer Befürworter eines pessimistischen Blicks auf die Rassenmischung auf, deswegen hatten seine Ansichten damals nicht so viel kulturpolitischen Erfolg wie die von Romero Wie bereits Barreto wollte auch Rodrigues das brasilianische Strafrecht von metaphysisch begründeten Vorstellungen befreien und eine wissenschaftliche Kriminologie in Brasilien begründen Als starker Unterstützer von Darwins Evolutionslehre unterschied Rodrigues verschiedene Arten von Straftaten in unterschiedlichen Phasen der menschlichen Evolution Selbst ein Schwarzer, beteiligte er sich aktiv an den strafrechtlichen Diskussionen seiner Zeit und näherte sich vor allem der italienischen kriminalistischen Schule von Lombroso und auch der „französischen medizinischen Schule“ an, weil er ebenso wie seine europäischen Kollegen deren biologisches essentialistisches Rassenkonzept teilte Rodrigues war davon überzeugt, dass die Natur eine hierarchisierte Welt voraussetzte, in der die unterschiedlichen menschlichen Rassen eine unumkehrbare Wirklichkeit waren 69 Damit war er der Vater der Rassenkriminologie in Brasilien, weil er für eine klar differenzierte Behandlung und Bestrafung für die verschiedenen Rassen von Menschen plädierte und dies auch wissenschaftlich begründete Das Strafrecht sollte sich den wissenschaftlichen Kriterien der anthropometrischen Methoden anpassen Der brasilianische Mediziner sah die „minderwertigen“ Rassen in einem fast kindlichen Zustand und trat dafür ein, dass sie deswegen nach einem eigenständigen Strafgesetzbuch milder bestraft werden sollten 70 Was die „Ideologie des branqueamento“

65 66 67 68 69 70

Siehe Ventura, Estilo tropical, 65–68 Ebd , 51 Dazu mehr im nächsten Kapitel Siehe ebd , 52–53, und Hofbauer, Uma história de branqueamento, 199–209 Siehe ders , „O Conceito de ‚Raça‘“, 84 Ebd , 84–85

8.5 Romero und die „Ideologie des branqueamento“

191

anging, stand Rodrigues gegen die Ansätze einer zukünftigen Homogenisierung der „Rassen“ und vertrat im deutlichen Gegensatz zu Romero eine pessimistische Ansicht über die Entwicklung der brasilianischen Bevölkerung Dennoch brachte ihn seine Obsession, Unterschiede zwischen den „Rassen“ zu beweisen, dazu, sich erstmalig mit den Sitten und Traditionen der schwarzen Bevölkerung zu beschäftigen Diese sollten keineswegs kriminalisiert werden, weil sie einem niedrigeren Stand der Zivilisation entsprächen 71 Vor allem legte Rodrigues Wert darauf, die schwarzafrikanischen religiösen Traditionen zu verstehen und auch wissenschaftlich zu analysieren Diese Gebräuche waren meistens Objekte polizeilicher Gewalt und sozialer Diskriminierung 72 Sie mussten hingegen, so der Arzt, von der Gesetzgebung geschützt und von der Wissenschaft erforscht werden Insofern gilt er als Begründer der Studien über die afro-brasilianischen Religionen und erklärte sich zu einem Sprachrohr für die freie Ausübung solcher Traditionen Obwohl er solche Religionen als Beweis für seine Theorie der Rassenhierarchien sah, dachte er, dass sie nicht strafbar sein sollten Im Gegenteil, gerade weil sie Ausdruck einer einfachen Kulturform waren, sollten sie unter Gesetzesschutz stehen 73 Rodrigues rassistischer Blick führte ihn dazu, sich mit den „schwarzen“ „minderwertigen“ Rassen und ihren Sitten auseinanderzusetzen und diese auch politisch gegen Gewalttaten zu verteidigen Allerdings lösten seine Ansichten und Abhandlungen zur Zeit des nationalen Aufbaus wegen Rodrigues’ pessimistischen Vorstellungen über die Zukunft des Landes und seinem Diskurs über die minderwertige Konstituierung eines „gemischten“ Volkes, zusammen mit dem Anspruch auf einem respektvollen Umgang mit den kulturellen Sitten der schwarzen Bevölkerung, damals mehr politisches Unverständnis als Unterstützung aus 74 Ausgehend von den gleichen als wissenschaftlich erachteten Prinzipien wie Rodrigues – die Ungleichheit der menschlichen „Rassen“ – kam Romero zu genau gegensätzlichen Schlussfolgerungen Der Hauptaspekt, der ihn bewegte, war die Frage nach der Besonderheit der brasilianischen Kultur Um diese Frage zu beantworten, griff er zu den damals als modern betrachteten Rasseansätzen und wurde so zum Vater des Konzepts einer „gemischten Kultur“ (cultura mestiça) in Brasilien Für Romero lag die Eigenheit der brasilianischen Kultur in der „Mischung“ (mestiçagem) Diese hielt er nicht für negativ, sondern für eine positive Tendenz in der historischen Entwicklung des Landes Gerade wegen ihrer Überlegenheit würde die weiße Rasse in der Mischung überwiegen und zu einer neuen Rasse, der „Mestizenrasse“ (mestiço),

71 72 73 74

Siehe ders , „Das Konzept der ‚Rasse‘“, o S Die schwarzafrikanische Religionen und Glauben werden seitens der weißen und christlich geprägten Eliten auch heute teilweise immer noch als minderwertig betrachtet und seitens der Polizeibehörden kriminalisiert Siehe ders , „O Conceito de ‚Raça‘“, 85–86 Siehe ebd , 86–87

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8 „Rassen“ und „Ideologie des branqueamento“ in Brasilien

führen 75 Solche Ansätze lieferten später die Grundlagen für Gilberto Freyres Theorie einer „Rassendemokratie“ 76 Deren Vorstellung basiert auf der besonderen Rezeption der Rassentheorien gegen Ende des 19  Jahrhunderts und ist insofern, wie zu sehen ist, eng mit Romeros „Ideologie des branqueamento“ verknüpft Der Literaturhistoriker und Ethnologe verarbeitete hier nicht nur Haeckels evolutionistische Ansätze, sondern untermauerte seine positive Vision einer rassengemischten Bevölkerung mit eugenischen Maßnahmen in der Hygienepolitik und befürwortete die Förderung einer weiß-europäischen Migration seitens der Regierung gegen Ende des 19  Jahrhunderts und Anfang des 20  Jahrhunderts Eugenische Ansichten erfuhren in der Folge große Akzeptanz in Brasilien, was sich sogar in der Gesetzgebung des Jahres 1945 als Grundlage für eine staatlich geförderte Migrationspolitik widerspiegelte 77

75 76

77

Siehe ebd , 87 Der Mythos einer „Rassendemokratie“ führte schließlich dazu, dass es heutzutage für die schwarze Bewegung in Brasilien eine der größten Herausforderungen ist, dass die dunkelhäutige Bevölkerung sich selbst als „schwarz“ erkennt und für die Ausbildung einer schwarzen Identität kämpft Diese Strategie hat zum Ziel, dass Rassismus überhaupt als Problem in der brasilianischen Gesellschaft erkannt wird Siehe Hofbauer, „O Conceito de ‚Raça‘“, 89

9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels Romeros Rezeption von Haeckels Ideen zeigt einen deutlichen Gegensatz zur Rezeption durch Tobias Barreto In diesem Kapitel soll durch die Analyse ausgesuchter Werke  – vor allem Romeros erster großer Monographie A Philosophia no Brasil (1878) – aufgezeigt werden, dass er zu einer französisch geprägten und sozial-evolutionistischen Interpretation Haeckels gelangte, die gut zum damaligen Zeitgeist passte Seine Ideen wurden später von der brasilianischen Rassendebatte instrumentalisiert, insbesondere seine Konstruktion einer „Ideologie des branqueamento“ (Ideologia do branqueamento), die als Grundlage für den brasilianischen Rassismus und den Mythos einer Rassendemokratie anzusehen ist Der Literaturkritiker Antonio Candido hebt hervor, dass Romero maßgeblich von ausländischen Autoren beeinflusst wurde 1 Deutschsprachige Autoren, wie etwa der Österreicher Ferdinand Wolf (1796–1866) und der fränkische Forschungsreisende Carl Friedrich Philipp von Martius oder der Franzose Ferdinand Denis (1798–1890), spielten dabei eine wichtige Rolle Sie machten Romero auf die Bedeutung der drei „Ur-Rassen“ und der „Rassenmischung“ für die Besonderheit der brasilianischen Kultur aufmerksam 2 Die Ansatzpunkte der Rassen bzw Rassentheorien wurden zum Kern in Romeros Analyse der kulturellen Merkmale Brasiliens Für Letztere bezeichnete der Literaturhistoriker Roberto Ventura Romero quasi als Vorreiter der brasilianischen Literaturgeschichte und stimmt Candido in seiner Einschätzung zu 3 Diese Wege des Einflusses europäischer Reisender sind typisch für die damalige brasilianische Hochkultur und Romero bildete dabei keine Ausnahme: Dabei wurden die deutschsprachigen Autoren, wie gesagt, durch französische Quellen rezipiert und für ein staatlich gelenktes kulturpolitisches Projekt instrumentalisiert Brasilien wollte unter Kaiser Pedro II das Bild einer modernen Nation im Ausland vermitteln und das bedeutete damals, eine Nation vorzustellen, die sich an Europa orientierte und nicht 1 2 3

Siehe Candido, O método crítico, 41 Ebd Ventura, Estilo tropical, 42, und Candido, O método crítico

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9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels

an den lateinamerikanischen Nachbarn, weil diese politisch zersplitterte Republiken waren Vor diesem Hintergrund wurden einheimische Ausbildungs- und Kultureinrichtungen, wie etwa das Nationale Museum (Museu Nacional) oder das Brasilianische Historische und Geographische Institut – IHGB (Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro) zu prominenten Zeichen einer modernen Nation 4 Auch Brasiliens Bild auf den damaligen internationalen (Welt-)Ausstellungen stand im Dienste der Imagepflege seitens der Regierung 5 Die Verbindungen zwischen einer starken Nation und ihrer Geschichte, zwischen Moderne und nationaler Identität wurden von der Regierung gefördert, weswegen Autoren wie etwa Wolf und Martius eine große Relevanz für die brasilianische Geschichtsschreibung zukam: Sie stellten zum ersten Mal  – den gewöhnlichen europäischen Rassentheorien über die Überlegenheit der weißen Rassen und der Degeneration von Rassenmischungen zum Trotz – eine positive Auffassung der brasilianischen Identität als „gemischte Rasse“ vor Allerdings wurden auch sie wieder auf Französisch gelesen und vermittelt Martius beispielsweise veröffentlichte 1844 in der Zeitschrift des prestigereichen und vom Kaiser geförderten Brasilianischen Historischen und Geographischen Instituts einen Essay unter dem Titel Wie die Geschichte Brasiliens geschrieben werden soll (Como se deve escrever a história do Brasil) 6 Sein Beitrag wurde auf Französisch veröffentlicht und bis heute gibt es davon keine Übersetzung ins Deutsche 7 Das Gleiche gilt für das Standardwerk von Wolf, das unter dem Titel Le Brésil littéraire erschien 8 Wie oben bereits dargestellt, durchlief Romero eine „französische“ Prägung während seiner Jugendzeit in Pernambuco und diese ließ ihn nie los Das war üblich bei all denjenigen, die eine juristische Ausbildung an einer der beiden Rechtsfakultäten des Landes bekamen Im Gegensatz zu Barreto, der immer eine kritischere Position gegenüber den „Franzosen“ zeigte und sich ab einem bestimmten Zeitpunkt von den französischen Quellen definitiv abwandte – besonders vom Positivismus Comtescher 4 5 6

7 8

Siehe dazu Schwarcz, Espetáculo, 41 und 87–184 Siehe ebd , 42 Siehe Ventura, Estilo tropical, 42, und Schwarcz, Espetáculo, 146 Ursula Prutsch und Enrique Rodrigues-Moura erklären ausführlicher die Bedeutung dieses Essays: „In Brasilien wurde Martius vor allem wegen eines Wettbewerbs berühmt, den er gewann 1840 hatte ihn das Instituto Histórico e Geográfico Brasileiro ausgeschrieben, weil es das beste Konzept für eine offizielle Geschichte des Landes mit einer Goldmedaille prämieren wollte Martius, der schon zuvor als möglicher Kandidat kontaktiert worden war, lieferte einen bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Essay […] Er hielt eine solche [Geschichte] nur auf der Basis einer ethnischen Dreiteilung sinnvoll, indem man den massiven Einfluss der europäischen Kolonisatoren, aber auch jenen der indigenen Bevölkerung und der schwarzen Sklavenbevölkerung berücksichtige Mit diesem Vorschlag setzte er sich durch Allerdings wurde sein Entwurf in einer Zeit, als Brasilien noch nicht einmal den Sklavenhandel verboten hatte, bald ad acta gelegt […] der Essay [gilt] als Gründungstext der modernen brasilianischen Geschichtsschreibung und beeinflusste viele brasilianische Intellektuelle nachhaltig“ Siehe Prutsch und Rodrigues-Moura, Brasilien, 64–65 Siehe ebd , 64 Siehe Ventura, Estilo tropical, 34 und 41

9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels

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Couleur – hing Romero sehr an den französischsprachigen Literaturquellen Er stützte sich in seinen Werken auf zahlreiche französische Autoren Zudem blieb er ein großer Anhänger der französischen wissenschaftlichen Kultur und trotz all seiner Kritik gegenüber dem Positivismus blieb seine Perspektive immer stark vom positivistisch-evolutionistischen Blickwinkel abhängig Diese positivistische Prägung von vielen Denkern und Intellektuellen war eine Besonderheit im brasilianischen sozialen und politischen Denken bis ins 20   Jahrhundert hinein Der französisch-positivistische Einfluss lenkte Romeros Rezeption von Haeckel in Richtung einer sozial-deterministischen Ansicht Zu dieser Haltung kam noch die starke Wirkung von Spencers (sozial)evolutionistischer Soziologie als wichtige Komponente hinzu Solchem Einfluss war Barreto nie ausgesetzt, weil er selbst die Ethnologie und die deterministische Soziologie seiner Zeit ablehnte Durch die frühe Bedeutung deutsch-jüdischer Autoren und durch seine nahe Beobachtung der deutschen kulturpolitischen Lage mit ihrem bereits vorhandenen Antisemitismus konnte er mit Determinismus und wissenschaftliche Rassismus nichts anfangen und kritisierte diese deutlich in seiner Kampfschrift gegen die französisch-deterministische Soziologie (Glosas Heterodoxas, aus 1884–87) 9 Dort äußerte er Einwände sogar gegen sein Vorbild Haeckel wegen seines mechanischen Kurses im Monismus In Romeros Behauptungen hingegen wird diese dominierende französische Prägung deutlich Die deutschsprachige Kultur war auch bei ihm durchaus präsent, dennoch wurde sie zunächst durch die Vermittlung von französischen Autoren und Quellen geprägt Bei seinen für ihn wegweisenden Jugend-Lektüren handelte es sich meistens um französische evolutionistische oder positivistische Autoren, wie etwa Max Müller, Renan, Vacherot, Comte, Littré und Taine Hierzu hebt Candido die folgende Aussage des Literaturhistorikers hervor: „[…]1868 […], in Recife, lasen meine Freunde und ich bereits Comte, Littré, Buckle, Taine, Max Müller, Renan, Vacherot“ Dazu fügt Romero Folgendes hinzu: „Comte wurde nun Spencer, Darwin, Haeckel, Büchner, Vogt, Moleschott und Huxley zuliebe vernachlässigt“ 10 An Buckle und Taine lehnte sich Romero hinsichtlich der Bedeutung von mesologischen, geographischen und rassischen Faktoren an Von Haeckel übernahm er die Idee, dass die Rassen ein historisch-evolutionistisches Produkt multipler Mischungen sind Laut Candido schuf der brasilianische Kritiker mit seiner Theorie der „Rassenmischung“ (mestiçagem) einen der prägendsten und nachhaltigsten Beiträge zur kommenden Generation eines Gilberto Freyre 11 Romeros 1870er Generation sehnte sich

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Siehe Barreto, „Glosas Heterodoxas“, 312–356 Im Original: „[…] em 1868 […] no Recife, já eu e meus amigos líamos Comte, Littré, Buckle, Taine, Max Müller, Renan, Vacherot“, „Comte só foi largado por amor a Spencer, a Darwin, a Haeckel, a Büchner, a Vogt, a Moleschott, a Huxley “ Zit nach ebd , 42 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 79–81

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nach einer wissenschaftlichen Fundierung ihrer Erkenntnisse Dazu nahmen sie nach der zweiten Hälfte des 19   Jahrhunderts die positivistischen und evolutionistischen Ansichten an, die den Diskurs der jungen Intellektuellen prägten 12 Die Biologie in ihrer evolutionistischen Auffassung lieferte hierzu das Modell 13 Haeckel wurde Romero durch Barreto vermittelt, seinem besten Freund und selbst ein Schwarzer Wie konnte nun angesichts des Beispiels von Barreto die „Rassenmischung“ ein Scheitern bedeuten, eine Verdammnis, wie in der europäischen Rassendiskussion? Wie war die Tatsache, dass Barreto schwarzhäutig war, mit den „wissenschaftlichen“ Lehren europäischer Vorbilder, die alle auf der Überlegenheit der „weißen Rasse“ basierten, zu vereinen? Die Antwort lag bei Barreto selbst, als Beispiel dafür, dass die „Rassenmischung“ als etwas grundsätzlich Positives angesehen werden konnte Romero fand in seinem Freund selbst die Antwort, das heißt in dem schwarzen Bakkalaureus, der in der Provinz Brasiliens Deutsch lernte und sich mit ihm über deutschsprachige Autoren wie Haeckel und Jhering austauschte Candido legt in seiner Forschung über Romero dar, dass dessen stärksten intellektuellen Einflüsse in Autoren wie Buckle, Taine, Haeckel und Spencer zu sehen sind Allerdings blieb er immer vom französischen Positivismus geprägt Eine Besonderheit bei ihm ist, dass er im Zuge seiner Rezeption ausländischer Autoren, auch deutschsprachige berücksichtigte 14 Es ist zu bezweifeln, dass Romero jemals die deutsche Sprache wirklich einwandfrei beherrschte und diese, wie es Barreto gelang, fließend lesen und schreiben konnte Das bedeutet aber nicht, dass er sie nicht kannte und in gewissem Ausmaß auch verstand Diese Feststellung lässt sich aus einer Analyse seiner eigenen Schriften und Behauptungen ziehen Ein interessantes Beispiel dafür ist seine erste große Monographie A Philosophia no Brasil, von 1878 Dort zeigt sich, dass seine deutschsprachigen Lektürekenntnisse hauptsächlich aus „zweiter Hand“ stammten, dass er sie damit entweder durch französische Kommentare und Übersetzungen oder aus Zitaten von Barretos deutschsprachigen Schriften bezog: 1 In seinen Werken zitiert er meistens französischsprachige Autoren 2 Wenn Romero deutschsprachige Autoren erwähnt, beziehte er sich fast ausschließlich auf ihre Namen oder stützt sich auf französische Werke als Quelle 3 Romero hörte nie auf, zu betonen, wie stark die Franzosen auf ihn wirkten, auch wenn dies angesichts seiner Kritik am dominanten Einfluss der französischen Kultur in Brasilien widersprüchlich war Er behauptete nämlich, das Problem Brasiliens seien die „mephitischen Süßigkeiten der französischen Zivilisation“ (as mephiticas doçuras da civilização franceza) 15 Dieser französische Einfluss mischte

12 13 14 15

Schwarcz, Espetáculo, 201 Candido, O método crítico, 127–128 Ebd , 43–44 Siehe Romero, A Philosophia no Brasil, 171

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sich dann mit Herbert Spencers Soziologie, die er teilweise auch durch französische Werke kannte 16 Wenn sich Romero auf die deutsche Sprache bezieht, sind es meistens feste Begriffe, wie etwa „Weltanschauung“ oder „Weltvorstellung“ oder „Weltbegriff “ (das allein deutet schon auf die Bedeutung der deutschen Sprache in diesem Aspekt hin), die in seinem Werk sehr bedeutsam waren 17 Nur selten zitiert er ganze Sätze oder Stellen auf Deutsch Wenn solche vorkommen, handelt es sich meistens um Auszüge von Barretos Schriften auf Deutsch, deren Bedeutung er auch auf Portugiesisch gekannt haben dürfte 18

Das lässt Romero trotzdem behaupten, er sei mit der deutschen Sprache vertraut In der Kampfschrift gegen seinen Erzrivalen, dem Literaturhistoriker José Veríssimo, beschrieb Romero die Rollenverteilung bei der Werbung für das deutschsprachige Gedankengut in Brasilien („Germanismus“) und Barretos Begabung für Sprachen 19 Dort führt er aus: „Aber bis zum heutigen Tage wäre ich noch dazu in der Lage, sofern es mir denn wichtig wäre, jedweden deutschen Textauszug zu übersetzen, weil ich die Struktur dieser Sprache verinnerlicht habe “20 Zum Schluss aber gibt er zu: „Das Wissen einer Sprache ist nur notwendig, um in die tiefen Feinheiten ihrer Form und ihrer Poesie einzudringen Für ein allgemeines Verständnis ist es indes überflüssig Dafür langt eine Übersetzung “21 Eine Übersetzung reicht aus, sagt er deutlich Wirklich gut lesen und verstehen konnte er vermutlich Spanisch, Französisch und (wahrscheinlich) auch Italienisch, also alle romanischen Sprachen, die er als Schüler gelernt hatte (wie er selbst betont) 22 Auch die meisten seiner Zitate sind überwiegend in diesen Sprachen gehalten Sein Verhältnis zu Fremdsprachen, insbesondere zum Deutschen, beschreibt er in dem ihm eigenen polemischen Ton: „Ich lege keinen zu großen Wert auf Sprachen: der Papagei kann auch viele Sprachen “23 Er ergänzt noch:

16 17 18 19 20 21 22 23

Siehe ebd , 70 Siehe Roméro, Historia da Litteratura Brazileira, Bd  1: 1500–1830, 472 Siehe ebd , Bd  2: 1830–1877, 1351 Siehe Romero, Zéverissimações, 67–68 Im Original: „Ainda hoje, porem, sou capaz de traduzir, se o quizer, qualquer trecho da lingua, porque o seu mecanismo me ficou “ Ebd , 69 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „O conhecimento de qualquer idioma só é necessario para a penetração completa das delicadezas de forma e na poesia Até para o sentido geral d’esta é dispensavel Uma tradução basta “ Ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 70 Im Original; „Não faço grande caso de linguas: o papagaio tambem fala linguas “ Ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen

198

9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels

„Es gibt nämlich viele Menschen, denen es an Schöpfungskraft mangelt, die aber den Schatten mit der Realität verwechseln, die Ausdrücke, mit denen sie ihre Zungen brechen, mit den wahren Ideen dahinter, die Doktrinen mit dem wahren Wissen, und trotzdem können solche viel mehr Deutsch als ich “24

Im Anschluss erwähnt er wieder die großen Fähigkeiten Barretos für die Sprachen (im Gegensatz zu ihm selbst) 25 Er macht also klar, dass er die deutsche Sprache nie wirklich einwandfrei beherrschte und sich dieser überwiegend durch die Anregungen seines Freundes annäherte Fließend lesen und übersetzen konnte er die romanischen Sprachen, weswegen seine Zitate häufig diese Sprachen aufweisen und nur selten auf Deutsch sind Auch die vorwiegend französischen Übersetzungen, die er für deutschsprachige Autoren verwendete, belegen dies Er unterzog sich nie einem tiefgründigen Studium der deutschen Sprache und dieser Mangel schränkte ihn in seinem Zugang zu den Diskussionen innerhalb der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur seiner Zeit ein, da er nachhaltig von dem in seiner Jugend geprägten französisch-positivistisch-deterministischen Blick beeinflusst war 9.1 Die Bedeutung von „Rasse“ in Romeros Methode der Literaturkritik Im Rahmen seiner „kritischen Methode“ erhebt Romero Kritik an den in Brasilien dominierenden romantischen und eklektizistischen Vorstellungen innerhalb der Literatur mit ihren ästhetisierten und rhetorischen Maßstäben Solche romantischen Vorstellungen waren in Brasilien meistens mit einem idealisierten Blick auf die indigene Bevölkerung (Indianismo) und deren Umgang mit einer (verlorenen) naiven Natur (Nativismo) verbunden 26 Von solchen Ansätzen wollte sich Romero abwenden Deswegen beschrieb er das in Brasilien vorherrschende französische Verständnis von Romantik als einen „wenig respektierten Kadaver“ (cadáver pouco respeitável) 27 Zudem kritisierte er das romantische Konzept der „Kunst für die Kunst“ Stattdessen sah er in der Literatur(Analyse) eine „Kampfwaffe“ (arma de combate) für den Fortschritt in der Gesellschaft 28 Diese Vorstellung macht den Kern seiner „kritischen“ soziologischen und historischen Methode aus 29

24 25 26 27 28 29

Im Original; „Ha ahi muitos sujeitos, incapazes de crear, que tomam a sombra pela realidade, as palavras com que vivem a quebrar a cabeça, pelas ideias, pelas doutrinas, pelo verdadeiro saber, que conhecem muito mais allemão do que eu “ Siehe ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd , 40 Candido, O método crítico, 61–65 Zit nach ebd , 60 Ebd , 83 Ebd , 83–84

9 1 Die Bedeutung von „Rasse“ in Romeros Methode der Literaturkritik

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Ausgangspunkt seiner Überlegungen war für Romero die Frage, die in Brasilien erstmalig von romantischen Autoren (die er scharf kritisierte) gestellt wurde, nämlich was die Besonderheit der brasilianischen Kultur ausmache Darauf gibt er eine sich von der Romantik wesentlich unterscheidende Antwort Basierend auf Konzepten, wie „Rasse“, „Umfeld“ und „Evolution“ lag ihm daran, eine „wissenschaftliche“ Methode für die Systematisierung der brasilianischen Kultur und ihrer Eigenarten zu schaffen Sein Ziel war damit in erster Linie, die großen „wissenschaftlichen“ Theorien seiner Zeit anzuwenden, um eine möglichst auf wissenschaftlichen Grundlagen basierende Methode für die Erstellung einer Literaturgeschichte Brasiliens zu schaffen Weil er sich dabei auf die technische und wissenschaftliche Sprache seiner Zeit stützte, bezeichnete ihn Candido auch als ein nouveau riche der Kultur 30 Candido bemerkt ebenfalls, dass Romero stark von den Modellen der Biologie beeinflusst wurde, wie auch der evolutionistische Sprachgebrauch zum damaligen Zeitgeist gehörte: Es war das „Jahrzehnt der Biologie“ 31 Romero konzentrierte sich auf das Gebiet der Literaturgeschichte und auf die ethnologischen Aspekte, die diese beeinflussten – vor allem auf den Beitrag der „Rassen“, den Einfluss der Umwelt und der „Evolution“ In seiner Analyse stützte er sich auf die damals geltenden wissenschaftlichen Vorbilder aus der Biologie und der Evolutionstheorie Diese Methode nannte er „natursoziologisch“ Sein Anspruch war es, „Gesetze“ zu finden, die den Charakter eines Volkes und seiner Kultur determinierten und eine „autonome“ Nation formierten 32 In der Folge stellte er eine Behauptung auf, die zentral für das Verständnis seiner Rezeption eines darwinistischen-haeckelschen Evolutionismus ist: „Die moderne Tendenz, die sogenannten Geisteswissenschaften auf ein Kapitel der Naturgeschichte zu reduzieren, ist unumstritten “33 Daraus lässt sich ableiten, wie sehr er von der Idee der Evolution begeistert war, die die Naturgeschichte determinierte Mit ihrer Evolutionstheorie liefere die Biologie die Grundlage für die sogenannten Moralwissenschaften bzw die Geisteswissenschaften, so Romeros Auffassung 34 Auf diese Weise konnte er einerseits die metaphysischen Konzepte der Theologie und andererseits den romantischen Idealismus, der in der brasilianischen Literatur bis dahin dominierte, hinterfragen Romero lehnte in seiner Theorie die üblichen Ansätze der Rassentheorien über hybride „Rassen“ und über die Degenerierung von „Mestizen“ entschieden ab Somit machte er aus einem angeblichen „Mangel“ Brasiliens laut den gebräuchlichen Vorstellungen des wissenschaftlichen Rassismus  – gemischte Rassen führen grundsätz-

30 31 32 33 34

Siehe ebd , 43 Siehe dazu ebenso Schwarcz, Espetáculo, 44–55 Ebd , 197 Candido, O método crítico, 106–107 Im Original: „É inconteste a tendência moderna para reduzir as chamadas ciências morais a um capítulo da história natural “ Zit nach ebd , 107 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe ebd

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9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels

lich zum Scheitern – eine Besonderheit, ohne jemals auf die eurozentrischen Modelle komplett zu verzichten 35 Diese Aneignung europäischer und zugleich eurozentrischer Theorien machen seinen „tropischen Stil“ aus, wie es der Literaturkritiker Roberto Ventura (1957–2002) beschrieb 36 Romero konstruierte damit die Theorie einer nationalen Formation Brasiliens, die auf der Mischung dreier Rassen basierte – weißer Europäer, Schwarzafrikaner und indigener „Urbevölkerung“ Er nahm damit die Ansätze auf, die bereits von Martius in dessen Essay über die brasilianische Geschichte gelegt worden waren Dort hob der Naturforscher die Bedeutung von „Rassen“ und „Umwelt“ für die brasilianische Geschichtsschreibung hervor Weiterhin markierte er den Beitrag der drei „Rassen“ – Portugiesen, Schwarze und Indigene – als brasilianische Besonderheit einer neuen „Nation“ und gewährte den (weißen) Europäern eine zivilisierende Funktion innerhalb dieser Konstellation Laut Ventura wurden Martius Ansätze später von Francisco Adolfo Varnhagen (1816–1878) und von Romero in ihren Standardwerken História Geral do Brasil (1855) und Historia da Litteratura Brazileira (1888) konsequent umgesetzt 37 Beide nahmen die Idee einer autonomen Nation mit ihrer rassisch-kulturellen Besonderheit in ihr Denken auf, deren Formation aus der Mischung dieser drei Rassen resultierte 38 In seiner Analyse legt Romero großen Wert auf die Figur des mestiço und beschwört das branqueamento als die Zukunft der Nation Dieses würde einen Sieg des überlegenen weißen ethnischen Beitrags bedeuten Daraus aber würde eine neue „gemischte Kultur“ (cultura mestiça) bzw eine „gemischte Rasse“ entstehen, die anders als die europäische weiße Rasse besser an das tropische Leben angepasst sei Die „weiße Rasse“ lag für Romero hierarisch aber in diesem Mischungsprozess immer noch an der Spitze, dann kamen die Schwarzen mit ihren afrikanischen Wurzeln und am Ende die Indigenen, deren kultureller Beitrag nicht besonders in Romeros Analyse wahrgenommen wurde Mit seiner Theorie schaffte er somit die Grundlagen für einen „Mythos der drei Rassen“ (mito das três raças), auf den sich später Gilberto Freyre in seiner Theorie einer „Rassendemokratie“ (democracia racial) stützen sollte 39 Allerdings führten Romeros Ansätze gleichzeitig dazu, dass der kulturelle schwarzafrikanische Beitrag in Brasilien aufgewertet wurde Er war einer der Ersten, der sich für ein konsequentes Studium der folkloristischen und populären Traditionen der schwarzen Bevölkerung interessierte, vor allem im Bereich der Musik, der Feierlichkeiten und der mündlichen Tradierung von Geschichten (Cordel etwa) Damit ebnete er mit seinem Werk den Weg für die zukünftige Bewegung der Modernisten im 20  Jahrhundert, eine neue Generation von Künstlern, die mehr Wert auf die populären und folkloristischen Tradi-

35 36 37 38 39

Siehe Ventura, Estilo tropical, 60–61 Siehe ebd , 40 Siehe ebd , 42 Ebd , 43 Ebd , 66–68

9 2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus

201

tionen des Landes legte und diese auch in ihre Kunst aufnahm Beispielhaft sind die Werke der bildenden Künstler Tarsila do Amaral (1886–1973) und Di Cavalcanti sowie der Schriftsteller Mário de Andrade e Manuel Bandeira 9.2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus Im Mittelpunkt der vorliegenden Analyse sollen hauptsächlich zwei von Romeros Werke, A Philosophia no Brasil (1878) und Zéverissimações Ineptas da Crítica (1909), stehen Sie wurden ausgewählt, weil sie zwei unterschiedliche Perioden seines Schaffenslebens widerspiegeln Sie sind kennzeichnend für die typische Rezeption der Evolutionstheorie in Brasilien und die starke Prägung von Romeros Denken durch den französischen Positivismus Auch die Unterschiede zwischen der Haeckel-Rezeption bei Romero und bei Barreto sollen in der Folge analysiert werden Romeros Philosophia no Brasil wurde 1876 fertiggestellt und 1878 in der „Typographia der Deutschen Zeitung“, dem Verlag von Karl von Koseritz, im Süden des Landes veröffentlicht 40 Das Werk enthielt eine Widmung des Autors an den deutsch-brasilianischen Journalisten Diese Widmung zeigt die große Nähe zwischen diesen beiden Intellektuellen In seiner ersten großen Monographie legte Romero die Grundlagen für seine „kritischen Methode“ Dort werden seine intellektuellen Einflüsse dargelegt und auch seine evolutionistische Perspektive ist deutlich erkennbar 41 Das zweite Werk hingegen ist als eine Kampfschrift gegen seinen Kritiker José Veríssimo zu verstehen 42 Dort verteidigt sich Romero gegen die Vorwürfe seines Kontrahenten Eine ausführliche Analyse der Fußnoten des Buches von 1878 lässt Romeros intellektuellen Einfluss klar hervortreten Dort überwiegen französische Werke und Zitate in französischer Sprache Sogar ein britischer Philosoph wie Stuart Mill wird auf Französisch zitiert 43 Die wenigen Zitate auf Deutsch sind entweder kurze Begriffe oder meistens Auszüge von Barretos Schriften auf Deutsch, die aus seinen Zeitschriften Der deutsche Kämpfer, Um Signal dos Tempos oder aus einer Broschüre wie Brasilien wie es ist in literarischer Hinsicht betrachtet stammen 44

40 41

42 43 44

Siehe Romero, A Philosophia no Brasil, 55 Der Kritiker Candido behauptet, Romero würde in späteren Werken wie Estudos sobre a poesia popular und Naturalismo em literatura seinen ursprünglichen Naturalismus etwas mäßigen und in einen „Soziologismus“ verwandeln Dabei rückt die Bedeutung des „natürlichen“ Faktors Rasse in den Hintergrund, die Bedeutung des soziokulturellen Faktors dagegen in den Vordergrund Seine Haltung eines literarischen Evolutionismus sollte er aber nie aufgeben und darin zeigt sich seine größte Prägung –die Naturwissenschaft bzw der Evolutionismus Haeckel’scher Art Siehe Candido, O método crítico, 119 Siehe ebd , 134 Siehe Romero, A Philosophia no Brasil, 57 Siehe ebd , 69 und 109–108

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9 Sílvio Romeros sozial-evolutionistische Rezeption Haeckels

Die meisten deutschsprachigen Bücher, die Romero zitiert, wurden bereits von Barreto in dessen Werken angegeben Vor allem Haeckel zitiert Romero in der gleichen Ausgabe, die sich in Barretos deutschsprachigem Bücherbestand befand 45 Dies weist darauf hin, dass er von Haeckel und seinem Monismus nur Kenntnisse durch Barretos Vermittlung besaß Zitate in deutscher Sprache aus deutschsprachigen Original-Auflagen wie bei Barreto finden sich in Romeros Werk nur selten Obwohl dieser von einem überwiegenden (und schädlichen) Einfluss Frankreichs in der brasilianischen Kultur spricht, wurde er selbst von diesem Einfluss durchaus geprägt 46 Diese Prägung zeigt sich beispielhaft an der Wirkung von Comtes Positivismus auf sein Werk 47 Der Literaturhistoriker sah in Comtes evolutionistischer Klassifizierung der Wissenschaften in seinem Cours de Philosophie Positive (1842) einen großen Beitrag zur Entwicklung der Philosophie Seiner Meinung nach verbannte Comte die Theologie und Metaphysik damit aus der Geschichte, wie Charles Darwin und Charles Lyell (1797–1875) dies aus der Biologie respektive der Geologie taten Dafür, dass Romero bei Comte und Darwin oder auch bei Haeckel eine gewisse Kontinuität bezüglich des Evolutionsgedankens sah, stehen verschiedene Stellen seiner Monographie, in denen er die drei Namen zusammen erwähnt 48 Folgender Auszug lässt seine Evolutionsperspektive in der geistesgeschichtliche Entwicklung der Menschen und seinen ganzen Positivismus Comte’scher Prägung deutlich erkennen: „Die Menschheit entwickelt sich durch den Evolutionsprozess; alles darin ist mit dem Deszendenzgesetz verbunden und ist ihm untergeordnet Lyell widersprach der revolutionären Theorie in der Geologie, Darwin entfesselte die Biologie und Comte entband die Geschichte davon “49

An dieser Stelle ist die Reihenfolge bezeichnend – Lyell, Darwin, Comte, jeder Repräsentant der gleichen Tendenz für seinem eigenen Wissenszweig: Geologie, Biologie und Geschichte/Soziologie Ebenfalls deutet sich hier Romeros Annäherung an die Ideen Darwins/Haeckels und Comtes an Romeros positivistischer Einfluss zeigt sich hier ganz deutlich, obwohl er sich später kritisch mit dem Positivismus auseinandersetzen sollte  – hauptsächlich in seiner politischen Schrift „Doktrin gegen Doktrin“ (Doutrina contra Doutrina) von 1894 50 Seiner Kritik am Positivismus zum Trotz war

45 46 47 48 49 50

Eine Auflistung von Barretos Bücherbestand befindet sich in Losano, Un giurista tropicale, 257–265 Candido, O método crítico, 69 Romero, A Philosophia no Brasil, 68 Ebd , 111 Im Original: „a humanidade procede por evolução; tudo em sua marcha se acha concatenado e sujeito á lei do desdobramento Lyell refutou a theoria revolucionaria em geologia, Darwin a baniu da biologia e Comte da história “ Ebd , 4 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Romero, „Doutrina contra Doutrina: o Evolucionismo e o Positivismo no Brasil“, in: Obra Filosófica, 249–496

9 2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus

203

er immer bereit, dessen Bedeutung als Kritik an der Metaphysik und einem romantischen französischen Eklektizismus hervorzuheben 51 Romeros Deutschlandbild offenbart sich in der Äußerung, dass dieses Land für ihn das Paradebeispiel der modernen Wissenschaft sei Dies entpuppt sich als eine typische Aussage Barretos, ist aber eigentlich auf die französischen Medien gegen Ende der 1860er Jahre zurückzuführen Romero äußert sich wie folgt: „Die moderne Wissenschaft ist ein Koeffizient der abendländischen Zivilisation und hat, das steht fest, Deutschland als ihren Hauptsitz “52 Dieser Auszug kommt in demjenigen Teil seines Werks A Philosophia no Brasil vor, in dem er sich mit Barretos Bedeutung für die Entwicklung der Ideengeschichte in Brasilien beschäftigte Kurz davor paraphrasierte er seinen Freund: „Lass uns die Weingläser, mit denen wir die metaphysischen Süßigkeiten der französischen Zivilisation genießen, zerbrechen; und wenden wir uns Deutschland zu Auf der Geistesebene ist es das, was uns mit Bezug auf eine notwendige intellektuelle Reform retten kann “53 Auch hier wieder ein Bild, das Barreto von Deutschland geprägt hatte: Die deutsche Nation als ein Gegensatz zu Frankreichs Dominanz in der brasilianischen Hochkultur Innerhalb dieses Diskurses bedeutet die Haeckel’sche monistische Weltanschauung die Grundlage für eine Erneuerung des intellektuellen Panoramas Barreto folgend sah Romero in der Religionskritik von David Friedrich Strauss einen Schritt in Richtung Darwins Evolutionstheorie und die gleichen (wissenschaftlichen) Tendenzen, die Darwin dann für die Naturwissenschaften legte Deswegen bezeichnete Romero Strauss zusammen mit Darwin und Comte auch als „das schöne Triumvirat des 19  Jahrhunderts“ (o bello triumvirato do seculo XIX) 54 Haeckel stand für ihn grundsätzlich für den „Evolutionismus“ innerhalb der Biologie Er gehörte zu den representative men55 der darwinistischen Evolutionstheorie, das Modell dafür überhaupt Dabei differenzierte Romero – wie übrigens auch Barreto – nicht genau zwischen Darwin und Haeckel Die beiden waren für ihn die „Meister der europäischen Wissenschaft“ (os mestres da sciencia européa)56 und werden deswegen meistens gemeinsam genannt Wenn aber Darwins Ideen erwähnt werden, wird meistens auf Haeckels Termini und Werke verwiesen Wie auch bei Barreto befinden sich in seinen analysierten Schriften keine Hinweise auf Darwins eigenen Werke – diese werden meistens durch Haeckels

51 52 53

54 55 56

Siehe Romero, A Philosophia no Brasil, 44 „A sciencia contemporanea é um coefficiente da civilisação occidental, tendo, é certo, na Allemanha sua séde principal “ Ebd , 171 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Im Original: „Quebremos as taças em que até hoje saboreamos as mephiticas doçuras da civilisação franceza; e volvamo-nos para a Allemanha No domínio das ideias, no que toca á necessidade de uma reforma intellectual, é o que nos pode salvar“ Ebd Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Ebd , 86–87 Der Ausdruck wird von Romero selbst verwendet, siehe Candido, O método crítico, 125–126 Romero, A Philosophia no Brasil, 74

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Schriften, vor allem durch die Natürliche Schöpfungsgeschichte zitiert Origins wird zwar als Werk namentlich erwähnt, aber es gibt keinen Hinweis darauf in den Fußnoten, auch nicht auf eine bestimmte Auflage, wie im Falle von Haeckels Abhandlung 57 Romero aber, im Gegensatz zu Barreto und im Sinne des Evolutionismus von Comte und Spencer, interpretierte Haeckels Monismus mit einer deutlich rassistischen Komponente Der folgende Auszug ist dafür symptomatisch: „Die semitischen Rassen sind sehr unterschiedlich zu den Ariern und sind ihr gegenüber […] etwas unterlegen – diese Unterlegenheit bedeutet, dass sie in der Evolutionsskala etwas hinterher sind Die Philologie, die Geschichte und die Anthropologie scheinen darin einstimmig zu sein Erstere betont bei den Ariern eine reichere Sprachenfamilie, vielfältiger und aktuell stärker und zukunftsvoller; die Geschichte zeigt die semitische Entwicklung als eine Vorstufe zum Arischen, und die Evolutionsgesetz stellt sie als weniger tiefgreifend und weniger komplett dar “58

Solche rassendeterministischen Aussagen sind in Barretos Schriften nicht zu finden Er wurde in seiner Aufnahme der deutschen Kultur zu sehr von deutsch-jüdischen liberalen Autoren beeinflusst, wie etwa von August Ewald, um eine solche rassistische und antisemitische Äußerung zu machen Außerdem war er selbst ein Schwarzer Antonio Candido hebt jedoch den ausgeprägten Einfluss der Spencer’schen evolutionistischen Soziologie in der späteren Phase von Romeros Denken im Vergleich zu seinem naturalistischen Determinismus früherer Zeiten – Letzterer war geprägt von Autoren wie Comte, Buckle und Taine – hervor Über seine Art „Germanismus“, der sich von Barretos unterscheidet, berichtet Romero in seiner Kritik an José Veríssimo in Zéverissimações Ineptas da Crítica Dort zeigt Romero seine evolutionistisch-soziologische Perspektive Spencer’scher Prägung in aller Deutlichkeit und definiert seinen „Germanismus“ als eine „ethnographische Art“, im Gegensatz zu Barretos Auffassung 59 Dass dieser „Germanismus“ rassischer und zugleich arischer Natur und von den rassistischen Ansätzen eines Franzosen wie Gobineau gefiltert wurde, offenbart Romero selbst, indem er dessen Essai sur l’inégalité des races humaines (1855) als Grundlagenwerk erwähnt 60 Der Widerspruch in seiner Aneignung der europäischen Rassentheorien zeigt sich im Fall der Rezeption von Gobineaus Arianismus deutlich: Der französische Denker war nämlich einer der Hauptverfechter der „Rassenreinheit“, 57 58

59 60

Ebd , 1 Im Original: „As raças semiticas são bem differentes das aryanas e lhe são […] alguma cousa inferiores, d’essa inferioridade que consiste em estar-se um passo áquem na escala evolucional A philologia, a historia e a anthropologia parece ahi estarem de acordo Aquella apontando nos aryanos uma familia de linguas mais abundante, mais variada e actualmente de mais vigor e futuro; a historia, mostrando o desenvolvimento semitico como anterior ao aryano, e, pela lei da evolução, menos profundo e completo “ Ebd , 165 Freie Übersetzung aus dem Portugiesischen Siehe Romero, Zéverissimações, 36–37 Ebd , 67

9 2 Romeros (Sozial-)Evolutionismus

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was zu Romeros Konzept der „Rassenmischung“ gar nicht passte Trotz dieses Widerspruchs weist Romeros Arianismus wieder auf den französischen Einfluss (durch Gobineau) und ist ein klares Zeichen für seine synkritische kulturelle Appropriation von Theorien aus dem Ausland, auch wenn manche von diesen sich in ihren ursprünglichen Debatten gegenseitig ausschlossen Romero machte sich über das Erlernen von Fremdsprachen noch lustig, dennoch war es genau dieser Schritt, der es Barreto erlaubte, sich in die deutschsprachige Kultur wirklich einzumischen, jüdisch-liberaler Autoren zu rezipieren, seine Horizonte zu erweitern sowie letztlich seinen Kontaktkreis auszudehnen und seine Ideen zu verbreiten Das Erlernen einer anderen Sprache bedeutete für Barreto auch, sich in eine andere Kultur hineinzuversetzen und damit auf Vermittlung zu verzichten, auf das „Paar französischer Krücken“, wie er diese einmal nannte – so als ob es einem erlaubt sei, auf eigenen Füßen zu stehen und einen eigenen Weg gehen zu dürfen 61 Sprachkenntnisse erlaubten es ihm, neue Kontakte zu knüpfen So drückte er sich in einer Broschüre in deutscher Sprache namens Brasilien wie es ist in literarischer Hinsicht betrachtet (1876) über die Macht der französischen Kulturrezeption in seinem Land aus: „Unbekümmert fährt Brasilien fort, ein Trabant Frankreich zu sein Ihm gilt Deutschland nach wie vor als das Reich des unpraktischen Idealismus, der poetischen Phantastik Unsere Schriftsteller bewegen sich noch immer in den Vorurtheilen, die sie aus französischen Büchern einzusaugen pflegten Hinsichtlich der Kunst, der Religion, der Politik, ist unser Fühlen und Denken aus Frankreich entsprungen, nach dessen Muster gebildet So hat jeder von unseren vermeintlichen Denkern und Schriftstellern gleichsam sein Paar französischer Krücken, mit denen allein er sich vorwärts bewegen kann, und daher leidet die brasilianische Literatur an der Armuth eigenen substantiellen Lebens Der Nationalgeist, indem er von den französischen Brocken zehrt, erzeugt nur Dunst und Rauch “62

61 62

Siehe Barreto, „O Brasil como ele é“, 66 Siehe ebd

Schlussbetrachtung: Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte? Die Lebenswege Tobias Barretos und Sílvio Romeros zeigen, dass sie sich keinen gängigen Konventionen unterwarfen und ihr Werk nicht einfach einzustufen ist In ihren Werdegängen praktizierten sie eine gewagte Aneignung von Theorien und Ideen aus dem Ausland, die sie selbstbewusst aufarbeiteten und in ihrem Werk neu gestalteten Somit vereinten sie verschiedene wissenschaftliche Ansätze mit dem Blick auf ihre eigene kulturpolitische Realität Barreto eignete sich die deutsche Sprache an und vermittelte zahlreiche deutschsprachige Autoren an die brasilianische Wissenschaftskultur, insbesondere im Rechtsdenken Obwohl er erstmals mit der deutschen Wissenschaftskultur durch die französischen Medien, die seinerzeit begeistert von der brasilianischen Elite gelesen wurden, in Kontakt kam, konnte er sich die deutschsprachigen Quellen ohne französische Mediation aneignen Das stellte ein Novum in der brasilianischen Rechts- und Wissenschaftskultur dar und macht die Besonderheit seiner Rezeption aus Deutschsprachige Autoren (noch dazu in ihrer Originalsprache) ins brasilianische intellektuelle Repertoire einzuführen war eine der nachhaltigsten Innovationen der „Recife Schule“ – sie leitete damit einen Bruch mit dem bildungspolitischen Erbe Portugals und mit der französischen Prägung der Eliten Brasiliens ein Die neue Sprache war für Barreto auch ein Weg intellektueller Differenzierung Sein Bestreben, Deutsch einwandfrei zu beherrschen, erlaubte es ihm, in dieser Sprache zu schreiben Dadurch konnte er Zeitschriften auf Deutsch veröffentlichen und Kontakte zu deutschsprachigen Korrespondenten knüpfen So gelang es ihm, die Einflusssphäre seiner Ideen auszudehnen Diese überschritten deutlich die Grenzen der Provinz Pernambuco und gewannen landesweite Bedeutung 1 Vor allem im Süden und Südwesten des Landes wurden seine Ideen begeistert aufgenommen, hauptsächlich dank des Engagements seiner Schüler, wie Graça Aranha, oder anderer Anhänger, wie Clóvis Beviláqua und Karl von Koseritz Barretos Ruf als Germanist und Förderer der deutschen Kultur im Nordosten Brasiliens wuchs und wurde sogar in Deutschland für bestimmte politische Zwecke instrumentalisiert

1

Siehe dazu Chacon, Formação das ciências sociais

Schlussbetrachtung: Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte?

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1879 schrieb der Geograph, Freimaurer und ehemalige Kolonialdirektor in Brasilien Albrecht Wilhelm Sellin,2 ein enger Freund Koseritz’, ein Profil über Tobias Barreto für die Zeitschrift Die Gartenlaube Dieses Blatt war damals eine der Zeitschriften mit hoher Auflage in Europa – vergleichbar mit dem Time Magazin unserer Zeit Barreto wurde dort als „Germanist“ und Unterstützer der deutschen Kultur in der „Wüste“ Nordbrasiliens beschrieben und als „Deutscher Kämpfer von Pernambuco“ vorgestellt Am Anfang des Berichts in der Gartenlaube werden die landläufigen Stereotypen aus dem 19  Jahrhundert über Brasilien als exotisches tropisches Land präsentiert: „Brasilien ist das Land der immergrünen Urwälder und hoch ragenden Palmen; es ist das Land der Affen, der Papageien und der niedlichen Colibris und wird durchströmt von dem wundervollen, sagenhaften Amazonenstrom, dem Riesen unter den Flüssen der Erde – ein paradiesisches Land, und doch giebt es dort ein Gebiet von der entsetzlichsten Oede: das brasilianische Geistesleben Dasselbe könnte für uns kaum Interesse haben, wenn dort nicht in jüngster Zeit die Gestalt eines Predigers in der Wüste aufgetaucht wäre, dessen Erscheinen jeden Deutschen sympathisch berühren muss und der es wohl verdient, von uns beachtet und ermuthigt zu werden; ich meine Tobias Barreto de Meneses, den wackern Fürsprecher für deutsches Geistesleben in Pernambuco “3

Sellin beabsichtigt hiermit über diese alte Vorstellung von Brasilien als ‚Exot‘ aufzuklären und konzentriert sich auf eine weniger bekannte Seite des Landes, nämlich auf das „Geistesleben“ Allerdings erweist sich diese Aufklärungsarbeit als mit vielen

2

3

Zusammen mit dem Politiker Ernst Hasse (1846–1908), später Vorstand der nationalliberalen Reichstagsfraktion (1898–1903), und Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846–1916), die führende Figur bei der deutschen „theosophischen Bewegung“, war Albrecht Sellin einer der „Wegbereiter der neuen Kolonialbewegung“ In solchen kolonialpolitischen Organisationen fand die frühe Kolonialbewegung ihren institutionellen Rückhalt Bedeutung erlangte insbesondere der 1878 in Berlin gegründete Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Auslande, von denen zahlreiche Zweigvereine, vor allem der Leipziger Verein für Handelsgeographie und Kolonialpolitik unter dem Vorsitz Ernst Hasses, des späteren Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands (ADV) und des Münchner Vereins zum Schutz deutscher Interessen im Ausland unter Leitung von Friedrich Ratzel (1844–1904), bedeutend waren Im Kontext der imperialen Machtausdehnung gewannen sowohl Erdkunde als Fach als auch die geographischen Institute und Zeitschriften, die sich in dieser Zeit exponentiell vermehrten, an Stellenwert Diese pflegten teilweise auch die deutschen Interessen im Ausland und unterstützten die Migration (sowie die imperialen Machtambitionen in Afrika): Die Idee Ratzels etwa von der Aufstellung eines „Lebensraums“ als wichtige Säule einer starken Nation entstand als Ansatz in diesem geopolitischen Kontext Mehr zu Ernst Hasse siehe Bernd Haunfelder, Die Liberalen Abgeordneten des Deutschen Reichstags – Ein Biographisches Handbuch (Münster: Aschendorff, 2004), 183 Hasse war zwischen 1879 und 1886 Vorsitzender im „Verein für Handelsgeographie und Kolonial Politik“, den er zusammen mit Sellin mitbegründete Siehe dazu Peter Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse – Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914 (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2007), 61 und Fn  77 Mehr zum Alldeutschen Verband im Kontext wachsenden Nationalismus und Intensivierung einer Kolonialpolitik siehe ebd , 59–68 Waeldler, „Der ‚deutsche Kämpfer‘ von Pernambuco“, 700

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Schlussbetrachtung: Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte?

eurozentrischen und (kolonial)politischen Tendenzen beladen In Brasilien gebe es laut Verfasser einen Hauch von Geistesleben, weil es dort, mitten „in der Wüste“, eine predigerähnliche Figur wie Barreto gebe, die als „Fürsprecher der deutschen Geisteskultur“ auftrete 4 Innerhalb einer kargen, von der Wüste dominierten Landschaft wird die deutsche Kultur seitens Sellin als eine „zivilisierende Macht“ dargestellt, deren neue Botschaft von einem fast messianischen Geist vermittelt werde Recife war aber schon damals größer als viele europäische Städte und verfügte über ein reiches und vielfältiges kulturelles Leben Dem politischen Kontext, in dem Sellin seinen Artikel verfasste, muss immerhin Rechnung getragen werden: Deutschland versuchte im letzten Quartal des 19   Jahrhunderts durch seine Kolonialpolitik, seine Macht als Nation innerhalb der europäischen Staatenkonstellation durchzusetzen, auch durch wissenschaftliche und kulturelle Leistungen Vor diesem kulturpolitischen Hintergrund galt es, die deutsche Migration und die deutsche Kultur in der Welt zu fördern, und Menschen wie Barreto und Koseritz waren in dieser Hinsicht wichtige Vermittlerfiguren, die diese Mediation wegen ihrer eigenen politisch-intellektuellen und religiös-politischen inländischen Auseinandersetzungen durchführten und nicht aus Treue zum deutsch-preußischen Nationalismus bzw Kolonialismus Die Prägung durch eine national-bezogene „deutsche Kultur“ war zweifelsohne wichtig im Projekt des preußischen Expansionismus im letzten Viertel des 19  Jahrhunderts 5 Vor diesem Hintergrund sollte Sellins Artikel über Barreto gelesen werden Das Bild des „Kämpfers“ für die deutsche Kultur prägte Barretos Wahrnehmung in Deutschland als „Germanist“ und beeinflusste ebenso die Vorstellungen Haeckels und Jherings über ihn 1874 nahm Karl von Koseritz Briefkontakt mit Haeckel in Jena auf und schickte ihm später auch Romeros Buch über die Philosophie in Brasilien, das er in seinem Verlag veröffentlichte In diesem Buch wurden Barretos Bemühungen für das philosophische Gedankengut in Brasilien gepriesen Zu Romeros Abhandlung sagte Haeckel Folgendes in seiner Antwort an Koseritz: „Soweit ich es verstehe (denn ich bin kein Held im Portugiesischen), hat mich das kleine Buch des Dr Sylvio Romero sehr interessiert, hauptsächlich in dem Theil welcher von Tobias B de Menezes handelt, der mir zur Race der großen Denker und der unermüdlichen Arbeiter zu gehören scheint “6

Ob der Zoologe, dessen Ideen so stark den sozialen Determinismus und die Eugenik des späten 19   Jahrhunderts beeinflusste, wusste, dass der Universitätsprofessor

4 5 6

Siehe ebd Dazu ist Folgendes zu bemerken: „Das Ziel des Kolonialvereins war es, durch öffentliche Agitation die ‚Einsicht‘ in die Notwendigkeit kolonialer Expansion zu fördern und zugleich konkrete Maßnahmen zur Lösung der Kolonialfrage zu unterstützen “ Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, 61 Siehe Barreto, Estudos Alemães, 512

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Barreto schwarz und ein Liberal-Republikaner war, der aus armen Verhältnissen der brasilianischen Provinz stammte, bleibt ungewiss Zugleich würdigte ihn auch Jhering in einem Vorwort von 1891 zu seiner kleinen Schrift Jurisprudenz des täglichen Lebens Dort stellte der deutsche Rechtswissenschaftler Barretos Übersetzung von Auszügen seines Werkes ins Portugiesische (die erste in dieser Sprache) als Beweis für den internationalen Erfolg des Buches dar: „ihr didaktischer Werth hat sich durch die inzwischen erschienenen neuen Auflagen und durch mehrere Übersetzungen (eine italienische von Vito Perugio, eine ungarische von Professor Biermann, eine griechische von Dr Demaras, ein Auszug in portugiesischer Sprache in de Menezes, questões vigentes de philosophia e direito, Pernambuco, S 161 ff ) bewährt “7

Der Rechtswissenschaftler Clóvis Beviláqua8 schrieb über Barretos Charakter und über seine Bedeutung für die Rechtsgeschichte seines Landes, der Jurist habe keineswegs einen Geist besessen, der sich darauf beschränkte, Ideen von anderen einfach zu reproduzieren, so sehr er die Schöpfer dieser verehrte 9 Er eignete sich von seinen intellektuellen Vorbildern Haeckel und Jhering ihre wissenschaftlichen Prinzipien und Grundlagen (Evolutionismus, Monismus, Rechtssoziologie) an und arbeitete diese in sein Werk und Gedankengut ein – fast in „kannibalistischer“ Manier, wie die Modernisten es später als bewusstes Programm formulieren würden 10 Das Beispiel von Romeros Rezeption von Haeckels Ideen ist ebenso typisch für eine solche „kannibalistische“ Aneignung europäischer Rassentheorien, in der die Couleur der politischen und ethnischen Realität Brasiliens eine wesentliche Rolle spielte Romeros Sorge um die Betonung einer besonderen kulturellen Identität für sein Land sowie seine eigenen französisch-positivistisch-deterministischen Vorstellungen gaben das Maß für seine Aneignung der Rassentheorien und Haeckels Evolutionismus vor Der brasilianische Literaturhistoriker lebte in einem Land, das mehrheitlich ethnisch gemischt war und, dem wissenschaftlichen Rassismus zufolge, dadurch kulturell und politisch zum Scheitern verurteilt war Darüber hinaus war sein lebenslanger Freund und intellektueller Mitstreiter Barreto ein Farbiger Wie konnte er diese Tatsache mit den wissenschaftlichen Ansätzen damaliger Rassentheorien verbinden? Allein die Existenz Barretos, der diverse Sprachen beherrschte und hochgebildet war, forderte den Arianismus heraus Diesen Widerspruch versuchte Romero mit seiner Theorie der „Rassenmischung“ (mestiçagem) zu lösen, die er sich von europäischen Forschungsreisenden aneignete Deren Ideen verband er mit der Vorstellung einer na-

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Siehe Jhering, „Vorwort“ Mehr zu Beviláqua siehe Kapitel „Die Nachfolger der ‚Recife Schule‘“ Siehe Beviláqua, Juristas, 114–115 Zu einer Zusammenfassung des „kulturellen Kannibalismus“ seitens der brasilianischen Modernisten im 20  Jahrhundert siehe Prutsch und Rodrigues-Moura, „Tupi or not tupi – Der Modernismus der Kannibalen“, in: Dies , Brasilien, 121–125

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turhistorischen Evolution des Menschen haeckelscher Prägung Das Resultat war die Auffassung einer grundsätzlich positiven Rassenmischung, die er für Brasilien identitätsstiftend werden ließ – gerade wegen ihrer angeblichen Überlegenheit würden die weiß-europäischen physischen Merkmale überwiegen und die brasilianische Bevölkerung würde sich in einigen Jahrzehnten aufhellen, aber gemischt in ihrer kulturellen Ausstattung bleiben Die brasilianische Kultur sollte sich in dieser Hinsicht gerade wegen der verbreiteten ethnischen Mischung in den Tropen als erfolgreich und durchsetzungsfähig erweisen, so Romeros Theorie Der Einfluss der „überlegenen“ weißen Europäer und des schwarzafrikanischen Beitrags würde durch diese Mischung und Evolution haeckelscher Art zu einer an das Leben in den Tropen besser adaptierten Kultur führen, die Brasiliens Bevölkerung zu etwas Besonderem machte Allerdings war auch eine persönliche Komponente bei der Konstruktion von Romeros Theorie der „Rassenmischung“ im Spiel: die enge intellektuelle Freundschaft zwischen ihm und dem schwarzen Barreto Barreto hingegen machte Haeckels monistische Weltanschauung zum wesentlichen Bestandteil seiner Rechtsauffassung Er brachte diese mit Jherings Rechtssoziologie zusammen und sah auf diese Weise das Recht als Ergebnis einer menschlichen (historischen) „Evolution“ Allerdings lehnte er jede Form von rassenbedingtem Determinismus ab Hier zeigten sich seine frühen Lektüren deutschsprachiger jüdisch-liberaler Schriftsteller und Intellektueller als wegweisend, die für seinen Einstieg in die deutsche Wissenschaftskultur verantwortlich waren Allen voran ist hier der Einfluss von Georg August Ewald und Berthold Auerbach hervorzuheben Barreto konnte sich diese Autoren nur aneignen, weil er sich entschloss, die deutsche Sprache zu lernen und damit deutschsprachige Zeitschriften lesen konnte  – ein gewagter Schritt im Brasilien des 19  Jahrhunderts, insbesondere in dem nordöstlichen und hinterländischen Dorf Escada Durch seine frühen Auseinandersetzungen mit den deutsch-jüdischen und liberalen Autoren wurde er auch auf die Problematik des wachsenden Antisemitismus und des Rassendeterminismus im Europa des 19  Jahrhunderts aufmerksam Allein die Tatsache, dass er selbst als Schwarzer in einem rassistischen und von der Sklaverei immer noch geprägten Land aufwuchs, machte ihn für rassistische Vorurteile besonders sensibel Die Frage nach der Anerkennung Barretos als Intellektueller spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle Die Kritik an der Vormachtstellung der französischen Kultur als Vorbild für die brasilianische intellektuelle Elite in einer rassistischen, hoch hierarchisierten und sklavistischen Gesellschaft war ein zentrales Merkmal von Barretos (und Romeros) Rezeption deutschsprachiger Autoren – in einer Zeit, in der Deutschland vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Kriegs als Feindbild Frankreichs auf der internationalen Bühne angesehen wurde Barretos und Romeros Kampf für die deutschsprachige wissenschaftliche Kultur kann im Zusammenhang mit einer gesellschaftspolitischen Botschaft betrachtet werden Zugleich war diese innovative Aneignung Ausdruck einer Sehnsucht Barretos nach Akzeptanz und Differenzierung in einer Kultur, die ihn geringschätzte Für ihn als schwarzen Intellektuellen

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waren die Rezeption deutschsprachiger Wissenschaftskultur und das Studium einer Sprache, die im juristischen Milieu seines Landes fast niemand kannte, ein Unterscheidungsfaktor Diese Innovation bedeutete auch ein Mittel, sich als Intellektueller und Akademiker durchzusetzen Im Bereich des Rechtsdenkens gelten Barretos Leistungen als zentral für die weitere Entwicklung der brasilianischen Wissenschaftskultur insgesamt Er stellte das brasilianische Strafrecht auf wissenschaftliche Konzepte – wider die religiöse Vorstellung der Strafe als Opfergabe und die Ansätze der deterministischen positivistischen Schule französischer Prägung Im Privatrecht war er der Erste, der das deutschsprachige Konzept des „Urheberrechts“ in Brasilien einführte Wenngleich er zeitlebens zumeist auf eine adäquate Anerkennung verzichten musste, kann er als „Vater“ der Rechtswissenschaften in Brasilien bezeichnet werden und die deutschsprachigen Wissenschaftler, die er rezipierte, haben für ihn eine zentrale Rolle gespielt Bis heute ist Barretos Name dennoch den meisten Juristen im Lande unbekannt Meistens werden weiße (und katholische) Juristen, wie etwa Rui Barbosa und Teixeira de Freitas als „Gründerväter“ der Rechtswissenschaften in Brasilien gewürdigt Dies in einem Land, in dem Katholizismus, Patriarchalismus, Sklaverei und Rassismus historisch sehr prägnant waren und ihre Spuren in der Rechtskultur hinterlassen haben Durch seine Rezeption von Haeckels und Jherings Ansätzen wendete sich Barreto von der thomistischen Metaphysik, vom Naturrecht und von der Orientierung am römischen Recht ab und konnte sich so mit den praktischen Problemen der brasilianischen Gesellschaft auseinandersetzen – dafür steht seine Tätigkeit als Anwalt in Escada Außerdem kamen Jhering und Haeckel aus einer protestantischen Kultur und Brasilien war ein Land, das von einem katholischen Erbe in der juristischen Ausbildung geprägt war In Zeiten von Spannungen zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus kam solchen religiösen Unterschieden auch eine besondere Bedeutung zu Die hier geführten Quellenrecherchen, die Auseinandersetzung mit Barretos Werdegang als Intellektueller und die Analyse der Autoren, die er studierte, belegen, dass er sein ganzes Leben lang politisch ein Liberal-Radikaler und Antiklerikaler (Antithomist) blieb Darüber hinaus lehnte er sowohl jeglichen Determinismus ab als auch den Nationalismus Bismarcks Seine deutschnationalen Parolen müssen im Kontext seiner intellektuellen Kritik an der französischen kulturellen Prägung der brasilianischen Eliten verstanden werden 11 Deutschland stand für Barreto für eine hochrangige Geisteskultur Den militärischen Expansionismus befürwortete er nicht und schon gar keine antisemitischen oder sonstwie diskriminierenden oder rassistischen Ansichten, wie die Ausführungen erkennen ließen Er zeigte einen missionarischen Eifer in Bezug auf die Vermittlung deutschsprachigen Gedankengutes, die er als seinen „Lebensauftrag“

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Wie etwa bei der Wiedergabe der deutschen Nationalhymne Siehe Barreto, „O Brasil como ele é“, 70

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(a missão de minha vida) begriff 12 Nichtsdestotrotz war sein politisches Ziel stets eindeutig, nämlich durch die Vermittlung der deutschsprachigen wissenschaftlichen Kultur, Kritik an der thomistischen geisteswissenschaftlichen Prägung Brasiliens sowie an den französischen intellektuellen Gewohnheiten der Eliten zu üben So machte er aus seiner Rezeption deutschsprachiger Wissenschaftler und Denker ein Politikum, das innerhalb des historischen Kontextes seiner Zeit und Barretos persönlichen Lebensumständen einzuordnen ist Die Analyse der Lesequellen und Zitate Barretos zeigten, dass er Haeckels monistischer Perspektive nahestand und sie befürwortete, sie sich aber kritisch und eigenständig aneignete und damit nicht ihre mechanistisch-deterministischen Folgen für das soziale Leben übernahm Seine Lesegewohnheiten belegen auch, dass er bis zum Ende seines Lebens völlig mit Haeckels darwinistischen Ansätzen übereinstimmte Deswegen bringen Deutungen über Barreto als „Kulturalist“ oder als frühem Befürworter eines „Neokantianismus“ keine Erkenntnisgewinne für das Verständnis seiner Rolle in der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte Barreto gab seinen Antithomismus nie auf noch wich er je von seinen antiklerikalen und liberalen Positionen ab Haeckels monistischer Blick diente ihm als Werkzeug, seine Positionen zu untermauern, wie zum Beispiel seine politischen Bemühungen für die Rechte der Frauen auf Ausbildung zeigen Barreto erwies sich gleichzeitig als Erzieher und Intellektueller, der sich für die bildungspolitischen Fragen seiner Zeit einsetzte und solche als Voraussetzung für die Entstehung eines kritischen Bürgertums betrachtete 13 Auch in seinem politischen Leben wurde er stark von deutschsprachigen, oftmals jüdischen, liberalen Autorinnen und Autoren beeinflusst, wie etwa Fröbel, Pestalozzi oder Dohm Damit gilt Barreto als brasilianischer Pionier der Frauenemanzipation in einer Zeit, in der die Frau lediglich als unselbstständiger Teil der herrschenden patriarchalischen Maschinerie galt Er verurteilte den Despotismus und die religiösen Vorurteile, denen sie auf familiärer Ebene ausgeliefert war In der vorliegenden Untersuchung standen Prozesse der transatlantischen Rezeption und Aneignung von Ideen im Fokus Lesegewohnheiten und Verflechtungen transregionaler und transnationaler Natur wurden rekonstruiert und kulturpolitisch bedingte Konflikte sowie intellektuell-ideologische Spannungen beleuchtet Es ging in der Analyse an erster Stelle darum, aufzuzeigen, wie die im Fokus stehenden brasilianischen Intellektuellen im Hinblick auf ihre kulturpolitischen Verhältnisse autonomer agierten, als die traditionelle Ideengeschichte ihnen zuzugestehen bereit war Barreto und Romero richteten ihren Blick zunächst auf ihre eigenen politischen und ideologischen Dispute, bevor sie sich an der Treue zu europäischen Denkströmungen orientierten Daher rühren die auffallenden Unterschiede bei ihrer Rezeption

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Siehe Barreto, Jurisprudência, 470 Siehe Nunes, „Tobias Barreto e o Projeto“, 18

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von Ideen aus Europa Zudem brachten sie dabei viel von ihren eigenen politischen Vorstellungen ein Deswegen haben die alten Kategorien aus der europäischen philosophiegeschichtlichen Debatte nur ein äußerst beschränktes Potenzial, um solche differenzierten Rezeptionsprozesse und multiplen Verflechtungen aufzuklären Vor diesem Hintergrund wurde deutlich, dass die Autoren und Theorien, die in Europa einen bestimmten Inhalt hatten, in diesem anderen politischen Kontext eine andere Wirkung hatten Während Jhering und Haeckel in Deutschland eine durchaus nationalistische (mit dem Aufbau des deutschen Nationalstaates verbundene) Interpretation gewannen, wurden ihre Ansätze von Rebellen und Liberal-Radikalen wie Barreto und Romero rezipiert, die gegen den Mainstream in der Politik (Monarchie und Sklaverei) kämpften Sie waren nämlich Republikaner Romeros Rezeption von Haeckels evolutionistischen Ansätzen ist in dieser Hinsicht paradigmatisch, weil sie sich in einem französisch-positivistischen Rahmen ereignete Romero lieferte mit seiner Theorie die wissenschaftliche Verankerung der „Ideologie des branqueamento“, die später die Grundlage für den brasilianischen Rassismus und die Förderung der weißen (europäischen) Migration als offizielle Regierungspolitik bildete Dadurch aber, dass Romero die Rassenmischung als positive Facette sah, eröffnete er eine durchaus differenzierte Rezeption des Arianismus als identitätsstiftend für das Land, das als das am meisten „rassengemischte“ (mestiça) gesehen wurde, nämlich Brasilien Damit stellte er die Ansätze des wissenschaftlichen Rassismus auf den Kopf Nichtsdestoweniger dienten seine Ausführungen zur „Aufhellung“ der Bevölkerung später als Ansatz für Gilberto Freyres Mythos einer Rassendemokratie, die Rassismus als gesellschaftspolitisches Problem herunterspielen und dessen Bekämpfung in Brasilien erschweren würde Auf der anderen Seite des Atlantiks hingegen überwiegen Vorstellungen einer einseitigen Rezeption von Wissen aus Europa Die Verwendung von „Transfer“ in der kulturhistorischen Debatte kann den Eindruck vermitteln, dass Wissen und Ideen von Europa aus in die Welt einfach wie Waren transferiert wurden und gar nicht autonom („kannibalistisch“) aufgearbeitet wurden Dahinter steckt immer noch die Vorstellung eines „zivilisierten Europas“, das seine Aufgabe darin sieht, der ganzen Welt seinen Aufklärungsanspruch mitzuteilen Autoren wie Jhering und Haeckel erfuhren allerdings eine liberal-radikale Rezeption ihrer Ideen in dem südamerikanischen Land und wurden im Kampf gegen Katholizismus, Monarchie (und teilweise auch gegen das gewöhnliche Bild von „Rassenreinheit“) benutzt, obwohl viele ihrer Werke in Europa in eine andere Richtung wiesen Die Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte im Sinne Bénédicte Zimmermanns und Michael Werners fordert festgefahrene Vorstellungen von „Zentrum“ und „Peripherie“ oder von „global“ und „lokal“ heraus und verlangt die Relativierung eurozentrischer Ansätze Sie verweist damit auf multiple Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Regionen der Welt und auf politische Kontexte sowie auf Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und auf ihren Austausch bei der Konstruktion von Wissen und kulturellen Identitäten Daher sind die üblichen Vorstellungen von

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„global“ im Gegensatz zu „lokal“ oft zu unpräzise, wie Lila Abu-Lughod in ihrer kritischen Herangehensweise zu weltweiten Rezeptionsprozessen unterstreicht In der Tat wird „lokal“ oft von „global“ beeinflusst und umgekehrt Wenn der Blick auf den konkreten Prozess der Aneignung von Ideen und Wissen gerichtet wird, erweisen sich solche Kategorien als unzureichend Es handelt sich hier vielmehr um eine transnationale Verflechtung, bei der die „lokalen“ und „globalen“ Ebenen eng miteinander verbunden und oft schwer zu unterscheiden sind Gerade das Beispiel der Rezeption Rudolf von Jherings und Ernst Haeckels in der brasilianischen Wissenschaftsgeschichte des 19  Jahrhunderts macht deutlich, wie eng diese beiden Sphären – „global“ und „lokal“ – konkret ineinander verwickelt sind Mit der selbstbewussten Aneignung dieser deutschsprachigen Autoren in Brasilien entstand auch eine in ihrer politischen Konstellation situierte cultural resistance im Sinne von Edward Saids postkolonialem Blickwinkel Während Wissenschaftler wie Jhering und Haeckel in Deutschland politisch konservativ waren, d h bismarcktreu und nationalistisch-monarchistisch, wurden sie in Brasilien von liberal-radikalen Denkern wie Barreto und Romero rezipiert Ihre Ideen bekamen auch neue Inhalte und wurden im Kampf gegen Monarchie, Sklaverei und für mehr individuelle Freiheiten, Zivilrechte und eine rassengemischte kulturelle Identität verwendet Deswegen darf sich die wissenschaftshistorische Forschung nicht an rein theoretischen Kategorien der alten Ideengeschichte anlehnen, wie etwa „philosophische Evolution“ oder „Denkphasen“ Solche fixen Labels des 19  Jahrhunderts sind eher kontraproduktiv für die aktuelle Geschichtsschreibung, weil sie zu stark von eurozentrischen Ansichten geprägt sind Die konkreten historischen Akteure lassen sich daran nicht festmachen Sie sind vielmehr von ihren ideologischen Auseinandersetzungen und ihren intellektuellen Biographien beeinflusst Die Analyse der intellektuellen Biographien von Tobias Barreto und Sílvio Romero mit dem Fokus auf ihrer innovativen Rezeption von Ernst Haeckels und Rudolf von Jherings Theorien bewies, dass sie sowohl von „lokalen“ Debatten als auch von „globalen“ Verflechtungen und Wirkungen beeinflusst wurden und solche auch in ihrer Wissenskultur beeinflussten: Eine erste Vermittlung des deutschen Gedankenguts durch französische Zeitschriften, der Einfluss des wachsenden Antisemitismus in Europa, der deutsch-französische Krieg und die religiös-politischen Gräben zwischen Ultramontanismus und Antiultramontanismus waren wichtige Komponenten dieser Wissenschaftsgeschichte als Verflechtungsgeschichte Oft standen auch persönliche Gründe im Mittelpunkt, wie institutionelle Dispute, die – gepaart mit wissenschaftlichem Austausch und gegenseitigen Aneignungen – zeigen, wie eng verschiedene Dimensionen verbunden waren und wie bedeutend für die Wissenschaftsgeschichte sie sich erwiesen Die Handlungsweise solcher Intellektueller entpuppt sich insofern als „global“, weil sie alle von ausländischen Ideen, Büchern und Autoren bzw Autorinnen profitieren

Quellenverzeichnis Gedruckte Briefe (in chronologischer Reihenfolge) Tobias Barreto an Carvalho Lima Júnior, Escada, 6 8 1880, in: Tobias Barreto, Estudos Alemães, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2012), 222–225 Tobias Barreto an Sílvio Romero, Recife, 22 9 1887, in: Tobias Barreto, Estudos Alemães, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2012), 245 Tobias Barretos an Sílvio Romero, Recife, 19 6 1889, in: Tobias Barreto, Estudos Alemães, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: J E Solomon, 2012), 246

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Werke von Rudolf von Jhering Jhering, Rudolf von Der Zweck im Recht, Bd  1 (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1877) Jhering, Rudolf von „Vorrede“, in: Ders , Der Zweck im Recht, Bd  11–12 (Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1884), abrufbar unter http://daten digitale-sammlungen de/~db/0008/bsb00084637/ images, letzter Zugriff am 16 9 2016 Jhering, Rudolf von „Vorwort zur achten vermehrten Auflage“, in: Ders , Die Jurisprudenz des täglichen Lebens Eine Sammlung an Vorfälle des gewöhnlichen Lebens anknüpfender Rechtsfragen Zum akademischen Gebrauch bearbeitet und herausgegeben von Dr Rudolf von Jhering ( Jena: Gustav Fischer, 1893), 9 Auflage, o S Jhering, Rudolf von L’Evolution du Droit (Zweck im Recht) (Paris: Chevalier-Marescq, 1901), übers von O de Meulenaere, abrufbar unter BnF Gallica: http://gallica bnf fr/, letzter Zugriff am 17 9 2016 Jhering, Rudolf von Questões e estudos de direito (Bahia: Livraria Progresso, 1955), übers von João Vieira de Araújo, Clóvis Beviláqua, Adherbal de Carvalho

Werke von Ernst Haeckel Haeckel, Ernst Generelle Morphologie der Organismen: allgemeine Grundzüge der Organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Bd   1: Allgemeine Anatomie der Organismen (Berlin: Georg Reimer, 1866), abrufbar unter http://opacplus bsb-muenchen de/title/BV011804450/ft/bsb10075781?page=6, letzter Zugriff am 5 10 2016 Haeckel, Ernst Generelle Morphologie der Organismen: allgemeine Grundzüge der Organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Bd  2: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen (Berlin: Georg Reimer, 1866), abrufbar unter http://opacplus bsb-muenchen de/title/BV011804472/ft/bsb10075782?page=6, letzter Zugriff am 5 10 2016

Werke von Tobias Barreto

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Haeckel, Ernst Natürliche Schöpfungsgeschichte: Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenigen von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen (Berlin: Georg Reimer, 1874), 5 verb Auflage, abrufbar unter Elektronische Bibliothek Schweiz (E-lib ch): http://dx doi org/10 3931/e-rara-17788, letzter Zugriff am 5 10 2016 Haeckel, Ernst Histoire de la création des êtres organisé d’aprés les lois naturelles: conférences scientifiques sur la doctrine de l’évolution en général et celle de Darwin, Goethe et Lamarck en particulier (Paris: C Reinwald, 1877), übers von Ch Letourneau, 2 Auflage, abrufbar unter http://gallica bnf fr, letzter Zugriff am 5 10 2016

Werke von Tobias Barreto Barreto, Tobias „A alma da mulher“, in: Ders , Estudos Alemães (Recife: Typographia Central, 1883), 1 Auflage, 7–35 Barreto, Tobias Estudos Alemães (Recife: Typographia Central, 1883), 1 Auflage Barreto, Tobias „O Haeckelismo na Zoologia“, in: Ders , Estudos Alemães (Recife: Typographia Central, 1883), 1 Auflage, 77–99 Barreto, Tobias „O que se deve entender por direito autoral“, in: Ders , Estudos Alemães (Recife: Typographia Central, 1883), 1 Auflage, 251–71 Barreto, Tobias „Algumas Ideias sobre o Chamado Fundamento do Direito de Punir“, in: Ders , Menores e Loucos em Direito Criminal (Recife: Typographia Central, 1886), 2 Auflage, 124–145 Barreto, Tobias „A Musa da felicidade“, in: Ders , Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage, 177–181 Barreto, Tobias „Auberbach e Victor Hugo“, in: Ders , Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage, 91–111 Barreto, Tobias Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage Barreto, Tobias „Sobre David Strauss“, in: Ders , Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage, 151–159 Barreto, Tobias „Sobre um escripto de A Herculano“, in: Ders , Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage, 47–89 Barreto, Tobias „Uma excursão de dilettante pelo dominio da sciencia biblica“, in: Ders , Ensaios e Estudos de Philosophia e Critica (Pernambuco: José Nogueira de Souza, 1889), 2 korr u erw Auflage, 121–149 Barreto, Tobias, „Himmelfahrt und Escadafahrt“, in: Ders , Estudos Alemães, Obras Completas VIII, Edição do Estado do Sergipe (Rio de Janeiro: Pongetti & C , 1926), 503–508 Barreto, Tobias „Um discurso em mangas de camisa“, in: Hermes Lima, Tobias Barreto (A Época e o Homem), Em apêndice o Discurso em mangas de camisa com as notas e adições (São Paulo: Companhia Editora Nacional, 1957), 2 Auflage, 286–312 Barreto, Tobias „Ainda a Educação da Mulher“, Ders , Crítica política e social, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: Record, 1990), 183–189 Barreto, Tobias Crítica de literatura e arte, Festschrift, hg von Paulo Mercadante (Rio de Janeiro: Record, 1990) Barreto, Tobias Crítica política e social, hg von Luiz Antonio Barreto (Rio de Janeiro: Record, 1990)

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b e i t r äg e z u r e u ro pä i s c h e n ü b e r s e e g e s c h i c h t e bis Band 88: Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte

Im Auftrag der Forschungsstiftung für vergleichende europäische Überseegeschichte begründet von Rudolf von Albertini, fortgeführt von Eberhard Schmitt, herausgegeben von Markus A. Denzel, Mark Häberlein und Hermann Joseph Hiery.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0522–6848

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Wie gelangten Denk- und Interpretationsfiguren aus der deutschen Zoologie oder der deutschen Rechtswissenschaft nach Brasilien? Wie wurden sie dort rezipiert? Und welche Wirkungen entfalteten sie? Diesen Fragen widmet sich Ricardo Borrmann anhand des Werdegangs und der Rezeptionspraktiken zweier wichtiger Akteure der sogenannten „Generation von 1870“: den brasilianischen Juristen und Intellektuellen Tobias Barreto (1839–1889) und Sílvio Romero (1851–1914). Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Rolle der Rezeption und Aneignung deutschsprachiger Autoren wie Rudolf

von Jhering (1818–1892) und Ernst Haeckel (1834–1919) seitens Barreto und Romero. So zeigt Borrmann die Begründung einer neuen Tradition in der brasilianischen bzw. portugiesisch-sprachigen Rechtswissenschaft. Gleichzeitig setzt er diese Entwicklung in einen breiteren historischen und kulturpolitischen Zeitkontext – und zeichnet so die Entwicklung der intellektuellen Landschaft Brasiliens im 19. Jahrhundert nach. Nicht zuletzt greift er auch die Probleme traditioneller, eurozentrischer Darstellungen von Wissenstransfer und der Historiographie auf.

ISBN 978-3-515-12446-1

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7835 1 5 1 2446 1

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