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German Pages 340 Year 2020
Tiefe
Tiefe
Kulturgeschichte ihrer Konzepte, Figuren und Praktiken Herausgegeben von Dorothee Kimmich und Sabine Müller
ISBN 978-3-11-063374-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063473-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063556-0 Library of Congress Cataloging in Publication Control Number: 2020938888 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: Jackson Pollock, The Deep © Pollock-Krasner Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Dorothee Kimmich
Vorwort Deep Blue: So lautet der Titel eines Dokumentarfilms aus dem Jahr 2003 über das Leben unter der Oberfläche der Weltmeere. Deep Blue lautet auch der Name des IBM-Computers, der 1997 den Schachweltmeister Garri Kasparow besiegte. Der Name des Computers geht auf den Kultroman The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy (Per Anhalter durch die Galaxis) von Douglas Adams zurück; dort heißt der Computer Deep Thought. Deep Thought sollte die Frage nach der Wahrheit errechnen, die Antwort war in sieben Millionen Jahren gefunden worden: Sie lautet 42. Das Kultbuch inspirierte den Architekten des Computers zu seiner Namensgebung. Auch Deep Blue, der Meeresfilm, will so etwas wie die Antwort auf die Frage aller Fragen sein: Untermalt von der theatralischen Musik George Fentons wird bereits im ersten Kommentar darauf hingewiesen, dass man in die Tiefe der Ozeane und damit zu den Ursprüngen nicht nur der Menschen, sondern des Universums hinabtauchen werde. In der Tiefe finden sich neben Ungeheuern, Schätzen und Geheimnissen auch die Ursprünge der Welt und die Ressourcen des Wissens. Künstliche Intelligenz und natürliches Leben partizipieren an der metaphorischen Kraft und Vielfalt der Tiefe. Dem gegenüber stehen die Wasseroberfläche und der Screen, Flächen, die mehr oder weniger opak, mehr oder weniger beschrieben, mehr oder weniger belebt sein können: „An Oberflächen […] gewinnen ganze Wissensordnungen Kontur.“ (Lechtermann und Rieger 2015, 9) Das Spannungsverhältnis zwischen Oberfläche und Tiefe ist ständiger Veränderung unterworfen, Tiefe und Oberfläche werden gegeneinander ausgespielt und entwickeln dabei eine erstaunlich produktive Tradition. Dies zu explorieren, hat sich im Mai 2017 eine Tagung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Ziel gesetzt. Ein Großteil der hier versammelten Beiträge geht auf diese Tagung zurück. Die Tagung Entsicherte Tiefen. Abgründe, Hohlräume und Tiefenkräfte in Literatur und Ästhetik seit 1800 wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF (Projekt T599-G23: Kultivierte Latenz. Die andere Moderne in der österreichischen Literatur 1930 – 1960) finanziert und von der ÖAW mit einer Veranstaltungsförderung bezuschusst. Unser herzlicher Dank geht an die beteiligten Institutionen und Personen. Für die organisatorische Unterstützung danken wir dem Veranstaltungsmanagement der ÖAW und besonders Juliane Fink. Danken möchten wir auch dem De Gruyter Verlag, insbesondere Anja Michalski und Marcus Böhm. Weitere Beiträge konnten https://doi.org/10.1515/9783110634730-001
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im Anschluss an die Tagung gewonnen werden. Für die sorgfältige formale Einrichtung und das Lektorat danken wir sehr herzlich Quintus Immisch und für die Redaktion und die im Rahmen der Publikation angefallene Korrespondenz Sara Bangert, beide von der Universität Tübingen.
Literaturverzeichnis Lechtermann, Christina und Stefan Rieger. „Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung“. Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung. Hg. Christina Lechtermann und Stefan Rieger. Zürich, Berlin: Diaphanes, 2015. 7 – 12.
Inhalt Sabine Müller Einleitung: Perspektiven einer aktuellen Kulturgeschichte der Tiefe
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Irmgard Männlein-Robert Supranaturale Tiefen: Religiöse und philosophische Höhlenwelten in der antiken Literatur 19 Hartmut Böhme Topographien, Praktiken und Phantasien des Unterweltlichen Thomas Macho Pascals Abgrund
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Raimar Zons Grundlose Tiefe: Eine kleine Geschichte der Bodenlosigkeit von Ignatius und Luther bis Flusser und Derrida 77 Jörg Robert Mummelsee und Mundus subterraneus: Tiefenwissen bei Grimmelshausen 95 und Athanasius Kircher Vera Bachmann Helle Kunst der Tiefe: Zur Autonomieästhetik von Karl Philipp Moritz Moritz Baßler Balladisches Erzählen und submedialer Raum um 1800: Eine Lektüre von Schillers „Der Taucher“ 143 Stefan Rieger Kreaturen der Tiefe
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Dorothee Kimmich Höhlen: Niemandsländer in der Tiefe
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Monika Mokre „Alle Wissenschaft wäre überflüssig…“. Zu Marx’ Tiefe
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Inhalt
Hans-Georg von Arburg Haus Vaterland: Siegfried Kracauers Topodiagnostik der Moderne
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Burkhard Meyer-Sickendiek Vom kreatürlichen zum erinnernden Tiefsinn: Walter Benjamins Flucht aus der 243 kafkaesken Moderne Sabine Müller Verkehrende Praktiken vertiefter Kollektivität: Brecht und Benjamin, Kafka 267 und Schönlank Roland Innerhofer Euthanasie und individueller Tod in Franz Werfels Stern der Ungeborenen 291 Bernd Stiegler Die heilige Fläche oder die doppelte Stunde Null Beiträgerinnen und Beiträger Namenregister
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Einleitung: Perspektiven einer aktuellen Kulturgeschichte der Tiefe Die Tiefe zählt zu den ältesten und wichtigsten Metaphern der Kulturgeschichte. Dies verdankt sie ihrer engen Bindung an Konzepte von Wahrheit und Erkenntnis, Ursprung und Seele, Substanz und Grund. Zurückzuführen ist dies auch auf ihre tragende Rolle in historisch wirkmächtigen Vorstellungen von Subjektivität, (ästhetischer) Erfahrung und Erinnerung, von emotionaler Intensität und Echtheit. Diesen positiven Konnotationen stehen freilich ebenso zahlreiche negative Aufladungen gegenüber, in denen die Tiefe – die ikonographische Tradition von Hades und Hölle fortführend – als Projektionsraum für das Dunkle, Irrationale und Bedrohliche, für unkontrollierbare Kräfte dient. Deren Imagination verbindet sich nicht selten mit Wertungen des sozialen Raums, mit einer sozialräumlichen Aufladung, die in der Bildtradition verbrecherischer, gesetzloser Unterwelten sinnfällig zum Ausdruck kommt. Diese konkurrierenden semantischen Besetzungen der Tiefe bestimmen sie zu einer hoch ambivalenten Figur, in der individuelle und kollektive Sehnsüchte nach einem Sicherheit, Gewissheit und Identität verbürgenden Grund auf Ängste vor verschiedenen Spielarten des Abgrunds treffen. Für die kulturwissenschaftliche Arbeit stellt sich die Tiefe somit auf den ersten Blick als schwer abgrenzbarer Gegenstand dar – sie scheint alles und nichts zu bedeuten. Aus der Vielfalt und Allgegenwart ihrer Semantiken und Topologien folgt freilich im Gegenzug, dass Figuren und Konzepte der Tiefe in kulturelle, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge der Gegenwart wie der Vergangenheit auf eine besondere Weise involviert sind. Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das kulturtheoretische und -historische Potenzial ebendieser Involvierung der Tiefe aufzuzeigen und die Möglichkeiten seiner Nutzung zu erkunden. Nimmt man aktuelle gesellschaftliche Diskurse zum Ausgangspunkt, drängt sich zunächst ein Themenkomplex ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Metaphern und Topologien der Tiefe sind ein machtvolles Bauelement sozialer Ordnungen und des politischen Imaginären. Mit der Tiefe wird Politik gemacht, sie ist als emotionalisierendes Argument, als Idee und Ideologie mobilisierbar, sie lässt sich auf unterschiedlichen Wegen entsichern. Um das Funktionieren von Modellen metaphorischer Tiefe zu erfassen, gilt es freilich zunächst zu berücksichtigen, dass auch ihre nicht-figürlichen Bedeutungen kulturhistorisch einschlägig sind. In wörtlicher Verwendung bezieht sich die Tiefe auf die räumliche Ausdehnung https://doi.org/10.1515/9783110634730-002
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physischer Objekte oder Leerräume (hoch, breit, tief) und ist demzufolge u. a. mit der Geschichte der perspektivischen Darstellung verflochten. Im Zusammenspiel mit ihrem Antonym der Höhe verweist der Begriff der Tiefe auf eine wechselseitige Raumrelation (hoch versus tief, oben versus unten), während sein zweites Antonym, die Oberfläche, die Grenzfläche dreidimensionaler Gegenstände bezeichnet. Aus historischem Blickwinkel ist in dieser Hinsicht entscheidend, dass die buchstäbliche Bedeutung der Tiefe mit der Entdeckung und Eroberung des „innerweltlich Unsichtbaren“ (Blumenberg 1996, 422– 439) verwoben ist: Im Zuge des Umbruchs zur neuzeitlichen Rationalität wird eine diesseitige Tiefe zunehmend denkbar und drängt sakrale Tiefenvorstellungen – sei es das nicht zu verletzende Erdinnere oder die Verborgenheit Gottes – zunehmend zurück. Von einer modern legitimierten Neugier getragen, avanciert die säkularisierte, antastbare Tiefe zu einem sich immer weiter ausdehnenden Zielgebiet von Praktiken der instrumentellen Vernunft, die mit Strategien der Affektneutralisierung gekoppelt sind. Erst vor diesem Hintergrund können dem diskursgeschichtlichen und wissenspoetischen Potenzial, das in den Funktionalisierungen der Metapher der Tiefe enthalten ist, Konturen verliehen werden. Auch hinsichtlich der übertragenen Wortbedeutung ist dafür zunächst zwischen verschiedenen semantischen Feldern zu unterscheiden. Bilder der Tiefe können zum einen der Bezeichnung einer unter der Oberfläche liegenden Größe oder Zone (Wesen, Ursprung, Grund, Unbewusstes, Tiefenstruktur usw.) dienen. Sie können zum anderen auf eine Bewegung verweisen, die durch ihre Ausrichtung auf ein Unten oder ein Innen gekennzeichnet ist. Dieser in die Tiefe gerichtete Gang kann als Prozess des Erkennens, Erfahrens oder Erinnerns, des Sich-Ausdrückens oder Sich-Einlassens einen Boden, einen Grund finden. Er kann aber auch – verstanden als Fall, Sturz oder endloser, labyrinthischer Abstieg – ins Bodenlose, in einen Abgrund führen. Ebendiese Frage des Bodens, der Fundierbarkeit, des letzten Grundes, ist einer der zentralen Punkte, an dem konkurrierende, Tiefenmetaphern verwendende Konzepte und Diskurse aufeinandertreffen und um Deutungshoheit kämpfen. Aus den erkenntnis- und kulturtheoretischen Streitigkeiten um Grund versus Abgrund, Wurzel versus Rhizom, Ursprung versus Hybridität folgt, dass im Falle der Tiefe der gewählte Zugang immer schon in seinen Gegenstand verstrickt ist. Denn die Dispute um Grund und Abgrund setzen sich im Feld wissenschaftlicher Theorien und Methoden fort. Dies verlangt in historisch-epistemologischer Hinsicht eine entsprechende Reflexivität, es eröffnet hier jedoch zugleich neue, durch den Fokus auf die Figur der Tiefe ermöglichte Perspektiven. Berücksichtigt man zudem die Involvierung von Tiefensemantiken in die Geschichte neuzeitlicher Rationalität und Affektkontrolle, zeigt sich, dass auf dem Schauplatz der Tiefe nicht nur Grundfragen von Epistemologie und Ästhetik, sondern auch gesellschaftspolitische Schlüssel-Agenden verhandelt wurden und werden.
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Es erstaunt deshalb nicht, dass die bereits in der Antike einsetzenden Diskussionen darüber, ob der Oberfläche, dem Sinnlich-Empirischen, oder dem Dahinter- oder Darunterliegenden Priorität einzuräumen ist, stark von Wertzuweisungen geprägt sind. Von Platons Höhlengleichnis über Carl Schmitts Nomos der Erde bis zu Vilém Flussers postmodernem Lob der Oberfläche ist die Metapherngeschichte von Oberfläche und Tiefe mit Wertpolaritäten verbunden – die Tiefe wird gegen die Oberfläche oder umgekehrt, die Oberfläche gegen die Tiefe ausgespielt. Genau hier zeichnet sich zurzeit ein wissenschaftsgeschichtlicher Wendepunkt ab, an dem der vorliegende Band einhakt. Denn der Blick auf Neuerscheinungen und Feuilletondebatten der letzten Jahre zeigt, dass die heiße Phase der Streitigkeiten über den Wert von Oberfläche und Tiefe an ihr Ende gelangt zu sein scheint. Die von den antiessenzialistischen Bestrebungen der vorangegangenen Jahrzehnte verfolgte Rehabilitierung der Oberfläche, die sich als eine Kritik, als ein Sich-Abarbeiten an überkommenen, historisch belasteten Tiefenfiguren verstand, kann inzwischen als gelungen gelten. Die Forderung nach einer Aufwertung der über Jahrhunderte hinweg in Philosophie, Epistemologie, politischem und Alltagsdiskurs diskreditierten Oberfläche ist eingelöst. Die (Ober‐) Fläche wurde gelobt, gefeiert und als legitimes, strategisches Gegenkonzept zur Tiefe etabliert. In den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften wurde die Grundlage hierfür durch eine um 1960 einsetzende kritische Revision hermeneutischer Paradigmen geschaffen, bei der man auf wichtige Impulse der künstlerischen und intellektuellen Moderne der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückgriff. Strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze stellten dem tradierten Ergründen von Wahrheit und Sinn eine Konzentration auf das Sicht- und Sagbare entgegen und ersetzten den hermeneutischen Gang in die Tiefe durch die dekonstruktive Logik der Schrift. Foucaults Wissens- und Machtgeschichte hatte an dieser Rekonzeptualisierung der Tiefe ebenso Anteil wie Deleuze’ und Guattaris Fluchtlinien, die Ausprägungen des performative turn und – mit den Topoi der Falte und der Reuse – Figuren einer neuen paradoxen Vertiefung, einer auf Einstülpung basierenden, tiefen Äußerlichkeit. Sie etablierten philosophische und wissenschaftliche Modelle einer Bewegung der Fläche und in der Fläche, in denen die Tiefe zu einer Funktion der Oberfläche umdefiniert wird. Vertikale und horizontale Dynamiken – Einschreibung und Flottieren, Setzung und Gleiten, Identität und Differenz – werden dabei als eine Verschränkung konzeptualisiert, die die bisherige Hierarchie der Pole (der Tendenz nach) umkehrt. Die Zielsetzung dieser nach 1945 einsetzenden Bemühungen brachte Günther Anders auf eine ebenso knappe wie treffende Formel. Er erstellte eine „schwarze Liste“ (Anders 1982, 132) von Be-
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griffen, die es nach Nationalsozialismus und Holocaust zu erledigen gelte: die Eigentlichkeit, das Wesen, die Substanz und, nicht zuletzt, die Tiefe. Die Austreibung der Tiefe in Philosophie, Ästhetik und Kulturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich somit in vielen Bereichen auch als Beitrag zu einem Denken nach Auschwitz. Völkischen, rassistischen und totalitären Tiefenideologien (Blut, Boden,Volk usw.) wurde dabei mit einer Umwertung der Werte geantwortet, die dem historischen Kult der Tiefe Philosophien, Epistemologien und Ästhetiken der Oberfläche entgegenstellte. Die seit einer Weile zu beobachtende Wiederkehr überholt geglaubter nationalistischer, rassistischer und antidemokratischer Bewegungen zeigt freilich, dass die bisher geleistete Aufarbeitung politisch gefährlicher, substanzialisierender und (re‐)territoralisierender Tiefenfiguren an einem wichtigen Punkt an ihre Grenzen stößt. Zwar konnte im Bereich der Theoriebildung die Opposition zwischen einem tiefen Innen und einem flachen Außen subvertiert werden. Das zentrale Instrument antimoderner Rhetoriken der Substanz und Eigentlichkeit, die Dichotomie von Oberfläche versus Tiefe, wurde durch das postmoderne Lob der Fläche jedoch in seiner Wirksamkeit kaum beeinträchtigt. Denn die Umkehr der Wertehierarchie erzielte in einem wichtigen Bereich keinen nachhaltigen Erfolg: Nach wie vor lässt sich die binäre Figur von Oberfläche versus Tiefe als effektive, mit Wertkontrasten arbeitende Schablone zum Aufbau überdeterminierter, diskursiver Spannungsfelder nutzen. Es ist dadurch weiterhin möglich,Verwurzlung und Nomaden- oder Migrantentum normativ gegeneinander auszuspielen und mit der hierauf aufbauenden Kippfigur von Bedrohungsszenarien und Schutzversprechen politische Erfolge zu erzielen. Die Bemühungen der jüngeren Kulturwissenschaften, heikle Tiefenrhetoriken zu neutralisieren, stoßen jedoch nicht nur in gesellschaftspolitischer Hinsicht an Grenzen. Auch im Feld von Theorie und Methodologie ist den letzten Jahren zunehmend deutlich geworden, dass auf die Rehabilitierung der (Ober‐)Fläche – die Umwertung der Werte – weitere, die Pendelbewegung ausgleichende Schritte folgen sollten. Diese Überlegungen, die sich seit längerem in Diskussionen um ein Denken nach der Postmoderne niederschlagen, gewinnen angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen an Bedeutung. Gepaart mit einem neuen Interesse am Subterranen und Submarinen, zeichnet sich in den Debatten zwischen VertreterInnen der Post-Postmoderne und der Metamoderne das Bedürfnis nach einem erkenntnistheoretischen Modell von Oberfläche und Tiefe ab, das sich den Disputen um Grund versus Abgrund, Wurzel versus Rhizom entzieht und an den Grenzen der zuvor geleisteten Austreibung der Tiefe weiterdenkt. Gemeinsames Kennzeichen dieser Vorschläge für eine weitere Revision etablierter Konzepte ist die Zurückweisung der Opposition zwischen dem Modell der hermeneutischen, in die Tiefe tauchenden Sinnsuche einerseits, dem postmodernen
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Surfen an und mit den Oberflächen andererseits. Führt man die gewählte Bildlichkeit weiter, so bleibt zwischen dem Tauchen und dem Surfen der Modus des Schnorchelns, eine mit beiden Räumen, beiden Habitaten physisch vernetzte Positionierung im Grenzraum des Eintauchens. Der Blick ist nach unten, in die Tiefe des Fluiden gerichtet, das keine Einschreibung, kein Ein- und Ausgraben ermöglicht. Die Sauerstoffzufuhr erfolgt – bekennend heteronom – von oben. Die Grenzerfahrung der Immersion, des Sich-Involvierens, ist durch ein Oszillieren im Schwellenraum auf Dauer gestellt. Diese Diskussionen um eine Epoche nach Postmoderne und Poststrukturalismus kennzeichnen sehr prägnant jenen wissenschaftsgeschichtlichen Punkt, an dem das vorliegende Buch mit seinen Anliegen einsetzt. Denn die genannten Debatten sind Ausdruck einer intellektuellen Wende, die durch das Ende der Streitigkeiten um den Wert von Oberfläche und Tiefe gekennzeichnet ist und die es wissenschaftlich zu nutzen gilt. Nachdem die Oberfläche in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte ausreichend rehabilitiert wurde, setzen wir uns nun eine Rehabilitierung der Tiefe zum Ziel, die die bisher geleistete Austreibung heikler, essenzialistischer Tiefenfiguren weiter- und zu Ende führt. Während die Diskussionen um eine Meta- oder eine Post-Postmoderne theoretisch und epochengeschichtlich ausgerichtet sind, nehmen wir hierfür die historisch-epistemologische Verschränkung von Gegenstand, Zugang und Geschichte zum Ausgangspunkt. In dieser neuen Kulturgeschichte der Tiefe rücken methodologische Fragen, historische Linien und Umbruchsmomente in den Vordergrund, die miteinander verwoben sind und erst jetzt, aus einer wertneutralen Position heraus, sichtbar werden. Anliegen des vorliegenden Bandes ist es, die kulturwissenschaftlichen Möglichkeiten dieser auf einem neuen Abstand von den Wertpolaritäten basierenden Annäherung an die Tiefe zu erkunden und zur Diskussion zu stellen. Das Gemeinsame der sich durch den Perspektivenwechsel eröffnenden Fragen besteht darin, dass durch die wertneutrale Herangehensweise das Aufeinander-bezogen-Sein von Oberfläche und Tiefe sowie die Zweipoligkeit der hierin involvierten Phänomene auf neue Weise ins Zentrum rücken. Der nun mögliche, unvoreingenommene Fokus auf die Relationen, die Spannungen und das Oszillieren im Grenzraum zwischen Oberfläche und Tiefe, Grund und Abgrund, weist kulturgeschichtliche, epistemologische und theoretisch-methodologische Implikationen auf und betrifft die Wahl der untersuchten Materialien, Zusammenhänge und Analyseinstrumente. In historischer Hinsicht legt er u. a. eine Relektüre jener Umbruchszeiten nahe, in denen sich, wie etwa in der Frühen Neuzeit und in den Jahrzehnten um 1800, das Erkennen, Erzählen und das Bearbeiten realer wie metaphorischer Tiefen grundlegend umstrukturieren.
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Bezüglich der Implikationen der Herausbildung der modernen Tiefenepisteme um 1800 verweist die kulturwissenschaftliche Forschung insbesondere auf die Erfindung des modernen Subjekts, dessen Observierung seiner inneren ‚Triebe‘ mit der Entstehung der Humanwissenschaften (Anthropologie, Pädagogik usw.) und den sich herausbildenden Techniken des modernen Staates (Verwaltung, Statistik, Biopolitik) verzahnt ist. Hiermit verknüpft sind die Etablierung neuer hermeneutischer Praktiken, das Aufkommen einer Ästhetik der Innerlichkeit (romantische Tiefensubjektivität) und einer neuen Logik der Wahrnehmung räumlicher und zeitlicher Tiefe (Horizont, Entwicklung, Bildung). Als zentrale Figur dieses epistemologischen Umbruchs gilt die Herausbildung einer dreidimensionalen Tiefe, die mit einer Aufwertung der Oberfläche verschränkt ist. Dieser Bedeutungsgewinn der Opposition von Innen und Außen wird in einem paradoxen Zusammenspiel von einer weiteren Etappe der säkularen Bewirtschaftung des Unterirdischen (Erdinneres, Minen, U-Bahnen, Kanalsysteme) begleitet. Dieser folgt im neunzehnten Jahrhundert die Errichtung neuer, künstlicher Hohlräume des urbanen Alltags (Passagen, Einkaufs- und Vergnügungsetablissements, Kinos). Sie basieren auf dem Prinzip der Ummantelung, des Futterals, und avancieren im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Schauplatz genuin massenkultureller Dialektiken von Oberfläche und Tiefe, die das Modell bürgerlicher Innerlichkeit subvertieren. Das Aufkommen säkularisierter, dreidimensionaler Tiefenvorstellungen und die spezifische Unsicherheit der modernen Episteme, die in ihrem Bezug auf das sichtbar zu Machende zwischen Grund und Abgrund oszilliert, wirft vor diesem Hintergrund die Frage auf, ob – in Ergänzung bisheriger Rekonstruktionen – die Oberfläche nicht auch als Funktion der Tiefe gedacht werden kann. Es fragt sich zudem, welche neuen Erkenntnisse sich erzielen lassen, wenn man in der Analyse dieser historischen Umbrüche dem Dazwischen, der Grenzfläche, dem Grenzraum und der Grenzerfahrung des Eintauchens eine erhöhte Aufmerksamkeit zuwendet. Ein weiteres zu erkundendes Feld eröffnet sich, wenn man berücksichtigt, dass der Umbruch zur modernen Episteme nicht nur Wissenschaften von der Tiefe des Menschen, sondern auch das Konzept der geologischen Tiefenzeit hervorbringt, das zum Anthropozentrismus der jungen Humanwissenschaften in einem auffallenden Spannungsverhältnis steht. In kulturtheoretischer und methodologischer Hinsicht legt der diese Fragen aufwerfende Perspektivenwechsel Adjustierungen und Kombinationen etablierter wissenspoetologischer, diskurs- und imaginationsgeschichtlicher Zugänge nahe, die es erlauben, die Tiefe als relationales Element in Spannungsverhältnissen, in Bewegungen und Räumen des Oszillierens sowie im Kontext weiterer Grenzphänomene neu zu fassen. Um Momente des Sich-Involvierens, des kognitiven und emotional-affektiven Engagements sowie der Immersion zu greifen, empfehlen
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sich sinnes- und mediengeschichtliche, phänomenologische und praxeologische Ansätze, die auf Aspekte der Performativität und Aisthesis von Habituierung, Inkorporierung und Verkörperung gerichtet sind und hiermit (post-postmoderne) Brückenschläge zu sozialwissenschaftlichen Zugängen ermöglichen. Eine weitere Ausdehnung interdisziplinärer Zusammenarbeit ist in der Frage nach der Relation zwischen naturwissenschaftlicher Tiefenzeit und humanwissenschaftlicher Tiefenepisteme angelegt, in Forschungen, die im Anschluss an jüngere AkteurNetzwerk-Theorien zurzeit unter den Stichworten des Anthropozäns und des ecocriticism geführt werden. Im Bereich von Epistemologie, Theorie und Methodik nach der Rehabilitierung der Oberfläche weiterzudenken, bedeutet darüber hinaus, an den Grenzen der Dekonstruktion die Frage nach dem Politischen, nach postfundamentalistischen Maßstäben für gesellschaftliche Kritik und nach Figurationen und Praktiken von Kollektivität zu stellen. Erste Arbeiten hierzu greifen vielleicht nicht zufällig auf philosophische, soziologische und kulturanalytische Positionen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit zurück, die sich darum bemühten, sich der politischen Instrumentalisierung essentialistischer Tiefenfiguren entgegenzustellen. Von Anregungen Georg Simmels und Ernst Blochs ausgehend, zielten insbesondere Walter Benjamin und Siegfried Kracauer auf neue, gesellschaftlich konstruktive Konzeptualisierungen von Tiefe. Sie arbeiteten an der Figur einer „illusionslose[n] Tiefe“, die es, wie es Theodor W. Adorno im Anschluss forderte, als „objektive historische Kategorie“ (Adorno 1973, 423, 283) in Gesellschaftstheorie, Ästhetik und Historiografie zu entfalten gelte. Die Verflechtungen zwischen der Tiefe als Gegenstand und als epistemologische Prämisse reflektierend, ist der vorliegende Band somit von zwei miteinander verwobenen Anliegen geprägt. Er verfolgt zum einen das Ziel, das Feld möglicher Zugänge zu einer neuen Kulturgeschichte der Tiefe zu erkunden. Dafür nähern sich die nachfolgenden Beiträge auf je unterschiedliche Weise den Wechselspielen zwischen einschlägigen Ideen und Dingen, Figuren und Körpern, Diskursen und Praktiken, Narrativen und Technologien. Sie nehmen im Zuge dessen Relektüren historischer Dispositive, philosophischer Positionen, ästhetischer Konzepte sowie literarischer und nicht-literarischer Texte und Schreibweisen vor. Der Band verfolgt zum anderen das Ziel, der hier vorgeschlagenen, neu perspektivierten Geschichte der Tiefe erste Konturen zu verleihen. Die nachfolgenden Aufsätze rücken deshalb zentrale historische Linien, Etappen und Umbruchsmomente dieser neuen Kulturgeschichte der Tiefe ins Zentrum und eröffnen in ihrer chronologischen Abfolge die Möglichkeit einer diachronen Lektüre des Bandes.
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Die Beiträge Irmgard Männlein-Robert eröffnet den Band mit einem Aufsatz, der sich mit Platons Höhlengleichnis der Urszene aller westlichen Tiefendiskurse widmet. Sie zeigt, wie sich in der Antike Jenseitsnarrative in Topographien ausdifferenzieren, die eine Teilung in ein Oben und ein Unten aufweisen und an semantischer Komplexität dem Spannungsfeld zwischen der Tiefe als Grund und Abgrund um nichts nachstehen. Indem Männlein-Robert die platonische Erkenntnislehre in der Tradition religiöser und poetischer Höhlen- und Katabasis-Narrative verortet, verleiht sie nicht nur Platons philosophischer Kontrafaktur des überlieferten Tiefendenkens Konturen. Sie erinnert zugleich an die wichtige Tradition einer sich über das Medium des menschlichen Körpers vollziehenden Kopplung von (sakraler) Tiefe und Offenbarung. Denn die Höhle wurde in der Antike als Raum ekstatischer Praktiken und supranaturaler Erfahrungen, als Eingang in ein Modell transzendenter Tiefe verstanden und genutzt, das Platon aufgreift und umdeutet. Mit der Frühen Neuzeit verliert die vertikale Imagologie von Oben und Unten, Himmel und Hölle zunehmend an Wirkmacht, und Naturauffassungen, die die Erde als mütterlichen Leib, als gebärfähige Erdhöhle, als Uterus verstehen, erodieren. Stattdessen setzen Archäologie, Paläontologie, Mineralogie, Geologie, Montanwissenschaft und Meeresforschung dazu an, das entsakralisierte Erdinnere und ozeanische Tiefen zu erkunden und zu bewirtschaften. Hartmut Böhme zeichnet diese großen historischen Linien nach und verankert seine Darstellung zugleich in ihrem Gegenpol: Er verknüpft den globalen Kampf um Ressourcen und Pipelines, die Geschichte unterirdischer Speicher, Archive und Waffenarsenale mit dem Kampfschauplatz des modernen Subjekts, seinem Unbewussten, seinem Körper und seinen Praktiken des Beißens und Verschlingens. Diese Verflechtung mikro- und makrohistorischer Entwicklungen rahmt Böhme mit einem Verweis auf das grabende Tier in Franz Kafkas Erzählung „Der Bau“. Denn dessen manisch erbaute Sicherheitsarchitekturen vergegenständlichen in ihrer paranoiden Abgründigkeit letztlich nichts anderes als die paradoxe, performative Architektur des modernen Subjekts. Thomas Macho nähert sich dem Zusammenspiel von Grund und Abgrund aus dem Blickwinkel der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte und entwickelt diesbezüglich die These von zwei miteinander konkurrierenden Strängen. Denn spätestens seit Pascal ist die Tiefe als Raumrelation bekannt, deren Vektoren – die cartesianisch-rationalistische Traditionslinie der Moderne unterminierend – irreversibel in Unordnung geraten sind. Das Oben und das Unten wurden damit ebenso fraglich wie das Innen und das Außen, das Fremde und das
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Eigene. Pascal motivierte dieses Wissen um den Verlust aller Orientierung und Letztbegründung, um die Abgründe des Nichts und des Unendlichen, zum experimentellen Nachweis des Vakuums und zu grundlegenden Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Diese neuen, die Leere und den Zufall erkundenden Erkenntnisse beruhigten die in Gang gesetzte Ambivalenzspirale zwischen Grund und Abgrund freilich nicht, sondern trieben deren Dynamik weiter an. An ebendieser Dialektik der Wissensgeschichte der Kontingenz setzt auch Raimar Zons mit seiner Geschichte der Bodenlosigkeit an: Die Neuzeit kennzeichne nicht nur ein zunehmendes, in Kosmologie und Kunst, Religion und Philosophie beobachtbares Bewusstsein von der Tiefe. Zu berücksichtigen sei vielmehr, dass ontologische und empirische Tiefen Hand in Hand zusehends ungewisser, unsicherer werden. Sie transformieren sich in Abgründe, deren Bewältigungsmanöver einen prekären, historischen Kult der Tiefe evozieren, jedoch in die Aporien neuzeitlicher Begründung verstrickt bleiben. Überlegungen Vilém Flussers heranziehend, zeigt Zons, wie eng zentrale Figuren und Argumente des philosophischen Denkens nach 1945 mit der Erinnerung an die Opfer der politischen Instrumentalisierung der Dichotomie von Oberfläche und Tiefe verbunden sind. Das europäische Denken nach Auschwitz inkorporierte die Erinnerung an die jüdischen ‚Luftmenschen‘, deren Vernichtung der Nationalsozialismus mit seiner Selbstverpflichtung auf den Nomos des Grundes und der Erde betrieb. Jörg Robert analysiert die Umbrüche der Frühen Neuzeit aus einer wissenspoetologischen Perspektive. An Blumenbergs Konzept der theoretischen Neugierde anschließend, spezifiziert er die historisch neue Tiefenfigur, die der in diesem Zeitraum vollzogenen Eroberung des „innerweltlich Unsichtbaren“ (Blumenberg 1996, 422– 439) zugrunde liegt: Das Unsichtbare verwandelt sich vom tabuisierten Unnahbaren zum noch nicht Sichtbaren, zum sichtbar zu Machenden. Diesen Befund weiter differenzierend, untersucht Robert am Beispiel von Grimmelshausens Simplicissimus und Athanasius Kirchers Geokosmologie das Wechselspiel zwischen der neuen, unsicheren Episteme und literarischen Modi der Evidenzerzeugung. Bei Kircher konstituiere sich erstmals ein (diese Bezeichnung verdienendes) neuzeitliches Tiefenwissen, das freilich die Tiefe zugleich zu einer „poetogenen Zone“ bestimme. Das notwendig immer prekäre Wissen von der Tiefe entstehe im Austausch mit offenen, literarischen Textstrukturen. Erkennen und Erzählen, narratives und argumentatives Tiefenwissen bedingen und befördern einander wechselseitig. Vera Bachmann zeigt mit Blick auf Karl Philipp Moritz, wie in der Sattelzeit die Erfahrung von Tiefe zu einem Motiv in Diskussionen zu einer modernen Autonomieästhetik avanciert. Sie setzt bei dem Umstand an, dass die Frage nach der Schönheit um 1800 am Beispiel antiker Statuen – mit Blick auf marmorne Körper – diskutiert wird. Diesem skulpturalen Werk- und Schönheitsbegriff ist eine
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Konzeptualisierung von Oberfläche und Tiefe eingeschrieben, die für die literarische Ästhetik Komplikationen aufwirft. Letztere treten freilich nur hervor, wenn man, wie von Bachmann gezeigt, die Geschichte literaturästhetischer Debatten mit der Geschichte der Techniken, Praktiken und Konzepte optischer und visueller Medien verknüpft. Erst die Berücksichtigung dieser Wechselspiele erlaubt es, Moritz’ Modell einer tiefen Kunst, die zugleich der Oberfläche als Grenzfläche eine neue, aufgewertete Rolle zuerkennt, lesbar zu machen. Moritz Baßler demonstriert in seinem Beitrag, dass eine neue Herangehensweise an die Tiefe auch überraschende Relektüren altbekannter Texte ermöglicht. Er wendet sich mit Schillers Ballade „Der Taucher“ einem Text zu, der in der Forschung der letzten Jahre häufig vor dem Hintergrund der sich um 1800 vollziehenden Ablösung der rhetorisch-repräsentativen durch eine literarischhermeneutische Wissensordnung interpretiert wurde. Baßler liest Schillers Ballade jedoch nicht als Sinnbild eines auf die Erfahrung von Tiefe setzenden ästhetischen Programms. Er wählt stattdessen einen Mediologie und Narratologie verschränkenden Zugang, der den Blick auf Praktiken des Umgangs mit dem submedialen Raum mit Fragen des Strukturwandels von Öffentlichkeit verschränkt. Die zwei Tauchgänge des Protagonisten werden als erzähltes Spektakel, als eine soziologisch markierte Anordnung von ästhetischer Aktion und Zuschauerschaft interpretiert, in der sich Technologie- und Wissensgeschichte, Subjekt- und Mediengeschichte mit der Geschichte der public sphere kreuzen. Auch Stefan Rieger rückt die Grenzerfahrung des Eintauchens in die Tiefen des Meeres ins Zentrum, wählt hierfür jedoch einen noch breiter angelegten, interdisziplinären Zugang. Seine Beobachtungen zur Geschichte der Passage in ein alternatives, zur Auseinandersetzung mit dem Kreatürlichen zwingendes Habitat integrieren Elemente der Medienkulturwissenschaft mit Bausteinen des ecocriticism und weiteren aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Rieger nimmt hierfür Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Speicher- und Wiedergabegeräte ebenso in den Blick wie die Rolle ökonomischer, politischer und kulturindustrieller Interessen. Dabei wird die Reflexion von Praktiken medialer Immersion mit der philosophischen Frage des Tierwerdens im Deleuze’schen Sinne auf eine Weise verknüpft, die es zugleich ermöglicht, Fragen der ideologiekritischen Gesellschaftsgeschichte aufzugreifen und neu zu beantworten. Aus zivilisationsgeschichtlichen Gründen zunächst als Rückzugsort und Schutzraum positiv konnotiert, fungiert die Höhle spätestens seit Platon als Sinnbild gefangener Erkenntnis und bedrohlicher Verblendung. Vor dem Hintergrund von Hans Blumenbergs Überlegungen zu Höhlenausgängen betrachtet Dorothee Kimmich in ihrem Beitrag nicht nur das ambivalente Oszillieren historischer und erzählter Höhlen zwischen Schutz und Gefahr, Kultur und Natur, Freiraum und Gefangenschaft. Sie macht die abendländische Kulturgeschichte
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der Höhle vor allem als Geschichte eines Grenzraums, einer Übergangs- und Zwischenzone sichtbar, in der Normen suspendiert und verhandelt, Identitäten getestet und verwandelt werden können. Als „Niemandsländer in der Tiefe“ sind Höhlen, wie Kimmich von Homer und Platon über Heine zu Musil nachzeichnet, zugleich Möglichkeitsräume, die in ihrer signifikanten Uneindeutigkeit zwischen Tiefe und Untiefe changieren. Vor dem Hintergrund aktueller postmarxistischer Positionen wendet sich Monika Mokre der Frage nach Marx’ Tiefe zu. Die differenzphilosophische Skepsis gegenüber den Relationen zwischen Signifikant und Signifikat bringe nicht nur den Begriff der Ideologie, des falschen Bewusstseins in Beweisnot. Mit dem Verlust der Gewissheit, dass sich unter der „Erscheinungsform“ der Dinge deren politisch-ökonomisches „Wesen“ ausmachen lasse, erodieren vielmehr auch die Möglichkeiten zur Benennung von Ungleichheit, Machtmissbrauch und Diskriminierung und die Maßstäbe für gesellschaftliche Kritik. Kann aber im Spannungsfeld von Hegemonie und Demokratie die Dekonstruktion (allein) Gerechtigkeit sein, wie Derrida nahelegt? Oder bedarf es eines Tiefenkonzepts, das ökonomische, symbolische und Begehrensordnungen in ihrem Zusammenspiel reflektiert? Auf Laclau, Mouffe, Butler, Žižek und Spivak zurückgreifend, skizziert Mokre einen Weg, der das tiefe, unsichtbare Signifikat reformatiert, um es – als Partikulares – dem nicht enden wollenden Diskurs der unsichtbaren Hand des freien Marktes entgegenstellen zu können. Hans-Georg von Arburgs Ziel, Siegfried Kracauers „kritische Theorie der Tiefe“ zu rekonstruieren, gewinnt vor dem Hintergrund marxistischer Positionen zusätzliche Bedeutung. Denn Kracauers physiognomische Oberflächenanalyse setzt bei den ideologieverdächtigen Massenornamenten und den Dingen (bzw. Waren) an, die dem Denken durch die neuen Massenmedien (Fotografie, Film) in besonderer Weise verfügbar gemacht werden. Seine visuelle Epistemologie weigert sich freilich, die von der Kulturindustrie abgefangenen kollektiven Träume der nicht-besitzenden Klassen als falsches Bewusstsein zu denunzieren. Stattdessen werden diese Träume als Grund der sozialen Wirklichkeit ernstgenommen, dem soziale Energie und revolutionäres Potenzial eingeschrieben sind, der jedoch eine Differenzierung von Oberfläche und Tiefe nicht mehr zulässt. Mit Fokus auf Die Angestellten zeigt von Arburg, dass Kracauer kritische Medienästhetik und literarische Schreibweisen deshalb systematisch aneinanderbindet. Er praktiziert ein anschmiegendes Denken durch ästhetischen Nachvollzug, das die Oberflächlichkeit, die Hohlheit der gefälschten Tiefe zur Sprache kommen lässt. Wie sehr sich Walter Benjamins Suche nach Lösungen für ein eingreifendes Denken von jenem Kracauers – bei aller Nähe – unterscheidet, veranschaulicht Burkhard Meyer-Sickendiek. Benjamins Auseinandersetzung mit der Figur der Tiefe beginnt mit einem Allegoriebegriff, der das Stürzen in die grundlose Tiefe
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fragiler Bedeutungen, das Wissen um den Verlust von Letztbegründungen, mit der Geschichte der Melancholie verknüpft. Benjamins Tiefenreflexion mit Kafkas paradigmatischer Inszenierung modernen Grübelns vergleichend, betrachtet Meyer-Sickendiek sodann Benjamins Einbahnstraße und zeigt, wie Benjamin der urbanen Anweisungspoetik schillernder Schilder- und Reklamewelten eine neue Tiefe in Form eines philosophisch-reflexiven Denkraums abgewinnt. In der Berliner Kindheit entwerfe Benjamin schließlich ein Modell zeitlicher Tiefe, eines erinnernden Denkens, das – auf den Figuren der Falte und der ästhetischen Immersion basierend – in den vergessenen Hoffnungen der Vergangenheit utopische Funken zündet. Sabine Müllers Ausgangspunkt ist Bertolt Brechts Kritik an Benjamins Bemühungen um eine neue, antifaschistische Philosophie und Ästhetik der Tiefe. Der Disput um Benjamins Tiefe lasse sich in seiner historischen Funktion jedoch nur verstehen, wenn man die zeitgenössischen Diskurse über die notwendige Vertiefung von Kollektivität und die zu diesem Zweck geübten ästhetischen Praktiken mitberücksichtige. In den 1920er und 1930er Jahren steche in dieser Hinsicht die Erfolgsgeschichte chorischer Sprechpraktiken hervor. Müller betrachtet diese breite gesellschaftliche Bewegung als bisher vernachlässigten Kontext der literarischen Moderne, der es verlangt, künstlerische Praktiken in der Geschichte tiefer gelegter, kollektivierender Machttechnologien zu verorten. Ihre Gegenüberstellung ästhetischer Praktiken Benjamins und Brechts, Kafkas und Bruno Schönlanks veranschaulicht damit auch die Notwendigkeit, die Rekonstruktion rekodierender Diskurse mit der Analyse remodellierender Praktiken und ihrer Anordnungen zu verknüpfen. Die enge Verschränkung der Imaginations- und Technologiegeschichte der Tiefe mit der Dialektik der Wissensgeschichte der Kontingenz weist dem Genre der Science-Fiction eine besondere Rolle zu. Roland Innerhofer thematisiert diesen Zusammenhang am Beispiel von Franz Werfels Roman Stern der Ungeborenen (1945), der in seiner Kritik an der nationalsozialistischen Todesmaschinerie eine Vielzahl tradierter Semantiken, Motive und Topologien der Tiefe aufgreift, um die bekannteste Dystopie des zwanzigsten Jahrhunderts – die Kopplung von Glücksversprechen, totalitärer Zweckrationalität und Überwachung – neu zu erzählen. Werfel entwirft hierbei eine Tiefe der Zeiten und der Räume, des Erdinneren wie des Weltraums, des Subjekts und kollektiver Utopien. Die Ambivalenz der Figur der Tiefe entfaltet er in der Darstellung einer Zukunft, in der die Verflachung der Welt durch instrumentelle Vernunft eine tödliche Tiefe hervortreibt. Werfel empfiehlt angesichts der sich im Holocaust entladenden Aporien instrumenteller Vernunft eine Wendung zu Gott, eine religiöse Tiefenerfahrung. Signifikant ist diese Empfehlung nicht zuletzt in Relation zu den von Bernd Stiegler thematisierten, zur selben Zeit einsetzenden Entwicklungen. Bezugs-
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punkt Stieglers ist ein Buch des Kunsthistorikers Kurt Leonhard aus dem Jahr 1947, das den Titel Die heilige Fläche. Gespräche über moderne Kunst trägt. Hieran zeigt Stiegler, dass sich die Entdeckung der Flachheit in der Malerei als ein Neuanfang vollzog, in dem die Flachheit des Bildgrundes, die leere, gereinigte Fläche, nicht als hermeneutischer Abgrund, sondern als neues, sicheres Fundament konzipiert wurde. Leonhards Formulierung, dass die „göttliche Perspektive“ durch die „heilige Fläche“ abgelöst worden sei, stand 1947 noch nicht unter Ironieverdacht. Sie dokumentiert vielmehr eine Geschichtsvergessenheit in der Austreibung der Tiefe, die Stiegler in einem Raum alternativer Traditionslinien der „Verflächung der Welt“ verortet. Werfels religiöse Tiefe und Leonhards heilige Fläche kennzeichnet eine vergleichbare Zwiespältigkeit im Umgang mit historisch belasteten Figuren, Konzepten und Praktiken der Tiefe. Dass mit Camus, Sartre und Beckett zur gleichen Zeit bereits neue Erben der Pascal’schen Tradition des Tiefendenkens angetreten waren, macht deutlich, dass zwischen 1945 und 1960 über die Strategien der Abarbeitung der Tiefe noch nicht entschieden war. Das Feld der sich vorantastenden Positionen war in diesem Umbruchszeitraum der Kulturgeschichte der Tiefe bemerkenswert weit gespannt. Die schwarze Liste ästhetisch, philosophisch und wissenschaftlich zu erledigender Konzepte war noch nicht fixiert.
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Irmgard Männlein-Robert
Supranaturale Tiefen: Religiöse und philosophische Höhlenwelten in der antiken Literatur Der vorliegende gräzistische Beitrag gehört in den Rahmen eines seit einigen Jahren gepflegten Forschungsinteresses, das sich auf die kulturelle sowie die anthropologische Semantik von Höhlen in antiken Texten richtet. Es handelt sich dabei um den Versuch, antike griechische Vorstellungen von Höhlen in eine big history oder sogar eine deep history ¹ einzubetten. Das ist in der Gräzistik bislang nicht üblich: Seit dem neunzehnten und bis weit ins zwanzigste Jahrhundert dominierte unter Klassischen Philologen ein gänzlich ungetrübtes Selbstbewusstsein, gerade mit den Griechen, der griechischen Literatur und Philosophie, die für die abendländische Geistesgeschichte relevanten und maßgeblichen Anfänge zu besitzen. Homer, der wohl um 700 v.Chr. als Sänger und Dichter wirkte, galt als Beginn der abendländischen Literatur überhaupt, auch wenn längst bekannt war, dass seine archaischen epischen Helden- und Abenteuergesänge tiefe bronzezeitliche Wurzeln haben. Die Auffassung, dass sich erst mit den Griechen und ihren Mythen die Kultur Europas herausbilde, wird freilich seit einigen Jahrzehnten durch archäologische Befunde und religionswissenschaftliche Forschungen widerlegt; allmählich hat sich die Akzeptanz dafür entwickelt, dass viele Elemente der kulturellen Entwicklung aus dem – lange aus griechischer Sicht verpönten – Osten stammen und von dort übernommen wurden, etwa einige griechische Götter, die im Kontext dieses Kulturtransfers an griechische Gegebenheiten und Eigenheiten adaptiert wurden. Allerdings wird bereits durch einen Blick auf die uralten tradierten Mythen die traditionelle Auffassung, die Griechen hätten einen kulturellen Neustart markiert, klar konterkariert. De facto finden sich nämlich gerade im Mythos viele Verweise auf psychologische wie auf kulturanthropologische Universalien, vor allem auf psychologische und religiöse Tiefenstrukturen, bis weit vor die Bronzezeit. Diese werden exemplarisch etwa im Mythos von Demeter und Triptolemos greifbar, der letztendlich die Sesshaftwerdung und den Beginn des Ackerbaus durch die Menschen und damit einhergehend den Bau von Städten und die Einrichtung von Regeln sowie Gesetzen – also weitere Zivilisationsprozesse –
So nach Smail 2008; Shryock und Smail 2011. Die folgenden Ausführungen basieren auf Männlein-Robert 2012a und b, greifen jedoch thematisch weiter aus. https://doi.org/10.1515/9783110634730-003
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Irmgard Männlein-Robert
beschreibt. Vor diesem Hintergrund muss m. E. auch der alte mythische Motivraum der Höhle als Raum einer komplex semantisierten Tiefe in der griechischen und überhaupt der antiken Kultur gelten. Dass Höhlen als Erinnerungsorte urzeitlicher Kultur bis zum heutigen Tag eine ungebrochene Faszination ausüben, beweisen die weltweit stürmischen Reaktionen auf den Fund der sogenannten ‚Venus vom Hohle Fels‘ auf der Schwäbischen Alb im Jahr 2008.² Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese bislang älteste, uns bekannte künstlerische Darstellung eines Menschen (genauer: einer sichtlich gebärfähigen Frau) gerade in einer Höhle gefunden wurde. Schließlich stehen doch Höhlen seit alters her im Kontext von Fruchtbarkeits- und Erdmutterkulten, die wohl letztlich auf der magischen Vorstellung von der Höhle als Gebärmutter oder Mutter, aus der das Leben hervorgeht, beruhen. Höhlen sind nicht nur für uns heute geologisch-materielle und archäologische Fundorte und Sinnbilder für räumliche und zeitliche Tiefe sowie für früheste Anfänge, sondern auch für die antiken Griechen. In Griechenland und Großgriechenland sind Höhlen zunächst eine geomorphologische Selbstverständlichkeit. Wie überall auf der Welt finden sich auch im griechischen Kulturraum Höhlen, die bereits in der Antike als Eingänge zur Unterwelt galten oder die religiös verehrte Kultorte waren, etwa als Geburts-, Wohn- oder Grabstätten von Göttern oder Heroen, die stets jedoch als geheimnisvolle Orte göttlichen Wirkens oder göttlicher Präsenz galten.³ Die Höhle gilt in der griechischen Religion und im Mythos als uralter, göttlicher, sakraler Raum, in dem supranaturale Erfahrungen gemacht, gleichsam göttliches Wissen erlangt werden kann. Zudem ist die Höhle oft als symbolhafter Raum des Übergangs, nicht selten zwischen Leben und Tod, erkennbar. Diese Ambivalenz der Höhle, ihre räumliche Liminalität, wird uns im Folgenden noch mehrfach begegnen. Ich nehme dabei einen Ansatz der neueren Religionswissenschaft auf (Egelhaaf-Gaiser und Rüpke 2002), wenn ich die Höhle als supranaturalen, religiösen und später auch philosophischen Ort der Tiefe interpretiere. Ich möchte aber nachdrücklich auf die grundsätzliche Pluralität und Komplexität der (Be‐) Deutung bei der Interpretation von Höhlentopoi in der griechischen Literatur und im griechischen Kulturraum der Höhle hinweisen. Im vorliegenden Beitrag soll das Hauptaugenmerk auf Bilder der Höhle konzentriert sein, die – nach Homer – vor allem der griechische Philosoph Platon im vierten Jahrhundert v.Chr. entworfen hat. Platon selbst kann bereits auf Conard 2009, 248. Die auf dem kretischen Berg Ida gelegene Zeushöhle wird seit nachminoischer Zeit als Versteck des vor Kronos geretteten Babys Zeus verehrt (Pind. O. 5, 18); in Thessalien wird Amphiaraos von einem Erdspalt verschlungen (Pind. N. 9, 24– 25.; 10, 8 – 9.; O. 6, 12– 14); eine Höhle am Kap Tainaron wird als Eingang in die Unterwelt beschrieben (Pind. P. 4, 43 – 44; Aristoph. Ran. 187).
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ca. 400 Jahre literarische Tradition zurückblicken, die er gut kennt, und er gilt mit seiner eigenen und eigenwilligen Konzeption der Höhle als Autor, der selbst wiederum Tradition bildet, wie wir gegen Ende sehen werden. Zwei Aspekte sind besonders wichtig: Zum einen ist Platon der erste Philosoph, in dessen philosophischen Texten die Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele (verbunden mit Seelenwanderung respektive Reinkarnation) eine absolut zentrale Rolle spielt; zum anderen finden sich in seinem Werk auffällig viele Höhlenbeschreibungen, Mythen, Gleichnisse und Bilder rund um Höhlen. Mit seinem wohl berühmtesten Beispiel, dem so genannten ‚Höhlengleichnis‘ aus der Politeía, auf das ich zurückkommen werde, haben wir gewissermaßen einen ‚Brennspiegel‘ der früheren Tradition, welche der Philosoph allerdings scharf kritisiert und zu der er mit seiner Höhle ein Gegenbild entwirft. Platons Raumsymbolik der Höhle steht dabei in engster Verbindung mit dem an sich traditionellen mythischen und literarischen Motiv der Katabasis: Das ist ein Abstieg unter die Erde, in die Tiefe, oft in eine Höhle, und bedeutet eine Kontaktaufnahme mit der jenseitigen Welt, den Toten oder den Göttern, also eine Bewegung in die Tiefe surrealer räumlicher und seelischer Gefilde. Mit Platons neuer – erstmals philosophischer – Konzeption von Höhle und Katabasis lässt sich eine deutliche Bruchstelle zur vorangehenden, kulturell gewachsenen semantischen Pluralität von Höhle markieren, auf welche er jedoch noch vielfach anspielt. Von elementarer Bedeutung ist dabei, dass Platon eine komplexe philosophische Kontrafaktur derjenigen Höhlen- und Katabasis-Vorstellungen konstruiert, wie sie in archaischen poetischen und religiösen Texten und Kontexten überliefert und noch zu seiner Zeit kolportiert wurden.
1 Ein kurzer, nun folgender Überblick über die kulturelle Tradition der Höhle im archaischen Griechenland soll das Verständnis der folgenden Ausführungen erleichtern. Im Wesentlichen zeichnen sich zwei Bedeutungen der Höhle ab: Zum einen finden wir die Höhle als geheimnisvollen, göttlichen, vom menschlichen Bereich abgetrennten Raum, der klar eine religiös-kulturelle Semantik hat, zum anderen erscheint die Höhle als urzeitlicher, vorzivilisatorischer Raum der rohen Gewalt, als Naturraum schlechthin. Bereits in einem der ältesten überlieferten griechischen Texte, in der Odyssee Homers, die aus dem frühen siebten Jahrhundert v.Chr. stammt, aber auf viel älterer mündlicher Sangestradition beruht, finden wir diese beiden semantischen Ausprägungen. So gerät der Held Odysseus auf seiner Heimfahrt von Troia nach Ithaka unabsichtlich in eine abenteuerliche Märchenwelt, in der sich unter anderem auch die Höhle der göttlichen Nymphe
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Kalypso befindet (Od. V, 55 – 75). Odysseus verliebt sich in Kalypso, erliegt ihren erotischen Reizen und kommt fast acht Jahre lang nicht von dort, nicht aus der Höhle dieser göttlichen Nymphe weg, die im Text als attraktiver Lustort beschrieben ist. Für Odysseus ist Kalypsos abgründig-tiefe Höhle eine lustvolle, freilich gefährlich-trügerische Idylle, da er lange sein eigentliches Ziel, seine Heimkehr nach Ithaka und zu seiner Frau Penelope, vergisst und einer verführerischen Sphäre anheimzufallen droht: Die Höhle ist hier der Raum, in dem der Held sich und seine Wünsche vergisst; sie ist gleichsam der Schoß Kalypsos, der Odysseus lange, zu lange, festhält. Verwiesen sei auch auf die Schilderung einer weiteren Höhle, der so genannten ‚Nymphengrotte‘, in Buch XIII (102– 112) der Odyssee. Es handelt sich hier um eine lieblich-dunkle Höhle der Naiaden-Nymphen mit zwei Öffnungen, welche auf Ithaka bei der Rückkehr des Odysseus als Depot für Geschenke der Göttin Athena dient. Auf diese Höhle, die als Symbolort göttlicher Präsenz zu verstehen ist, komme ich später unter philosophischen Gesichtspunkten noch einmal zurück. Doch nicht nur liebliche, göttliche Nymphen leben in Höhlen, sondern auch wilde Kerle wie die Kyklopen. Ebenfalls in der Odyssee Homers (IX, 104– 564) stoßen Odysseus und seine Gefährten im Zuge ihrer Abenteuer auf die Kyklopen, körperlich und sittlich ungeschlachte Riesen mit nur einem Auge, also vorzivilisatorische Wesen ohne Religion und Recht, sie achten das Gastrecht nicht, sind in jeder Hinsicht unkultiviert. Der Kyklop Polyphem wohnt in einer Höhle, die als Ort der rohen Natur erscheint. Entsprechend roh und grob ist der Umgang Polyphems mit dem überlegenen Eindringling Odysseus. Der wilde Unhold Polyphem wird von Odysseus in der Höhle mit List geblendet und getäuscht, nur so kann Odysseus seine Gefährten und sich selbst retten. Die Höhle ist hier also eine Sphäre der rohen Gewalt, verkörpert durch ihren Bewohner, den Kyklopen Polyphem. Die Höhle wird dabei als vorzivilisatorischer Raum kenntlich,⁴ in dem der homerische Held in Lebensgefahr gerät und aus dem er sich allein aufgrund seiner intellektuellen Überlegenheit zu befreien versteht. Sowohl die Höhle der Kalypso als auch die des Polyphem sind also mythische, zivilisationsferne Räume einer gefährlichen, dunklen Tiefe – der Erotik auf der einen und der Gewalt auf der anderen Seite. Beide bedrohen den Helden Odysseus existenziell, freilich kann dieser einmal durch Hilfe der Götter und einmal durch eigene Intelligenz entkommen.
Am Rande sei erwähnt, dass sich für die Konzeption der Höhle als Raum der wilden und unzivilisierten Natur, die als Pendant ihrer Bewohner zu verstehen ist, weitere Texte der griechischen Literatur finden lassen: etwa Pindars Schilderungen des (Höhlen‐)Ungeheuers Typhos (Pind. P. 1, 16 – 28); die menschenähnlichen, aber wilden Trog(l)odyten bei Herodot (IV, 183) als Höhlenbewohner in Äthiopien; in der Tragödie Philoktetes des Sophokles der Protagonist, dessen Wohnhöhle auf Lemnos dramatisches Sinnbild seiner Verwilderung ist.
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Um verstehen zu können, inwiefern der Philosoph Platon den Tiefenraum der Höhle neu konzipiert, müssen wir noch einen Blick auf die religiöse und philosophische Raumsymbolik im Schnittfeld von Katabasis und Höhle vor Platon werfen, auf eine Raumsymbolik, die letztlich die Frage nach dem Ort des Wissens und der Erkenntnis verhandelt. Der in den griechischen Mythen vielfach beschriebene Gang in die Unterwelt dient, kurz abstrahiert, dem Zweck, mit etwas, das man vorher nicht hatte, aus der Unterwelt, dem Hades, zurückzukehren: entweder mit einem bereits Verstorbenen, den man von dort mitbringt, oder mit mehr Wissen und anderen, weiterreichenden Erkenntnissen als vorher. Ebendies ist der Fall bei der Katabasis des Odysseus, wie sie ebenfalls in Homers Odyssee (Buch XI) geschildert ist. Es handelt sich hier zunächst weniger um einen räumlichen Abstieg in die Unterwelt oder eine Tiefe, sondern eher um eine Grenzüberschreitung der gewöhnlichen Erfahrungswelt, eine Fahrt in ein Jenseits, die in eine νέκυια (Totenopfer) oder νεκυομαντεία (Totenbeschwörung, eine Art Séance) mündet. Diese findet jenseits des großen Ringflusses Okeanos, der die Menschenwelt umfließt, am äußeren Rand des Totenreiches statt. In diesem als dunkel, düster und dunstig geschilderten Jenseits findet Odysseus’ Begegnung mit den Schatten der Verstorbenen an einer mit Blut gefüllten Opfergrube statt, dort prophezeit der verstorbene Seher Teiresias Odysseus den Heimweg nach Ithaka.⁵ Der mythische Held Odysseus agiert somit als Totenbeschwörer und kehrt mit neuem, höherem bzw. tieferem Wissen, hier dem um seinen Heimweg nach Ithaka, zurück. Wie Odysseus, so kehren auch andere bekannte, göttliche oder mythische Figuren der Griechen nach einer Hades- oder Jenseitsfahrt, einer Katabasis, ins Leben und in die Welt der Menschen zurück. So lässt etwa der Komödiendichter Aristophanes (spätes fünftes Jahrhundert v.Chr.) in seiner Komödie mit dem Titel Die Frösche (Ranae) den Theatergott Dionysos selbst in den Hades hinabsteigen, um den verstorbenen Tragödiendichter Euripides heraufzuholen. Wie wir aus mehreren literarischen Quellen erfahren, soll auch der Held Herakles als letzte und schlimmste seiner zwölf Heldentaten den grausen Höllenhund Kerberos aus dem Hades heraufgeholt haben (Hom. Il. VIII, 366 – 369; Hom. Od. XI, 623 – 626). Und nicht zuletzt steigt der seit dem sechsten Jahrhundert v.Chr. bekannte mythische Sänger und Musiker Orpheus in den Hades hinab, um seine verstorbene
Dass dieser Kontakt des Odysseus mit den verstorbenen Weggefährten und dem Seher Teiresias letztlich als Katabasis, als Abstieg in die Schattenwelt des Hades, verstanden werden muss, sagt der Protagonist Odysseus selbst: Denn als er seiner Gattin Penelope (Od. XXIII, 248 – 253) seine Abenteuer und darunter auch das Abenteuer seiner Hadesfahrt erzählt, sagt er ausdrücklich, dass er in den Hades ‚hinabgestiegen‘ sei (κατέβην δόμον Ἄϊδος εἴσω, νόστον ἑταίροισιν διζήμενος ἠδ’ ἐμοὶ αὐτῷ).
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Gattin Eurydike mit hinauf zu nehmen – was ihm bekanntlich nicht gelingen wird.⁶ Das im antiken Mythos so prominente Phänomen der Katabasis, hier als temporärer Aufenthalt im Jenseits oder als Gang in die Tiefe skizziert, enthält seit alters oft eine starke religiöse Komponente. Diese artikuliert sich in literarisch überformten ekstatischen Erfahrungen, die als Halluzinationen, Auditionen, Visionen oder mittels Epiphanien supranaturale Perspektiven eröffnen und auch als out of body experiences beschrieben werden können.⁷ Ekstase ist dabei zu verstehen als temporäre Phase psychisch-mentaler, transzendentaler Fähigkeiten der Kommunikation mit Wesen einer jenseitigen Welt, welche in allen Kulturen charismatischen und weisen Männern und Frauen zugeschrieben werden. Diese werden als Personen verehrt, die in der Lage sind, im Zustand der Ekstasis mit Geistern, Göttern oder Toten zu kommunizieren und Seelenreisen zu unternehmen (klar dazu Hesse 2001, 30 – 34). Auch bei den Griechen sind derartige Grenzüberschreitungen und liminale Offenbarungserlebnisse verschiedener Art einem mehr oder weniger deutlichen Schamanismus zuzuordnen, sind in jedem Fall bei ihnen religiös und kulturell verwurzelt.⁸ Nicht zuletzt im Schwellenbereich zwischen Mythos und Geschichte werden in der griechischen Kultur ekstatische Erlebnisse so genannter θεῖοι ἄνδρες (göttlicher Männer) mit Höhlen in Verbindung gebracht. Begeben wir uns jetzt an die Ränder der griechischen Kultur, zuerst nach Kreta. Dort soll sich der wohl historische, aber legendenüberwucherte Epimeni-
Die ersten Anspielungen auf die Katabasis des Orpheus finden sich bei Euripides (Alc. 357– 359, Hipp. 953, Kykl. 646) sowie bei Isokrates (XI, 7– 8) und in Platons Symposion (179d3 – 7), wo Orpheus’ Hadesfahrt kritisiert wird. Aus späteren Quellen (etwa Suda, s. v. Orpheus) wird Orpheus sogar eine Schrift mit dem Titel Katabasis in den Hades zugeschrieben (= DK 1 [66] A 1). Siehe hierzu meine Ausführungen weiter unten; einschlägig dazu Moody 2007 [1975]; van Lommel 2010. Siehe Ustinova 2009, 13 – 28 und 47– 51. Die Verwendung der Bezeichnung ‚schamanisch’ ist dabei weniger im Sinne einer Einfluss-Theorie zu verstehen, nach der es zu einem direkten, über Skythen und Thraker vermittelten Einfluss archaischer Schamanenkultur – etwa tungusischer oder sibirischer Jäger und Sammler – auf die Griechen gekommen sein müsste. Mit ‚Schamanismus‘ ist vielmehr ein anthropologisch erklärbares, universelles religiöses Phänomen oder besser: eine transkulturelle religiöse Konfiguration gemeint, die sich in unterschiedlichen Ausformungen weltweit und überzeitlich, und so auch bei den antiken Griechen, identifizieren lässt. Ekstase und die charismatische Persönlichkeit des ‚Schamanen‘ sind dabei besonders konstitutive Elemente. Siehe in diesem Sinne Diels 1897; Meuli 1935, 121– 176; Dodds 1951, 135– 178; Burkert 1962, 36 – 55; West 1997, 4– 7, 144– 150; jedoch Bremmer 1983, 25 – 40 und Zhmud 1997, insbes. 107– 128, die schamanische Tendenzen für die Griechen grundsätzlich ablehnen. Zur Bedeutung des (ekstatischen) Schamanismus ist immer noch erhellend Eliade 1975. Siehe auch Männlein-Robert 2012a, 109 – 111.
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des aus Kreta (frühes sechstes Jahrhundert v.Chr.) mittags beim Schafe Hüten zu einem Schläfchen in eine Höhle auf dem Berg Ida gelegt haben und erst nach 57 Jahren wieder aufgewacht sein. Nachdem seine Seele im Traum in göttlichen Sphären belehrt worden war, erfüllten sich fortan alle seine Prophezeiungen, in einer epischen Theogonie soll er zudem sein menschliche Dimensionen überschreitendes Wissen über die Götter poetisch gefasst haben.⁹ Auch der alte kretische König Minos soll sich regelmäßig zur Belehrung durch die Götter in die Zeus-Höhle auf dem Ida zurückgezogen haben (Plat. Leg. I 624a7–b4, vgl. auch den ps-plat. Minos 319d7–e5). Aber über den unteritalischen Philosophen Pythagoras wird ebenfalls berichtet, er habe in einer Höhle Visionen des Hades gehabt, wo, seinem Zeugnis nach, die Seelen der Dichter Homer und Hesiod für ihre frevelhaften Aussagen über die Götter gequält wurden.¹⁰ Der Thraker Zalmoxis verschwand drei Jahre (Herodot IV, 95) in einer unterirdischen Höhle und galt als tot. Als er unerwartet wieder auf der Erde erschien, habe er nach seinem Aufenthalt in der Tiefe des Jenseits seine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele formuliert.Wie bereits der homerische Odysseus vor den Phäaken in der Rolle eines schamanischen Erzählers oder Sängers von seiner selbsterlebten Reise ins Jenseits und seiner Belehrung dort durch Teiresias berichtet, so sind auch die gerade genannten ‚göttlichen‘ und Wundermänner Berichterstatter und Erzählende. Der Philosoph Platon zeigt in seinen Dialogen nun großes Interesse an solchen ‚göttlichen Männern‘, mythischen Helden und schamanengleichen Figuren, deren Schau und Erkenntnis des Göttlichen mit dem Aufenthalt in einer Höhle verbunden ist.
2 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diese zu Platons Zeit (im vierten Jahrhundert v.Chr.) längst etablierten Höhlenbilder für diesen allesamt Bilder einer vorphilosophischen, vorrationalen, archaisch-mythischen Tradition waren, die aus seiner Sicht erhebliches Korrekturpotential bargen. Der Fokus liegt hier auf Platons Hauptwerk mit dem Titel Staat (Politeía), in dem er seine Dialogfigur Sokrates zusammen mit anderen im Gespräch den idealen Staat entwerfen und diskutieren lässt (Männlein-Robert 2012b, 7– 12). Die erste Höhle begegnet uns hier im Mythos vom Ring des Gyges (rep. II 359c7–d8). Dieser Mythos wird von Glaukon, einem der Gesprächspartner des Sokrates, erzählt. Im Kontext geht es
Siehe Campese 2003, 444– 448; D.L. I 109 – 112 = DK 3 [68] A 1; Plat. Leg. I 642d3–e3. Siehe D.L. VIII 21 = Hieronymos von Rhodos [frg. 42 Wehrli]; D.L. VIII 41.
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um Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Glaukon will Sokrates provozieren und behauptet, jeder Mensch sei bei Gelegenheit ungerecht. Als Beleg erzählt er den Mythos von Gyges: So habe der lydische Hirt Gyges nach heftigem Regen und Erdbeben einen Erdspalt bemerkt, sei dorthin hinabgestiegen (καταβῆναι) und habe dort unter anderem im Inneren eines Bronzepferdes einen riesigen Leichnam entdeckt, der einen goldenen Ring trug.¹¹ Gyges zieht den Ring vom Toten ab und nimmt ihn mit hinauf. Er stellt fest, dass dieser unsichtbar machen kann, was er künftig so lange für sich nutzt, bis er schließlich zum König der Lyder wird. Der Erdspalt (χάσμα) dient in der Erzählung als Eingang oder Schwelle zur staunenswerten, bislang verborgenen, unterirdischen Grabhöhle und macht sie zugänglich. Der Zauberring, den Gyges mitnimmt, entstammt also der surrealen, separaten Sphäre eines tiefen Höhlenraumes. Gyges’ zufälliger Abstieg, seine Katabasis in die wunderbare Höhle, macht aus dem vormals armen Hirten einen reichen und mächtigen Mann mit neuen Eigenschaften und Möglichkeiten, welche dieser primitiv und egoistisch nutzt.¹² Die zweite Höhle, von der wir in der Politeía explizit hören, findet sich etwas später, gegen Ende von Buch III (414d1– 415c8). Sokrates trägt hier einen alten phönizischen Mythos vor, den er dezidiert als „edle Lüge“ bezeichnet (γενναῖον ψεῦδος): Mit diesem Mythos will er die – zugleich gegebene – natürliche Verwandtschaft und natürliche Ungleichheit unter den Menschen illustrieren. Dem phönizischen Mythos nach seien die Menschen Kinder der Mutter Erde, hätten in Wahrheit unter der Erde Gestalt angenommen und seien dort, in der Erdhöhle, aufgezogen worden. Nachdem diese Erdgeborenen (γηγενεῖς) erwachsen geworden seien, hätte die Mutter Erde sie aus ihrer Höhle nach oben geschickt, wo sie ihre Mutter, ihr Land, verteidigen mussten. Den künftigen Herrschern sei vom Gott Gold, den künftigen Wächtern Silber und den künftigen Bauern und Handwerkern Eisen und Bronze bei ihrer Entstehung in der Erde beigemischt worden. Auf die philosophischen Implikationen dieser Erzählung einzugehen, ist hier nicht der Ort. Entscheidend ist vielmehr, dass Platon diesen Erdgeborenen-Mythos im Kontext seines Idealstaates als urgeschichtlichen Mythos zur Bestätigung des Status quo (der Ungleichheit unter den Menschen) funktionalisiert, dass er diesen Mythos aber zugleich klar als Lügengeschichte markiert. Aus philosophischer
Wie die unbestimmte Verbform ‚man sagt‘ (φασίν, rep. II 359c8) zeigt, muss diese Episode um Gyges einer rein mündlichen Erzähltradition zugerechnet werden. Auch die Figur des Gyges, an sich eine historische Person (680/650 v.Chr.), ist eher die einer sagenumwobenen mythischen Gestalt. Freilich wird Sokrates gegen Ende der Politeia (X 612a8–b6) abschließend diese These von der Attraktion der Ungerechtigkeit widerlegen und zum Erweis einer sinnhaften Gerechtigkeit den Mythos von Er erzählen.
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Sicht wird somit die unterirdische Höhlenwelt als Entstehungsort des Menschen ebenso negiert wie die Vorstellung von der Erde als Mutter – und zwar in materieller wie in räumlicher Hinsicht. Wir sehen mit den Mythen von Gyges und den Erdgeborenen somit ein plakatives Spiel des Autors Platon um den archaischen Mythotopos der Höhle: Höhlen dienen ihm als wundersame surreale Räume für ebenso surreale Begebenheiten, an deren Fiktivität im erzählten Kontext kein Zweifel bleibt. Besonders wichtig in unserem Kontext ist Platons so genanntes ‚Höhlengleichnis‘ aus Buch VII der Politeía. Das Höhlengleichnis dient dem Dialogsprecher Sokrates zur Illustration der menschlichen Natur und ist überhaupt ein zentraler Passus für Platons Ontologie, Epistemologie, Staatslehre, Pädagogik und Ethik (Gaiser 1985; Szlezák 2005; Blum 2004, 45 – 50). Das Hauptaugenmerk soll im Folgenden aber auf den raumsymbolischen Gehalten dieses Gleichnisses liegen. Sokrates imaginiert seinen Gesprächspartnern folgendes ‚Bild‘ (explizit: εἰκών), das die gegenwärtige condition humaine beschreibe: Demnach sitzen die Menschen von Geburt an in einer unterirdischen Höhle mit Blick auf die innere Höhlenwand. Sie sind von klein auf an Schenkeln und Hals gefesselt. In ihrem Rücken befindet sich eine kleine Mauer, hinter der Menschen Gegenstände entlangtragen. Ein Feuer, das weiter oben, oberhalb der Mauer in der Höhle brennt, dient als Lichtquelle, sodass die Gefesselten die Schatten der getragenen Dinge an der Höhlenwand sehen können. Da sie niemals etwas anderes gesehen haben, halten sie die Schatten für die Dinge selbst, sie verwechseln also in diesem ‚Höhlenkino‘ Illusion und Realität.Wenn jemand kommt, der sie losbindet, der sie zwingt aufzustehen, sich umzudrehen und den beschwerlichen steilen Weg in der Höhle in Richtung des Höhlenausganges zu gehen, dann ist dies ein schmerzlicher Prozess, der anfangs auf den Widerstand des Befreiten stößt. Diese Person – sie erweist sich später als prototypischer Philosoph – erklärt dem vormals Gefesselten den Unterschied zwischen den Schatten und den Dingen, zwingt ihn mit Fragen zur Suche nach dem Wesen der Dinge. Dann zieht diese Person ihn – mit Gewalt – den steilen Weg in die Höhe hinauf und verhilft ihm hinaus ans Licht, in den Bereich außerhalb der Höhle. Sowie sich der Befreite an das dortige Licht gewöhnt hat, kann er zuerst die Schatten der echten Dinge, dann sie selbst, am Schluss sogar die Sonne als Lichtquelle selbst sehen. Der Aufgestiegene erinnert sich jetzt an die früheren Mitmenschen in der Höhle, möchte aber lieber außerhalb der Höhle bleiben. Wenn er dann doch wieder in die Höhle zurückgeht (καταβαίνει), muss er sich erst wieder an die Licht- und Wissensverhältnisse der Höhlenmenschen gewöhnen, er wird ausgelacht. Beim Versuch, unten andere zu befreien und aus der Höhle zu führen, läuft er sogar Gefahr, getötet zu werden. Die Höhle ist in Platons Höhlengleichnis also der Ort, an dem sich die Menschen zunächst von Geburt an befinden. Sie ist der Raum der Illusion, dort Ge-
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sehenes erweist sich nach Entfesselung und Umdrehen als Täuschung. Zugleich ist die Höhle der Ort, an dem man losgebunden, befreit und empor geführt werden kann, sie ist also zugleich auch der Ort der Ent-Täuschung und Desillusionierung sowie des prozesshaften Aufstiegs zur wahren Erkenntnis. Nach der Schau der Sonne – im Gleichnis hier Sinnbild für die Wahrheit und das Gute – muss man wieder in die Höhle hinabsteigen. Werfen wir jetzt einen Blick auf den Jenseitsmythos, mit dem Platon sein Hauptwerk Politeía ausklingen lässt und der mit dem Höhlengleichnis sehr eng abgestimmt ist: Dieser Mythos handelt von einem Pamphylier mit dem Namen Er. Der so genannte Er-Mythos ist als programmatisches Gegenstück zur Jenseitsreise des Odysseus komponiert, will also dezidiert kein Dichtermärchen sein, sondern als philosophische Schlüsselerzählung verstanden werden. Dieser Mythos wird von Sokrates, dem Protophilosophen erzählt, und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der im Kampf gefallene, aber nur scheintote Krieger Er berichtet als Augenzeuge, wie seine Seele ihren Körper verlassen und sich für zwölf Tage auf eine Reise ins Jenseits, an einen „wundersamen Ort“ (δαιμόνιος τόπος, rep. X 614c1) begeben habe. Sie sieht dort das Schicksal der gerechten und der ungerechten Seelen im Jenseits, unternimmt eine Reise durch unterschiedliche Sphären, die reich an mythischen Bildern sind, wie etwa das Jenseitsgericht, die Belohnung der Gerechten, die Bestrafung der Ungerechten und die Reinkarnation entsprechend den Verdiensten im vorherigen Leben. In unserem Kontext ist Folgendes wichtig: Dieser formal traditionell erzählte Mythos beschreibt eine ekstatische Jenseitserfahrung des scheintoten Er, der ausdrücklich als Bote aus dem Jenseits den Menschen berichten soll und daher dort singulärer Augenzeuge sein darf. Seine Seele trennt sich für zwölf Tage von ihrem Körper und hält sich in sonst unzugänglichen Räumen des Jenseits auf, dann kehrt sie in ihren Körper zurück. Die Verwandtschaft mit ekstatischen Seelenreisen schamanischer Tradition ist im Falle dieser mythisch-philosophischen Katabasis ganz offensichtlich. Hier dominiert nun ein moralisch-ethischer Tenor: Wie man lebt, das wirkt sich nach dem Tode aus. Wie Homers Odysseus, der die üblichen menschlichen Grenzen überwindet und an der äußersten räumlichen Grenze, am Rande des Hades, mit den Toten kommuniziert, erlebt auch der Pamphylier Er eine ekstatische Nahtoderfahrung.¹³ Er ist zwar tot, aber noch nicht bestattet und befindet sich somit, um es mit den Ethnologen Arnold van Gennep und Victor Turner zu sagen, im Zustand der Liminalität (Gennep 1960 [1909]; Turner 2005 [1989]): Seine Seele reist durch
Bereits der Vorsokratiker Demokrit soll in seinem Buch Über den Hades solche Nahtodberichte beschrieben haben, DK 68 [55] B 1. Weitere sind überliefert, siehe ausführlicher dazu Rohde 1991 [1898], Psyche II 363 – 364; dagegen kritisch Bremmer 2002, 90 – 97.
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das Jenseits und kehrt dann in ihren Körper zurück, was er berichtet, erinnert frappierend an Nahtodberichte unserer Zeit (Moody 2007 [1978]; van Lommel 2010; Albinus 1998, 97). Die Seelenreise des Er erinnert zugleich auch an Seelenreisen und Ekstasen berühmter Charismatiker wie etwa Epimenides, Pythagoras oder auch Parmenides (anders Görgemanns 1988, 36 – 47). Waren das noch geheimnisumwitterte Wundermänner einer Frühzeit, die nach singulären Ekstasen Offenbarungen oder Wissen aus dem Jenseits mitbrachten, so darf in Platons Mythos die Ekstasis der Seele des Er aus dem Körper und ihre Rückkehr in denselben als ebenso zufällig wie allgemein exemplarisch gelten. Platon knüpft zwar mit seiner Jenseitsvision des Pamphyliers Er an die spezifische Begabung Einzelner zu Seelenreisen und damit an eine uralte religiöse Ekstasekultur an. Er bettet seine Jenseitsvision jedoch in sein philosophisches Konzept von der unsterblichen Seele jedes Einzelnen und deren Wanderung durch jenseitige Räume und diesseitige Körper ein.¹⁴ Damit transformiert Platon eine alte, genuin religiöse, mit schamanischem Charisma und Ekstase konnotierte Form der Kontaktaufnahme mit dem Jenseits in ein großes und ausdifferenziertes, philosophisches Bild vom Schicksal der unsterblichen Seele in der Transzendenz. Es handelt sich also bei Platon um einen philosophischen, rational geoffenbarten Jenseitsmythos. Und dennoch ist es kein Zufall, dass Platons Sokrates die Jenseitsvision des Er in der für solche Berichte traditionellen Form des Mythos erzählt. Auch wenn sich Brüche, Verschiebungen und Neukonzeptionen identifizieren lassen, erweist sich der erzählte Jenseitsmythos als eine spezifische Form der Beschwörung, als suggestives Lied. Denn es ist Platons philosophischer Protagonist Sokrates, der das homerische Märchen vom Hades, das eindrückliche Lied des Odysseus vom Tod und von den Schatten, durch einen neuen, ebenfalls suggestiven, aber eben rational überformten, philosophischen Mythos ersetzt (Männlein-Robert 2012b, 12– 15). Selbst im Versuch, über das Jenseits zu sprechen, leugnet dieses neue ekstatische Narrativ ihre uralten religiösen, in der Höhle liegenden Wurzeln nicht.¹⁵
Die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist, das wird auch hier deutlich, das Kernstück der platonischen Philosophie. Nach Dodds 1951, 111 ist Platons Rationalismus mit magischen Anschauungen verquickt. Magisch bedeutet im Sinne des griechischen Begriffes γόης das, was ein Schamane macht, siehe Burkert 1962, 36 – 55; Nestle 1942, 2.
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3 Versuchen wir eine systematische Auswertung unserer bisherigen Befunde: Worin besteht der Neuansatz Platons? Wie geht der Philosoph mit der vorfindlichen, mythisch-religiösen Tradition um Höhle und Ekstase um, wie transformiert er sie? Bisher haben wir gesehen, dass Höhlen- und Katabasis-Erzählungen Platons kunstvoll gestaltete, philosophisch konzipierte Konstrukte sind, die eine abstrakte, allegorische Lesart erlauben. Diese möchte ich nun abschließend in zwei Aspekten vertiefen. Bei Platon dient die Höhle zunächst als Sinnbild der irdischen Welt, genauer: der Körperwelt. Das wird am deutlichsten im Vergleich zwischen dem Höhlengleichnis und dem Er-Mythos: Ers Seele verlässt ihren Körper und kehrt nach ihrer Jenseitsreise wieder in diesen zurück. Damit korrespondiert die Rückkehr des Philosophen in die Höhle, wie sie das Höhlengleichnis schildert: Wie der Philosoph in die Höhle, also in das gewöhnliche Biotop der Menschen, zurückkehrt, nachdem er außerhalb (wenn man so will: jenseits) höheres Wissen erlangt hat, so kehrt auch die Seele des Er, nachdem sie höheres Wissen (um das jenseitige Schicksal der unsterblichen Seelen) erlangt hat, in ihre gewöhnliche Umgebung, den Körper, zurück. Die Analogie zwischen Körper und Höhle ist unverkennbar: Die Höhle ist der Ort des ursprünglichen Gefesselt-Seins für die Menschen. Wir dürfen sicher sein, dass Platons Sokrates hier auf die orphischpythagoreische Vorstellung anspielt, nach welcher der Körper als ‚Gefängnis‘ der Seele gilt (σῶμα als σῆμα).¹⁶ Der zweite Aspekt sei mit Entsakralisierung der Höhle überschrieben. Mit Blick auf Platons neues Höhlenkonzept ist nämlich eine programmatische Verschiebung auch der Semantik des Raumes erkennbar, in dem die Erkenntnis des Göttlichen, die visionäre Schau möglich wird. War in der archaischen Zeit die Höhle Raum einer traum- oder rauschhaften Offenbarung des Göttlichen, so geschieht diese bei Platon in der Sphäre außerhalb der Höhle, erst nach deren Verlassen. Die Schau des Göttlichen, die eigentliche Aufklärung, muss überdies aktiv vorbereitet und mühsam erkämpft werden, sie findet jetzt erstmals im Zustand der rationalen Bewusstheit, zudem unter langwierigen Mühen und nicht mehr in temporärer, ekstatischer Trance statt. In beiden Fällen erfolgt eine zeitweilige Lösung der Seele vom Körper, die Göttliches geschaut hat, in Bereiche eingedrungen ist, die gewöhnlichen Menschen bis zu ihrem Tod verborgen bleiben. Trotz aller erkennbaren Anklänge an die in ekstatischen Riten wurzelnden
Das ist eine Vorstellung, wie sie Platons Sokrates auch in den Dialogen Gorgias (493a3) und Kratylos (400b1–c10) verhandelt.Vgl. auch rep. II 363c; 364e3 – 365a3. Eine orphische Herkunft der Soma-Sema-Gleichung lehnt ab z. B. Dodds 1959, 300; siehe hingegen Alt 1982, 280.
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Seelenreisen schamanistischer Art und Kultur¹⁷ bietet Platon ein erklärt konträres, ein rationales, kurz: philosophisches Konzept. Das wird auch an der Kontrafaktur des alten Katabasis-Topos deutlich: Diese besteht darin, dass man nun nicht mehr mit mehr Wissen oder einem ‚Gewinn‘ aus der Höhle hervorkommt (wie noch Epimenides, Minos, Orpheus oder Herakles), sondern dass man mit mehr Wissen als zuvor in die Höhle zurückkehrt und dieses dort zu vermitteln sucht. Wahres Wissen wird, so Platon, nicht in einer Höhle als konventionellem Mythotopos einer wundersamen oder primitiven Illusionswelt, sondern nur außerhalb der Höhle erlangt. Platon bietet hier die literarische Inszenierung eines psychologischen Konzeptes, das letztlich auf dem Postulat der Unsterblichkeit der menschlichen Seele basiert. Insgesamt wird deutlich, wie der Philosoph Platon in der Politeía eine neue Höhlenmythologie entwirft, die zwar viele der früheren poetischen und religiösen Höhlen- und Jenseitskonzepte anzitiert, ihnen aber klar widerspricht und ein philosophisches Gegenmodell konzipiert.¹⁸
4 Platons neue Höhlenmythen und seine in engstem Zusammenhang damit stehenden – rationalen – Jenseitsbilder schlagen sich zumindest im griechischen Volksglauben kaum oder gar nicht nieder. Vielmehr dominieren die alten, homerischen Mythen und archaischen Denkformen von Höhlen und Hades und bleiben bis in die frühe Kaiserzeit populär. Erst etwa seit dem ersten Jahrhundert n.Chr., möglicherweise unter dem Druck der aufkommenden christlichen Jenseitslehre und Jenseitsvisionen respektive Apokalypsen, finden sich literarischphilosophische Texte, die Platons Höhlenallegorie zwar aufgreifen, aber ihrerseits umgestalten. Das ist vor allem bei kaiserzeitlichen Philosophen in der Tradition Platons der Fall. Diese integrieren viele frühere religiöse Elemente und Vorstellungen aus der populären Volkskultur und Religion mit ihren zum Teil archaischen Substraten und versuchen diese – wie an zwei Beispielen zu zeigen sein wird – mit platonisch-philosophischen Vorstellungen zu harmonisieren. Ein in diesem Kontext besonders einschlägiger Mythos ist beim kaiserzeitlichen Platoniker Plutarch (erstes Jahrhundert n.Chr.) überliefert. Plutarch ist nicht Der Held Er nennt zum Beispiel entsprechende Namen, mit denen er bestimmte Assoziationen weckt, etwa Bendis, Thrakien, Zalmoxis etc., sodass sich die entsprechenden alten Modelle zwar abzeichnen, aber von Platon konterkariert werden können. Zur Vorstellung der Welt als Hades siehe Plut. am. 19, 765 A; Apuleius, De deo Socratis I 5 = 129; Boethius, cons. III c. 12, 55 – 58; Dörrie und Baltes 2002, 173, 180, 333, 336, 340.
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nur Philosoph, sondern zugleich Apollon-Priester in Delphi und gilt als Repräsentant einer religiös geprägten platonischen Philosophie. Am folgenden Beispiel wird besonders gut ersichtlich, dass sich Platon gegen die archaischen, religiösen Substrukturen, die er bereits in seiner Lebenswelt und Kultur vorfand, selbst in den philosophischen Kreisen seiner späteren Anhänger, nicht wirklich durchsetzen konnte. In Plutarchs Schrift De Daemonio Socratis, Über das Daimonion des Sokrates (Kapitel 21– 22), geht es um den Orakelkult, der in der Trophonios-Höhle in Lebadeia (in der Nähe von Chaironeia in Böotien) gepflegt wurde. Dort ist das Orakel des Trophonios aktiv: Trophonios ist ein Sohn des delphischen Orakelgottes Apollon, der Prophezeiungen macht (siehe Pausanias 9, 39, 5 – 14; Philostr. Apollon. 8,19). Plutarch bietet hier einen Bericht, wie ein Athener des fünften Jahrhunderts v.Chr. namens Timarchos in diese Orakelhöhle steigt und dort zwei Tage und Nächte verbleibt. Man hat Timarchos bereits aufgegeben, als er am dritten Tag wieder heraufkommt. Es handelt sich also um eine Katabasis im wahrsten Sinne des Wortes, um den Abstieg in eine Höhle, verbunden mit einer seelischen Ekstase mit Jenseitsreise nach altem (‚schamanischem‘) Muster. Denn Timarchos, so heißt es, liegt tief unten in der finsteren Höhle mit dem Rücken am Boden, bemerkt einen heftigen Schlag auf den Kopf, spürt, wie sich die Nähte seines Kopfes lösen, aufplatzen und sich seine Seele vom Körper trennt. Sie schwebt in der Luft und er sieht auf einmal die Welt, den Kosmos in allen seinen Bereichen, die ihm von einer Stimme, einer göttlichen Stimme, einem Daimon, erklärt werden. Diese Stimme geleitet ihn durch alle Sphären, beschreibt ihm das Schicksal der verschiedenen menschlichen Seelen nach dem Tod des jeweiligen Körpers. Zum Schluss kehrt seine Seele wieder in den Körper zurück und Timarchos steigt – nun belehrt, mit gleichsam göttlichem, übermenschlichem Wissen über die Seele und deren Existenz im Jenseits – aus der Höhle wieder nach oben. Es handelt sich also um eine gleichsam klassische out of body-experience in einer Höhle. Ganz gegenläufig zu Platon erweist sich die Höhle hier einmal mehr als Raum der visionären Schau. Die im Ritual eines Orakelkultes funktionalisierte Höhle wird in diesem Narrativ als liminaler Raum zwischen Leben und Tod sichtbar. Der ekstatische Akt der Seele gleicht einem rite de passage, ganz in Übereinstimmung mit den von Anthropologen wie Victor Turner und Arnold van Gennep formulierten Charakteristika (Turner 2005, 94 – 111; Gennep 1960; Männlein-Robert 2012a, 110). Das zweite Beispiel findet sich in der Schrift De antro nympharum des Platonikers und Religionsphilosophen Porphyrios, der Mitte/Ende des dritten Jahrhunderts n.Chr. eine eindrucksvolle Kommentierung der Schilderung der Nym-
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phengrotte aus Homers Odyssee (XIII, 102– 112) vorlegt.¹⁹ Diese Schrift enthält den einzigen überlieferten, zusammenhängenden, allegorischen Kommentar eines Homerpassus (Castelletti 2006, 21) und stellt eine ergiebige Fundgrube für religionsphilosophische respektive theosophische,²⁰ aber auch für religionspraktische Informationen aus der Spätantike dar. Die Höhle der Nymphen auf Ithaka wird dabei von Porphyrios als Symbolon des Kosmos, der Welt überhaupt, interpretiert. Die Höhle erweist sich als gleichsam prähistorischer Tempel des Kosmos. Diese archaische Konzeption, nach der die Höhle die Welt sei, wird bei Porphyrios selektiv und programmatisch als religionsphilosophisches Faktum verhandelt und in den Kontext weitreichender philosophischer und astrologischer Interpretationen gestellt (vor allem ab Kapitel 10).²¹ Indem die Höhle nachdrücklich als ‚dunkel‘ beschrieben wird, erhellt das die Dunkelheit als Symbol des Kosmos respektive seiner Eigenschaften als Materie.²² Porphyrios stellt nun diese Höhle in einen erklärt religiösen, sogar mystischen Zusammenhang, da er auf den bei den Persern²³ (offenbar damals noch) gepflegten Usus verweist, die in das Ritual Einzuweihenden (Mysten) in einer als Höhle bezeichneten Lokalität herunter- und wieder hinauf zu führen – in Analogie zum Eingang der Seele in den Körper und ihrem Verlassen desselben (Porph. De antro 6; ausführlicher zum Ritual Gordon 2001). Diesen rituellen Usus führt er auf Zoroaster zurück.²⁴ Während bei Plutarch reale religiöse Praktiken und Rituale (im TrophoniosOrakel in Lebadeia) im mythischen Text verarbeitet werden, erfährt die homeri-
Zitiert wird der Text im Folgenden nach der Ausgabe Simonini 2010. Zum Begriff θεοσοφία, θεόσοφος, der vermutlich auf Porphyrios selbst zurückgeht, siehe Castelletti 2006, 212 mit Anm. 319. Vgl. z. B. Longos’ erotischen Roman Daphnis und Chloe, wo die Protagonistin als Neugeborenes in einer liebevoll ausgestalteten Nymphenhöhle gefunden wird, welche deutlich die homerische Nymphengrotte anzitiert (Longos I, c. 4); dazu Larson 2001, 56 – 58. Porphyrios ist allerdings nur an religiösen Konnotationen der Höhle interessiert. Das bildhafte Verständnis vom Kosmos als οἶκος (Haus) findet sich im platonischen Kontext der Kaiserzeit bereits bei Plutarch (De tranq. anim. 20, 477C–D), dazu siehe Alt 1982, 274; ähnlich Plot. IV 3, 9, 29; IV 4, 36, 10, dazu Hirschle 1979, 42. Die Perser gelten den kaiserzeitlichen und spätantiken Platonikern (ähnlich wie die Chaldäer, Mager, Inder, Ägypter) als würdige Ethnie, die im Besitz uralter Weisheit ist; sie sind Repräsentanten der ‚Weisheit der Barbaren‘ (βάρβαρος σοφία) und damit nicht zuletzt in religiösen Angelegenheiten autoritativ, siehe Erler 2001, 321. Siehe auch Porph. De abst. IV 16, 2, wo Euboulos als Autor einer Mithrasgeschichte genannt ist; zu Euboulos siehe Simonini 2010, 101– 103; Brisson 2000; vermutlich handelt es sich dabei um den Platoniker, mit dem auch der Lehrer des Porphyrios, Longin, korrespondiert, vgl. dazu Männlein-Robert 2001, 187– 191.
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sche Nymphengrotte bei Porphyrios eine neue religionsphilosophische Semantisierung.²⁵ Wie bei Platon finden wir also auch bei Porphyrios keine Beachtung der traditionellen mythischen Höhlentopoi, vielmehr ebenfalls eine philosophisch basierte Konzeption. Allerdings nimmt Platon im Höhlengleichnis eine programmatische Entsakralisierung der Höhle vor und entwirft eine neue – philosophische – Raumsemantik der Höhle, indem Erkenntnis und gleichsam visionäre Schau des Wahren und Göttlichen nun nicht mehr (wie früher) in der Höhle, sondern allein außerhalb der Höhle – in philosophischer Schau oder im Verlassen des Körpers – erfolgen können (ausführlicher Männlein-Robert 2012a, 114– 118). Hingegen konstruiert Porphyrios mit seinem Text anhand der gewählten Belege und Bezugsautoritäten wieder eine dezidiert religiöse Höhle. Diese enthält nun besonders viele Ingredienzien und Elemente aus dem zeitgenössisch populären Mithras-Mysterienkult, die freilich platonisch interpretiert werden.²⁶ Der eigentliche Bezugspunkt zum Höhlengleichnis Platons, das hier nur anzitiert wird, liegt darin, dass die Dinge in der Höhle nur Abbilder der eigentlichen Dinge außerhalb der Höhle sind, aber auf diese transzendenten, intelligiblen Gegenstände verweisen. Indem Porphyrios nun die Nymphengrotte aus Homers Odyssee als religiöses Symbol sowohl für den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren als auch für den des intelligiblen Kosmos beschreibt (De antro 9), entwirft er ein ganz eigenes Höhlenbild. Denn trotz seiner unverkennbaren platonischen Grundhaltung in dieser allegorischen Interpretation, und trotz seiner expliziten Bezugnahme auf Platon mit dem Zitat des berühmten Höhlengleichnisses, weicht er vom streng philosophischen Höhlenkonzept Platons ebenso ab wie vom ekstatisch-religiösen Konzept Plutarchs: Zum einen bietet Porphyrios wieder eine positive Interpretation von der Welt als Höhle (freilich mit Symbolcharakter).²⁷ Zum anderen wird bei ihm die Höhle erneut zum Ort göttlicher Präsenz und göttlichen Wirkens, wobei jedoch zugleich der alte Höhlentext Homers als religiöser, allerdings philosophisch zu dechiffrierender, archaischer Text mit verborgener Tiefenstruktur kenntlich wird.
Zur Frage, inwiefern De antro deswegen zu den anti-christlichen polemischen Schriften des Porphyrios gerechnet werden kann, siehe die Diskussion bei Edwards 1996 (der diese Schrift für polemisch hält) und Maurette 2005; Penati Bernardini 1988, 122 interpretiert den starken Akzent auf dem Mithraskult ebenfalls als gegen die Christen gerichtet. So wird z. B. Mithras als „Schöpfer und Vater von allem“, als Demiurg, aufgefasst, siehe De antro 6, dazu Alt 1998, 470. Siehe Aristot. frg. 12,1 Rose (De philosophia frg. 13a Walzer und Ross) = Cic. nat. deor. II 95 – 96, ausführlicher dazu ist Zepf 1958, 360 – 371.
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Topographien, Praktiken und Phantasien des Unterweltlichen Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freyem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe. (Goethe an Johann Caspar Lavater am 22. Juni 1781; Goethe 1976, 365)
1 Im Inneren grübeln – in die Tiefe abtauchen: Kafka und Verne Eine der letzten Erzählungen von Franz Kafka, „Der Bau“ betitelt (1923/24), handelt von einem Tier, das einen gewaltigen, hyperkomplexen, unterirdischen Bau anlegt, um sich vor seinen Feinden zu schützen und einen sicheren Speicher für die großen Mengen erbeuteten Fleischs zu schaffen (Kafka 2002a, 576 – 632; Kafka 2002b, 142 – 146, 428 – 467). Das Tier ist überaus besorgt, unruhig, ständig mit der Konstruktion des labyrinthischen Baus beschäftigt, teilweise von Verfolgungsphantasien gepeinigt, getrieben von Kontrollzwang und einem unstillbaren Perfektionswahn, welche die andere Seite der abgründigen Angst darstellen. Aufgrund der panischen Persönlichkeit des Erbauers kann der Bau niemals fertig werden. Es ist ein unendlicher Bau, ein infinites Kunstwerk, ein unendlicher Text, eine niemals vollendete Verteidigungsanlage. Je mehr Angst, umso mehr Investitionen in Sicherheitsarchitekturen; umso höher das Sicherheitsniveau, umso tiefer die Sorge und die Furcht vor Verfolgern. Die Angst wird von einem mächtigen Strom aus Konjunktiven getrieben: Was hätte das Tier anders einrichten müssen? Welche Feinde könnten von überall her den Bau bedrohen? Die Phantasie überwuchert und beherrscht in gewundenen Verschlingungen und Wucherungen, in mäandernden Gedankengängen und peinigenden Gefühlstunneln die Wahrnehmung und die Überlegung. Im Sinn der Studie von Bernhard Meyer-Sickendiek Tiefe. Über die Faszination des Grübelns (2010) ist das kafkasche Tier ein Paradefall des abgrundtiefen Grübelzwangs, aus dem es keine Befreiung gibt, ein Fall pathologischer rumination.
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Nur gelegentlich ist dem Tier eine Entspannung gegönnt, ein tiefer Schlaf, ein glückliches Sich-Einschmiegen in irgendeine der vielen kleinen Höhlen, die das Tier im weiten Umfeld um den unterirdischen „Burgplatz“ gebaut hat.¹ Dieser Burgplatz ist das Zentrum eines verzweigten Verteidigungssystems, das durchaus Ähnlichkeiten mit den Tunnelsystemen in Festungsanlagen des Ersten Weltkriegs aufweist. In den kurzen Entspannungsphasen empfindet das Tier Frieden, Stille und Glück. Es ist ein Zustand der maternalen Umhüllung und Einswerdung, eines fast ozeanischen Flows zwischen Höhle und Tierkörper. Hellsichtig erkennt das Tier, dass es zwischen ihm und dem Bau keine Differenz gibt: Der Bau vergegenständlicht und objektiviert unmittelbar die Architektur des Ich. Darum wird alles, was im Bau geschieht, instantiell präsent im Ich. Das unterirdische Reich ist zwar ein Produkt des Ich, aber das Ich wird zum Gefangenen ebendieses Reichs. Es ist ein paranoides System der Angst, der Abwehr und der Kontrolle, das scheinbar nach außen, gegen den Feind gerichtet ist, im Effekt aber das Tier selbst beherrscht. Das Tier lebt allein, zölibatär, autistisch, aversiv gegen jede Beziehung, die nur als Störung oder Angriff wahrgenommen wird. Beruhigt ist das Tier nur, wenn Leere und Stille herrschen. Objektlosigkeit ist das Schönste; dann ist das Subjekt absolut. Alles ist Ich, nichts ist anders, nichts Anderes als Ich. Dann hat, für eine kurze Spanne, das Tier, das im Untergrund wohnt und schuftet, einen Grund gefunden; während in den Zeiten der panischen Bauarbeit sich in der Phantasie ein Abgrund nach dem anderen öffnet. Das Tier will einen Grund finden, so wie es Goethe von der Pflanze sagt: „Im tiefen Boden / bin ich gegründet“.² Doch das kafkasche Tier, anders als die Pflanze, wühlt sich ununterbrochen in den Boden ein und verliert sich eben dadurch im Grundlosen und Abgründigen. Das Unterirdische soll der Schutz- und Fluchtraum sein für das Ich, das nichts so sehr fürchtet wie Begegnung und Berührung durch ein Anderes. Der gesamte sensomotorische Apparat, der erschöpfende Arbeitsaufwand, die angespannte Aufmerksamkeit stehen völlig im Dienst eines ruhelosen Kontrollwahns und einer manischen Angst. Ein typischer Fall von dissoziativer Gedankenflucht, bei der jede Überlegung die andere jagt und auflöst. Nun muss jeder unterirdische Bau einen Eingang haben – dies ist die verletzlichste Stelle des Baus. Und um zu kontrollieren, was draußen geschieht und
Kafka hat seiner letzten Freundin Dora Diamant gegenüber „scherzhaft und im Ernst“ davon gesprochen, dass sie der „Burgplatz“ sei (Kafka 2002b, 143). Dann wäre das Tier eine Figuration Kafkas und die Erzählung autobiographisch. Dieser Spur soll hier nicht gefolgt werden. Vgl. dazu Diamant 2013; Stach 2010. Das Zitat entstammt Goethes Gedicht „Im Vorübergehn“ (1987a, 84– 85). Dies ist das korrespondierende Gedicht zum ungleich berühmteren „Gefunden“ von 1813.
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ob der getarnte Einschlupf in die Höhle sicher ist, liegt das Tier oft tagelang in einiger Entfernung im Gebüsch auf der Lauer und beobachtet den moosbedeckten Eingang. Das Tier belauert sozusagen sein Alter Ego. Es phantasiert einen Partner, der im Inneren alles kontrolliert, während es selbst draußen auf Wache ist, und umgekehrt. Doch diese Phantasie kann niemals realisiert werden, weil dafür das Tier Vertrauen haben müsste und ebendies, Vertrauen als Grundlage von Interaktion und Kooperation, kann das Tier nicht aufbringen. So ist es in der listenreichen Höhlenarchitektur allein und doch fremdbestimmt, denn immer droht Gefahr oder Angriff durch ein Anderes. Dabei ist das Tier selbst ein harter Jäger ohne Empathie, der kleinere Tiere massenhaft tötet und dem Nahrungsspeicher einfügt. Das Pendel zwischen Angst und Sicherheitsmaßnahmen führt schließlich dazu, dass der Höhlenbewohner nicht nur Feinde von der Erdoberfläche her fürchtet. Sondern eines Tages hört das Tier ein Zischen, Pfeifen oder Rauschen, mal mehr, mal weniger, mal da, mal dort, schließlich überall. Dieses Geräusch lässt die panische Phantasie gewaltig anschwellen. Wenn das Tier immer schon die Bedeutung aller umweltlichen Zeichen zu enträtseln suchte, so läuft die Deutungsmaschine nun auf Hochtouren. Im Zustand größter Angst und auswegloser Pein lauscht das Tier auf das ubiquitäre Geräusch. Unmöglich herauszufinden, wovon das Pfeifen ausgeht. Es ist ein Tinnitus aus dem Inneren des paranoiden Undergrounds, in dem das Tier gefangen ist. – Kein Zweifel, die Erzählung ist eine meisterhafte Studie über projektiv identifikatorische und paranoische Systeme. Aufs Treffendste erfüllt die Erzählung, die gerade in den Sicherungen das Grundlose entdeckt, den Titel der Entsicherten Tiefen. ³ Das zweite Beispiel liegt genau zwischen der Romantik und Kafka. In der Romantik wurden die poetische Sehnsucht und die tödliche Gefahr des Tiefen und Abgründigen vielfach durchprobiert. In Jules Vernes Roman 20000 Meilen unter dem Meer (frz. Vingt mille lieues sous les mers) von 1869/70 (Verne 1991) hat sich der Protagonist Kapitän Nemo in den Tiefengrund des Meeres zurückgezogen, in ein völlig autarkes, technisch perfektes U-Boot mit einer gesichtslosen Mannschaft, die – wie das U-Boot selbst – nichts als eine instrumentelle Erweiterung Nemos ist. ‚Nemo‘ heißt so, wie sich Odysseus gegenüber dem höhlenbewohnenden Zyklopen Polyphem nennt: Outis (Οὖτις), dt. niemand, keiner, lat. nemo, altlat. hemo – Mensch. Der Kapitän ist nemo nostrum, keiner von uns, auch: kein Mensch. Denn er hat mit der Menschheit gebrochen und mithilfe seines hypertechnischen Systems im Untermeerischen eine heimatlose Heimat gefunden.
Entsicherte Tiefe, so lautete der Obertitel der Konferenz, die dem vorliegenden Sammelband voranging.
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Nemo ist einer dieser genialen Wissenschaftlertypen mit perfekt eingekapseltem Ich (das ist sein U-Boot). Unerkannt und ruhelos durchstreift er die Weltmeere und erforscht die üppige, gewaltige, ebenso schöne wie erhabene Tiefendimension der Natur. Das künstliche technische Milieu ist in seiner unverletzlichen Autarkie auch ein Bild des fichteschen absoluten Ich. Von der Menschengesellschaft radikal abgewandt und in seiner Freiheit durch nichts eingeschränkt, hängen Nemo und sein System völlig von der nutritiven und energetischen Potenz des (mütterlichen) Meers und der technischen Hülle, dem uterinen U-Boot ab. Nemo ist nicht nur ein Misanthrop (allerdings mitleidig mit den kolonisierten Völkern), sondern auch ein Parasit des Meeres und, von der Technik her gesehen, ein Parasit ebender Kultur, von der er sich polemisch abgewendet hat. Er agiert wie ein Solitär von Max Stirner oder wie ein nietzscheanischer Herrenmensch, ein autoritärer, zölibatärer Alleinherrscher seiner mobilen Reichszelle in der Tiefe, ein Verehrer der unterirdischen Natur, in der er das Weibliche und Mütterliche, dem er verfallen ist, niemals erkennt. Nemo ist nicht nur der nautische Nachfahre des Odysseus, sondern die technische Realisation des absoluten romantischen Subjekts. Dessen Schwundstufe ist das in die Erde eingegrabene, paranoide kafkasche Tier, ebenfalls ein Nachfahre der romantischen Jünglinge, die in den Berg einfahren, um dort, im Zauberreich der poetischen Mineralien, ans Ziel ihres Begehrens zu gelangen (Novalis, Hoffmann, Tieck).⁴
2 Das „unüberschaubare seelische Höhlensystem“ Nichts ist ohne Grund, nulla est sine ratione, so lautet der Satz vom Grund. Wohl kaum dürfen wir bei den entsicherten Tiefen vergessen, dass in den unterirdischen Phantasien zwischen der Romantik und Kafka – oder Alfred Kubin (1998) und später etwa Hermann Kasack (1996) – es immer auch um den Grund und den Abgrund geht. Der Grund ist to hypokeimenon, das Darunter- und Zugrundeliegende, das lateinisch zu subiectum wird, während hypostasis das Darunter-Stehende, die Basis meint, wodurch Dinge und Lebewesen ihr Sein oder ihr Wesen (ihre ousia/οὐσία) und ihren Bestand erlangen. „… überall ist unser Aufenthalt in der Welt, ist unser Gang über die Erde unterwegs zu Gründen und zum Grund“, so meint Heidegger: „Ergründen und Begründen bestimmen unser Tun und Lassen.“
Das Unterirdische als ein paradigmatisches Thema der Romantik wird hier nicht behandelt (vgl. dazu Lesser 1987; Böhme 1988; Gold 1990). Siehe auch Sous Terrain 1993; Eicher 1996; Uerlings 1996; Unterwelten 1993; Böhme 2014.
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(1957, 26) Mag sein; und mag auch sein, dass Goethe, auf dem Granit des Brockens sitzend, glaubte, mit dem Urgestein und damit dem Sein überhaupt verbunden zu sein, das ihn trägt und Sicherheit vermittelt (vgl. Goethes „Granit II“ [1987b, 503 – 507]). Die moderne Erfahrung aber ist, dass der Satz vom Grund eine Suchbewegung auslöst, die geradewegs ins Abgründige führt, zur Preisgabe und zur Angst. Alles könnte ohne Grund sein und wir wären dann Ausgesetzte wie OutisOdysseus, Nemo oder das kafkasche Tier. „Wir scheinen durch diesen Satz [vom Grund] ins Bodenlose zu stürzen.“ (Heidegger 1957, 105) „Der Satz vom Sein bestürzt uns, und zwar aus einer Richtung, die wir nicht vermuten.“ (Heidegger 1957, 105) Dies beschreibt die Lage im paranoetischen, subterranen Bau des kafkaschen Tiers. Um dies zu vermeiden, muss man wie Kapitän Nemo hyperkomplexe technische Systeme zur Grundlage eines peregrinen Daseins machen, in einem selbst wieder grundlosen Vertrauen in Technik und mütterliche Natur. Auf dem Meer des Zufalls, der ohne Grund ist, sine ratione, muss man eine Art heroische Selbstermächtigung ins Werk setzen, um als Nemo doch Jemand, ja ein absolutes Subjekt zu sein und zu bleiben.
3 Mächte, Architekturen und Lebewesen des Unterirdischen Im Fortgang soll eine Topographie des „unüberschaubaren seelischen Höhlensystems“, wie es Durs Grünbein nennt (2007, 93), skizziert werden, wobei es sowohl um die Tiefen der Seele wie um die Tiefen der Erde (und des Himmels) gehen soll. Die Seele ist für Grünbein nicht ortlos und immateriell, sondern sie ist ein Höhlensystem, das sich durch die Körper aller Menschen hindurchzieht. Weil die Höhle das allen Menschen Gemeinsame ist, kann sie als eine der Master-Metaphern der Anthropologie gelten. Das Wissen über den Menschen wird in Analogie zur Speläologie verstanden, als Expedition in einen dunklen Untergrund, von dem es Anschauungen und Vorstellungen erst zu gewinnen gilt. Die Sonde dieses Wissen ist die kühne Phantasie, ein poetisches, sprich: essayistisches und experimentelles Denken. Dieser Modus speläologischer Menschenforschung ist nach Grünbein kein Privileg der Dichter, sondern diese teilen ihr Verfahren mit einem „Heer von Phänomenologen“. Diese sind Explorateure der psychophysischen Stratigraphie oder Tektonik des Menschen und bilden „unabhängige Suchtrupps“ zwischen Wissenschaft und Poesie. Dabei spielt die Metaphorologie als Verfahren zur Produktion eines nicht-begrifflichen Wissens eine zentrale
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Rolle.⁵ Unser Leitwort ist also cavum, die Höhle. Damit sind nicht nur die natürlichen Höhlen oder der Untertage-Bergbau angesprochen, nicht nur die technischen Versorgungsnetze unter unseren Städten und die Millionen von Tunneln unserer Verkehrsinfrastruktur, nicht nur der Raum unter der Meeresoberfläche, nicht nur das Unterirdische des Geistes, also das Unbewusste, nicht nur der physiologische Raum unter der Haut oder die Mundhöhle, die voller Überraschungen ist (Böhme et al. 2015). So stelle ich aus den verschiedensten Provinzen der Wissenschaften, im Sinne Grünbeins, „unabhängige Suchtrupps“ zusammen, die „die uns allen gemeinsame Vorstellungswelt“ erweitert und dabei das anthropologische, marine und montane Wissen bereichert haben. Ich beginne mit den Vulkanen. Sie sind komplexe geophysikalische Phänomene, die zu wissenschaftlichen Objekten gemacht und als solche erforscht werden, das nicht erst mit der pseudo-vergilischen Abhandlung Aetna (PseudoVergil 1963) beginnt (vermutlich von Lucilius Iunior, einem Freund Senecas, der seinerseits ein früher Erdbeben-Forscher war).⁶ Die längste Zeit der Geschichte aber wurde die Erde als Lebewesen verstanden, als Schauplatz göttlichen Handelns oder einer mythischen Natur (Bredekamp 1981; Perrig 1983; Fehrenbach 2001). Dann geht es nicht um Daten, Prozesse, Gesetze, sondern um kulturelle Semantiken. So werden Vulkanausbrüche (wie auch Erdbeben) als Strafe Gottes gedeutet oder als Expressionen des Inneren des Erdleibs, die die Grenzen der Kultur niederreißen. Dabei wechselt man von der Matrix physikalischer Ereignisse ins Bedeutungsschema der Katastrophe, die Regionen und Kollektive trifft (Briese und Günther 2009; Briese 2009). Der Lavastrom verwüstet ganze Städte wie einst Pompeji, oder er führt zu einer globalen Kälteanomalie, wie etwa 1816, dem Jahr Das vollständige Zitat von Grünbein lautet: „Man stelle sich vor, es gäbe ein Denken, das an bestimmte, sonst nur schwer zugängliche Stellen kommt, wie Zahnseide zwischen die hinteren Backenzähne oder ein Endoskop in den Magen. Gewisse Stellen wird es überhaupt zum erstenmal anschaulich machen, einzelne Nebengänge des unüberschaubaren seelischen Höhlensystems, das sich durch die Körper aller Menschen zieht und nur durch findige, kühn in die noch ungesicherten Stollen vorstoßende Phantasie entdeckt werden kann. Dieses Denken ist das poetische Denken, und es ist keine Domäne der Dichter und Literaten, vielmehr die Methode vieler kleiner Suchtrupps, die aus verschiedenen Richtungen aufgebrochen sind, ohne voneinander zu wissen, ein Heer von Phänomenologen, das daran arbeitet, die uns allen gemeinsame Vorstellungswelt zu erweitern.“ (2007, 93) Siehe dazu Seneca 1999; Seneca 1990 (hier: Buch 6: Erdbeben); Bianchetti 1998. Vgl. die berühmte Schrift von Sir William Hamilton Beobachtungen über den Vesuv, den Aetna und andere Vulkane, in einer Reihe von Briefen an die Königl. Großbr. Ges. der Wiss. aus dem Jahr 1773. Über Hamilton und seine Frau Lady Hamilton, im vergeblichen Versuch, die unergründlichen Tiefen des Vulkans mit denen der Frau zusammenzubringen, hat Susan Sontag einen die KatastrophenFaszination des achtzehnten Jahrhunderts gut erfassenden, erzählerisch recht simplen Roman geschrieben: Der Liebhaber des Vulkans (1993).
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ohne Sommer. Das Jahr 1816 nannte man damals: „Eighteenhundredsixteen and frozen to death“. Goethe fror in Weimar genauso wie Lord Byron, Mary Shelley und John Polidori in ihrer Kommune am Genfer See, wo man sich gothic novels zur Seelenheizung ausdenken musste (den Frankenstein-Roman von Mary Shelley oder die Vampir-Erzählung von John Polidori): durchweg eine Prosa der ‚entsicherten Tiefe‘. Was war geschehen? Der Winter ging auf den Ausbruch des Tambora auf Sumbawa zurück, 12 000 Kilometer von Mitteleuropa entfernt. Dieser hatte mit einer Sprengkraft von 170 000 Hiroshimabomben (so schätzt man heute) gewaltige Mengen von Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert, die sich um den Erdball legten. Agrarkrisen, Hungersnöte, Frost, Überschwemmungen, Migrationen waren die Folge, aber auch staatliche Förderungen der Landwirtschaft (Justus Liebig) oder die Ersetzung der verhungerten Pferde durch Draisinen etc. (Behringer 2015; Wood 2014). Derartige Katastrophen mitten im Take-off der Moderne erinnerten nicht nur an die Todesgötter, welche die „Herren der Tiefe“ (Ovid) sind, sondern sie pointierten auch die Abhängigkeit von der Erde, der man entstammte. Der Mensch ist terrigenus, ein Erdling. Doch diese Erde, die Magna Mater (Saß und Wendeholm 2017), barg in ihren Tiefen grausame Kräfte, deren Fanale die Vulkane und Erdbeben waren.Was unten und drinnen ist, das ist das Böse und Schreckliche. Nicht umsonst sind die Hölle und der Hades (die Räume der Verdammnis und des Todes) genauso wie die Kriminalität stets Unterwelten.⁷ Darum ist das Unterirdische auch das Unheimliche und Angsterregende. Unsere kulturelle Topographie, sofern sie durch die vertikale Raumachse bestimmt ist, ist wertmäßig codiert: ‚Unten‘ ist das Dunkle, Böse, Niedrige, Unedle, Wüste, Hässliche, Triebhafte und Angstmachende (aber auch die Schätze der edlen Metalle); ‚oben‘ ist das Lichte, Gute, Hohe, Schöne, Wahre, Geistige, Erhabene (aber auch die furchterregende Leere des Weltraums). Diese Leitdifferenz beherrscht nachhaltig die symbolische Ordnung unserer Kultur (Böhme 2007). Es gibt nur wenige Figuren, die diese Kluft zwischen dem Gegensatz von Unterwelt und Höhe überschritten und überlebt haben: Odysseus, Orpheus, Jesus und Vergil in Dantes Divina Commedia. Man muss sich klarmachen, wie viele Wissenschaften und Techniken aufgeboten wurden, um die von Phantasmen belebte Erdinnenwelt zu rationalisieren: Geologie, Seismologie, Vulkanologie, Meeresbiologie, Tiefseeforschung, Montanwissenschaft, Klima- und Glazialforschung einerseits. Andererseits all jene Techniken, welche die unterirdischen Architekturen errichten: die Tiefbauzechen, die Tunnelbauten, die Tiefsee-Erschließung, U-Boot- und Tauchtechnik. Man denke ferner an die großstädtischen Unterwelten, die Kanalisation, die
Zu Topoi und Semantiken von Unterwelten vgl. Schinkel 2014.
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Elektrizitäts-, Versorgungs- und Informationsnetze, die Geothermie-Anlagen, die unterirdischen Verkehrswege für Bahn und Autos, die transregionalen Pipelines und unterseeischen Kabel-Highways. Nicht zu vergessen sind die militärischen Bunkeranlagen, die unterirdischen Kriegsstrategien, nicht nur der U-Bootkrieg, sondern z. B. auch der Tunnelkrieg der Nordvietnamesen, der Krieg aus dem Untergrund, sei es von Partisanen oder Terrorristen. Denken wir auch an die unterirdischen Fabriken der NS-Rüstungsindustrie oder die iranischen Atomfabriken. Schließlich die Anlagen unterirdischer Regierungszentralen – der Führerbunker, der unterirdische Regierungsbunker der Bonner Republik bei Ahrweiler (heute Museum) oder die atombombensichere Verbunkerung der Schweizer Regierung in der Tiefe der Alpen. Relevante Speicher, Lager, Archive werden bevorzugt unterirdisch angelegt, Atommüll-Lager ebenso wie Lebensmittelspeicher, der tiefgefrostete Svalbard Global Seed Vault oder der „zentrale Bergungsort der BRD“ im Barbara-Stollen eines stillgelegten Bergwerks bei Oberried im Schwarzwald. Dort werden seit 1975 für den worst case eines kriegsbedingten ‚Totalschadens‘ der deutschen Kultur seit über vier Jahrzehnten in Titanstahlcontainern die mikroverfilmten Dokumente der deutschen Kulturgeschichte eingelagert. Bevor man dieses Langzeitprojekt bespöttelt, sollte man nicht vergessen, dass nahezu alle alten Kulturen und alle Zeugnisse der Evolutionsgeschichte unter der Erde liegen. Darum auch ist die Archäologie zur paradigmatischen Wissenschaft der Kulturgeschichte, der Paläoanthropologie, der Evolutionsbiologie geworden. Kurz: Die Relikte in der räumlichen Erdtiefe sind zugleich die Zeugnisse der geohistorischen wie der humangeschichtlichen Tiefenzeit. Das Erdinnere ist ein gewaltiges Archiv, von niemand anderem angelegt als der vergehenden Zeit selbst. Und dann das unterseeische Reich, Nemos Welt. Die gewaltigen Wasserflächen verhüllen ein ganzes Universum. Das Wasser beherbergt den weitaus größten Anteil an Flora und Fauna des Globus, von den Kleinstlebewesen bis zu den Giganten des Meeres, den Walen, die uns, die wir die Meere zu unserem Dominium gemacht haben, vielleicht nicht überleben werden. Ferner dann die nachtschwarze Meerestiefe: Die dort verborgenen Mineralien und Rohstoffe betrachten wir als Ressourcen, etwa Manganknollenernte in 6 000 Meter Tiefe. Weltweit sind Explorationslizenzen für den Tiefseebergbau beantragt oder bereits erteilt. Der Staatssekretär im Wirtschafts-Ministerium spricht über „Tiefseebergbau: Technologische und rohstoffpolitische Potenziale für die deutsche Wirtschaft“. Wegen dieser Potenziale entstehen erbitterte Rivalitäten um Meereshoheiten, Schürfrechte für Erzschlämme, Kobalt, Mangan, Nickel, Kupfer, Eisen, Sulfide und Mineralien, Konkurrenzen um Erdöl- und Gasförderungslizenzen, um Ressourcensicherung in der Arktis und Antarktis – um Reichtümer unter dem Eis. Nichts sind dagegen die sagenhaften Schätze der Nibelungen oder der spanischen
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Kolonialisten, deren goldbeladene Koggen untergingen (und die dann von Kapitän Nemo geborgen werden, um sie an die armen Völker zurückzugeben). Teilweise ist die Ausbeutung der Meerestiefen noch Zukunftsmusik. Gegenwart ist indes die Verschmutzung der Meere nicht nur mit Chemikalien, sondern mit nicht-abbaubarem Plastikmüll und Mikropartikeln, mit fatalen Folgen für die Nahrungskette. In die fünf weltweit größten Meeresdriftwirbel im Pazifik und Atlantik werden hunderte Millionen Tonnen von nicht-abbaubarem Plastik hineingezogen. Der Great Pacific Garbage Patch hat einen Durchmesser von mehreren tausend Seemeilen. In den Mägen von Fischen und Seevögeln finden sich Plastikteile, im Gewebe reichern sich die unsichtbaren Nano-Plastikteile an. In der Unterwelt spielt sich die größte Umweltkatastrophe ab. Eine völlig neue Dimension der Tiefe wird von einer überraschenden, fast unheimlichen naturwissenschaftlichen, genauer: geochemischen und mikrobiologischen Entdeckung eröffnet, deren Tragweite noch unabsehbar ist. Geobiologen haben in den Tiefen der Kontinentalkruste und weit unterhalb der ozeanischen Kruste außergewöhnliche Mikroben mit erstaunlich differenzierter DNA entdeckt: Sie leben im Gestein, in Temperaturen bis zu 113 Grad, vielleicht auch bis zu 150 Grad, in völliger Dunkelheit, bar jeden Sauerstoffs, abgeschnitten von jeder organischen Nahrungs- und Energiequelle. Es sind anaerobe Einzeller, die nach Schätzungen der Wissenschaftler bis zu 30 Prozent der gesamten Biomasse der Erde ausmachen könnten. Sie finden sich weltweit im heißen Tiefengestein und haben eine neue, aufregende Sparte der Geobiologie begründet: die Mikrobiologie tiefer Sedimente, die sogenannte „tiefe Biosphäre“ (Deep Biosphere). Das uns bekannte Leben hat unerwartet gewaltigen Zuwachs erhalten. Was dies hinsichtlich der Konzepte und Begriffe des Lebens, der Geohistorie und der Ökologie bedeutet, ist noch nicht abzusehen. In Bohrkernen aus kilometertiefem Sedimentgestein von 110 Millionen Jahren: uraltes Leben von thermophilen Archaeen. Die Dichte der mikrobischen Besiedlung des Gesteins, das auch Granit oder Basalt sein kann, hängt von lokalen Umständen ab. Die Aktivität und der Energieumsatz der Mikroben sind extrem verlangsamt und sparsam. Zellteilungen geschehen nicht – wie auf der Erdoberfläche oder in unserem Körper – in rasendem Tempo, sondern, wie es scheint, im Rhythmus von Jahrzehnten oder Jahrhunderten. Dennoch finden sich die Anaeroben weltweit. Das Tiefengestein der Erde und der Ozeane ist ihr Besitz. Spezielle Viren, Bakterien, Pilze gehören ebenfalls zu den Bewohnern des Tiefengesteins. Immer mehr Arten von Archaeen oder Bakterien werden entdeckt. Es herrscht tief unter Tage eine überwältigende Biodiversität. Sind diese Lebewesen womöglich der Ursprung des Lebens? Und werden sie womöglich alles andere organische Leben, also auch uns, überdauern? Sind sie nicht geschützt in mehreren Kilometern Tiefe vor terrestrischen Katastrophen,
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Klimawandel, Nuklearkriegen, Meteoriteneinschlägen? Sind diese Überlebenskünstler unter feindlichsten Bedingungen vielleicht als Passagiere eingeschlossen in die anorganische Masse von Meteoriten aus dem Weltall zur Erde gekommen? Aber wie haben sich diese winzigen Einzeller ohne motorischen Apparat über die Unterwelten der Meere und Kontinente verbreitet? Vor allem aber: Wie können sie überhaupt leben? Denn das steht für den alltäglichen, aber auch für den durchschnittlichen wissenschaftlichen Verstand fest: Zur Nahrung von Organismen können Steine nicht dienen. Was leben will, benötigt Stoffwechsel oder, wie die Pflanzen, Photosynthese, also Techniken der Energietransformation. Offenbar lernen wir eine neue biochemische Lebenstechnik kennen: Diese Mikroben essen Stein, sie sind Felsfresser, Lithophagen. Ihre Lebensweise ist endolithisch: Leben im und vom Stein. In der geobiologischen Terminologie bilden sie die Klasse der „chemolithoautotrophen Bakterien“. Die Energie, welche die autotrophen Steinfresser zu ihrem Erhalt benötigen, beziehen sie aus der Metamorphose des Steins, aus ‚verdautem Stein‘. Darum heißen sie Lithophagen. Das Gestein aber, zumal in heißen, lichtlosen Tiefen, erscheint uns als extrem lebensfeindlich. Doch es ist für die chemolithoautotrophen Bakterien genau jenes Milieu, das sie leben lässt und das sie metabolistisch nutzen. Im Feld der unterweltlichen Biosphäre stehen unabsehbar folgenreiche Anwendungstechniken bevor, wenn es z. B. gelingen sollte, den Energieverbrauch (den Stoffdurchsatz einer Gesellschaft) von der Konsumentenlogik der Heterotrophie abzulösen und Energietechniken zu entwickeln, die nicht auf die limitierten Rohstoffe zurückgreifen, sondern das Gestein als Energie- und Nahrungsquelle erschließen. Werden womöglich auch wir eines Tages mittels neuartiger Biotechnologien zu Symbionten des Gesteins werden? Werden wir zu Kindern des Prometheus, der, Ovid folgend, ohnehin unser Urvater ist? Die erste Umweltschädigung, die eine öffentliche Diskussion auf sich zog, war nicht zufällig eine Tiefenraum-Technologie, nämlich der Bergbau: In Paulus Niavis’ Buch Iudicum Iovis oder Das Gericht der Götter über den Bergbau klagt die geschundene Terra ihr Kind, den Bergbau treibenden Menschen, wegen der Schändung des Mutterleibs an: Die verwüstenden Folgen des Montanwesens wirkten sich verheerend auf Grundwasser und Flüsse aus; durch Abholzung wurden Landschaften zerstört, Tiere vertrieben und die Fruchtbarkeit der Erde unterminiert, mit der Folge von Lebensmittelknappheit und Teuerungen (Niavis 1953). Gewaltige Anstrengungen waren zur Deckung des Wasserbedarfs in der Verhüttung notwendig: Wasserabschöpfungen wurden als schädigende Eingriffe in den Wasserhaushalt der Natur verstanden. Dieser Text von 1485/90 entstand während des ersten kapitalistisch-technologischen Entwicklungsschubes des Montanbaus. Paradigmatisch dafür ist die montantechnische und ökonomische
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Karriere der österreichischen Bergbaustadt Schwaz vom fünfzehnten bis ins achtzehnte Jahrhundert. Der Montanbau reflektiert eine Legitimationskrise, innerhalb derer die Ausbeutung der Berge zum „Gleichnis der globalen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur“ wurde (Bredekamp 1984, 267). Das Traktat von Paulus Niavis, wie auch einige Passagen in dem überwiegend fortschrittsfreundlichen Werk De re metallica (1556) von Georg Agricola, bezeichnet erstmals die Grenzen, die der Ausbeutung der Erde gesetzt werden müssen. Zwar wird im Urteilsspruch des Jupiter das Durchwühlen der Erde nach Schätzen als unausweichlich lizensiert; doch bestehe bei allen Unternehmungen des Menschen ein hohes Risiko und er müsse der Erde durch seinen Tod Tribut leisten. Die Tiefe – ob im Bergbau, in Höhlen oder in der Tiefsee – ist ein Risikoraum par excellence, Gefahren, Unheimlichkeit und Tod, aber auch Faszination und Reichtümer bergend. Es ist derjenige Raum, an welchem in unzähligen praktischen Maßnahmen jene für das soziale Leben ohnehin notwendige Balancierung von Risiko und Sicherheit durchexperimentiert worden ist. Dennoch: Zahllos bleiben in der Tiefe die Toten ohne Grab.
4 „Höhlenausgänge“ und „Der Seelen wunderliches Bergwerk“⁸ Mit dem Bergbau sind wir vom Meer zum Festland gewechselt. ‚Unterwelten‘ sind hier zuerst die Höhlen, die auch als Wohn- und Schutzräume von eiszeitlichen Stämmen benutzt werden konnten. Das belegen Höhlenzeichnungen und abertausende von Knochenfunden (Leroi-Gourhan 1982). Höhlen und Grotten weisen eine eigene Mythologie auf, nach welcher die Menschheit sich aus den bergenden Höhlen langsam ans Licht und in weite Räume kulturell vorgearbeitet hat. Der Mensch, so der Philosoph Hans Blumenberg in seinem Buch Höhlenausgänge (1988), kommt aus den Höhlen. Sie waren und sind (in ihren symbolischen Stellvertretungen wie Uterus, Bett, Haus, Heimat) sein umhüllender Schutzraum und zugleich der Ausgangsraum des Lebens, aus dem die Geschichte herausstrebt, um ein Leben im Licht der (Erd‐)Oberfläche zu führen. Höhlen sind, so der wissenschaftliche Mythos, der geschichtslose Grund des Geschichtlichen. Bei Aischylos befreit der Kulturbringer Prometheus die prähistorische Menschheit
„Der Seelen wunderliches Bergwerk“ ist ein Zitat aus Rilkes „Orpheus. Eurydike. Hermes“: „Das war der Seelen wunderliches Bergwerk. / Wie stille Silbererze gingen sie / als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln / entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen, / und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel. / Sonst war nichts Rotes.“ (Rilke 1966 [1904], 298)
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aus ihrem primitiven Höhlendasein, indem er ihnen Kulturtechniken vermittelt (Der gefesselte Prometheus, Verse 436 – 506). Platon erzählt in seiner Politeia das Höhlengleichnis (514a–518b): Die Menschen sind von den substanzlosen Erscheinungen eines Projektionsmechanismus gefangen wie in einer Höhle. Sie halten dieses Schattenkino für ihre Realität. Aufgabe der Philosophie ist es, den Weg aus dem Dunkel der sinnlichen Welt ins Licht der Ideen zu weisen. Die Welt sei erst vom Licht der Ideen her zu begreifen, während die projizierten Schattenbilder über die Realität der Dinge täuschen – womöglich lebenslang. Die Fesselung der Zuschauer allegorisiert die Macht der Wahrnehmungsgewohnheiten, die erst, so Platon, durch Philosophie überwunden werden kann. Das Modell des geschichtlichen Aufstiegs aus dem Dunkel ans Licht der Aufklärung findet indes Kontrapunkt in der Idee, wonach sich die Wahrheit und das Wesen (des Menschen) erst nach bewältigtem Abstieg zu den Schauder erregenden Müttern (so in Faust II, Goethe 1998, 153 – 158,V. 6173 – 6306) oder in den Tiefen des eigenen Seins finden lassen: „Versinke denn! Ich könnt auch sagen: steige!“, meint Mephisto (Goethe 1998, 157,V. 6275). Und Schiller dichtet 1796/1800 über die dritte der Raumdimensionen: „Grundlos senkt die Tiefe sich / […] In die Tiefe mußt du steigen / Soll sich dir das Wesen zeigen / […] Und im Abgrund wohnt die Wahrheit“ – sehr deutsch unter dem orientalisch-weisheitlichen Titel „Sprüche des Konfuzius“ (Schiller 1987, 227). Die gelichtete, kognitiv gestaltete Erdoberfläche ist jener Grund, der den Satz vom Grund eigentlich begründet; und dieser Satz ist die Basis der Philosophie. Die kultivierte Erde aber kann, so Blumenberg, im Fortgang der Geschichte zerstört werden, sodass am Ende der Geschichte die Rückkehr in die Höhlen stehen könnte, eine Entsicherung, aus der die Re-Barbarisierung entspringt. Zwei der drei wichtigsten Dynamisierungsfaktoren der soziotechnischen Kultur – neben der Kriegstechnik die Schifffahrt und der Bergbau – sind mit der Bewältigung des Tiefenraums beschäftigt. Und der Erzbau, so sehr er die früheste Form einer Systemtechnologie war, die Handwerk und Mechanik, Hydraulik und Pneumatik, Metallurgie und Mineralogie vereinigte und eine Fülle von Gewerken zusammenführte, – der Erzbau also war seit mythischer Zeit bis hin zur Epoche Leonardos eine prometheisch männliche Arbeit am Geheimnis des Körpers der Terra. Darum mussten noch im Christentum weibliche Heilige den Montanbau patronieren, während das Bergwerk selbst für Frauen ein Taburaum war. Die heilige Anna wurde zur Schutzheiligen des Bergwerks. Durch solche Umbesetzungen versuchte man, alte Gottheiten – wie z. B. Hatho–Hekate–Isis als Göttinnen des Tiefenraums – zu verdrängen. Die längste Zeit der Geschichte herrschte mithin eine theozentrische Interpretation von Montantechnik. Die Erze und Mineralien bezeugten bis in die Neuzeit die magnalia dei.
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Zweifelsohne sind Montanbau und Metallurgie zentrale Entwicklungsfaktoren der Kultur seit der neolithischen Revolution. So ist es kein Zufall, dass der erste Dichter-Philosoph, Hesiod, die Wichtigkeit des Bergbaus für die kulturelle Evolution erkannte. Er machte die Metalle zu Markern der vier großen Kulturepochen (Hesiod 1994; vgl. dazu Böhme 2002, 449 – 456): Vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter war die Geschichte allerdings in einen abfallenden Bogen des Unheils eingespannt. Die Früchte der Montankunst, so sehr diese dem Wissen und der Technik, dem Reichtum und der Macht zuarbeiten mochte, sind ambivalent und befördern nicht nur den Fortschritt, sondern zugleich die „Tragödie der Kultur“, von der noch Georg Simmel spricht (1996). Alle Verfallstheorien nehmen an den Metallen, die der Tiefe abgelistet sind, ihren Ausgang. In ihrem Zeichen wird Geschichte gottverlassen. Krieg, innerartliche und entgrenzte Gewalt, Not, Arbeit, Entfremdung zwischen den Generationen und Geschlechtern, der Verlust moralischer Standards von Recht und Gerechtigkeit, von Treue und Liebe, während Faustrecht und straflose Gewalt, Rivalität, Verrat, Neid und Kälte regieren: Das sind bei Hesiod die Marker des Eisernen Zeitalters. Bis in die Neuzeit überlebt das Denkmuster, dass aus den Reichtümern des Erdinneren die gesellschaftlichen Übel entspringen. Die prometheische Gabe des Bergbaus ist ein Danaergeschenk.
5 Spiele der Natur im Erdinneren Was dagegen eine von der Natur selbst hervorgebrachte Strukturierung heißen kann, sieht man auf Fotos des Künstlers Mathias Kessler der Cueva de Charles Brewer in Venezuela, benannt nach einem venezuelanischen Naturforscher Charles Brewer-Carías (*1938). Kessler nutzt Strata der Erdgeschichte, von Wasser hervorgebrachte Steinformen und abgelagerte Höhlenmineralien (Speläotheme) dazu, um eine der Natur innewohnende ästhetische Formkraft zu zeigen, vis plastica naturae, die für Kessler noch immer vorbildlich ist. Dieser Gedanke führt zur Tradition der Spiele der Natur (Findlen 1990; Adamowsky et al. 2010). Sie bezeugen das ästhetische Formvermögen der Natur selbst, eine Artikulation ohne Sprache, figürlich zu uns sprechend, wie noch Kant einräumt, wenn er von einer „Technik der Natur“ spricht (Kritik der Urteilskraft; Kant 1968, B 56 und B 77). Gleichzeitig mit dem frühneuzeitlichen Bergbau entstand diese Auffassung, wonach im Inneren der Erde nicht nur Erze zu finden, sondern auch Kunstwerke zu bewundern seien: Die Lesbarkeit der Welt (Blumenberg 1983) offenbart sich im Erdinneren als figürliche Rede. Im Erdinneren wirkt die vis plastica und bringt eigenständige Formen hervor, ludi naturae. So heißt es beim Präfekten der Vatikanischen Gärten, Michele Mercati (1551– 1593):
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Es gibt Scherze der Natur im Gestein, Bilder beider Reiche von Lebewesen, versteinerte Arten, die den lebendigen gleichen […]. Dazu kommen Bilder von Werken, wie sie der Mensch erfindet, als ob ihm die Natur auch in der Kunst keine Priorität überlassen wollte, sondern deren Spuren vorgezeichnet habe. Von den Pflanzen malte sie Blätter, Früchte und Ästchen im Gestein, von den Tieren grob umrissene und dann auch vollständigere Exemplare, um sich dann ganz ohne Scheu auch der menschlichen Gestalt zu nähern […]. (zitiert nach Hölder 1989, 11)
Wunderwelten im Erdinneren! Sie wurden noch staunenswürdiger, wenn sie sich in den Kunstkammern versammelt fanden: die Glossopetren (Buchstabensteine), welche die Natur schriftkundig erscheinen ließen, die steinernen Riesenknochen, die nie gesehenen Meerestiere und Muscheln in Stein, die petrifizierten Zähne und Knochen unbekannter Lebewesen, die Mischwesen und Monstra, die Umrisse von Städten und Landschaften in poliertem Marmor, die Kruzifixe und Bildnisse von Maria oder Jesus. So traten neben die Werke der antiken Kunst, neben die Exotica der fremden Kulturen und die Artificialia des menschlichen Könnens auch die Mirabilia der Natur, die mit Kunst, Wissenschaft und Religion verbunden waren. Es entstehen gewaltige Enzyklopädien des Wunderbaren, die von heute aus gesehen als Museen einer visionären Imagination erscheinen, die spielerisch die Grenzen von Natur, Kunst und Theologie überwindet. Die Verbindung zur Theologie hing mit der Frage zusammen, ob man es hier mit göttlichen Signaturen, mit Zeugnissen der Sintflut oder mit ausgestorbenen Lebewesen zu tun hatte, die in die prädiluvianische Epoche zurückreichen. Dies sind im siebzehnten Jahrhundert nicht etwa entsicherte, sondern scheinbar dokumentarisch gesicherte, weltbildgenerierende Zeugnisse der Tiefe. Spätestens im achtzehnten Jahrhundert und in der Kunst der Romantik wurden die irdischen Berge als Archive der Tiefenzeit entdeckt. Sie sind die stumm sprechenden Zeugen der erdgeschichtlichen Dramen, die der Geognost und der Künstler zu entziffern suchten. Wenn der Montanwissenschaftler Novalis von einem „schönen Bergbau“⁹ spricht, so projektiert er damit die Ergänzung der Montankunde um eine ‚Memoria der Erde‘, die der Astronomie zur Seite tritt. Darum sind die Montankundigen, die den „Denkmalen der Urwelt“ nachforschen, bei Novalis auch umgekehrte Himmelsforscher. Sie erforschen durch Inversion in der Tiefe, was die Astronomen durch Extroversion in der Höhe erkunden: das Gedächtnis der Natur in den Spuren ihrer unvordenklichen Vergangenheit.
„Erwerbsbergbau – wissenschaftlicher, geognostischer Bergbau. – Kann es auch einen schönen Bergbau geben?“ (Novalis 1965, 543). Novalis fragt hier auch nach der Möglichkeit einer „schönen Mathematick“.
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Ähnlich konstelliert der Romantikgegner Goethe in seinen Wanderjahren die Erforschung der Himmelshöhe mit dem Berginneren (Böhme 2016).
6 „Umgekehrte Himmelskunde“¹⁰ Vielleicht ging vor zwölftausend Jahren die Inspiration für Metallurgie und Bergbau von zufällig gefundenen Eisenmeteoriten aus. Diese sind Relikte eines Schmelzprozesses, bei dem sich ein Eisenkern, ummantelt von Silikatschmelze, bildete. Derartige Kleinplaneten sind irgendwann, noch im Weltraum, durch Kollision zerstört worden, wodurch die Silikatkruste abgesprengt und der Eisenkern fraktioniert wurde. Ebensolche Relikte sind die auf der Erde gefundenen Eisenmeteoriten. Welch eine Kette von Unwahrscheinlichkeiten, damit vor Tausenden von Jahren aufgeweckte Köpfe diese silbrig schimmernden Eisenmeteoriten in Augenschein nahmen und ihre metallurgische Verarbeitung entdeckten! Gleichsam vom Himmel her begannen vielleicht Bergbau und Erzschmelze, die zuerst allerdings nicht das Eisen, sondern das leichter zu verarbeitende Kupfer zum Ziel hatte, das Kupfer, das für eines der metallischen Zeitalter seinen Namen hergab (Böhme 2006; Widauer 2005). Auch hier also wird der Gedanke der romantischen Naturphilosophie realisiert, wonach Bergbau und Himmelskunde, Tiefe und Höhe zueinander umgekehrt proportional stehen. Diese mythische Narration wird abgelöst von einer neuen Topographie, die an die Stelle der antiken Himmelsschrift tritt: das transkontinentale Korrespondentennetz der Erzlagerstätten und die technische Sprache, mit der die Mineralien und Metalle objektiviert werden. Hinabsteigen und Hinaufsteigen, in die Tiefe des Bergs oder auf die Höhen der Gestirne – die Vertikale ist die mythische Raumachse, welche den Menschen
Ein abgewandeltes Zitat von Novalis. Der Kontext dort ist: Heinrich von Ofterdingen wird von einem alten Bergmann in eine Höhle geführt, wo sie einen freiwilligen Höhlenbewohner, den Grafen von Hohenzollern, antreffen, der hier als meditativer Einsiedler und Erforscher der Geoarchitektur lebt. Unter anderem sagt er: „Ihr seyd beynah verkehrte Astrologen, sagte der Einsiedler. Wenn diese den Himmel unverwandt betrachten und seine unermeßlichen Räume durchirren: so wendet ihr euren Blick auf den Erdboden, und erforscht seinen Bau. Jene studieren die Kräfte und Einflüsse der Gestirne, und ihr untersucht die Kräfte der Felsen und Berge, und die mannichfaltigen Wirkungen der Erd- und Steinschichten. Jenen ist der Himmel das Buch der Zukunft, während euch die Erde Denkmale der Urwelt zeigt.“ (Novalis 1960, 260) – Eine ähnliche Konfiguration entwickelt Goethe in Wilhelm Meisters Wanderjahre, anhand der Figuren Montan – Makarie – Astronom (Böhme 2016, 305 – 312). Vgl. ferner das hervorragende Buch des Geologiehistorikers Wolf von Engelhardt: Goethe im Gespräch mit der Erde. Landschaft, Gesteine, Mineralien und Erdgeschichte in seinem Leben und Werk (2003, 249 – 58).
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am stärksten herausfordert. So haben die Menschen seit je ihre Leidenschaft darangesetzt, die Chiffrenschrift der Berge und die des Himmels zu enträtseln. Beide Räume, die erhabene Höhe wie die ungeheure Tiefe, galten als Sphären des Geheimnisses, in welchem nicht nur die metaphysischen und naturalen Rätsel, sondern auch die Unergründlichkeit des Menschen verborgen zu sein schien. Heute, wo alles, das Berginnere mit seinen erzenen Figuren wie die Himmelsweite mit ihrer Sternenschrift, ausgenüchtert und aufgeklärt ist, kann die Kunst nur noch die Erinnerung wachhalten an die Geheimnisse, die einst in Metallen, Meteoriten oder Sternen begegneten.
7 Mundhöhlen-Archäologie – In der Tiefe des Ich Nach diesen Beispielen verwundert es nicht, wenn im Roman Die Spange (2006) von Michel Mettler die Mundhöhle zum Protagonisten der Erzählung wird. Die entsicherte Tiefe fängt schon bei uns selbst, hinter dem Tor des Mundes an. Im Mundraum des Musikstudenten Anton Windl nämlich wird eine „Entdeckung“ gemacht: Der Zahnarzt findet „Reste einer prähistorischen Anlage“ (Mettler 2006, 13), aber nichts zahnmedizinisch Einschlägiges. Der „mundarchäologisch einzigartige Fund“ (Mettler 2006, 64) wird auf 5 100 Jahre geschätzt, wobei noch weitere, ältere wie jüngere Materialspuren und Artefakt-Fragmente sich im Mundraum Antons finden. In der Prähistorie wurde auch die Spange entwickelt, ein sakrales Mund-Artefakt, das „die ursprüngliche Ganzheit“ des Universums repräsentiert (Mettler 2006, 30 – 31). Mettler spricht, wie Durs Grünbein, von einer „Expedition in ein abgedunkeltes Gebiet“. Ziel ist eine umfassende „Mundwissenschaft“ (Mettler 2006, 18). Sie reicht „zurück vor den Beginn der Zivilisation“ und umfasst die „Lehre vom Mund und seiner Beziehung zu den Göttern“ (Mettler 2006, 18). Man erkennt das Analogieschema von Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Himmel, Höhe und Tiefe. Mundwissenschaft ist bei Mettler auch Kosmologie. Die Mundhöhle ist ein Territorium des Fremden, genauso wie das Weltall oder außereuropäische Kulturen für Expeditionsreisende im siebzehnten Jahrhundert. Man denke an das Diktum von Novalis aus der Fragmentensammlung Blüthenstaub von 1798: „Die Fantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht.“ (Novalis 1965, 417– 418). Bei Mettler sagt einer der Wissenschaftler, die den Patienten Anton untersuchen: „Wir können ja keine Expedition in vergangene Zeiten schicken. Wir müssen mit dem vorliebnehmen, was uns geblieben ist: Ihr
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Mund. […] Das nennt sich dann experimentelle Archäologie.“ Und: „Ihr Mund soll ruhig vor unserem inneren Auge die Epochen durchlaufen.“ (Mettler 2006, 324) Man erkennt, durch welche metaphorischen Operationen es Mettler gelingt, die psychischen Folgewirkungen einer oral-dentalen Traumatisierung mit der Urgeschichte der Erde und des Subjekts zu verschweißen. War dies aber nicht die tiefe Überzeugung Sigmund Freuds? Glaubte er nicht, dass unser präsentisches Bewusstsein grundiert sei von Substruktionen der Historie, von denen wir nichts wissen, wenn wir nicht wie ein Archäologe die Ablagerungen und verborgenen Objekte freilegen oder wie ein Höhlenforscher ins unerforschte Dunkel vordringen? In dieses „unüberschaubare seelische Höhlensystem“? In diese ungesicherten Tiefen?¹¹ In Mettlers Roman wird der Mund zu einer archaischen Höhle, in die Anton regrediert, gleichsam hinabsteigend in die Tiefenschichten der eigenen Existenz und der Menschheitsgeschichte, ja der Naturgeschichte und des Kosmos. Ein Bergwerk des Ich. Schon Romantiker wie Schubert, Novalis, Hoffmann oder Tieck verwandelten die subterrane Erdtiefenwelt in eine Topographie des Menscheninneren und Unbewussten. Man steigt in das eigene Innere wie in Schacht und Stollen und begegnet einer unentdeckten Welt, neu und uralt, befremdlich und vertraut, ein platonisches Höhlenkino, das zugleich ein Kino des Unbewussten, nämlich der verschütteten Phantasien ist. Anton gibt vor, keine Ahnung zu haben, wie die wundersamen Objekte in seinen Mundraum gekommen seien. Die Mundhöhlen-Artefakte sind Symptome, gleichsam kunstvolle Tumore früher seelischer Störungen. Die Expedition in die Mundhöhle fördert nicht nur biographisches, sondern auch fremdkulturelles und prähistorisches Material zu Tage. Bei einem filmisch festgehaltenen Bergungsversuch, den Anton über einen Monitor verfolgt, macht er „im innersten Ring der arenaförmigen Anlage“ eine winzige „zweite Ich-Person“ aus, „ein Ich, aus dessen Mund Geschichte sprach, dreitausend Jahre menschlichen Bemühens“ (Mettler 2006, 32) – aus dessen Mund allerdings auch ein ungelenkes Liedchen erklingt, das Anton „unwillkürlich“ mitsummt, denn er ist ja selbst diese „zweite IchPerson“ – wie alle weiteren Ichs. Denn im hohlen Zahn des einen Ich sitzt ein weiteres Ichlein, in dessen hohlem Zahn noch ein Ich sitzt – et sic in infinitum. Anton nennt diese im Mundbergwerk verborgenen Zweit-Ichs fortan Tom, eine Figuration seines Ich. Bei jeder Objektberührung hört er „eine Stimme aus dem Off“ wiederholen: „‚Bin ich das?‘ ‚Bin ich das?‘ ‚Bin ich das?‘“ (Mettler 2006, 243). Identitätsdiffusion wäre ein zu mildes Wort für die splitting identity von Antons Selbst.
Zu Freuds Archäologie der Tiefe vgl. Marinelli 1998; Benthien et al. 2010, 11– 19.
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Man darf die Expedition in Antons Mundhöhle als eine Maskierung der psychoanalytischen Kur verstehen. Das cavum oris ist vieles zugleich: der Raum einer wissenschaftlichen Exploration; die Sphäre eines grandiosen Phantasmas; eine archaische Höhle, in die Anton regrediert; Tiefenschichten des Ich, das sich selbst entfremdet ist. Die produktive Einbildungskraft Antons kennt keine Grenzen; darin ist er echter Romantiker. Er füllt mit seinen Phantasie-Implantaten allen Raum und alle Zeit aus. Ständig begegnen sich die Zeugnisse der Frühgeschichte mit den Bildgebungsmaschinen der Hightech-Medizin. Alles wird protokolliert, exploriert, instrumental und medial erfasst und in den Medizindiskurs eingespeist. Man kann sagen, das Archaische wird zur pathologischen, doch bedeutungsvollen Einlagerung des Mundraums, ein Museum der Frühgeschichte, in welchem sich die kranke Gegenwart Antons darstellt. Anton stürzt ab, wahrlich in ungesicherte Tiefen, in die Wahnwelt seiner Ängste, Phantasien und Traumata. Auf einer Konferenz referiert ein unbekannter Arzt über Antons Zeichnungen: Wenn der Patient nun behauptet, ein anderer zu sein, fuhr der Arzt fort – ein ‚Implantatcharakter‘ oder, um seinen blumigen Stil zu zitieren, ein ‚souffliertes Selbst‘ –, dann ist das nur eine Umschreibung für sein Gefühl der Uneigentlichkeit. Sein Ich wurde ihm genommen, es wurde, wie auch immer, gelöscht. In diese Baulücke, Sie entschuldigen den Ausdruck, denkt er sich nun etwas Fremdes oder eben ‚Eingepflanztes‘. Die Stelle, Sie wissen es, darf unter keinen Umständen leer bleiben, das ist ehernes Gesetz. Also wird sie notfalls mit wahnhaften Konstrukten gefüllt. (Mettler 2006, 226)
Das ist eine typisch psychiatrische Deutung der schizoiden Aktivitäten Antons. Zugleich dokumentiert sie eine Sprache, die mit schablonenhaften Erklärungen eine semantische Leere füllt (Anton selbst ist diese Leerstelle). Man kennt die Formel dafür: „psychotische Zwangsvorstellungen klassischer Ausprägung“ (Mettler 2006, 227). Wenn Mettler solchen Erklärungen folgen würde, dann wäre der Roman sofort zu Ende. Es geht also um eine Art Poetik des Verrückten, die vielleicht absurd, grotesk, auch satirisch und humoresk sein kann, die aber niemals ihr Objekt, nämlich Anton, denunzieren darf. Man ahnt, dass es, metapoetisch, auch um die Geburt des Autors geht oder um den „Geist der Erzählung“, wie ihn Thomas Mann ironisch zu Anfang des Romans Der Erwählte beschwört. Die Spange ist nämlich auch ein Künstlerroman. Im Sinn E. T. A. Hoffmanns geht es um das Narrativ des Künstler-Dilettanten. Der behandelnde Arzt Dr. Berg will in Anton „Schicht für Schicht“ alles abtragen, „um dahin zu gelangen, wo alles begonnen hat. Bedingung ist, daß Sie alles nochmals durchlaufen“ (Mettler 2006, 158). Das ist eine parodistische Anleihe bei der psychoanalytischen Narrativik Freuds, seinen Fallgeschichten, die immer auch Novellen sind. Über diese Möglichkeiten Freuds verfügt Anton nicht. Doch wenn Anton nachts im Narrator, einer
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Erzählmaschine, sitzt (Mettler 2006, 175 – 187), um dort gewaltige Bilderfluten zu erleben, die der „Erzählfluß vor mir“, der „Ideenstrom“ vor ihm ausbreitet (Mettler 2006, 181), dann ist er Künstler. Es ist die Stunde der Literatur, die er sehen, aber nicht schreiben kann. Doch kommt Anton dabei nicht auf die Spur seiner „nicht vorhandenen Lebensgeschichte“ (Mettler 2006, 282). Der Roman Mettlers ist das wissenspoetische Narrativ eines gescheiterten und ins Schizoide versunkenen Künstlerlebens. In den verwilderten Phantasien des Romans steckt viel Parodistisches und Groteskes, eine barocke Hybridität, die sich im Munde entfaltet. Mettlers Roman ist auch ein komischer Roman auf den Spuren Jean Pauls. Auch kann man das Hybride der oralen Konstruktionen mit den wuchernden Körpern vergleichen, die Michail Bachtin in der Frühen Neuzeit und besonders bei Rabelais entdeckt hat (Bachtin 1995). Zudem ist der Roman eine Satire auf die Wissenschaften und die Psychotherapie. Ferner ist er eine Art Höhlenforschung. Expeditionen ins Menscheninnere sind, nicht nur bei Mettler, Erkundungsreisen in unterirdische Reiche, aus denen wir kommen und die phantastische Figurationen enthalten. Athanasius Kircher publizierte 1665 seine Abhandlung Mundus subterraneus, ein Werk, in dem Wissenschaft und Phantastik, Naturforschung und Theologie, Bildund Schriftkunst zum letzten Mal ein Ganzes bildeten, bevor sich die Wissenschaften und die Künste trennten. In Mettlers imaginärer Mundhöhlenforschung werden diese Grenzen wieder eingerissen – in der Form, in der solche Grenzüberschreitungen in der Moderne einzig möglich sind: nämlich als poetische Phantasie, als psychopathologische Symptomatik. Ähnlich Gregor Samsa in Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ und ähnlich wie das Tier in der Erzählung „Der Bau“ hat sich Anton in ein Monstrum verwandelt, das gerade darum menschlich und poetisch wird. Blumenberg benutzt als Motto für sein Buch Höhlenausgänge den Tagebucheintrag Kafkas vom 24. Januar 1922: „Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt.“ (Kafka 2002c, 888) Ungeborenes, oder nicht zu Ende geborenes Leben: Das ist ein Leben in der Geburtshöhle, der Inbegriff der Höhlenexistenz überhaupt. Bei Anton kollabiert die Oberfläche des Lebens und er kehrt in die Höhle zurück, die Mundhöhle seiner frühzeitlichen Lebendigkeit, die auch die Höhle der Urgeschichte ist, von der schon die Prometheus-Sage von Aischylos weiß.Winfried Trimborn spricht von einer narzisstischen Höhle, einer Festung, einem Kokon sowie, mit Donald Meltzer, vom depressiven und phobischen Claustrum. Das trifft auch auf Kafkas Tier in „Der Bau“ zu. Bei Anton darf man eine „Flucht in die Bewegungslosigkeit angesichts der Katastrophe“, ein „extremes schizoides Rückzugsverhalten“ und eine „blockierte Individuation“ annehmen, also eine frühe Stockung der Separationsphase, wie sie Margaret S. Mahler beschrieben hat (Trimborn 2011, 18 – 24; Meltzer 1992; Mahler 1980). Die Höhle Antons ist nicht
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mehr ein Ausgang des Lebens, auch nicht die Umhüllung durch ein versorgendes Primärobjekt, sondern sie ist erfüllt mit kulturellen Semantiken und womöglich malignen Artefakten – mithin eine kulturelle Figuration. Anton ist – wie das kafkasche Tier – selbst die Höhle, in die er sich verkapselt, und er ist, so eigen dasjenige sein mag, was in ihm zutage tritt, sich selbst so fremd wie fremder eine andere Kultur nicht sein kann. Blumenberg liefert dafür eine philosophische Anthropogenese auf Grundlage der Höhlenmetapher. Kafka und Mettler zeigen die Umkehrung: die Regression zu einem autistischen Höhlenbewohner, der zu einem Fall der Medizin und der Psychoanalyse wird. Die Tiefe ist das Entsicherte schlechthin. Ich träumte also wochenlang den Traum vom Mundeinschub und, damit verbunden, dem Verlust aller Seinsgewißheit. Ich träumte, wie mein Vertrauen in die Echtheit selbst der nahestehendsten Münder schwand. Und was der Traum vorwegnahm, vollzog die Wirklichkeit mit: Ich träumte nachts und erlebte tagsüber, wie ich überall nur noch Fälschung vermutete, Regelbiß statt naturbelassene Stellung, Mundeinschub statt Originalkiefer. […] Das elterliche Schweigen scheint mir fugenlos abgedichtet zu sein – eine Wand, die bei näherer Betrachtung nicht gemauert, sondern gegossen und mit einer Mauertapete beklebt ist. (Mettler 2006, 300 – 301)
Die Höhlen und Bergwerke, aber auch die Tiefsee und die Vulkane, erloschen oder eruptiv: sie alle sind, wie auch die Himmelslandschaft und die Meteore, die Tiefe unter und die Tiefe über uns, im Lauf der Geschichte zu Seelenlandschaften geworden, zu Topographien unseres eigenen, entsicherten Inneren.
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Pascals Abgrund
1 Der Titel meiner kleinen Abhandlung zeigt einen Umweg an: Ins neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert gelangen wir, indem wir uns vom siebzehnten Jahrhundert heimsuchen lassen, und zwar von dem – neben Leibniz und Descartes – bedeutendsten Denker dieses Jahrhunderts, nämlich Blaise Pascal. Descartes und Pascal trafen einander nur einmal: am 23. September 1647 in Paris, also vor rund 370 Jahren. Pascal war krank und empfing Descartes im Bett. Descartes wollte zunächst überprüfen, ob Pascal tatsächlich krank war, und fragte ihn über seine Symptome aus. Pascal sagte kein Wort. Er ließ sich nicht gern von Fremden bedauern. Da Descartes sich auch rühmte, Mediziner zu sein, empfahl er ihm Ruhe und Trinkbrühe. (Attali 2007, 107)
Der wohlmeinende Ratschlag verhinderte keine Missverständnisse und Polemik. Pascal verglich die cartesische Philosophie mit der Geschichte des Don Quijote und behauptete, Descartes sei „überflüssig und unschlüssig“ (Pascal 1987, 53, § 78). Die cartesischen Gottesbeweise seien so abseits vom Denken der Menschen und so verwickelt, daß sie wenig überzeugen, und sollten sie wirklich einigen nützen, so werden sie nur so lange nützlich sein als man den Beweis vor Augen hat; eine Stunde danach fürchten sie, sich getäuscht zu haben (Pascal 1987, 238, § 543).
Die Bemerkung richtete sich gegen die Meditationes, ebenso wie die folgenden Sätze, in denen ein „Gott der Philosophen“ dem jüdisch-christlichen Gott gegenübergestellt wird. Vielleicht waren es schlicht zwei Evidenzen, die Descartes und Pascal trennten und die auf philosophisch beinahe skandalöse Weise in einer biographischen Erfahrung wurzelten. Die glücklichsten Jahre seines Lebens verbrachte Descartes, soviel betonte schon Adrien Baillet, sein erster Biograph, zwischen 1633 und 1640, als er mit seiner holländischen Magd Hijlena Jans in einer nicht standesgemäßen Liebesbeziehung zusammenlebte und eine gemeinsame Tochter aufzog, die am 19. Juli 1635 in Deventer zur Welt gekommen war. Descartes ließ sie auf den Namen Francine – Fransintge – taufen, vielleicht in Erinnerung an ein Mädchen namens Françoise, das er als Kind geliebt hatte. Kurzum, es https://doi.org/10.1515/9783110634730-005
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wird allgemein angenommen, dass die Jahre, die Descartes als Vater einer kleinen Tochter verbrachte, zu den glücklichsten seines Daseins zählten. Seine Korrespondenz in diesen Jahren ist von einer seltenen Heiterkeit geprägt. Auffallend ist ebenfalls, dass er in diesem kurzen Zeitraum von fünf Jahren seine bedeutendsten Werke schrieb: ‚Discours de la Méthode‘, die drei ‚Essais‘: ‚La Dioptrique‘, ‚Les Météores‘, ‚La Géométrie‘ und ‚Les Méditations métaphysiques‘. […] Das Familienidyll dauerte jedenfalls nicht sehr lange. Als er 1640 in Leiden weilte, um einen Verleger für seine ‚Méditations‘ zu finden, erreichte ihn am 30. August ein ängstliches Schreiben von Helene, der Körper Francines sei ganz von Röte bedeckt. Descartes eilte nach Hause, aber er musste ohnmächtig zusehen, wie das Scharlachfieber sich verschlimmerte und das Kind dahinraffte. Francine starb in Amersfoort am 7. September 1640. (Groben 2001, 43).
Descartes war tief erschüttert; und Baillet schrieb (zitiert im Kommentar Joseph Grobens): ‚Er beweinte sie mit einer Zärtlichkeit, die ihm zu fühlen gab, dass die Philosophie die natürlichen Gefühle nicht erstickt.‘ Dann folgte eine Aussage, die eindeutig belegt, dass hier der Philosoph des ‚Cogito ergo sum‘, des gefühlsscheuen Rationalismus, zutiefst getroffen war, wie nie mehr sonst in seinem Leben: ‚Er beteuerte, dass sie ihm durch ihren Tod den größten Schmerz gegeben, den er je in seinem Leben empfunden habe.‘ In einem vier Monate später geschriebenen Brief machte er auch das bezeichnende Eingeständnis, dass ‚er nicht zu jenen zähle, die der Meinung seien, dass Tränen und Trauer nur zu den Frauen gehören‘. (Groben 2001, 44)
Als Francine starb, war Pascal gerade siebzehn Jahre alt und hatte eben den Kreis um Père Marin Mersenne in Paris mit einer Arbeit über die Mathematik der Kegelschnitte beeindruckt. Schon als Kind war er überaus kränklich und wurde daher von seinem Vater Etienne und einer Reihe von Hauslehrern unterrichtet. 1642 erhielt er in Rouen das Patent für eine Rechenmaschine; und fünf Jahre später publizierte er eine Abhandlung zum experimentellen Nachweis des Vakuums. Im selben Jahr erforschte er – gemeinsam mit Florin Périer, seinem Schwager – den Luftdruck und bewies dessen Abhängigkeit von der Höhe des jeweiligen Ortes; bis heute wird der Luftdruck in Pascal gemessen. Er publizierte eine Abhandlung über das Gesetz der kommunizierenden Röhren und befasste sich schließlich – nach dem Tod des Vaters am 24. September 1651 – mit der Mathematik des Würfelspiels und der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Im 32. Lebensjahr – am 23. November 1654 – erlebte er, vielleicht nach einem Unfall mit der Kutsche, eine stürmische nächtliche Offenbarung, die er aufzeichnete; diese Aufzeichnung wurde als Erinnerungsblatt – als Mémorial – in sein Gewand eingenäht und erst nach seinem Tode gefunden. Der Text des Mémorials (Pascal 1987, 248 – 249, § 555b) ist aufschlussreich. Er handelt von einer mystischen Erfahrung – und operiert doch mit zahlreichen Zitaten. Er spricht von einer Vision Christi, betont jedoch zugleich die unbedingte Notwendigkeit wiederholter Lektüre des
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Evangeliums (und der Unterwerfung unter einen „geistlichen Führer“). Er bezeugt eine Ekstase, und erstarrt doch als Schriftstück, das wie ein Kleid am Körper getragen werden muss. Er referiert auf das Feuer, auf den brennenden Dornbusch, verschweigt aber die eigentliche Selbstoffenbarung Gottes, der sich nicht allein als „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Exodus 3,6) zu erkennen gibt, sondern eben auch als Cartesianer: „Ich bin der ‚Ich-bin-da.‘“ (Exodus 3,14) Die drohende affektive Überflutung des eigenen Bewusstseins wird eingedämmt, durch die Opposition zwischen dem „Gott der Philosophen und Gelehrten“ und dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, und durch die nachdrückliche Repetition des Schlüsselworts der Meditationes: Gewissheit, certitude. Während Descartes den Zweifel an der Existenz Gottes gerade angesichts des Todes seiner kleinen Tochter verstärkt empfunden haben mochte, einen Zweifel, der einzig im Rückzug auf ein körperloses Ich, buchstäblich auf ein „Ich-bin-da“, auf einen Neubau der stoischen citadelle intérieure (Hadot 1997), beruhigt werden konnte, beschwor Pascal die Epiphanie des guten Vaters, der auch den Schrei des verlassenen Sohns am Kreuz legitimiert. Als antike Referenzautoren für Descartes hätten demnach Mark Aurel oder – wie schon für Montaigne – Seneca eintreten können; als Referenzautor für Pascal fungierte dagegen Augustinus, dessen späte Gnadenlehre der Autor der Pensées über Vermittlung der Theologie von Port Royal kennengelernt hatte. Port Royal des Champs war ein 1204 gegründetes Frauenkloster der Zisterzienser, südwestlich von Versailles; im Jahr 1625 bezogen die Nonnen auch ein Haus in Paris, Port Royal de Paris. Äbtissin des Klosters war seit 1602 Jacqueline Arnauld; ihr Ordensname lautete Angélique. Als Äbtissin der Pariser Zweigstelle amtierte ihre Schwester Agnès. Gegen die Verurteilung einer theologisch riskanten Abhandlung von Agnès Arnauld durch die Sorbonne argumentierte zunächst anonym Jean Duvergier de Hauranne, der Abt von SaintCyran; er avancierte bald zum geistigen Oberhaupt von Port Royal des Champs. Einige Scheunen in der Nähe des Klosters wurden zu Schulen, Petites Écoles, mit einem umfangreichen und anspruchsvollen Lehrprogramm umgebaut; das Waisenkind Racine besuchte etwa eine solche Schule. 1638, wenige Jahre nach Eintritt Frankreichs – an der Seite der protestantischen Fürsten – in den Dreißigjährigen Krieg, wurde Saint-Cyran gefangengenommen und erst 1643 wieder freigelassen; er starb wenig später. Nicht sein Name gab der Theologie von Port Royal ihren Namen, benannt wurde sie vielmehr nach seinem niederländischen Freund Cornelius Jansen, vormals Bischof von Ypern und Professor der Exegese an der Katholischen Universität Löwen. Jansen starb bereits 1638, im Alter von 52 Jahren, an der Pest; kurz vor dem Tod hatte er jedoch die Arbeit an seinem Hauptwerk abgeschlossen, dessen Thesen er häufig mit Saint-Cyran erörtert hatte. Das Buch erschien posthum im Jahr 1640, ein Jahr vor den Meditationes des Descartes, unter
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dem Titel: Augustinus, sive doctrina Sti. Augustini de humanae naturae sanitate, aegritudine, medicina adversus pelagianos et massilienses. Im Mittelpunkt der hitzigen Debatten um die Häresie des Jansenismus, die noch ein halbes Jahrhundert später zur Zerstörung des Klosters von Port Royal (1710) und zum päpstlichen Verbot jansenistischer Lehren (1719) führten, im Zentrum des Streits um das Verhältnis zwischen Jansenisten, Calvinisten oder Jesuiten, standen Positionen und Texte des heiligen Augustinus. Diskutiert wurde, was Kurt Flasch – in einer 1990 erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegten Edition der augustinischen Gnadenlehre von 397 – als „Logik des Schreckens“ (Flasch 1990) charakterisiert hat: Ausdruck der Freiheit und Willkür, Grausamkeit oder Barmherzigkeit Gottes. Der „Gott Abrahams und Isaaks“, dessen Offenbarung Pascal in seiner Feuernacht wahrzunehmen glaubte, ist eben auch der Gott, der seinem Stammvater Abraham viele Jahre lang den ersehnten (und längst prophezeiten) Nachwuchs verweigert, ihn danach mit der jungen Sklavin Hagar einen außerehelichen Sohn (Ismael) zeugen lässt, dem beinahe hundertjährigen Greis schließlich doch noch einen späten Sohn aus der Ehe mit Sara schenkt, dann aber dessen Opferung verlangt, um die Loyalität des Vaters zu prüfen, und zuletzt auf das Kindsopfer wieder verzichtet. Die Geschichte wirkt seltsam und vieldeutig. Während auf der einen Seite die Ersetzung der Opferung eines erstgeborenen Sohnes durch ein Tieropfer dargestellt wird, erscheint auf der anderen Seite die Selbstverständlichkeit, mit der Abraham sich der Forderung Gottes unterwirft, weniger als Resultat einer Haltung des Respekts gegenüber einem überraschenden – sonst aber völlig unbegreiflichen – Befehl, als vielmehr als Ausdruck ritueller Frömmigkeit: Abraham wusste bereits, was von ihm verlangt wird. Der Religions- und Altertumswissenschaftler Hyam Maccoby betonte, es könne wohl kaum Zweifel darüber bestehen, daß die Urfassung der Geschichte von Abraham und Isaak die eines wirklichen Menschenopfers war […]. Wie andere Völker führten auch die Israeliten die Gründung ihres Stammes auf ein Gründungsopfer zurück. (Maccoby 1999, 121)
Jacob Taubes argumentierte (gegen Hans Joachim Schoeps), Gott habe im IsaaksOpfer das Leben jenes einzigen Sohnes gefordert, den er eben erst – gegen alle Natur – geschenkt hatte. Für die frühe tannaitische Tradition ist Isaak eine ola teminah, ein vollkommenes Opfer (d. h. zu deutsch, […] daß er als Opfer dargebracht wurde). Nach einer anderen Tradition hat Isaak sogar ein Viertel Maß Blut auf den Altar gegeben, was […] heißt, daß er gestorben ist. Und wenn es gar an einer Stelle heißt, ‚in allen kommenden Geschlechtern ist auf dem Berge des Herrn die Asche von Isaak sichtbar und zum Sühnen bereit‘, so ist ‚die Asche Isaaks‘ natürlich nicht […] die des stellvertretenden Widders, sondern was der Text, wenn man ihn
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ohne apologetische Brille liest, aussagt, die Asche des geopferten Isaak selbst. (Taubes 1986, 145)
Die ältere Version der Opferung Isaaks wird auch plausibler, sobald sie mit einem weniger bekannten Detail der Geschichte Abrahams assoziiert wird, das – wie Nigel Davies bemerkt – nach Kinderopfer von überaus herzloser Art aussieht. Sara, die Mutter Isaaks, bat Abraham, die ägyptische Sklavin Hagar, die ihm auch einen Sohn geboren hatte, zu vertreiben, damit dieses Kind nicht zu einem Rivalen für Isaak heranwachse. Der Herr sagte dann Abraham zu tun, was Sara ihn gebeten hatte. So fuhr Abraham Hagar mit ihrem Kind hinaus, versehen mit etwas Brot und einer einzigen Flasche Wasser für den erbarmungslos harten Weg durch die Wüste. Hagar wanderte in der Wildnis von Beerscheba, und als sie kein Wasser mehr hatte, warf sie ihr Kind voller Verzweiflung in ein Gestrüpp. Wieder gab es eine Rettung in letzter Minute, denn der Herr erschien ihr und verriet Hagar eine Wasserquelle. (Davies 1981, 72)
Der „Gott Abrahams und Isaaks“ ist frei und souverän. Seine Rettungen Isaaks oder Hagars (und Ismaels) sind kontingent, unvorhersehbar; sie folgen keinen Zwängen der Notwendigkeit, keiner juristischen oder philosophischen Regel, der dann womöglich ein höherer Rang zuerkannt werden müsste als Gott selbst. Die Opazität seines Erbarmens unterscheidet diesen Gott von einem „Gott der Philosophen“, dessen Handeln gleichsam logisch abgeleitet werden kann. Gott ist nicht notwendig gut; seine Güte bleibt frei und souverän.
2 Während Descartes die Existenz eines guten Gottes, auch und gerade angesichts des Schreckens, der ihn am Sterbebett seiner fünfjährigen Tochter erfasst hatte, zu verteidigen versuchte, tatsächlich aber den Rückzug antrat in die Bezirke der körperlosen res cogitans, plädierte Pascal, nach seiner Feuernacht, für den jansenistisch-augustinischen Gott der freien Entscheidung. Auf den Spuren seiner Schwester Jacqueline, die er nahezu verboten innig geliebt hatte, und die in das Kloster Saint-Cyrans eingetreten war – tatsächlich war ja der Jansenismus in entscheidender Hinsicht ein Projekt der Frauen –, propagierte Pascal einen Gott, der „unendlich unbegreifbar“ ist: Da er „weder Teile noch Grenzen“ habe, bestehe „zwischen ihm und uns keine Gemeinsamkeit“ (Pascal 1987, 121, § 233). Gott sei also ein verborgener Gott; und folglich sei „jede Religion, die nicht lehrt, Gott sei verborgen, nicht die wahre, und eine Religion, die uns hierüber nicht unterrichtet, kann uns nicht belehren. Unsere tut beides: Vere tu es Deus absconditus.“ (Pascal 1987, 265, § 585) Im Horizont operativer Einsichten in das Nichts (durch empiri-
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sche, nicht metaphysische Widerlegung des aristotelischen Postulats vom horror vacui, das noch Descartes aufrechterhalten wollte) und in den Zufall (durch mathematische Analyse des Glücksspiels) kannte Pascal das Entsetzen vor dem Grenzenlosen, den existentiellen Schwindel, der einer tiefgreifenden Orientierungslosigkeit entspringt: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern.“ (Pascal 1987, 115, § 206) Pascal wusste, dass die Frage der Theodizee zu keiner Antwort führt, sondern bloß in den Abgrund. Er ahnte vielleicht sogar, was der schottische Autor John Burnside in Glister – seinem Roman über das Elend und spurlose Verschwinden der Kinder eines Dorfes – mit folgenden Sätzen auszudrücken versuchte: Das ist ja das Vertrackte an der Hölle, über das im Religionsunterricht nie geredet wird, über die Tatsache nämlich, dass in der Hölle nicht die Schuldigen, sondern die Unschuldigen schmoren. Das erst macht sie zur Hölle. Irgendein Zufallsprinzip durchzieht die Welt, wählt grundlos Leute aus und steckt sie in die Hölle. Kummer wegen eines Kindes, grässliche Krankheiten, Geräusche und Gesichter aus dem Nichts, unterbrochen von Augenblicken entsetzlicher Klarheit, gerade lang genug, um zu begreifen, wo man ist. Und du bist in der Hölle. (Burnside 2009, 254)
Freilich wusste Pascal, dass dasselbe unwägbare „Zufallsprinzip“ auch in der Liebe wirkt: Du verliebst dich nicht aus logischen Gründen. Sein Votum gegen die jesuitische Kasuistik (Attali 2007, 201– 243) – die Lehre vom Lohn der guten Werke – war auch ein Votum für die Kontingenz, die Grundlosigkeit der Gnade und der Liebe. Der Leser kann sich zwar über die augustinische „Logik des Schreckens“ empören, die sich in den Argumenten gegen Simplician, in der Rechtfertigung einer unerklärlichen Vorliebe Gottes (für Jakob) und einer ebenso unerklärlichen Abneigung (gegen Esau) manifestiert; aber er kann schwerlich leugnen, dass es zum Wesen der Liebe gehört – und wieso nicht auch der Liebe Gottes? –, sich angezogen und abgestoßen zu fühlen, ohne erklären zu können, warum. Gnade ist allemal „dunkle Gnade“ (Strasser 2007); und das Wissen um diese Dunkelheit machte Pascal zu einem eminent modernen Denker. Neben dem Begriff der Unendlichkeit war es darum der Begriff des Abgrunds, der das Denken Pascals entscheidend prägte, ein Denken, das sich in Experimenten entfaltete. Der empirische Nachweis des Vakuums inspirierte wohl auch seine Spekulationen über die Abgründe der Leere, des Nichts und des Unendlichen. Makro- und mikrokosmische Evidenzen erschienen ihm konsequent als „große Anlässe zur Demütigung“. Gerade der Physiker und Mathematiker wusste: „Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unmerklicher Zug in der weiten Höhlung des Alls. Keinerlei Begreifen kommt ihr nahe.“ (Pascal 1987, 41, § 72) Und auf der anderen Seite öffnete sich ein „neuer Abgrund“ im „Winzigsten“: „Nicht nur das sichtbare Weltall will ich zeichnen, sondern auch die Unermeßlichkeit, die man
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im Bereich des immer verkürzten Atoms von der Natur erfassen kann.“ (Pascal 1987, 42– 43, § 72) Pascal kannte Fernrohre und Mikroskope, die ihn über die Position des Menschen belehrten: Denn, was ist zum Schluß der Mensch in der Natur? Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Unendlich entfernt von dem Begreifen der äußersten Grenzen, sind ihm das Ende aller Dinge und ihre Gründe undurchdringlich verborgen, unlösbares Geheimnis; er ist gleich unfähig, das Nichts zu fassen, aus dem er gehoben, wie das Unendliche, das ihn verschlingt. (Pascal 1987, 43, § 72)
Darin bestehe unsere wirkliche Lage. Sie ist es, die uns unfähig macht, etwas gewiß zu wissen und restlos ohne Wissen zu sein. Auf einer unermeßlichen Mitte treiben wir dahin, immer im Ungewissen und treibend und von einem Ende gegen das andere gestoßen. An welchen Grenzpfahl immer wir uns binden und halten möchten, jeder schwankt und entschwindet, und wenn wir ihm folgen, entschlüpft er unserm Griff und entgleitet uns und flieht in einer Flucht ohne Ende. Nichts hält uns zuliebe an. Das ist die Lage, die uns natürlich ist und in jedem Fall die gegensätzlichste zu unsern Wünschen; wir brennen vor Gier einen festen Grund zu finden und eine letzte beständige Basis, um darauf einen Turm zu bauen, der bis in das Unendliche ragt; aber all unsere Fundamente zerbrechen, und die Erde öffnet sich bis zu den Abgründen. (Pascal 1987, 46 – 47, § 72)
3 Vielleicht waren es gerade solche Hinweise auf den Abgrund, die Pascals Einfluss auf die Moderne steigerten. „Sorglos eilen wir in den Abgrund, nachdem wir etwas vor uns aufgebaut, was uns hindert, ihn zu sehen“ (Pascal 1987, 96, § 183): Dieser Satz wurde gern auf die – in manchen Biographien, aber auch in Voltaires Polemik gegen Pascal – kolportierte Legende bezogen, Pascal habe seit seiner Kindheit unter der Zwangsvorstellung gelitten, stets einen Abgrund neben sich zu sehen (Lange-Eichbaum und Kurth 1967, 495). Noch Baudelaires Fleurs du Mal zitierten – im Gedicht Le Gouffre, das freilich erst der dritten Auflage im Jahr 1868 hinzugefügt wurde – diese Legende: „Pascal sah, wo er ging, des Abgrunds Spalt. Abgrund ist alles uns, Tat, Traum, Verlangen“ (Baudelaire 1982, 284). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch Nietzsche von solchen Bildern des Abgrunds angeregt wurde, sei es zum vielzitierten Aphorismus in Jenseits von Gut und Böse – „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (Nietzsche 1980b, 98, § 146) – oder zur Rede des „tollen Menschen“ über den Tod (genaugenommen: die Tötung) Gottes in Die fröhliche Wissenschaft: „Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen
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Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“ (Nietzsche 1980a, 481, § 125) In Ecce homo bekannte Nietzsche, dass er „Pascal nicht lese, sondern l i e b e , als das lehrreichste Opfer des Christentums“ (Nietzsche 1980c, 285); und in einem Brief an Georg Brandes in Kopenhagen (vom 20. November 1888) rühmte er sein nahes „Verhältnis zu Pascal, den ich beinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige l o g i s c h e Christ“ (Nietzsche 1986, 483). Er hätte auch sagen können: ein experimenteller Christ. Denn in gewisser Hinsicht bildete sogar die Feuernacht vom 23. November 1654 ein experimentelles Arrangement zur Hervorbringung von Gewissheit (certitude), die Pascal – anders als sein Kontrahent Descartes – nicht aus logischen Argumenten ableiten wollte. Und vielleicht stärkte die Begegnung mit dem wählenden Gott – dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ – auch Pascals Mut zu Experimenten mit der eigenen Identität; zeitweise schrieb und korrespondierte er unter mehreren Namen, unter Heteronymen wie „Amos Dettonville“, „Salomon de Tultie“ oder „Louis de Montalte“ (Attali 2007, 294). Pascal hat nicht nur Baudelaire oder Nietzsche beeinflusst, sondern eine Vielzahl avantgardistischer und philosophischer Strömungen in der Moderne. Nach einer Phase vorübergehender Missachtung wurde er im neunzehnten Jahrhundert als das französische Universalgenie schlechthin entdeckt. Sein Denken prägte die Existenzphilosophie, von Kierkegaard bis zu Camus, der in sein Tagebuch schrieb, Pascal sei „der größte von allen, gestern und heute“ (Camus 1997, 221), oder Sartre, der seine Überlegungen zur Kontingenz im Dialog mit Pascal formulierte, etwa in den posthum edierten Cahiers pour une morale: „Das hat Pascal richtig gesehen: […] Frei, sündig, geschichtlich ist der Mensch ein Wesen, dem etwas zugestoßen ist.“ (Sartre 2005, 114) Pascal beeindruckte den katholischen Avantgardismus des Renouveau catholique, von Chateaubriand bis Léon Bloy, Charles Péguy, Georges Bernanos, Julien Green oder François Mauriac (mit ihren gelegentlich ausgeprägt jansenistischen Zügen), aber auch die Philosophie von Henri Bergson oder den Marxismus, was schon zum Ausdruck kam in Lucien Goldmanns Le dieu caché von 1955 (Goldmann 1973), deutlicher aber noch im Spätwerk Louis Althussers zum aleatorischen Materialismus: „Was verdanke ich nicht Pascal!“ (Althusser 2010, 103) Eine ideenpolitische Entscheidung zwischen Descartes und Pascal konnte immer öfter zugunsten des Verfassers der Pensées getroffen werden; nicht zufällig stellte Pierre Bourdieu seine methodologischen Studien zur scholastischen Vernunft unter den Titel Méditations pascaliennes (1997), eine Provokation, die in der deutschen Übersetzung nicht mehr aufscheint, weil die Anspielung auf Descartes durch eine Anspielung auf Kant ersetzt wurde (Bourdieu 2001). Die Rede könnte leicht weiter vertieft werden durch Kommentare zu Leszek Kołakowskis später Abhandlung God Owes Us Nothing (1995) oder
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durch Zitate aus Kunst- und Literaturgeschichte, von Stendhals überraschendem Geständnis: „Wenn ich Pascal lese, scheint es mir, als ob ich mich selbst wiederlese“ (zit. n. Attali 2007, 389), bis zu Becketts Warten auf Godot, zu dem Jean Anouilh, kurz nach der Uraufführung im Pariser Théâtre de Babylone am 5. Januar 1953, bemerkte: „Pascals Pensées, gespielt von den Fratellinis“.¹ Eine ganz andere Nachfolgerin Pascals war Simone Weil. Die Lehre vom verborgenen Gott entfaltete sie in ihren Cahiers zu eindringlichen Paradoxien und Schlussfolgerungen. Wie Pascal ging sie davon aus, dass der wahre Gott der verborgene Gott sei; aber sie fragte mit insistierender Schärfe, woran wir diese Verborgenheit wahrnehmen. Anders als Pascal berief sie sich nicht auf Offenbarungen, sondern auf die überwältigende Präsenz des Unglücks, des Leidens, der Ungerechtigkeit und des Bösen. Unglück, Schmerzen und das Böse sah sie als Spuren zu Gott, vielleicht als einzige Spuren überhaupt, weil sich in ihnen die Abwesenheit Gottes manifestiere. Doch worin besteht „diese Abwesenheit Gottes, die das äußerste Unglück in der vollkommenen Seele bewirkt?“, fragte sie, wenige Monate vor ihrem eigenen Tod (sie war erst 34 Jahre alt). „Was ist das für ein Wert, der damit verbunden ist und den man erlösenden Schmerz nennt? Es ist die Reinheit des Übels, die Fülle des Übels, der Abgrund des Übels. Die Hölle ist kein wahrer Abgrund. Die Hölle ist oberflächlich.“ Denn die Verborgenheit, die Abwesenheit Gottes, so folgerte Simone Weil, sei „der Modus der göttlichen Anwesenheit, die dem Übel entspricht – die empfundene Abwesenheit.“ (Weil 1990, 172) Sie hat es in einem einfachen Bild ausgedrückt: Zwei Gefangene, in benachbarten Kerkern, die durch Klopfzeichen miteinander verkehren. Die Mauer, die sie trennt, ist zugleich das, was ihnen erlaubt, miteinander in Verbindung zu treten. So wir und Gott. Jede Trennung ist eine Verbindung. (Weil 1990, 190)
Und also müssen wir Gott am Klang der Kerkermauer, im Bösen, im Leiden, in der Hölle entdecken – und „Gott lieben durch das Böse hindurch, das man hasst, und während man dieses Böse hasst“ (Weil 1990, 171). Denn die „Welt ist die verschlossene Pforte. Sie ist eine Schranke, und zugleich ist sie der Durchgang.“ (Weil 1990, 189) Daraus folgt: „Wir sollen das Übel als Übel lieben.“ (Weil 1990, 182) Das „Übel ist die Gestalt, die das Erbarmen Gottes in dieser Welt annimmt“ (Weil 1990, 189). Anders kann er sich nicht zeigen. Negative Theologie als mystische Gewissheit? Pascal hätte diese Haltung vermutlich kritisiert. Vielleicht hätte er gefragt, ob denn die Ruinen einer zer-
Arts, Nr. 400 vom 27. Januar 1953, zit. n. Bair 1991, 543. Die Brüder Fratellini – Paul (1886 – 1961), François (1879 – 1951) und Albert Fratellini (1877– 1940) – traten zwischen den Weltkriegen im Pariser Circus Médrano als vielumjubelte Clowns auf.
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störten Welt zu Kultstätten eines abwesenden Gottes verklärt werden dürfen, und ob nicht das Problem der Theodizee hier bloß durch einen logischen Vorzeichenwechsel gelöst werde, der neuerlich Gefahr laufe, den wählenden, freien, souveränen Gott – auch den „Schrecken Gottes“, im Sinne Navid Kermanis – als bloßes Prinzip, als „Gott der Philosophie“, zu verraten. Für Pascal ist klar, dass Gott „sich verbergen wollte“ (Pascal 1987, 265, § 585). Und anstatt sich darüber zu beklagen, dass sich Gott verborgen hätte, solltet ihr ihm danken, dass er sich so weit enthüllt hat, und weiter danken, dass er sich nicht den hochmütigen Gelehrten enthüllt hat, die einen so heiligen Gott zu erkennen unwürdig sind (Pascal 1987, 145, § 288).
Im Unterschied zu Simone Weil, die den Faszinationen des radikal fremden, gnostischen Gottes folgte, der mit unserer Welt nur die Grenzen teilt, hatte Pascal stets den liebend-wählenden „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ vor dem inneren Auge, den Gott der jüdischen Religion. Vielleicht wäre ihm darum die jüdische Stimme vertrauter vorgekommen, die ein Zeitgenosse Simone Weils, ebenfalls ein hervorragender Kenner gnostischer Religiosität und Philosophie, im Alter von 81 Jahren erhob, um über den Gottesbegriff nach Auschwitz zu sprechen. In einem Festvortrag zur Verleihung des Dr. Leopold-Lucas-Preises der Universität Tübingen (von 1984) entfaltete Hans Jonas eine außerordentliche Spekulation über Schöpfung als freiwilligen Machtverzicht. Angesichts des Schreckens der NSVernichtungslager sagte er nicht – wie Adorno –, dass es „barbarisch“ sei, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben“ (Adorno 1997, 30), sondern er fragte nach einem alternativen Gottesbegriff. Seine These, kurz zusammengefasst: Gott kann nach Auschwitz nicht zugleich als gütiger und gerechter, als allmächtiger und als verstehbarer, sich offenbarender Gott gedacht und gesucht werden. Entweder er ist verstehbar und allmächtig, aber nicht gütig – dann wäre er Satan, wie ihn die schwarze Romantik imaginierte –, oder er ist gütig, gerecht und allmächtig, aber nicht verstehbar, sondern prinzipiell fremd und verborgen – dann wäre er deus absconditus, wie ihn die gnostischen Schriften oder die Cahiers von Simone Weil zeigen. Was übrigbleibt, ist eine letzte Alternative: Gott ist gütig und gerecht, er offenbart sich und ist verstehbar, – aber nicht allmächtig. Die Geschichte der Erschaffung der Welt und der Menschen lässt sich auch als Geschichte einer primordialen Abdankung erzählen: als Geschichte eines Machtverzichts, wie ihn Hans Jonas mit dem Zimzum, dem „kosmogonischen Zentralbegriff“ der lurianischen Kabbala (nach Isaak Luria), assoziiert. Zimzum bedeutet Kontraktion, Rückzug, Selbsteinschränkung. Um Raum zu machen für die Welt, mußte der En-Ssof des Anfangs, der Unendliche, sich in sich selbst zusammenziehen und so außer sich die Leere, das Nichts, entstehen lassen, in dem und aus dem er die Welt
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schaffen konnte. Ohne diese Rücknahme in sich selbst könnte es kein anderes außerhalb Gottes geben, und nur sein weiteres Zurückhalten bewahrt die endlichen Dinge davor, ihr Eigensein wieder ins göttliche ‚alles in allem‘ zu verlieren. (Jonas 1987, 46)
Der ohnmächtige Gott, so argumentierte Jonas, bleibe gerade im Machtverzicht ein sorgender, ein mitleidender und liebender Gott. Auf dem Höhepunkt des Grauens sei Gott nicht als böser, sadistischer Gott anwesend (der sich an den Qualen der Gefolterten erfreut), er sei auch nicht abwesend, als toter Gott (im Sinne Nietzsches) oder als völlig fremder Gott (im Sinne der Gnosis), sondern er sei anwesend als ohnmächtiger Gott. Und nur als machtlos-ohnmächtiger Gott hätte er vielleicht, gerade in den Zentren des Massenmords, das Schicksal der Opfer geteilt. Hans Jonas postulierte einen Gott, der nur einmal frei und souverän entschieden hat, und zwar zugunsten seiner Schöpfung; Pascal dagegen glaubte an einen Gott, der immer wieder frei und souverän entscheiden kann, doch um den Preis, dass seine Entscheidungen manchmal nur schwer verstanden oder erwartet werden können. Beide verbanden die Freiheit, die einen persönlichen Gott vom logischen „Gott der Philosophen“ unterscheidet, mit dem Ideal der Liebe: einer teils ohnmächtigen, teils undurchsichtigen Liebe; und in gewisser Hinsicht ist diese Liebe selbst der Abgrund, der uns bei jedem Schritt begleitet.
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Grundlose Tiefe: Eine kleine Geschichte der Bodenlosigkeit von Ignatius und Luther bis Flusser und Derrida Die Entfaltung der Neuzeit ist ontologisch dadurch charakterisiert, dass ihr ein Tiefenbewusstsein zuwächst, ob in der Physik, der Kosmologie, der Kunst, der Religion, oder auch in der Philosophie, während gleichzeitig der ontologische und auch der empirische Grund immer weniger glaubhaft wird und immer stärker diffundiert, bis sich schließlich die Tiefe zum gähnenden Schlund öffnet. Das Fundament wird fadenscheinig, Dieu se retire (Goldmann 1955, passim), der Mensch zappelt über einem Abgrund (Nietzsche), Mikro- und Makrokosmos scheinen sich ins Bodenlose zu erweitern und zu verlieren. Dadurch entsteht ein vollkommen neues Weltgefühl, das faustische Dispositiv wird, gegen Spengler gesprochen, noch einmal radikalisiert, während die condition postmoderne gerade auch der Tiefe gilt, die doch ‚dekonstruktiv‘ eingeebnet oder ausgetrocknet werden sollte.
1 Fundamentalisten und Flugmenschen Zweimal führte mich mein höherer Schulweg in die Diaspora: 1958 in die Hamburger Jesuitenschule St. Ansgar, 1961 in das evangelische Friedrich-WilhelmGymnasium zu Köln, wo er 1967 mehr oder weniger glücklich endete. Nach dem Missionar, der Deutschlands morastigem Götter- und Gespensternorden einen sicheren Grund gab, hatten die Soldaten Christi ihre Schule benannt, deren Erziehungsmaximen sich aus dem Exerzitienbuch des heiligen Ignatius ableiteten. In ihnen war nicht nur eine radikale und an jede einzelne Seele gerichtete Entscheidung für die Imitatio Christi gefordert, sie wandten sich auch an jeden der fünf Sinne einzeln, um wahlweise Gott oder den Teufel hörbar, sichtbar, fühlbar, schmeckbar oder riechbar zu machen. So gingen sie in ihrer Mikropolitik des Religiösen über jede klassische Ordensregel hinaus. Thomas Macho hat vor einiger Zeit zwei einschlägige, aber zunächst eher kryptisch anmutende Sätze Wittgensteins durchexerziert und insbesondere am heiligen Benedikt überprüft. In Wittgensteins Vermischten Bemerkungen nämlich ist einigermaßen kontextlos, aber keinesfalls ohne biographische Intrikationen zu lesen: „Kultur ist eine Ordensregel. Oder setzt doch eine Ordensregel voraus.“ (Wittgenstein 1984, 568; Macho 2000, 230) https://doi.org/10.1515/9783110634730-006
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Schon Ignatius’ militärischer Appell übertrifft gegenreformatorisch dadurch Benedikts Regel, dass er sich nicht auf das enge klösterliche Leben beschränkt. So wie seine Jesuiten auf Kutten und andere Uniformen ganz verzichten, um im öffentlichen Leben die Position des Papstes zu vertreten, so wie sich ihre Exerzitien nicht nur an die Glaubenseliten, sondern virtuell an die gesamte Christengemeinde wenden, so müssen sie den Geist, die Sinne und die Körper der ihnen Anempfohlenen mobilisieren, noch bevor andere auf sie überhaupt Einfluss nehmen können oder sie sich gar, wie es Jahrhunderte später bei Kant heißen wird, ihres eigenen Verstandes zu bedienen lernen. „Schnappt sie euch, so jung ihr sie bekommen könnt“, Ignatius’ Formel hatten dann einige seiner Soldaten freilich wörtlicher nehmen wollen, als ihr General sie ad maiorem Dei gloriam wohl gemeint hatte. So sollte lange, lange nach meiner Schulzeit in St. Ansgar das jesuitische Licht einer höheren geistlichen Kultur zugunsten einer abgründigen Fleischeslust wieder erlöschen. Die jesuitische Gehirnwäsche und Psychotechnik zur Erzeugung von tätigem Glaubenseifer und von religiöser Tiefe haben bekanntlich innovative und umfassende Illusionstechnologien begleitet, wie wir sie in den geschlossenen, Gilles Deleuze würde sagen: ‚gefalteten‘, aber in die Unendlichkeit verweisenden Perspektivräumen der Barockkirchen, in den Maschinen des Jesuitentheaters oder in Athanasius Kirchers Laterna Magica finden, die die Welt in jenen hundertprozentigen Bildraum verzaubern konnten, den der Barockforscher Walter Benjamin Jahrhunderte später den von ihm so genannten ‚Sürrealisten‘ zuschreiben sollte. Sie alle dienten dem großen Ziel, die Neophyten und Gläubigen in eine Wahrheit hineinzufälschen, wie sie nun den Grund ihrer Seele, ihrer Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte bildete. Diesen so gearteten katholischen Fundamentalismus tauschte ich in der Quarta, so hieß die siebte Klasse damals noch, gegen den protestantischen Humanismus der Kölner Schule ein, die ihren Namen dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. verdankte. An deren Front prangte überlebensgroß eine Plastik des auffliegenden Ikarus, dessen Name übrigens auch die Schülerzeitung trug, deren Redakteur ich bald werden sollte. Bekanntlich wurden Ikaros und Dädalos zur Strafe für dessen technische Hilfe bei Theseus’ Verwendung des Ariadnefadens vom kretischen König Minos im Labyrinth des Minotauros gefangen gehalten. Da Minos das Wasser und das Land kontrollierte, blieb Dädalos zur Flucht nur das dritte Element. Dazu verband er Federn, Wachs und ein Gestänge zu Flügeln und schärfte vor ihrem Abflug Ikarus ein, nicht zu hoch und nicht zu tief zu fliegen, da sonst die Hitze der Sonne beziehungsweise die Feuchte des Meeres zum Absturz führen würde. Zuerst ging alles gut, aber nachdem sie Samos und Delos zur Linken und Lebinthos zur Rechten passiert hatten, wurde Ikarus übermütig und stieg so hoch hinauf, dass
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das vierte Element das Wachs seiner Flügel zum Schmelzen brachte, woraufhin sich die Federn lösten und er selbst ins Meer stürzte (Höfer 1894, Sp. 114– 117). Ich komme auf diese mythische Elementarlehre gleich politisch zurück. Im Allgemeinen wird der Ikarus-Mythos so gedeutet, dass der Absturz und Tod des Übermütigen die Strafe der Götter für seinen unverschämten Griff nach der Sonne ist. Übersetzt ins Kulturprotestantische hieß die Botschaft an die (übrigens nur männlichen) Abiturienten: Erhebt mutig Euer Herz und Euren Geist, hoch genug, um alle Tiefen der Erde und der Seele zu überwinden, aber doch eben auch nicht zu hoch, um Euch nicht an der göttlichen Sonne Wachs und Federn zu verbrennen und auf diese Weise abzustürzen.¹ Die Tugendlehre ist klar: Wähle so beherzt wie verständig das Angemessene, den Mittelweg, folge Ikaros oder Euphorion in die Höhe, aber vermeide ihren tiefen Fall in die Unterwelt. Rüdiger Zill erinnert in unserem Zusammenhang an einen anderen ‚Ikarus redivivus‘ dessen Autobiographie nicht zufällig den Titel Bodenlos trägt (Zill 2016, 38 – 41). Als die deutsche Wehrmacht 1939 in Prag einmarschierte, begann für den Juden Vilém Flusser die Zeit des Exils, die ihn erst nach London und später nach Brasilien verschlug, wo er bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts gelebt hat. Erst 1972 verließ er mit seiner Familie aufgrund von Konflikten mit der Militärregierung das Land und ging zunächst nach Südtirol und später in die Provence. 1991 wurde er auf Initiative von Friedrich Kittler als Gastprofessor an die Ruhr-Universität Bochum eingeladen. Ausgerechnet nach einem Vortrag am Prager Goethe-Institut starb er im selben Jahr an den Folgen eines Autounfalls kurz vor der deutschen Grenze. Das städtische Vorkriegs-Prag, durchaus keine ländliche Scholle und kein erdverbundenes bäuerliches Leben wie das Palästina der zionistischen Schwärmer, war der feste Boden, das „Symptom der Verwurzelung: sich selbst im Zentrum der Welt zu sehen.“ (Flusser 1992, 22) Wie Ikaros wird dem ‚Luftmenschen‘ Flusser dieser Boden entzogen, ja die absurde Bodenlosigkeit des Flüchtlings und die Grenzenlosigkeit des Luftraums der Geschichte nimmt seiner Existenz jegliche Begründung.² Ohne Tiefe, absurd und bodenlos ist der Heimatlose. ‚Heimweh‘ und ‚Heimat‘ aber muss man den menschlichen Nomaden erst einmal erfinden, und zwar so, dass das Weh dem Heim vorausgeht; die Raumgewalt eines Nomos der Erde (Schmitt 1950) will erst gestiftet sein, so dass das Sein sesshaft werde und alles Bloß keine Stuka-Romantik mehr wie nach Tiecks William Lovell: „Fliege mit mir, Ikarus, durch die Wolken, brüderlich wollen wir in die Zerstörung jauchzen. […] In jugendlichem Rausche wollen wir der Abendröthe entgegentaumeln und in ihrem Schimmer untersinken.“ (1841, 611) „Das Wort ‚absurd‘ bedeutet ursprünglich ‚bodenlos‘, im Sinn von ‚ohne Wurzel‘. Etwa so, wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu stellen.“ (Flusser 1992, 9)
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Sesshafte Sein. Auch Martin Heidegger muss bekennen, dass sein „Sein“ eher räumlich als zeitlich zu denken ist, und Manfred Sommer zeigt in seinem wunderbaren Buch Von der Bildfläche (Sommer 2016), wie Tiefe menschheitsgeschichtlich erst aus dem Siedeln, dem vorsorgenden Ackerbau und der gewaltsamen Landnahme entstehen kann – oder in Carl Schmitts Worten: Erst die (oder der) Na(h)me gründet den Grund. Menschen sind ja ursprünglich bewegliche Lebewesen, ständig in der „Mitte der Welt“ unterwegs³ und kennen kein Innen und Außen, nicht das Diese und das Meine. Das Meer, das ihnen das Gedächtnis löscht, ist allenfalls befahrbar von Insel zu Insel und nicht von hier und da. Reisen, heißt das, ist nicht seinsförmig, es kennt kein An-Wesen und kein Anwesen, keine Ousia. Odysseus auf dem Irrweg zu Penelope dagegen, der Listenreiche, folgt schon seinem Weh über das weite Meer, das Vergessen versprach. Solche Heimat, solch tiefes Sein entsteht Zeitalter später auch einer kleinen bohemienhaften Elite in den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon, die gegen dessen Universalismus die Nation zum Ziel hat, das ‚geheime Deutschland‘. Obgleich ihre dichtenden und denkenden Mitglieder ständig unterwegs und auf Reisen sind, blieb dieses imaginäre und tiefe Deutschland ihre transzendentale Heimat – ‚immer nach Hause‘. Und wie tief, wie schwer, verschlingend und gefährlich ‚deutsche‘ Heimaterde für ihre Feinde sein kann, ist dann bei Kleist nachzulesen, während im neunzehnten Jahrhundert von Ahasver bis zum Fliegenden Holländer, von Fantasio und Leonce bis zum Jäger Gracchus die Getriebenen und Luftmenschen auf unendlicher Fahrt (Frank 1979) oder, wie in Schuberts Liederzyklus, zumindest auf Winterreise (1827) sind: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“. Gefährlicher aber als der äußere ist der ‚innere‘ Feind, nicht der souveräne und offene Gegenspieler Gottes, der sein auserwähltes Volk im Kampf zusammenschmiedet, sondern der Mann der Oberfläche und der ‚fabelhaften‘ Effekte, ein demiurgischer Mime, der die Unterscheidung von frei und unfrei, tief und flach verwischt und dafür verantwortlich ist, dass, mit Heidegger zu sprechen, das Dasein in eine Welt hineingleitet, die ohne echte Tiefe und nur noch okkasionell strukturiert ist. Gehen wir zu weit, wenn wir als diesen hinterhältigen und ironischen Mimen, den Mann mit der Maske, den seelenlosen Maschinenmenschen mit dem Bild des emanzipierten, „Juden“ auf dem Weg zur Assimilation identifizieren? Einen Nachklang, der diese Vorstellungen bündelt, erhalten wir noch in der Fröhlichen
„Derart viele zoologische Gattungen existieren in Formen regelmäßiger Migration“, so Hans Ulrich Gumbrecht in seinem FAZ-Blog (2017), „dass sich die Frage aufdrängt, ob wir sie nicht als Normalfall des Lebens auf unserem Planeten ansehen sollten.“ Vgl. auch Macho 2017.
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Wissenschaft des allen Antisemitismus eigentlich unverdächtigen Friedrich Nietzsche. Da heißt es: Was aber die Juden betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen […] von vorneherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der Tat ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist heute nicht – Jude? Auch der Jude als geborener Literat, als der tatsächliche Beherrscher der europäischen Presse übt diese seine Macht auf Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit aus: denn der Literat ist wesentlich Schauspieler – er spielt nämlich den „Sachkundigen“, den „Fachmann.“ (Nietzsche 1966, 235; § 361: „Vom Problem des Schauspielers“).
Juden, heißt das, diese ‚Flugmenschen‘, sind ohne Tiefe und ohne Transzendenz. Flusser aber kehrt solche antisemitische Zuschreibung für seine eigene Erfahrung des Exils einfach um, indem er Nomadentum nicht nur die Herkunft, sondern auch die Zukunft der Menschen in einer weltweiten Netzgesellschaft nennt. Das Exil hat ihn für alle Varianten der Bodenlosigkeit sensibilisiert: „Er sei entwurzelt wie eine Pflanze, die aus dem Boden herausgerissen sei, er habe den Grund unter seinen Füßen verloren, schwebe frei in der Luft.“ (Flusser 1992, 29) Die existentielle Erfahrung der ‚Freiheit des Migranten‘ macht ihn also nicht nur immun gegen jeden Nationalismus, sie stiftet auch die Grundlage seiner polyglotten telematischen Medientheorie. Aber die Flugmenschen haben nicht nur die Erde als Abgrund, sondern auch den Himmel. Nachdem Edwin Hubble schon 1923 der Kränkungsgeschichte der Menschen eine weitere dadurch zugefügt hatte, dass sein Observatorium unsere Milchstraße als nur eine von vielen erkannte, entreißt Buckminster Fullers Raumschiff Erde uns von Heideggers Aberglauben des Orts und von Carl Schmitts Einheit von Ordnung und Ortung, Raum und Recht. Mehr noch als das freie und charakterlose Meer, in das man nichts einritzen oder säen kann, ist der Weltraum die wirkliche Untiefe. In Filmen wie Kubricks 2001 im Weltraum, Cuaróns Gravity, Nolans Interstellar oder Tyldums Passengers – die letzten drei in 3D – erfahren wir sie leibhaft und schwindelig, wenn ein Blick in die Tiefe tatsächlich ins (wie immer computersimulierte) Unendliche geht. Und natürlich denken wir an David Bowies Major Tom. Der Differenzbegriff zu Tiefe, heißt das, ist nicht mehr Höhe, sondern Grund. Tiefe ist echte Tiefe nur dann, wenn sie grundlos ist oder abgründig. Nun begab es sich, um auf meine Schulgeschichte zurückzukommen, vor etwa acht Jahren, dass der gusseiserne, preußische Ikaros seinerseits stürzte – und zwar mitsamt dem Format, das ihn didaktisch domestiziert hatte. Denn die Kölner Erde tat sich gerade da auf, wo ihr kulturelles Gedächtnis scheinbar auf festem Grund ruhte: über ihrem Archiv.
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Abb. 1 04. 03. 2009 in Köln an der Stelle, an der sich das eingestürzte historische Stadtarchiv befand. Quelle: WDR/dpa
In ihrer bedeutenden Mediengeschichte der Akte berichtet Cornelia Vismann von einer für die Geschichte der französischen Nation bedeutungsschweren Alternative, vor die sich die Revolutionäre von 1789 gestellt sahen: „Löschen aller Speicher oder respect aux fonds.“ (Vismann 2000, 242) Eine effektive oder doch zumindest symbolische Zerschlagung des Ancien Régime und einen radikalen Neuanfang des politischen und zivilen Lebens versprachen sich die einen durch die Verwüstung der alten Archive und Verbrennung der Akten, während die anderen sie als Dokumente der überwundenen Unterdrückung bewahren wollten. Man weiß, welche der beiden Fraktionen sich durchgesetzt hat, ja die Revolution schließlich zum Anlass nahm, einen ganz neuen Typus des Archivs zu errichten, jenes Archiv nämlich, aus dem die Nation selber hervorgeht. Die Aktenvernichtung freilich, mit der die Revolutionäre sich in die Tradition der Archivstürme und Ikonoklasmen seit der Antike einreihten, beflügelte auch weiterhin die Vorstellungen von Neuanfang und Herrschaftskritik.⁴ So plädiert Bakunin als Alternative zur Guillotine für die „Abschaffung und Verbrennung aller Besitztitel, Akten über Erbschaften, Verkäufe und Schenkungen, aller Prozeßakten – mit einem Wort das ganze straf- und zivilrechtliche Papierzeugs.“ (Bakunin 1975, 877) Und Elias Ca Wie Wilhelm Meisters Philine lehrt, ist erfolgreicher als jede Aktenvernichtung die Akten- oder Bücherverstellung. Ein Riss im Symbolischen: Wenn das Register ihrer Archivierung nicht mehr dem ihres Benutzers entspricht, sind die Akten zwar nicht materiell vernichtet, aber doch für jeden Gebrauch gelöscht.
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netti berichtet in seiner Autobiographie vom Sturm auf den Wiener Justizpalast am 15. Juli 1927, den er als Student miterlebt hat: „Die Akten verbrennen! Die ganzen Akten!“, rief ein Mann immer wieder, und ein anderer gab aus der Menge wütend zurück: „Besser als die Menschen“, bevor er von dem Strom der Körper mitgerissen wurde, auf die die Polizei inzwischen gezielte Schüsse abgab (Canetti 1993, 231– 232). Später kehrt Canetti zu diesem Schlüsselerlebnis und zum Feuer als stimmigem Massensymbol immer wieder zurück – so in Masse und Macht und in seinem Roman Die Blendung, in dem der wahnsinnig gewordene Gelehrte sich selbst mitsamt seiner ganzen Bibliothek verbrennt. Aus acherontischer Tiefe steigen die deklassierten Massen auf, um mit aller historischen Tiefe Schluss zu machen: die ‚Primitiven‘, die ‚neuen Barbaren‘, die Kinder und Menschenfresser. Das Reset des kulturellen Gedächtnisses, dessen Lebensfeindlichkeit Nietzsche beklagen sollte, respektive sein revolutionärer Ersatz durch ein homogenes, widerspruchsfreies, mit einem Wort ‚oberflächliches‘ Narrativ, wäre also aus vulkanischer Tiefe einer Massenseele geboren, um alle historische Tiefe zu verschlingen – mit dem Psalmisten zu sprechen: „Abyssus abyssum invocat“ (Ps. 42, 8)⁵.
2 Schrecken Im Jahr 1978 legte Karl Heinz Bohrer seine Ästhetik des Schreckens vor, die den Untertitel Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk trug. Das Buch machte schon dadurch einigen Skandal, dass es die Vordenker und Autoren der ‚Konservativen Revolution‘ – oder, wie Bohrer sie nennt: „der präfaschistischen Intelligenz“ – nicht nur mit der europäischen und amerikanischen Avantgarde
Thomas Macho erinnert mich in diesem Zusammenhang an die Umkehrung des Programms der Aktenvernichtung und an Saul K. Padovers Lügendetektor. „Ich habe kein Volk gesehen, das so dokumentenfixiert war. Sie klammerten sich an Geburtsurkunden, Wehrpässe, Reisegenehmigungen, Entlassungspapiere, Taufscheine, Ariernachweise, Heiratsurkunden, Sozialversicherungsausweise, Gehaltsbescheinigungen, Arbeitsbescheinigungen, Impfpässe – an irgendwelche Papiere eben, die beweisen sollten, daß sie am Leben waren und wohl auch das Recht hatten, am Leben zu sein. Sie trugen Briefe bei sich, Fotos und Familienerinnerungen. Diese leidenschaftlichen Sammler von Papieren, zumal von amtlich beglaubigten, mit Unterschrift und Stempel versehenen Papieren boten einen amüsanten Anblick, bis einem klarwurde, daß dies das Verhalten von Sklaven war, die Bürokraten anbeteten. Im deutschen Polizeistaat waren Ausweise etwas Heiliges, Papiere verhießen Sicherheit. Erst sehr viel später, als ich in Buchenwald in einer Ecke die Leichenberge und in einer anderen die sorgfältig aufbewahrten Papiere der Ermordeten sah, wurde mir eine Eigentümlichkeit der Deutschen bewußt: es machte ihnen nichts aus, Menschen zu verbrennen, aber Dokumente wurden niemals verbrannt.“ (Padover 1999, 27)
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von Baudelaire über Edgar Allan Poe bis zu den Surrealisten auf eine Wellenlänge brachte, sondern dass es auch eine erstaunliche Nähe zwischen Autor von Das abenteuerliche Herz und Walter Benjamin konstatierte, namentlich zwischen dessen „Entsetzen“ und Benjamins „Chock“ als ästhetischen Kategorien. Natürlich reagierten beide auf die nämliche Kriegserfahrung, die keinen ideologischen Stein mehr auf dem anderen ließ und die sich aller Erzählbarkeit entzog, aber dass auch ihre Antworten und ihre poetischen respektive poetologischen Konsequenzen so nahe beieinander liegen sollten, das erregte 1982, als Ernst Jünger den Goethepreis der Stadt Frankfurt erhielt, doch gewaltigen Protest. In diesem Buch zitiert Bohrer nun aus dem Beginn der ersten Fassung von Das abenteuerliche Herz eine Passage, die die „Darstellung des Entsetzens“ enthält, „vorgestellt im Bilde übereinandergestellter Blechscheiben, durch die das fiktive Opfer, die Bleche nacheinander berührend, in die Tiefe stürzt“: So pflegt das Entsetzen den Menschen zu vergewaltigen – das Entsetzen, das etwas ganz anderes ist als das Grauen, die Angst oder die Furcht. Eher ist es schon mit dem Grausen verwandt, das das Gesicht der Gorgo mit gesträubtem Haar und zum Schrei geöffneten Mund erkennt, während das Grauen das Unheimliche mehr ahnt als sieht, aber gerade deshalb von ihm mit mächtigem Griffe gefesselt wird. Die Furcht ist noch von der Grenze entfernt und darf mit der Hoffnung Zwiesprache halten, und der Schreck – ja der Schreck ist das, was empfunden wird, wenn das oberste Blatt zerreißt. Und dann, im tödlichen Sturz, steigern sich die grellen Paukenschläge und toten Glühlichter der Schreckempfindung bis zum Entsetzlichen. Ahnst Du, was vorgeht in jenem Raume, den wir vielleicht eines Tages durchstürzen werden, und der sich zwischen Erkenntnis des Unterganges und tatsächlichem Untergang erstreckt? (Bohrer 1978, 79)
Bohrer liest Jüngers Darstellung auf der einen Seite wie eine Phänomenologie des Grauens nach den Kriegserlebnissen von Plötzlichkeit, Zerstörung, Technologie und dem Untergang der bürgerlichen Welt und ordnet sie auf der anderen Seite Darstellungen der Dekadenz von Edgar Allan Poes Maelström bis zu Aragons Le Paysan de Paris zu. Unübersehbar formatiert Jünger aber auch eine theologische Metapher neu: Phobos und Deimos, Furcht und Schrecken, wie wir sie bei Kierkegaard und Rudolf Otto oder in Heideggers Begriff der Angst finden und wie sie am Ende der neuzeitlichen Selbstermächtigung des Menschen und der Illusion von der Machbarkeit der Welt Ereignis werden. Tatsächlich vollzieht der abgründige Sturz des Opfers sich ja von Grund zu Grund mit zunehmender Beschleunigung bis zu dem entfesselten und ohrenbetäubenden Lärm der zerberstenden Bleche in direkter Umkehr von Hegels abendländischer Eschatologie, die vom sinnlichen Bewusstsein bis zum absoluten Geist Grund um Grund legt, bis uns aus diesem Geisterreiche die Unendlichkeit schäumt. Anders als die herkömmliche Geschichtsphilosophie, da hat Taubes gegen Blumenberg recht, rechnet Hegel ja nicht mit einer unendlichen
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Perfektibilität und einem permanenten Fortschritt, sondern mit einem unmittelbar bevorstehenden Auftauchen des geistigen Tiefenstroms der Geschichte, das er merkwürdigerweise im preußischen Staat lokalisierte. Für das Opfer dagegen erweist sich wie für Benjamins Engel jede Hoffnung auf einen tragenden Grund instantan als Illusion, und die Serie sich beschleunigender Enttäuschungen führt in einen Abgrund, der gemeinhin ‚gähnend‘ genannt wird – eben wie das Gesicht der Gorgo mit weit aufgerissenem Maul. „Was wir Fortschritt nennen“, Benjamins „Begriff der Geschichte“ (Benjamin 2010) abgewandelt, ist dieser Sturz. Schon in Büchners Drama der Revolution, die für Hegel gerade den Beginn einer Geschichte markiert, die aus ihrer Naturwüchsigkeit auf den Kopf, also auf den Gedanken gestellt wird, ist die Erde zu einer „dünnen Kruste“, geworden, „ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch ist. – Man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durchbrechen“ (so der „zweite Herr“). Aber in Jüngers Opfergeschichte fehlt selbst noch der Trost, den er dem „ersten Herrn“ in Dantons Tod spendet: „Aber gehen Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!“ (Büchner 1971, 36 – 37) Auch die Kunst kann die tragenden Illusionen nicht mehr ersetzen, mit denen Friedrich Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft zufolge eine gütige Natur den Menschen ausgestattet habe, um ihn vor dem Blick in die Tiefe der Wahrheit zu bewahren, wenn er wie auf dem Rücken eines Tigers über einem Abgrund reite - und damit davor, wahnsinnig zu werden. Das neunzehnte Jahrhundert hat angekündigt, geträumt, versprochen; das zwanzigste Jahrhundert dagegen hat deklariert, dass es handelt – hier und jetzt. Das ist es, was ich die Passion des Realen zu nennen vorschlage und ich bin überzeugt, dass hier für jedes Verständnis des Jahrhunderts der Schlüssel liegt. (Badiou 2006, 46)⁶
Badious geschichtsphilosophische Spekulation knüpft leicht erkennbar an eine Lacan’sche Unterscheidung an. Ihr folgend hätte er ergänzen können, dass das achtzehnte Jahrhundert mit seinen Tableaus, Repräsentationen und Kategorientafeln durch das Symbolische zu bezeichnen wäre, das ‚lange‘ neunzehnte durch das Imaginäre, das unvollendete zwanzigste aber durch das Reale, von dessen Ankunft ohne alle Deklaration, „Handlung“ und „Maßnahme“ Hugo Ball uns folgenden Bericht gibt: Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären […]. Die Welt zeigt sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch
Hinweis von Alexander Zons.
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verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. […] Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen. […] Turbinen, Kesselhämmer, Eisenhämmer, Elektrizität ließen Kraftfelder und Geister entstehen. […] Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, verzehrte die individuellen Gesichter in turmhohen Masken, verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander. (Ball 1984, 41– 42)
So Ball 1917 in der Endphase des Ersten Weltkriegs über Kandinsky, wie ihn mir Philipp Blom in seinem großartigen Buch über Die zerrissenen Jahre 1918–1938 souffliert hat.⁷ Tatsächlich hatten in diesem großen Krieg, dessen kulturelle Erneuerung große Teile der jungen Intelligenz Europas imaginiert hatten, alle wissenschaftlichen, technischen und moralischen Formate der neuzeitlichen Selbstverwirklichung so zerstörerisch über die Menschen triumphiert, die über sie definiert waren, dass in realen Stahlgewittern und unter Giftwolken allenfalls noch winzige Kreaturen übrig blieben, die dabei waren, vollends ihren Verstand zu verlieren. Lange vor Matrix, dem Film der Wachowski-Brüder von 1999, war also der Sieg der Maschinen vollkommen und der sogenannte Mensch ihre Simulation. Was liegt deshalb näher, als am Ende der Neuzeit auf ihren Ursprung zurückzukommen, der ja eine alternative Wendung für uns bereithält, wie sie grübelnder Tiefsinn am Leben hält.
3 Zurück also zu Luther?⁸ Schon die deutsche Mystik von Eckhart und Tauler bis Jakob Böhme hatte Gott nicht mehr in der Höhe, sondern im tiefsten Seelengrund gesucht, während aber die beiden ersteren ‚Grund‘ noch im Sinn des Satzes vom ‚zureichenden Grund‘ respektive aristotelisch als erste Ursache verstanden, mischt sich bei Böhme eine Tiefendimension ein, ein ‚Un-grund‘ als Terminus für eine göttliche Abgründigkeit und Dunkelheit, die auch durch tiefgründigstes Denken nicht zu erreichen ist. Luthers berühmte Trias, und nur auf sie wollen wir uns konzentrieren, aber geht noch einen entscheidenden Schritt weiter. Sola fide, die Lehre der Rechtfertigung ist polemisch nach zwei Seiten: Sie wendet sich gegen die Rechtfertigung durch gute Taten und gegen die scholastische Ausarbeitung des Glaubensproblems in der Lehre der fides caritate formata,
Hugo Ball hat seinen Vortrag in der Galerie Dada am 7.4.1917 gehalten. (Blom 2016, 5) Zurück zu Luther heißt das Buch meines Freundes Norbert Bolz, mit dem sich die folgenden Seiten auseinandersetzen.
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die – etwa bei Thomas – die Freundschaft zwischen Gott und Mensch voraussetzt. Nach 1 Joh. 4: „Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. […] Laßt uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.“ Für Luther ist dagegen die Liebe (und zwar die wechselseitige Liebe) nicht Voraussetzung des Glaubens, sondern umgekehrt die Liebe zu Gott eine „Art von Dankbarkeit“ für den Glauben. Gott aber ist weder bestechlich noch überhaupt kalkulierbar, sondern wesentlich deus absconditus. Er ist nicht aristotelisch oder scholastisch Grund von allem, also der Episteme einer Theo-logie zugänglich, sondern in all seiner augustinischen Absurdität nur der Pistis, dem Glauben. Hans Blumenberg hat in seiner großen Rehabilitation der neuzeitlichen Selbstbehauptung des Subjekts gezeigt, wie curiositas sich schon innerweltlich als Erzsünde und deren Strafe in eins erweist: als acedia (Blumenberg 1996), Mutter aller Melancholie und tiefsinnigen Grübelei, gegen die nur bedingungsloser Glaube hilft, während keine gute Tat heilsrelevant ist – beinahe schon im Gegenteil, denn nur als Sünder haben wir die Chance, der Vergebung und der Gnade des tiefen und dunklen Gottes teilhaftig zu werden. Als ‚Verzweiflung‘ übersetzt ein hellsichtiger Kierkegaard die Sünde, erst recht aber die abgrundtiefe acedia, Verzweiflung in Gott (Kierkegaard 1969, 2. Abt. passim). Deshalb: Peccate fortiter, sündigt tapfer. In seiner Verzweiflung vertraut der Mensch auf Gott; ist diese Rechnung einmal beglichen, so kann er sich umdrehen und in der Welt seinen Geschäften nachgehen. Paulus Zweiweltenlehre (im Extremen: für Gott so leben, als ob es keine Welt gäbe, für die Welt so, als ob keinen Gott) rechtfertigte sich durch die Naherwartung und die Vergleichgültigung der Welt. Um Luthers Rechtfertigungslehre steht es anders: Die Folgen sind unübersehbar. Gott lässt sich nicht kalkulieren oder durch Geldopfer oder gute Taten bestechen, das ist auch das Zentrum der Gnadenlehre. Gnade ist ja Gnade eben dadurch, dass sie unverdient zufällt. Gottes Wille aber ist dunkel durch und durch, Dunkle Gnade, wie ein Buchtitel meines Freundes Peter Strasser heißt (2007). Nicht Dämonen oder Schatten beherrschen die Tiefe, nicht Heuschrecken oder das große Tier steigen aus ihr auf, nicht Gott selbst zirkelt die Welt und ihren Kosmos aus höchster Höhe, nicht ist er Grund, sondern Abgrund. Er gleicht nicht dem Über-Ich, sondern dem Unbewussten, dort wo verzweifelter und grübelnder Tiefsinn ihn sucht, eher der Anamnese und den Träumen zugänglich als der Gelehrsamkeit. Vielleicht ist die Erfolgsgeschichte des Subjekts gerade nicht in seiner Selbstermächtigung und in einer gnadenlosen Neuzeit zu finden, sondern dort, in der tiefsten Tiefe, wo ein Ich sich selbst entzweit und Gott sucht. Und je mehr der sich entzieht und verbirgt, je weniger er gerechtfertigt und zu Rate gezogen werden kann, desto tiefer und isolierter ist dieses grübelnde Ich. Bis in die deutsche Romantik hinein, ja bis Wittgenstein und über ihn hinaus bleibt es auf seiner Suche nach dem verborgenen Gott, ja der kleine, hässliche Doppelgänger
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des neuzeitlichen sich selbst setzenden Subjekts, seine manisch-depressive Kippfigur.⁹ Sola scriptura, nur und allein die Schrift und keine ‚Tradition‘ (wie katholisch im Konzil von Triest festgelegt) ist offenbarungsrelevant, was ja auch heißt, dass Offenbarung mit den biblischen Schriften abgeschlossen ist und nicht durch andere Exempla, durch Erziehung, durch menschliche oder künstlerische Perfektibilität oder durch die Geschichte des Geistes fortgesetzt oder gar abgeschlossen werden kann. Erich Auerbach hat in seiner Studie Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur einen Hinweis darauf gegeben, warum diese Schriften im starken Unterschied zu den antik-homerischen eine Tiefendimension haben, die den jüdischen und christlichen Glauben durch und durch mit Geheimnis tingiert (Auerbach 1946, 17– 19). Zum einen haben sie natürlich die Autorität von Priesterschriften, während die Griechen das Glück hatten, dass Dichter ihnen ihre Götter und Helden gestiftet haben. Zum anderen sind sie aus den unterschiedlichen Genres, Erzähltraditionen und Narrativen synthetisiert und darüber hinaus von Unvollständigkeiten, Widersprüchen und Textlakunen durchlöchert, während Homer die epischen Exkurse und erzählerischen Einschübe vollständig in die Erzählgegenwart hineinholt, in der alles vordergründig bleibt. Während also die Griechen allenfalls oberflächlich aus Tiefe sind, wie Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft sagt (Nietzsche, Bd. 2, 15), verdanken sich für die Christen die Tiefe des Textes und das Geheimnis des Glaubens einer autoritativen Textredaktion. Credo, quia absurdum, aber ohne Absurdität wäre Glaube ja auch gar nicht nötig – sondern nur ein angemessenes Textverständnis. Wer tief glaubt, darf nicht verstehen. Offenbarung heißt das, solange sie an scriptura und nicht an Medien wie Blitz, Traum, Vision, Inspiration und dergleichen gebunden ist, ist also dem Vernunft-TÜV einer ‚Kritik aller Offenbarung‘ à la Fichte oder einer duplex religio à la Kant gar nicht erst zugänglich: aus Tiefe. Und auch die Geschichtsphilosophie kann sie nicht ersetzen. „Die spekulative Philosophie übernimmt die integrierende Rolle, die ‚das alte theologische Einheitsmodell von Geschichte‘ seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht mehr glaubwürdig ausfüllen kann“, so Albrecht Koschorke in seinem Buch Hegel und wir (Koschorke 2015, 61). Nachdem von Lessings oder Herders Erziehung nicht nur des Menschen, sondern des gesamten Menschengeschlechts nach 1789 nicht mehr gesprochen werden kann und die ‚unendliche Perfektibilität‘ vom moralischen ins poetische Fach wechselt, löst
Georg Friedrich Wilhelm Hegel hat wohl an so etwas gedacht, als er (romantische) Ironie als die feindliche Zwillingsschwester mystizistisch grübelnder Abgründigkeit erkannte. Vgl. dazu Behler 1997, 115 – 149.
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sich in Hegels großer Erzählung das Subjekt der Geschichte völlig von den Menschen ab, um die Geschichte des erscheinenden Geistes von seinem unbewussten Tiefenstrom bis hin zu dessen Selbstoffenbarung zu verfolgen. Freilich endet der Lauf durch die Zeiten weder im revolutionären Frankreich, noch im industrialisierten England und auch nicht in den Zukunftsweiten des amerikanischen Kontinents, sondern – umso schlimmer für die Tatsachen – ausgerechnet im unterentwickelten und durch die Napoleonischen Kriege zusätzlich heruntergekommenen Agrarstaat Preußen, genauer gesagt in der Berliner Universität, wo Hegel am 22. Oktober 1818 seine Antrittsvorlesung hält. „Das, was Hegel seiner Auffassung zufolge, unter ‚Geschichte‘ versteht, schließt“, mit Robert B. Pippin zu sprechen, ein „dialektisches“ und progressives Narrativ ein, das heute als ein anachronistisches Produkt idealistischer, systematischer Ambitionen erscheint, die man nicht mehr ernst nehmen kann. Was könnte offenkundiger sein, als daß die Geschichte, nicht teleologisch progressiv verläuft und daß man die moderne Welt nicht als „Verwirklichung der Freiheit“ ansehen kann. (Pippin 2012, 207)
In Hegels Geschichtsphilosophie wurden nicht nur die Religion, sondern auch die schönen Künste als Altkleider zurückgelassen, die ihres zunehmenden Realitätsverlusts wegen allenfalls noch für die Asservatenkammer taugen. Ist sein Satz vom ‚Ende der schönen Kunst‘ angesichts ihres eigenen Bankrotts aber noch tragfähig? Nicht Philosophie, wohl aber Kunst hält sich ja, Adornos berühmten ersten Satz der Negativen Dialektik ¹⁰ abgewandelt, am Leben, weil deren Verwirklichung versäumt ward. Koschorke wundert sich noch darüber, wie lange Hegels Staatsphilosophie als preußisches Legitimationsnarrativ dienen konnte, aber schon die tiefsinnigen romantischen Grübler, die Träumer und Somnambulen, Klosterbrüder und Wahnsinnigen, die Burkhard Meyer-Sickendieks grundlegendes Buch über Tiefe einsammelt, verweisen auf eine religiöse Musikalität als Nachtseite seiner kontrafaktischen Vernunft. Auf sie hätte sich Jacob Taubes berufen können, wenn er immer wieder zu zeigen versuchte, dass gerade die Verfahren, Formate und Selbstüberschätzungen der Kritik aller Offenbarung zu den großen Geschichtskatastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts geführt haben. Gegen ihre rationalistische und geschichtsphilosophische Verwindung erweist sich die Wahrheit der Offenbarung dann gerade im Inkommensurablen und Vernunftwidrigen. Statt also Offenbarung in Vernunftgeschichte und in die (stahlharten und kerkerförmigen) Institutionen des objektiven Geists aufzulösen,
„Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ (Adorno 1966, 13)
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käme es darauf an, die Geschichte, und sei sie noch so ‚vernunftwidrig‘ oder wahnsinnig, wieder in die Tiefe des Offenbarungsgeschehen einzurücken und dadurch möglicherweise zu ‚retten‘.¹¹ Taubes’ Obsession, gegenwärtige Katastrophen in die Tiefe biblischer Ereignisse zu durchstechen und dadurch eine extrem diskontinuierliche Heilsgeschichte zurückzugewinnen, war, wie man weiß, immer wieder von Anfällen abgründiger Paranoia und anderer „Krankheiten des Kopfs“ begleitet, die nur auf denkbar neuzeitliche Weise, nämlich mit harten Psychopharmaka nicht geheilt, aber gelindert werden konnten. Ähnlich erging es freilich auch schon den ‚Offenbarungen‘ der Romantiker, soweit sie sich nicht wie Friedrich Schlegel, Schelling, Görres, Baader und viele andere auf die fundamentalistische katholische Seite hinübergerettet hatten: Novalis’ Hieroglyphen werden seit dem Fund von Rosetta Stone les- und übersetzbar; das Unbewusste, für Jean Paul das stärkste und mächtigste im Dichter, erweist sich wenige Dekaden später als verdrängtes Bewusstes, mehr fait sociale als alles andere; der Götterfunke des Enthousiasmos verwandelt sich bei E. T. A. Hoffmann ins dunkle Feuer des Punschs, andere und stärkere Drogen werden folgen; das ‚Ich‘, das sich in tiefster Tiefe unheimlich als sein eigener Doppelgänger begegnet, lässt sich im Stummfilm als einfache Doppelbelichtung simulieren, wie sie 1913 Guido Siebert für Ewers/Ryes/ Wegeners Student von Prag entwickelt hat; die Glossolalie etwa Katharina Emerichs, von Brentano mühsam transkribiert, die automatische Schreibe der Surrealisten, sie folgen, wie schon Hardenberg ahnte, einem Maschinenalgorithmus. Es war Jorge Luis Borges, der in seiner „vollständigen Bibliothek von Babel“ (Borges 1974, 47– 57) auf seine Weise die Geschichte des sogenannten InfiniteMonkey-Theorems rekonstruiert hat, das bekanntlich besagt, dass ein an eine Schreibmasche geketteter Affe (oder eine Million von ihnen) irgendwann im Unendlichen sämtliche Werke Shakespeares schreiben werde – oder aber die Bibel. Tiefe, in einem Wort, findet sich an der oberflächlichsten Oberfläche der Schriften, Bilder, Algorithmen und Simulationen. Was aber geschieht mit den Grüblern, was mit dem Grund?
4 Grund und Grübeln Die ‚Moderne‘ wird seit ihrem Beginn in der von Reinhart Koselleck so genannten ‚Sattelzeit‘ im achtzehnten Jahrhundert üblicherweise durch die Trias Säkulari-
Vgl. Ritz 2015, 253 – 358; Kap. VI: Jacob Taubes – Die Neuzeit aus der Perspektive der Heilsgeschichte.
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sation, Konstruktion und Abstraktion definiert. Sie bezeichnet eine neue Kontingenzkultur als Emanzipation von einem letzten Grund und dessen Begründungsleistungen: Der Wahrheit der Offenbarung, der ersten Ursache der Metaphysik, der Realität der Schöpfung. „Eine völlig neue Weltauffassung, die heute Physik, Logik, Linguistik und Ästhetik durchzieht, macht sich damit bemerkbar“, so Max Bense in „Jabberwocky“, seinen „Folgerungen zu einem Gedicht von Lewis Carroll“, „eine Weltauffassung, in der, um es kurz und knapp zu sagen, Seiendes durch Häufigkeiten, Qualitäten durch Quantitäten, Gegenstände durch Zeichen, Eigenschaften durch Funktionen [und] Kausalität durch Statistik ersetzt ist“. (Bense 2000, 71) Bense beschreibt eine Welt ohne Tiefe und ohne Grund. Ich selbst hatte dagegen vor einiger Zeit die Frage gestellt, ob es nicht auch eine gegenläufige Ontologie der Moderne geben könne, die Emanzipation nicht vom Grund sondern eine Emanzipation des Grundes selbst, dessen Begründungsleistung ja nicht mehr gebraucht wird (Zons 2014, 269 – 292). Was könnte das heißen? Der Grund emanzipiert sich von allem Begründeten, er ist Grund in sich und nur dies, ohne noch ein Komplement an dem zu finden, was auf ihm ruht – Emanzipation des Grundes also von aller Begründung und erst recht von aller Letztbegründung. Meine Beispiele waren die Emanzipation des Grundes von der Figur seit Caspar David Friedrich, des Klangs von der Melodie von Beethoven bis Wagner, des Papiergelds von der Golddeckung in Faust II, die Emanzipation schließlich der Stimmung – der politischen wie der poetischen – von der Stimme Gottes, des Souveräns, des Dichters und seines ‚Gefühls‘. Der Grund, heißt das, kehrt an der Oberfläche wieder und überlässt die Tiefe der Tiefe. Wie aber lässt sich aus der grundlosen Tiefe heraus nicht nur grübeln, sondern auch handeln, nämlich also unbegründet handeln? Ich glaube, um an ein Ende zu kommen, die Literatur- und Philosophiegeschichte hält für uns zwei diametral unterschiedliche Antworten bereit. Die eine findet sich in André Gides Roman Les Caves du Vatican von 1914, in dem der Immoralist und Nietzscheaner Lafcadio auf der Eisenbahnfahrt nach Brindisi den ihm völlig unbekannten, pedantisch gekleideten Spießbürger Amédée über einer Brücke aus dem fahrenden Zug stößt: ein Verbrechen ohne Motiv, ein, wie Gide es nennen wird, acte gratuit. ¹² Von Dostojewskis Dämonen bis Truman Capotes Kaltblütig, von Alfred Hitchcocks Rope bis Bret Easton Ellis’ American Psycho, von Joseph Conrads Lord Jim bis Albert Camus’ Der Fremde oder Max
Freilich wird von Lafcadio auch berichtet, er habe, sein eigenes Leben riskierend, zwei Kinder aus einem brennenden Haus in Paris gerettet und sei stumm davongegangen, um die Absichtslosigkeit seiner Tat zu unterstreichen.
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Frischs Graf Öderland, überall finden sich dafür Beispiele zuhauf und erst recht im Aufstieg eines „aktiven Nihilismus“, wie ihn Navid Kermani schon kurz nach dem 11. September 2001 in einer starken Gegenthese zu einer ‚Wiederkehr der Religionen‘ in den medienwirksam inszenierten politischen Suizidanschlägen unserer Tage diagnostiziert hat (Kermani 2002).¹³ Die andere in der Erzählung Herman Melville Bartleby the Scrivener von 1853, deren Titelheld jede Tätigkeit mit den Worten ablehnt: „Ich möchte lieber nicht“, „I would prefer not to“ (Melville, passim). Keine Frage, der Zögerer, Zauderer und am Ende in seiner zum Mausoleum verwandelten Kanzlei Verhungernde ist der Zwillingsbruder des Grüblers im Felde der Praxis. Arthur Schopenhauer lehrt des Willens Widerwillen, der von lauter leerer ‚Entschlossenheit‘ gebrannte Martin Heidegger findet schließlich seinen Weg zur Gelassenheit als Haltung. Und für Jacques Derrida oder Joseph Vogl beispielsweise verlässt Prokrastination das Feld des lediglich Pathologischen und wird zur Lebensform in abgründigen Zeiten. Ihre Maxime könnte heißen: Wann immer du entscheiden kannst, zu handeln oder nicht zu handeln, handle nicht!¹⁴ Schiebe auf! Dreh dich um!¹⁵
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Ich verdanke den Hinweis meinem Freund Thomas Macho (2017, 302–303 und 447). Im Daoismus ist Wu Wei Name und Ausdruck für ein solches nichthandelndes Handeln, in dem getan wird, was getan werden muss. Wu Wei schließt sowohl Übereifer und blinden Aktionismus, als auch ein Handeln im Auge des anderen aus, wie es in Kants goldener Regel formuliert ist. Dank an Julia für ihre Korrekturen und Hilfen.
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Mummelsee und Mundus subterraneus: Tiefenwissen bei Grimmelshausen und Athanasius Kircher 1 Tiefenwissen und Geokosmologie Hans Blumenberg hat in seiner Legitimität der Neuzeit die Um- und Aufwertung der ‚theoretischen Neugierde‘ (curiositas) gegenüber der augustinischen Tradition als entscheidende epistemische Wendemarke zur Moderne beschrieben (Blumenberg 1998a, 263 – 509). Diese positivierte curiositas habe u. a. ein neues „Interesse am innerweltlich Unsichtbaren“ (Blumenberg 1998a, 422) und eine Abkehr von metaphysischen Tabus hervorgebracht, die sich zuvor an das „überweltlich“ bzw. „unterweltlich“ Unsichtbare, Himmel und Hölle also, hefteten.¹ Dieses Interesse ist mit realen wie epistemischen Expansionsbewegungen verbunden. Im Zeitalter der frühen Globalisierung² weitet sich der planetarische zum inter- wie zum innerplanetarischen Blick. Das Weltall besteht nunmehr aus einer ‚Pluralität von Welten‘. Die Kryptokosmologie, wie sie sich in der Tradition der literarischen Weltraumreisen seit dem sechzehnten Jahrhundert niederschlägt, spiegelt die globalen Kulturkontakte, Handels-, Kommunikations- und Informationsströme (grundlegend dazu Guthke 1983; Maus de Rolley 2011). Das Unsichtbare ist nun das noch nicht Sichtbare, über das sich spekulieren und literarisch phantasieren lässt. Expansion und Homogenisierung des neuzeitlichen Raumes der Sichtbarkeit erfolgen dabei in drei Richtungen: in die Weite des Universums, in die geographische Breite der neuen Länder und Kontinente sowie in die Tiefe der unterirdischen Welten.³ Neben dem Kosmos regt nun auch der ‚Geokosmos‘ die wissenschaftliche Spekulation an. Der jesuitische Polyhistor Athanasius Kircher prägt diesen Begriff in seinem epochalen zweibändigen Werk Mundus subterraneus (1665, 21678), der „erste[n] Enzyklopädie der Geologie“ (Kelber und Okrusch 2002, 131), und zwar Zum ‚Niedergang der Hölle‘ im achtzehnten Jahrhundert vgl. die klassische Darstellung Walkers (1964) sowie die unter Anm. 3 zitierte Literatur. Dieser Prozess ist in den vergangenen Dekaden in ‚globalgeschichtlicher‘ wie postkolonialer Perspektive intensiv diskutiert worden. Ich verweise auf die konzise, abgewogene Zusammenfassung der Faktoren bei Osterhammel und Petersson 2007, 27– 45. Zum Thema Unterwelten vgl. Hamm und Robert 2014; Herzog 2006; Platthaus 2004; Görner 2014; Berressem et al. 2012 (zur Geschichte der Hohlweltidee). https://doi.org/10.1515/9783110634730-007
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als Synonym für ‚Erdball‘ („globus terrenus“); ‚Geokosmos’ bezeichnet die physisch-geologische Qualität des Planeten, eben jene ‚Welt unter der Welt‘ („sub Mundo mundus“; Kircher 1665, Bd. 1, praefatio unpag.), die das enzyklopädischpolyhistorische Werk erstmals als eigenen Gegenstandsbereich zu erhellen versucht. Gott habe, so Kircher, im geocosmus wie „in einer Synthese“ („epitome“) den gesamten Kosmos zusammengefasst, damit der Mensch als „Herr der Welt“ ihn als Gottes Schöpfung erkennen und würdigen könne.⁴ Damit sind Ziel und Gegenstand der neuen Disziplin bezeichnet. Erst bei Kircher gewinnt die Geologie als ‚Geokosmologie‘ jene disziplinäre Geschlossenheit, die sie zum wissenschaftlichen Pendant der Kosmologie werden lässt. Erst im Mundus subterraneus konstituiert sich ein Tiefenwissen, das über das der modernen Geologie hinausgeht, weil es nicht nur die Tiefen der Erde, sondern auch die des Meeres und des Meeresbodens (samt seiner Bewohner) in einen Wissenshorizont integriert. Dabei nimmt Kircher empirisches Wissen, theosophische Spekulation und tradierte Wissensbestände – darunter auch Literatur – gleichermaßen auf und visualisiert sie in zahllosen Illustrationen. Seine „centrosophia“ (Kircher 1665, Bd. 1, 55) zeigt aber auch die Schwierigkeiten bei der Erhellung des ‚innerweltlich Unsichtbaren‘. Tiefenwissen ist stets prekäres Wissen⁵, das – wie das Wissen von den fernen Planeten – entweder auf Spekulation und Imagination oder auf die ambivalente Empirie des ungeprüften, subjektiven Augenzeugenberichts angewiesen bleibt. So ist der mundus subterraneus auch eine poetogene Zone: Zum einen findet die Literatur hier einen Spiel- und Imaginationsraum für Ander- und Gegenwelten, die die verkehrte Weltordnung über der Erde durch eine ideale unter der Erde kontrastieren. Zum anderen kann auch die Wissenschaft am Rande des Sichtbaren nicht auf literarische Strategien der Evidenzerzeugung verzichten. Eine Literaturgeschichte des Wissens muss solche Wechselwirkungen zwischen Wissen und Literatur in beide Richtungen verfolgen: einerseits die Integration von Wissen in Narration, andererseits die Integration von Narration in Wissen. Sie muss also Wissensgeschichte der Literatur und Literaturgeschichte des Wissens verbinden. Während die erste Facette – d. h. die Literarisierung/ Narrativierung von Wissensbeständen (= Wissensgeschichte der Literatur) – in quellenphilologischer, dann in wissenspoetologischer Hinsicht zuletzt verstärkt
Kircher 1665, Bd. 1, 55: „Globus Terrenus, quem Geocosmum sive Mundum Terrestrem appellamus, uti est universae Creaturae finis & Centrum, ita ea quoque a Divina Sapientia rerum opifice, arte & industria dispositus est, ut quicquid in universo virium, quicquid in particularibus stellarum globis proprietatum abditarum latet, id totum in hunc veluti in epitomen quandam congestum videatur […].“ Im Sinne Mulsows (2012); vgl. den Begriff des ‚unsicheren Wissens‘ bei Spoerhase et al. 2009.
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untersucht wurde,⁶ liegen zu einer Literaturgeschichte des Wissens, welche die Bedeutung genuin literarischer Elemente und Strukturen in Sachtexten (z.T. Kirchers Mundus subterraneus) behandelt, lediglich programmatische Vorüberlegungen und sporadische Einzeluntersuchungen vor (exemplarisch Vogl 1997). Weite Teile der literature and science-Debatte sind „implizit einem Einbahnstraßenmodell gefolgt.“ (Pethes 2003, 221) Eine Literaturgeschichte des Wissens zielt jedoch auch und gerade auf „die Poetologie ihrer Formen“ (Vogl 1997, 118). Diese umfasst Fragen der Narrativierung, der Gattungs- und Formengeschichte, der Metaphorologie oder der Speicherung von Wissen (Pethes 2003, 222– 231). Als poetisch-rhetorische Apriori bestimmen sie den Möglichkeitshorizont der Erzeugung wissenschaftlicher Tatsachen. Dass dabei die Grenze zwischen fiction und non-fiction immer wieder brüchig wird, ist für das Tiefenwissen des siebzehnten Jahrhunderts charakteristisch. Die folgenden Überlegungen zielen darauf, diese Wechselwirkung zwischen Textsorten und Wissensformen, wie sie das Tiefenwissen des siebzehnten Jahrhunderts bestimmt, an zwei prominenten Beispielen aufzuzeigen: Athanasius Kirchers Mundus subterraneus und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)⁷, ein Text, in dem es „um Aneignung und Erprobung ganz unterschiedlicher Wissensbestände geht, anhand derer der Protagonist seine Position in der Welt zu klären sucht.“ (Neumeyer 2013, 306) Ihren Schnittpunkt haben beide Autoren bzw. Texte in ihrem Interesse an Tiefenwissen, ‚Geokosmologie‘ und ‚Centrosophie‘. Im Fall der berühmten ‚Mummelsee-Episode‘ im Simplicissimus Teutsch, die für die weiteren Überlegungen den Ausgangspunkt bildet, bestehen textgenealogische Beziehungen zu Kircher, die einen unmittelbaren Vergleich ermöglichen werden. Denn „der vermeintlich naive Erzähler stand den gelehrten Debatten seiner Zeit erstaunlich nahe“ (Martin 2010, 7). Grimmelshausen wie Kircher (hinzu kommt dessen Schüler Kaspar Schott) explorieren in ihren Texten das centrum terrae als jenen Ort, von dem aus sich die göttliche Ökonomie und die Position des Menschen in dieser erschließen lassen. Nahezu zeitgleich entstanden, zeigen beide Texte die epistemologischen und literarischen Entwicklungspotentiale des barocken Tiefenwissens: Bei Grimmelshausen ist das Zentrum der Erde, zu dem Simplicius in der Mummelsee-Episode vorstößt, erzählstrukturell ein exzentrischer Ort, weil er kurz vor Ende des Romans (d. h. der ersten fünf Bücher) den Protagonisten aus der Handlung abzieht, um die grundsätzlichen Fragen nach der
Den vorläufigen state of the arts dokumentiert das Handbuch von Borgards et al. 2013. Ich folge der Ausgabe von Dieter Breuer im Klassiker-Verlag (1989), im Folgenden zitiert als ST mit Angabe der Seite und ggf. des Kapitels.
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Stellung des Menschen in der Welt und nach der Möglichkeit seiner Erlösung zu stellen. Steht Kirchers ‚Geokosmologie‘ am Anfang der Geologie als Wissenschaft, so setzt die Tradition der fiktiven Unterweltsreisen, der proto-science-fiction, unmittelbar bei Grimmelshausen an. Dass Kirchers Mundus subterraneus zur Quelle für Schillers Ballade Der Taucher (1797)⁸ wie für Jules Vernes’ Roman Vingt mille lieues sous les mers (1869/70) werden wird (Zanot 2011), zeigt, wie nachhaltig die Geokosmologie eine Austauschzone zwischen Wissen und Erzählen generiert. Blickt man aus der Rückschau auf beide Texte, so zeigen beide eine irritierende Hybridität und Heterogenität – in Form wie Gehalt. Sicheres und unsicheres, „narrativ und argumentativ geformtes Wissen“ (Struwe 2016, 16 – 23; Bruner 1986) durchdringen sich. Während Kircher in seiner Widmungsvorrede an Papst Alexander VII. seinen Text als heroische Katabasis in die Nähe der Vergilischen Aeneis (Buch VI) rückt,⁹ reflektiert Grimmelshausen die Hybridität seines Romans in dem berühmten Titelkupfer der Erstausgabe (vordatiert 1669; tatsächlich 1668), die den Text als emblematisches argumentum einleitet (Abb. 1; zum Titelkupfer Gersch 2004; Bergengruen 2007, 267– 285; Bergengruen 2008). Die monströse Kreatur – eine Chimäre mit Satyrkopf – lässt sich dreifach lesen: Einerseits (1) verweist sie auf die „moralische Monstrosität“ (ST, 794) des Protagonisten, der in der subscriptio spricht, andererseits (2) auf den monströsen Text selbst und dies zunächst (a) im Hinblick auf dessen hybride Form (mixtum compositum), dann b) im Hinblick auf dessen satirische Schreibart. Der Satyr repräsentiert nach zeitgenössischer Etymologie die Satire, die Grimmelshausen zu Beginn der Continuatio ausdrücklich gegen den trockenen „Theologische[n] Stylus“ (ST, 564) verteidigt. Der Autor rechtfertigt sich gegen den Vorwurf „ob gienge ich zuviel Satyricè drein“ (Continuatio I, ST 563). Damit ist der Satyr (3) eine Verkörperung bzw. Vermummung des Autors selbst, eine auktoriale Meta-Maske: Denn sie ermöglicht es, eine Welt zu enthüllen, die – wie die auf dem Boden liegenden Theatermasken des Titelkupfers andeuten – eine maskierte und ‚verkappte‘ ist, die von ständigen Szenen-, Glücksund Rollenwechseln bestimmt wird (Neri 1987). In ihr lässt sich Simplicius – so eine Kapitel-Überschrift (I, 14) – „wie ein Rohr im Weyer umbtreiben“. Der Picaro durchbricht die Wahn- und Illusionsstruktur der Wirklichkeit, indem er satirische Offenheit mit dem realistischen Blick hinter die Kulissen verbindet. Dieser kalte Blick wird ethnologischer Blick, wo er die „Grausamkeiten in diesem unserm Kircher 1665, Bd. 1, 98 (II, Kap. 14); Robert 2020a. Praefatio (unpag.): Er, Kircher, betrete mit Hilfe des Summus pontifex ein unterirdisches Heiligtum: „Rimabor ego terrae viscera, & ostia tenebrosa videbo, ut ex illis introspectis thesauros lucis erudiam.“
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Abb. 1. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1669), Titelkupfer der Erstausgabe.
Teutschen Krieg“ (ST, 27) offenlegt. Er kann sich aber auch in einem Willen zur Empirie niederschlagen. Diesen Realismus¹⁰ aus satirischem Geist, der die Wahrheit unter der Oberfläche hervorholt und die Dinge beim Namen nennt, rechtfertigt der Erzähler/Autor durch eine hermeneutische Figur, die er dem traditionellen Prinzip des mehrfachen Schriftsinns, der ‚integumentalen‘ Deutung, Hier lohnt es sich, an die älteren, zwischenzeitlich zu Unrecht belächelten Debatten um den Realismus im Roman des siebzehnten Jahrhunderts zu erinnern, wie sie ausgehend von Alewyn 1932 und Hirsch 31979 v. a. im Kontext des sozialgeschichtlichen Paradigmas in den 1970er Jahren geführt wurden. Für Grimmelshausen vgl. Geulen 1977, 31– 40; Gelzer 2007.
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entnimmt, die zwischen literalem und geistigem Sinn unterscheidet. Daher wird der Leser vor einer oberflächlichen Lektüre gewarnt: [L]äst sich aber in dessen ein und anderer der Hülsen genügen und achtet deß Kernen nicht / der darinnen verborgen steckt / so wird er [d. h. der Leser; J. R.] zwar als von einer kurtzweiligen Histori seine Zufriedenheit: Aber gleichwohl das jenig bey weitem nicht erlangen / was ich ihn zuberichten aigentlich bedacht gewesen[.] (Continuatio I, 1; ST, 564)
Der Titelkupfer scheint dieser Dialektik von Hülle und Kern, Buchstabe und Geist recht zu geben, die in der Grimmelshausen-Forschung eine notorische Suche nach einer „Geheimpoetik“ (Gersch 1973; Weydt 1968, 243 – 301) des Simplicissimus genährt hat. Immerhin: Die Dialektik von „Hülsen“ und „Kernen“ bestimmt die Mummelsee-Episode, in welcher der Held „mit den Sylphis in das Centrum Terrae fährt“ (ST, 489), in einem ganz buchstäblichen und „aigentlichen“ Sinn: Wie der Roman von der täuschenden Oberfläche zum wahren Kern vorstößt, so will auch Simplicius mit seiner Reise zum Mittelpunkt der Erde dem „verkappte[n] Wesen“¹¹ des Sees auf den Grund gehen. Das centrum terrae wird damit zum hermeneutischen Zentrum des Werkes.¹² Das Tiefenwissen, das Simplicius während seines descensus erfährt, ist jedoch unsicheres Wissen, Narration im Modus der Satire. Mummelsee-Episode und Titelkupfer verweisen aufeinander: Die Monstrosität des Textes ist nicht nur seiner chimärischen Diversität und satirischen Drastik geschuldet, sie resultiert auch aus seiner wissenspoetischen Zwitterstellung, deren Kern und Zentrum die Mummelsee-Episode ist.
2 Unsicheres Wissen – offener Text Die Mummelsee-Episode findet sich im fünften und letzten Buch des Simplicissimus Teutsch (Kap. 10 – 18)¹³. Wir begegnen dem Protagonisten, kurz bevor er
ST, 487: „Jch [d. h. Simplicius; J. R.] zwar sagte / der Teutsche Nahm Mummel-See gebe genugsam zu verstehen / daß es umb ihn / wie umb eine Mascarade, ein verkapptes Wesen seye / also daß nicht jeder seine Art so wol als seine Tieffe ergründen könne.“ Zum Konzept der Reflexionsfigur Gerok-Reiter und Robert 2019. Auch Breuer weist der Mummelsee-Episode eine, auf den gesamten Roman ausstrahlende, symbolische Bedeutung zu (ST, 958): „Die Ergründung der Tiefe des Mummelsees ist somit zugleich der Versuch, in den Veränderungen des Lebens das Wesen zu erkunden.“ ST, 483 – 519; eine neuere, populäre Zusammenfassung bietet Martin 2010; zur utopischen Perspektive Kraft 2018. Eickmeyer 2007 spricht von Science Fiction (273 – 277 zur MummelseeEpisode); ein wichtiger Ausgangspunkt für Wissensgeschichtliches ist Mielert 1942. Dazu auch
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nach einem „abenteuerlichen“ Weg durch den „Teutschen Krieg“ und seine „Grausamkeiten“ (I, 4; ST, 27) diese Welt des Scheins, der Illusion und des Betrugs wieder – wie es heißt – „freywillig quittiert“. Denn dieser Melchior Sternfels von Fuchshaim alias Simplicius Simplicissimus kehrt am Ende wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück. Buch V schließt mit dem Vorsatz, „dass ich die Welt verliesse / und wider ein Einsidel ward“ (V, 24; ST, 551). So „[b]egab [ich] mich derhalben in eine andere Wildnus / und fienge mein Spesserter Leben wieder an“: Wie wir Simplicius – noch namenlos – in paradiesischer Einfalt bei Knan und Meuder (den vermeintlichen Eltern) im Spessart gesehen hatten, so sehen wir ihn am Ende nach der Lektüre erbaulicher Bücher zu einem förmlichen „Adjeu Welt“ (ST, 544) ansetzen. Das Ende des fünften Buches ist daher nicht das Ende von Simplicius’ Lebensweg. Weltflucht kann wieder in Weltlust umschlagen: „ob ich aber wie mein Vatter seel. biß an mein End darin verharren werde / stehet dahin.“ (ST, 551). Die ein Jahr später erschienene Continuatio bestätigt diese Skepsis (bevor auch sie erneut in der Anachorese, d. h. konkret in der Höhle endet): Simplicius kehrt in die Welt zurück, genauer: auf die Weltmeere. Was schon in Buch V begonnen hatte, setzt sich nun fort: Die Expansion des Romanzyklus spiegelt sich in der Expansion seiner Erzählräume. Im Zuge einer Pilgerfahrt nach Loretto und Rom verschlägt es den Helden bis nach Kairo, zu den Pyramiden und Mumien, bis er mit einem Schiff in der Nähe von Madagaskar kentert. Gemeinsam mit dem Schiffszimmermann rettet er sich auf eine einsame Insel, wo er seine Lebensgeschichte – mangels Papier – auf Palmblätter schreibt, die ein holländischer Kapitän namens Jean Cornelissen sicherstellt und publiziert. Simplicius verbleibt allein auf der Insel, der Roman selbst vollzieht einen Gattungswechsel und mündet in den Hafen des neuen Genres ‚Inselroman‘.¹⁴ Wie die Insel ist auch das centrum terrae, das Simplicius in der MummelseeEpisode erreicht, ein exzentrischer Ort – topographisch wie erzählstrukturell. In der Handlungsökonomie bietet das Reich der Sylphen im Erdmittelpunkt einen Gegenbezirk zu einer nur allzu weltlichen Menschenwelt mit ihrem notorischen Hang zu Wahn, Illusion und Betrug. Dennoch wäre es verkürzend, die Episode einfach „allegorisch zu verstehen“ (Breuer 1999, 54). Gerade das ist sie vom Standpunkt der Wissensgeschichte nicht. Der Mittelpunkt der Erde, zu dem
Belkin 1987; Molinelli-Stein 2005; Kommentar in: ST, 483 – 519; Cordie 2001, 418 – 442; Bässler 2007. Zur Insel-Utopie vgl. Krebs 1989; ein wichtiger Prätext für Grimmelshausen war Henry Nevilles Isle of Pines (1668). Dazu jetzt Dröse 2018; bei Neville fand Grimmelshausen im Motiv der holländischen Seefahrer, die die europäischen Inselbewohner entdecken, eine Möglichkeit, den Roman durch einen ironischen Perspektivwechsel abzuschließen.Vgl. den Kommentar von Breuer in ST, 987– 988.
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Simplicius mit Hilfe der Sylphen vordringt, ist im wissenschaftlichen Diskurs durchaus ein realer, kein Nirgend-Ort. Will man den vorbelasteten Begriff der Utopie umgehen, bieten sich Begriffe wie Sloterdijks „Antisphäre“ (Sloterdijk 1999, 593 – 611) oder Foucaults „Heterotopie“ an. Heterotopien sind „Gegenorte“, an denen die „realen Orte […] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.“¹⁵ In der Verbindung von konkreter Realität im Raum und Gegenbildlichkeit trifft dies auf das Reich der Sylphen zu. Das centrum terrae ist für Grimmelshausen und seine Zeitgenossen nicht ‚aus der Welt‘, sondern ihr Mittelpunkt, d. h. in einem buchstäblichen Sinn: der Kern der Dinge. Dieser exzentrische Weg ins Zentrum führt über den Mummelsee, einen Karsee in der Nähe von Achern im Nordschwarzwald, dessen weiteres literarisches Nachleben bis hin zu Mörikes „Die Geister am Mummelsee“ von Grimmelshausen ausgeht (zur Stoffgeschichte zusammenfassend Martin 2010). Die Vorgeschichte ist folgende: Simplicius hat – innerhalb weniger Kapitel – seine Eltern (Knan und Meuder) wiedererkannt (sie entpuppen sich als bloße Zieheltern), ist Vater eines unehelichen Kindes geworden und hat seine untreue Frau durch ein nicht unliebsames Unglück verloren. Im neuerlichen Besitz seiner „erste[n] Freyheit“ (ST, 483) übergibt er seinen „Banckert“ und seinen Hof den Eltern, um sich neuerlich der Welt zuzuwenden. In der narrativen Ökonomie ist damit tabula rasa gemacht: Von seiner Vorgeschichte entlastet, sehen wir den Helden an einem Nullpunkt der Narration, in Wartestellung: „[I]ch aber gieng darbey spazieren / und wartet allerhand Contemplationen ab.“ (ST, 484) Eigentlich sieht sich Simplicius auf dem Weg zurück ins Eremitenleben, zu „meiner Alten Kargheit“. Wieder einmal „resolvirte [ich] mich / weder mehr nach Ehren noch Geld / noch nach etwas anders das die Welt liebt / zu trachten.“ (ST, 489). Doch – wieder einmal – kommt es anders: Statt der Ruhe folgt das ‚Umschwärmen’ – die Erkundung des Mummelsees. Es ist ein Abenteuer, buchstäblich und im Wortsinn. Der Held sucht es nicht, es kommt auf ihn zu, zunächst in Gestalt von Berichten. Er gerät in eine „Gesellschafft mittelmässigen Stands“, die von einer „seltenen Sach, nemlich dem Mummel-See discurirten / welcher unergründlich / und in der Nachbarschafft auff einem von den höchsten Bergen gelegen sey.“ (ST, 484) Trotz der Nachbarschaft ist die Informationslage schwierig. Simplicius erfährt nur indirektes Wissen – Gerede. Die Gruppe habe „auch unterschiedliche alte Bauersleut beschickt“, um Auskunft über die Bewandtnis des „wunderbarlichen See[s]“ (ST, 484) zu gewinnen. Deren „Relation“ mag dem Helden jedoch „vor eitel Fabuln“ scheinen, „denn es lautete so lügenhafftig / als etliche Schwenck deß Plinii.“
Foucault 2006, 320. Foucault fasst darunter innerweltliche Orte: Sanatorien, Schiffe, Friedhöfe, „privilegierte, heilige oder verbotene Orte“ (322).
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In der Mummelsee-Episode stößt der Roman also „in Grauzonen der zeitgenössischen Wissenschaften vor, in denen sich das Wissen selbst als höchst ungesichert erweist.“ (Neumeyer 2013, 306) Diese unsichere Episteme trifft auf eine offene Textualität, wie sie für die Frühe Neuzeit charakteristisch ist. Solche ‚Offenheit‘ meint nicht nur die ‚mouvance‘ des Gesamttextes, die die frühe Editionsgeschichte des Simplicissimus Teutsch kennzeichnet, sondern jene „kunstvolle Montagetechnik“ (ST, 733), mit der Grimmelshausen heterogene Wissensbestände ‚chimärisch‘ miteinander verbindet. Daraus ergeben sich texttypologisch vielfältige Übergänge und Zweideutigkeiten zwischen narrativ und argumentativ bestimmten Wissensformen: Der fiktionale Text integriert weitläufig Wissensbestände, die ihrerseits auf Narration beruhen. Die Narrativierung des (Tiefen‐) Wissens hat ihr Gegenstück in der Verwissenschaftlichung der Tiefen-Narrationen bzw. -Narrative. Ein Effekt der Narrativierung besteht eben darin, dass das Wissen als geselliges ‚Gesprächsspiel‘ inszeniert und mit einem sozialen Index versehen werden kann („alte Bauersleut“ vs. „Gesellschaft mittelmäßigen Stands“; ST, 484). Sicheres Wissen trennt sich – soziologisch – von unsicherem. So unterscheidet der Erzähler trennscharf zwischen „Discurs“, „eitle Fabuln (ST, 484)“, „Relation“ (ST, 484) oder gar „Mährlein“ (ST, 485). In der Tat sind es „seltzame Historien“ (ST, 485), die sich hier zutragen: Ein anderer / und zwar die meiste gaben vor / und bestetigen es auch mit Exempeln / wenn man einen oder mehr Stein hinein würffe / so erhebe sich gleich / GOtt geb wie schön auch der Himmel zuvor gewesen / ein grausam Ungewitter / mit schröcklichem Regen / Schlossen und Sturmwinden. (V, 10; ST, 484–485)
Andere berichten von einem Stier, der dem See entstiegen sei, gefolgt von einem „kleine[n] Männlein“ (ST, 485), das ihn wieder zurückgetrieben habe. Solche Erzählungen von „wunderbarliche[n] Spectra“ (ST, 485) wecken Neugier und Zweifel des Erzählers und Helden. Die ‚pikareske Episteme‘ (Struwe 2016) zeichnet sich durch curiositas, Realismus und methodischen Zweifel aus. Diese Disposition qualifiziert den picaro zum empirischen Wissenschaftler, der sich im Gestus des Aufklärers gegen solche „Mährlein“ wendet, „damit man die Kinder auffhält“ (ST, 485). Dass sich das Phantastische – das Regiment der Sylphen im centrum terrae – als gottgewollte Realität erweisen wird, belegt einmal mehr die oft beschriebene Dialektik des Textes.
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3 Physica curiosa – Schott, Loretus, Kircher Die Einleitung der Mummelsee-Episode (ST V, 10) ist für die Frage nach dem Status des Tiefenwissens um 1670 und für Grimmelshausens Wissenspoetik von Bedeutung. Insgesamt wird man dem Urteil Arthur Bechtolds zustimmen: Die Mummelsee-Episode ist aus drei verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt; aus Volkssagen, die Grimmelshausen wohl nach dem Volksmunde aufzeichnete, aus Notizen und Exzerpten, die er aus den mystisch-naturwissenschaftlichen Werken seiner Zeit zusammenstellte, und aus seinen eigenen satirischen Zutaten. (Bechtold 1914, 537)
Grimmelshausen akkumuliert freilich nicht einfach Wissen, er problematisiert es zugleich, eben als Amalgam von Aberglauben und Halbwissen, das auch das diskursive Tiefenwissen (z. B. Kirchers Mundus subterraneus) um 1670 bestimmt. Dies zeigt sich etwa in einer Darstellung, die in der neueren GrimmelshausenForschung weithin unbekannt geblieben ist (kursorische Hinweise bei Cordie 2001, 427 und Martin 2010, 8). Sie entstammt der Physica curiosa des Jesuiten Kaspar Schott (1608 – 1666), eines Schülers Athanasius Kirchers; die Schrift erschien nur wenige Jahre vor dem Simplicissimus (1662). Auch hier findet sich unsere „Relation“ vom Mummelsee, und zwar im ersten Buch, das von „mirabilia Angelorum ac Daemonum“ (Schott 1662, 164 – 165) handelt. Auch Schott berichtet die oben beschriebenen Wundererscheinungen am See. Für ihn steht deren dämonischer Ursprung jedoch fest. Der See sei „von Nachtgespenstern heimgesucht“ („a spectris nocturnis infestus“). Das eigentlich Bemerkenswerte sind jedoch auch hier die Bemühungen um Klärung der „mirabilia“. Dieser Klärungsprozess schreibt sich unmittelbar in Schotts Text ein. Aus einer wissenschaftlichen „Relation“ wird eine Autobiographie des Wissens, ein Roman der Erkenntnis. Im Feld des unsicheren Wissens lässt sich Orientierung nur durch ein erzählendes Subjekt – gleichsam ein epistemisches Ich – gewinnen.Wir sehen ihm buchstäblich über die Schultern, wie es mit allen Mitteln aktuelles und neues Wissen generiert: Dum haec scribo, & cum viris doctis de similibus rebus colloquor, audio a viro religioso, erudito, & fide dignissimo, sequentem mirabilem, & proprio atque alieno experimento comprobatam historiam. Quam & alii postmodum confirmarunt, & eo in loco, ubi contingere solet, passim notam esse asseruerunt. Während ich diese Zeilen schreibe, und mich mit gelehrten Männern über ähnliche Phänomene unterhalte, höre ich von einem Geistlichen, einem gebildeten und vertrauenswürdigen Mann, die folgende wunderbare, durch eigene und fremde Erfahrung bestätigte Ge-
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schichte. Diese haben auch andere später bestätigt und betont, sie sei an dem Ort, wo sie sich zutrage, weit und breit bekannt. (Schott 1662, 164)¹⁶
Zwei methodische Aspekte treten an diesem Abschnitt vor: einerseits eine beinahe atemlose Emphase des Aktuellen, der neuesten Information, die – kaum eingeholt – schon in die Feder fließt. Zum anderen der Versuch, der mitgeteilten Erfahrung (experimentum) die eigene, methodisch generierte, zur Seite zu stellen. Dieses Wissen ist immer prozessual und narrativ. Das experimentum selbst wird zur Wundererzählung, wie umgekehrt die Wundererzählung zum Experiment wird. Schott berichtet von einer Expedition zweier jesuitischer Ordensbrüder, welche die Mummelsee-Berichte für Ammenmärchen halten und die Probe aufs Exempel wagen. Der Stein wird geworfen, der bekannte Effekt tritt ein: Nach heiterem Himmel zieht ein Sturm auf, die Jesuiten werden getrennt und gelangen mit Mühe nach Hause. Ein zweiter Versuch des eingangs erwähnten Gewährsmanns beschwört sogar ein Unwetter herauf, das einen ganzen Monat andauert. Der methodische Rationalismus führt am Ende nicht zu einer Rationalisierung des Wunderbaren, sondern zur Bestätigung der dämonologischen Ausgangshypothese: Für Schott – wie für die Anwohner des Sees – ist ausgemacht, dass hier Dämonen am Werk sind.¹⁷ Rationalismus und Dämonologie bilden keinen Widerspruch, im Gegenteil. Der jesuitische Rationalismus exorziert die Dämonen nicht, sondern weist ihnen ihren Ort in der Ökonomie der Schöpfung zu. Unabhängig von der Frage, ob Grimmelshausen Schotts Darstellung kannte (was chronologisch gut möglich ist!), fällt die strukturelle Analogie der Texte auf. Bei Grimmelshausen kehrt nicht nur das Gerüst von Schotts „histori“, sondern auch eine epistemische Problemkonstellation wieder, die sich mit den Begriffen ‚Information‘ und ‚Experiment‘ beschreiben lassen.¹⁸ Unter dem Leitstern des ‚Fürwitzes‘ (curiositas) ergeben sich Konvergenzen zwischen ‚physica curiosa‘ und pikaresker Weltneugier. Wie der „abenteuerliche Simmplicissimus“ (auch) zum Wissenschaftler, so kann der Wissenschaftler zum Abenteurer werden.
Übersetzungen lateinischer Texte, sofern nicht anders angegeben, von J. R. Schott 1662, 165: „[…] & ab oppidanis ac paganis omnibus creditum constantissime fuit, Diaboli opera, & culpa illorum, quos dixi exortum: unde magnum odium apud omnes incurrerunt, nec dubitarunt amplius, cacodaemonis ope cieri pluvias, & excitari tempestates.“ („[…] von allen Landleuten und Bauern wurde steif und fest angenommen, dass das Gewitter mit Hilfe des Teufels und durch die Schuld jener [d. h. Dämonen; J. R.] entstanden sei; weshalb sie [d. h. die beiden Geistlichen, die den Versuch unternommen hatten; J. R.], großen Hass auf sich zogen und ferner nicht mehr zweifelten, dass mit Hilfe des Bösen Geistes Regengüsse und Stürme bewirkt werden könnten.“) Zum Begriff und Konzept ‚Information‘ in der Frühen Neuzeit vgl. Brendecke et al. 2008.
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Dies bestätigt sich an einem zweiten Text, der in der Grimmelshausen-Forschung wiederholt als Parallele, wenn nicht als Quelle angesprochen worden ist. Es handelt sich um den Bericht des römischen Geistlichen und Gelehrten Elias Georg Loretus (Elia Giorgio Loreti; Martin 2010, 5 – 7; Fletcher 2011, 267– 268), der im Mai 1666 den Mummelsee besucht hatte. Hier ergibt sich nun eine sehr konkrete Verbindung zu Grimmelshausen. Denn dieser könnte in seiner Funktion als Schultheiß von Renchen Loretus bei dessen Besuch am Mummelsee begleitet haben. Die einleitenden Kapitel zur Mummelsee-Episode zeigen, dass Simplicius gewissermaßen „in Loretus’ Gestalt geschlüpft [ist].“ (ST, 959) Auch Loretus’ Bericht ist eine jener Relationen, die Grimmelshausen diskutieren und relativieren lässt. Die naturkundliche Exploration verwandelt sich in einen pikaresken Text, wird der ‚Episteme des Pikaresken‘ eingegliedert und erhält so satirische Qualität. Unter wissenschaftlichen Vorzeichen erscheint Loretus’ Expeditionsbericht bei einem der bedeutendsten Universalgelehrten, Sammler und Philologen der Zeit, dem Jesuiten Athanasius Kircher (1602– 1680).¹⁹ Aus seinem weitgespannten polyhistorischen Werk, das von Studien zur Ägyptologie, zur Musik, Optik, Astronomie und zahlreichen weiteren Feldern reicht, ragen die beiden im liberalen Amsterdam erschienenen Bände des Mundus subterraneus (1665; 21678) hervor.²⁰ Hier, im Mundus subterraneus, finden nun auch der Mummelsee und Loretus’ Bericht seinen Platz – allerdings erst in der zweiten Auflage von 1678 in einer Appendix zum achten Buch, die sich mit den „unterirdischen Tieren“ (De animalibus subterranis) beschäftigt.²¹ Beigegeben sind dem Bericht drei anonyme Kupferstiche (Abb. 2), die Loretus’ Weg zum Mummelsee und Wildsee sowie die Fauna beider Naturgebiete darstellen. Auch wenn sich der genetische Zusammenhang zwischen Loretus’ Bericht und der Darstellung im Simplicissimus nicht restlos aufklären lässt (Weydt 1985, 6; Martin 2003, 239 – 254), ist diese Dreieckskonstellation diskursgeschichtlich doch von höchstem Interesse. Sie gestattet an einem konkreten Fall einen singulären Vergleich über wissenspoetische Strategien fiktionaler und faktualer Texte. Chronologisch könnte Loretus’ Bericht von 1667 auch Grimmelshausen – in schriftlicher oder eben mündlicher Form – als Grundlage des Mummelsee-Kapi-
Leinkauf 2009, 221– 231 (zur ‚centrosophia‘); Asmussen et al. 2011 und 2016; Asmussen et al. 2013. Fletcher 1988. Trotz seiner zentralen Bedeutung für die Geschichte der Geologie und des ‚Tiefenwissens‘ ist Kirchers Schrift noch nicht umfassend erschlossen worden. Neben den in Anm. 19 erwähnten Darstellungen vgl. Strasser 1996; Okrusch und Kelber 2002. Elias Georg Loretus: Relatio Rerum quarundarum memorabilium facta admodum Reverendo Patri Athanasio Kirchero Scc. Jeus. Romae. 1667. In: Kircher 21678, Bd. 2, 109 – 124. Mit Übersetzung abgedruckt in: Bechtold 1914, 533 – 537. Vgl. Martin 2010, 4– 7.
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Abb. 2. Athanasius Kircher: Mundus subterraneus (21678, Bd. 2, lib. VIII, 112).
tels gedient haben. Denkbar ist theoretisch auch, dass dieses Mummelsee-Kapitel selbst wiederum den Anlass gegeben hat, die relatio einzureihen. Kirchers einleitende Worte zum Bericht deuten nicht darauf hin. Er betont, dass dieser „von größter Bedeutung für das Ziel ist, die natürlichen Ursachen, die ich im Mundus Subterraneus über Wunderphänomene beigebracht habe, zu bestätigen und zu bekräftigen“.²² Kircher lässt es aber mit dem Abdruck nicht bewenden, sondern
Kircher 21678, Bd. 2, 109 (= MS II, VIII, Kap. 2. App. alia): „[…] magnique momenti sunt ad rationes Physicas, quas in dicto Mundo Subterraneo de prodigiosis rerum causis attuleram confirmandas, & stabiliendas.“
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kommentiert den Bericht des Loretus immer wieder mit Marginalglossen. Das Verhältnis von Text und Paratext gewinnt epistemologische Bedeutung für die Kircher’sche Methode: Information und kritische Diskussion kristallisieren sich in der mise en page. Dabei zeigen sich, wie schon bei Schott, die Grenzen des Kircher’schen Rationalismus: Sein Horizont und Bezugspunkt ist die Heils-, nicht die Naturgeschichte. Dies zeigt sich in einer Marginalie zu Beginn des MummelseeBerichts. Als Loretus auf die „Seegeister“ („lacustres spiritus;“ Kircher 21678, Bd. 2, 111) zu sprechen kommt, kontert Kircher mit einem Kommentar, an dem die Verbindung von Rationalismus und Dämonologie deutlich wird. Die Berichte von Najaden und Nymphen seien nichts als „Illusionen des Teufels, mit denen er einfältige und habgierige Geister zu verblenden sucht“²³. Vergleicht man nun den Bericht des Simplicius mit dem des Loretus, so zeigen sich schon an der Oberfläche frappierende Übereinstimmungen. Für beide ist curiositas der entscheidende Impuls, das Naturwunder durch den initialen Steinwurf auf die Probe zu stellen: Hisce & similibus magis accensus, licet alias talium rerum ipsa genii curiosissimi inclinatione cupidissimus, medicaeque professionis proprium id esse ratus, recondita naturae claustra, abstrusosque montium valliumque recessus perlustrare, atque ipsa matris terrae viscera sine crimine Neroniano perscrutari: iter meum in latus deflexi […]. Befeuert durch solche und ähnliche Beobachtungen und innerlich von jeher der Neugier zugeneigt, hielt ich es für die angestammte Aufgabe eines Mediziners, die verborgenen Bereiche der Natur und die abgelegenen Winkel der Berge und Täler zu erforschen, und selbst die Eingeweide der Erde zu ergründen, ohne mich dadurch Neros Freveltat schuldig zu machen; und so nahm ich den Weg seitab. (Kircher 21678, Bd. 2, 111, lib. VIII)
Durch Erzählungen der Ansässigen angeregt, begibt sich Loretus in einem fünfstündigen Marsch an den Mummelsee, den man „für den Averner See oder den Phlegethon hätte halten können“ (Kircher 21678, 113). Die Exkursion mausert sich zum veritablen descensus. Sonst dominiert nüchterne Beobachtung. Loretus bemerkt, dass der Mummelsee weder Fische noch Frösche kennt, dafür aber eine Sorte von Reptilien, die Salamandern ähnelten und in ihrem Körperbau das Ansehen (menschlicher) Frauen mit Brüsten imitierten, aus denen sie ein weißliches Gift absonderten. Der zweite Kupferstich (Abb. 2, Mitte) lässt dagegen deutlich erkennen, dass es sich um eine Tierspezies („bestiola“) handelt. Die anthropomorphe Anmutung fehlt völlig. So stehen die Deutungen des Berichts (Loretus), Kircher 21678, Bd. 2, 111 (in marg.): „Quicquid hic recensetur de Nymphis, Naiadibus, Pigmaeis caeterisque spectris; Lector discretus nil aliud sibi esse persuadeat quam illusiones diaboli, quibus aut simpliciorum hominum aut eorum, qui divitiarum avidiores sunt, animas dementare solet.“
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der Illustrationen und des Randkommentars (Kircher) unaufgelöst und spannungsvoll nebeneinander. Damit ist eine zoologische Erklärung für die vermeintlichen Najaden und Nymphen gefunden, die scharf mit der dämonologischen Deutung kontrastiert, die Kircher in seinen Marginalglossen bietet. Loretus dagegen hat für die Mär von den Seegeistern nur Verachtung übrig. Der Charakter des Sees bleibt dennoch ambivalent, Loretus nennt ihn „sacer“ – heilig und verflucht zugleich –, und zu Recht. Zur Probe wirft auch er drei Steine hinein; als man den nahe gelegenen Katzenkopf besteigt, bedeckt sich in kürzester Zeit der Himmel, ein Unheil zieht herauf, „ob facinus nostrum temerarium“, wie es heißt – „wegen unserer unüberlegten Tat“. Diese Bezeichnung ist gerechtfertigt, zählt das Heraufbeschwören von Unwettern mit Hilfe von Dämonen doch zu den prominenten Delikten im Kontext des Hexereivorwurfs.²⁴ Loretus macht die Probe aufs Exempel, indem er dämonologisches Wissen empirisch überprüft. Diese empirische Dämonologie setzt sich dann in Loretus’ Aufstieg zum Pilatus fort, von dem im Anschluss berichtet wird. Dass „solche unzugänglichen und zerklüfteten Berge die Brutstätten von Drachen seien“²⁵, gilt Loretus als ausgemacht. Man sieht: Die Berichte über den Mummelsee sind durchaus exemplarisch; sie geben repräsentativ das Spektrum der Erklärungen im Umgang mit liminalen Wissensräumen wieder. Dabei sind zoologischer (Loretus) und dämonologischer (Kircher) Ansatz nicht streng geschieden: Beide sind ‚rational‘ im Horizont eines umfassenden, christlichen Naturbegriffs, der alle Aspekte, Stufen und Seinsweisen der Schöpfung – von den Teufeln und Naturgeistern über Tiere und Dämonen bis zu den Engeln – einschließt.
4 Pikareske Naturwissenschaft Die Fülle der Übereinstimmungen im Detail legt den Schluss nahe, dass Loretus’ Mummelsee-Bericht – möglicherweise ergänzt um Passagen aus Schotts Physica curiosa – die Grundlage für Grimmelshausens Mummelsee-Episode bildet. Der Mummelsee wird zum literarischen Reflexionsort des Wissens. Das gilt auch für die primäre Motivation, die curiositas. Der Bericht „bewog meinen Fürwitz / daß ich mich entschloß / den wunderbaren See zu beschauen“ (V, 11; ST, 487). Leit Daher steht Schotts Bericht (s.o.) auch unter der Überschrift: „An Daemones possint excitare pluvias, grandines, fulgura, tonitrua, aliaque similia meteorologica sive per se, sive per Magos.“ (1662, 160) Kircher 21678, 117: „Montes vero hujusmodi inaccessosque scopulososque Draconum persaepe nutrices extitisse quamplurima restantur antiquitatis monumenta.“
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motivisch ist immer wieder von diesem „Fürwitz“ (ST, 490) oder von der „Begierde den Mummelsee zu beschauen“ (ST, 489) die Rede. Damit kommt ein Akzent ins Spiel, der bei Kircher fehlt, bei Loretus aber gegenwärtig ist: Erfahrungswissen (experimentum) wird auf die Legitimität der theoretischen Neugierde (curiositas) bezogen.²⁶ Simplicius’ ‚Fürwitz‘ kommt durchaus als Provokation daher; er äußert sich in einem typischen Akt frühneuzeitlicher Weltbemächtigung – der Quantifizierung des Raumes, der Vermessung der Welt: [I]ch nahm oder masse die Länge und Breite deß Wassers vermittelst der Geometriae, weil gar beschwerlich war umb den See zu gehen / und denselben mit Schritten oder Schuhen zu messen / und brachte seine Beschaffenheit vermittelst deß verjüngten Maaßstabs in mein Schreibtäfelein […]. (V, 12; ST, 490)
Die Figur des Knans, der Simplicius zum See begleitet, dient als überholtes „Kontrastmodell“ (Cordie 2001, 425) zum neuzeitlichen simplicianischen Entdeckerdrang: „Ja / antwortet mein Knan / ihr machts wie alle verwegene Buben / die sich nichts drumb geheyen [d. h. kümmern; J. R.] / wann gleich die gantze Welt untergieng.“ (ST, 491) Nun ist dieser ‚Fürwitz‘ – und damit das gesamte Wissensthema – dem Helden nicht fremd. Auch im Fall des Mummelsees tut Simplicius nur das, was seiner Rolle als Picaro entspricht. Die Lust, solche „Prob […] ins Werck zu setzen“ (ST, 491), gehört zu seiner Natur und zur Natur der Gattung selbst. Was den Picaro zum protowissenschaftlichen Welterforscher macht, sind seine Naivität (simplicitas), die ihn offen für Erkenntnis macht, und sein Wille, den Verblendungszusammenhang der Dinge zu durchstoßen. Dem barocken Rationalismus eines Schott oder Kircher steht der empirische Sensualismus und Realismus des Picaro gegenüber, der antritt, „die Waxwaiche / und zwar noch glatte Tafel meines Hertzens“ (ST, 40) mit Erfahrungen zu beschreiben und die „Mascarade“ des Sees zu entlarven (ST, 487). Es geht also buchstäblich darum, den Dingen auf den Grund zu gehen, die täuschende „hülse“ auf den „Kern“ hin zu durchdringen. Die hermeneutische Dialektik von Hülse und Kern, die der Erzähler zu Beginn der Continuatio bemüht, wird in der Mummelsee-Episode konkreter Gegenstand der Narration. Die Exkursion zum Mittelpunkt der Erde ist damit kein „Fremdkörper in der Handlung des Romans“ (Bechtold 1914, 543), sondern Mittelpunkt der Sinnstruktur des Textes. Indem die Naturgeister Simplicius den ‚Geist‘ der Dinge enthüllen, enthüllen sie ihm auch den Geist der Erzählung. Simplicius’ Berufung auf Ps. 104,24: „wie seynd die Wunderwerck des
Vgl. Meid 1984, 144: „Der ‚curiöse‘ Simplicius spürt nicht den Bezügen zwischen den Erscheinungen der Natur und der verborgenen göttlichen Ordnung nach, ihn interessiert, wenn er in ihrem Buche liest, die Natur selbst.“
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Schöpffers auch so gar im Bauch der Erden / und in der Tieffe des Wassers so groß“, verschafft seiner kuriös-pikaresken Neugier nach Tiefenwissen eine Legitimation im Sinne des physikotheologischen Gottesbeweises. Mit Simplicii Steinwurfexperiment verlassen wir den Weg, den die jesuitische Experimentalphysik des Wunderbaren vorgezeichnet hatte. Grimmelshausen schließt sich vorderhand weder der dämonologischen noch der zoologischen Deutung des Loretus an. Was nun zum Vorschein kommt, sind weder Teufel noch Dämonen, sondern „Sylphen“, d. h. Elementargeister, die Grimmelshausen der thaumatologischen Literatur des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts entnommen hat. Den Ausgangspunkt stellt Paracelsus’ Liber de Nymphis, Sylphis, Pygmaeis et Salamandris et de ceteris spiritibus (1537/38) dar (Paracelsus 1933, 115 – 151; dazu Dinzelbacher 2010, bes. 28 – 35; Battafarano 1994, 161– 185; Roling 2010, 68 – 76). Grimmelshausen schöpfte wahrscheinlich mittelbar aus Kompendien wie Kornmanns Mons Veneris (1614), Hildebrands Magia naturalis (1613) oder Johannes Praetorius’ Anthropodemus Plutonicus. Das ist eine neue Weltbeschreibung (Magdeburg 1666/67).²⁷ Grimmelshausen bezieht also neuestes Tiefenwissen (Kircher, Schott) auf prekäres, unsicheres und vor allem obsoletes Wissen der hermetischen und paracelsistischen Tradition (Bergengruen 2007). Die Fahrt in die Unterwelt führt in den historischen Untergrund der eigenen Wissensepoche. Mit den „Sylphen“ steigen das abgesunkene Wissen, die Meerwunder und monstra des sechzehnten Jahrhunderts wieder auf. Simplicii Führer auf der Reise zum Mittelpunkt der Erde ist einer jener Sylphenfürsten, die den globalen Seen und Gewässern zugeordnet sind, genannt der „Prinz über den Mummel-See“. Auch er verwarnt Simplicius zunächst für seinen „Fürwitz“, ermöglicht ihm dann aber doch, „die seltzame Wunder der Natur unter der Erden und in Wassern [zu] beschauen.“ (ST, 495) Die curiositas-Kritik wird durch den Willen zur Kontemplation der Schöpfung aufgewogen. Der Picaro verlangt zu sehen, „zu was End der gütige Schöpffer so viel wunderbarliche See erschaffen / sintemal sie / wie mich dünckte / keinem Menschen nichts nutzten / sondern viel ehender Schaden bringen könten.“ (ST, 495)²⁸ Simplicius erfährt nun, dass die Sylphen – modern gesprochen – für die globale Wasserversorgung zuständig sind:
Vgl. die konzise Darstellung in Breuers Kommentar (ST, 959). Simplicius/Grimmelshausen nimmt also die Aporie auf, die Schotts und Kirchers Versionen eröffnet haben. Die Frage nach der Teleologie des Wunderbaren richtet sich auf das Gesamte der Schöpfungsordnung, berührt Fragen der Theodizee und der göttlichen Ökonomie der Dinge. Die satirisch-pikareske Wissenspoetik bringt es mit sich, dass sicheres Wissen über die Natur nur von höchst unsicheren Informanten – Naturgeistern – vermittelt werden kann.
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Zweytens werden von uns durch diese See (gleichsam als wie durch Teichel / Schläuche oder Stiefeln bey einer Wasser-Kunst / deren ihr Menschen euch gebrauchet) die Wasser auß dem abyssu deß Oceani in alle Quellen deß Erdbodens getrieben / (welches denn unser Geschäfft ist) worvon alsdenn alle Brunnen in der gantzen Welt fliessen / die grosse und kleine Wasserflüß entstehen / der Erdboden befeuchtiget / die Gewächse erquickt / und beydes Menschen und Viehe getränckt werden[.] (V, 13; ST, 495)
Grimmelshausen erweist sich mit solchen Ideen globaler ‚Wasserflüsse‘ als Vordenker der ökologischen Idee.²⁹ Alles in der Natur hat seinen Zweck, so auch die Sylphen. Sie garantieren die vollkommene Balance der Natur. Wie die Wasserreservoirs weltweit verbunden sind, so verbinden die Quellen Unter- und Oberwelt miteinander. Am Ende der Tauchfahrt werden die Sylphen dem Helden einen Stein übergeben, der die Kraft hat, den Weg in die Tiefe zurückzufinden und auf diese Weise einen „Gesund-Brunnen“ (ST, 512) sprudeln zu lassen, durch den Simplicius hofft, ein erträgliches Auskommen zu finden. Der bauernschlaue Plan scheitert schließlich aus Unachtsamkeit. Das Vorhaben, die Welt der geheimen Naturkräfte ökonomisch zu instrumentalisieren, misslingt. Erkenntnis lässt sich nicht unmittelbar in Gewinn umsetzen. Der Picaro eignet sich nicht als homo oeconomicus. Im Volk der Sylphen tritt vielmehr der im Hobbes’schen Kampf aller gegen alle zersplitterten oberirdischen Welt das Ideal einer globalen Verantwortlichkeit und Einheit – eines Weltnaturethos – gegenüber. Diese globale Perspektive zeigt sich z. B. in der Audienz vor dem König der Sylphen. Es ist eine eindrucksvolle, beinahe folkloristische Versammlung von Ebenbilder[n] der Chineser und Africaner, Troglodyten und Novazembler, Tartarn und Mexicaner, Samogeden und Moluccenser; ja auch von denen / so unter den Polis arctico und antarctico wohnen / das wol ein seltzames Spectacul war […]. (V, 15; ST, 505)
Nur wenig später sieht Simplicius „wie in einem Trachten-Buch / die Gestalten der Perser / Japonier / Moscowiter / Finnen / Lappen / und aller andern Nationen in der gantzen Welt.“ (ST, 506). Das centrum terrae bietet eine Völkerschau mit utopisch-pazifistischem Anspruch (Kraft 2018).
Dies prädestiniert die Episode wie auch Kirchers Modell des ‚Geokosmos‘ zum Gegenstand des ‚ecocriticism‘. Einschlägige Versuche stehen jedoch m. W. noch aus. Überhaupt hat die Ökokritik weder die Tiefe noch die Frühe Neuzeit bisher als Feld erschlossen. In keinem der neueren Bände finden sich ernsthafte Vorstöße in diese Richtung. Der Sammelband von Dürbeck et al. 2017, erwähnt immerhin die Mummelsee-Episode im Kontext der Paracelsus-Rezeption (12). Bei Dürbeck 2018 und Zemanek 2018 bleibt die Frühe Neuzeit nahezu unbeachtet.
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5 Iter extaticum – Kirchers Tiefseefahrt So sehr die Sylphen des Paracelsus einer versunkenen Wissensepoche angehören, so modern scheint die Lehre von der unterirdischen globalen Wasserversorgung. Sie schließt unmittelbar an Athanasius Kirchers Mundus subterraneus an. Kircher war von der teleologischen Auffassung ausgegangen, dass die Berge in der Natur „durch allerhöchste Vorsehung so verteilt seien, dass sie wie eine große Kette der Erde Stabilität geben“.³⁰ Dies habe die Funktion, „in den dunklen Eingeweiden der Erde ungeheure Wasserspeicher anzulegen, aus denen wie aus Karaffen die Flüsse überall hervorsprudeln und die niedriger gelegenen Täler und Felder mit gütigem Nass bewässern.“³¹ Kircher nennt diese unterirdischen Reservoirs reconditoria oder griechisch Hydrophylacia – wörtlich: Wasserspeicher. Demnach „existieren im Erdinnern mit Wasser gefüllte Hohlräume (Hydrophylacia), die untereinander durch ein Netzwerk von Kanälen verbunden sind […].“ (Okrusch und Kelber 2002, 141) Durch die Wirkung der Gezeiten oder durch die Nachbarschaft zu den unterirdischen Feuerherden (Pyrophylacia) gelangt andererseits das unterirdische Wasser an die Oberfläche, wo es kondensiert und als Quelle wieder hervortritt. Die größten Hydrophylakia befinden sich unter den Alpen, von dort aus versorgen sie ganz Europa mit Wasser. Das System der Hydrophylakia folgt derselben Struktur wie die unterirdischen Feuerstätten (Pyrophylakia), die für den Vulkanismus auf der Erde verantwortlich sind. Beide Modelle wiederum verweisen auf eine elementare Figur, deren Plausibilität letztlich kommunikations- und medientheoretisch begründet ist. Dieses ‚implikative Modell‘ (Blumenberg 1998b, 20) der Kircher’schen Wasserökonomie ist die Idee globaler Vernetzung und Kommunikation. Mit dem geokosmischen Netzwerk korrespondiert ein globales Netz von Informanten und Korrespondenten (wie Loretus), die mit ihren relationes die je empirisch gesicherte Grundlage der einzelnen Themenkomplexe bilden. Information und Kommunikation – natürlich auf der materiellen Basis eines global operierenden Netzwerks namens Societas Jesu – bilden die empirische Grundlage des ganzen Unternehmens. Dem Autor selbst kommt dabei immer wieder die Funktion zu, die eingehenden relationes zu sammeln, zu ordnen, neue Expertisen im Hintergrund anzuregen und
Kircher 21678, Bd. 1, 70 (MS I, 10): „Montes a natura non casuali aut tumultuario, sed sagacissimo consilio constitutos in Orbis Terrarum superficie protuberantes, ea quae jam dicturi sumus, sat superque comprobabunt.“ Kircher 21678, Bd. 1, 70 (MS I, 10): „[…] tum ad fundanda in Montium caecis visceribus immensa aquarum penaria, ex quibus veluti promocondis Flumina undique scaturientia subditos sibi convallium camporumque tractus benigno profluvio irrigarent.“
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die eingehenden kritisch zu kommentieren. Mehr als Autor ist er Manager und Redaktor des Wissens, das ihm aus aller Welt aktuell zufließt. Der Mundus subterraneus steht damit im medienhistorischen Kontext der Genese von Zeitung und Zeitschrift. Schon der Begriff Relation, der „die gedruckte Nachricht über einen beliebigen Gegenstand“ (Koch 2003, 887) bezeichnet, gehört in diesen Zusammenhang. Aktualität und Periodizität waren die Vorgaben des neuen Mediums. Die erste Tageszeitung, die nur fünf Jahre vor Kirchers Werk erschien, unterstreicht dies mit ihrem Titel: „Neu-einlaufende Nachricht von Kriegs- und Welthändeln“ (Koch 2003, 887). Die Dynamik des Wissens erfasst breite Bevölkerungsschichten. „[…] Ende des 17. Jahrhunderts erschienen im deutschsprachigen Raum ca. 60 Zeitungen, deren Leserschaft auf ca. 300 000 geschätzt wird“ (Koch 2003, 887). Dass Kircher noch einmal versuchte, diese dynamisch anwachsende globale Wissensökonomie systematisch zu bündeln, zeigt ihn als Figur des Übergangs vom Polyhistorismus zur modernen, periodisch und zukunftsoffen operierenden Wissenskultur. Die nachgetragene relatio des Loretus belegt, wie Kircher diese Tendenz zur Aktualität des Wissens selbst erkennt und in sein Werk integriert. Wo es Kircher – wie seinem Gewährsmann Loretus – um Erhellung des ‚innerweltlich Unsichtbaren‘, um die Rationalisierung und Naturalisierung des Wunderbaren geht, da betreibt Grimmelshausen gezielt eine literarische Remythisierung der Tiefe. Bei Schott, Loretus, Kircher verbinden sich Beobachtung, Spekulation, Aberglauben und Rationalität zu einem untrennbaren Ganzen. Bei Grimmelshausen vollzieht sich die Scheidung der Geister. Die Mummelsee-Episode ist als phantastische Literatur, Science-Fiction, angelegt. Grimmelshausen hat für die dämonologischen Thesen eines Schott oder Kircher nichts mehr übrig. Eine Zeitenwende scheint vollzogen, auch in Sachen Tiefenwissen. Das Wunderbare wird zum Gegenstand des literarischen Spiels, dessen Ernst auf einer anderen Ebene – eben der der ethisch-satirischen Spiegelung von Unter- und Oberwelt – liegt. Der satirische Modus der verkehrten Welt verkehrt dabei auch die Ordnungen des Wissens: Phantastische Naturgeister berufen sich auf „natürliche Ursachen“ und amüsieren sich über die „Einfalt“ des Helden, der vermeint, „das Centrum der Erden wäre inwendig hol“ (ST, 512). Auch und gerade die Narration in der Narration ist von einer konstitutiven Unsicherheit und Unzuverlässigkeit überschattet, die nur noch im methodischen Zweifel Zuflucht findet. Denn angesichts der immer phantastischeren Berichte über den König der Salamander verliert Simplicius den Überblick: „Jch wuste nicht ob mich der Kerl foppt oder obs ihm ernst war.“ (ST, 514) – Dem Leser geht es auf der Ebene der Diegese nicht besser. Die Herausforderung, Licht und Evidenz in der zwielichtigen Grenz- und Kontaktzone des Mundus subterraneus zu schaffen, führt uns auf Fragen der li-
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terarischen Performanz des Tiefenwissens. Wie sehr dabei die Wissenschaft die Modi und Medien ihrer eigenen Repräsentation von (Unter‐)Welt reflektiert, soll ein weiteres Beispiel aus dem Werk des Athanasius Kircher zeigen. Die Schwierigkeit, über ‚innerweltlich Unsichtbares‘ zu schreiben, stellt sich auch im Iter exstaticum, das schon 1656 erschien, bald erweitert wurde und seine endgültige, höchst erfolgreiche Endversion im Druck von 1671 fand (Siebert 2006). Inhalt des Werkes ist eine geträumte Reise durch den Kosmos in Form eines dreiteiligen Dialoges zwischen zwei Figuren: dem Gottesschüler Theodidactus und seinem himmlischen Führer Cosmiel. Vermittelnd tritt ein Ich-Erzähler auf. Ein zweiter Teil (Iter exstaticum II, zuerst 1657 erschienen) ist überschrieben „iter exstaticum in Mundum subterraneum“ und widmet sich der Darstellung des Erdinneren und des Meeresgrundes. Der Titel deutet es an: Kircher löst im Iter exstaticum die Herausforderung, Licht ins Dunkel des innerweltlich Unsichtbaren zu bringen, durch den Rückgriff auf die Form und Gattung des Enthusiasmus, der Seelen- und Himmels- bzw. eben Unterweltsreise (Robert 2015, zu Brockes). Religiöses Wissen und Erleben wird zum Medium wissenschaftlicher Erkenntnis, Ekstase und Vision werden zur epistemischen Form (Siebert 2006, 351–377; Robert 2020b). Warum Kircher zur Quelle für Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde oder 200 000 Meilen unter den Meeren wird, zeigt der dritte Dialog, der Theodidactus und seinen Führer Cosmiel zur Tiefe des Meeresgrundes führt. Schnell wird die Furcht des Schülers vor den vulkanischen Feuern in der Tiefe und den grässlichen Meerestieren durch Cosmiel entkräftet: Anne putas, eam, quam in itinere coelesti obtinebam, in Geocosmi peragratione potestatem mihi ademptam? an ignoras coeli, terrae, atque adeo totius naturae claves mihi concreditas? an nescis, quod uti sum praeses Universi, ita quoque omnia, quae in naturae Majestate elucescunt, divina sic ordinante providentia, meo subsint imperio? Oder glaubst du, ich hätte bei der Durchquerung der Erde nicht dieselbe Macht, die ich bei meiner Himmelsreise hatte? Weißt du nicht, dass mir die Schlüssel über Himmel und Erde, ja die ganze Natur übergeben wurden? Oder weißt du nicht, dass ich der Vorsteher des Alls bin und so auch alles, was in der Natur erstrahlt, unter der ordnenden Vorsehung Gottes meinem Befehl gehorcht. (Kircher 1671, 615)
Der Anspruch der neuen Wissenschaft, noch die letzten Refugien der Erde zu erhellen, fordert den allwissenden Engel, der als „Vorsteher des göttlichen Archivs“ angesprochen wird (Kircher 1671, 616). Während für ihn auch die fernsten Winkel der Erde unmittelbar gegenwärtig und sichtbar sind, braucht der Mensch ein Hilfsmittel. Der Engel wird so zum Ingenieur und Kapitän eines selbst fabrizierten, durchsichtigen Unterseebootes:
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Haec est navicula, quam tibi praeparavi, ex purissima crystallo mea manu constructa; huic in posterum inclusus, per universas Oceani semitas, abyssorumque subterrestrium immensa hydrophylacia, me Nauta & Gubernatore veheris. Diaphana est, ut per ejus parietes vitreos veluti per fenestras quasdam omnia naturae arcana cominus intuearis, ab omni periculo aquarum tutus & securus. Das ist das Schiffchen, das ich für dich vorbereitet habe; ich habe es eigenhändig aus reinstem Kristall gefertigt. Geborgen in diesem Schiff wirst du mit mir als Kapitän und Steuermann alle Triften des Ozeans, die ungeheuren Wasserspeicher der unterirdischen Abgründe durchreisen. Durchsichtig ist es, damit du durch seine Glaswände wie durch Fenster alle Wunder der Natur aus der Nähe anschauen kannst, sicher und geschützt gegen jede Gefahr. (Kircher 1671, 616)
Die neue Erfindung ist nur halb phantastisch: Pläne zum Bau von Tauchglocken und Tauchbooten hatten im späten siebzehnten Jahrhundert längst konkrete Gestalt angenommen. Schon 1578 hatte ein gewisser William Bourne in einer Schrift mit dem Titel Inventions or Devises, very necessary for all Generalles and Captaines von einem Schiff phantasiert, das unter Wasser tauchen und wieder auftauchen könne.³² Das erste funktionstüchtige und manövrierfähige Unterseeboot der Geschichte wurde 1626 von Cornelis Jacobszoon Drebbel, dem Hoferfinder von König Jakob I., in England vor den Augen des Königs und tausender staunender Zuschauer vorgeführt (Harris 1961, 160 – 181). Es erreichte immerhin eine Tiefe von 3,6 Metern. Der Versuch zog große Aufmerksamkeit in der Gelehrtenrepublik auf sich. Anerkannte Größen wie John Wilkins oder Robert Boyle berichteten über Drebbels historische Pioniertat.³³ Dass die praktische Fortentwicklung des Unterseebootes militärisch inspiriert war, ist keine Überraschung. Immerhin betonte schon Wilkins in einem eigenen Kapitel seines Buches Mathematical Magick (1648; neu hg. 1680) die Nützlichkeit von Unterseebooten für „submarine experiments and discoveries“ (Wilkins 1680, 188). Mit ihrer Hilfe könne man vorstoßen in „the deep caverns and subterraneous passages where the seawater in the course of its circulation, doth vent it self into other places and the like.“³⁴ Kirchers zivile wissenschaftliche Nutzung der U-Boot-Technologie war
Harris 1961, 16: „A Ship or Boate that may goe under the water unto the bottom, and so come up againe at your pleasure […].“ Robert Boyle berichtet von einem „vessel to go under water; of which, trial was made in the Thames, with admired success, the vessel carrying twelve rowers, besides passengers; one of which is yet alive, and related it to an excellent Mathematician that informed me of it.“ Robert Boyle: New Experiments Physico-Mechanical. Touching the Spring of the Air (zuerst London 1660); zit. n. Boyle 1772, 107. Bei Wilkins 1680 findet sich ein Hinweis auf Drebble (179). Wilkins stellt sogar Überlegungen über U-Boot-Kolonien an, die eines Tages voller Erstaunen die Oberwelt erblicken würden (190).
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also im gelehrten Diskurs über ‚mathematisch-technische Magie‘ längst etabliert und durch experimentelle Praxis bewiesen. Bei Kircher geht es weniger um konkrete Expeditionspläne als um ein Darstellungsproblem. Das Tauchboot mit der Figur seines himmlischen Kapitäns dient der Performanz des Wissens, es ist eine wissenspoetische Figur des Textes selbst. Es ist daher nicht nur eine scholastische Kuriosität, wenn der Erzähler feststellt, dass der Engel „sowohl im Boot als auch draußen“ war.³⁵ Diese Unsicherheit liegt in der Funktion der U-Boot-Fahrt begründet. Denn die Konstellation von Passagier, Tauchboot und Engel entspricht der kommunikativen Dreieckskonstellation von Leser, Text und Autor: Autor (d. h. Gewährsmann) kann Cosmiel nur dann sein, wenn er zuvor im Boot die Welt der Phänomene gesehen hat. Außerhalb steht er jedoch im Verhältnis zum Passagier, der als impliziter Leser dient. Das Tauchboot wiederum repräsentiert den Text selbst, das Iter exstaticum, das zum transparenten Medium der Erkenntnis wird. Die Analogie von Tauchfahrt und Autorschaft gewinnt dem alten Topos vom Schreiben als Schifffahrt eine moderne, scharfsinnig-witzige Wendung ab. Das Iter exstaticum zeigt damit die Spannweite der Möglichkeiten, über die eine Poetik des Wissens am Ausgang des siebzehnten Jahrhunderts verfügt. Die narrative Form des Wissens ist Fortsetzung der argumentativen in einer liminalen Zone. So steht Kirchers Unterseeexpedition zwischen Grimmelshausens phantastischer Tauchfahrt ins Reich der Sylphen und dem Mundus subterraneus, der die phantastischen wissenschaftlichen Abenteuer und Relationen nur referiert, aber nicht selbst auf die Reise geht. Das Beispiel Kirchers zeigt, wie offen das Verhältnis von Wissen und Literatur in der Frühen Neuzeit ist. Science und fiction, argumentativ und narrativ geformtes Wissen, stellen keine Gegensätze dar, sondern ideale Extreme, zwischen denen vielfältige Mischungen und Gradationen möglich sind.
6 Simplicianische Anthropologie Von Kirchers imaginärer Tauchfahrt nun noch einmal zurück zu Grimmelshausen, zum Mummelsee und den Sylphen. Anders als Theodidactus, der Held Kirchers, muss Simplicius bei seiner Tauchfahrt ohne die Errungenschaften der neuesten Hydronautik auskommen. An die Stelle des gläsernen U-Bootes tritt ein leuchtender Stein, „so grün und durchsichtig als ein Schmaragd“ (ST, 492), der das Atmen unter Wasser möglich, das Atmen über Wasser aber unmöglich macht. Der Stein macht also nicht nur das Gesehene transparent, er transformiert Simplicius
Kircher 1671, 619: „Cosmiel vero utrum inclusus fuerit, nescio; certe & inclusus, & exclusus“.
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auch in ein Wasserwesen, das sich „nit länger auffrecht behalten konte“ (ST, 493) und schließlich dem Lockruf des Wassers erliegt. Der Picaro verwandelt sich in einen Sylphen. Was nun folgt – wir hatten es zuvor schon gesehen –, ist eine Reise nicht nur zum centrum terrae, sondern zum Grund der Dinge, der zugleich der „Kern“ der Erzählung ist. Grimmelshausen bietet eine kuriöse Zoologie und Geokosmologie in den Konturen Kirchers, die immer wieder die Frage nach der Schöpfungsordnung aufwirft. Vor allem entdämonisiert Grimmelshausen die Tiefe: Hinter den Unwetterphänomenen stehen keine bösen Geister, sondern – in Gestalt der Sylphen – überhaupt „keine Geister / sondern sterbliche Leutlein / die zwar mit vernünfftigen Seelen begabt / welche aber sampt den Leibern dahin sterben und vergehen.“ (ST, 496) Dabei ist das centrum terrae eine gegenderte Zone. Die Gemeinschaft der Sylphen ist eine reine Männergesellschaft; bei Loretus/Kircher ist der Mummelsee dagegen ein Hort des Weiblichen, eben der „Nymphen“. Dies entspricht auch der Vorgabe bei Paracelsus. Damit hat Grimmelshausen „wohl Praetorius folgend“ (Breuer Kommentar ST, 959) entschieden die Geschlechterordnung der Tiefsee umgekehrt und diese zu einer triebfreien Zone stilisiert. Der Entdämonisierung der Tiefe entspricht die Abkehr von der ‚Männerphantasie‘ der Wasserfrauen. Grimmelshausens Sylphen sind eine asketische, ganz in ihren „Geschäfften“ (ST, 495) aufgehende Männergemeinschaft; als „vernünfftige Creaturen“ (ST, 495) wenden sie sich gegen die „viehischen Begierden“ (ST, 499) des Menschen. In einer langen Rede setzt nun das „Printzlein“ (ST, 498) an, Simplicius „simpliciter“ (ST, 496) die Ordnung der göttlichen Schöpfung mitzuteilen. Vor allem das Kapitel „Etliche neue Zeitungen auß der Tieffe deß unergründlichen Meers Mare del Zur“ (d. h. des Pazifiks) (ST, 510) ließe sich der zoologischen Unterwasserexpedition des iter exstaticum zur Seite stellen (unter Hinweis auf das Medienformat der „Newen Zeitung“). Es enthüllt eine phantastische Makrofauna mit „Corallenzincken so groß als die Eichbäum“ (ST, 510) und „andere seltzamere Meerwunder die ich nicht all erzehlen kan“ (ST, 511), wie Simplicius angibt. Diese ‚curiöse Zoologie‘ wird in eine theologische Perspektive gerückt. Sie ist eingebunden in die Vorstellung einer hierarchischen Kette der Wesen, die von Gott über die Engel hinab zu den „unvernünfftigen Thieren“ (ST, 497) führt. Zwischen diesen Polen situieren sich beide – die Sylphen und die Menschen: Während die Menschen nach dem Engelssturz von Gott mit einer Vernunftseele ausgestattet werden, um die Zahl der gefallenen Engel zu kompensieren, besitzen die Sylphen zwar auch eine vernünftige Seele (Analogie zu Mensch bzw. Engel), diese ist jedoch – wie die Tierseele – sterblich. Die Sylphen sind weder erlösungsfähig noch erlösungsbedürftig, sofern sie „keiner Sünd / und dannenhero auch keiner Straff / noch dem Zorn Gottes / ja nicht einmal der geringsten Kranckheit unterworffen [sind]“ (ST, 498). Dieser paradiesische Zustand schlägt jedoch in einen defizitären
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um. Wie die Sünde, so fehlt auch die Hoffnung auf Erlösung. Dies setzt die Sylphen in der Schöpfungsordnung zurück: denn ihr seyt weit mehrers beseeligt als wir / in dem ihr zu der seeligen Ewigkeit / und das Angesicht GOttes unauffhörlich anzuschauen erschaffen / in welchem seeligen Leben eurer einer der seelig wird / in einem einzigen Augenblick mehr Freud und Wonne / als unser gantzes Geschlecht von Anfang der Erschaffung biß an den Jüngsten Tag / geneust. (V, 13; ST, 499)
Damit ist die Frage nach der Stellung des Menschen in der Schöpfungsordnung aufgeworfen. Wie in der rinascimentalen Anthropologie, am bekanntesten bei Giovanni Pico della Mirandola (in seiner Oratio de dignitate hominis), geht der Sylphenkönig von einer Anthropologie aus, die man dynamisch oder relativ nennen könnte. Sie betrachtet den Menschen nicht als Wesen mit einer bestimmten, unveränderlichen Substanz, sondern als „Werk von unsicherem Ansehen“ („indiscretae opus imaginis“), das zwar im „Zentrum der Welt“ platziert ist, aber „keinen festen Sitz und keine eigene Gestalt“ aufweise.³⁶ Die Frage nach der Erlösung ist also eng mit der nach der Humanität und der Kette der Wesen verknüpft. Wenn der Mensch „seinen viehischen Begierden den Ziegel schiessen läst“, so der Sylphenprinz, nähert er „sich dardurch dem unvernünfftigen Viehe“, wenn nicht den „höllischen […] Geistern“ (ST, 499). Beide – Sylphen wie Menschen – werden als Mittel- und Zwitterwesen begriffen. Wie der Mensch „das Mittel [ist] zwischen den heiligen Engeln und den unvernünfftigen Thieren“ (ST, 497), so sind die Sylphen „das Mittel zwischen euch und allen andern lebendigen Creaturen der Welt“ (ST, 497). Diese Zwischen- bzw. Zwitterposition bezieht
Pico della Mirandola 1997, 8: „Nec certam sedem, nec propriam faciem, nec munus ullum peculiare tibi dedimus, o Adam, ut, quam sedem, quam faciem, quae munera tute optaveris, ea pro voto, pro tua sententia, habeas et possideas. […] Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius, quicquid est in mundo. Nec te caelestem neque terrenum neque mortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tu te formam effingas. Poteris in inferiora, quae sunt bruta, degenerare, poteris in superiora, quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari.“ („Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. […] In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst dich nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.“ Übers. K. von der Gönna).
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Mensch und Sylphen eng aufeinander. Simplicius muss zum Sylphen werden, um sich als Mensch erkennen zu können: Als Sylphe begegnet Simplicius im Sylphen seinem nächsten Anderen in der Ökonomie der Schöpfung, in seiner Gestalt und Weltzone wird ihm wie in einem Spiegel die eigene Hybridität, aber auch der Erlösungsauftrag bewusst. Wie sich Simplicius dazu in den Sylphen verwandelt, so verwandelt sich der Sylphe in der Imagination des Textes zum Menschen (genauer gesagt: zum Mann). Scheinen die aufsteigenden „Creaturen im Wasser“ den Simplicius „der Gestalt nach an Frösche zu gemahnen“ (ST, 492) – dies war ja der Tenor im Bericht des Loretus –, so werden sie „in meinen Augen je länger je grösser / und an ihrer Gestalt den Menschen desto ähnlicher“ (ST, 492). Ob Augentäuschung oder nicht: Simplicius lernt die Natur und sich mit anderen Augen bzw. mit den Augen des Anderen betrachten. Von hier aus wird nun die leitmotivische Bedeutung der Tier-Mensch-Unterscheidung im Roman insgesamt deutlich: Das Animalische oder Bestialische wird zum Prüfstein einer instabilen Humanität. Die Weisheit der Sylphen korrespondiert der des Einsiedlers, der Simplicius durch Unterricht über die letzten Dinge „auß einer Bestia zu einem Christenmenschen“ macht (ST, 40). Sein Weg führt ihn jedoch wieder an die ‚bestialische‘ Sphäre heran, etwa wenn er im zweiten Buch (II, 5) „in ein Kalb verwandelt“ wird (ST, 135), aus diesem „bestialischen Stand“ und Narrenkleid heraus jedoch der verkehrten Welt ihre Verkehrtheit vorführt, etwa in einem Lehrvortrag, der dem natürlichen Verhalten der Tiere die Denaturiertheit des Menschen vorwirft (Kap. 12: „Von Verstand und Wissenschaft etlicher unvernünfftigen Thier“, ST, 158). Diese simplicianische Anthropologie, die es weiter zu verfolgen gilt, sammelt sich in der Mummelsee-Episode wie in einem Brennpunkt. Sie koppelt die physica curiosa an den theologischen Leitdiskurs um Schöpfungsordnung und Erlösung. Der Simplicius ist kein Bildungsroman, sondern zu gleichen Teilen ein Roman der Wissenschaft und ein Roman der zerbrechlichen Humanität, der liminalen Anthropologie (Achilles et al. 2012). Die Weisheit des Sylphen verweist auf den „Kern“ des Textes, das wahre und eigentliche ‚Tiefenwissen‘, das Simplicius’ Unterweltsfahrt enthüllt: Wenn man „die Welt vor einen Probierstein Gottes [hält] / auff welcher der Allmächtige die Menschen / gleich wie sonst ein reicher Mann das Gold und Silber probiert“ (ST, 504), so ist der Roman selbst das Experimentallabor eines Tiefenwissens, das den Leser bis heute herausfordert und fasziniert.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1669), Titelkupfer der Erstausgabe; HAB Wolfenbüttel, Lo 2309, Titelkupfer. Abb. 2. Athanasius Kircher: Mundus subterraneus (21678, II, lib. VIII, 112), München, BSB, Hbks/R 13 ds-2; CC-BY-SA 4.0
Vera Bachmann
Helle Kunst der Tiefe: Zur Autonomieästhetik von Karl Philipp Moritz 1 Der Körper des Schönen Die Frage nach der Kunst wurde um 1800 an den Körper gestellt. Winckelmann, Lessing, Herder, Goethe, vor allem aber Karl Philipp Moritz bestimmten das Schöne im Blick auf die griechischen Statuen der Antike. Schönheit wurde als körperliche Schönheit gedacht, die Marmorkörper standen für eine ideale Ganzheit, eine harmonische Verbindung der einzelnen Teile der Figur.¹ In den Überlegungen der noch jungen Disziplin der Ästhetik formierte sich ein skulpturaler Werkbegriff, dessen Auswirkung auf die Literaturtheorie bis heute spürbar ist (Polaschegg 2015). Bei aller gemeinsamen Referenz auf den Körper wurde dieser aber durchaus unterschiedlich gedacht. Begriffe wie körperliche Einheit, Ganzheit oder Harmonie bildeten oft einen Ausgangspunkt der Überlegungen und wurden selbst nicht genauer definiert. In die vielbeschworene Einheit des Körpers drängen sich bei genauerem Hinsehen jedoch Unterscheidungen. Es sind die Unterscheidungen zwischen Teilen und Ganzem, Stille und Bewegung, Glätte und Rauheit, Zentrum und Extremitäten, unten und oben, Haut und Eingeweiden. Beispielhaft dafür soll es im Folgenden um die ästhetischen Überlegungen von Karl Philipp Moritz gehen, in denen die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe zentral ist.² Moritz legt die Grundlinien seiner Autonomieästhetik bereits in seiner ersten Veröffentlichung zur Kunsttheorie, in dem 1785 erschienenen Aufsatz „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des ‚in sich selbst Vollendeten‘“. Darin bestimmt Moritz das Schöne als das, was seinen Zweck in sich habe und nur „wegen seiner eignen innern Vollkommenheit“ existiere: „Man braucht es nicht, in so fern man es brauchen kann, sondern man braucht es nur, in so fern man es betrachten kann.“ (Moritz 1989a, 9) Die Frage nach der Nützlichkeit des Kunstwerks, die die ästhetische Theorie bis dato be-
Vergleiche hierzu die Überlegungen von Sabine Schneider, die von einer nahezu kollektiven Fantasie spricht, die sich auf den „unverstellten Ausdruck einer wie immer gearteten Präsenz“ (1998, 30) richtet. Auch Winckelmann unterscheidet Oberfläche und Tiefe der Statue, konzipiert diese Unterscheidung aber anders als Moritz. Bei ihm bleibt die Oberfläche opak, die Differenz zur Tiefe nur als Zeichen an der Oberfläche spürbar. Siehe dazu meine Dissertationsschrift (Bachmann 2013). https://doi.org/10.1515/9783110634730-008
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schäftigt hatte, konfrontiert er mit einem Konzept des Schönen, das keine Funktion für einen bestehenden Zusammenhang hat, sondern an die Stelle dieses Zusammenhanges tritt (Fohrmann 1995, 181).³ Die Einheit des Kunstwerks wird in seiner sinnvollen internen Struktur begründet, die die Frage nach der Nützlichkeit obsolet mache: „[I]ch muß in den einzelnen Theilen desselben so viel Zweckmäßigkeit finden, daß ich vergesse zu fragen, wozu nun eigentlich das Ganze soll?“ (Moritz 1989a, 12) Diesen Grundgedanken des „in sich selbst Vollendeten“ variiert Moritz in seinen ästhetischen Schriften immer wieder und baut ihn zu einem umfassenden Konzept der Autonomie der Kunst aus, wie es bis dahin nirgends so radikal formuliert wurde. Doch was bleibt von der Kunst, wenn sie nicht mehr in erster Linie lehren und erfreuen soll? Wenn sie nicht an ihrer Nachahmung der Natur gemessen wird, nicht mehr über ihre ethische oder moralische Wirkung definiert wird und keine Nützlichkeit mehr nachweisen muss? Was sieht man, wenn man ausschließlich das Kunstwerk selbst in den Blick nimmt, statt seine Beziehungen zu Personen, Dingen oder Ideen zu untersuchen? Die folgenden Ausführungen gehen von der Beobachtung aus, dass mit der Lösung der Kunst aus allen heteronomen Zusammenhängen und mit ihrer Betrachtung als Selbstzweck etwas sichtbar wurde, das man zuvor nicht gesehen hatte: eine Dimension der Tiefe. Es wird zu zeigen sein, wie sich im Anschluss an die Ästhetik der Aufklärung in Moritz’ Schriften ein Modell von tiefer Kunst als Spiegel des der Kunst gegenüberstehenden Subjekts formiert.⁴ In seiner ästhetischen Hauptschrift „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ von 1788 fasst Moritz das Prinzip der Nachahmung, das die ästhetische Debatte seit Aristoteles bestimmt hatte, völlig neu. Er löst die Nachahmung vom Objekt und überträgt sie auf die Tätigkeit des Künstlers: Dieser ahme nicht das Schöne, sondern dem Schönen nach. Damit wird das Kunstwerk aus seinem Bezug auf ein Vorbild gelöst und so der Weg freigemacht für eine eingehendere Betrachtung des Werks selbst. Es ist vor allem dieser Perspektivenwechsel, aufgrund dessen Todorov (1995, 148) Moritz eine Schlüsselfunktion in der Geschichte der Ästhetik zuweist. Moritz kappt die Außenbezüge des Kunstwerks und stellt es als Selbstzweck ins Zentrum seiner Überlegungen. Das Schöne habe „keine Absicht ausser sich“ und wie das Unnütze den „Endzweck seines Daseyns in sich
Zu Moritz’ Anschluss an und Abgrenzung von Mendelssohn siehe Berghahn 2012, 110 – 118. Zum Zusammenhang von Autonomie und Theorie des Subjekts bei Karl Philipp Moritz siehe ausführlich Berghahn (2012), der einem Zusammenhang der verschiedenen Schriften und Textsorten im Hinblick auf Moritz’ Positionierung innerhalb einer ästhetischen Moderne um 1800 nachgeht. Dazu ordnet er auch die ästhetischen Schriften werkgeschichtlich ein, worauf hier nur verwiesen werden kann.
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selber“ (Moritz 1989b, 37). Das Kunstwerk soll aus sich selbst heraus bedeuten, auf nichts außerhalb seiner Grenzen verweisen und nicht auf Erklärungen angewiesen sein, wie es in der Schrift „Die Signatur des Schönen“ (1793) heißt, die Moritz zuerst 1788 unter dem Titel „In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?“ veröffentlicht hatte: Denn darinn besteht ja eben das Wesen des Schönen, daß ein Theil immer durch den andern und das Ganze durch sich selber, redend und bedeutend wird – daß es sich selbst erklärt – sich durch sich selbst beschreibt – und also außer dem bloß andeutenden Fingerzeige auf den Inhalt, keiner weitern Erklärung und Beschreibung mehr bedarf. (Moritz 1989b, 82)
Auf die beredte narratio der Kunstbeschreibung könne verzichtet werden, weil die deixis des Fingerzeigs dem Kunstwerk gerechter werde. Statt mit erklärenden Beschreibungen werde das Kunstwerk durch eine Geste erschlossen. Todorov hat den neuen Zeichenstatus des Kunstwerks paradox als „Intransitivität“ (1995, 153) beschrieben, als ein Zeichen, das nur auf sich selbst verweise, eine „gegenseitige Durchdringung von Signifikant und Signifikat“ (1995, 158), die später Symbol genannt werde. An die Stelle des zeichenhaften Bezugs auf Außenliegendes trete die „innere Kohärenz des schönen Gegenstandes“ (Todorov 1995, 153), deren semiotischen Status Todorov nicht weitergehend bestimmt. Die Durchdringung von Signifikant und Signifikat im sich selbst bezeichnenden Zeichen hebt, so meine These, die zugrundeliegende zeichenhafte Differenz jedoch nicht auf. Sie wird lediglich ins Kunstwerk verlegt. Dass das Kunstwerk autonom ist, dass von seinem Nutzen und seiner Verweisfunktion auf alles außer ihm Liegende abstrahiert wird, heißt nicht, dass es eine differenzlose Einheit ist. Im Gegenteil: In dem Maße, indem die externe Verweisfunktion des Kunstwerks außer Acht gelassen wird, gerät seine interne Organisation und mit ihr die Frage nach ihrer Zeichenhaftigkeit selbst in den Blick. Hinter Moritz’ Modell des autonomen Kunstwerks steht unverkennbar der Körper der Statue. Moritz deshalb in die Tradition einer leibhaften Sinnpräsenz zu stellen, wie es Georg Braungart (1995) unternommen hat, hieße allerdings, die Binnendifferenzierungen dieses Körpers zu übersehen. Moritz’ Theorie des in sich selbst Vollendeten mag „ein – vielleicht altmodisches – Gegenmodell zu neostrukturalistischer Zeichentheorie“ (Braungart 1995, 112) sein, insofern als der Sinn des Kunstwerks nicht als unendlich aufgeschoben gedacht wird. Die Statue verkörpert keine „Fülle des Sinns in absoluter Präsenz“ (Braungart 1995, 112), zumindest nicht in der Bedeutung von differenzloser Evidenz, einer körperlichen Präsenz von Sinn. Dass es „im nackten Körper […] keine Spaltung in Signifikant und Signifikat mehr“ gibt (Braungart 1995, 115), stimmt jedoch ausgerechnet für Moritz’ Konzept des Körpers nur eingeschränkt, da die Unterscheidungen, die
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Moritz selbst in die Einheit des schönen Kunstkörpers einzieht, durchaus zeichenhaft sein können. Um die Organisation dieser Relationen zu beschreiben, greift Moritz auf verschiedene Metaphern zurück. Er verwendet zum einen das Bild von Teilen und Ganzem, zum anderen spricht er von Oberfläche und Tiefe. Vor allem in seiner Abhandlung „Über die bildende Nachahmung des Schönen“ (1788) geht Moritz ausführlich auf die interne Organisation des Kunstwerks ein, die er zunächst als Teil-Ganzes-Beziehung bestimmt. So wird auch der Begriff der Nützlichkeit über diese Beziehung definiert: „Jeder Theil eines Ganzen muß auf die Weise mehr oder weniger Beziehung auf das Ganze selbst haben: das Ganze, als Ganzes betrachtet, hingegen, braucht weiter keine Beziehung auf irgend etwas ausser sich zu haben.“ (Moritz 1989b, 40). Moritz, der an Winckelmanns analytischer Kunstbeschreibung kritisierte, dass sie zu sehr auf Einzelheiten eingehe und dabei das ‚Ganze‘ aus dem Blick verliere,⁵ geht in seinem Text selbst auf solche Einzelheiten ein. Dies geschieht allerdings nur, um ihre Bestimmtheit und Konvergenz zu einem einheitlichen Ganzen zu betonen, denn „je mehrere solcher Beziehungen eine schöne Sache von ihren einzelnen Theilen zu Ihrem Zusammenhange, das ist, zu sich selber, hat, um desto schöner ist sie.“ (Moritz 1989b, 42) Eine adäquate Kunstbeschreibung dürfe daher Einzelnes durchaus benennen, wenn sie dessen Zusammenhang mit dem Ganzen hervorhebe. Entsprechend lautet der Schlusssatz in der „Signatur des Schönen“: Wenn über Werke der bildenden Künste, und überhaupt über Kunstwerke etwas Würdiges gesagt werden soll, so muß es keine bloße Beschreibung derselben nach ihren einzelnen Theilen seyn, sondern es muß uns einen nähern Aufschluß über das Ganze und die Nothwendigkeit seiner Theile geben. (Moritz 1989c, 96)
Für Moritz wird jede Einzelheit zur Synekdoche, als „Nothwendigkeit“ verweist sie zeichenhaft auf das Ganze.
2 Schimmern durch die Oberfläche Die Einheit des Ganzen ergibt sich bei Moritz dabei oft ausgerechnet durch ein Detail: Immer wieder spricht er vom ‚Brennpunkt‘ eines Werks, im Hinblick auf
„Winckelmanns Beschreibung vom Apollo im Belvedere zerreißt daher das Ganze dieses Kunstwerks“, schreibt Moritz. „Diese Beschreibung hat daher auch der Betrachtung dieses erhabenen Kunstwerks weit mehr geschadet, als genutzt, weil sie den Blick vom Ganzen abgezogen, und auf das Einzelne geheftet hat, welches doch bei der nähern Betrachtung immermehr verschwinden, und in das Ganze sich verlieren soll.“ (Moritz 1989c, 95 – 96)
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den sich alles füge. In der Optik ist der Brennpunkt der Ort, an dem sich Lichtstrahlen bündeln, die durch eine Linse gebrochen wurden, d. h., er liegt außerhalb des optischen Mediums, das ihn hervorbringt. Johann Heinrich Zedler definiert ihn im Eintrag zum „Brenn-Glas“ folgendermaßen: Es ist nemlich aus der Optic bekannt, daß die Sonnen-Strahlen in einem convex geschliffenen Glase gebrochen und hinter demselbigen in einen engen Raum zusammengebracht werden, allwo sonderlich ein gewisses Punct vorhanden, in welchem die Strahlen am dichtesten sind, welches der Brenn-Punct oder Focus heisset. (Zedler 1733, 643)
Was optisch eine entscheidende Eigenschaft des Brennpunktes ist, nämlich dass er im Raum hinter der Linse liegt, das dürfe beim Kunstwerk nicht passieren, so Moritz im „Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des ‚in sich selbst Vollendeten‘“. Wer etwa ein Kunstwerk schaffe, um „den Edelsten zu gefallen“, der wird gewarnt: „[D]er Brennpunkt des Werks wird außer dem Werke fallen, du bringst es nicht um sein selbst willen, und also auch nichts Ganzes, in sich Vollendetes, hervor.“ (Moritz 1989a, 15) Auf den „Brennpunkt“ kommt Moritz immer wieder zurück, er ist Kriterium von Produktion wie Rezeption der Kunst (Pfotenhauer 2015, 63). So sind auch Moritz’ Bildbeschreibungen, Pfotenhauer zufolge, geprägt von einer „Suche nach einem geheimen Mittelpunkt, einem Organisationszentrum, von dem aus sich in der Rekonstruktion das Werk als System von Bezügen erfassen läßt“ (1991b, 72– 75). In der Beschreibung von Michelangelos Jüngstem Gericht in den Reisen eines Deutschen in Italien beispielsweise macht Moritz einen in den Abgrund niedersinkenden Verdammten im rechten unteren Bildbereich als einen solchen Punkt aus (Moritz 1793, 5 – 6; Pfotenhauer 1991b, 72– 75). Dieses Organisationszentrum wird aber gerade nicht im geometrischen Mittelpunkt des Werks gesucht; es ist auch nicht zu verwechseln mit dem Fluchtpunkt der Perspektive. Eher erinnert Moritz’ Konzept des Brennpunkts an Roland Barthes’ Studie Die helle Kammer und die Suche nach dem punctum, nach dem bestechenden Detail, an dem die Betrachtung der Fotografie unwillkürlich hängenbleibt (Barthes 2009). Im Unterschied hierzu dachte Moritz das zentrierende Detail allerdings als bewusst gesetzt, und mehr noch: als das Prinzip der Hervorbringung von Kunst. So müsse die „Thatkraft“ alle jene Verhältnisse des grossen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne, wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einem Brennpunkt fassen. – Aus diesem Brennpunkte muß sich, nach des Auges gemessener Weite, ein zartes und doch getreues Bild des höchsten Schönen ründen, das die vollkommensten Verhältnisse des grossen Ganzen der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in seinen kleinen Umfang faßt. (Moritz 1989b, 49 – 50)
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Hinter der Optik steht Metaphysik. Der Brennpunkt ist ihr Reflex, er bündelt die Strahlen des „grossen Ganzen“, das Moritz’ Autonomiekonzept der Kunst bestimmt. Die Einheit des Kunstwerks wird letztlich durch die Einheit der Schöpfung verbürgt. Es bleibt bezogen auf das höchste Schöne des Naturganzen, das der Einbildungskraft als dem menschlichen „Empfindungswerkzeuge“ (Moritz 1989b, 43) selbst nicht zugänglich ist. Abgesichert wird die Bedeutsamkeit dieser Einheit durch die Spiegelungsstruktur von Mikrokosmos und Makrokosmos, die über Leibniz Eingang in Moritz’ Ästhetik gefunden hat. Das Schöne ist ein Zeichen metaphysischer Bedeutungsgehalte – trotz oder gerade wegen seiner Autonomie (Pfotenhauer 1991b, 78; Ostermann 1991, 35). Auch Moritz’ Vorliebe für die Spiegelmetapher geht auf Leibniz und seine Monadenlehre zurück, die ein Spiegelungsverhältnis von Monade und vollkommener Welt beschreibt (Pfotenhauer 1991b, 80). Der Künstler spiegelt die göttliche Schöpfungskraft, sein Werk die Welt. Das Schöne erweist sich als Zeichen, als Signatur höherer Bedeutung.⁶ Dabei verweist der Begriff der Signatur wiederum auf Paracelsus und Jakob Böhme – und damit auf die Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos, deren Modell der Leib ist (Adler und Schrimpf 1989, 135; Braungart 1995, 113). Pfotenhauer spricht angesichts dessen von einer „eklektische[n] Auftürmung voraussetzungsreichster Theoreme“ (1991b, 80), die aber allesamt auf die Begründung und Rechtfertigung einer Autonomie der Kunst zielen, und das „jenseits aller Frömmigkeit“ (1991b, 80). Die Rede vom „Brennpunkt“ und die genaue Beschreibung von Spiegelungsvorgängen und Lichtverhältnissen deuten allerdings darauf hin, dass Moritz die ‚voraussetzungsreichsten Theoreme‘ seiner Vorgänger stärker als optische Konstellationen denkt – hinter der Metaphysik steht bei ihm wiederum die Optik. Denn auch wenn der Brennpunkt nicht den Fluchtpunkt der Perspektive markiert, so ist er doch der Schnittpunkt eines gerichteten Bündels von Lichtstrahlen, der jenseits der Linse lokalisiert ist. Entsprechend scheint er in den Passagen, wo Moritz nicht Gemälde, sondern Statuen betrachtet, im Körperinneren zu liegen: nicht als Signatur, sondern als Spur. Der Blick auf die Statue scheint ihre Oberfläche zu durchdringen. Denn während die Signatur an der Oberfläche des Kunstwerks gesucht wird (Braungart 1995, 120), liegt die Spur am Grunde oder „Fonds“ (Moritz 1989b, 34) des Kunstwerks. Von dort her, aus der Tiefe, organisiert sich die Bedeutung des Kunstwerks. In Moritz’ Schrift „Über die Allegorie“ (1789) wird das Autonomiepostulat als ein spezielles Verhältnis von äußerer Oberfläche und innerem Wesen gefasst: „Die Zum Begriff der Signatur siehe auch Sabine Schneider, die von einem Erklärungsmodell spricht, „das am Ende des Jahrhunderts merkwürdig unverbunden in einer säkularisierten Wissenslandschaft auftaucht und inmitten der hochdifferenzierten Rationalisierungen der Aufklärungssemiotik eine vormoderne Zeichenlehre zu restituieren scheint“ (Schneider 1998, 70).
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Figur, in so fern sie schön ist, soll nichts bedeuten, und von nichts sprechen, was außer ihr ist, sondern sie soll nur von sich selber, von ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche gleichsam sprechen, soll durch sich selbst bedeutend werden.“ (Moritz 1989d, 97) Die Figur, die von nichts Äußerlichem sprechen soll, bringt Inneres zum Sprechen. Die Verweisfunktion wird auch hier in das Kunstwerk selbst verlegt: „[V]on ihrem innern Wesen durch ihre äußere Oberfläche“ soll es sprechen. Die Frage nach dem Zeichenstatus der Figur hängt ab von der Präposition „durch“, die modale oder lokale Bedeutung haben kann. Ist die Oberfläche der Figur Medium eines unter ihr Liegenden, das durch die Vermittlung erst zum Sprechen gebracht wird? Ist sie als Bildfläche gedacht, auf die Inneres projiziert wird? Oder scheint das tiefe Innere durch eine transparente Oberfläche? Moritz’ Ausführungen dazu changieren, sie neigen sich mal der einen, mal der anderen Möglichkeit zu. In der „Signatur des Schönen“ wird das Verhältnis von Innerem und Äußerem vorrangig als zeichenhafte Relation verstanden: Jemehr wir nehmlich, überhaupt beym Anblick der Natur, die Ursach in ihrer Wirkung, das innere Wesen der Dinge in ihren äußren Formen und Gestalten lesen, um desto befriedigter fühlen wir uns, und um desto vollkommener scheint uns das zu seyn, was durch seine äußere Form zugleich sein inneres Wesen uns enthüllt. (Moritz 1989c, 84)
‚Inneres Wesen‘ und ‚äußere Form‘ stehen hier in metonymischem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Dass von einer Lesbarkeit der äußeren Gestalt auf das Innere hin ausgegangen wird, klingt zunächst nach Lavater und den Lehren der Physiognomik. Während die Physiognomik aber von einer starren Entsprechung zwischen Innen und Außen ausgeht, denkt Moritz dieses Verhältnis komplexer. Es lässt sich, so Schneider, „eine für Moritz charakteristische Verschiebung innerhalb dieses Denkmusters feststellen.“ Denn die „Oberfläche ist hier nicht einfach zu überspringen; das Wesen hat sich in ihr zu versichtbaren, so dass der Blick von ihr angezogen und festgebannt erscheint und nicht ein gedankliches oder auch moralisches Bezugssystem zu Hilfe rufen darf.“ (Schneider 1998, 65 – 66). Dazu kommt, dass die Oberfläche des Kunstwerks bei Moritz nicht nur Zeichen eines Inneren, sondern, durch seine Produktion, ebenso Zeichen des Äußeren trägt. Die Oberfläche ist eine Grenzfläche, auf der beide Wirkungen zusammentreffen. So heißt es in „Über die bildende Nachahmung des Schönen“: Die Realität muß unter der Hand des bildenden Künstlers zur Erscheinung werden; indem seine durch den Stoff gehemmte Bildungskraft von innen, und seine bildende Hand von aussen, auf der Oberfläche der leblosen Masse zusammentreffen, und auf diese Oberfläche nun alles das hinübertragen, was sonst größtenteils vor unsern Augen sich in die Hülle der Existenz verbirgt, die durch sich selbst schon jede Erscheinung aufwiegt. (Moritz 1989b, 45)
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Die Hand des Künstlers „von aussen“ und die „Bildungskraft von innen“ schaffen aus der „leblosen Masse“ eine Oberfläche, die Zeichen eines größeren Ganzen trägt. Auf der Oberfläche der Plastik wird das durch die Kräfte von Innen und Außen bestimmte Schöne unmittelbar anschaubar gemacht (Braungart 1995, 120). Doch gleichzeitig stört die Oberfläche Moritz’ Konzept des ‚schönen Ganzen‘ empfindlich, da sie die Einheit des Kunstwerks irritiert und als Zeichenträger die behauptete Unmittelbarkeit seines Bedeutens in Frage stellt. So kommt es, dass Moritz die Dimension der Oberfläche des Kunstwerks in der Folge wieder unsichtbar zu machen versuchte. In „Die Signatur des Schönen“ entkleidet er den menschlichen Körper zunächst von allen sichtbaren Oberflächen. Die störenden Hüllen werden mit der Begründung entfernt, dass die Nacktheit „bey dem Menschen das höchste Siegel der Vollendung seiner Schönheit“ ist. Aber auch dieses „Siegel“ setzt noch immer eine Oberfläche voraus. Und da „auch noch die letzte ins Auge fallende Oberfläche“ immer eine das „innere Wesen“ verdeckende „Art von Bekleidung“ (Moritz 1989c, 85) darstelle, so bemüht sich der Text, auch noch die verbleibende Oberfläche der Haut unsichtbar zu machen. Der Körper wird als nahezu durchsichtig imaginiert: Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwohnende Vollkommenheit der Natur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfläche schimmern, und uns, wie in einem hellen Spiegel, auf den Grund unseres eigenen Wesens durch sich schauen läßt. (Moritz 1989c, 84)
Moritz bietet hier zwei unterschiedliche Bilder auf, um die besondere Wirkung der Schönheit der menschlichen Gestalt zu begründen. Zunächst spricht er von einem Durchschimmern des Inneren durch eine „zarte Oberfläche“. Die Oberfläche ist hier keine Zeichenfläche, sondern transparent gedacht. Sie lässt ein Inneres zumindest erahnen. Dies verknüpft Moritz mit dem Bild des Spiegels, der wie der Begriff des Brennpunkts als optischer Begriff ernstgenommen wird. Im Medium des Spiegels erscheint als Durchsicht, was eigentlich reflektiert wird. Das, was im Spiegel sichtbar wird, wirkt, als läge es hinter der Spiegelfläche, obwohl es vor ihr liegt. Statue und Betrachter stehen sich in diesem Konzept spiegelbildlich gegenüber – wo das Bild der „inwohnenden Vollkommenheit der Natur“ seinen Ursprung hat, ist nicht mehr klar zu entscheiden. Was der Betrachter in der menschlichen Gestalt der Statue sieht, ist „Grund“ seines „eigenen Wesens“. Dabei ist nun nicht in erster Linie eine Selbsterkenntnis im Anblick des Kunstwerks gemeint, sondern der Ort markiert, an dem sich die Wirkung des Kunstwerks entfaltet: der Grund der Seele.
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3 Grund und Tiefe in der Ästhetik der Aufklärung Mit dem „Grund unsres eignen Wesens“ (Moritz 1989c, 84) knüpft Moritz an den Topos vom Grund der Seele oder des fundus animae an. Gemeint ist damit der Ort, an dem seit Baumgarten die dunklen Kräfte der sinnlichen Erkenntnis lokalisiert wurden, für deren wissenschaftliche Erforschung Baumgarten die neue Disziplin der Ästhetik für zuständig erklärte (Adler 1988). Im ersten Paragraphen seiner 1750 erschienenen Schrift Aesthetica definiert er die von ihm neubegründete Disziplin wie folgt: „AESTHETICA (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae.“ (Baumgarten 1983, 79) Die sinnliche Erkenntnis des Schönen steht hier gleichrangig neben dem Vermögen der Vernunft, wenn sie diesem auch, rein topologisch betrachtet, untergeordnet bleibt. Die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis wird in diesem Text als Logik der unteren Seelenkräfte eingeführt. Hier, am Grund der Seele, vollziehe sich das der Vernunft analoge, ‚schöne‘ Denken als das Denken des Schönen. Die Seele, was immer sie ist und wo sie sich im Leib befinden mag, scheint jedenfalls in sich vertikal gegliedert. Die Ratio wird in den oberen Sphären verortet, während die Empfindungen als ‚untere Seelenkräfte‘ am Grund der Seele gesucht werden. Die vertikale Ordnung impliziert eine Werthierarchie, die Baumgarten erstmals in Frage stellt, ohne dabei jedoch das tradierte räumliche Konzept zu verabschieden. Bevor Baumgarten nämlich die unteren Seelenkräfte gleichwertig neben die oberen reiht, wurde die Ratio als den Empfindungen überlegen gedacht. Christian Wolff etwa, von dem Baumgarten die Differenzierung in untere und obere Erkenntnisvermögen übernahm, betrachtete die unteren Seelenkräfte eher geringschätzig. Während der obere Teil des Erkenntnisvermögens bis zu den deutlichen Ideen und Begriffen vordringe, reiche der untere Teil nur bis zu den dunklen und verworrenen Begriffen. Diese seien zwar benennbar, aber nicht analysierbar. Während das Dunkle für Wolff die „Profilgrenze des Erkennbaren“ (Adler 1988, 202) ausmacht, haben seine Nachfolger versucht, diese Grenze zurückzudrängen und den Bereich des Erkennbaren auszuweiten (Groß 2011, 312– 315). So wird bei Baumgarten dem fundus animae mit seinen dunklen Vorstellungen eine eigenständige, ‚dunkle‘ Erkenntnisleistung zugeschrieben: Die cognitio obscura ist „nicht mehr die Grenzmarke, sie ist zu einer Größe der Ästhetik geworden.“ (Adler 1988, 206) Der Grund der Seele wird dabei zwar als dunkel (und undeutlich) gedacht, aber nicht unbedingt als tief. Auch führt Baumgarten den Topos des fundus animae, wie Häfner (1995, 99) zu Recht anmerkt, auch nicht erstmalig ein. Er stammt aus der Mystik (bei Meister Eckhart, Tauler oder Poiret ist der Seelengrund Ort der Vereinigung mit Gott), geht als Konzept aber auf Cicero und stoische Quellen
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zurück (Häfner 1995, 99). Die Aufklärung knüpft nun nicht an die mystische Tradition, sondern eher an die antike Affektenlehre an. Wenn Leibniz vom Grund der Seele als dem Ort spricht, aus dem alle Gedanken kommen, wird diese nicht als tief und verborgen gedacht, sie ist lediglich der nicht näher lokalisierte Ort, aus dem die verschiedenen Vermögen entstehen. Angesichts dieser heterogenen und komplexen Quellenlage resümiert Häfner: Bleibt auch die Quelle, auf die er sich mit dem Terminus des ‚fond‘ bezieht, unklar – seit dem siebzehnten Jahrhundert lässt sich ein geradezu inflationärer, durch die barocke Bildlichkeit nicht nur in Deutschland metaphorisch weit gestreuter, in der Regel aber unspezifischer Gebrauch des Begriffs [des Grundes der Seele] beobachten (1995, 102).
So viel lässt sich aber zumindest festhalten: Der Begriff des fundus animae wurde aus dem religiösen und mystischen Kontext gelöst, der Grund der Seele in der Folge nicht als tief im Sinne von unzugänglich gedacht. Die Dunkelheit, mit der der Terminus in der ästhetischen Theorie stets in Verbindung gebracht wird, wird dabei zunehmend fruchtbar: „Das am Grunde der Seele liegende Dunkle wandelt sich immer mehr vom Störfaktor zum Nährboden“ (Adler 1988, 208). Während in der Ästhetik der Aufklärung das Untere also nicht unbedingt tief ist, ist die Tiefe nicht unbedingt unten. Tiefe ist vielmehr Effekt einer Steigerung, deren Richtungspfeil eher nach oben weist. Wenn etwa Christian Wolff in seiner Schrift Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet (1720) untere und obere Erkenntnisvermögen differenziert, dann ordnet er die Tiefsinnigkeit (profunditas) den oberen Erkenntnisvermögen zu, gleich der Aufmerksamkeit, der Gründlichkeit oder der Vernunft (Giuriato 2015, 70). Tiefe Gedanken sind klar und deutlich, ihr Grad ist steigerbar: Es wird demnach die Deutlichkeit der Gedancken immer grösser, je mehr wir Theile in den Theilen, oder auch je grössere Mannigfaltigkeit wir in einem entdecken. Und also wird die Deutlichkeit grösser, je mehr wir Grade der Klarheit bekommen. […] Wir können daher sagen, es gehe uns ein grösseres Licht auf wenn wir deutliche Gedancken bekommen. (Wolff 1983, 116 – 117)
Die Tiefe der Gedanken ist keine dunkle Rätselhaftigkeit, sondern im Gegenteil ein Effekt der Steigerung, der sich mit Deutlichkeit und Klarheit verbinde: „Wenn unsere Gedancken klar sind, so sagen wir, es sey lichte oder helle in unserer Seele.“ (Wolff 1983, 112) Als dunkel und verworren bezeichnet Wolff (in Entsprechung zu Leibniz) dagegen diejenigen Bereiche, die den unteren Erkenntnisvermögen zugänglich sind. Diese Bereiche sind zwar benennbar, können aber nicht aufgehellt werden.
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Die Tiefe dagegen wird in ein Ordnungsschema umgedeutet, dem ein Fortschrittsimpuls innewohnt: Ein Gedanke wird umso tiefer, je deutlicher er ist. Um diese Steigerung genau bemessen zu können, wird sie nicht als progressives Kontinuum, sondern in Graden konzipiert. Für ein exaktes Denken ist ein tiefer Gedanke dann nicht mehr einfach tiefer oder weniger tief als ein anderer, sondern er hat einen anderen Grad der Deutlichkeit und damit der Tiefe. Als Steigerung gedacht, weist der Richtungspfeil der Deutlichkeit und damit der des Tiefsinns eher nach oben als nach unten. So heißt es in § 209 unter der Überschrift „Tiefe der Gedancken. Was tiefsinnig ist“: Weil aber die Deutlichkeit durch Grade zunimmet; so erhalten dadurch die Gedancken eine Tieffe, und verstehet man dadurch, was tiefsinnig heisse, und was es zu bedeuten habe, wenn man einem eine tiefe Einsicht zueignet. Nehmlich derjenige ist tiefsinnig, der einen ferneren Grad der Deutlichkeit in seinen Gedancken erreichet. (Wolff 1983, 117)
Nicht Dunkelheit und Unergründlichkeit kennzeichnen hier die Tiefe, ihre Vorstellung verbindet sich vielmehr mit Licht und Deutlichkeit. Gemeinsam mit Licht und Klarheit erscheint die Tiefe bei Wolff als Qualität des Denkenden und seiner Gedanken, und nicht etwa des Erkenntnisobjekts. Anders ist dies bei Baumgarten, der einerseits auch dort von Tiefe spricht, wo es um eine durch Logik erreichbare Objekterkenntnis geht. Andererseits versteht er Tiefe auch als Eigenschaft des Objekts: Nur die Logik dringe in die Tiefe (profunditas) vor, während die sinnliche Affizierung des Subjekts nicht mit Tiefe in Verbindung gebracht wird (Adler 1988, 55). Wenn Baumgarten auch gegenüber Wolff die gnoseologia inferior aufwertet und der sinnlichen Erkenntnis eine spezifische Leistungskraft zugesteht, so bleibt das Attribut der Tiefe der Verstandestätigkeit vorbehalten. Nur der Verstand kann sich dann der unergründlichen Tiefe der Welt nähern. Sie vollständig zu begreifen, ist allerdings Gott vorbehalten. Die Erkenntnis der Gesamtheit der Welt ist nur dem Vermögen des göttlichen Verstandes möglich, während, so Brunemeier, „der menschliche (diskursive) Verstand lediglich zu einem mehr oder weniger ‚tiefen‘ Eindringen auslangt.“ (1983, 55) Als Substantiv steht Tiefe also für die absolute Unergründlichkeit der Weltordnung, als Adjektiv oder Adverb ist sie ein relativer Begriff: Sie misst sich an einer Totalität, die für den Menschen unerreichbar ist. Die Gesamtheit der Welt und die sie konstituierenden Gesetze sind dem Verstand vorenthalten. Ihrer absoluten Tiefe steht jedoch immerhin eine relative Tiefe der Erkenntnis gegenüber. Der Verstand kann so tief eindringen, dass ihm die unergründliche Tiefe des Gegenstands bewusst wird. Das Adverb ‚tief‘ verbindet sich daher mit einer Vor-
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stellung von Transgression. Es bezeichnet ein Eindringen in Bereiche, die die Strahlen der Vernunft nicht bis ins Letzte ausleuchten können.
4 Autonome Kunst als tiefe Kunst Während in der Aufklärungsästhetik also einerseits der dunkle Seelengrund als Ort ästhetischer Erkenntnis nicht als tief gedacht wird, Tiefe andererseits eher mit einem graduellen Vordringen in einen Bereich der Unergründlichkeit in Verbindung gebracht wird, denkt Moritz beides zusammen und entwirft damit das Modell einer tiefen Kunst. Bei Baumgarten ist der fundus animae der Ort, an dem die sinnliche Wahrnehmung beheimatet ist; von einem Grund des Kunstwerks spricht er nicht. Baumgarten geht von der Sinneswahrnehmung und ihrem Verhältnis zur Logik aus und beschäftigt sich kaum mit dem Kunstwerk selbst. Erst Moritz wendet sich wieder dem Kunstwerk zu und betrachtet es als einen objektiven Gegenstand (Saine 1971, 127). Auch wenn Saine die Rolle Winckelmanns und auch Herders vielleicht unterschätzt (Pfotenhauer 1991a, 88 – 93), ist ihm doch darin zuzustimmen, dass Moritz den Menschen in ein neues Verhältnis zum Kunstwerk bringt (Saine 1971, 129). Im Vergleich zur Aufklärungsästhetik zeigt dies schon Moritz’ Umdeutung der Lichtmetaphorik. Denn die Bedeutung der Kunst muss bei Moritz nicht von außen erhellt werden, vielmehr ist es das Kunstwerk selbst, das leuchtet und seinen Schein auf den Betrachter wirft: „Das Licht, worinn sich uns das Schöne zeigt, kommt nicht von uns, sondern fließt von dem Schönen selber aus, und verscheucht auf eine Weile die Dämmerung um uns her.“ (Moritz 1989c, 83) Die Lichtmetaphorik der Aufklärung wird hier umgekehrt: Es sind nicht die hellen Strahlen der Vernunft, die das Dunkel des Objekts aufklären, sondern umgekehrt sendet die Kunst ihre Lichtstrahlen aus und beleuchtet den Betrachter. Es ist eine helle Tiefe, die im Inneren der Kunst liegt. Der Grund der Einbildungskraft ist bei Moritz zunächst, ganz in der Tradition Baumgartens, als der Ort der sinnlichen Wahrnehmung konzipiert. Hierbei nimmt Moritz auch mediale Unterschiede in den Blick. Während die bildende Kunst unmittelbar wirke, könne die Sprache nur „mittelbar das Schöne umfassen“, in so fern nehmlich die mit jedem Worte erweckten und nie ganz wieder verlöschenden Bilder, zuletzt eine Spur auf dem Grunde der Einbildungskraft zurücklassen, die mit ihrem
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vollendeten Umriß dasselbe Schöne umschreibt, welches von der Hand des bildenden Künstlers dargestellt, auf einmal vors Auge tritt. (Moritz 1989b, 89)⁷
Das gilt für die Kunstbeschreibung, die also selbst zu Kunst werden und sich vom Zweck der Beschreibung lösen müsse. Es gilt aber auch für die Literatur: [W]enn wir nur einen Augenblick auf den Grund unsers Wesens schauen, und dort die Spur uns erklären könnten, welche nach Lesung des Homer dieselbe Empfindung des Schönen in uns zurückläßt, die der Anblick des höchsten Kunstwerks unmittelbar in uns erweckt. (Moritz 1989b, 90 – 91)
In der „Spur“ werden die medialen Unterschiede wieder aufgehoben. Der Grund der Seele ist der Ort, an dem die Kunst wirkt und dabei eine Spur hinterlässt, die „von dieser Sache selbst so unendlich verschieden seyn könne, daß es zuletzt fast unmöglich wird, die Verwandtschaft der Spur mit der Gestalt des Dinges, wodurch sie eingedrückt ward, noch ferner zu errathen.“ (Moritz 1989b, 91) Im Unterschied zu Wolff und Baumgarten verbindet Moritz diesen Grund, an dem die Kunst ihre Spuren hinterlässt, mit einer Vorstellung von Tiefe und konzipiert so eine tiefe Kunsterkenntnis in Analogie zur tiefen Verstandeserkenntnis (Adler 1988, 56 – 57). Den Grund der Einbildungskraft beschreibt er nicht mehr als Ort der ‚unteren‘ Sinnesvermögen, sondern als tief in dem Sinn, dass er nur durch den Modus des visuellen Eindringens und Durchdringens erreichbar sei. Moritz fasst den Zugang zum Grund der Einbildungskraft somit als optische Konstellation. Der Blick auf den Grund des Wesens oder der Einbildungskraft, der hier beschrieben wird, ist ein Spiegelblick. Der Betrachtende steht der Kunst gegenüber und spiegelt sich in ihr.Wenn er auf die Statue wie in einen Spiegel blickt und darin den Grund seines eigenen Wesens sieht (Moritz 1989c, 84), dann dringt der Blick durch die Körperoberfläche. Die Durchsicht, die die Oberfläche des Kunstwerks scheinbar überwindet, erweist sich als Spiegelung des Subjekts, das im Kunstwerk seine eigene Tiefe wahrnimmt. Im Blick auf das Kunstwerk spiegeln sich damit zwei Tiefendimensionen: die Tiefe der Kunst und jene des Subjekts. Auch hierin erweist sich ein Zusammenhang zwischen Moritz’ Kunstphilosophie und seinem Projekt zur Erfahrungsseelenkunde (Berghahn 2012). Die Erfahrungsseelenkunde ist ebenfalls „Seelenanatomie“ und die Metaphern des Durchdringens einer Oberfläche oder des Sezierens eines Inneren finden sich auch dort immer wieder (Schneider 1998, 141). Beides, Psychologie wie Ästhetik, basieren auf einem Oberfläche-Tiefe-Zusammenhang. An anderer Stelle spricht Moritz statt vom Grund der Einbildungskraft vom „Grund unsers Wesens“ (Moritz 1989b, 90).
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Im Angesicht des Kunstwerks werden Kunst wie Betrachter durchsichtig. Das mag, wie Pfotenhauer schreibt, am hohen „Idealisierungsbedarf“ (1991a, 93) der deutschen Kunstliteratur liegen, für die das Niedere transparent für das Höhere sein müsse. Die Transparenz der Kunst ist aber kein Faktum, sondern sie wird, zumindest bei Moritz, durch eine genau beschriebene optische Anordnung hergestellt. Damit wird das Kunstwerk aber nicht nur einfach transparent. Vielmehr scheint der Grund des Wesens oder der Einbildungskraft in Moritz’ Konstellation nicht mehr nur im wahrnehmenden Subjekt zu liegen, sondern spiegelbildlich auch der Kunst zuzukommen. Über diese Spiegelungsanordnung wird der Grund in die Tiefe des Kunstwerks projiziert. Die Spiegelung erscheint optisch als Eindringen: Der Tiefenblick transgrediert die transparente Oberfläche des Statuenkörpers und sieht in deren Innerem, was eigentlich in der Tiefe des Betrachtenden liegt. Was sich hier gegenseitig spiegelt, sind die beiden einander gegenüberliegenden Tiefendimensionen, die Tiefe des Kunstwerks und der „Grund unsres Wesens“. Die Körperoberfläche wird zur Spiegelfläche, die in der wechselseitigen Spiegelung der Tiefen unsichtbar wird. Moritz konzipiert damit also nicht nur eine tiefe Kunsterkenntnis in Analogie zur tiefen Verstandeserkenntnis, sondern er entwirft über die spiegelbildliche Konstellation von Kunstwerk und Betrachter ein Modell tiefer Kunst. Nicht nur die Kunsterkenntnis ist demnach tief, sondern dem Kunstwerk selbst wird Tiefe zugeschrieben. Was in den ästhetischen Schriften der Aufklärung noch unabhängig voneinander gedacht worden war – der Seelengrund als Ort sinnlicher Erkenntnis (zwar unten, aber nicht tief) und die Tiefe als Eindringen in Bereiche der Unergründlichkeit – verbindet Moritz in seiner Szene der Kunstbetrachtung. Seelengrund und Bedeutung der Kunst werden gleichzeitig durch einen Blick sichtbar gemacht, der die trennende Oberfläche durchdringt und sich in die Tiefe richtet. Die Semantik des fundus animae wird in der Spiegelung auf das Kunstwerk übertragen. In seine Tiefe wird projiziert, was die Aufklärungsästhetik im wahrnehmenden Subjekt suchte: eine dunkle Ratio des Sinnlichen. Bei aller Autonomie bestimmt sich die Kunst über diese Tiefe.
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Moritz Baßler
Balladisches Erzählen und submedialer Raum um 1800: Eine Lektüre von Schillers „Der Taucher“ There was another world below – this was the problem. (Jonathan Franzen, The Corrections)
1 Schiller ist nicht unten gewesen, sonst würde sein Tauchergedicht um ein merkliches kürzer sein und sich wahrscheinlich auf ein ‚Brr! Pfui Deubel!‘ beschränken, höchstens mit dem Zusatz: ‚Lieber nicht zum zweitenmal!‘ (Raabe 1988, 56)
Wie hier für den Gymnasiasten Velten aus Wilhelm Raabes Akten des Vogelsangs (1896), so sind Schillers einst populäre Balladen heute generell zum Kulturgut für die Mittelstufe herabgesunken, „eine museal gewordene Dichtungsart“ (Hamburger 1957, 216), lebensfern und auch ästhetisch allenfalls noch in der Parodie zu genießen. Jeder Versuch einer Neulektüre steht vor der Aufgabe, hinter 200 Jahre Abnutzung zurückzugehen, um wenigstens eine Ahnung jenes ästhetischen Versprechens zu rekonstruieren, das Goethe und Schiller ab 1797, in Vorbereitung ihrer klassischen Großwerke, zur intensiven Beschäftigung mit dieser Gattung bewogen hatte. „Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp“? Auch die germanistische Forschungslage ermutigt nicht gerade dazu, Schillers Balladen noch einmal als besondere Herausforderung zu begreifen. Quellen, Kommentare und biographische Umstände hatte bereits die positivistische Forschung umfassend erarbeitet, und die interpretierenden Deutungen des zwanzigsten Jahrhunderts haben kaum aufregende Differenzen zutage gefördert. Peter-André Alt resümiert im Jahre 2000 den Forschungsstand wie folgt: Der Taucher berichtet vom couragierten Kampf eines Edelknaben mit den vermeintlich unbezwingbaren Kräften der Natur, von Hybris und Scheitern des Protagonisten, der im Glanz seines Erfolges die ihm zustehenden Handlungsspielräume überschreitet. (Alt 2000, 349)
Andere wollen das „Zerrbild des Egoisten“ (Alt 2000, 354) weniger im tauchenden Jüngling selbst erkennen und lesen die Ballade folglich „als Parabel mit märhttps://doi.org/10.1515/9783110634730-009
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chenhaften Zügen von dem bösen König und seinem großgesinnten, jungen, tragischen Opfer“ (Wiese 1978, 616). Man steht dann allerdings vor der undankbaren Aufgabe, den Tod des Jünglings auch als Bestrafung des Königs deuten zu müssen, was zu einigen Verrenkungen führt. Einleuchtender ist es, die Problematik von Selbst- und Fremdbestimmung als solche in den Mittelpunkt des Gedichtes zu rücken; so liest Gerhart Kaiser den „Taucher“ als „anthropologische Ballade“: Sie handelt vom frevelhaften Spiel des Menschen mit dem Menschen, vom Erwachen des Menschen aus der unbewußten Harmonie der Kindheit zur Selbstverantwortung, […] vom Maß des Menschen. (Kaiser 1996, 211)
Eine aufklärerische, ins Politische und auch Psychoanalytische erweiterbare Lesart wird hier eröffnet.¹ – Alle diese Deutungen sehen das entscheidende Element des Textes darin, dass dem ersten, naiven und glücklichen Tauchgang ein zweiter, man ist versucht zu sagen: sentimentalischer folgt, der zum Scheitern verurteilt ist, weil sich hier der Mensch wider besseres Wissen gegen das ihm von Gott oder den Göttern gesetzte Maß überhebt – Hybris. Die Wiederholungsstruktur wird auf diese Weise parabolisch gedeutet als Exempelstruktur, mit der Quintessenz: „Lieber nicht zum zweitenmal!“ Zum semantischen Zentrum, quasi zur vorweggenommenen Moral der 27 Strophen werden in dieser Deutung drei sentenzhafte Verse aus Strophe 16: Und der Mensch versuche die Götter nicht, Und begehre nimmer und nimmer zu schauen, Was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen. (V. 94– 96)²
Ausgehend von einer Problematisierung dieser Verse will ich im Folgenden versuchen, die geschlossene Lesart zu erweitern und womöglich aufzubrechen, wie es jüngst auch die sorgfältigen Lektüren von Vera Bachmann, Rachel B. Beeler und Maren Conrad unternommen haben. Dabei konzentriere ich mich zunächst auf die Erzähltechnik und die Repräsentationsstruktur des Gedichtes, jeweils im historischen Kontext.
Zu neueren psychoanalytischen Lesarten siehe Bachmann 2013, 98 – 107; Pontzen 2016, 149 – 170. Schiller 1943 (Verse hieraus im Fließtext in runden Klammern).
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2 Erste Feststellung: Nicht Schiller spricht die zitierten Verse, nicht einmal sein Erzähler, sondern der Taucher selbst, in wörtlicher Rede. Das verwundert vorerst nicht weiter, denn das Delegieren großer Textteile an die dialogische Rede der handelnden Figuren gehört zu den Merkmalen schon der Volks- und dann auch der Kunstballade. Man hat das zu den dramatischen Elementen dieser Gattung gezählt, in der (Goethe zufolge) Episches, Lyrisches und Dramatisches „noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind“.³ Heute gilt die Ballade als epische Form, und als solche hat sie immer auch einen Erzähler. Diesem Erzähler allein steht es noch in den Romanzen Gleims und Höltys zu, deutende Kommentare zum Geschehen zu machen. Der auktoriale Abstand zu seiner Erzählung erlaubt es ihm dort, sich wie der Bänkelsänger mit seinem Zeigestock direkt ans Publikum zu wenden und seine didaktischen, oft auch ironischen Pointen vorzubringen: „Laßt euch dies Beispiel, Mädchen! rühren / Das Warnung spricht.“ (Hölty 1991, 55, V. 45 – 46) In solchen Texten ist die Exempelstruktur eindeutig. Mit Bürgers „Lenore“, dem Initialtext neuerer Balladendichtung, ändert sich das. Schon aus Gründen der Spannungserzeugung schöpft der Erzähler hier seine auktoriale Erzählkompetenz nicht aus und fokalisiert spätestens im berühmten Gespenster-Ritt so stark auf seine Figur, Lenore, dass die Erzählung stellenweise in erlebte Rede umzuspringen scheint: Zur rechten und zur linken Hand Vorbei vor ihren Blicken, Wie flogen Anger, Heid und Land! Wie donnerten die Brücken! – (Bürger 1991, V. 153 – 156)
Die erlebte Rede war gerade erst von Wieland als Stilmittel deutscher Epik erprobt worden. Auch in ihr ist ein dramatisches Element am Werke, wenn man Oskar Walzel folgt. Sie steigere, schreibt er, geradezu „die Züge des Gegenpols der Erzählkunst“. Während „in eigentlicher Erzählung Medium der Mitteilung lediglich das Ohr sei“, teile „szenische Erzählung gewissermaßen durch das Ohr etwas dem Auge mit […]. Der Leser erfährt nicht abstrakt die Sache, sondern sie wird ihm vor das innere Auge gestellt.“ (Walzel 1968, 223) Wo der Sinn des Erzählten aber vom Erzähler nicht mehr aufbereitet wird, wird dieser zum reinen Übertragungsme „[…], das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.“ (Goethe 1902, 224)
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dium. Bewerten muss der zum Zuschauer gemachte Leser das, was ihm vorgeführt wird, fortan selbst. Lenorens Verhalten etwa wird in Bürgers Ballade zwar mehrfach kommentiert, aber weder die wörtliche Rede der dogmatisch beschränkten Mutter noch gar der heulende Geisterchor am Ende können als ungebrochene Formulierung der Gedichtaussage gelten. Die könnte bestenfalls das Ergebnis einer alle Faktoren berücksichtigenden Interpretation sein. Nicht umsonst hat Schiller sich ausführlich mit Bürgers Gedichten auseinandergesetzt⁴ – im „Taucher“ beerbt er dessen spannungserzeugende Beschränkung der Erzählerperspektive und radikalisiert sie sogar noch. Schillers Erzähler fokalisiert nämlich nicht auf eine bestimmte Figur, sondern auf die Menge, die sich auf der Klippe über dem Meeresstrudel versammelt hat. Im Erzählpräsens beschreibt er, was man von dort oben gerade hört und sieht: die Meeresoberfläche und die Rede und Handlung der Akteure – das Innere sowohl des Meeres als auch der Figuren entzieht sich seiner Darstellungskompetenz. Durch diesen Kunstgriff wird nicht erst der Leser, sondern bereits der Erzähler der Ballade zum Zuschauer: Er repräsentiert die Perspektive des Publikums bei einem Spektakel. Man könnte also sagen: Schillers Erzähler sei „nicht unten gewesen“. Oder doch? Schauen wir genauer hin: Der Mechanismus des Meeresstrudels, der Charybdis, wird ausführlich und als regelhafter dargestellt; als „Schlund“ saugt sie das Wasser an, um es als „Schoß“ jeweils wieder herauszuschleudern: „Als wollte das Meer noch ein Meer gebären.“ (V. 36) Zweimal durchläuft sie diesen Zyklus – das erste Mal nimmt sie den Becher mit, das zweite Mal schluckt sie den Jüngling und stößt ihn samt Becher auch wieder aus. All dies erfahren wir aus der Außensicht des Erzählers. Mit der Rede des Überlebenden, die in Strophe 16 einsetzt, wird der zweite Zyklus dann jedoch noch ein zweites Mal erzählt, diesmal aus der Unterwasser-Perspektive. Über Wasser hatten dem im Wesentlichen die Strophen 10 und 11 entsprochen. Gerade diese beiden Strophen sind nun aber in erzähltechnischer Hinsicht überaus auffällig. Der zuvor neutrale Erzähler sagt hier plötzlich „ich“ und spricht sogar in Gedanken den König mit „du“ an – nicht aber den Leser. Ohne Reflektorfigur personalisiert er sich hier innerhalb der erzählten Diegese.⁵ Eine solche direkte Gedankenwiedergabe des Erzählers ist im balladischen Erzählen der Zeit meines Wissens einmalig. Kurzfristig, während der Taucher taucht, taucht der Erzähler hier in sein eigenes Inneres ab. Dabei formuliert er beinahe so etwas wie eine Begründung seiner eigenen Erzählbeschränkung, der „Tatsache, dass die Welt unterhalb der
Vgl. hierzu Schillers Text „Über Bürgers Gedichte“ aus dem Jahr 1790. Es handelt sich also nicht mehr, wie Conrad meint, um einen heterodiegetischen Erzähler (Conrad 2014, 255).
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Wasseroberfläche nicht direkt aus der Perspektive eines Erzählers beschrieben werden kann“ (Conrad 2014, 255): Und wärfst du die Krone selber hinein Und sprächst: wer mir bringet die Kron’, Er soll sie tragen und König seyn, Mich gelüstete nicht nach dem theuren Lohn, Was die heulende Tiefe da unten verhehle, Das erzählt keine lebende glückliche Seele. (V. 61– 66, Hervorhebung M.B.)
Zumeist wird diese Stelle als eine spannungssteigernde Voraussage des Erzählers im Einklang mit der Publikumserwartung gedeutet, die mit dem Auftauchen des Jünglings widerlegt und erledigt ist.⁶ Entscheidend ist jedoch, dass als Zweck der riskanten Tauchaktion bereits an dieser Stelle das Erzählen selbst benannt wird. Dazu kommt, dass der Erzähler hier ziemlich genau das artikuliert, was der HauptQuelle, Kirchers Mundus subterraneus, zufolge die ersten Worte des Wiederaufgetauchten an den König waren: „Ich hätte“, heißt es dort, „deinem Geheiß niemals gehorcht, wenn ich vorher gewußt hätte, was ich jetzt weiß, selbst wenn du mir die Hälfte deines Reiches versprochen hättest.“⁷ (Kircher 1981, 166) Hier tut sich also eine andere Wiederholungsstruktur des Gedichtes auf, eine des Erzählens selbst, nicht des Erzählten: Dem Abtauchen des Erzählers in die Innenperspektive entspricht in der histoire der unerzählte, ja vom Erzähler selbst als unerzählbar behauptete Ausflug unter die Meeresoberfläche. Zu Beginn seiner Rede scheint der Taucher dieses Unerzählbarkeits-Verdikt zu bestätigen: „Und der Mensch versuche die Götter nicht.“ Statt aber das Inkommensurable nun auch mit Nacht und Grauen bedeckt zu lassen und folgerichtig nach seiner Sentenz in Strophe 16 zu verstummen, wird der Taucher jetzt selbst zum Erzähler. Die zitierten Verse sind ja nur der Auftakt zu seinem atemlosen, sechs Strophen lang ununterbrochenen Bericht, in dem die Mirabilia der Unterwasserwelt ausführlich zur Sprache kommen. Mit diesem Bericht tritt der Taucher in direkte Konkurrenz zum Erzähler. Es ist geradezu, als wollte die Ballade noch eine Ballade gebären.
So etwa Kaiser (1996, 207) und Hilde Cohn (1959, 208). Cohn, die den Bezug zu V. 93 – 96 herstellt, meint, hier habe sich „der Dichter von den Personen seines Gedichts in unverhüllter IchAussage distanziert“ (1959, 208). Hans-Günther Thalheim spricht von einem „lyrische[n] Ich, das die Empfindungen und Stimmungen der Gefolgsleute des Königs zu prägnanten Meinungen und Urteilen verdichtet“ (1981, 429). „jussis tuis nunquam obtemperassem, si quae comperi, prius novissem, etiam promisso mihi Imperii tui dimidio“ (Kircher 1678, 98).
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Und bis auf die letzten beiden Strophen, wo der Taucher wieder abtaucht, kommt der eigentliche Erzähler fortan kaum noch zu Wort.
3 Der Taucherbericht stellt gut ein Viertel der Ballade. Was im Rahmen einer parabolischen Lesart den bloßen Status einer retardierenden Amplifikation hat (Wiese 1978, 614), die Aufzählung der unterseeischen Schrecken, erscheint nach dem bisher Gesagten geradezu als ein konkurrierender Skopus des balladischen Erzählens und lohnt daher genauere Betrachtung. Deshalb zunächst ein Wort zur Quelle. Der Überlieferung nach war der Taucher keineswegs ein naiver Jüngling, sondern selbst ein Mirabilium, ein Sizilianer namens Nicola, genannt Pescecola, weil er eine amphibische Lebensweise angenommen hatte (er hatte Schwimmhäute und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im Meer). Er war bereits berühmt, als Friedrich II. von Sizilien ihn zu seinem doppelten Tauchgang in der Straße von Messina veranlasste, in jenem Meeresstrudel, der bereits in der Antike mit der mythischen Charybdis identifiziert worden war. Schon vor Kircher war die mittelalterliche Begebenheit als Wanderlegende im Mittelmeerraum weit verbreitet, im achtzehnten Jahrhundert findet sich dann Kirchers Version in Fischbüchern, Almanachen und Enzyklopädien (etwa bei Zedler) reproduziert, und zwar derart häufig, dass selbst Heinisch, dessen Aufarbeitung des Stoffes Redundanzen keineswegs scheut, einige Versionen entgangen sind. Schiller hatte den Stoff wohl von Goethe; dass ihm selbst bei der Abfassung aus der Flut der vorliegenden Quellen offenbar keine einzige direkt bekannt war, macht den Fall geradezu zu einem Lehrstück in Sachen Intertextualität. Gebildete Leser wie Herder erkannten die Geschichte sofort wieder, während dem Autor nicht einmal der Name seines Helden bekannt war. Auch Versifikationen des Stoffes gab es bereits: Erst 1792, also nur fünf Jahre zuvor, war in der Deutschen Monatsschrift ein Erzählgedicht Franz von Kleists erschienen, „Nicolaus der Taucher“, das sich passagenweise wie eine vorweggenommene Parodie zu Schillers Ballade liest. Dem idealisch-„herrlichen Jüngling“ (V. 24) entspricht hier eine groteske Gestalt: Die Haut ist rauh, sein Bart ist ausgebleicht, die Stirne breit, der große Mund erreicht das größere Ohr, die Nase scheint zu brennen, und wer ihn sieht, der mögte rennen.
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So steht Held Nicolas vor Friederich. (Kleist 1981, 260)⁸
Überheblichkeit und Geldgier sind die Motive dieses Tauchers, und auch der Machtmissbrauch des Herrschers ist deutlicher formuliert als bei Schiller. Nur an entscheidender Stelle hakt es: Von Friedrich aufgefordert, endlich seine Neugier nach den unter Wasser geschauten Wundern zu stillen, also anstelle des Taucherberichtes, antwortet Nicolas lakonisch: „Herr Kaiser, Wunder sah ich nicht“ (Kleist 1981, 264). Bei Kircher hatte der Taucher von einer Strömung aus den Klüften des Meeres, von gefährlichen Klippen, von den Wirbeln und schließlich von monströsem Meeresgetier berichtet, und Schiller folgt dem im Wesentlichen. Sein Taucher beginnt wie folgt: Es riß mich hinunter Blitzesschnell, Da stürzt’ mir aus felsigtem Schacht, Wildflutend entgegen ein reissender Quell, Mich pakte des Doppelstroms wüthende Macht (V. 97– 100)
In Kirchers Illustration erkennt man den Schacht, der ganz Sizilien untertunnelt, und bei genauerer Hinsicht sogar einen Seitenkanal, der die Charybdis direkt mit dem Ätna verbindet. Das wirft ganz nebenbei womöglich ein neues Licht auf die berühmten, schon Goethe faszinierenden Verse: Und es wallet und siedet und brauset und zischt, Wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt (V. 31 f. und 67 f.)
Und auch die bereits von Humboldt als völlig unrealistisch bezeichnete Nennung von „Salamandern und Molchen und Drachen“ (V. 113) gewinnt neue Plausibilität, denn zumindest Salamander und Drachen sind traditionell auch mit dem Element Feuer verbunden. Interessant ist aber vor allem, wo Schiller von der Vorlage abweicht. Die Klippen, bei Kircher Teil der Schrecken, werden seinem Jüngling zur Rettung. Das ragende Felsenriff mit dem Korallenast steht in deutlichem Kontrast zu der Höhle, in der Pescecola den Becher findet. Es wiederholt auf tieferer Ebene die Ausgangsfiguration der Ballade: Klippe über Meeresschlund, und auch ein antiker Prätext klingt an, der 12. Gesang der Odyssee, wo Odysseus sich so lange an einem
Franz von Kleist (1769 – 1797), Gleim-Schüler in Halberstadt, hatte 1798 bereits ein Gegengedicht zu Schillers „Die Götter Griechenlandes“ verfaßt.
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Abb. 1: Athanasius Kircher: Tabula Freti Siculi, Charybdis et Scyllae (Der Meeresstrudel Skylla und Charybdis bei Sizilien)
Feigenbaumast über der Charybdis festhalten kann, bis der Strudel sein Floß wieder emporspült. Auf Homer und einen Mühlenbach hatte Schiller die Naturwahrheit seiner Wasserbeschreibung bescheiden zurückgeführt, die Goethe ihm in einem begeisterten Brief vom Schaffhausener Rheinfall bestätigt hatte. Ins Detail geht Schiller dann vor allem bei der Benennung der UnterseeFauna. Den eher mythischen „Salamandern und Molchen und Drachen“ folgt ein Katalog nach dem Fischbuch Konrad von Gesners.⁹ Wolfgang Struck erkennt hier die Wissensordnung des barocken Bestiariums (Struck 2002). Dabei erstaunt vor allem die Distinktheit der Einträge. In ihrer beinahe Linné’schen Präzision wollen sie dem „grause[n] Gemisch / Zu scheußlichen Klumpen geballt“ (V. 115 f.), von dem die Rede ist, so gar nicht entsprechen:
Konrad von Gesners (1516 – 1565) mehrbändige Historia animalium erschien in deutscher Übersetzung erstmals 1563 und wurde vielfach nachgedruckt.
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Der stachlichte Roche, der Klippenfisch, Des Hammers gräuliche Ungestalt, Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne Der entsetzliche Hay, des Meeres Hyäne. (V. 117– 120)
Bei Kircher kommen an Fischen allein Haie und Polypen vor.¹⁰ Man hat den „Taucher“ oft so gelesen, als träfe hier der vernunftbegabte, potentiell autonome Mensch auf sein Anderes, das ihn in Gestalt einer anyonymen, inintelligiblen Macht schreckt und bedroht, als ungeformtes, diffuses Es (zuletzt Decker 2002). In der Tat ist das unpersönliche Es ein häufiges Stilmittel in dieser Ballade und kann für die Wut der Elemente stehen, aber auch für das Schwimmen des Jünglings oder sein Augenblitzen. In der letzten Strophe des Taucherberichtes heißt es ohne Nennung eines Subjektes: „[D]a kroch’s heran, / Regte hundert Gelenke zugleich, / Will schnappen nach mir“ (V. 127– 129). Dabei könnte es sich wieder um das ‚grause Gemisch‘ der genannten Bestien handeln, oder aber um das zweite Tier, das bei Kircher noch genannt ist: einen Polypen, eine Riesenkrake.¹¹ Wie auch immer: Herankriechen und nach der Beute schnappen ist ein zielgerichtetes und völlig natürliches Verhaltensmuster bei Raubtieren. Ohne Zweifel ist die Charybde ein menschenfeindlicher Ort, aber als eine chaotische Gegenwelt ist sie in Schillers Gedicht nicht gestaltet. Im Gegenteil: Sowohl der pulsierende Meeresstrudel selbst als auch seine Bewohner verhalten sich im Grunde vorhersagbar und nach einsichtigen Gesetzen. Planlos verhalten sich dagegen die Menschen, die mit dieser Welt konfrontiert werden: zuerst der Taucher, der „in des Schreckens Wahn“ (V. 129) den Ast loslässt und nur durch blanken Zufall gerade die rettende diastolische Phase erwischt, und später dann der König, der in wirrer Folge und gänzlich unsouverän erst einen Ring, dann den bereits vergebenen Becher und schließlich noch seine Tochter verspricht, nur damit der Jüngling, der gar nicht dazu kommt, sich zu den Angeboten zu äußern, noch einmal tauchen geht. Diese Planlosigkeit im „Taucher“ wird noch deutlicher, wenn man ihn mit zwei anderen Charybdis-Texten vergleicht, der erwähnten Homer-Stelle und Edgar Allan Poes Erzählung „A Descent into the Maelström“ von 1841. Der erfindungsreiche Odysseus kennt den Rhythmus des Meeresstrudels und macht ihn sich
Schiller steigert die Fisch-Hunde zu Meeres-Hyänen (man beachte die Nähe der grotesken Wortzusammensetzung von „pesce cane“ zu „Pescecola“). So vermutet schon Wilhelm Loock (1976, 238). – Polypen sind die höchstentwickelten Lebewesen, die nicht dem ‚menschlichen‘ Wirbeltier-Bauplan entsprechen. Sie sind deshalb immer wieder als Inbegriff des Gegen-Humanen gestaltet worden, am eindrücklichsten in der HorrorMythologie von H. P. Lovecraft.
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zunutze, indem er an seinem Feigenast die Rückkehr der Flut abwartet. Poes Held, ein Fischer, gerät zwar in den Wirbel hinein und damit in höchste Todesnot. Er verliert aber nicht den Kopf, sondern stellt mit geradezu mathematischer Intelligenz Beobachtungen und Berechnungen über Gewicht, Form und Bewegung der mit ihm dort herumstrudelnden Gegenstände an. Das erlaubt ihm schließlich, von seinem Wrack auf ein geeigneteres Stück Treibgut zu wechseln und sich zu retten. – In beiden Fällen bedient sich der aufgeklärte Mensch gegenüber den mächtigen Naturgewalten seines technischen Verstandes und triumphiert am Ende. In beiden Fällen wird aber auch die Meeresoberfläche nicht transzendiert; keiner dieser beiden Helden wird zum Taucher, sie sind nicht unten gewesen.
4 So gesehen, ist das Erstaunlichste am „Taucher“ womöglich bereits dies, dass Schiller überhaupt einen Stoff wählt, der eine direkte Repräsentation der anderen Seite verlangt. Man denke an sein zwei Jahre zuvor entstandenes Gedicht „Das verschleierte Bild zu Sais“, dessen Moral ziemlich genau der angeblichen des „Tauchers“ entspricht: die von den Göttern verhüllte Wahrheit verhüllt lassen! Der Jüngling, der den Schleier aufdeckt, wird schwermütig – und absolut undenkbar wäre eine Darstellung dessen, was darunter zu sehen war, im Gedicht selbst. So wendet sich der Erzähler an das Publikum mit den Worten: „Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier? / Ich weiß es nicht.“¹² Wenn es aber Hybris bedeutet, das unter der Oberfläche Verborgene darzustellen, macht sich dann der Taucher nicht in der Tat der Hybris schuldig, und zwar der Protagonist und der nach ihm benannte Text? Die Pointe der oben analysierten erzähltechnischen Wiederholungsstruktur ist offenkundig medialer Natur: Die Ballade vermag etwas zu erzählen, was ihr Erzähler weder sagen kann noch will. Der semantische Kern dieser Überschreitung freilich ist bei einem säkularen Text am Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Begriff ‚Hybris‘ wohl bestenfalls vorläufig und unscharf erfasst. Es ist ja prima facie ganz unklar, was darunter jenseits delphischer Religiosität und christlicher superbia überhaupt verstanden werden kann. Um einer Antwort näher zu kommen, wäre zunächst die rhetorisch-epistemologische Figuration herauszuarbeiten, die in Schillers Ballade am Werk ist. Dazu bieten sich im Kontext der deutschen Klassik
Vgl. zum Verhältnis von „Der Taucher“ und „Das Bild zu Sais“ komplexer: Bachmann 2013, 104– 106.
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zunächst zwei Kandidaten an: das Kantisch-Schiller’sche Erhabene und Goethes Symbolik. „Der Taucher“ ist nicht die einzige Dichtung Schillers, deren Deutung erheblich leichter fiele, wenn ihr Verfasser nicht zugleich eine umfassende ästhetische Theorie vorgelegt hätte.¹³ Der kantischen Ästhetik zufolge fällt die Konfrontation von Mensch und Naturgewalten bekanntlich in die Kategorie des Erhabenen. Der Beispielkatalog in der Kritik der Urteilskraft enthält einiges, das unmittelbar zur Ballade passt: Kühne überhangende, gleichsam drohende Felsen, […] Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, […] der grenzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. (KdU § 28, Kant 1976, 160)
Solche Dinge sind „absolute, non comparative magnum“ – „über alle Vergleichung groß“ (§ 25, Kant 1976, 139). Sie übersteigen das Maß des Menschen, aber eben nur im ästhetischen Paradigma. Mit der Unendlichkeit seiner Vernunftideen eignet dem Menschen jedoch etwas, „das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“ (§ 25, Kant 1976, 144). So kann er die Unlust an seiner ästhetischen Unterlegenheit mit der Lust an seiner sittlichen Überlegenheit über die Natur im gemischten Gefühl des Erhabenen kompensieren. In der Naturerfahrung, wie sie in der Ballade gestaltet ist, bleibt die Vermischung jedoch objektseitig: Es mengt sich Wasser mit Feuer, es mischen sich unterirdische Ströme, und Meerestiere klumpen sich „in grausem Gemisch“ – allein, das Formlose und Ungestalte ruft wider Erwarten nirgends eine erkennbare sittliche Reaktion im Menschen hervor. Stärker als Kants Kritik der Urteilskraft betont Schillers Schrift Über das Erhabene den menschlichen Willenscharakter: „Alle anderen Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will“ (Schiller 1981, 607), heißt es gleich zu Beginn mit Bezug auf Lessings Nathan. Man soll „die furchtbare und zerstörende Natur“ aus freien Stücken aufsuchen, denn: „Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten, heißt […] nichts anderes, als sich derselben freiwillig unterwerfen.“ (Schiller 1981, 617, 616, 608) Aber auch dieser aktionistische Zug in der Theorie des Erhabenen kann nicht als Handlungsanleitung für den „Taucher“ herhalten. Der Jüngling springt zwar freiwillig, aber beide Male ist sein Wille nicht rein, vielmehr, wie es ausdrücklich heißt, „treibt’s ihn, den köstlichen Preis zu erwerben“ (V. 155, Hervorhebung M.B.). Und überhaupt setzt das Zustandekommen des Erhabenen geradezu voraus, dass man eben nicht springt. „[M]it starkem Arm trägt [der Genius des Erhabenen] uns über die schwindligte Tiefe“ – „solange wir nämlich bloß freie Betrachter derselben bleiben.“ (Schiller 1981, 609, 616) Der Taucher wird nun Man denke etwa auch an den Schluss seiner Elegie „Der Spaziergang“.
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zwar zum Betrachter dessen, was „die heulende Tiefe da unten verhehl[t]“, aber in, nicht über der Tiefe. In seinem panikartigen Handeln ist wohl kaum jene Freiheit und Distanz, jene „vernünftelnde[] Kontemplation“ (Kant 1976, 211) des Menschen gegenüber der Natur gestaltet, die das Erhabene ausmacht.¹⁴ Zusammenfassend läßt sich sagen, dass die rhetorische Figuration, über die sich das „Maß des Menschen“ in Schillers Ballade bestimmt, eben nicht die eines dualistischen Gegensatzes von menschlicher Vernunft und vernunftloser, ungeformter Naturgewalt ist. Weder die technische Vernunft, wie bei Homer und Poe, noch die sittliche Vernunft, wie in den Theorien des Erhabenen, kommt hier gegenüber der Herausforderung zum Einsatz. Beide hätten in der Gestaltung eine Außensicht der extremen Natur und eine Innensicht der handelnden Menschen nahegelegt. Schiller macht es, wie wir sahen, gerade andersherum.
5 Goethe, wie gesagt, hatte an der Entstehung des „Tauchers“ einigen Anteil und war vom Ergebnis begeistert. Dabei kam es ihm offenbar weniger auf die Fabel an – „Leben Sie recht wohl und lassen Ihren ‚Taucher‘ je eher je lieber ersaufen“, schreibt er an Schiller¹⁵ – aber die Beschreibung des Wassers hatte es ihm angetan. Schon im Herbst 1797 bekommt er in Schaffhausen Gelegenheit, den „hohe[n] Wasserfall eines mächtigen Flusses“ in natura zu erleben. Brieflich berichtet er Schiller, daß der Vers ‚Es wallet und siedet und brauset und zischt‘ pp. sich bei dem Rheinfall trefflich legitimiert hat. Es war mir sehr merkwürdig, wie er die Hauptmomente der ungeheuern Erscheinung in sich begreift. Ich habe auf der Stelle das Phänomen in seinen Teilen und im ganzen, wie es sich darstellt, zu fassen gesucht […]. Sie werden dereinst sehen, wie sich jene wenigen dichterischen Zeilen gleichsam wie ein Faden durch dieses Labyrinth durchschlingen.¹⁶
Die nachgelassenen Aufzeichnungen seiner Reise in die Schweiz bestätigen dieses Ringen um Formulierung des überwältigenden Phänomens, und in der Tat rekurriert er dabei immer wieder auf Stellen aus dem „Taucher“. Obwohl die Accessoires des Erhabenen alle beisammen sind – der Fall, dazu Felsen und Ossian’scher Nebel – (Goethe 1902, bes. 356, 358), kommt hier ein ganz anderes Vgl. dazu auch Bachmann 2013, 108 – 123. Bachmann liest die „grundlose Tiefe“ letztlich poetologisch als Metapher für die Ineffabilität des Ästhetischen. Goethe an Schiller, 10. Juni 1797 (Goethe und Schiller 1984, I 347). Goethe an Schiller, 25. September 1797 (Goethe und Schiller 1984, I 418).
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Verfahren zum Tragen. Statt das „dauernde Ungeheure“ mit der menschlichen Vernunft zu vergleichen, wird es als „Erscheinung“, „wie es sich darstellt“, möglichst vollständig „zu fassen gesucht.“ Erst als „in seinen Teilen und im ganzen“ durchgearbeitetes weist das Phänomen dann auch symbolisch über sich hinaus.¹⁷ Dass Schillers poetische „Beschreibung des Strudels mit dem Phänomen übereinstimm[e]“, war ungefähr das größte Kompliment, das Goethe ihm machen konnte, und Schillers Erklärung, „weil ich Homers Beschreibung von der Charybde genau studierte, so hat mich dieses vielleicht bei der Natur erhalten,“¹⁸ bestätigt wiederum die klassische Überzeugung, dass die Kunst, zumal die der Griechen, in ihrer idealen Gestaltung der Phänomene der Naturwahrheit fähig war. Kunst und Natur bestätigen sich wechselseitig. Die symbolische Basisannahme, dass die Phänomene sich unvermittelt offenbaren – heute würde man sagen: dass sie als geschlossene Gebilde ihre eigenen Paradigmen in sich enthalten – diese Idee war dem Kantianer Schiller an sich zwar suspekt, aber hier bedient er sie gern. Im Symbolischen schreibt nicht der Verstand der Natur die Gesetze vor, sondern die anschauende Urteilskraft des Betrachters schaut sie sich ihr ab. Das moderne Verdikt über dieses figurative Verfahren besagt, dass sein blinder Fleck – im Gegensatz zum Allegorischen – die Medialität des erkennenden Subjektes bleibe. Es ist ein Verfahren der Naturalisierung, oder, wie die Pointe von Koschorkes Mediologie des 18. Jahrhunderts lautet: „Das Medium ist die Natur.“ (Koschorke 1999, 430) Doch schon jenseits einer modernen, zeichentheoretischen Fundamentalkritik ergibt sich hier ein Problem, das ich andernorts als Problem der symbolischen Brennweite bezeichnet habe (Baßler 1997, 196). Der phänomenologische Blick ist darauf angewiesen, eine Ebene im Kontinuum der Natur zur wesentlichen zu erklären. So heißt es in den Wanderjahren: „[D]er Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch“ (Goethe 1989, 329). Im Kontinuum zwischen bekleidetem Kulturwesen und anatomisch schichtenweise zergliedertem Corpus markiert der nackte Körper der griechischen Plastik jene ‚eigentliche‘ Gestalt, deren symbolischer Betrachtung das Phänomen Mensch sich erschließt.¹⁹ Goethes eindrücklichste, geradezu testamentarische Formulierung des Symbolischen findet sich in der ersten Szene von Faust II: „Anmutige Gegend“. Die
„Gewalt des Sturzes. Unerschöpfbarkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall.“ (Goethe 1902, 357) Schiller an Goethe, 6. Oktober 1797 (Goethe und Schiller 1984, I 424). Die spektakuläre Entkleidung von Schillers „herrliche[m] Jüngling“ (Str. 4) mag übrigens im Anatomiekapitel des Wilhelm Meister durchaus nachwirken, auch hier geht es um einen schwanenweißen Arm und den Tod durch Ertrinken.
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Schilderung des Wasserfalls mit dem Spektralbogen dort ist ebenfalls Ergebnis seines Besuches in Schaffhausen. Auch hier wird, in der Abkehr von der blendenden Sonne, das rechte Maß des menschlichen Anschauens beschworen: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.“²⁰ Der farbige Abglanz und der nackte Mensch definieren jeweils die Oberfläche, die dann zum natürlichen Zeichen Goethe’scher Symbolik wird. So einfach ist es also nicht mit dem Medium Natur; denn auch die Sonne, das Muskelpräparat und die Unterwasserwelt wären ja zweifelsohne Teil des Natürlichen. Um wieder zusammenzufassen: Die symbolische Zeichenstruktur setzt zwangsläufig einen submedialen Raum voraus, der jedoch nach menschlichem Maß nicht unmittelbar zur Darstellung kommen kann bzw. soll. Schmerz und Grauen sind andernfalls die Folge. Goethe interessiert sich explizit nur für die Phänomene der Wasseroberfläche, der er das ewige Gesetz einer „Wechsel-Dauer“ (Faust II, V. 4722; Goethe 1994, 206) abliest. „Der Regenbogen“, notiert er in Schaffhausen, erschien in seiner größten Schönheit; er stand mit seinem ruhigen Fuß in dem ungeheuern Gischt und Schaum, der, indem er ihn gewaltsam zu zerstören droht, ihn jeden Augenblick neu hervorbringen muß. (Goethe 1902, 360)
6 Auch die Oberfläche der Charybdis ist durch „Wechsel-Dauer“, durch dynamische Stasis gekennzeichnet, und „ein Schrei des Entsetzens wird rings gehört“ (V. 45), als der Jüngling diese Oberfläche transzendiert und zum Taucher wird. Denn es geschieht das mediologisch vermeintlich Undenkbare: der Sprung in den submedialen Raum. Als ein solcher wird die submarine Sphäre im Gedicht denn auch tatsächlich beschrieben. „Tief unter dem Schall der menschlichen Rede“ (V. 125) findet der Jüngling sich wieder, dort, wo es „dem Ohre […] ewig schlief“ (V. 111). Kein Senden, kein Empfangen, das Auge ist zwar noch aktiv und zeichnet auf, doch es fehlt ihm das Übertragungsmedium. Den Witz an der Sache aber haben wir bereits herausgestellt: Was als archaisch-ritterliches Spektakel beginnt, endet als Medienspektakel. Denn während der Taucher dies erzählt, ist er ja längst wieder oben. Seine wörtliche Rede, seine szenische Erzählung findet wache Ohren und teilt ihnen mit, was das Auge unten gesehen hat. Er selbst, heißt das, ist zum Medium geworden. Durch ihn, und zunächst exklusiv durch ihn, ist der submediale Raum dabei, mediatisiert zu Johann Wolfgang Goethe: Faust II, V. 4727.
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werden, in Form der Erst-Erzählung bislang verborgener Wunder. Diese unvorhergesehene Wendung in der Repräsentationsstruktur zeigt sich auch am doppelten Gewinn des Tauchganges: Der durch die Mutprobe verdiente Becher repräsentiert noch einen Wert von des Königs Gnaden, die Erzählung der Mirabilia aber ist von einer neuen Qualität. Sie autorisiert sich selbst, und „eine sich selbst autorisierende Repräsentation ist so gut wie bares Gold“ (Greenblatt 1998, 64) – so Stephen Greenblatt, der den ungeheuren Tauschwert solcher Erst-Erzählungen anhand von frühneuzeitlichen Reiseberichten dokumentiert hat. So erklärt sich auch die fieberhafte Reaktion des Königs: Seine inflationären Angebote sind der Versuch, sich dieses neuen Mediums mit allen Mitteln zu versichern.²¹ Wohlgemerkt: Die Erzählung wird hier autonom, nicht der Erzähler. Sie wird es geradezu auf seine Kosten. Statt sich seiner Autonomie qua Vernunft zu versichern, wird der Mensch selbst zum Übertragungsmedium. So wird die Struktur des Erhabenen unterlaufen. Und statt die Tiefe aus den Phänomenen der Oberfläche zu lesen, wird die andere Seite aufgesucht und repräsentiert. Das markiert den Abschied vom Symbolischen. Und was stellt sich in der erzählenden Aneignung des zuvor Submedialen heraus? „Unter Wasser ist es nicht viel anders.“ Auch hier waltet Natur mit benennbaren Kräften und distinkten Gestalten, die zwar schrecklich und wunderbar sind, aber keineswegs das erwartete ganz Andere; „das Wichtige sind die Ähnlichkeiten mit dem Gewohnten“.²² Das zeigt sich im Rückgriff auf die barocke Enzyklopädik, aber auch sonst; beispielsweise in Vers 123: „Unter Larven die einzig fühlende Brust“. Die Forschung präferiert hier eine möglichst unspezifische Lesart von „Larven“ im Sinne von Schreckgestalten. Um 1800 wird diese Bedeutung jedoch von der gängigeren Lesart „Larve“ gleich „Maske“ überlagert; die Konnotation von Verstellung ist unabweisbar. „Unter Larven die einzig fühlende Brust“ – diese Selbstbeschreibung des Tauchers wiederholt geradezu in nuce die Selbstbeschreibung aller empfindsamen Helden der jüngeren Literatur im Gegensatz zur höfischen oder überhaupt zur Gesellschaft. Noch Jahre später braucht Goethe Schiller gegenüber nur auf diesen „Taucher“-Vers anzuspielen, um diesem begreiflich zu machen, weshalb er sich anlässlich eines Besuches von Madame de Staël am Weimarer Hof verabsentieren will.²³ So wird die Opposition von Larven und fühlender Brust geradezu zum Spiegel der höfischen Verhältnisse
Conrad betont hier das Machtverhältnis, das durch den „autonomen Sprechakt“ des Jünglings ins Wanken gerät; der König werde dadurch geradezu „sprachlich entmachtet[]“ (2014, 259, 263). Beide Zitate aus Günter Eichs wunderbarem Maulwurf „Erste Notiz zu einem Marionettenspiel“ (1978 [1968], 46 – 47). Vgl. Goethe an Schiller, 13. Dezember 1803 (Goethe und Schiller 1984, II 462).
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über Wasser, aus denen der Jüngling und die Königstochter als idealische Gestalten heraustreten (wie später Max und Thekla im Wallenstein). Die eigentliche Botschaft des Taucherberichtes lautet demnach: Unter Wasser ist es gefährlich, aber durchaus interessant und anschlussfähig. Und die Warte des Tauchers an seinem Korallenast war ja nur ein erster Vorposten im submedialen Raum: „Denn unter mir lags noch, Bergetief, / In purpurner Finsterniß da“ (V. 109 f.). Eine unendliche, aber sehr konkrete Welt weiterer Wunder harrt hier der Erschließung. Wir erinnern uns: Mit der scheinbaren Einsicht in das menschliche Maß, demzufolge der Mensch „nimmer und nimmer zu schauen“ begehren soll, „was die Götter […] mit Nacht und Grauen [bedecken]“, hatte der Taucher seine Rede begonnen. In performativem Widerspruch dazu hatte er sich dann in seinem langen Bericht zum Übertragungsmedium für ebendieses Schauen gemacht. Und das weckt einen Verdacht. Am Ende hatte der erste Erzähler der Ballade womöglich doch recht: „Was die heulende Tiefe da unten verhehle“, kann zwar erzählt werden – quod erat demonstrandum. Aber wer das tut, der setzt damit mutwillig die bewährten Zeichenfigurationen des späten achtzehnten Jahrhunderts, das Erhabene und das Symbolische, außer Kraft. Er unterläuft deren Herstellung einer geschlossenen humanen, aber statischen Ganzheit durch einen Modus permanenter Aneignung des noch nicht Mediatisierten. Diesen Modus hat die deutsche Klassik sicher nicht propagiert, aber sie hat ihn immer wieder zum Thema gemacht: Faust bescheidet sich ja auch nicht mit der friedlichen Betrachtung des Regenbogens in anmutiger Gegend. Das Vorwärtsdrängende lässt sich Schillers Ballade bis in die Rhetorik hinein ablesen – statt geschlossener Bögen dominiert ein ostinatives, anaphorisches Und – Und – Und. Die Nebenordnung von Elementen, die eigentlich temporal oder kausal verkettet sind, ist nach Walzel ebenfalls ein Merkmal des modernen szenischen Erzählens. Die Wechsel-Dauer weicht dem Modus eines Dauer-Wechsels, der die folgenden Jahrhunderte prägen wird – nicht nur als ästhetische Überbietungsstrategie, sondern auch im Wissenschaftlichen als ständiger Fortschritt und im Politischen als permanente Revolution. „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“ und es taucht niemand ungestraft ins Meer; wer sich einmal in den submedialen Raum begeben hat, ist diesem Modus fortan verfallen – als Medium, und eben nicht als „lebende glückliche Seele“; denn die auf Dauer gestellte Aufklärung setzt sich über das Maß des Menschen hinweg.²⁴ Beeler sieht das ähnlich und doch ganz anders, wenn sie folgert, der Taucherbericht habe „den Jüngling im negativen Sinne von seinen Affekten gereinigt: […] Die Distanz, die er durch die sprachliche Bewältigung gewinnt, entfernt ihn auch von der gewonnenen Erkenntnis.“ (Beeler 2014, 125).
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Blickt man von hier aus noch einmal auf den Schluss der Ballade, dann kommt der Rettungsversuch der Königstochter „mit weichem Gefühl“ tragisch zu spät. Es geht längst nicht mehr um Becher, Ringe, Ritterstand, Ehe und andere affirmative Wiederholungen; Preise gibt es fortan nur noch für Erstsendungen. Der zweite Tauchgang scheitert, aber dieses Scheitern ist nicht kathartisch, es stellt das ursprüngliche Gleichgewicht nicht wieder her. „Den Jüngling bringt keines wieder“ (V. 162), und dieser um eine Hebung verkürzte letzte Vers deutet auf einen gewaltsamen Abbruch, nicht auf eine Schließung.²⁵ Es kommen, es kommen die Wasser all, Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder. (V. 160 – 161)
Dieses Rauschen ist weit entfernt vom Heulen und Brüllen des antihumanen mythischen Höllenschlundes vom Beginn. Es ist das Rauschen einer Frequenz, auf deren Wellen das Publikum die nächste Übertragung erwartet.
Epilog Schillers Ballade „Der Taucher“ erschien erstmals im Musenalmanach für das Jahr 1798. In ebendiesem Jahr wurde von Kleingert in Breslau der erste moderne Taucheranzug erfunden, eine Kombination aus engem Leder-Overall und einem eierförmigen, wasserdichten Metallzylinder mit Schläuchen für die Zu- und Abluft (Davis 1910, 327). Den am literarischen Text analysierbaren Wandel der Episteme begleitet also auch die technische Entwicklung. Wo Wissen zur Information transmutiert, wo es sich verselbständigt zu einem eigenen progressiven System, dort verliert es die Rückbindung ans ganzheitliche Subjekt; der Mensch wird dann zum Instrument ebendieses Systems selbst dort, wo er sich als Individuum mithilfe von technischen Neuentwicklungen (wie etwa des Taucheranzugs) immer tiefer und weiter ins noch Unbekannte wagt. Die Literatur begleitet diese Entwicklung wiederum unter anderem in Gestalt der so genannten Science-Fiction, deren bekanntester Vertreter im neunzehnten Jahrhundert, Jules Verne, seinen Kapitän Nemo im elektromotorischen Submarin-Cigarrenschiff Nautilus schon 20.000 Meilen tief ins Meer tauchen ließ. Eine Parodie auf Schillers „Taucher“ aus dem Jahre 1880, verfasst von einem gewissen M. Reymond, hat Ernst Haeckels damals neueste Thesen zur „Be-
Beeler geht sogar so weit, über ein „wirklich offenes Ende“ zu spekulieren (Beeler 2014, 131). Das geht vielleicht zu weit, doch sind ihre Reflexionen über die Wiederholungsstrukturen der Ballade überaus lesenswert.
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Abb. 2: Illustration aus M. Reymond, „Der Taucher“ (H. G. Ströhl)
schaffenheit des Meeresbodens in den größten Tiefen des Oceans“ (Haeckel 1870, 3) zum Gegenstand. Schon bei Athanasius Kircher war ja die Geschichte vom Pescecola erzählt worden als ein Beitrag zu der Frage, wie denn wohl ‚des Meers tiefunterster Grund‘ beschaffen sei. Der populäre deutsche Biologe, Meeresforscher und Darwinist Haeckel nun vermutet eben dort nichts weniger als den Ursprung allen Lebens in Gestalt des so genannten Bathybius-Schlammes. Was das ist, erklärt er in seinem Vortrag „Das Leben in den grössten Meerestiefen“ (1870, im Erscheinungsjahr von Jules Vernes Vingt Mille Lieues Sous Les Mers) wie folgt: „Bathybius ist ein griechisches Wort und bedeutet: ‚in der Tiefe lebend‘. Der Bathybius-Schlamm ist in der That lebendiger Schlamm der Meerestiefen“, bestehend aus „freien, nackten Protoplasma-Klumpen […], die größten mit bloßem Auge als Pünktchen sichtbar.“ (Haeckel 1870, 25) Weil dieser Urschleim nicht nur räumlich, sondern auch phylogenetisch ganz unten angesiedelt ist, lässt sich nichts Organisches mehr denken, was ihm als Nahrung dienen könnte. Deshalb nimmt Haeckel an, der Bathybius Haeckelii entstehe durch Urzeugung aus unbelebter Materie. In Reymonds Schiller-Parodie nun gibt Haeckel den Part des Königs, indem er die Wissenschaft zum Auffinden von Proben eben dieses Bathybius auffordert: „Wer wagt es, Professor oder Docent, / Zu tauchen in diesen Schlund?“ (Reymond 1881, 7) Keiner wagt den kühnen Schritt, bis die Aufforderung schließlich und überraschenderweise in der Tiefe selbst vernommen wird, dort also, wo es vormals „dem Ohre […] ewig schlief“, und zwar von einem „unterseeischen Mikrophon“, einem Gerät, das laut mitgelieferter Fußnote zwar „[n]och nicht erfunden,
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doch für ein Jahrhundert, das Edison und Jules Verne zu den Seinigen zählt, nur noch eine Frage der Zeit“ ist (Reymond 1881, 16). Das Mikrophon nun gehört zur Bordausstattung der Nautilus, und dem phantastischen U-Boot entsteigt niemand anders als Jules Verne selbst in Gestalt eines herrlichen Jünglings im Taucheranzug. „Indeß die Gelehrten zagend steh’n“, übernimmt er heroisch den Auftrag und kehrt vom ersten Tauchgang wieder mit dem folgenden Bericht: Und schaudernd dacht’ ich’s, da kroch’s heran, Ein Ungethüm, farblos und weich; Beweglich ward es rings auf dem Plan, Regte tausend Pseudopodien zugleich, Es schien – ich sah es mit Zittern und Beben – Der Meeresgrund selber sich zu beleben. Und mitten durch das gewaltige Ding Zog wie ein Rückengrat sich, An dem es in wirrem Genetze hing, Ein dunkelgefärbter, endloser Strich; Da plötzlich war ich’s zu fassen kapabel: „Das ist das englisch-atlantische Kabel!“.²⁶ (Reymond 1881, 16)
Man sieht: Noch die holpernde Parodie, die der populärwissenschaftlichen Diskussion wohl eher zuzurechnen ist als der Literatur, bestätigt unsere These, dass in der Moderne auch dort, wo man sich dem Ursprung am nächsten wähnt, die Medientechnik immer schon angekommen ist – und dass Schillers Ballade das weiß.
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In der Tat sind bereits bei Haeckel geborgene Tiefsee-Kabel mit ihrem Bewuchs die wichtigsten Fundstücke für seine Thesen, und die Tiefsee-Ebene, in der er den Bathybius insbesondere vermutet, heißt bereits „Telegraphen-Plateau“ (Haeckel 1870, 21, 25 et passim).
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Aus Kircher, Athanasius. Mundus subterraneus. Amsterdam: Officina Janssonio-Waesbergiana, 1678, Bd. 1. 101. Abb. 2: Aus Reymond, M. „Der Taucher“. Neuer freier Parnaß. Bausteine zur kulturhistorischen Reform der deutschen Nationalliteratur und Begründung einer exakten Dichtkunst. Aus den gemeinverständlichen Vorträgen des Herrn Magisters Vorwärts P. D. zusammengetragen und in zierliche Reimlein gebracht von M. Reymond. Mit Illustrationen von H. G. Ströhl. Bd. I. Schiller und Goethe. 4. Aufl. Leipzig: Glaser & Garte, 1881. 7 – 19, 9.
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Kreaturen der Tiefe Ein Fisch, den wir in Schräglage bringen, richtet sich wieder auf; er kann aber von sich aus unter gleichen Bedingungen von selbst eine Schräglage einnehmen und längere Zeit beibehalten. Bildverschiebung und Schwerkraftwirkung sind objektiv in beiden Fällen gleich. (Tembrock 1976, 8) Senkrechte schneiden sich nicht fü r unseren Blick. (Straus 1960a, 227) Als absoluter hatte der Tanz zwar nicht den Boden unter den Fü ßen, aber den Raum verloren, der ihm gemäß ist. (Straus 1960b, 141)
1 Fisch unter Fischen Die Spezifik des Mediums Wasser hat Folgen für die Bewegung der sich in ihm Bewegenden. Das gilt für die natürlichen Bewohner des entsprechenden Habitats ebenso wie für etwaige Besucher, die sich den Bedingungen des Wassers anpassen müssen. Sie leben als Fisch unter Fischen, um eine Formulierung aufzugreifen, die topisch ist und die in ihrer Topik vielfach variiert wurde. Diese persistiert von der Beschreibung früher Tauchpioniertaten etwa bei Hans Hass und Jacques Cousteau bis zu neueren Filmproduktionstechniken wie im Fall des Dokumentarfilms Unsere Ozeane der französischen Regisseure Jacques Perrin und Jacques Cluzaud aus dem Jahr 2009 (Dunja 2010). Die Faszinationsfigur einer Teilhabe an der Tierwelt im Modus des Tierwerdens, die dabei anklingt, findet in der Angleichung an umweltbedingte Bewegungsformen eine sehr praktische und über entsprechende Theoriebemühungen hinausgehende Umsetzung (Biehl und Locke 2010). Die Welt unter Wasser wird im Zuge dessen zu einem Reich der Alterität, der gleitenden Bewegung und, korrelativ damit verbunden, eines langsamen oder besser noch eines verlangsamten Sehens – ein Reich der natürlichen Entschleunigung, das seine ästhetische Qualität diesem Bewegungstyp ebenso verdankt wie den spezifischen Wahrnehmungs- und Aufzeichnungsbedingungen unter Wasser. Die Normalität des gewohnten Hörens und Sehens ist außer Kraft gesetzt und der Körper einer Umgebung überstellt, die man durch avancierte Technik zu beherrschen sucht. Die Folge ist ein spezifisches Narrativ, das der technischen Erschließung der Tiefe geschuldet ist.¹ Dieses wird zu einer Assem-
Maßgeblich für die Versammlung der technischen Details war das in zahlreichen Auflagen erschiene Buch von Robert H. Davis Deep Diving and Submarine Operations (1909). Zu einer kurzen Überblicksdarstellung vgl. Möser 1992. https://doi.org/10.1515/9783110634730-010
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blage von Protagonisten und ihren Taten, von Techniken der Erschließung der Tiefe, von Aufzeichnungsverfahren, Darstellungsweisen und Genres wie dem der Reiseliteratur und des Unterwasserfilms.² Sie alle bilden ein Netz um die geheimnisvollen Kreaturen der Tiefe.
2 Life Aquatic Das Leben unter Wasser ist aber nicht nur Gegenstand einer eigenen Narration und einer eigenen Ästhetik, vielmehr wird es zu einer ethischen Herausforderung. So beschwört die Kulturwissenschaftlerin Elana Past anhand der detaillierten Beschreibung zweier Filme eine regelrechte Unterwasserethik, die sie vor dem Theoriehintergrund von Gilles Deleuze, Félix Guattari und Franco Cassano verortet. Die beiden in ihrer Machart sehr unterschiedlichen Filme, Emanuele Crialeses Respiro (2002) und Wes Andersons The Life Aquatic with Steve Zissou (2004), geraten dank des theoretischen Rüstzeugs in die Nähe eines ökosystemischen Denkens, das der spezifischen Verbindung von Menschen und Orten Bedeutung verleiht. Der Gang in die Tiefe ist aber mehr als die topographische Verschiebung eines Schauplatzes. Er bewegt den Menschen entlang der Vertikalen und setzt ihn damit einer Bewegung aus, die von großer kultureller Phantasmatik und epistemischer Relevanz bestimmt ist.³ Zudem versetzt sie ihn kurzerhand in ein anderes Ökosystem – mit Folgen sowohl für seine Körper- als auch seine Denkhaltung. Unter Wasser herrscht, was im weiteren Verlauf als eine andere Mechanik der Existenz beschrieben wird. Underwater Aesthetics, Underwater Ethics. The arrival of man in the underwater kingdom is the meeting of two ecosystems, two biotic communities that function in fundamentally dissimilar ways. When such systems meet, the space of their encounter is characterized by the creation of an ‚edge-effect‘, a dynamic junction that creates what is often a notably vibrant environment. […] This edge-effect is reflected when cinema cameras dive with their crews below the sea’s surface. Aesthetics change: the dominant colors of the above-water world modulate into the liquid, light-diffusing blue-green of the sea. Light, which travels more slowly in water than in air, is refracted, bends, and scatters. […] The mechanics of existence are altered: gravitational pull does not act on bodies in the same way, weights are lightened, and movement is elongated, rendered more graceful and more fluid when bodies
Vgl. dazu etwa die zu ihrer Zeit wirkmächtige Monographie von Carl Chun Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee=Expedition (1905). Zu einer literarischen Ausreizung der Vertikalfigur vgl. Musil 1978, zu den Versuchen einer experimentellen Nachstellung und ihrer Dispositive Lechner-Steinleitner und Schöne 1980 sowie Bischof und Scheerer 1970. Dabei geraten entsprechende Vorrichtungen wie das Rhönrad zum Einsatz. Zur Erforschung ihrer alltagstauglichen Variante vgl. Bernard 2006.
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are suspended. Sound modifies: its waves travel through water with different force, and human voices are quieted. Cinematic technologies must also adapt to their aqueous context: camera operators need diving experience, and their cameras require cumbersome, waterproof housing. (Past 2009, 57)
Die Tiefe wird, mit Blick auf die Theorierahmung nicht unerwartet, zum Schauplatz von Alterität. Zu der Erfahrung des Alteritären zählen andersartige Identitätsformen, Wahrnehmungsgepflogenheiten, Körperbewegungen, Selbstwahrnehmungen und nicht zuletzt Strategien der Kommunikation – einmal mehr stoßen dabei gängige Formen des Informationsaustausches an ihre Grenzen.⁴ In einem der Filme macht sich gar breit, was der Filmkritiker Peter Matthews magic realism nennt. Das Wasser setzt Geläufigkeiten außer Kraft und Differenzen in Szene. Concurrent with the new bionetwork around them, the characters are suddenly able to move differently and to interact differently. They demonstrate in part a capacity to become fishlike, forming an assemblage (as a school of fish) suspended in a moment of pure movement and supported by the lilting currents of the Mediterranean. (Past 2009, 59)
Alteritär war die Unterwasserwelt zudem lange wegen ihrer schieren Unzugänglichkeit – ein dem Menschen abgewandter Spekulationsraum, bewohnt von alienhaften Kreaturen und eigenen ästhetischen Beschreibungskategorien zugänglich (Cohen 2014; Ritzer 2010; Beebe 1934; Helmreich 2009). Die Fremdartigkeit der Tiefe geht eine Allianz mit dem Geheimnisvollen ein (Portmann 1958; Adamowski 2006). Und sie bietet einen Raum, in den Abzutauchen den technischen Sachverstand zu Maximalleistungen antrieb – vergleichbar höchstens mit dem Vordringen in die Tiefen des Weltraums.⁵ Die Erschließung beider Räume verbindet ein Band der epistemischen Solidarität – nicht zuletzt im Modus einer unbemannten Fernbeobachtung (Donati et al. 2017). Wie Dawid Kasprowicz in seiner Dissertation Der Körper auf Tauchstation. Zu einer Wissensgeschichte der Immersion (2019) gezeigt hat, findet dazu ein systematischer Zusammenschluss der daran beteiligten Wissensformen und ihrer Disziplinen statt. Weltraum- und Unterwasserphysiologie, Sportwissenschaft und die Erforschung extremer Habitate, Experimente zur Schwerelosigkeit und zur Orientierung in der Luft, Raumanzüge und Floating Tanks, Druckkammern und Tauchbecken, Flugsimulationen und Stressforschung bilden Allianzen, die mit ihrer Erforschung der Subnature –
Einschlägig für diesen Befund sind die Arbeiten Hill Kobayashis – konzeptualisiert in seiner Human-Biosphere-Computer-Interaction (2010). Zur semantischen Verschränkung beider Bereiche vgl. Wiemer 1969.
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so der Begriff des Bioastronauten Karl E. Schaefer – Tiefen und Höhen gleichermaßen adressieren.⁶ Topisch sollten daher Vergleiche werden, die einer Begegnung weit entfernt liegender Welten geschuldet sind, deren Erschließung allerdings wissensgeschichtlich dieselben Register bemüht. Eine Capercailzie’sche Tauchkugel erschließt dem Protagonisten im Doktor Faustus eine Tiefe, die gerade nicht mehr von dieser Welt ist. „Das Grotesk-Fremdartige des Tiefseelebens, das nicht mehr unserm Planeten anzugehören schien, war ein Anknüpfungspunkt“ (Mann 1986, 359). Der Tonsetzer Leverkühn schildert erlesene Tauchversuche, die denen von Jacques Piccard, dem legendären Tiefsee- und Stratosphärenerforscher, sehr ähneln. Der Tauchpionier Hans Hass, der sich dem Vorstoß in die Tiefe, wie ein Buchtitel von 1972 lautet, zeit seines Lebens verschrieben hat, operationalisiert diese Alteritätserfahrung in Form eines Gedankenspiels mit wirklichen Außerirdischen. Der Gedanke, den Menschen gleichsam aus außerirdischer Perspektive – also als etwas völlig Fremdes und Neues – zu betrachten, kam mir schon vor Jahren bei meiner Forschungsarbeit in tropischen Meeren. […] Ein Besucher von einem anderen Stern, der sich in einem unsichtbaren Raumschiff unserem Planeten näherte, wäre wohl in einer ähnlichen Situation. (Hass 1968, 10)
Alterität ist Effekt eines Übergangs, ein Momentum, das als markierter Eintritt die neue Szenerie der Wahrnehmung umrahmt und von mehr oder weniger stabilen Austrittsszenarien begleitet wird. Diese Bedingungen erfüllen auf eine eigentümliche Weise den Tatbestand der Immersion, und zwar in der ganzen Bandbreite seiner möglichen Verwendungen. Diese reicht von realen Immersionen, wie sie anlässlich der Erforschung von Schwerelosigkeit in profanen Schwimm- und Tauchbecken den Weg für die Erschließung von Unterwasserhabitaten oder dem Weltraum ebnen sollten, bis hin zu ihrer übertragenen Verwendung, die zum Topos für die Beschreibung jedweder medieninduzierter Eskapismen taugt – von der buchinduzierten Romanenflut der Goethezeit bis zur Erschließung virtueller Handlungsräume (Kasprowicz 2019). Und natürlich ist es nur stimmig, dass ausgerechnet das Tauchen zu einer besonderen Herausforderung virtueller Experimente hat werden können – ob zur schieren Nachstellung der bloßen Möglichkeit einer entsprechenden Körpererfahrung oder zum Behufe einer Unterwasserarchäologie bestimmter und ausgewiesener Territorien (Bruno et al. 2018;
Zu den Details vgl. Kasprowicz 2019; Palumbi und Palumbi 2014.
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Jain et al. 2016).⁷ Die semantische Hartnäckigkeit fluider Bedrohungsszenarien, die historischen Besonderheiten ebenso trotzt wie einer doch sehr grundlegenden Medienspezifik, verweist in ihrer Herkunft und in einem sehr eigentlichen Sinn auf Szenarien des Eintauchens in Flüssigkeiten (Niewerth 2014; Rieger 2014). Das Eintauchen mitsamt dem diffusen Feld seiner Bezugnahmen, die Faszination an und die Angst vor Schwindel und Entgrenzung, vor Orientierungslosigkeit und Tiefenrausch, bezeichnet dabei sowohl einen physiologischen als auch einen zutiefst kulturellen Prozess.⁸ Der Orientierungsverlust, ausgelöst durch den Wechsel jenes physikalischen Mediums, in dem ein Organismus sich üblicherweise aufhält, taugt aber nicht nur für die Erfahrung von Sensationsveränderungen am eigenen Leib, er bildet die Vorlage für Selbstbeobachtungen und Fremdzuschreibungen (Menrath und Schwinghammer 2011). Die Mechanik der Existenz, oder genauer, die Erfahrung veränderter Referenzsysteme schlägt sich in einem unscheinbaren Hantieren mit Tieren nieder: So wird anlässlich der frühen Erforschung des Gleichgewichtssinns durch den Physiologen Max Verworn davon berichtet, dass Wissenschaftler eine schier unermüdliche Freude an den Tag legten, um die radialsymmetrischen Rippenquallen mittels eines gläsernen Stabes aus ihrer bevorzugten Haltung im Wasser zu bringen und dann zu beobachten, wie diese den anthropogenen Dezentrierungszumutungen trotzten, sich entsprechend der jeweiligen Mechanik ihrer Existenzweise neu justierten und immer wieder in die ihnen gemäße Ausgangslage zurückzukehren wussten (Verworn 1891).
3 Schwimmtauchen und Rhönrad-Fahren Diese Kopplung von Motorik und Wahrnehmung ist Gegenstand eines eigenen Nachdenkens und kam als solcher im Zuge einer neuen Methodik in der Tierbeobachtung zur Geltung. Der österreichische Tauchpionier Hans Hass etwa versucht sich ihm über die Theorie und Praxis des so genannten Schwimmtauchens anzunähern – wie er es etwa anlässlich seiner Dissertation Beitrag zur Kenntnis der Reteporiden mit besonderer Berücksichtigung der Formbildungsgesetze ihrer Zoarien und einem Bericht über das Schwimmtauchen als neue Methode der Meeresforschung (1948) tut. Dessen Nutzen, den Hass am Beispiel der Untersuchung von Reteporiden veranschaulicht, ist allerdings nicht auf dieses For-
Die kanadische Künstlerin Char Davies, selbst Taucherin, koppelt die Taucherfahrung in Kunstprojekten wie Osmose (1995) an die Immersionsszenarien der Virtuellen Realität. Dem entsprechen in der virtuellen Variante die Befunde der Cybersickness (Davis et al. 2014).
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schungsgebiet beschränkt. Vielmehr bahnt er dieser Fortbewegung einen Weg in die wissenschaftliche Methodik der Unterwasserforschung insgesamt und entwickelt eine eigene Bildästhetik für die Geschehnisse im Medium Wasser (Wasmund 1938; Hass 2008). Ausschlaggebend für diese ist die Preisgabe eines festen Standortes und die Anpassung an die Bewegungsmechanik der beobachteten und sich ihrerseits bewegenden Kreaturen. Dieses Vorhaben war aufwändig und teuer. Ständig ist Hass daher mit Vorschlägen zur Verbesserung bestimmter Kameratypen und -techniken befasst – von Maßnahmen zur Geldakquise für diese in den seltensten Fällen universitär verantworteten Forschungen gar nicht erst zu reden. Hass wird im Zuge dessen zum Medienstar – nicht zuletzt, weil er die dazu notwendigen Medien am eigenen Körper mit ebenso großer Beharrlichkeit zur Schau stellt wie jene Kreaturen der Tiefe, denen seine Aufmerksamkeit gilt.⁹ Mit seinen Dokumentarfilmen über Haie beschert er den gefürchteten Meeresräubern so viel Aufmerksamkeit, dass diese sogar für Bücher über Managementstrategien taugen (Hass 1999). In Zusammenarbeit mit Industrieunternehmen treibt er nicht nur die Entwicklung von Gehäusen für Unterwasserkameras wie die UW-Leica und die Rolleimarin (für die Rolleiflex) voran, sondern ist auch an der Entwicklung von Schwimmtauchgeräten zur freien dreidimensionalen Bewegung im Wasser beteiligt. Tauchen und Unterwasserfotografie erweitern dabei aber nicht nur das Bewegungs- und Methodenrepertoire der Meeresforscher. Vielmehr bereichern sie auf dem Wege vertriebsfähiger Endprodukte den Raum möglicher Freizeitaktivitäten und nicht zuletzt auch den der privaten Dokumentation. Langzeitbeobachtungen, die Verfahren der Zeitraffung und -dehnung sowie das Filmen unter Wasser und unter extremen Bedingungen setzen Dynamiken frei, die von hochsituativen Einzelanliegen den Weg in die serientaugliche Unterhaltungselektronik nehmen. Kaum einer personifiziert diese Bemühungen so sehr wie der Franzose Jacques Cousteau. Von Gehäusen für Unterwasserkameras und dem ersten Unterwasserfilm (1942) über Vorrichtungen zum Tauchen wie dem Atemregler Aqualunge (1946) führt der Weg des charismatischen RésistanceKämpfers mit der roten Wollmütze bis zu motorisierten Fortbewegungsmitteln (Scooter) und entsprechend ausgestatteten U-Booten, die als beliebte Requisiten in James Bond-Filmen den fortschrittlichen Unterwasserverkehr bebildern durften. Die Szenerie unter Wasser hat ihre eigenen Vorgeschichten und diese ihre eigenen Sichtweisen. Jules Verne etwa lässt in seinem Roman Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer den Blick hinter Scheiben des U-Boots Nautilus auf das ruhige Treiben in den Meerestiefen schweifen: ein Heterotop, das in Form eines
Die Buchcover geben davon einen guten Einblick.Vgl. – um es auf ein Beispiel zu beschränken – Hass, Hans. Manta – Teufel im Roten Meer. Die Eroberung einer neuen Welt. Berlin: Ullstein, 1959.
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inversen Aquariums Einblicke in ein anderes Heterotop erlaubt und das in Cousteaus Experimenten, ein Leben unter Wasser mittels einer technischen Infrastruktur herzustellen, seine Umsetzung findet.¹⁰ Allerdings bleibt der menschliche Betrachter hinter der Scheibe unbewegt und vom Medium Wasser selbst unberührt oder untingiert, wie man im Zuge der fluiden Semantik sagen könnte. Er bleibt so statisch wie der simulierte Blick ins Meer, den die Aquarien in den Wohnräumen des neunzehnten Jahrhunderts ermöglichten (Vennen 2014; Vennen 2015). Und er bleibt so statisch wie technische Interventionen, die wie das Thalassioskop einen Blick in die Tiefe der Meere und Gewässer erlauben, wobei auch hier die Füße des Betrachters trocken bleiben (Gradenwitz 1914). Das alles ändert sich mit dem Tauchen – genauer noch mit der Möglichkeit, sich von den aufwändigen Infrastrukturen einer Sauerstoffzufuhr von der Wasseroberfläche aus zu lösen. Diese Möglichkeit fand 1920 im Unterwasserfilm Das einsame Wrack (Regie: Karl Heiland) Verwendung. Ein anonymer Artikel aus demselben Jahr handelt unter dem Titel „Kino unter Wasser“ von einer veritablen Zäsur: Alle bisherigen Bemühungen um Unterwasseraufnahmen werden mit dem Vorwurf schlecht gemachter Tricks überzogen, wie bei Charles Pathé, der wie durch eine Glasküvette hindurchfotografierte, oder wie im Fall einer Käseglocke, die ihre Objekte vom Wasser fernhielt. Die Qualität des neuen Films liegt in einer veränderten Tauchinfrastruktur begründet (Basselt und Keutzer 2002; Wulff 2007). Diese ist mit dem Namen Dräger verbunden, einem heute börsennotierten Unternehmen zur Medizin-, Sicherheits- und Tauchtechnik (Seydel 2010). Ermöglicht wurden diese Aufnahmen durch den Drägerapparat, der im Gegensatz zu allen anderen Tauchapparaten der Welt keinerlei Luftzuführung von außen durch einen Schlauch bedarf, sodaß der Taucher sich vollständig unabhängig im Wasser bewegen kann. Die Apparate können außerdem mit einem Telephon versehen werden, sodaß der Regisseur jedem der Darsteller seine Anweisungen telephonisch; allerdings durch Vermittelung einer dritten über Wasser stehenden Person geben kann. (Anonym 1920, S. 78)
Überwunden ist damit das statische Dispositiv einer Unterwasserweltbeobachtung, in der schwere Tauchglocken wie bei John Ernest Williamson (s. Abb. 1), einem der Pioniere der Unterwasserfotografie oder -kinematografie, Verwendung fanden (Wasmund 1938; Eto 2014). Ähnlich wie im Fall des Thalassioskops war sichergestellt, dass der Beobachter mit den Eigenheiten des Mediums wenig oder
Das schildert Cousteaus Dokumentarfilm Welt ohne Sonne (1964) anlässlich von Continental Shelf Station Two, einer Unterwasserplattform, einem experimentellen Unterwasserhabitat.
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Abb. 1 Vorrichtung zur Unterwasserphotographie von Williamson, nach John Ernest Williamson
eben nur in extremer Vermittlung zu tun oder sie zu spüren bekam.¹¹ Mit dem freien Tauchen oder mit der Freiheit der Tauchbewegung stellt sich eine neue Wahrnehmung ein: Der Punkt, der hier – neben allen Jacques Cousteau-Bezügen und seiner Nähe etwa zur militärischen Nutzung des Tauchens – von Interesse ist, betrifft diesen Zusammenhang zwischen Bewegung, den diese Bewegung ermöglichenden Apparaturen und der daraus resultierenden Wahrnehmung. Im Gegensatz zu gelenkten Kamerafahrten oder der üblichen Ästhetik der Videokameraführung fallen unter Wasser Beschränkungen weg, die etwas mit der spezifischen Weise der Bewegung außerhalb des Wassers zu tun haben. So unterliegen sie nicht (oder jedenfalls nicht in dem an Land üblichen Maße) den Bedingungen der Schwerkraft – ein Befund, der in der Formulierung von der anderen Mechanik der Existenz seinen Niederschlag fand. Die Lösung aus der erdgebundenen Mechanik setzt eine eigene Ästhetik frei und verlangt den an der Filmproduktion Beteiligten die Fähigkeit des Tauchens ab. Als Fisch unter Fischen fallen die Bewegungen von Beobachter und Beobachteten notwendig zusammen. In einem Interview anlässlich seines 90. Geburtstags beschreibt Hass, der in einem evolutionären Gestus den Menschen vom Fisch ableitet (Hass 1979), seine eigene Tierwerdung daher als methodische Konsequenz, als operative Mimesis an den gewählten Untersuchungsgegenstand.
Das setzt kapselartige Ummantelungen voraus, an denen sich bereits ein grundlegendes Immersionsbedürfnis manifestiert (Huhtamo 2008).
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Hass: Ich habe schnell erkannt, dass wir die Fische für viel zu dumm gehalten haben. Man war bis dahin ja immer nur von ihrem Verhalten in der künstlichen Umwelt des Bassins ausgegangen, wo sie meistens nur langweilig hin und her schwimmen.Wenn man ihnen aber unter Wasser nachstellt, sieht man schnell, wie sehr sich die einzelnen Arten in ihrem Charakter und ihren Bewegungen unterscheiden. OÖN: Welches Prinzip leiteten Sie daraus für die Meeresforschung ab? Hass: Dass man sich als Forscher selbst sozusagen in ein „fischartiges Wesen“ verwandeln muss, um die Tiere in ihrem eigenen Lebensraum unter Wasser richtig beobachten zu können. Das war der Ausgangspunkt für die Entwicklung der ersten Schwimmtauchgeräte. 1941 war ich erstmals frei vom ständigen Zwang, zum Luftholen aufzutauchen. Ich konnte damals schon eine Stunde unter Wasser bleiben und in Ruhe beobachten. (OÖN 2009, n. pag.)
Zur Fischwerdung gehört der Topos der Bewegungsfreiheit, der das Tauchen stimmig mit dem Fliegen verbindet (Cousteau und Dumas 1953). Was im historischen Rückblick als Freiheit des Unter-Wasser-Fliegens im dreidimensionalen Raum gefeiert wurde, bildete einen Gegenstand der Parallelbeforschung (Schöbel 2014, 182). Die für unterschiedliche Habitate spezifischen Bewegungsformen Fliegen, Schweben und Tauchen werden in ihrer Erforschung und ihrer epistemischen Relevanz solidarisch.¹² Erprobt werden einmal mehr die Lebensmöglichkeiten in fremden Habitaten – so wie in den NASA Sealab-Versuchen oder in Cousteaus Conshelf-Projekten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass in der Nähe des Projektes, mit dem Cousteau den Menschen auf ein Leben im Meer vorbereiten wollte, Vorrichtungen zum Einsatz gelangen, die ihrerseits der NASA als Vorgaben für ihre Weltraummission dienten. Mit diesen Unterwasserstationen war der Anreiz gegeben, großangelegte Einrichtungen und damit das Leben überhaupt unter Wasser zu verlegen. In der Tiefe findet der Fisch unter Fischen eine eigene und ihm angemessene Sphäre (Hammond 2005).
4 Die Tiefe der Zeit Damit sind für die Unterwasserwelt Bewegungsbedingungen aufgerufen, die der französische Experimentalfilmemacher Jean Painlevé sowohl in ihren ästhetischen als auch in ihren epistemologischen Konsequenzen auszureizen wusste. Wissenschaft und Fiktion, so sein Credo, seien nicht zu trennen und schon gar nicht auf eine dokumentarische Funktion zu beschränken.¹³ Ein kurzer Film mit
Zu Details wie dem Flugsimulator-Pionier Edward A. Link vgl. noch einmal Kasprowicz 2019. Zum Anspruch des wissenschaftlichen Films im Allgemeinen sowie zum Status des Dokumentarischen vgl. Painlevé 2001a und 2001b.
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dem Titel The Seahorse (1934) taucht ab in die Welt des Meeres, um dort den Nautilus, also das gemeine Seepferdchen, mit der Unterwasserkamera zu beobachten (Burt 2012; Hayward 2005). Painlevé war dafür bestens gerüstet, bewegte er sich doch in einem Umfeld, das dem Vordringen in die Tiefe ausgesprochen offen gegenüberstand.¹⁴ Um den Status des Seepferdchens in der ganzen Bandbreite von Alteritätserfahrungen zu beschreiben, sind Bezüge zu anderen Tieren und selbstredend auch Ausflüge in die historische Semantik sachdienlich. Die Anmut des Seepferdchens ist ein Effekt jener spezifischen Mechanik der Existenz. The seahorse, despite its unusual appearance, is an ordinary fish no longer than 15 cm which is found on our coasts. The seahorse’s body is covered in a series of scutes which form spines adding to its medieval appearance. Its upper body is like a horse its lower body is like a caterpillar. It is alone among the aquatic vertebrates in standing upright. This vertical stance is typical of the seahorse and lends it a slightly pompous air. It is also the only fish with a prehensile tail like the chameleon which allow it to wrap itself equally around algae or a fellow seahorse’s neck and suspended by its tail it does not have the disadvantage of hanging upside down unlike the monkey, victim of gravity. (Untertitel zu Jean Painlevé, The seahorse, Kurzfilm 1934)
Der Gang in die Tiefe wird dabei zugleich auch zu einem Streifzug durch mögliche Referenzsysteme und Erfahrungsräume. Ob dabei das Mittelalter dem Nautilus Gestalt verleiht, ob dazu das Chamäleon bemüht und der Affe herangezogen wird oder ob unter den Klängen feierlicher Musik sich eine neue Welt flüssiger Kristalle vor den Zuschaueraugen entfaltet – immer schon sind Strategien, Medientechniken und kulturelle Referenzrahmen mit von der Partie, die der Beschreibung des Gesehenen gelten.¹⁵ Im Zuge des Beobachtungsgeschäfts bleiben die Kreaturen der Tiefe nicht alleine. Die Tiefe als technische Herausforderung fördert ihrerseits Apparaturen zu Tage, die auch ohne den Fischmenschen – und das heißt gänzlich unbemannt – dem Geschäft der Beobachtung nachkommen können. Der Star der Szene einer automatisierten und die Beobachtungsverhältnisse nur minimal störenden Vorrichtung heißt „Jonas“. Dem biblischen Wal, in dessen Inneren sich der Prophet befindet, bleibt es vorbehalten, im Modus einer radikalen Mimesis an die Gestalt Zu den operativen Details vgl. Bellows et al. 2001. Dort finden sich auch Informationen über den Club Des Sous-LʼEau und Mitglieder wie Yves Le Prieur, einen französischen Navy Captain, der als Erfinder von Tauchvorrichtungen (wie das französische Patent 768083 „for an improved hand-controlled self-contained underwater breathing apparatus with full face mask“ von 1934) ebenso wie von Filmprojektionstechniken von sich reden machte. Auf ihn geht ein transparenter Bildschirm (Transflex) zurück, der bei den Spezialeffekten von King Kong Verwendung fand (Berg 2001, 27– 29). Zum Verhältnis von Bewegung, Ästhetik und Epistemologie vgl. Gibbs 2015.
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der Tiere und in Form einer ausgeklügelten Technik in das einzudringen, was, auf den Menschen bezogen, seinen auch gesetzlich geschützten Nah- oder Intimbereich ausmacht. Die Produktion des Films Unsere Ozeane setzt dazu den HighTech-Torpedofisch mit besagtem Namen in Szene: Einer der unzähligen heimlichen Stars jedoch heißt Jonas: eine Mischung zwischen Torpedo und Fisch, die von einem Boot durchs Wasser gezogen wird. Jacques Cluzaud, der mit Perrin Unsere Ozeane produzierte, zum innovativen Kamerasystem: „Jonas hat die Form eines Torpedos, wiegt 80 Kilo und ist knapp 1,50 Meter lang. Er filmt nach hinten.Wobei: um das Gerät so klein wie möglich zu halten, fängt es nur die Bildsignale ein. Das Aufnahmegerät steht 100 Meter weiter an Bord. Die beiden Geräte sind mit einem Glasfaserkabel verbunden: es überträgt die Bildsignale an Bord und versorgt das System im Wasser mit Strom. Die Technik wurde gemeinsam mit der Generaldirektion der französischen Armee entwickelt. Denn um große Objekte wie normalerweise Raketen schnell und dennoch auf stabilem Kurs durchs Wasser zu bewegen, geht nichts ohne Spitzentechnologie.“ (Krause 2010, n. pag.)
Während es im Fall der Filmproduktion zu einer sonderbaren Vermischung von Hightech-Begeisterung und einer zeittypischen Biodiversitätseuphorie kommt, die zu einer regelrechten Verklärung der Ozeane führt, bedienen sich andere Observierungspraktiken einer weniger vergemeinschaftenden, weniger pathetischen und weniger dem großen Naturganzen verpflichtenden Semantik. John Downers zweiteiliger Dokumentarfilm von 2014, Dolphins. Spy in the Pod, bemüht vielmehr die Beschreibungssprache der Nachrichtendienste. Spionagekameras in Form von natürlichen Habitatbewohnern – ein WIKI-Eintrag nennt „dolphins, ray, sea turtle, tuna, squid, nautilus and puffer fish“ – soll dabei unmittelbar Aufschluss über das natürliche Verhalten der Delphine im spezifischen Sozialverbund („the pod“ entspricht einer Jungtiergruppe) geben. Aufmerksamkeit erregte der Film wegen einer Eigenart, die zum Repertoire des Menschen zu gehören scheint. Der Film nährt Spekulationen darüber, dass Delphine sich an Betäubungsmitteln ihrer Umgebung, genauer gesagt, am Gift anderer Habitatbewohner geschickt berauschen, um im Wasser high zu werden (Graham 2013).
5 Epilog: Tauchen an Land Ob Menschen an Land oder Delphine im Wasser high werden und ihre Sinne verrücken, ist eine Sache der Perspektive. In der Festschrift zum 75. Geburtstag des Psychiaters und phänomenologischen Philosophen Erwin Straus sticht ein Beitrag ins Auge, der das Tauchgeschehen auf eigenwillige Weise an Land verlegt. Unter dem Titel „The Lightness of Fireworks“ beschreibt der Gratulant Erling Eng dort ein eigentümliches Szenario. Dieses gilt der alltäglichen Lebenswelt, auf die
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Straus immer wieder und unter besonderer Berücksichtigung von nicht auf die Physik reduzierbaren Raum- und Zeitverhältnissen seine Aufmerksamkeit lenkte (Bühler 2015). Was im Versuch einer Wesensbestimmung des Feuerwerks zu Tage tritt, verdichtet sich in der phänomenreichen Auflistung all der zum Gesamtkomplex zugehörigen Einzelerscheinungen in der pyrotechnischen Vorrichtung des Skyrocket. Dieser Rakete, die das Eigentliche von Feuerwerken zu veranschaulichen vermag, besticht gerade durch Momente der Unanschaulichkeit, also durch den Entzug von Wahrnehmungsqualitäten. Ob der Kürze und der Flüchtigkeit wäre es dem Menschen mit seinem natürlichen Wahrnehmungsvermögen unmöglich, die Trajektorien ihrer parabelförmigen Bewegung zu verfolgen – womit sie ein nicht sonderlich originelles, aber durchaus probates Bild für das Leben in seiner Komplexität abgibt.¹⁶ In diesem hochgradig anthropologischen Szenario und untermauert durch eine Fülle von Dichtersprüchen lenkt Eng den Blick auf einen veritablen Earth Diver.Wie aber kommt dieser ins Bild und wie fügt er sich in den Geburtstagsreigen für Erwin Straus? Neben dem Exzeptionellen, mit dem Feuerwerke Alltäglichkeiten unterbrechen, dient ein Text von Straus mit dem Titel Der aufrechte Gang. Eine anthropologische Studie als Steilvorlage, der mit Verweis auf den Doppelsinn von moralischer und physikalischer Haltung einsetzt. Mit großer Akribie hinsichtlich der verwendeten Sprache verortet Straus hierin den Menschen in einem Szenario von Kräften und Richtungen. Das menschliche Verhalten zur Schwerkraft taugt für ihn als Kriterium, das einen Unterschied zum Tier sichtbar werden lässt. Eine nie ganz zur Auflösung gebrachte Gegensätzlichkeit dringt mit der aufrechten Haltung in alles menschliche Verhalten. Sie entfernt den Menschen vom Grunde, sie rü ckt ihn in eine Distanz zu allen anderen Dingen. Dieser Abstand freilich gibt dem Menschen auch die Möglichkeit und Macht, die Dinge – abgelöst von dem unmittelbaren Kontakt mit ihm selbst – in ihren Verhältnissen untereinander zu betrachten und zu erforschen, auf sie zu zeigen und auf sie zu deuten. Ein Tier, das sich in der Längsachse seines Körpers fortbewegt, ist immer auf die Dinge zu gerichtet. Der Mensch aber, der sich in einer Richtung senkrecht zu seiner eigenen Längsachse vorwärts bewegt, den aufgerichteten Körper parallel zu sich selbst verschiebend, findet sich allen Dingen einsam gegenü ber. (Straus 1960a, 227)
Die Senkrechte wird dem Menschen zur Aufgabe. Ihr muss er sich unablässig stellen – und nur der Schlaf weiß diese Aufgabe zu unterbrechen. Diesen Anspruch greift der Gratulant auf und spielt ihn mit der Kulturtechnik des Feuerwerkens in das Geschehen ein. „This lightness of fireworks, the heart of so many celebrations both unique and commemorative, seems to me an artistic glorifica-
Zur Faszinationsgeschichte der technischen Nachstellung vgl. Pynchon 1981.
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Abb. 2 Venezianischer Kupferstich mit Erdtaucher
tion of ‚ascending human life’ within the vertical existence of the upright, human posture.“ (Eng 1966, 74). Diese Überleitung ist weniger holprig, als es auf den ersten Blick erscheint, greift sie doch auf Vorgaben des Psychiaters Ludwig Binswanger zurück – genauer gesagt dessen Ausführungen über das auf- und absteigende Leben aus der einflussreichen Publikation Traum und Existenz. Das Bindeglied zwischen Haltung und Feuerwerk, „a direct tie between fireworks and the upright posture“ (Eng 1966, 76), liefert der venezianische Kupferstich (s. Abb. 2) aus dem achtzehnten Jahrhundert. Was dort zu sehen ist, mutet zunächst wie eine artistische Höchstleistung an, zeigt er doch eine Kreatur der Höhe in einer halsbrecherischen Pose: „Amid a profusion of fireworks, mostly of Roman candles, a man with arms outstretched slides headlong down a cord stretched from the Campanile to the Piazetta.“ (Eng 1966, 76) Kurzerhand wird dieser Erdtaucher zu einem Opponenten der Schwerkraft erklärt und fügt sich in den Reigen anderer der Schwerkraft trotzender Körper – ihrerseits verkörpert in einer Reihe von Gleichgewichtskünstlern wie Seiltänzern, Akrobaten, Jongleuren und Gauklern. „Thus even this ‚earth diver‘ with the mimed wings keeps company with the funambulist, equilibrist, juggler, and saltimbanque. In these different tours de force man exposes his uprightness to a life and death test of his ability to oppose gravity.“ (Eng 1966, 76) Die Schwerkraft, die dem Affen zum Verhängnis wird und der das Seepferdchen die Anmut seiner Bewegung verdankt, jene Schwerkraft bestimmt die Mechanik von Existenzweisen – ob im Wasser oder in der Luft, ob verkörpert im Menschen oder in Tieren. Die natürliche und die technisch manipulierbare Zeitlichkeit von Bewegung entscheiden über deren Ästhetik – wie es anlässlich einer kurzen Analyse der Möglichkeitsgründe von Anmut in einem gleichnamigen Text des niederländischen Biologen Frederik J. J. Buytendijk heißt. Auch dort wird die Schwerkraft bestimmten Tieren zum Verhängnis.
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Zu träge Bewegungen erscheinen uns mü hsam, manchmal plump, manchmal teigig, die Massen schwer und die Kräfte groß. Eine zu langsame Bewegung wird nicht mehr als vollständige Bewegungsgestalt wahrgenommen. Deshalb sind das Kriechen einer Schnecke und das Gehen einer Schildkröte nicht anmutig, dagegen die Fortbewegung einer Schlange oder Eidechse. (Buytendijk et al. 1963, 13)
Es sind Bewegungsformen der Moderne, die das Gefüge fester Existenzweisen momenthaft außer Kraft setzen, die der Schwerkraft trotzen und die den Fall riskieren, die vorbei an der Kontrolle des Bewusstseins eine Logik der Bewegung und der Körpererfahrung freisetzen, die im Tier und im animalischen Vollzug ihr Vorbild finden. Dafür steht Kleists Bär aus dem Marionettentheater Pate – nicht nur in der Analyse bei Buytendijk.¹⁷ Die dem Sein im Wasser geschuldeten Bewegungsformen geraten an Land und versetzen den Betrachter in den Modus des Staunens. Das Faszinosum des Erdtauchers auf dem Kupferstich des achtzehnten Jahrhunderts erlaubt Übertragungen in eine Lebenswelt, die den Menschen in unterschiedlichen Haltungen und Bewegungen zeigt: „Mit Bewunderung folgt unser Blick dem Tänzer, dem Springer, dem Eisläufer, dem Skifahrer, der den Sturz riskierend sich in freier Schwebe hält.“ (Straus 1960a, 228)
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Vorrichtung zur Unterwasserphotographie von Williamson, nach John Ernest Williamson (Collection MS0175). Quelle: http://www.marinersmuseum.org/blog/?s=william son (letzter Zugriff 11. August 2018) Abb. 2: Venezianischer Kupferstich mit Erd-Taucher, nach Eng, Erling. „The Lightness of Fireworks“. Conditio Humana. Erwin W. Straus on his 75th birthday. Hg. Walther von Baeyer und Richard M. Griffith. Berlin, Heidelberg: Springer, 1966. 74 – 83, 75.
Dorothee Kimmich
Höhlen: Niemandsländer in der Tiefe 1 Einleitung: Höhlen und ihre Untiefen „Die urweltliche Höhle ist ein Ort der Konzentration von Aufmerksamkeit.“ (Blumenberg 1989, 27) Für Hans Blumenberg ist die Höhle, oder besser: sind die Mythen, die sich um Höhlen, ihre Aus- und Eingänge ranken, Großmetaphern für Kultur überhaupt. In die Höhlen haben sich die Menschen zurückgezogen, als sie die schützenden Urwälder verließen und die offene Savanne Geborgenheit vermissen ließ: „Im Schutz der Höhlen beginnt der Frühmensch mit einer neuen Form des Schlafes, dem geborgenen Tiefschlaf, einer Kulturform des Schlafes, den sich kein ‚feindbezogenes‘ Lebewesen leisten kann.“ (Blumenberg 1989, 27) In der Höhle wird der Mensch zum homo pictor, zu einem Wesen, das sich Abwesendes anwesend machen kann, also Gedächtnis und Imagination entwickelt und dafür auch Zeichen findet. „So wurde“, konstatiert Blumenberg, „der Mensch beim Durchgang durch die Höhle das träumende Tier.“ (Blumenberg 1989, 29) Mit den Träumen und den Bildern entsteht die kulturelle Beweglichkeit des Menschen. Dabei geht es immer auch um „die Ambivalenz der Höhle: Sie lädt zum Bleiben und sie bemittelt zum Gehen.“ (Blumenberg 1989, 799) Beim Nachdenken über Tiefe kann die Höhle, die historische Höhle, die erzählte Höhle und die metaphorische Höhle, nicht fehlen. Der Zugang zu den tieferen Erdschichten und damit auch zur Geschichte der Erde, zur Gestein gewordenen Zeit der Erde selbst, hat unzählige Narrative hervorgebracht: neben mythischen und religiösen auch literarische und wissenschaftliche oder deren jeweilige Verknüpfungen. Höhlenerzählungen befassen sich mit dem Aufenthalt in der Höhle, mit dem Zugang, dem Ausgang, der Erforschung und Durchdringung der Höhle. Tiefe wird in den Höhlen oft durch Bewegung und Veränderung wahrgenommen: Das Betreten der Höhle, die zunehmende Dunkelheit, Feuchtigkeit, Stille und die immer stärker werdende Isolation markieren den Zugang zur Tiefe, aus der man wieder ans Licht emporsteigt und heraustritt. Gefahr kann sowohl in der Tiefe lauern als auch am Ausgang warten; die Rettung sowohl in der Dunkelheit der Höhle als auch im Licht der Außenwelt gefunden werden. Kaum ein Narrativ kann die ambivalente Besetzung der Tiefe bildlich so komplex und eindrücklich umsetzen wie Höhlengeschichten. Nicht nur die Ambivalenz von Gefahr und Rettung, Risiko und Geborgenheit, auch die von Kultur und Natur, Besitz und Gemeingut, Kargheit und Reichtum, Freiraum und Ge-
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fangenschaft, (Ur‐)Geschichte und Naturwissenschaft und sogar die von (Ur‐)Zeit und Raum werden in Höhlengeschichten bearbeitet. Eine spezifische Rolle in den vielen, oft miteinander verknüpften Höhlennarrativen kommt daher nicht nur der geheimnisvollen Tiefe und dem ‚Innen‘ zu, sondern gerade auch dem Übergang von Tiefe zur Oberfläche, also dem Höhlenein- oder -ausgang. Er ist genau der Bereich, wo sich die ambivalenten Besetzungen der Höhle am deutlichsten abbilden: Es ist die Schwelle zwischen hell und dunkel, feucht und trocken, oben und unten, Gefahr und Rettung, der Ort, wo sich Leben und Tod begegnen. Dabei ist nicht festgelegt, ob die Gefahr jeweils innen oder außen, das Leben oder der Tod drinnen oder draußen zu erwarten sind, also die Helligkeit oder das Dunkel, Tiefe oder Oberfläche positiv zu lesen sind. Auch nicht zu entscheiden ist es, ob Höhlen in erster Linie ein Ort kultureller Einschreibungen sind – also Kultisches, menschliche Behausung und deren Wandmalereien etwa konnotieren –, oder ob sie nicht vielmehr im Gegenteil vollkommene Unberührtheit, einen Ort gerade ohne menschliche Eingriffe und damit die großen Geheimnisse einer Zeit ohne Menschen assoziieren. Ausgehend von der Höhlenerzählung der abendländischen Kulturgeschichte, von Platons Höhlengleichnis, entwickelt Hans Blumenberg eine Geschichte der Raummetapher „Höhle“, die als eine Geschichte der menschlichen Selbstermächtigung und der modernen Neugier gelesen wird (Blumenberg 1989, 663 – 818). Der als Gleichnis bezeichnete Text (Büttner 2000) wird gedeutet als Allegorie auf Verblendung durch Unwissenheit auf der einen und Blendung durch zu viel Wissen auf der anderen Seite des Ausgangs. Dabei ist nicht zu übersehen, dass Platons Höhlengleichnis im Grunde die metaphorische Verwendung von Tiefe und Oberfläche ebenfalls irritierend und ambivalent einsetzt: Die Suche nach dem Höhlenausgang ist ein Weg in die Höhe und ans Licht, damit gemeint ist aber eine Bewegung in eine Wissenstiefe, die den Subjekten, die gefangen in der Höhle sitzen, gerade verwehrt bleibt, weil sie sich der sinnlichen, oberflächlichen und eben nur vermeintlichen Gewissheit der Schattenbilder ausliefern.¹ Andererseits sind Bilder an den Höhlenwänden – wenn auch nicht unbedingt Platons Schattenbilder, so doch etwa die Höhlenmalereien, wie man sie beispielsweise aus Lascaux kennt – zweifellos nicht nur lügnerische Phantome, sondern vielmehr Zeugnisse menschlicher Imaginationsfähigkeit und damit Teil einer Wissensgeschichte, die über die schriftlich dokumentierte weit hinausweist. So ist neben dem platonischen – und später kantianischen – „Ausgang“ aus der „Die alltagssprachliche Polarisierung der Begriffe Tiefe und Oberfläche beruht im Kern auf einer normativen Grundentscheidung, die in der Regel mit einer Aufwertung menschlicher Tiefe und einer entsprechenden Geringschätzung von Oberflächlichkeiten einhergeht.“ (Rolf 2007, 461; vgl. dazu auch Bredekamp 2003; Lechtermann und Rieger 2015, darin Kimmich 2015)
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Dunkelheit der Höhle und der selbstverschuldeten Unmündigkeit eben und auch gerade das Erforschen des Erdinneren, der Tiefe, die Erkundung von geologischen Formationen und die Suche nach Spuren menschlicher Behausungen Teil einer (Natur‐)Geschichte, die zugleich zum Licht der Ideen und in die Tiefe der Erde vordringt. Höhlen sind als Übergangs- oder Zwischenzonen vielfach und ambivalent konnotierte Räume: Die Faszination von Höhlen stammt schließlich nicht zuletzt daher, dass sie einen Übergang markieren zwischen Kultur- und Naturraum bzw. beides zugleich sind und so immer auch Natur- und Kulturgeschichte verbinden. Viele der mythischen und literarischen Höhlengeschichten nützen das Motiv, um einen Raum des spezifischen Wissens um die Urgeschichte der Erde, die Urgeschichte des Menschen, die Verschränkung von Raum und Zeit, ja sogar deren Aussetzung zu inszenieren. Das Innere, die Tiefe der Höhle wird dabei meist nicht nur räumlich verstanden, sondern oft auch zeitlich markiert: Die Tiefe der Höhle führt in die Tiefen der Geschichte, ja sogar in die der Naturgeschichte hinein und damit in eine Zeit vor allen Anfängen, zum Ursprung der Zeit selbst. Bis in die moderne Erforschung von Höhlen wirken sich diese besonderen Konditionen von Höhlenräumen aus: Die Wissenschaft von Höhlen, die erst im zwanzigsten Jahrhundert entstehende Speläologie, umfasst sowohl die geologischen wie die biologischen – Flora und Fauna – als auch die kulturwissenschaftlichen Bereiche der Höhlenkunde, gehört also zugleich in den Bereich der Erforschung des Leblosen, des Lebendigen und des Kulturellen, das heißt, sie gehört zu den Natur-, den Kultur- und auch den Religionswissenschaften.² Höhlen sind schließlich nicht nur als Wohn- und Lagerstätten, sondern immer schon auch als Kultstätten adaptiert worden: Die Zeusgrotte auf dem Berg Ida in Griechenland dürfte zu den bekanntesten gehören, ebenso wie die über den ganzen Mittelmeerraum verbreiteten Nymphäen oder die Höhle der Cumäischen Sybille in der Nähe von Neapel. Die Ajanta-Höhlen in Indien, die Grotten von Lourdes in Frankreich oder die Rosalia-Heiligtümer in der Nähe von Palermo sind Zeugen dafür, dass man in Höhlen in vielen Religionen eine ganz spezifische Präsenz des Numinosen und Heiligen wahrnahm. Neben den kultischen Praktiken findet sich zudem eine unüberschaubare Anzahl an Sagen und Bräuchen, die sich mit Höhlen verbinden: Man vermutete dort verborgene Schätze, Populationen von Ungeheuern, Drachen, Erdgeistern und vor allem Zwergen. Schon in der Edda taucht das Motiv des Zwerges als Hüter unterirdischer bzw. verborgener
Höhlen als UNESCO-Welterbe – wie etwa die Höhlen des ‚Hohle Fels‘ in Süddeutschland (Conard et al. 2015, 127– 135) und die Höhlen von Lascaux – machen u. a. den Status der Höhle zwischen Natur- und Kulturdenkmal deutlich.
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Schätze auf. Dem entspricht in der germanischen Mythologie der Zwergenkönig Alberich, Hüter des Nibelungenhorts. Oft werden Zwerge nicht nur als kleinwüchsige Höhlenwesen dargestellt, sondern auch mit Attributen von Bergleuten versehen. Sie kennen sich im Erdinneren aus und verwalten dort – je nach Charakter – freundlich oder feindlich verborgene Schätze (Genzmer 1995; Schäfke 2010; Tarantul 2001, 38 – 47). Strukturbildende Narrative hierfür finden sich in den griechischen und biblischen Mythen: Höhlen sind dort Eingänge ins Erdinnere. Sie bieten Schutz und bergen Gefahren, sie ähneln Behausungen und Gräbern zugleich: Der Zugang zum Hades wird als Höhle beschrieben, die auf der Südküste der Halbinsel Mani im Tenairos-Gebirge liegen soll. Zeus wird – wie Jesus – in einer Höhle geboren (Blumenberg 1989, 39 – 54). Das Grab, aus dem Jesus schließlich aufersteht, ist eine Höhle. Leben und Tod begegnen sich in der Höhle und in den unendlich erscheinenden Tiefen der Höhle lässt sich die unendliche Zeit, die Ewigkeit, erahnen. Die zahllosen literarischen und ästhetischen Imaginationen, die etwa um 1800 Höhlen und Bergwerke thematisieren,³ zeigen, dass Höhlen- und Unterweltsgänge Reisen in andere Zeiten, in die eigene oder in fremde Vergangenheit(en) sein können und so auch narrativ Raum und Zeit verschränken oder aufeinander abbilden.⁴ „In diesem metaphorisch verräumlichten Inneren, das ja schon moderne Konzepte des Unbewussten antizipiert, haben sich allerdings auch kollektive und individuelle Erinnerungen der Natur- und Kulturgeschichte abgelagert […]“ (Köhler [in Vorb.], 277– 278). Dabei bleibt auch hier das tiefe Innere der Erde ein ambivalenter Raum: Als Schutz- und Rückzugsort ist er eine archetypische, ‚mütterliche‘ Figuration, aber auch ein chthonischer Ort, in dem sich Verdrängtes, Vergessenes und Tabuisiertes findet.⁵ Metaphorologisch oder metapherngeschichtlich gesehen ist die Höhle also ein vielfach und widersprüchlich besetzter Ort: Höhlennarrative weisen gewissermaßen immer in beide Richtungen. Sie sind auf eine besondere Art uneindeutig und halten damit ihre narrative und metaphorische Bedeutung in der Schwebe zwischen dem Dunkel und der Helligkeit, dem Schutz und der Gefahr. In
Z. B. Novalis: Heinrich von Ofterdingen; Ludwig Tieck: Runenberg; J. F. Hebel: Unverhofftes Wiedersehen; E.T.A. Hoffmann: Die Bergwerke zu Falun; Heinrich Heine: Die Götter im Exil, Der Tannhäuser. Zur Bergbaumetapher vgl. auch Böhme 1988; Lange 2007, 183 – 196. Zugleich ist das Innere der Erde auch ein Ort, an dem sich Utopien ansiedeln: Gabriel Tardes Fragments d’une histoire future (1896) platzieren die Zukunft der Menschheit in unterirdischen Paradiesen und geben dem französischen Soziologen so die Möglichkeit, eine zivilgesellschaftliche Utopie zu entwickeln.
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dieser bedeutungsvollen Unentschiedenheit liegen die vielen Möglichkeiten, die Höhlen – oder besser ihre Erzählungen – bieten. Im diffusen Halbdunkel liegend, entfalten sich Möglichkeiten, die sich nur an Orten mit doppeldeutigem oder unentschiedenem Status ergeben; so etwa die Gelegenheit, mit sonst geltenden sozialen Konventionen zu brechen, gesellschaftliche Normen zu suspendieren, sich zu verwandeln, zu verkleiden und Identitäten zu wechseln. Höhlen bilden einen Gegenort zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit und zugleich einen zur wilden Natur, sie offerieren ein faszinierendes Dazwischen. Um eine dieser vielen ‚Unentschiedenheiten‘ der Höhle, eine der Ambivalenzen, um eine besondere Art des Diffusen im Höhlennarrativ soll es auch im Folgenden gehen.
2 Höhlen als Niemandsländer Sesshaft, so ist auch bei Blumenberg deutlich, ist der Mensch zwischen Höhlenaus- und ‐eingängen noch nicht. Das wird er erst dann werden, wenn er ein Stück Land bebaut, es in Besitz nimmt und damit eine Vorstellung von Eigentum entwickelt. Höhlen dagegen sind noch kein Eigentum, wie es ein Stück umzäuntes Land sein wird. Sie bleiben ein übergänglicher oder vorübergehender Schutzraum. Höhlen – besonders bemalte, ausgestaltete – gehören nicht zur ursprünglichen Wildnis, aber sie sind anders als Häuser und Hütten auch keine menschlichen Artefakte und bilden auch hier eine Art Zwischenraum. Sie werden in Besitz genommen, aber gehen trotzdem nicht in das Eigentum einer Person oder einer Gruppe über. Damit ähneln sie in diesen Hinsichten anderen Orten und Räumen, die man als ‚Niemandsländer‘ bezeichnet. Höhlen und Grotten sind zwar in juristischem Sinne keine echten Niemandsländer, da sie im Normalfall denjenigen gehören, die das sie umgebende Land besitzen, allerdings teilen Höhlen mit Meeresflächen, Gebirgslandschaften und Wüsten die Eigenschaft, dass sie ‚unkultivierbar‘, also für Landwirtschaft und Ackerbau nicht brauchbar sind und sich heute meist nicht im Besitz von Einzelpersonen, sondern in dem von Staaten, Gemeinden oder Ländern befinden. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden allerdings eben auch häufig gar nicht solche Gebiete als Niemandsländer bezeichnet, die nach juristischer Auffassung niemandem gehören, sondern solche, die niemandem zu gehören scheinen. Diese Art von Niemandsländern sind ‚unkultivierte‘ Gebiete in doppeltem Sinne: cultura bedeutet ursprünglich Ackerbau und ist mit dem Bild des Pflügens, des Anbauens, des Ziehens von Furchen und Grenzen verbunden (Koschorke 2004; Perpeet 1976, Sp. 1309). Das Wasser der Ozeane, den Sand der
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Wüsten und eben auch einen im Dunklen liegenden Höhlenboden kann man nicht bepflanzen. ‚Unkultiviert‘ wirken bestimmte Orte aber auch, weil sich Staatlichkeit, Zivilisation und Kultur nicht – oder nur eingeschränkt – durchsetzen können.⁶ Daher werden oft auch Stadtbrachen (Tschäppeler et al. 2007; Feldtkeller 2001; Genske 2003; Hanke 2006; Müller et al. 2004; Droop 1898; Leo 1777), dysfunktionale Räume in Großstädten oder besonders unwirtliche Gegenden an den Peripherien von Städten, als Niemandsländer bezeichnet, obwohl sie dies im rechtlichen Sinne meist gar nicht sind. Es sind die in der Romantik berühmt gewordenen terrains vagues,⁷ die hier das Konzept des ‚Niemandslands‘ prägen (vgl. Jacobs 2001). Niemandsländer sind Orte ohne – oder mit eingeschränkt wirksamem – Gesetz, denn tatsächlich ist die Idee von Ordnung und Eigentum, Staatlichkeit und Sicherheit an territoriale Markierung gebunden: „The primordial scene of the nomos opens with a drawing of a line in the soil“ (Vismann 1997, 46),⁸ konstatiert Cornelia Vismann in ihrem Aufsatz über das Niemandsland zwischen den Fronten des Ersten Weltkrieges, und fährt fort: „Cultivation defines the order of ownership in space.“ Ein Gebiet zur terra nullius, zum Niemandsland, zu erklären,⁹ ist also Man unterscheidet im juristischen Sprachgebrauch zwischen staatsrechtlichem und besitzrechtlichem Niemandsland. Terra nullius, so der lateinische Begriff, wird im Englischen als empty land bezeichnet, dazu gehören z. B. internationale Gewässer – sowohl deren Wasseroberfläche als auch der Seegrund –, internationaler Luftraum und der gesamte Weltraum, dazu rechnet man auch einige sich überlappende Luft-, Land-, Küsten- bzw. Seegebiete. Unbeflaggte Schiffe auf internationalen Gewässern oder auch ein umkämpftes Gebiet zwischen kriegführenden Staaten werden ebenfalls als Niemandsländer bezeichnet. Terrain vague entspricht nicht genau dem, was ‚Brache‘ meint. Der Begriff stammt aus der französischen Romantik und wurde von François-René de Chateaubriand 1811 zum ersten Mal verwendet, findet sich bei Honoré de Balzac und spielt dann in der französischen Moderne eine große Rolle. Er ist immer verbunden mit der Großstadt Paris, erfährt im Laufe seiner 200-jährigen Geschichte eine ästhetische Aufladung und wird zu etwas wie einem genuin „literarischen“ Ort, vgl. Ritter und Broich 2015; vgl. dazu auch Simmel 1995. Sybille Krämer bezeichnet die Linie selbst als das eigentliche und einzige Niemandsland (2016, 100). Die europäischen Kolonisatoren im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert machten sich diese Idee der terra nullius zunutze, um ihre Besitzansprüche in den Kolonien juristisch untermauern zu können. Sowohl der afrikanische als auch der amerikanische und der australische Kontinent wurden zu Niemandsländern erklärt, um die Aneignung durch die europäischen Kolonisatoren zu rechtfertigen. Niemandsländer sind Gegenden, die (scheinbar) niemandem gehören und auf die daher ein Besitzanspruch erhoben wird. Allerdings kann diese Freiheit von Besitz und Gesetz auch ganz andere Ideen provozieren bzw. Reaktionen auslösen. Eine relative Regellosigkeit, ein gewisser Freiraum kann auch Entlastung und Möglichkeiten bieten, die sich sonst fast nirgends finden lassen. Politisch und historisch relevant wurde dies
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ein Akt, der zugleich auch festhält, dass es sich um ein Gebiet der staatlichen und gesellschaftlichen Unordnung handelt. Niemandsländer haben daher meist keinen guten, einen eher zweifelhaften Ruf. Ambivalent ist das Niemandsland aber vor allem darum, weil gerade die Abwesenheit staatlicher Regulierung auch Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Diese Idee hat Georg Simmel in seinem Text „Räumliche Projektionen socialer Formen“ von 1903 (Simmel 1995) – flankiert von seinem berühmten „Exkurs über den Fremden“ von 1908 – verfolgt und eine Vorstellung von sozialen oder kulturellen ‚Niemandsländern‘ entwickelt. Es handelt sich um ein soziologisches, politisches und auch sozialpsychologisches Konzept, das dem einer sozialen ‚Pufferzone‘ ähnelt: Eine unabsehbare Zahl von Beispielen zeigt uns Gebiete, auf denen Verkehr, Entgegenkommen, schlichte Berührung zwischen gegensätzlichen Parteien möglich ist, derart, daß hier der Gegensatz nicht zu Worte kommt, ohne daß er doch aufgegeben zu werden braucht, daß man sich zwar aus den Grenzen, die uns sonst vom Gegner scheiden, hinausbegibt, aber ohne in die seinen überzutreten, sondern sich vielmehr jenseits dieser Scheidung hält. (Simmel 1995, 219)
Entscheidend ist hier die Formulierung, dass Gegensätze vorhanden sind und Differenzen beibehalten werden können, die man gerade nicht zum Verschwinden bringen muss; man kann sich vielmehr zeitweise und zu einem speziellen Zweck „jenseits der Scheidung“ in ‚eigen‘ und ‚fremd‘ aufhalten und dadurch bestimmte Konflikte, Streit und Feindschaften suspendieren, ohne sie vollkommen zu lösen oder für immer zu unterdrücken. Die gelegentliche Suspendierung oder Einklammerung von Identitäten und sozialen Rollen, die teilweise Infragestellung von Normen und Maximen, die Erprobung von alternativen Lebensformen, das Aushandeln von Toleranzen und Assimilationsspielräumen verlangen spezielle Bedingungen. Solche bieten Niemandsländer: Die geringe Regelungsdichte, die Niemandsländer charakterisiert, birgt also nicht nur Gefahren, sondern bietet auch Möglichkeiten; etwa für Verliebte, spielende Kinder, Streuner, Dealer, Diebe, Künstler und Phantasten. Niemandsländer sind – in diesem Sinne –„Möglichkeitsräume“.¹⁰
schon um 1095, als Papst Urban II. verfügte, dass von Nicht-Christen bewohntes Land als Niemandsland zu qualifizieren und damit bedenkenlos zu kolonisieren sei (Nayar 2015, 153). Die Verfügung diente der Vorbereitung des ersten Kreuzzugs nach Palästina und der Etablierung der Kreuzfahrerstaaten. „Möglichkeitsraum“ ist ein Begriff, der aus der Psychotherapie bzw. der psychotherapeutischen Spieltheorie von Donald W. Winnicott stammt (Winnicott 1989, 49 – 86). Er wird heute in
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Solche Möglichkeitsräume finden sich zahlreich in literarischen Texten: Es können ganz konkret Inseln¹¹ und Wälder, Wüsten, Meere, Ruinen, Stadtbrachen oder eben auch Höhlen sein. In einem Rekurs auf sich selbst ist dabei (fast) immer auch der literarische Text selbst als Möglichkeitsraum entworfen. In bestimmter Hinsicht sind es schließlich genau die fiktiven Welten selbst, die die Funktion, neue Möglichkeiten auszutesten, übernehmen, und sie greifen dabei wiederum auf reale Räume zurück, die sich als ‚Spiel‘- oder Möglichkeitsräume anbieten. Es handelt sich um Texte, die Möglichkeitsräume erzählen und zugleich sich selbst als Möglichkeitsräume entwerfen. Höhlen haben in vieler Hinsicht so etwas wie einen räumlichen Sonderstatus inne, der sich mit dem von Niemandsländern vergleichen lässt. So charakterisiert die geringere Regelungsdichte, die eine der wichtigsten Eigenschaften aller Niemandsländer ist, meist auch Höhlen: Anders als bebauter oder umzäunter Besitz sind Höhlen oft weniger deutlich als Eigentum markiert, oft auch weniger kontrolliert.¹² Was in der Höhle geschieht, ist der unmittelbaren Sichtbarkeit entzogen. Die Höhle als Zugang zu einer urweltlichen Tiefe vermag weltliche Ordnungen zu suspendieren. Sie ermöglicht es dem Menschen, einen Blick ins Nichts oder auch in die Ewigkeit zu werfen, dem Tod zu begegnen und doch lebendig zu bleiben. In der Höhle lösen sich Gegensätze auf, hier werden Grenzen verwischt und Identitäten aufgehoben: Im Niemandsland der Höhle werden die Besucher zu ‚Niemanden‘. Die Höhle wird in vielen literarischen und mythischen Texten zu einem Raum der vielfachen Spiegelung und deren dekonstruktiven Reflexionen, in denen Tiefe und Oberfläche, Zeichen und Deutung eine oft irritierende Spannung entwickeln.
verschiedenen Bereichen der Psychologie und Philosophie verwendet; vgl. dazu Kögler 2009; Slaby 2011. Inseln als Niemandsländer, etwa Robinsonaden, die Vorläufer von Daniel Defoes Robinson Crusoe ebenso wie die vielen Adaptionen, Variationen und Umbesetzungen wären ein eigenes Forschungsfeld. Vgl. dazu auch Borgards et al. 2016. Als Text neueren Datums könnte man Klaus Böldls Der Atem der Vögel (2017) nennen, der keine eigentliche Robinsonade ist, da der Protagonist freiwillig und auch nicht alleine auf einer der Faröer-Inseln ist, aber doch vom erträumten Verschwinden auf einer ereignislosen Insel berichtet. Sie unterliegen zwar bestimmten Regelungen, die den Naturschutz oder den besonderen Schutz etwa historisch, zoologisch, geologisch oder botanisch bedeutsamer Eigenschaften oder Funde in einer Höhle betreffen, ein eigenes Recht für Höhlen gibt es aber nicht.
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3 Niemand in der Höhle Mythische Texte präfigurieren moderne Narrative von Höhlen: Hier sollen nur kurz diejenige von Odysseus und Polyphem und die von Herkules und Omphale herangezogen werden. Odysseus gerät auf seiner Rückfahrt von Troja in die Höhle des Polyphem. Er betritt sie aus Neugier, kann sie nicht mehr verlassen, weil der einäugige Zyklop sie mit einem Stein verschließt und die Gruppe der Seefahrer gefangen nimmt. Odysseus macht Polyphem betrunken, blendet ihn, klammert sich an den Bauch eines Schafes, kann so den hilflosen Riesen täuschen und mit der Herde aus der Höhle fliehen. Etwas skurril mutet die bekannte Szene an, in der der blinde Polyphem Odysseus fragt, wie er heiße, und der dann mit einem nicht ins Deutsche übersetzbaren Sprachspiel antwortet: „Outis“, was so viel hießt wie „kleiner Odysseus“ oder eben „Niemand“. Das ist eigentlich nicht besonders listenreich, sondern eher leichtsinnig. Die Botschaft geht auch weniger an Polyphem, sondern an die Leser oder Zuhörer der Geschichte: Keiner außer dem dummen Zyklopen würde darauf hereinfallen, aber immerhin ist klar, dass die Idee, auch einmal niemand – statt eines Helden und Abenteurers – sein zu wollen, nicht immer die schlechteste ist. Odysseus hat sich auf raffinierte Weise in der Höhle „unsichtbar“ gemacht und überquert als Niemand im Schafspelz den Höhlenausgang: Auch dies ist eine Art „Höhlengleichnis“. Hier steigt aber nicht der leidgeplagte Philosoph aus der Tiefe an die vollends ausgeleuchtete und aufgeklärte Erdoberfläche, sondern es ist der Trickster, der sich durch eine Art Tiefstapeln das Leben rettet. Auch Herakles geht – allerdings auf etwas angenehmere Weise – in einer Höhle seiner Identität verlustig. In einer der einschlägigen Episoden seines harten Arbeitslebens gerät der unermüdliche Kämpfer mit den unkontrollierbaren Wahnsinnsanfällen in die Gefangenschaft einer orientalischen Fürstin, die ihn verführt. Der Gipfel der Komik bzw. – je nach Genre – der Tiefpunkt der Demütigung ist erreicht, wenn Herakles in der Liebesgrotte einwilligt bzw. gezwungen wird, mit der Fürstin Omphale die Kleider zu tauschen. Er trägt ihren Schmuck und ihr Gewand, sie seine Keule und sein Löwenfell. Es handelt sich um eine typische Cross-Dressing-Szene: Eine mehr oder weniger spielerische, erotische – oder auch rituelle – Form des Geschlechtertauschs.¹³ Der Tausch steht im Kontext der Erprobung erotischer Anziehungskraft, die sich durch die Verkleidung of-
Man kennt das aus Initiations-, aber auch aus Hochzeitsriten in Griechenland. Vgl. z. B. auch die Verkleidung des Achill; auch die Römer waren große Liebhaber von Cross-Dressing-Szenen, hierzu liefert Ovid mit seinen Metamorphosen viele Beispiele.
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fenbar steigern lässt.¹⁴ Die erotische Provokation der Geschlechtergrenzen ist eine Form spielerischer, vorübergehender Aussetzung von Ordnung – wie die sexuelle Begegnung des Sklaven Herakles mit der Königin natürlich sowieso. Es handelt sich gerade nicht um eine wirkliche Änderung der Geschlechter, sondern sie werden vielmehr „jenseits der Scheidungen“ gewissermaßen in der Schwebe gehalten. Die Annäherung zwischen dem arbeitsamen Okzident und dem lasziven Orient (re‐)produziert orientalisierende Vorurteile, kombiniert sie aber mit einer ironischen Perspektive auf den tumben Okzident.¹⁵ Herakles ist in der lydischen Höhle nicht mehr ganz er selbst, und dies scheint nicht das Schlechteste. Der Aufenthalt in der lydischen Grotte scheint eine Art Pause von einer schwierigen Mission und einem schwierigen Ich. Die Idee, man könne Urlaub vom Ich nehmen, an einem Niemandsort ein Niemand werden, scheint faszinierend. Verwandlung, Verkleidung und Metamorphose braucht einen geschützten Ort, ebenso wie die verbotene Liebe, die ebenfalls in einem Nebenraum des Alltags stattfinden muss.
4 In der Tiefe der Zeit: Liebeshöhlen und Gräber Liebeshöhlen sind nicht nur heimliche Treffpunkte, sondern oft auch unheimliche Orte, an denen nicht nur Gefühle und gesellschaftliche Normen, sondern
Robert von Ranke-Graves betont in seiner Griechischen Mythologie von 1955, dass Herakles und Omphale sich (sexuell enthaltsam!) in der Höhle auf ein Dionysos-Opfer vorbereitet hätten (Ranke-Graves 1993, 488). Dieser gelehrte Hinweis auf rituelle Verkleidung im Rahmen religiöser Praktiken taucht immer wieder auf. Peter Hacks, der belesene Dichter, lässt seinen geschminkten Herakles sagen, dass er nur als quasi politischer Stellvertreter der Königin handle, und „mit ihrem herrscherlichen Rang / Borgt ich nur ihr Geschlecht, von dem untrennbar / Das würdig-weibliche“ (Hacks 1975, 129). Warum allerdings dieser Kleidertausch auch im privaten Schlafgemach beibehalten wird, ist so nicht zu erklären. Vielmehr wird am Schluss klar, dass bei Hacks doch eine – etwas platte – Ganzheitsphantasie, eine männliche ‚Identitätskrise‘ diesen Versuch des CrossDressing motiviert hatte. Die lydische Höhle der Königin Omphale mag auf den ersten Blick – kulturhistorisch – etwas abgelegen wirken, sie ist aber von der Literaturgeschichte keineswegs übersehen worden. Schließlich ist Herakles der am häufigsten dargestellte Held der Antike, mit Keule und Löwenfell findet er sich auf Vasen, aber auch als Statue, später auf Gemälden. Seine Geschichte hat zahlreiche Opern und Singspiele inspiriert. Und natürlich finden sich auch in der Literatur viele Bearbeitungen des Mythos. Vgl. für einen Überblick Hunger 1959 oder Riha 2003. Die antiken Autoren Sophokles und Euripides liefern die Vorlagen für Bearbeitungen von Seneca und Ovid bis Heiner Müller und Peter Weiß. Zudem kehrt er in Gottfried Kellers Novelle „Pankraz der Schmoller“ als gescheiterter Soldat aus den indischen und afrikanischen Kolonien zurück.
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sogar Zeit und Raum in Unordnung geraten.¹⁶ In Johann Peter Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ (Hebel 1996) ist es zwar keine Höhle, sondern ein Stollen, in dem sich nach fünfzig Jahren die gut konservierte Leiche eines jungen Bergmannes wieder findet, aber auch dort gerät die Zeit in Unordnung bzw. sie wird in eine Art höhere, transzendente Ordnung versetzt mit Hilfe des Abstiegs in die tiefen Schichten der Erde. Am Tag seiner Hochzeit verschollen, hat ihm seine Braut die Treue gehalten: Ihre Liebe hat alle großen Ereignisse der Weltgeschichte um 1800 überdauert. Seine – christusähnliche – Wiederauferstehung bedeutet ihren nahen Tod. Die Überlagerung von Zeit-, Lebens-, Gesteins- und Erzählschichten verweist auf einen Ort in der Tiefe, wo die Zeit stillsteht und sich Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit nicht unterscheiden lassen. Die Tiefe der Höhle als Verwandlung von Raum in Zeit und umgekehrt, manifestiert sich oft als Zugang zu einer anderen historischen Zeit: Dies findet sich überall dort, wo die Idee einer linearen Zeit, einer teleologischen, homogenen Geschichte angezweifelt oder zumindest zeitweise suspendiert wird. Wenn die alten Zeiten, wie Gesteinsschichten, das Fundament des Sichtbaren und Aktuellen bilden, dann ist Vergangenheit nicht vergangen, sondern gewissermaßen als Sediment und Fundament der Gegenwart präsent. Diese Reflexionsfigur, die sich – harmlos anmutend in Geschichten von verkleideten Göttern und Liebeshöhlen verpackt – bei Heinrich Heine in unterschiedlichen Variationen finden lässt, ist repräsentativ für ein Konzept von Tiefe, das Zeit und Raum verschränkt. Heinrich Heine liefert mit seinen Essays über „Elementargeister“ und „Götter im Exil“ oder seinem Tanzpoem „Die Göttin Diana“ eine ganze Serie von Texten, die jeweils einem ähnlichen Muster folgen: Immer finden sich die alten Götter der Griechen an verborgenen Wohnstätten, in Grotten, in Höhlen und auf entlegenen Inseln der modernen Welt, oft sind sie verkleidet oder anders unkenntlich gemacht (Heine 1987a, 36 – 46; vgl. Heine 1979b; dazu Fohrmann 1999). Sie wurden vertrieben, verfolgt und bedroht von christlichen Lehren und Institutionen, verantwortlich für ihre erzwungene Emigration ist der „trübsinnige, magere, sinnenfeindliche übergeistige Judäismus der Nazarener“ (Heine 1987a, 47). Die griechischen Götter – so wie übrigens auch die armen Zwerge, Elfen und Luftgeister der germanischen Mythologie – haben sich zurückgezogen ins Erdinnere oder auf verwunschene Waldeslichtungen (Kimmich 2002). Heine geht es vor allem um die strukturellen Ähnlichkeiten, die sich in den Geschichten von Zwergen und Elfen, Venusbergen und Liebesgrotten erkennen
Höhlen können aber daher auch Zugänge zu anderen Welten sein, sogar zu anderen Zeiten: In Jules Vernes Voyage au centre de la terre (1864) und Lewis Carolls Alice’s Adventures in Wonderland (1865) finden sich solche Höhlen.
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lassen. Er identifiziert und lokalisiert ein verdrängtes Imaginäres im Sinne eines ästhetisch Unbewussten, das sich aus den Wissensbeständen, aus den Motiven, Mythen und der Lebenslust vorchristlicher Kultur speist. Die Sehnsucht nach der Schönheit einer sinnlichen Antike sucht sich ihre Nischen und Höhlen. Aus den Katakomben des kulturellen Unbewußten (Žižek 1993, bes. 58 – 59) lassen sich Geschichten und Gedichte formen, aber eine Rückkehr in diese Zeiten oder an diese Orte kann es für Heine allerdings, anders als für programmatische Romantiker wie Tieck, Eichendorff oder Novalis, nicht geben (Heine 1979b, 130 – 131, 242; vgl. Heine 1979a, 14– 15, 31, 43 – 44). Die Niemandsländer, an denen sich die griechischen Götter und die alten Elementargeister aufhalten, sind bei Heine deshalb gerade keine Räume für rückwärtsgewandte Utopien (Heine 1994, 248; Heine 1987a, 47– 48), keine realen Gegenwelten, denn wer für immer dort leben wollte, müsste wie Tannhäuser Abschied nehmen von der prosaischen Welt – insbesondere Deutschlands – und sich für immer in die Höhle des Venusbergs begeben,¹⁷ und dies ist – so scheint es – doch eine eher ambivalente Geschichte. Die Geschichte vom reuigen Sünder Tannhäuser wurde als Volksballade bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein mündlich und schriftlich tradiert, bekannt sind neben der Oper von Richard Wagner vor allem die Versionen aus Des Knaben Wunderhorn und aus den Volksmärchen der Brüder Grimm. Sie hat Heine nicht umsonst fasziniert, denn sie lässt sich so variieren, dass sie als ein Kommentar zur romantischen Tiefen- und Höhlensehnsucht lesbar wird. Seine Ballade erzählt – wie andere auch – vom guten Ritter, der im Venusberg landet, dort sieben Jahre verbringt, dann einen reuigen Gang nach Rom unternimmt und um Vergebung seiner Sünden bittet. Die Schilderung seiner Sünden gerät Tannhäuser in Heines Ballade allerdings unwillkürlich und vor den Ohren des Papstes zu einer hinreißenden, lustvollen Liebeserklärung an Venus, sodass der Papst nicht umhinkann, ihm die Vergebung zu versagen. Die Rückreise durch ein ärmliches Deutschland wird zur Satire biedermeierlicher Unkultur. Mit dem Reisebericht amüsiert er nach der Heimkehr seine Frau Venus – allerdings erst, nachdem ihm diese eine Suppe gekocht hat, um die Kälte der deutschen Landschaften aus den Gliedern zu vertreiben. In der gemütlichen Höhle steht die Zeit still, es ist nicht kalt und das Essen ist gut, aber man möchte doch nicht unbedingt tauschen mit Tannhäuser, denn offenbar wird es langweilig werden mit der vielen Suppe – und am Ende auch mit der Liebe.
Heine 1987b; Heine 1987a, 51– 52. Vgl. Winkler 1995; zum Tannhäuser-Motiv Huber 1990; zu Heines Mythologie allgemein Holub 1991; Küppers 1994.
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Heines Ballade macht unmissverständlich klar, dass es nicht um die Rückkehr in alte Zeiten gehen kann, sondern vielmehr die produktive und oft verstörende Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart das eigentliche Anliegen ist. Tiefe – die konkrete Liebesgrotte, aber auch die Tiefe der Gefühle – ist kein Ort des dauernden Aufenthaltes bzw. kein andauernder Zustand, sondern vielmehr die notwendige Bedingung, um die Gegenwart der Geschichte zu verstehen und nicht sentimental zu werden, sondern Gefühlen auch ironisch zu begegnen. Gegenwart und Vergangenheit, Sentiment und Ironie koexistieren auf eine diffuse und instabile Weise, und der Ort dieser Koexistenz lässt sich nicht fixieren; wer dies versucht, endet wie der arme Tannhäuser als ewiger Spießer in der häuslichen Höhlen-Hölle. Der lustvolle Selbstverlust von Herakles in Frauenkleidern und die gemütliche Selbstaufgabe von Heines Tannhäuser bei der dampfenden Suppe kennt auch eine radikale Variante: Robert Musil lässt den Protagonisten seiner Novelle „Grigia“, der nicht zufällig „Homo“ genannt wird, in einer Liebeshöhle enden, die zur Grabhöhle wird. Der durchaus genussvolle Verlust des Ich geht dann – fast unmerklich – in das totale Ende, in den Tod über. Homo geht als Geologe mit einer wissenschaftlichen, aber wenig überzeugend organisierten Expedition nach Tirol, um dort in alten, aufgelassenen Stollen Gold zu finden. Das abgelegene Tal wird beschrieben wie ein Niemandsland am Ende der Welt und am Rande der Weltgeschichte. Die Anreise in das abgelegene Grenzland zwischen Österreich und Italien ist schwierig, die Sprache und die Bräuche der Bewohner bleiben unverständlich. Die ganze Unternehmung scheitert letztlich und Homo beginnt stattdessen mit einer der – verheirateten – Bäuerinnen im Tal eine Affäre. Die Männer der Bäuerinnen sind offenbar alle als Gastarbeiter unterwegs. Als der Ehemann von Grigia allerdings heimkehrt, belauert er die beiden in einem der alten Stollen, verschließt diesen dann mit einem schweren Felsbrocken und verschwindet. Grigia, die den größeren Überlebenswillen hat, findet schließlich einen Spalt, durch den sie entwischt. Musils Homo dagegen ist kein homerischer ‚Nemo‘: Er bleibt im Höhlengrab und stirbt. Das Tal, in dem alles spielt, wird als schwer zugänglich beschrieben: Menschen und Gebäude, Landwirtschaft und Gebräuche wirken seltsam zurückgeblieben und aus der Zeit gefallen; fast handelt es sich auch hier um eine der märchenhaften Zeitreisen in die Tiefe dieses Tals. Aber nicht das abgeschiedene Tal, sondern im Tal auch noch die alten Gold-Stollen sind das Ziel der Expedition: Mit diesem Hinweis auf die romantischen Unterwelten mit all ihren Schätzen und Gefahren, ihren psychologischen bzw. poetologischen Funktionen transportiert die Novelle gleichsam „unterirdisch“ eine geologische und ästhetische Tiefenschicht mit, die eine spannungsreiche Latenz zur modernen Lebenswelt und zur Textoberfläche markiert, denn die Ingenieure und Geologen sind eben nicht nur
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Wiedergänger einer ebenso romantischen wie vergeblichen Suche nach dem Gold in der Tiefe, sondern auch moderne Wissenschaftler und Techniker, die mit Material und Geld, Technik und Autorität wie Kolonisatoren in das Tal eindringen, die Einheimischen ausnutzen und mit den Frauen schlafen. Auf diesem quasi-kolonialen Gestus insistiert der Text sehr ostentativ: Das Gebiet scheint eine Art Niemandsland zu sein, das man okkupieren und ausbeuten kann, wie es die Kolonialmächte seit eh und je getan haben (Damler 2008; vgl. Boer 2006; Asche und Niggemann 2015; Kempe und Suter 2015). Romantische Sehnsucht und kolonialistischer Eroberungsgestus kommentieren sich gegenseitig. Beides führt in die Tiefen der Erde. Die Tiefen menschlicher Gefühle dagegen, denen sich Homo widmet, findet er in einer fast sprachlosen, auf animalische Ursprünglichkeit deutenden Begegnung mit Grigia – er nennt sie Grigia, nach dem Namen ihrer Kuh –, die gleichfalls ebenso romantischen wie kolonialen, männlich dominanten Charakter hat. Die Begegnungen zwischen Homo und Grigia sind stumm, sie scheinen sich zu verständigen, ohne sich zu verstehen, und das Ende im Stollen, das offenlässt, ob der vor die Öffnung gerollte Stein – eine Art Kontrafaktur der Wiederauferstehung Christi und zugleich ein Kommentar zum listigen „Outis“ – tatsächlich unüberwindlich ist, überlässt Homo und den Leser einem Schwebezustand zwischen Handeln und Aufgeben, Wissen und Nichtwissen, Leben und Tod. Die Expedition ins Fersental verbindet (quasi)-kolonialen Eroberungsgestus und romantische Tiefensehnsucht mit der Inszenierung eines ambivalenten Möglichkeitsraums der Tiefe, in dem die Lust am Selbstverlust verortet wird. Es ist ein Raum der Unentschiedenheit bzw. Ungeschiedenheit von Mensch und Tier, Natur und Kultur, fremd und zugehörig, fern und nah, tot und lebendig. Die Tiefe entwickelt einen gefährlichen Sog, in dem Tod und Erlösung ununterscheidbar werden.
5 Schluss Georg Simmel hat 1909 eine kleine Studie zu einem Verhalten veröffentlicht, das er etwas altmodisch als „Koketterie“ bezeichnet, das aber letztlich eine viel weiterreichende Beschreibung menschlichen Verhaltens adressiert.¹⁸ Es sei ein „Spiel zwischen Ja und Nein“ (Simmel 2001, 39 – 40), das Verharren im „Sowohl-
Erstmals erschienen in Der Tag. Moderne illustrierte Zeitung Nr. 344 (Morgenblatt vom 11. Mai 1909, Illustrierter Teil Nr. 109, 1– 3) und Nr. 347 (Morgenblatt vom 12. Mai 1909, Illustrierter Teil Nr. 110, 1– 3), zit. n. Simmel 2001.
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als-Auch“, im Zustand des Vielleicht, des Vorläufigen und des Schwankens: „Es ist die Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Lust macht.“ (Simmel 2001, 49). Aus leichtsinnigem Spiel kann existentieller Ernst werden: Im berühmten vierten Kapitel von Musils Mann ohne Eigenschaften findet sich Simmels kokette Unentschiedenheit als Lebensphilosophie: „Möglichkeitsmenschen leben […] in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven.“ Ein solcher Mensch sei „keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit […]“, denn eine solche Disposition bedeute für den einzelnen Menschen „sowohl eine Schwäche wie eine Kraft“ und er könne „sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommen“ (Musil 1979, 16 – 18). In Musils Novelle „Grigia“ wird die Tiefe des Tals und der Stollen gestaltet als ein Niemandsland der „Einbildungen“, „Träumereien“, des „Dunstes“, in dem der Mann ohne Eigenschaften erscheint: irgendwo zwischen Holozän und Anthropozän (Frisch 1979; vgl. Braungart 2007). Abgeschlossen von der wirklichen Welt und vom wirklichem Leben bieten das Tal und seine alten Stollen den Raum und die Möglichkeit für ein alternatives Verhalten, das letztlich eigentlich gar keines mehr ist: Keine Eigenschaften haben, nicht urteilen, nicht entscheiden, nicht verstehen, nicht oder kaum handeln. Homo ist kein listiger Nemo wie Odysseus und auch kein lustiger Tannhäuser, sondern ein Jemand als Niemand. Das Niemandsland der Tiefe ist gewissermaßen die als Raum ausbuchstabierte Einklammerung des Lebens, die letztlich die dem Menschen eigentlich nicht zugängliche phänomenale Vielschichtigkeit der Wirklichkeit erahnen lässt, was dieser allerdings mit dem Tod bezahlt. Musils Novelle erzählt jedoch nicht nur die Geschichte von einem Homo mit Möglichkeitssinn und ohne Eigenschaften, sondern auch und zugleich diejenige von Menschen mit „Wirklichkeitssinn“: Die Geologen reisen ab, als sie sehen, dass im Fersental nichts zu gewinnen ist und die Stollen leer sind. Dem Text gelingt es, die doppelte Geschichte der Höhle als gefährliches Niemandsland und zugleich als Möglichkeitsraum lesbar zu machen. Es geht immer um die Tiefe und die Untiefe der Höhle zugleich.
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Monika Mokre
„Alle Wissenschaft wäre überflüssig…“. Zu Marx’ Tiefe „[…] alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“ (Marx 1983 [1894], 825)
1 Einleitung Der 200. Geburtstag von Karl Marx 2018 bot die Gelegenheit, verzweifelte Bemühungen von Nicht- oder gar Anti-Marxist_innen zu beobachten, Marx zu ehren, ohne sich mit seinem Anspruch auf radikale Gesellschaftsveränderung und seiner fundamentalen Kritik des Kapitalismus auseinanderzusetzen. Die Vielfalt und zumindest oberflächliche Widersprüchlichkeit des Werks von Marx erleichtert diese Bemühungen – der politische Philosoph Marx wird gegen den Ökonomen Marx ausgespielt oder auch (historisch eher problematisch) der junge Marx gegen den alten Marx. Anders formuliert: Der Marx der großen Ideen wird geehrt, der Marx, der die Welt nicht interpretieren, sondern verändern wollte, wird belächelt. Diese Verrenkungen, die absehbar mit dem Marx-Jahr ihr Ende fanden, können sich auf durchaus ernster zu nehmende postmarxistische und poststrukturalistische Rezeptionen berufen, die Marx und späteren Theoretiker_innen der marxistischen Schule spezifische Formen des Essentialismus vorwerfen, insbesondere Ökonomismus und die Privilegierung des Klassenkonflikts mit dem damit einhergehenden absoluten Primat des Proletariats, die Revolution zur universellen Befreiung der Menschheit durchzuführen. Gerade dieser ‚Essentialismus‘ ermöglicht es dem Marxismus allerdings, die Geschichte der Menschheit als Geschichte von Widersprüchen zwischen Produktionskräften und Produktionsverhältnissen und von Klassenkämpfen zu beschreiben und Ideologiekritik im Sinne der Kritik von ‚falschem Bewusstsein‘ zu betreiben. Der hier vorgeschlagene Beitrag bemüht sich um eine Dekonstruktion dieser diskurstheoretischen Aneignung von Marx und um eine bestimmte Rekonstruktion der Tiefe bei Marx. Tiefe wird in dem Sinne verstanden, dass es unter dem hegemonialen Diskurs über den Warentausch am ‚freien Markt‘ treibende Kräfte der kapitalistischen und damit auch der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung gibt, die sich in der Sphäre der Produktionsverhältnisse verorten lassen.
https://doi.org/10.1515/9783110634730-012
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Diese Rekonstruktion geschieht unter der Prämisse, dass die epistemologischen Zweifel des Postmarxismus an der Marxʼschen Methode ernst zu nehmen sind und dass sich das Tiefenkonzept der Marxʼschen Theorie aus einer (post‐) marxistischen Lektüre des poststrukturalistischen Verständnisses entwickeln lässt, die letzteres zum Teil ‚gegen den Strich‘ liest. Das Kernargument lautet, dass die kontingente Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikaten einer historisch präzisen Analyse bedarf, um Hegemonialität nicht nur zu konstatieren, sondern zu analysieren und ihr plausible gegenhegemoniale Diskurse und Handlungen entgegenzustellen. Der Text nimmt seinen Ausgangspunkt bei der postmarxistischen Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und stellt die Frage, wie eine diskurstheoretische Analyse sich dem Problem von Signifikaten nähern kann, die im Diskurs nicht direkt abgebildet werden können. Es fragt sich also, ob es möglich ist, sich dem Bereich in der Tiefe unter der diskursiven Oberfläche zu nähern. Dies wird anhand der Klassenfrage tentativ abgehandelt. In einem weiteren Schritt wird der hegemoniale Diskurs der freien Marktwirtschaft unter ähnlichen Prämissen in den Blick genommen. Marx widersprach bekanntlich der Theorie von Adam Smith, dass der Markt einerseits quasi naturwüchsig und andererseits das zentrale Merkmal des Kapitalismus sei, und er verortete die Spezifika jeglichen Wirtschaftssystems in den Produktionsverhältnissen. Diese dekonstruktive Analyse des Kapitalismus baut wesentlich auf der Frage des Werts auf, die auf der Grundlage von Marx und Spivak diskutiert wird. Im Sinne eines umfassenderen marxistischen Verständnisses der (Un‐)Tiefen des kapitalistischen Systems als ökonomischer und Begehrensordnung und der damit verknüpften (un‐)möglichen Alternativen wird in einem letzten Schritt auf Modelle der Ideologiekritik bei Marx, Althusser und Lacan eingegangen. In allen drei Teilen des Beitrags spielen die Überlegungen von Slavoj Žižek zu Marxismus und Postmarxismus eine zentrale Rolle.
2 Signifikanten und Signifikate Wie alle Begriffe, die mit „Post-“ beginnen, ist auch der Post-Marxismus ungenau und häufig unterschiedlich definiert; daher bleibt auch unklar, welche Theoretiker_innen dieser Richtung zuzurechnen sind. Allerdings besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (vgl. insbesondere Laclau und Mouffe 2015) Vertreter_innen dieser Richtung sind – nach anderer Lesart sind sie gar ihre einzigen Vertreter_innen. Im Vorwort der Herausgeber der fünften deutschsprachigen Ausgabe von Hegemonie und radikale Demokratie heißt es dazu:
„Alle Wissenschaft wäre überflüssig…“. Zu Marx’ Tiefe
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Die „Reinigung“ der marxistischen Tradition von den ihn seit Marx entscheidend prägenden Ambiguitäten ist Teil eines umfassenderen politischen und intellektuellen Projektes. Der Akt der Konstitution dieses „Post-Marxismus“ ist der der Auf-/Nachzeichnung seiner Genealogie – die Geschichte eines „Präsenten“ konstruierend, nicht eine vermeintlich objektive Geschichte der Genesis aus den komplexen Diskursen einschließlich derjenigen marxistischen Tradition, die ihn nach und nach reifen ließen. Weit entfernt, den Marxismus einfach zu verwerfen, geht es Laclau/Mouffe darum, ihm seine Gegenwart und seine „Historizität“ zurückzugeben. (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 16)
Es erscheint ein wenig fraglich, ob Laclau/Mouffe dem Marxismus die Historizität tatsächlich „zurück“-geben, ob er sie in dieser Form also je hatte. Zwar hat Marx die Ahistorizität der Arbeitswertlehre von Smith und Ricardo kritisiert und diese geschichtlich klar im Kapitalismus verortet (vgl. insbesondere Marx 1999 [1857– 1858]), doch andererseits ist einer Aussage wie „Die Geschichte aller Gesellschaft ist eine Geschichte von Klassenkämpfen“ (Marx und Engels 1959 [1847– 1848], 462) eine gewisse Ahistorizität nicht abzusprechen. Dies erscheint hier allerdings von geringer Bedeutung, denn es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, einem ahistorischen Wahrheitsanspruch des Marxismus das Wort zu reden. Vielmehr geht es genau um die „Geschichte des ‚Präsenten‘“ des Marxismus bzw. um seine präsente, gegenwärtige Relevanz. Da nun aber der Marxismus – aufgrund seiner doch sehr langen Geschichte und Historizität – sehr unterschiedliche Ausprägungen hervorgebracht hat, geht es genauer um das Werk von Marx und Engels in seiner originalen Form und in der Interpretation von Theoretiker_innen, die sich um möglichste Nähe zu diesen Schriften bemühen. Dieser Zugang unterscheidet sich von dem von Laclau/Mouffe, die etwa in Bezug auf den behaupteten ökonomischen Determinismus des Marxismus auf unterschiedliche politische Interpretationen und Umsetzungen rekurrieren, ohne je auf die Schriften von Marx und Engels zurückzugreifen (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 109 – 123). Es geht indes im Folgenden auch nicht um eine Zurückweisung der epistemologischen Grundlagen des Denkens von Laclau/Mouffe zugunsten eines – wie auch immer definierten – ‚klassischen Marxismus‘. Eine solche wäre durch einen einfachen Rückzug auf den historischen Materialismus sehr einfach zu leisten, wie ja auch die Kritik an Laclau/Mouffe und anderen Poststrukturalist_innen durch eher orthodoxe Marxist_innen zeigt. Vielmehr steht die Frage im Mittelpunkt, wie und bis zu welchem Grad sich eine poststrukturalistische und postmarxistische Perspektive mit der ‚Tiefe‘ von Marx vereinen lassen. Diese ‚Tiefe‘ wird hier als das verstanden, was das für den Titel gewählte Marx-Zitat aussagt: Erscheinungsform und Wesen der Dinge fallen nicht zusammen. Dies wird auch von Laclau/Mouffe (2015) nicht bestritten, doch steht im Kern ihrer Theorie, dass nur das verstanden und interpretiert werden kann, was im Diskurs als Signifikantenkette erscheint. Hierbei verwenden Laclau/Mouffe einen
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weiten Diskursbegriff, der nicht nur Textuelles, sondern etwa auch Institutionen und Praktiken als so genannte ‚Momente‘ einschließt. Ein Diskurs entsteht durch die Verbindung solcher Momente in so genannten ‚Äquivalenzketten‘ durch einen Herrensignifikanten, der bei Laclau/Mouffe zumeist leerer Signifikant genannt wird, da er von konkreten Inhalten zu einem hohen Grad entleert sein muss, um möglichst lange Äquivalenzketten zu bilden. Die Momente des Diskurses sind äquivalent und nicht ident, dies bedeutet, dass sie auch different sind und aufgrund dieser Differenz Teil anderer Diskurse werden können. Dies ist eine Möglichkeit, den Kampf verschiedener Diskurse um Definitionsmacht bzw. Hegemonie in der von Gramsci entliehenen Diktion von Laclau/Mouffe zu beschreiben und zu analysieren. Doch erlaubt dieser Zugang nicht, einen Diskurs als wahr oder falsch zu beschreiben – Laclau/Mouffe beziehen sich des Öfteren skeptisch bis spöttisch auf einen Begriff von Ideologie als falschem Bewusstsein (vgl. etwa Laclau 2007, 10 – 13). Auf dieser Grundlage sind auch ethische Urteile schwierig – bis auf eine grundlegende und sehr relevante Ethik, die eben genau darin besteht, hegemoniale Strukturen, ihre Entstehungsgeschichten und Wirkungen aufzudecken. In den Worten von Derrida: „Dekonstruktion ist Gerechtigkeit“ (1991, 30). Um allerdings der Gerechtigkeit zu dienen, muss die Dekonstruktion konkret sein. Aus der rein strukturellen Beschreibung von Diskursen ohne historischkonkrete Verortung lassen sich eventuell Instrumente einer solchen Gerechtigkeit ableiten, nicht aber politisch-substanzielle Forderungen und Aktivitäten. Im Werk von Laclau/Mouffe lässt sich in Bezug auf ihre politische Positionierung eine quasi gegenläufige Bewegung bei den beiden Autor_innen erkennen: Während Laclau sich in seinem Frühwerk noch eher häufig auf konkrete Beispiele politischen Aktivismus, insbesondere aus Lateinamerika, bezieht (vgl. etwa Laclau 1990) und mit zunehmendem Alter immer abstrakter wird, geht Chantal Mouffe von der Theorie vermehrt in die politische Praxis, konkret etwa in Bezug auf die politische Beratung der populistischen Linken (siehe etwa Errejón und Mouffe 2016). Im Werk beider Autor_innen sind diese Beispiele politischer Praxis eher illustrativ bzw. kontingent mit der Theorie verbunden – nicht als konsequente Voraussetzung oder Folge der Theorie. Dies spricht weder gegen die Theorie noch gegen die Praxis der beiden Autor_innen. Vielmehr wäre eine bruchlose Anwendbarkeit politischer Theorie vermutlich als suspekt zu bezeichnen und die Annahme, dass marxistische Theorie direkt in Praxis umsetzbar ist, wird häufig und plausibel kritisiert. Bedenklicher erscheint hier schon, dass der Formalismus der Diskurstheorie von Laclau/Mouffe in der politischen Praxis wohl am besten dem Formalismus des liberalen Rechtsstaats entspricht, wie Pupovac (2006) ausführt. Dieser Rechtsstaat wird nach dem Konzept von Laclau/Mouffe im Sinne zunehmender Pluralität und Offenheit radikal demokratisiert. Dies geschieht durch Bewegungen, die sich auf den Universalismus der Demokratie beziehen.
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„Die Aufgabe der Linken kann deshalb nicht darin liegen, auf die liberal-demokratische Ideologie zu verzichten, sondern hat sie im Gegenteil in Richtung auf eine radikale und plurale Demokratie zu vertiefen und auszuweiten.“ (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 214) Damit reagieren Laclau/Mouffe auf die sozialen Bewegungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und kritisieren die dogmatische Linke, die diesen Bewegungen zu wenig – oder nur negative – Beachtung schenkte. All dies ist sowohl aufgrund der theoretischen Positionierung als auch des historischen Kontexts ihres Werks durchaus plausibel. Doch stellt sich die Frage, ob aufgrund dieser Diskurstheorie tatsächlich nur möglichst breite soziale Bewegungen als radikal demokratisch verstanden werden können und – vielleicht wichtiger – ob jede Analyse von Bewegungen tatsächlich auf der diskursiven Oberfläche verbleiben muss. Denn dies bedeutet im Konkreten oft, dass eine Bewegung dadurch ihre theoretische Bedeutung erlangt, dass sie existiert, das heißt, dass sie einen Diskurs schafft oder Teil eines Diskurses ist. Doch Laclau/Mouffe selbst reden in ihren theoretischen Ausführungen keinem plumpen Relativismus das Wort, sie sprechen auch nicht von einem unqualifizierten Pluralismus, sondern von „soziale[n] Logiken, die als solche ihre Bedeutung in präzisen konjunkturellen und relationalen Zusammenhängen erlangen“ (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 180). Auch in Bezug auf das Verhältnis von Signifikant und Signifikat sagen sie nicht, dass dieses Verhältnis nicht existiert, sondern dass es – im Unterschied zum von Notwendigkeit bestimmten Verhältnis zwischen Signifikanten – kontingent ist. Was kann dies nun für eine Analyse bedeuten, die Dekonstruktion zum Zweck der Gerechtigkeit einsetzt? Laclau/Mouffe verdeutlichen dies am Beispiel des ‚Menschen‘, der kein prädiskursives Wesen, sondern eine diskursiv konstruierte Subjektposition der Moderne ist. Laut Laclau/Mouffe lassen sich gerade aus diesem Verständnis neue Formen des Humanismus entwickeln, die „helfen, die Zerbrechlichkeit der ‚humanistischen‘ Werte selbst in den Griff zu bekommen, die Möglichkeit ihrer Ent-Stellung durch eine äquivalentielle Artikulation mit anderen Werten und ihrer Einschränkung auf bestimmte Kategorien der Bevölkerung“ (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 152). In ähnlicher und präziserer Form analysieren sie das Geschlechterverhältnis: Es ist deshalb möglich, die Idee eines ursprünglichen, für die Geschlechtertrennung konstitutiven Antagonismus zwischen Männern und Frauen zu kritisieren, ohne dabei bestreiten zu müssen, dass es in den unterschiedlichen Konstruktionsweisen von ‚Weiblichkeit‘ ein gemeinsames Element gibt, das stark überdeterminierende Effekte hinsichtlich der Geschlechter-Trennung hat. (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 153)
Interessanterweise analysieren Laclau/Mouffe die Behauptung des Klassenkampfs bzw. der universellen Bedeutung der Arbeiter_innenklasse nicht in ähn-
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licher Weise (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 154– 157). Hier arbeiten sie sich in einem ersten Schritt an dem (marxistisch wohlbekannten) Unterschied von Klasse an sich und Klasse für sich ab, wobei sie diesen in die poststrukturalistische Diktion von Subjektpositionen gießen: Aus der Subjektposition als Proletariat im ökonomischen Prozess ergibt sich keine Notwendigkeit, dass das Proletariat auch im politischen Kontext eine Subjektposition der Arbeiter_innenklasse einnimmt. Des Weiteren wird (ebenso wie von vielen Marxist_innen und Neo-Marxist_innen) die Idee der Partei als Avantgarde des Proletariats kritisiert, wobei diese Überlegungen zu einer durchaus interessanten Analyse der Funktion der Avantgardepartei als Repräsentantin der historischen Interessen der Arbeiter_innenklasse (und nicht konkreter Agent_innen) führen. Diese historischen Interessen werden als artikulatorische Praxis verstanden, die einen hegemonialen Diskurs produzieren will – was, wenig überraschenderweise, gelingen kann oder auch nicht. Aus dieser Analyse des Klassenkampfs, die den Hauptüberlegungen ihrer Theorie folgt, schließen Laclau/Mouffe, dass nicht die Arbeiter_innen-Interessen die Kämpfe dominieren sollen, sondern dass diese sich äquivalent mit Frauen-, Migrant_innen-, Konsument_innen-Interessen artikulieren sollen (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 222). Damit lehnen Laclau/Mouffe in der Theorie wie auch in der politischen Praxis eine Privilegierung der Ökonomie als Ort oder Ursprung des politischen Kampfes ab; genauer gesagt wenden sie sich – durchaus plausibel – gegen jede Argumentation, die eine klare Trennung zwischen der Ökonomie und dem Politischen voraussetzt. Andererseits allerdings kommt die Ökonomie in ihren Überlegungen zum Politischen kaum vor. Insofern finden sich auch keine Überlegungen dazu, ob es in der Ökonomie – ähnlich wie in der Konstruktion des Geschlechterverhältnisses – ein überdeterminierendes Element gibt und ob dieses Element der Klassenkampf sein könnte. An zwei Stellen im Werk von Laclau/Mouffe finden sich direkte Bezüge zur Wirtschaftsform; diese erscheinen durchaus widersprüchlich. So schreiben sie in Hegemonie und radikale Demokratie: „Selbstverständlich beinhaltet jedes Projekt für eine radikale Demokratie eine sozialistische Dimension, da es notwendig ist, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abzuschaffen, die die Quelle zahlreicher Unterordnungsverhältnisse sind.“ (Laclau und Mouffe 2015 [1991], 216). Andererseits aber stellt Laclau einige Jahre später in seiner Diskussion mit Butler und Žižek die Frage: How is it possible to maintain a market economy which is compatible with a high degree of social control of the productive process? What restructuration of the liberal democratic institutions is necessary so that democratic control becomes effective, and does not degenerate into regulation by an all-powerful bureaucracy? How should democratization be conceived so that it makes possible global political effects which are, however, compatible with the social and cultural pluralism existing in a given society? (Laclau 2000, 293)
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Hier geht es also eindeutig nicht um die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, sondern vielleicht eher um etwas Ähnliches wie soziale Marktwirtschaft. In Bezug auf unterschiedliche Differenzen und politische Kämpfe gehen Laclau/Mouffe davon aus, dass diese einander überdeterminieren und es keine privilegierten Subjektpositionen oder gar Agent_innen gibt (2015 [1991], 220). Hingegen sieht Žižek (2000a, 320) eine Überdeterminierung gesellschaftlicher Konflikte durch den Klassenkonflikt und schließt sich damit Lukács an, für den die Klassen- und Waren-Struktur des Kapitalismus die gesellschaftliche Totalität überdeterminieren (Žižek 2000b, 96). Der Begriff der Überdeterminierung hat eine lange Geschichte, in der er in unterschiedlicher Form definiert wurde. Er geht zurück auf Freud und bedeutet bei diesem, dass ein Phänomen auf mehrere Ursachen zurückgeht. Konkret spricht Freud davon, dass der Inhalt eines Traums sich nicht auf ein Erlebnis zurückführen lässt, sondern mehrere Ereignisse in einer eigenen Sprache verbindet (Freud 1972 [1900], 239). Althusser überträgt diese Überlegung auf den Bereich des Politischen und sieht die Revolution durch zahlreiche soziale Kräfte überdeterminiert (2011 [1968], 105 – 144). Freuds Überlegung wurde auch von Jacques Lacan weitergeführt, und zwar mit der These, dass das entscheidende Element eines Traums, das dessen Sprache zusammenhält, genau jenes Element ist, das im Traum eine Leerstelle bildet und sich (in der Diktion von Lacan) der Symbolisierung entzieht, weil es dem Bereich des Realen angehört (Žižek 1991, 202). Hier setzt nun Žižek ein, wenn er die Überdeterminierung gesellschaftlicher Konflikte durch den Klassenkonflikt genau daran festmacht, dass dieser Konflikt im gesellschaftlichen Diskurs eine Leerstelle bildet, ausgeklammert wird. Zwar wird Klasse in der Triade gender, race, class häufig genannt, dann aber nicht weiter beachtet (Žižek 2000b, 96). Žižek (1991, 45 und 124) wie auch Spivak (1985) weisen darauf hin, dass sich in den Überlegungen von Marx zur kapitalistischen Ökonomie zwei weitere Formen der Überdeterminierung finden – die Produktionsweise und der Tauschwert (darauf wird im nächsten Kapitel eingegangen). Dieses Verständnis der Überdeterminierung lässt sich mit einem Merkmal von Hegemonie verbinden, das insbesondere in der feministischen Debatte eine Rolle spielt: Es ist der Umstand nämlich, dass die wirkmächtigsten Formen von Machtausübung und Ausschluss unsichtbar bleiben, da sie als selbstverständlich und universell angenommen werden. Der weiße Mann ist die universelle Verkörperung des Menschlichen, die weiße Frau die universelle Verkörperung von Weiblichkeit (vgl. etwa Ludwig 2013). Ebenso kann der Kapitalismus und mit ihm der Gegensatz zwischen den Klassen als allgemeine Grundlage gesellschaftlicher Struktur und individueller Subjektivierung verstanden werden, als „the only game
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in town“ (Žižek 2000b, 95), und sich in dieser Form der Symbolisierung entziehen und zur Leerstelle werden. Hier stellt sich nun allerdings die Frage, ob eine solche Analyse der Klassenverhältnisse tatsächlich mit der Diskurstheorie von Laclau/Mouffe vereinbar ist. Betrachten wir etwa zeitgenössische Diskurse zu Differenz, Diskriminierung und Ausgrenzung, so spielen offensichtlich race und gender eine viel prominentere Rolle als class – worauf ja auch Žižek hinweist. Die bloße Behauptung einer Überdeterminierung durch eine Differenz, die im Diskurs nicht aufscheint, kann mit Recht als Essentialisierung kritisiert werden. Doch wenn wir dem Argument folgen, dass Hegemonie wesentlich durch Unsichtbarkeit geschaffen wird, gilt es, auf epistemologischer Ebene eine Methode zu entwickeln, der zweierlei gelingt: Sie hat die Leerstellen des Diskurses, die diesen zusammenhalten, zu identifizieren, und sie muss auf ethischer Ebene diejenigen Faktoren benennen, die radikaler Demokratie, also pluraler Gleichfreiheit entgegenstehen. Dies bedeutet, dass (1) eine Neudefinition von Äquivalenzketten zu versuchen ist, und dass (2) die – zwar kontingente, aber doch präsente – Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikaten in konkreten Diskursen zu definieren ist. Mit und zugleich gegen Laclau/Mouffe soll hier in diesem Sinne eine Neudefinition hegemonialer Diskurse versucht werden. Laclau schreibt dazu: Wenn wir die Grenzen der Bezeichnung bezeichnen wollen […], steht uns dafür kein direkter Weg offen. Die einzige Möglichkeit besteht in der Subversion des Bezeichnungsprozesses selbst. Durch die Psychoanalyse wissen wir, wie etwas nicht Repräsentierbares – das Unbewußte – als Darstellungsmittel nur die Subversion des Bezeichnungsprozesses finden kann. […] Wenn jedoch alle Darstellungsmittel von Natur aus differentiell sind, dann ist eine solche Signifikation nur möglich, wenn die differentielle Natur der Bezeichnungseinheiten subvertiert wird, wenn die Signifikanten sich ihrer Verknüpfung mit einzelnen Signifikaten entleeren und die Rolle übernehmen, das reine Sein des Systems zu repräsentieren. […] Nur durch die Privilegierung der Äquivalenzdimension bis hin zu dem Punkt, an dem ihre differentielle Natur fast schon ganz getilgt ist – das heißt nur durch das Entleeren ihrer differentiellen Natur –, kann das System sich selbst als Totalität bezeichnen. (Laclau 2002, 66)
Versuchen wir an diesem Punkt ein Gedankenexperiment: Ist es möglich, dass ein Diskurs durch ein Signifikat stabilisiert wird, dem kein Signifikant im Diskurs entspricht, dass es also Diskurse gibt, die sich nicht (nur) rund um einen leeren Signifikanten bilden, sondern rund um ein unsichtbares Signifikat? Oder, noch einmal zugespitzt: Ist es möglich, dass so ein unsichtbares Signifikat zahlreiche Diskurse konstruiert und stabilisiert, die jeweils unterschiedliche leere Signifikanten aufweisen können? Die offensichtliche Antwort aus der Diskurstheorie würde wohl lauten, dass dies möglich, aber nicht beweisbar ist, und dass die These damit auf der Ebene einer (essentialisierenden) Behauptung verbleibt. Dieses Argument ließe sich
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übrigens auch gegen die Beschreibung der Subversion des Bezeichnungsprozesses in Bezug auf das Unbewusste verwenden, auf die Laclau rekurriert: Auf der Ebene des Diskurses lässt sich nicht nachweisen, dass es das Unbewusste überhaupt gibt – zumindest nicht in einem vereinzelten Diskurs. Allerdings lassen sich strukturelle Merkmale in unterschiedlichen Diskursen finden, die dafür sprechen, dass es das Unbewusste gibt und dass es genau in dieser Form operiert. Unter der Annahme, dass es das Unbewusste gibt, hat Sigmund Freud seine Artikulationsformen in zahlreichen Patient_innengesprächen analysiert und ihre Gemeinsamkeiten identifiziert. Ebenso wie Marx ist er also davon ausgegangen, dass die Erscheinungsform der Dinge nicht mit ihrem Wesen zusammenfällt. Auf diesem Umweg und unter der Bedingung einer Vorannahme kann auch mit der These umgegangen werden, dass zahlreiche hegemoniale Diskurse durch ein unsichtbares Signifikat – wie etwa den Kapitalismus und den Klassenkonflikt – konstruiert und stabilisiert werden. Dazu wäre eine konkrete Analyse nötig, die an diesem Punkt nicht geleistet werden kann. Beispielhaft lässt sich aber eine solche Analyse konstruieren. Würde man zum Beispiel eine Analyse zeitgenössischer Diskurse zu Migration und Flucht unter dieser Prämisse beginnen, so könnte sich zeigen, dass sich eine Mehrzahl der Argumente für oder gegen Migrant_innen auf Fragen der Integration in das Wirtschaftssystem beziehen. So definiert sich der weitgehend leere Signifikant ‚Integration‘ genau über das Ökonomische, auch wenn es etwa darum geht, dass Frauen sich an hiesige ‚Werte‘ anpassen sollen, um dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Andererseits könnte in einer solchen Diskursanalyse auch deutlich werden, dass Migrant_innen und Geflüchtete, die als besonders ‚problematisch‘ eingestuft werden, der Klasse des Proletariats angehören. Rassismus ist zweifellos ein weit verbreitetes Phänomen, doch er trifft Diplomat_innen und Konzernchef_innen in weitaus geringerem Maße als Hilfsarbeiter_innen oder Beschäftigungslose (vgl. dazu auch Žižek 2000b, 95 – 99). Lassen sich also unter den zahlreichen Diskriminierungsformen zeitgenössischer Gesellschaften (Un‐)Tiefen ökonomischer Ausbeutung finden?
3 Marktbeziehungen und Produktionsverhältnisse Nun spielt das Wirtschaftssystem in hegemonialen Diskursen im globalen Norden ohnehin eine durchaus zentrale Rolle, nämlich in Form des leeren Signifikanten ‚freie Marktwirtschaft‘. Das Attribut ‚frei‘ bezieht sich darauf, dass der Markt möglichst frei von ‚Verzerrungen‘ durch staatliche Eingriffe sein sollte; zugleich
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aber weckt dieser Begriff zahlreiche andere positive Konnotationen, etwa in Hinblick auf Demokratie, die bekanntlich auf den Werten Freiheit, Gleichheit und Solidarität aufbaut. Und auch wenn die Gleichheit nicht genannt wird, so ist sie doch auch in der Vorstellung des freien Tauschs enthalten, in dem sich Produzent_innen und Konsument_innen gemäß der Regeln von Angebot und Nachfrage treffen und verständigen. Es ist deshalb auch nachvollziehbar, dass das ökonomische Prinzip der freien Marktwirtschaft oft in einem Atemzug mit dem politischen Prinzip der Demokratie genannt wird – wobei beide Prinzipien implizit oder explizit als allen anderen ökonomischen und politischen Formen der Strukturierung überlegen angesehen werden. Das Konzept der Solidarität fällt aus dieser gemeinsamen Struktur heraus – ein Problem, das in der politischen Theorie und Praxis auch häufig erwähnt wird, da dieselbe Person als Markt- und Staatsbürger_in unterschiedlichen Anforderungen genügen soll. Denn während die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen auch gegen die eigenen Interessen grundlegend von Solidarität abhängt, führt Adam Smith’ vielzitierte „unsichtbare Hand“ des Marktes zumindest der Theorie nach dazu, dass das individuelle Streben nach Eigennutz zu allgemeiner Wohlfahrt führt. „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe“, schreibt Adam Smith (1974 [1776], 17). Und nur im Kapitalismus lasse sich die Eigenliebe des Einzelnen in allgemeine Wohlfahrt transformieren. Dies ist in hohem Maße relevant, da der homo oeconomicus von seiner Eigenliebe getrieben ist, will man der neoklassischen Ökonomie glauben.¹ Und nicht nur der Eigennutz ist eine menschliche Konstante, sondern ebenso die Neigung zum Tausch. „Jene Eigenschaft ist allen Menschen gemeinsam, und man findet sie nirgends in der Tierwelt, […]. Niemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte […].“ (Smith 1974 [1776], 16) Und aus dieser Neigung zum Tausch leitet sich laut Adam Smith auch die Arbeitsteilung ab. „Wie das Verhandeln, Tauschen und Kaufen das Mittel ist, uns gegenseitig mit fast allen nützlichen Diensten, die wir brauchen, zu versorgen, so gibt die Neigung zum Tausch letztlich auch den Anstoß zur Arbeitsteilung.“ (Smith 1974 [1776], 59) Auch hier stellt sich nun die Frage, wie dieser hegemoniale Diskurs dekonstruiert werden kann. Dies ist selbstverständlich ein zentraler Punkt des Werks von Karl Marx. Er wendet sich gegen eine Beschreibung des Kapitalismus als
Adam Smith hatte übrigens ein deutlich differenzierteres Menschenbild, wie sich insbesondere in seinem zweiten Hauptwerk, der Theorie der ethischen Gefühle von 1759 zeigt.
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schon immer im menschlichen Streben angelegt und als in erster Linie auf dem Markt beruhend. Z. B. werden die Produkte von den Produzenten nur als Gebrauchswerte produziert, so wird der Gebrauchswert nicht zur Ware. Es setzt dies historisch bestimmte Verhältnisse unter den Mitgliedern der Gesellschaft voraus. Hätten wir nun weiter die Frage verfolgt: Unter welchen Umständen werden die Produkte allgemein als Waren produziert oder unter welchen Bedingungen erscheint das Dasein des Produkts als Ware als allgemeine und notwendige Form aller Produkte, so hätte sich gefunden, dass dies nur auf Grundlage einer ganz bestimmten historischen Produktionsweise, der kapitalistischen, stattfindet. (Marx 1990 [1861– 1863], 35)
Marx stimmt also mit Smith überein, dass der Tausch zentral für den Kapitalismus ist. Aber er leitet daraus weder ab, dass der Kapitalismus als System der Natur des Menschen am besten entspricht, noch, dass der Markt das bestimmende Kriterium des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist. Ebenso wie Smith ist er aber der Meinung, dass Reichtum durch menschliche Arbeit geschaffen wird – und genau deshalb steht die Produktion im Zentrum jedes Wirtschaftssystems. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft wird durch die Form, in der Reichtum geschaffen wird, also die Produktionsform bestimmt: In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen, und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen, Rang und Einfluß anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. Es ist ein besondrer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstehenden Daseins bestimmt. (Marx 1971 [1857], 637)
In der Reihe Produktion-Verteilung-Tausch-Konsumption ist die Produktion also überdeterminiert. Sie verkörpert das universelle Strukturprinzip der Totalität und ist zugleich ein spezifisches Element dieser Totalität (Žižek 1991, 45). Die Produktionsweise einer Gesellschaft beruht auf Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, wobei erstere alle Teile des Produktionsprozesses umfassen, zweitere die Verhältnisse von Menschen in diesem Produktionsprozess, also in erster Linie Eigentumsverhältnisse. Diese Eigentumsverhältnisse sind laut Marx in allen bisherigen Gesellschaftsformen ungleich verteilt (außer in einer angenommenen Urgesellschaft, in der die Produktivkräfte nur für Subsistenz ausreichten und daher kein Eigentum geschaffen wurde). Eben diese Ungleichheit macht Ausbeutung möglich. Das Spezifikum des Kapitalismus ist es, dass Ausbeutung durch das Eigentum an Produktionsmitteln ermöglicht wird (Marx 1971 [1857], 7), während die Ausbeutung in der Sklav_innenhalter_innengesellschaft auf dem Eigentum an Menschen, im Feudalsystem auf dem Eigentum an Grund und Boden beruht.
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Ausbeutung bedeutet die Aneignung des Produkts von Arbeitskraft ohne Gegenleistung. Im Kapitalismus wird Ausbeutung dadurch realisiert, dass den Arbeiter_innen so viel bezahlt wird, wie zum Erhalt ihrer Arbeitskraft nötig ist. Der Wert, den die Arbeiter_innen darüber hinaus produzieren, der Mehrwert, kommt den Eigentümer_innen der Produktionsmittel zugute. Die Eigentümer_innen der Produktionsmittel, die Kapitalist_innen, setzen also Geld (für Produktionsmittel und Arbeit) ein, um mehr Geld zu verdienen. Die produzierten Waren haben einen höheren Wert als das eingesetzte Kapital. Da diese Wertvermehrung aber durch Arbeit produziert wird, sieht Marx die Produktion und nicht den Warentausch als zentrales Merkmal der Ökonomie an. Mehrwert lässt sich in zwei Formen erhöhen, als relativer und absoluter Mehrwert. Relativer Mehrwert ergibt sich aus erhöhter Produktivität (die Zahl der zur Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Arbeitsstunden verringert sich), zumeist also aus verbesserter Technologie, und erfordert damit zusätzlichen Einsatz von Kapital. Absoluter Mehrwert ergibt sich aus einer höheren Ausbeutungsrate (die Zahl der gearbeiteten Stunden erhöht sich) und ist daher weniger kapitalintensiv und lohnender. Absoluter Mehrwert wird daher in erster Linie durch Ausbeutung des globalen Südens produziert (Spivak 1985, 84). Wert wird durch Arbeit erzeugt, die im Wert repräsentiert ist, der wiederum in der Form von Geld repräsentiert wird, das zu Kapital transformiert wird. Gemäß Spivaks Interpretation von Marx ergibt sich der Wert einer Ware aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeit, die zu ihrer Produktion nötig ist, abzüglich ihres Gebrauchswerts (Spivak 1985, 77). Die gesellschaftlich notwendige Arbeit wiederum ist die Arbeit, die durchschnittlich zur Produktion einer Ware aufgewendet werden muss. Die Produktionsverhältnisse stellen also hier eine Tiefendimension der freien Marktwirtschaft dar, die zumeist unsichtbar bleibt und deren Unsichtbarkeit den hegemonialen Diskurs stützt. Eine zweite verborgene Tiefendimension stellt das Verhältnis zwischen Tauschwert und Gebrauchswert dar. Marx spricht vom Gebrauchswert als der reellen Dimension des Werts und vom Tauschwert als der ideellen Dimension. Ohne Gebrauchswert für die Konsument_innen hat eine Ware keinen Tauschwert, da niemand sie kaufen will. Der Tauschwert ist also ein ‚Parasit‘ des Gebrauchswerts. Doch zugleich ist der Tauschwert die entscheidende Größe für den Wert einer Ware – ein Ding kann ein Gebrauchswert sein, ohne ein Wert zu sein. Der Gebrauchswert steht also sowohl innerhalb als auch außerhalb der Tauschbeziehung: Ohne Gebrauchswert kein Warentausch, aber zugleich kann der Gebrauchswert nicht aus der Arbeitswerttheorie abgeleitet werden. Der parasitäre Tauschwert bestimmt zugleich den Wert an sich; er ist jener Teil, der das Ganze definiert und insofern überdeterminiert ist (Spivak 1985, 80).
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In diesem System gibt es zwei Waren mit spezifischen Eigenschaften: die Ware Arbeitskraft und die Ware Geld. Die Ware Arbeitskraft unterscheidet sich von anderen Waren dadurch, dass sie Mehrwert produziert. Here the subject is predicated as structurally super-adequate to itself, definitively productive of surplus-labor over necessary labor. And because it is this necessary possibility of the subject’s definitive super-adequation that is the origin of capital as such, Marx makes the extraordinary suggestion that Capital consumes the use-value of labor power. (Spivak 1985, 79)
Im Unterschied zu anderen Waren können der Gebrauchswert von Arbeitskraft und seine Differenz zum Tauschwert klar bestimmt werden. Der Tauschwert der Ware Arbeitskraft ergibt sich aus den Mitteln, die zu ihrer Erhaltung nötig sind, und wird im Arbeitslohn repräsentiert. Der Gebrauchswert wird in dem verkörpert, was die Arbeiter_innen während der Zeit, für die Kapitalist_innen ihre Arbeitskraft gekauft haben, an Wert schaffen. Der Gebrauchswert lässt sich also aus dem Arbeitslohn (den notwendigen Mitteln zur Erhaltung der Arbeitskraft) und dem Mehrwert errechnen – und geht auf diese Weise tatsächlich letztendlich im Kapital auf. Bevor es so weit kommt, muss allerdings der Wert der produzierten Waren durch den Warentausch realisiert werden. Hierbei wird der Wert einer Ware in Form von anderen Waren ausgedrückt – 20 Ellen Leinwand sind so viel wert wie ein Rock oder zehn Pfund Tee (Marx 1982 [1890], 79). Damit diese Form des Tauschs verallgemeinert werden kann, bedarf es einer „allgemeinen Äquivalentform“, als die sich historisch Gold durchsetzte (Marx 1982 [1890], 83 – 84). Gold ist eine Ware mit einem Gebrauchswert, doch dieser Gebrauchswert steht seiner Nutzung als allgemeinem Tauschwert im Wege und verschwindet daher: Um als Geld zu funktionieren, muß das Gold natürlich an irgendeinem Punkt in den Warenmarkt eintreten. Dieser Punkt liegt an seiner Produktionsquelle […]. Aber von diesem Augenblick an stellt es beständig realisierte Warenpreise vor. Abgesehen vom Austausch des Golds mit Ware an seiner Produktionsquelle, ist das Gold in der Hand jedes Warenbesitzers die entäußerte Gestalt seiner veräußerten Ware […]. (Marx 1982 [1890], 123)
Spivak weist darauf hin, dass Geld im Warentausch ein „verschwindendes Moment“ darstellt, das nur den Tausch erleichtert, seine Rolle aber an dem Punkt ändert, an dem es zu Kapital wird (1985, 78). Im hegemonialen Diskurs über den Kapitalismus wird (1) die Frage der Produktionsverhältnisse verborgen, (2) werden diese Produktionsverhältnisse nicht als Ausbeutungsverhältnisse, sondern als spezifische Form des Warentauschs (Ware Arbeit gegen Ware Geld) beschrieben. Die Spezifika dieser beiden Waren werden dabei nicht weiter betrachtet. Ebenso wenig wird dem Unterschied zwi-
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schen Tauschwert und Gebrauchswert Beachtung gezollt, sondern davon ausgegangen, dass der Markt die Bedürfnisse der Konsument_innen erfüllt. Nun unterscheidet sich aber die Nachfrage von den Bedürfnissen der Konsument_innen, da sie ja von der Kaufkraft abhängt, also von den finanziellen Möglichkeiten der Konsument_innen, die sich für einen Großteil von ihnen aus ihrem Arbeitslohn ergeben.
4 Bedürfnisse, Begehren und Ideologie Allerdings lassen sich – im Unterschied zu Tauschwert und Nachfrage weder der Gebrauchswert noch die Bedürfnisse der Konsument_innen klar bestimmen. Hier kommen wir zu einem besonders schwierigen Teil der Überlegungen von Marx, nämlich seiner Ideologiekritik, die von der Frage der Bedürfnisse ausgeht. Zum Leben […] gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen am Leben zu erhalten. […] Das Zweite ist, dass das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt […]. (Marx und Engels 1969 [1845 – 1846], 28)
Marx und Engels unterscheiden also zwischen ersten Bedürfnissen oder Grundbedürfnissen und Bedürfnissen, die sich entwickeln, wenn die Grundbedürfnisse gestillt sind. Dies geschieht über die Entwicklung der Produktivkräfte, etwa im Kapitalismus, und wird von Marx durchaus positiv beurteilt: Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist […]. (Marx 1999 [1857– 1858], 231)
Marx kritisiert aber die Entwicklung von Bedürfnissen und ihrer Befriedigung im Kapitalismus aus zwei Perspektiven. Erstens führt der steigende gesellschaftliche Reichtum nicht zu mehr Reichtum für alle, sondern im Gegenteil zu „relativer Verelendung“:
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Das rasche Wachstum des produktiven Kapitals ruft ebenso rasches Wachstum des Reichtums, des Luxus, der gesellschaftlichen Bedürfnisse und der gesellschaftlichen Genüsse hervor. Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich mit den vermehrten Genüssen des Kapitalisten, die dem Arbeiter unzugänglich sind, im Vergleich mit dem Entwicklungsstand der Gesellschaft überhaupt. Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie daher an der Gesellschaft. (Marx 1959 [1849], 412)
Dem ist in Hinblick auf eine globalisierte kapitalistische Ökonomie hinzuzufügen, dass in großen Teilen der Welt nicht eine relative, sondern eine absolute Verelendung zu beobachten ist. Die Analyse von Marx beschränkt sich weitgehend auf Europa, doch seine Analyse erfasst auch die Ursachen absoluter Verelendung: „Der Kapitalist produziert nicht, um durch das Produkt seine Bedürfnisse zu befriedigen; er produziert überhaupt nicht mit unmittelbarer Rücksicht auf die Konsumtion. Er produziert, um Mehrwert zu produzieren.“ (Marx 1972 [1863], 61– 62) Die menschliche Arbeit kommt also über den Mehrwert nur den Eigentümer_innen der Produktionsmittel zugute, nicht den Arbeiter_innen. Diese werden ihrer Arbeit entfremdet: Dem/Der Arbeiter_in tritt das Produkt der Arbeit als fremdes Wesen und unabhängige Macht gegenüber, und die eigene Arbeit dient nicht der Befriedigung der Bedürfnisse, sondern befriedigt Bedürfnisse außerhalb der Arbeit, nämlich der Reproduktion der Arbeitskraft durch Konsum (Marx 1968 [1844]). Das Bedürfnis des Menschen nach Arbeit als Befriedigung in sich selbst bleibt damit unerfüllt. Hingegen produziert der Kapitalismus falsche Bedürfnisse und hält die Menschen damit davon ab, ihre wahren Bedürfnisse wahrzunehmen und zu befriedigen. Jeder Mensch spekuliert darauf, dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. Jeder sucht eine fremde Wesenskraft über den andern zu schaffen, um darin die Befriedigung seines eigenen eigennützigen Bedürfnisses zu finden. Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist. (Marx 1968 [1844], 546 – 547)
Ideologie im marxistischen Sinn ist also ‚falsches Bewusstsein‘. Dieses Bewusstsein ist selbstverständlich nicht einfach ‚irgendwie‘ falsch oder verrückt, sondern es erklärt sich aus den Interessen der herrschenden Klasse.
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Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. (Marx und Engels 1969 [1845 – 1846], 46)
Wie die Frankfurter Schule darlegt, ist Ideologie somit „objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewusstsein“ (Adorno und Horkheimer 1956, 168). Ideologie als falsches Bewusstsein zeigt sich insbesondere im Warenfetischismus, also in der Annahme, dass der Wert einer Ware, der sich im Tauschwert zeigt, eine natürliche Eigenschaft ist. Dies bedeutet auch, dass die eigene Arbeit, die sich in der Ware materialisiert, durch den Tauschwert verdeckt wird. Dieser drückt sich in Geld aus, das hiermit auch zum Fetisch wird: „Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die anderen Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist.“ (Marx 1982 [1890], 107) Und schließlich spricht Marx auch vom Kapitalfetisch – dem Kapital wird die Eigenschaft zugesprochen, aus sich selbst heraus Mehrwert zu erzeugen, was sich insbesondere in der Verzinsung von Kapital zeigt (Marx 1983 [1894], 405). Die Hauptkritik dieser marxistischen Konzepte aus postmarxistischer Sicht besteht darin, dass eine Position außerhalb der Ideologie angenommen wird, von der aus diese als ‚falsches‘ Bewusstsein verstanden und ein ‚richtiges‘ Bewusstsein definiert werden kann. An diesem Problem arbeiteten sich unter anderem Louis Althusser und die slowenische Schule der Psychoanalyse – jeweils in unterschiedlichen Rückgriffen auf Lacan – ab. Ihnen ist gemeinsam, dass sie Ideologie als omnipräsentes und notwendiges Phänomen verstehen. Althusser unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einer „Theorie der besonderen Ideologien“ und „einer Theorie der Ideologie im Allgemeinen“ (Althusser 2010 [1970], 72). Während besondere Ideologien sich aus einem historischen Kontext ergeben (aber stets vom Klassenkampf bestimmt sind), repräsentiert die Ideologie im Allgemeinen „das imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen“ (Althusser 2010 [1970], 75). Soweit stimmen Dolar und Žižek als Vertreter der slowenischen Schule der Psychoanalyse mit Althusser überein (Heil 2013). Laut Althusser wird ein Individuum erst durch die Ideologie, durch die Anrufung durch ein übergeordnetes „SUBJEKT“ zum Subjekt. Dieses übergeordnete
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SUBJEKT und die Strukturen der Anrufung sind dem Subjekt vorgängig und wirken in seinem Unterbewussten. „Sie sind wahrgenommene-angenommene-ertragene kulturelle Objekte und wirken funktional auf die Menschen ein, aber durch einen Vorgang, der ihnen selbst entgeht.“ (Althusser 2011 [1965], 297) Es gibt also kein Entkommen aus der Ideologie, keine Position außerhalb der Ideologie, doch lässt sich Ideologie dadurch verändern, dass sich die Position des Subjekts verschiebt. Dagegen gehen Dolar und Žižek davon aus, dass diese Anrufung nie völlig gelingt und das Subjekt gerade nicht durch das Gelingen der Anrufung, sondern durch dessen Scheitern bestimmt ist. Dieser Ansatz ist eng an die Überlegungen von Lacan zum Realen und Symbolischen angelehnt. Das Reale ist bei Lacan eine dem Symbolischen vorgelagerte positive Präsenz, die Fülle ohne Mangel, die dem Subjekt indes nie direkt zugänglich ist, sondern nur dadurch wahrgenommen werden kann, dass es sich der Symbolisierung teilweise entzieht. Es stellt sich als Mangel, als Leerstelle in der symbolischen Ordnung dar und verhindert dadurch deren Schließung. Ideologie bedeutet dann, diese Leere zu verdecken, ein Element in diesen leeren Raum einzusetzen. Hier findet sich das dritte Register von Lacan, das Imaginäre – die Ideologie führt zu einer imaginären Aner(Ver)kennung des Subjekts (Heil 2013) Das Begehren des Menschen ist der Anrufung durch den großen Anderen nicht vorgelagert, sondern das Subjekt ist schon in seiner Konstitution auf die symbolische Ordnung verwiesen. Das Subjekt begehrt das Begehren des großen Anderen. Žižek führt hier den Begriff der „Interpassivität“ ein: Ich kann nur aktiv sein, wenn ich mich mit einem passiven Blick identifiziere, für den ich aktiv bin. Die Interpassivität ist eine reflexive Struktur, in der der Blick verdoppelt wird: Ich sehe mich selbst als liebenswert gesehen (Žižek 2000b, 116 – 117) Doch da das Subjekt durch die Anrufung stets verfehlt wird, bleibt sein Begehren nach dem Begehren des Anderen stets unerfüllt. Dies gilt auch und insbesondere für den Warenfetischismus – die Ware befriedigt niemals das Begehren des Subjekts. Dies treibt den Kreislauf des Kapitalismus voran, geht aber zugleich über ihn hinaus. In diesem Sinne erweist sich die Ideologie sowohl als Bedingung für die Möglichkeit als auch für die Unmöglichkeit des materiellen Genießens, welches sich in diesem Zusammenhang realer als die ideologische Realität herausstellt. […]. Žižek nennt diese trans-ideologische Lust nach dem Vorbild der psychoanalytischen Terminologie Lacans „Genießen“ (jouissance). (Rüdiger 2011, 270)
Die Verfehlung des Subjekts führt zu der Möglichkeit, die Leerstelle in der Symbolisierung und ihre Verdeckung durch die Ideologie aufzuzeigen. Doch ergibt
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sich daraus keine Position der „Wahrheit“, von der aus die Ideologie offengelegt werden kann. In den Worten von Laclau: Kategorien wie „Verzerrung“ und „falsche Repräsentation“ machen nur solange Sinn, als etwas „Wahres“ oder „Unverzerrtes“ als innerhalb menschlicher Reichweite angesehen wird. Doch sobald ein außer-ideologischer Gesichtspunkt unerreichbar wird, folgen zwei Effekte mit Notwendigkeit: (1) Diskurse, die soziale Praktiken organisieren, sind sowohl inkommensurabel als auch gleich auf mit allen anderen; (2) Begriffe wie „Verzerrung“ und „falsches Bewusstsein“ verlieren alle Bedeutung. (Laclau 2002, 175 – 176)
Žižek allerdings postuliert, dass es eine Position der Ideologiekritik gibt – aber nur dann, wenn diese leer gehalten wird und sich nicht verortet, da sie dann wiederum ideologisch wird. Zentral ist hier, dass nicht nur die Tatsache der Ideologie, der Verzerrung in den Blick genommen werden kann, sondern auch die Operation, die zu dieser Verzerrung führt. Die Aufdeckung dieser ideologischen Operation ist dann die Aufgabe der Ideologiekritik (Laclau 2002, 179). Doch bleibt diese ebenso zahnlos wie die Dekonstruktion, wenn sie nicht konkret wird und Partei ergreift – auch wenn dies nur eine Parteinahme gegen die Ideologie und nicht für die Realität oder die Wahrheit darstellen kann. Worum es hier also letztendlich geht, ist die Verantwortung des Subjekts, sich der Leerstelle des Realen zu stellen und damit das Netz der Ideologie aufzureißen. Neben der Möglichkeit, eine (wenn auch leere und prekäre) Position außerhalb der Ideologie einzunehmen, gibt es auch noch die Möglichkeit der immanenten Kritik der Ideologie, des Aufzeigens ihrer inneren Widersprüche. In den Worten von Marx muss man „die Verhältnisse zum Tanzen bringen, indem man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt.“ (Marx 1976 [1843 – 1844], 381) Auch diese Möglichkeit beruht auf der Unabgeschlossenheit der symbolischen Struktur. Hier lässt sich auf Laclau/Mouffe (2015, 125 – 184) und ihr Konzept des Antagonismus zurückgreifen. Jede diskursive Struktur und daher auch jede Ideologie braucht den Antagonismus, das absolute Außen, um sich temporär und prekär zu schließen. Zugleich verhindert dieser Antagonismus aber auch eine wirkliche Schließung, da er nicht nur eine beständige Drohung von außen darstellt, sondern auch einen Spalt, ein Loch im Diskurs. Solche symptomatischen Löcher in der diskursiven Struktur von Ideologie werden aber nur von sozialen Antagonismen gebildet, weshalb im Mittelpunkt der Ideologiekritik notwendig die Analyse des konstitutionellen Grundantagonismus einer bestimmten Gesellschaftsformation zu stehen hat. (Rüdiger 2011, 274)
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Entscheidend ist hier, dass der Antagonismus im Singular verbleibt; eine Vielzahl von Antagonismen stellt nicht mehr als ein Set an Differenzen dar, die in den Diskurs eingeordnet werden können. Žižek schreibt daher plausibel: Die heutige hegemoniale Haltung ist die des „Widerstandes“ – die ganze Poetik der verstreuten, randständigen, sexuellen, ethnischen Life-Style-„Multitudes“ (Schwule, Geisteskranke, Gefangene usw.), die sich der mysteriösen zentralen (kapitalistischen) Macht „widersetzen“. Jeder „leistet Widerstand“, von Schwulen und Lesben bis zu rechten „Survivalists“, was die Schlußfolgerung nahelegt, daß dieser Diskurs des ‚Widerstands‘ heute die Norm und damit das größte Hindernis für die Entstehung eines Diskurses ist, der die bestehenden Verhältnisse tatsächlich in Frage stellt. (Žižek 2003, 156)
Doch welcher Antagonismus stellt nun den eigentlichen Spalt in der Gesellschaft dar? Es ist dies nach Žižek und Lacan der Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem ‚überzähligen‘ Besonderen, das keinen Platz im Allgemeinen hat und gerade deshalb das Allgemeine verkörpert. Hier kehren wir zu Marx’ Verständnis des Proletariats zurück: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, […] welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. [Marx 1976 [1843 – 1844], 390]
Was ist das überzählige Besondere am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Die Masse der Lohnabhängigen, die Marx als das Proletariat verstand, scheint dafür als soziologische Kategorie nicht wirklich tauglich. Auch wenn der Befund bestehen bleibt, dass diejenigen, die nichts besitzen als ihre Arbeitskraft, diese verkaufen müssen, so erscheint es doch problematisch, Manager_innen im globalen Norden und Fabriksarbeiter_innen im globalen Süden, fix Angestellte und Prekarisierte, Wissenschaftler_innen und ungelernte Hilfskräfte als Gruppe zusammenzufassen. Daher gibt es Debatten, diejenigen, an denen tatsächlich „das Unrecht schlechthin“ verübt wird – wie etwa Geflüchtete und Sans Papiers, oder die ‚Überflüssigen‘ des Spätkapitalismus wie Dauerarbeitslose – als das neue Proletariat zu begreifen (vgl. etwa Anonym 2015). Doch im Unterschied zum Proletariat von Marx haben diese Gruppen keine Position im Produktionsprozess des Kapitals und sollten daher, nach anderer Auffassung, eher mit dem ‚Lum-
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penproletariat‘ verglichen werden, dem laut Marx keine bestimmte und schon gar nicht eine fortschrittliche Rolle zugeschrieben werden kann. Aus nicht-marxistischer und zum Teil auch aus postmarxistischer Sicht wird daher der Begriff des Proletariats zum Teil als überholt angesehen und damit auch der Klassenkampf als irrelevant betrachtet (Thoburn 2002). Bleibt man indes bei einer der Grundthesen dieses Artikels, dass der Klassenkampf nach wie vor eine zentrale gesellschaftliche Rolle spielt, so erscheint es hier sinnvoll, auf die Überlegung von Thoburn (2002) zurückzukommen, dass dem Proletariat gerade keine Gruppenidentität zugeschrieben werden kann, sondern es sich durch Interventionen in die kapitalistische Praxis definiert, die auf die Frage der Arbeit fokussieren. Das Proletariat kann in dieser Interpretation als ein Modus der politischen Zusammensetzung beschrieben werden, der sich durch Politik gegen Identität, einen Fokus auf gesellschaftliche Beziehungen und die politische Form intensiven Engagements auszeichnet. Das Proletariat findet in dem ‚beengten Raum‘ des Kapitalismus keinen Platz zur Entwicklung einer Identität und muss daher an der Möglichkeit des Werdens durch Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen arbeiten. Da dies von keinem gesicherten Ort aus geschieht, geht es um andauernde Kämpfe, Kritik und Interventionen, die, in den Worten von Deleuze/Guattari (1983, 382), danach streben, „jede_r/alles zu werden“, oder, in den Worten von Marx (1976 [1843 – 1844], 388), danach, die Menschheit zu befreien. Dieser Zugang zum Proletariat lässt vieles offen, ist zugleich aber deutlich präziser gefasst als das Abfeiern jeglicher Form des Widerstands oder der Kritik als gesellschaftsverändernd. Er lässt sich sowohl auf Marx und seine Vorstellung der Nicht-Klasse des Proletariats als auch auf Lacans Konzept des Begehrens zurückführen, das aufgrund des Eindringens des Realen in den symbolischen Raum stets unerfüllt bleibt. Dieser alternative Begriff des Proletariats stellt damit wiederum eine Möglichkeit dar, der Oberfläche unterschiedlicher sozialer Interessen und Kämpfe eine Tiefendimension zu geben, die es ermöglicht, die Erscheinungsform der Dinge unter der Annahme ihres Wesens in Frage zu stellen.
5 Zusammenschau: (Un‐)Tiefen einer marxistischen Analyse im einundzwanzigsten Jahrhundert Dieser Text ist ein Versuch. Der Versuch, die „abwesende Fülle“, die laut Laclau (2002, 74) durch den leeren Signifikanten repräsentiert wird, genauer in den Blick zu nehmen, sie unter Anerkennung ihrer notwendigen Kontingenz temporär und
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prekär zu konkretisieren. Der Versuch, Positionen der Kritik einzunehmen, die Ausgangspunkt der „Kunst, nicht so regiert zu werden“ (Foucault 1992, 12), sein können. Der Versuch, Phänomenen in der Tiefe unter der Oberfläche hegemonialer Diskurse nachzugehen. Ein solcher Versuch erfolgt stets und notwendigerweise auf unsicherem Terrain und ist vom Absturz in die Untiefen essentialistischer Spekulation bedroht. Orpheus verliert Eurydike aufgrund seines Blicks zurück in die Unterwelt. Der Blick zurück auf die marxistische Gesellschaftsanalyse birgt die Gefahr des Verlusts des Anti-Essentialismus einer dekonstruktivistischen Diskurstheorie. Doch wie sollte es ohne dieses Risiko möglich sein, nach der Gerechtigkeit zu streben, die sich die Dekonstruktion als Aufgabe setzt?
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Hans-Georg von Arburg
Haus Vaterland: Siegfried Kracauers Topodiagnostik der Moderne
An den Raumbildern der Berliner Arbeitsnachweise wollte Siegfried Kracauer die Tiefenpsychologie der Weimarer Republik rekonstruieren (Kracauer 1930b). Und in den Massenornamenten desselben ‚neuesten Deutschland‘ erkannte er Oberflächenäußerungen, mit deren Analyse er dem Bestehenden auf den Grund gehen wollte (Kracauer 1927b, Kracauer 1930a). Kracauers bevorzugtes Terrain war die Angestelltenstadt Berlin. Hier hatten diese Oberflächenäußerungen ein epochales Ausmaß angenommen und hier fanden sie für ihn ihren gültigen Ausdruck. Kracauer reagiert darauf mit einer ebenso zeittypischen wie eigenwilligen physiognomischen Oberflächenanalyse (Schröter 1980). Diese Analyse wiederum orientiert sich an einem historischen Raumdispositiv (Mülder 1985, 86 – 95). In dessen Mittelpunkt steht das Büro (Arburg 2019). In der Weimarer Republik wurde das Büro Arbeits- und Lebensraum von über einer Million Angestellter. Bei einer Gesamteinwohnerzahl von 4,2 Millionen Menschen entsprach das knapp der Hälfte der erwerbstätigen Wohnbevölkerung Berlins (Büsch und Haus 1987, 318). Kracauer hatte damit schon allein quantitativ Recht, wenn er das Büro als den „wirklichen Schwerpunkt des Lebensraums“ in der Hauptstadt der Weimarer Republik verstand, wie sein Freund Walter Benjamin gleichzeitig diagnostizierte (Benjamin 1982a, 53). Kracauers Analyse des Büros als einem höchst signifikanten Lebensraum seiner Zeit besticht aber auch in qualitativer Hinsicht. Denn sein soziologischer und ethnografischer Blick auf das moderne Büro ist ebenso scharf wie umsichtig. Mit dem Büro kommunizieren für Kracauer nämlich noch zwei weitere von den Angestelltenmassen bevölkerte Räume: die Mietwohnung einerseits und die im Berlin der Stabilisierungszeit boomenden Vergnügungsetablissements andererseits. An dieser typischen Raum-Konstellation von Büro, Wohnung und Vergnügungslokal entwickelt Kracauer seine Analyse der Moderne. Und an ihrem Beispiel lässt sich auch Kracauers besondere Topodiagnostik dieser Moderne exemplarisch beschreiben. „Jeder typische Raum“, so bilanziert Kracauer diese Topodiagnostik 1930, wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrü cken. Alles vom Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich ü bersehen wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar. (Kracauer 1930b, 250) https://doi.org/10.1515/9783110634730-013
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Hans-Georg von Arburg
Zum Inbegriff des modernen Lebens-Traum-Raums wird für Kracauer das am 31. August 1928 eingeweihte Haus Vaterland am Potsdamer Platz. Nomen est omen. Deshalb steht das Phänomen dieser Berliner „Pläsierkaserne“ zugleich für die Lage der ganzen Nation. Kracauer hat es unter der Kapitelüberschrift „Asyl für Obdachlose“ in seiner soziologischen Untersuchung über Die Angestellten hellsichtig beschrieben (Kracauer 1930a, 288 – 297). An dieser Beschreibung interessiert üblicherweise ihr ideologiekritischer Gehalt. Und dieser Gehalt ist in diesem wie in vielen anderen Texten von Kracauer auffällig genug. Dennoch ist er nur ein Element eines viel komplexeren Denk- und Schreibzusammenhangs. Wer es zum Programm erklärt und wer diesem Programm blind folgt, übersieht dabei leicht das ästhetische Widerlager von Kracauers Ideologiekritik. Die Studie über die Angestellten ist nämlich auch und nicht zuletzt ein Schreibexperiment. Dreh- und Angelpunkt dieses Experimentes ist der Einbezug des schreibenden Reporters in den von ihm untersuchten ökonomischen, sozialen und emotionalen Zusammenhang. Dabei wird ein archimedischer Punkt, von dem aus sich Tiefe und Oberfläche exakt trennen und qualitativ differenzieren ließen, immer problematischer, bis er schließlich ganz aufgegeben wird. Diese theoretische Einsicht hat methodische Konsequenzen. Kracauer zieht sie, indem er quasi-literarische Darstellungs- und Schreibweisen mit einer kritischen Medienästhetik verbindet. Und diese literarisch inspirierte Medienästhetik verläuft keineswegs immer synchron mit der ideologiekritischen Zeitdiagnose. Sie läuft dieser vielmehr oft stracks zuwider. Es ist diese potentielle Gegenläufigkeit von Tiefenanalysen und Oberflächenlektüren bei Kracauer, die ich hier näher beschreiben möchte. Sie interessiert mich deshalb, weil sie in meinen Augen den genuinen Beitrag von Kracauers Physiognomik zu einer modernen Theorie der Tiefe darstellt. Bei seiner Analyse dinglicher Oberflächen versucht Kracauer in diesen Tiefen nicht etwa eine eigentliche Struktur dingfest zu machen. Er ortet darin vielmehr eine geheime Botschaft, die er den Dingen an der Oberfläche absieht und abhorcht und die es als einstweilen unverständliche Geheimbotschaft aufzubewahren und in diesem Sinne zu ‚retten‘ gilt.¹ Meine These ist, dass Kracauer bei dieser Rettungsaktion gerade in der Auseinandersetzung mit problematischen Oberflächenerscheinungen seiner Zeit mit der fundamentalen Unbotmäßigkeit des Ästhetischen rechnet. Um sich vor
Der Zusammenhang von Kracauers Dingästhetik und seiner physiognomischen Methode ist zuerst von Michael Schröter erkannt (Schröter 1980) und später von Frank Grunert und Dorothee Kimmich zum Gegenstand eines ganzen Aufsatzbandes gemacht worden (Grunert und Kimmich 2009). Meine eigenen Überlegungen verdanken diesen Vorarbeiten Wesentliches. Indem ich den Blickwinkel medienästhetisch erweitere, möchte ich sie hier für eine kritische Theorie der Tiefe aktualisieren.
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ideologischen Fixierungen zu schützen, die eine feste Ansicht der Moderne in einer wie immer gedanklichen Tiefe verankern und damit blockieren, lässt er sich selbst absichtsvoll vom „Similiglanz“ (Kracauer 1930a, 295) moderner Phänomene und Phantasmen affizieren und irritieren. Das Mittel zu dieser Selbstverunsicherung ist die literarische und allgemeiner die ästhetische Fantasie. Sie wirkt in einer Weise unvorhersehbar und unkontrollierbar, dass sie die scheinbar naturgegebenen Strukturen in der Tiefe entzaubert und so die Tiefe selbst entschlüsselt. Das aber heißt für Kracauer, dass diese Tiefe für das Wirken einer anderen, kommenden Vernunft aufgeschlossen wird (Kracauer 1927b, 616 – 617). „Vorgeträumt“ ist diese Vernunft für Kracauer in den „echten Märchen“, wo die „Ohnmacht des Guten“ siegt und „Treue triumphiert über magische Künste“ (Kracauer 1927b, 617). Wo Kracauer diesen märchenhaften Schlüssel ansetzt und wie er ihn einsetzt, möchte ich am Beispiel von Kracauers Analyse des topografischen Komplexes moderner Arbeits- und Freizeiträume zeigen. Die Tiefenstrukturen, die den Oberflächenzusammenhang der Moderne scheinbar so sicher regieren, werden dabei entsichert. Und diese Entsicherung der Tiefe läuft nicht einfach auf eine Gegenposition zu konservativen Tiefenideologemen hinaus. Sie stellt hermeneutische Routinen zwischen Oberfläche und Tiefe überhaupt zur Disposition. Das emblematische Haus Vaterland gerät dabei bedrohlich ins Wanken.
1 Teilnehmende Beobachtung als Schreibexperiment Mit seiner Studie Die Angestellten (1930) begibt sich Kracauer auf eine Expedition in das wilde und weitgehend unbekannte Gebiet der Berliner Angestelltenkultur. Dass Kracauer damit nicht nur einen soziologischen, sondern auch einen ethnografischen Anspruch verknüpft und dass er beides als gesellschaftspolitische Mission versteht, kündigt schon der Untertitel der Untersuchung Aus dem neuesten Deutschland an (Mülder-Bach 2002).² Auf dieser Expedition verfolgt Kracauer aber auch ein ganz besonderes Schreibprojekt. Das hat schon Walter Benjamin bemerkt, der unter dem vielsagenden Titel „Ein Außenseiter macht sich
Außer dem Hinweis auf Clifford Geertz’ Methode der dichten Beschreibung (thick description), die Mülder-Bach bei Kracauer vorgeprägt sieht (Mülder-Bach 2002, 290, 294– 295), bleibt ihre Kontextualisierung von Kracauers Vorgehen in der zeitgenössischen ethnografischen Methodik relativ unspezifisch. Eine methodengeschichtliche Spurensuche steht noch aus und kann hier auch von mir nicht geleistet werden.
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bemerkbar“ eine der ersten Rezensionen zu den Angestellten veröffentlicht und Kracauer dort als „Literaten“ bezeichnet hatte (Benjamin 1972a [1930], 222).³ Benjamins Buchbesprechung ist wohl deshalb bis heute so einflussreich geblieben, weil sie ausgesprochen hellhörig für die eigenwillige Verquickung von Epistemologie, Mediologie, Ästhetik und Poetik in Kracauers Schreib- und Arbeitsweise ist. Benjamin beschreibt Kracauer als „Lumpensammler“, der „im Morgengrauen des Revolutionstages“ mit seinem „Stock die Redelumpen und Sprachfetzen“ aus der modernen Bürowelt aufsteche und so deren wahres Gesicht demaskiere (Benjamin 1972a, 225). Und Benjamin ist ebenfalls nicht entgangen, dass zwischen dem Lumpensammler und den Lumpen, das heißt zwischen Kracauers eigener Sprache und der „Sprache des Kollektivs“, ein merkwürdiges „Einverständnis“ herrscht (Benjamin 1972a, 223). Diese Komplizenschaft zwischen dem Beobachter und dem von ihm beobachteten Gegenstand ist allerdings weder voraussetzungslos praktikabel noch wird sie selbstredend produktiv. Die Bedingung dafür ist Kracauers Annahme, dass die von ihm beschriebenen Raumund Sprachbilder „Träume der Gesellschaft“ sind. Als solche drücken sie sich an der sozialen Oberfläche „ohne die störende Dazwischenkunft des Bewußtseins“ aus (Kracauer 1930b, 250).⁴ Eben diesen unkontrollierten Kollektivträumen schmiege sich Kracauers Sprache mimikryhaft an, erklärt Benjamin, um die „Wirklichkeit des Angestelltendaseins“ zur Selbstanzeige zu zwingen (Benjamin 1972a, 222). Es geht hier also um vermittelte Selbstaussagen. Die ergiebigsten Jagdgründe sind für Kracauer die populären neuen Medien in einem sehr umfassenden Sinn. Auch für Benjamin ist Kracauers Sprache deshalb nirgends so sehr in ihrem Element als in den Berliner Vergnügungsetablissements: In der Durchforschung dieser „Asyle für Obdachlose“ erweist die traumgerechte Sprache des Verfassers ihre ganze Verschlagenheit. Erstaunlich, wie sie gefügig all diesen stimmungsvollen Künstlerkellern, all diesen lauschigen Alkasaren, all diesen intimen Mokkabuchten sich anschmiegt, um sie als ebenso viele Schwellungen und Geschwüre abgegossen dem Licht der Vernunft preiszugeben. (Benjamin 1972a, 224)
Die Besprechung erschien zuerst in der politisch-theoretischen Zeitschrift Die Gesellschaft, 7. Jg, 1930, 473 – 477. Der von der Redaktion vorgeschlagene Titel „Politisierung der Intelligenz“ wurde in Benjamins Handexemplar handschriftlich durch den Titel des Erstdrucks ersetzt (Benjamin 1972b, 639). Inka Mülder-Bach spricht in diesem Zusammenhang von Träumen ohne Traumarbeit und bringt Kracauers Traumtheorie (nach Carlo Ginzburg) in Verbindung mit dem kriminalistischen Indizienparadigma beim italienischen Kunsthistoriker Giovanni Morelli und später mit Freuds Psychoanalyse, für die sich Kracauer in der Tat sehr interessierte (Mülder 1985, 88 und 91– 95).
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Kracauer hat es also auf eine Art logoplastische Innenansichten der Moderne abgesehen. Indem er sie beschreibt, nimmt er sie seinen Gegenständen wie beim Modellieren ab. Von innen geformt und von außen abgenommen – nicht ‚aufgenommen‘! –: so soll das Unsägliche von dem Sagenhaften künden, wenn auch unbewusst und einstweilen noch unverständlich. Nimmt man Benjamins Bildrede ernst und überträgt sie ins Register der Beschreibung, dann sind diese Innenansichten allein durch innengeleitete Schreibstrategien zu gewinnen. Nur so werden die Herrschaftsdiskurse, die sie konditionieren, nicht einfach reproduziert. Der Fotografietheoretiker Kracauer geht hier, wie gesagt, auf Distanz zur Oberflächentechnik der fotografischen ‚Aufnahme‘. Wohl bleibt die Fotografie ein zentrales Element seiner Dingästhetik. Für Kracauers Denken durch die Dinge (Grunert und Kimmich 2009) sind die fotografischen Medien Fotografie und Film deshalb wichtig, weil sie unterschiedslos alle dinglichen Oberflächen registrieren, ohne sie schon auf einen stets parteiischen Tiefencode herunterzubrechen bzw. hochzurechnen.⁵ Und sie stoßen daher jene Erschließung der Tiefe an, die die Wirklichkeit in ihrer ganzen Materialität erlöst (Kracauer 1960, 300 – 311). Aber Film und Fotografie können, wie die anderen neuen Medien der Zeit auch, dieses Versprechen nur halten, wenn sie mit einer kontaktfreudigen und gleichsam körperbetonten Sprache ins Spiel kommen. Für dieses Tast-Sprach-Spiel sucht Kracauer sein Leben lang nach einer geeigneten Methode. Eine Option ist die teilnehmende Beobachtung, wie sie in den zwanziger Jahren von Ethnologen wie Bronisław Malinowski und von der empirischen Sozialforschung der Chicagoer Schule entwickelt wurde (Agard 2010, 79 – 85). Auf diese ethnografischen Methoden hat Kracauer zwar erst viel später im amerikanischen Exil explizit Bezug genommen. Wenn ich richtig sehe, fällt der Begriff des participant observer erst in Kracauers postumer Geschichtsphilosophie History: The Last Things Before the Last (Kracauer 1969, 86). Aber es geschieht dort bezeichnenderweise im Kapitel „The Historian’s Journey“, welches die Methode des Historikers mit der Forschungsreise eines Ethnologen vergleicht und programmatisch mit Kracauers eigener Theoriegeschichte verbindet (Kracauer 1969, 80 – 103). So stellt Kracauer im Vorwort seines unvollendeten letzten Buches verblüfft fest, wie er die theoretische Summe seines Denkens am Ende seines Lebens in manchen seiner frühen Arbeiten wieder erkannt habe. Zu diesen spät entdeckten Pilotversuchen rechnet er namentlich auch Die Angestellten (Kracauer
Der Titel von Grunerts und Kimmichs einschlägigem Sammelband entstammt dem Kapitel 8 von Kracauers später Geschichtsphilosophie History: The Last Things Before the Last. Die entscheidende Aussage lautet dort, dass „the photographic media help us […] to think through things, not above them“ (Kracauer 1969, 192).
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1969, 4). Und tatsächlich hatte er mit quasi-ethnografischen Verfahren in den zwanziger Jahren schon verschiedentlich experimentiert. Warum reicht ein vernünftiger Blick auf den Angestelltenalltag nicht hin, um dessen „Exotik“ zu erkennen (Kracauer 1930a, 218)? Das fragt sich Kracauer im ersten Kapitel seines Angestelltenbuches, das unter der Überschrift „Unbekanntes Gebiet“ das methodologische Werkzeug zu seinem Unternehmen bereitstellt. Kracauers Antwort auf diese Frage lautet: Die kritische Erkenntnis der „radikalen Intellektuellen“ übersieht diese Alltäglichkeit, weil diese „uninteressant“ aussieht (Kracauer 1930a, 218). Es sei wie mit dem von der Pariser Polizei verzweifelt gesuchten Brief in Edgar Allan Poes Erzählung The Purloined Letter (1844), den niemand bemerke, „weil er obenauf liegt“ (Kracauer 1930, 218). Erst Poes Amateurdetektiv Auguste Dupin komme darauf, weil er sich in die Person des Täters hineinversetze. Genau so lässt sich auch der Physiognomiker Kracauer empathisch auf die – und nicht selten auch mit den – problematischen Oberflächenäußerungen ein. Denn er will ihre tieferen Motive nicht allein verstehen, er will sie als Beweggründe auch nachvollziehen können. Genau darum schmiegt sich Kracauers Sprache der „Sprache des Kollektivs“, die es zu kritisieren gilt, gefügig und verschlagen an. Kracauer will ihre Triebenergie nutzen, statt sie nur zu falsifizieren und dadurch zu vernichten. Mit einer entsprechend eigensinnigen Methode zwischen investigativem Journalismus und dokumentarischer Fiktion kundschaftet Kracauer das ‚unbekannte Gebiet‘ der Angestelltenstadt Berlin aus. So trifft er etwa auf einem dieser Streifzüge die Privatsekretärin eines Seifenfabrikanten, die noch etwas „beduddelt“ von einem Hochzeitsgelage am Sonntagmorgen in einem Berliner Vorortszug ihren Chef ausplaudert (Kracauer 1930a, 217). Das improvisierte Interview dieser Zufallsbekanntschaft, das sich als stenografische Mitschrift gibt, entpuppt sich rasch als ein subtil literarisierter Dialog. Vom Chef der Sekretärin erfährt man, [e]r sei Junggeselle und bewundere ihre schönen dunklen Augen. „Ihre Augen sind wirklich wunderschön“, sagte ich. „Wir gehen immer abends aus. Manchmal nimmt er er mich schon nachmittags ins Café mit, dann kommen wir nicht mehr zurück […].“ „Werden Sie Ihren Chef heiraten?“ „Wo denken Sie hin. […] Ich bleibe meinem Bräutigam treu.“ „Weiß Ihr Bräutigam …“ „Ich werde doch nicht so dumm sein.Was ich mit meinem Chef habe, geht niemanden etwas an.“ Es stellte sich heraus, daß ihr Bräutigam zur Zeit in Sevilla die Filiale eines Wäschegeschäfts leitet. Ich riet ihr, ihn zu besuchen. „In Barcelona ist eben Weltausstellung …“ „Wasser hat keine Balken“, entgegnete sie. Trotz meiner ernsthaften Versicherung glaubte sie nicht, dass Spanien auf dem Landweg zu erreichen sei. Später will sie mit ihrem Zukünftigen ein kleines Gasthaus in der Umgegend
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von Berlin bewirtschaften. Dort werden sie einen Garten haben, und im Sommer kommen die Fremden. (Kracauer 1930a, 217)
Es ist nicht ganz klar, in welchem Sinn der Filmkritiker Kracauer hier seiner Interviewpartnerin das offensichtlich unverstandene Wortspiel mit dem deutschen Verleihtitel von Buster Keatons Steamboat Bill jr. in den Mund legt. Gewiss aber hat er es als Reporter nicht auf den engen Bildungshorizont und die mangelhaften Geografiekenntnisse seiner Gesprächspartnerin abgesehen, die von einem Landweg nach Spanien nichts wissen will. Ihn interessiert vielmehr der kleinbürgerliche Traum von einem lauschigen Gasthaus, das die Büroangestellte mit ihrem Bräutigam im Berliner Umland eröffnen will. Diese Zukunftsperspektive ist zwar ganz offensichtlich fantastisch. Dennoch lässt sich der Interviewer auf die traumhaften Aussichten ein, ja er wird selbst fast ein wenig träumerisch dabei, wenn er der Sekretärin in die schönen dunklen Augen sieht.⁶ Ihre Antworten verraten ihm denn auch weniger die Unmoral ihrer problematischen Beziehungspflege als vielmehr deren Ursprung im Machtapparat des Büros und den verzweifelten Ausbruchsversuch daraus. „Was interessiert Sie überhaupt das Büro“, versucht sie den charmanten Frager abzuwiegeln. Und mit der Bemerkung „das steht doch alles schon in den Romanen“ spielt sie die Auskünfte über ihr Büroleben herunter (Kracauer 1930a, 217). Das stimmt und stimmt nicht. Es stimmt, wo es den imaginären Anteil an diesem Leben trifft. Aber es ist falsch, weil es die Fantasie als eine mögliche Flucht aus diesem Leben verklärt. Die Sprachkritik des teilnehmenden Beobachters Kracauer verätzt dieses verzweifelt falsche Bewusstsein nicht, wie es seine Kollegen vom Frankfurter Institut für Sozialforschung mit ihrer Ideologiekritik an der Kulturindustrie später exekutieren sollten. Sie vollzieht es vielmehr mit einer merkwürdigen Mischung aus Argwohn und Empathie nach. Dabei meint Nachvollzug hier ganz wörtlich ein ebenso kritisches wie körperliches Verfolgen des Gesagten in seiner ganzen Bedeutungsfülle. Dem entspricht eine Darstellungstechnik, die die Sache selbst in ihrer wahren Oberflächlichkeit zur Sprache kommen lässt. Dafür werden die als Zitate aus dem Oberflächenzusammenhang gebrochenen Stücke bewusst mitund gegeneinander montiert. Diese Technik wird am Anfang der Angestellten exemplarisch ausgestellt. Zwischen das Vorwort und die folgende Abhandlung sind dort zwei Anekdoten eingeschoben und als Motto auf einer eigenen Buchseite typografisch freigestellt. Und genau dieses relativ selbständige Motto verzahnt das vorangehende programmatische Vorwort mit dem nachfolgenden Haupttext der soziologischen Untersuchung:
Zur eigenwilligen Erotik von Kracauers ‚anschmiegendem‘ Denken vgl. Stalder 2009.
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I. Eine entlassene Angestellte klagt vor dem Arbeitsgericht auf Weiterbeschäftigung oder Abfindung. Als Vertreter der beklagten Firma ist ein Abteilungsleiter erschienen, der frühere Vorgesetzte der Angestellten. Um die Entlassung zu rechtfertigen, erklärt er unter anderem: „Die Angestellte wollte nicht als Angestellte behandelt werden, sondern als Dame.“ – Der Abteilungsleiter ist im Privatleben sechs Jahre jünger als die Angestellte. II. Ein eleganter Herr, zweifellos ein höherer Konfektionär, betritt abends in Begleitung seiner Freundin den Vorraum eines weltstädtischen Vergnügungsetablissements. Der Freundin ist auf den ersten Blick anzusehen, daß sie im Nebenberuf acht Stunden hinter dem Ladentisch steht. Die Garderobenfrau wendet sich an die Freundin: „Wollen gnädige Frau nicht den Mantel ablegen?“ (Kracauer 1930a, 215)
Was besagen die beiden Anekdoten? In beiden Fällen geht es um das Spannungsverhältnis zwischen dem sozialen Status, dem ideologischen Habitus und der (positiven wie negativen) gesellschaftlichen Diskriminierung weiblicher Büroangestellter in der Weimarer Republik. Dabei funktionieren die Fallbeispiele komplementär: Im ersten Fall wird der falsche Anspruch der entlassenen Sekretärin, als „Dame“ behandelt zu werden, durch die Respektlosigkeit ihres jüngeren Chefs unterlaufen. Und im zweiten Fall wird die schmeichelhafte Anrede der Verkäuferin als „gnädige Frau“ durch deren offensichtliche Abhängigkeit von ihrem Begleiter und Vorgesetzten falsifiziert. Kracauer stellt die Anekdoten so gegeneinander, dass allein ihr Kontrast die gesellschaftliche Praxis, die sie bedingt, erhellt. Medium dieser Aufklärung ist die Sprache. Und in diese kritische Sprachanalyse verwickelt sich der Analytiker selbst mit hinein. In der ersten Anekdote zeigt er mit dem Gedankenstrich auf den Altersunterschied, der das Bedürfnis der Büroangestellten nach Respekt bei aller Verkennung der sozialen Herrschaftsverhältnisse verständlich macht. Und in der zweiten schlüpft er unbotmäßig selbst in das Sprachkostüm der Garderobenfrau, die die Angestellte vor und für deren Chef demonstrativ nobilitiert. Wie absichtsvoll diese anekdotischen Gesprächsszenen arrangiert sind und wie präzise sie mit dem folgenden Buchtext interagieren, wird ein paar Seiten später klar. In einer methodischen Grundsatzreflexion spricht Kracauer dort über den Sinn der von ihm beobachteten Oberflächenphänomene. Als Einspruch gegen die in der Neuen Sachlichkeit boomende Reportage statuiert Kracauer dort, dass dieser Sinn in keiner Fotografie der Wirklichkeit enthalten sein könne. Und er ergebe sich auch nicht von selbst und niemals unmittelbar. Denn das Dasein ist nicht dadurch gebannt, dass man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. […] Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiss muß das Leben beobachtet werden, damit sie [die
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Wirklichkeit] erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild. (Kracauer 1930a, 222)⁷
Dieser Wirklichkeitsbegriff und was Kracauer medienästhetisch daraus folgert erinnert an Brechts berühmte Formulierung aus dem Dreigroschenprozess (1931): „Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht“ (Brecht 1992, 469).⁸ Weil die Wirklichkeit in der Moderne eine Funktion oder, wie es bei Kracauer heißt, eine Konstruktion geworden ist, muss sie rekonstruieren, wer ihr auf den Grund gehen will. Das „Bild“ des modernen Lebens, so heißt es, muss „aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts“ wie bei einem Mosaik allererst „zusammengestiftet“ werden. Das Modell für diese Wirklichkeitsrekonstruktion ist also das Mosaik, und ihr Erkenntnismedium ist das Bild. Aus dieser Fügung von Mosaik und Bild ergeben sich für eine Theorie der Tiefe zwei Konsequenzen. Die ästhetische Konsequenz daraus ist, dass das Bild, in dem die lebendige Wirklichkeit der Moderne zu erkennen wäre, ein fragmentiertes, ersichtlich aus Einzelbausteinen zusammengesetztes oder montiertes ‚Bild‘ bleiben muss.⁹ Und als methodische Folge daraus ergibt sich das Problem, dass dieser Montage jede sichere Grundlage entzogen wird. Denn der Konstruktionsplan des Raumbildes und das Raumbild selbst bedingen sich gegenseitig. „Der Grundgehalt einer Epoche und ihre unbeachteten Regungen erhellen sich wechselseitig“, konstatiert Kracauer in der Einleitung zu seinem Modernemanifest Das Ornament der Masse, von dem sich auch die Methodologie in den Angestellten herschreibt (Kracauer 1927b, 612). Weil aber der Plan so wenig wie das Bild bekannt ist, gibt es weder einen sicheren Durchstich von der Tiefe an die Oberfläche noch einen einfachen Rückgang von der Oberfläche in die Tiefe. Die beobachtete Wirklichkeit erhält ihren Sinn vielmehr erst allmählich, indem das
Zu Kracauers Kritik an der fetischisierten Fotografieästhetik der Neuen Sachlichkeit vgl. Köhn 1977. Vgl. Brechts ebenfalls um 1930 entstandene, aber nur im Typoskript überlieferte Notiz „Durch Fotografie keine Einsicht“ (Brecht 1992, 443 – 444). Eine direkte Rezeption der Kracauer-Stelle bei Brecht ist nicht nachgewiesen. Zum fragmentarischen Bild als bevorzugtem Erkenntnismedium von Kracauer vgl. Frisby 1985, 162– 166. Die literarische Umsetzung der fotografischen Montagetechnik, der das entspricht (Frisby, 163), hat Andreas Huyssen an Kracauers urbanen Raumbildern überzeugend beschrieben (Huyssen 2015, 118 – 140).
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Verständnis zwischen den Oberflächenphänomenen und der Tiefenstruktur hinund herpendelt. Und daher beginnt es wie zwischen zwei magnetischen Polen zu kreisen. Das Bild, das man sich vom einen wie vom anderen Pol macht, bleibt provisorisch. Und genau hier setzt Kracauers systematisches Interesse an den künstlichen Paradiesen der industriell hergestellten „Zerstreuung“ an (Kracauer 1930a, 288). Um richtig in den hermeneutischen Zirkel zwischen Mosaik und Bild hineinzukommen und dieser Zerstreuungsindustrie auf ihren oberflächlichen Grund zu gehen, bieten das Haus Vaterland und sein fauler Zauber einen idealen Einstieg.
2 Das Haus Vaterland und Kracauers kritische Medienästhetik Kracauer hat seine Analyse der Berliner Vergnügungsindustrie für die Angestelltenmassen unter den Titel „Asyl für Obdachlose“ gestellt (Kracauer 1930a, 288 – 297). Dabei hat er eine „geistig[e]“ Obdachlosigkeit“ im Sinn, die der von Georg Lukács diagnostizierten transzendentalen Obdachlosigkeit der Menschen in einer technisierten und medialisierten Moderne ähnlich, aber nicht gleich sieht.¹⁰ Sie trifft in Kracauers Augen die aus dem bürgerlichen Mittelstand stammenden, aber ökonomisch proletarisierten Angestellten besonders, weil diese gesellschaftlich desorientiert und politisch desorganisiert sind. Der „Glanz“ der Lokale, die sie frequentieren, soll ihr Elend kompensieren (Kracauer 1930a, 288). Kracauer entwickelt diese Kompensationstheorie auch hier aus einem informellen Gespräch mit einem ihm nahestehenden Angestellten heraus. Will man die Welt der Angestellten ganz verstehen, dann ist für Kracauer klar, dass man sich nicht allein auf statistische Daten stützen kann. Man muss vielmehr all jene Alltagspraktiken mitberücksichtigen, die als undurchsichtiger Strom von Dingen, Körpern und Ideen die Arbeits-, Wohn- und Freizeiträume zu einem schwer durchschaubaren Komplex miteinander verbinden. Als Relais dienen Kracauers Kompensationstheorie dabei die modernen Medien: „Warum die Leute so viel in Lokale gehen?“ meint ein mir bekannter Angestellter, „doch wohl deshalb, weil es zu Hause elend ist und sie am Glanz teilhaben wollen.“ Unter dem Zuhause ist übrigens außer der Wohnung auch der Alltag zu verstehen, den die Inserate der
Kracauer war ein ebenso aufmerksamer wie kritischer Leser von Lukács’ Theorie des Romans (1920), mit der er sich 1921 gleich in zwei Rezensionen gründlich auseinandersetzte (Kracauer 1921a und 1921b). Zu Lukács’ Schlüsselfunktion für Kracauers Marx- und Marxismus-Rezeption vgl. Frisby 1985, 123 – 127.
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Angestellten-Zeitschriften umreißen. Sie betreffen in der Mehrzahl: Federn; Kohinoor-Bleistifte; Hämorrhoiden; Haarausfall; Betten; Kreppsohlen; weiße Zähne; Verjüngungsmittel; Verkauf von Kaffee in Bekanntenkreisen; Sprechmaschinen; Schreibkrampf; Zittern, besonders in Gegenwart anderer; Qualitätspianos gegen wöchentliche Abzahlung usw. (Kracauer 1930a, 288)
In diesem industriegesellschaftlichen Durcheinander stellen die „Pläsierkasernen“ für die Angestellten „Asyle im wörtlichen Sinne“ dar (Kracauer 1930a, 292). Der Kracauer-Rezensent Benjamin hat diese Zufluchtsstätten „die eigentlichen Symbolzentralen dieser Welt“ genannt (Benjamin 1972a, 224). Im Haus Vaterland am Potsdamer Platz stößt Kracauer auf ihr Hauptquartier. 1911/12 von Franz Schwechten im Auftrag der Universum-Film-AG (Ufa) erbaut, beherbergte der langgestreckte Kuppelbau neben einem Filmtheater und den Büroräumen der Ufa auch einen Restaurationsbetrieb, der 1914 in der ersten Kriegseuphorie zum Café Vaterland umbenannt worden war. 1927 wurde das Haus an ein Konsortium unter der Führung des deutsch-jüdischen Hotel- und Gastronomiekonzerns Kempinski & Co. verpachtet und von diesem zu einem gastronomischen Vergnügungstempel riesigen Ausmaßes umgebaut. Von 1928 bis 1933 arbeitete hier die größte Gasküchenanlage Europas […]. Auf 4454 Quadratmetern konzessionierter Restaurantfläche fanden 3500 Gäste Platz. Ein Jahr nach der Eröffnung war die Besucherzahl bei einer Million angelangt. Fünfhundert Angestellte sorgten für das Wohl der Gäste. Die Kosten für den Umbau – ursprünglich auf 2,5 Millionen RM veranschlagt – beliefen sich schließlich auf rund fünf Millionen RM. (Pracht 1994, 74– 75)
Die „Parole“, die Kempinski in einem farbig illustrierten Prospekt zur festlichen Eröffnung des Hauses am 31. August 1928 ausgegeben hatte, war, „den Gästen nicht nur eine flüchtige Unterkunftsstätte für kurze Stunden, sondern ein Heim geselligen und frohen Erlebens zu schaffen“.¹¹ Das Motto des Hauses lautete: „Jeder soll im Haus Vaterland zu Hause sein!“ Das erklärte Ziel Kempinskis war es, „den Neubau des Hauses Vaterland zu einer der repräsentativsten Weltschöpfungen unserer Reichshauptstadt zu machen“. Die ganze „Welt“ sollte sich „in einem Haus“ konzentrieren. In diesem „Kristallisationspunkt“ waren das Internationale und das Provinzielle seltsam verquickt. Eine lange Reihe eklektizistisch ausstaffierter Säle enthielt eine dem preußischen Gaumen anbequemte kosmopolitische Gastronomie:
Dieses und alle folgenden Zitate sind dem unpaginierten Faksimile-Nachdruck des Kempinski-Prospekts Haus Vaterland am Potsdamer Platz von 1987 [1928] entnommen. Ein unvollständiger Auszug daraus ist im Internet unter http://www.haus-vaterland-berlin.de/content/hv-heft/ index.html (3. Juli 2019) einsehbar.
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ein Grinzinger Heuriger, der Münchener Löwenbräu-Saal, eine Wild-West-Bar, ein ungarisches Dorfwirtshaus mit originaler Czardas-Kapelle (später in eine italienische Osteria umgewandelt), ein türkisches Café, eine japanische Teestube (mit „original japanischer Bedienung“), eine spanische Bodega, die Altberliner Bierstube „Teltower Rübchen“, Kempinskis Rheinterrassen (mit stündlich inszeniertem Gewitter) und als Herzstück der opulent dekorierte Palmensaal (Pracht 1994, 75). Das Unterhaltungsprogramm für alle, die laut Kracauer „für billiges Geld den Hauch der großen Welt verspüren“ wollten, gab sich rauschend.¹² Die betriebswirtschaftliche Realität sah jedoch anders aus. Nicht die verarmten Angestelltenmassen, sondern die „gehobenen Gehaltsempfänger[ ]“ aus der Provinz füllten zuerst die Räume und Kassen (Kracauer 1930a, 291). In ihrer Autobiografie Mein Haus Vaterland erinnert sich die später in die UdSSR exilierte Schauspielerin und Schriftstellerin Inge von Wangenheim sehr genau an diese Realität zurück: Dieses Etablissement, ein Vergnügungs- und Freßlokal im Konzern des großen Kempinski, diente dem schönen Zweck, jenen aus der Provinz zureisenden Herren, die voller Lüsternheit nach Amüsement aus dem Potsdamer und Anhalter Bahnhof herausquollen, eine möglichst bunte und möglichst rationalisierte Stimmungskollektion aus den heimischen Ecken unseres Vaterlandes, der Pappmaché-Exotik von Übersee, aus Heurigenrührseligkeit und verjazztem Trapperschweiß zusammenzumixen, die billig war und dem Geschmack des Provinzlers angemessen. Er brauchte gar nicht erst weit zu laufen und viel darüber nachzudenken, wo „man was sehen“ konnte. Er fiel aus dem Bahnhof direkt ins „Haus Vaterland“ hinein und konnte dort „alles“ sehen, wonach es ihn gelüstete. Das „Haus Vaterland“ war also eine sogenannte „Goldgrube“. (Wangenheim 1950, 321)
Wangenheims Mutter war bei Kempinski als leitende Konfektionsarbeiterin angestellt gewesen. Und Kempinski lieferte den Stoff, aus dem die Träume sind, tatsächlich so reichhaltig, dass noch heute in Romanen an diesem Mythos weitergesponnen wird (Bosetzky 2010). Die Euphorie war freilich eine Anfangseuphorie, die sehr bald dem unternehmerischen Katzenjammer wich. Ab 1930 versank die vermeintliche Goldgrube im Strudel der Weltwirtschaftskrise. Weil die massenhaften Gäste nur mehr „stundenlang bei einer Tasse im Café saßen“, erwog die Haus Vaterland Gaststätten GmbH in einer Krisensitzung am 5. August 1930, das Eintrittsgeld von einer auf zwei Reichsmark zu verdoppeln. Kempinski schmetterte den aus der Not geborenen Vorschlag aber ebenso ab wie die geplante Schließung des legendären Palmensaals. Das ausgepowerte Publikum sollte durch derlei unpopuläre Maßnahmen nicht noch mehr verschreckt werden. Vor allen Dingen aber durfte man vor der Konkurrenz keine Schwächen zeigen (Pracht Kracauer zitiert hier einen nicht genauer identifizierten „Plauderer in einem Berliner Mittagsblatt“ (Kracauer 1930a, 291).
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1994, 78 – 79). Was 1927 von der Deutschen Zeitung noch als „der richtige Ort für einen Wettkampf um die vergnügungsbereiten Menschenmassen“ begrüßt worden war,¹³ das wurde nur wenige Jahre später von der deutschen Wirklichkeit verabschiedet. Wie beschreibt nun Kracauer diese „Symbolzentrale“ der Moderne? Und auf welche Tiefe verweist die eklatante Oberflächlichkeit des Hauses Vaterland? Merkwürdigerweise verzichtet der sachkundige Kracauer hier konsequent auf seine Verwicklung in die analysierte Sachlage. Es werden nur wenige Zitate aus Interviews mit Angestellten über ihr Freizeitverhalten eingeflochten. Intimere Gespräche gibt es hier überhaupt keine. Kracauers erste Diagnose lautet daher klipp und klar, dass die Oberfläche im Haus Vaterland nichts als sentimentale Oberflächlichkeit sein. Die Tiefe, die sie bloß vortäusche, sei hohl. Das könne an der Fassadenarchitektur des Hauses mit ihrer exotisch verbrämten Neuen Sachlichkeit unschwer abgelesen werden. Das „Geheimnis“ nämlich „enthüllt“ sich dort von selbst: Nicht schlagender könnte sich das Geheimnis der neuen Sachlichkeit enthüllen als hier. Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitektur nämlich grinst Grinzing hervor. Nur einen Schritt in die Tiefe, und man weilt mitten in der üppigsten Sentimentalität. Das aber ist das Kennzeichen der neuen Sachlichkeit überhaupt, daß sie eine Fassade ist, die nichts verbirgt, daß sie sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht.Wie die Verwerfung des Alters, so entspringt sie dem Grauen vor der Konfrontation mit dem Tod. (Kracauer 1930a, 293)
Diese Diagnose wird von Kracauer im Folgenden zwar nicht revoziert, sie wird aber doch entscheidend modifiziert. Und es ist durchaus bezeichnend für Kracauers physiognomische Methode, wie sie abgeändert wird. Kracauers wichtigstes Mittel sind dabei die neuen Medien, die die Zerstreuungsindustrie für ihre eigenen Zwecke perfektioniert hatte. Gerade das aber spielt dem kritischen Medienarbeiter Kracauer in die Hände. In seiner Aussagekraft unerreicht, wird zuerst der Reklameprospekt des Hauses Vaterland von Kracauer unverändert in den eigenen Text hinein montiert: Die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten erübrigt sich um so mehr, als sich den unübertrefflichen Angaben des Haus-Vaterland-Prospektes kein Wort hinzufügen oder abnehmen läßt. Dort heißt es etwa vom Löwenbräu: „Bayerische Landschaft: Zugspitze mit Eibsee – Alpenglühen – Einzug und Tanz der bayerischen Bua’m. Schuhplattlerpaare …“; oder von der Wild-West-Bar: „Prärielandschaften an den großen Seen – Arizona – Ranch – Tänze – Cowboylieder und -tänze – Neger-Cowboy-Jazzband – Federnde Tanzfläche.“ (Kracauer 1930a, 293)
Deutsche Zeitung vom 11. Februar 1927, zitiert nach Pracht 1994, 73.
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Wie Mosaiksteine oder -stifte setzt Kracauer hier die Zitate aus der Werbebroschüre in den eigenen Text ein. Dass sich ihnen „kein Wort hinzufügen oder abnehmen lässt“, spricht für die Suggestionskraft der Bilder. Die Flucht der exotischen Themensäle erinnert dabei nicht von ungefähr an die Panoramen des neunzehnten Jahrhunderts (Kracauer 1930a, 293). Ihre Funktion entspricht ganz dem Begehren nach Evasion und Zerstreuung, welches diese protokinematografischen Bildermaschinen kultiviert hatten (von Plessen und Giersch 1993). Benjamin schreibt dazu in seinem Exposé zur Passagen-Arbeit „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ mit einem ganz ähnlichen Interesse für die darin konzentrierten mediengeschichtlichen Zusammenhänge: Man war unermü dlich, durch technische Kunstgriffe die Panoramen zu Stätten einer vollkommenen Naturnachahmung zu machen. Man suchte den Wechsel der Tageszeit in der Landschaft, das Heraufziehen des Mondes, das Rauschen der Wasserfälle nachzubilden. [Der französische Historienmaler Jacques-Louis] David rät seinen Schü lern, in den Panoramen nach der Natur zu zeichnen. Indem die Panoramen in der dargestellten Natur täuschend ähnliche Veränderungen hervorzubringen trachten, weisen sie über die Photographie auf Film und Tonfilm voraus. (Benjamin 1982b [1935], 48)
Benjamins Beschreibung der in den Panoramen gezüchteten, falschen zweiten Natur sieht Kracauers Rundblick im Haus Vaterland zum Verwechseln ähnlich. Das Täuschungsmanöver, mit dem die Angestelltenmassen hier nach dem Achtstundentag hinters Licht geführt werden, liegt jedenfalls auch für Kracauer offen zutage: Der Raum, in dem der Heurige genossen wird, bietet einen herrlichen Fernblick auf das nächtliche Wien. Matt hebt sich der Stephansturm vom gestirnten Himmel ab, und eine innerlich beleuchtete Elektrische entgleitet über die Donaubrücke. […] Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint. Eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist. (Kracauer 1930a, 293)
Dabei ist die im Haus Vaterland kompensierte „Büromaschine“ als Mosaik gar nicht so einfach zu durchschauen. Denn zwischen den montierten Versatzstücken der „farbenprächtigen Welt“ und Kracauers eigenem Kommentar bleiben unverkittete Fugen sichtbar. Und aus dem Widerstand zwischen diesem fragmentierten Bild im Vordergrund und den „Hintergründen des Produktionsprozesses“ ergibt sich eine eigentümliche Induktionsspannung (Kracauer 1930a, 293). Für eben die Energie, die dadurch freigesetzt wird, interessiert sich Kracauer. Und auf sie hat es auch seine Medienästhetik der modernen Zerstreuungsindustrie am Ende abgesehen. Das macht das Schlussbild klar, in das Kracauers Textmontage über das emblematische Obdachlosenasyl Haus Vaterland mündet. Es lässt mindestens
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durchblicken, welche Konsequenzen sich aus dem methodischen Erkenntnis- und Darstellungsprinzip des Mosaiks für eine kritische Theorie der Tiefe in der Moderne ergeben. Der Beweggrund dieses Schlussbildes ist der Film, und sein Motiv ist das Medium selbst. Dank seiner intimen Kenntnis nicht allein der „gegenwärtigen Filmproduktion“, sondern auch des Kinopublikums¹⁴ weiß der Filmkritiker Kracauer, daß nahezu sämtliche von der Industrie gelieferten Erzeugnisse das Bestehende rechtfertigen, indem sie seine Auswüchse sowohl wie seine Fundamente dem Blick entziehen; daß auch sie die Menge durch den Similiglanz der gesellschaftlichen Scheinhöhen betäuben. Hypnotiseure schläfern so mit Hilfe glitzernder Gegenstände ihre Medien ein. Ein Gleiches gilt für die illustrierten Zeitungen und die Mehrzahl der Magazine. Bei ihrer genauen Analyse ergäbe sich vermutlich, daß die in ihnen immer wiederkehrenden Bildmotive wie magische Beschwörungsformeln gewisse Gehalte ein für allemal in den Abgrund bildloser Vergessenheit zu stürzen trachten – jene Gehalte, die von der Konstruktion unseres gesellschaftlichen Daseins nicht umschlossen werden, sondern dieses Dasein selbst einklammern. Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod. (Kracauer 1930a, 295)
Affirmativ trachtet also auch die Filmindustrie danach, durch eine Flut von Bildern auf der Oberfläche ihre eigentlichen Interessen in der Tiefe zu camouflieren. Aber in dieser Tiefe waltet eben nicht nur das Kartell von Politik und Ökonomie, es brüten dort auch die Revolution und die Anarchie. Wie der Hypnotiseur sein Medium manipuliert, bis es erwacht, so vermag auch die Zerstreuungsindustrie im Haus Vaterland die Angestellten nur vorläufig „an den der Oberschicht erwünschten Ort zu bannen und sie von kritischen Fragen abzulenken“ (Kracauer 1930a, 295). Das Übertragungsszenario der Hypnose enthält ein schwer kalkulierbares Restrisiko. Und aus genau diesem Grund setzt Kracauer in diese mediale Urszene eine utopische Hoffnung. Denn das Spiel mit den wie „magische Beschwörungsformeln“ funktionierenden Bildern ist auch für diejenigen nicht ungefährlich, die es manipulieren und also offensichtlich in der Hand haben. Die magischen Bilder stehen in einem nicht einfachen Verhältnis zu einer mehrdimensionalen Tiefe. In dieser Tiefe tun sich jenseits der ‚manipulativen Hintergründe‘ noch einmal Abgründe auf: der Abgrund einer bildlosen Vergessenheit, aber auch ein Abgrund mit gesellschaftlichen Gehalten, die sich nicht weiter konstruieren und manipulieren lassen. Und aus diesen tiefen Abgründen heraus können die manipulierten Bilder und Gestalten unversehens gegen die Manipulatoren selbst aufstehen.
Kracauer verweist an dieser Stelle auf seine beiden in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Feuilletons „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (Kracauer 1927a) und „Der heutige Film und sein Publikum“ (Kracauer 1928).
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Die Medienkritik, die Kracauers Oberflächenanalyse modifiziert, legt in diesem Schlussbild eine undurchsichtige Unterwelt mit einer anarchischen Kraft frei. So hohl die Tiefe hinter der Fassade des Hauses Vaterland auch ist, sie ist jedenfalls gänzlich entsichert. Die Wirklichkeit, die hier wurzelt, wird von der Fotografie und vom Film in ihrer ganzen Fülle traumwandlerisch festgehalten. Wenigstens vorläufig und mindestens bis ans Ende der Tage. Am Schluss seines großen „Photographie“-Aufsatzes von 1927 hat Kracauer diese hypnagoge Vorläufigkeit als „Vabanque-Spiel der Geschichte“ bezeichnet (Kracauer 1927c, 696). Und am Ende seiner Filmtheorie hat er darin seine Hoffnung begründet, dass diese ‚äußere Wirklichkeit‘ einst erlöst werden wird (Kracauer 1960, 300 – 311). Kracauers Tiefe ist in diesem Sinne bodenlos. Seine Utopie von einer ‚medialen Erlösung der Physis‘ (Butzer 2009, 160 – 164) hat genau in dieser Bodenlosigkeit ihren tieferen Grund.
3 Kracauers Topodiagnostik der Moderne Stellen wir uns abschließend noch einmal die Frage: Was bedeutet die Verbindung von literarischer Darstellung und kritischer Medienästhetik für Kracauers Topodiagnostik der Moderne? Und wie wirkt sie sich auf das analytische Verhältnis von Oberflächenerscheinungen und Tiefenstruktur aus? Weil Kracauer von den Menschen und Materialien her bzw. durch diese hindurch denkt und weil sich seine Theorie reaktiv allererst herausbildet, muss auch meine Antwort auf diese Fragen vorläufig bleiben. Der Raum der Moderne ist für Kracauer jedenfalls kein statischer, sondern ein dynamischer. Kracauer interessiert sich im Grunde weniger für das gesellschaftliche System, das diesen Raum konstruiert, als vielmehr für die Menschen- und Bilderströme, die darin miteinander kommunizieren. Genauer gesagt übt er keine Kritik an einem bestehenden System im Interesse irgendeines anderen, künftigen Systems, sondern arbeitet an der Aufhebung jeder systematischen Organisation von Gesellschaft, weil ihm eine solche unmenschlich vorkommt. Seine physiognomische Lektüre von Oberflächenphänomenen aus der Welt der Angestellten läuft daher auf keine Systemtheorie, sondern auf eine Kommunikationstheorie der Moderne hinaus. Aus diesem Grund konzentriert sich Kracauer als teilnehmender Beobachter ganz auf die neuen Medien der Moderne (Fotografie und Film) als die zentralen Kommunikationsmittel seiner Zeit. Kracauer beschreibt diese Medien in ihrer effektiven und oft perfiden Funktionsweise aber nicht nur, sondern er rechnet gleichzeitig mit ihrem ästhetischen Eigenwillen. Denn der Wille, der die Scheinwelt der modernen Medien im Grunde manipuliert, ist zwar mächtig, aber er ist nicht allmächtig, weil er von einem noch tieferen Abgrund unterminiert wird. In diesem Abgrund schlummert
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eine Widerstandskraft, die die Pläne der Kulturindustrie durchkreuzt und Sand ins Getriebe ihres gut geölten social engineering streut. Für Kracauer schimmert diese abgründige Tiefe gerade in den oberflächlichsten und zerstreutesten Produkten dieser Industrie durch, weil deren kultureller Wert so offensichtlich null und nichtig ist. So ist der Wunschtraum der Angestellten im Haus Vaterland zwar zu „Stuck“ geworden, wie Benjamin notiert (Benjamin 1972a, 224). Aber dieser Stuck besitzt ein unberechenbares Sprengpotential. Wer ihm vertraut, der glaubt wie Kracauer daran, dass die „erträumten Märchengefilde“ des Hauses Vaterland nicht nur illusionär sind, sondern dass sie einst wirklich „leibhaftig Figur“ werden können (Kracauer 1930a, 294). Dieser Glaube ist die notwendige medienästhetische Ergänzung zu Kracauers historischer Mikroanalyse. Carlo Ginzburg hat diese mit guten Gründen an den Anfang einer emanzipatorischen Historiografie der Moderne gestellt (Ginzburg 2007). Denn Kracauer hat von Beginn weg und bis zum Schluss an die Unbotmäßigkeit des billigen Zeugs und seiner namenlosen Liebhaber geglaubt. Und erst dieser Glaube verleiht auch seiner Oberflächenanalyse ihre eigentliche Tiefendimension.
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Vom kreatürlichen zum erinnernden Tiefsinn: Walter Benjamins Flucht aus der kafkaesken Moderne Einer der bekanntesten Theoretiker der in diesem Band verhandelten Dimension der Tiefe ist zweifellos Walter Benjamin, insbesondere mit Blick auf seine der Tiefendimension unmittelbar verpflichtete Theorie der im Buch über das barocke Trauerspiel untersuchten Allegorie. Die zentrale Funktion, die die Allegorie in Walter Benjamins Analyse des barocken Trauerspiels einnimmt, hängt mit dem Tiefsinn zusammen, den Benjamin ursprünglich anhand eines Bildes Albrecht Dürers beschrieb. Und dessen Entdeckung des Tiefsinns geht auf Dürers Hang zur melancholischen Grübelei zurück, den Benjamin wiederum in seine Konzeption von Trauerspiel, Melancholie und Allegorie integriert und als historisches Epochenkonzept verallgemeinert. Der barocke Melancholiker ist deshalb der Allegorie so nahe, weil sein grübelndes Naturell keine endgültige Erkenntnis kennt, sondern vielmehr zwischen allen Wesen Ähnlichkeiten finden und Vergleiche ziehen kann, und ein einziger Sinn unauffindbar ist: „Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen.“ (Benjamin 1991a, 370) Der von der Allegorie suggerierte Sinnzusammenhang ist also immer nur ein scheinbarer, dessen Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt auseinanderfallen: „Wie Stürzende sich im Fallen überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische Intention dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim.“ (Benjamin 1991a, 405) Das Ergebnis ebendieses Umsturzes ist das Grübeln: „Der falsche Schein der Totalität geht aus. Denn das Eidos verlischt, das Gleichnis geht ein, der Kosmos darinnen vertrocknet. In den dürren rebus, die bleiben, liegt Einsicht, die noch dem verworrenen Grübler greifbar ist.“ (Benjamin 1991a, 352) Dieses berühmte Bild einstürzender Bedeutungen und Impressionen als Strukturprinzip der Tiefenphantasie, dieser Sturz der Bedeutung in die grundlose Tiefe macht den Grübler nachdenklich. Er entsteht, weil sich der Grübelnde in die Sphäre des kreatürlichen Seins versenkt: Denn alle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr. Alles Saturnische verweist in die Erdtiefe, darin bewährt sich die Natur des alten Saatengottes. […] Die Eingebungen der Muttererde dämmern aus der Grübelnacht dem Melancholischen auf wie Schätze aus dem Erdinnern. (Benjamin 1991a, 330)
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Es ist in der Forschung häufig bemerkt worden, dass diese Deutung des barocken Trauerspiels einen Anachronismus produzierte, da Benjamin seine These einer „Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge“ aus seiner Lektüre moderner Autoren ableitete: neben Charles Baudelaire und Marcel Proust vor allem Franz Kafka. In der Tat ist Kafkas Erzählung „Der Bau“ Benjamins Beispiel für eine der barocken Allegorie vergleichbare Versenkung ins Kreatürliche: „Sieht man das Tier im ‚Bau‘ […] nicht grübeln, wie man sie wühlen sieht? Und doch ist auf der anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Unschlüssig schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an allen Ängsten und hat die Flatterhaftigkeit der Verzweiflung.“ (Benjamin 1991c, 430) Dass Benjamin auch bei Kafka diese „Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge“ zu finden meinte, erklärt die Tatsache, dass in Kafkas „Der Bau“ aus der subjektiven Perspektive eines Tieres erzählt wird. Dieses von Isolde Schiffermüller sogenannte „Grübeln der Tiere“ taucht in der „Zoopoetik“ (Schiffermüller 2003) Kafkas ausgesprochen häufig auf: etwa in „Der Riesenmaulwurf“ von 1914, in „Die Verwandlung“ von 1915, in „Ein Bericht für eine Akademie“ von 1917, in „Forschungen eines Hundes“ von 1922, und in „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ von 1924. Kafka assoziierte mit diesem Bild des sich seinen Bau erarbeitenden, ihn bewachenden und ständig über seine Verbesserung nachgrübelnden Tieres die Darstellung eines hochlogischen Denkens, das permanent damit beschäftigt ist, über die Möglichkeiten des Überleben-Könnens nachzugrübeln. Walter Benjamin sah in dieser Novelle hingegen den Versuch Kafkas angelegt, „den Tieren das Vergessene abzulauschen.“ (Benjamin 1991c, 430) Damit ist eine kleine, aber wichtige Verlagerung angedeutet, deren Auswirkungen in diesem Beitrag kritisch nachgefragt werden soll. Denn dieses „Vergessene“ zu erkunden, kann und soll im Folgenden als eine utopische Überhöhung gedeutet werden, die Benjamins Deutung des modernen Tiefsinns von derjenigen Kafkas signifikant unterscheidet. Meine These wird dabei sein, dass Benjamin in seinem Versuch, die ‚Dimension der Tiefe‘ (Mülder-Bach 2007) aus der Romantik in die Moderne zu überführen, hinter Kafkas Konzeption zurückbleibt, indem er dem kreatürlichen Entwurf eine auf die Erinnerung utopisch erfüllten Lebens hin fokussierte Idee des Tiefsinns entgegenstellte, deren Ursprung in einer von Kafka bewusst überwundenen Tradition der Romantik liegt.
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1 Das sorgenvolle Grübeln der Kreatur: Kafkas „Der Bau“ Bevor wir zu jener Erzählung kommen, in welcher sich die genuin moderne Ausprägung grübelnden Denkens entfaltet hat – Franz Kafkas „Der Bau“ von 1923 bzw. 1924 –, müssen wir eine weitere Beobachtung Benjamins zu Kafka heranziehen: „Unter allen Geschöpfen Kafkas kommen am meisten die Tiere zum Nachdenken.“ (Benjamin 1991c, 430 – 431) In der Tat ist die späte Erzählung „Der Bau“ nicht nur eine der dichtesten und konsequentesten Verschlüsselungen in der Reihe jener modernen Erzählungen, in denen das Grübeln als kognitiver Mechanismus erfasst wird. Sie ist außerdem auch – ganz analog zur Beobachtung Benjamins – aus der subjektiven Perspektive eines Tieres erzählt. Bekanntlich taucht diese Perspektive in den Erzählungen Kafkas ausgesprochen häufig auf, wie wir bereits zeigten. Man könnte daher dieses Interesse Kafkas an der Kreatur bzw. am kreatürlichen Leben mit Walter Benjamin lesen. Es wäre dann jene Versenkung ins Kreatürliche, welche nach Benjamin generell die Faszination des Grübelns ausmacht (vgl. Benjamin 1991a, 330). Würde man Kafkas „Der Bau“ auf Benjamins eingangs zitierte Definition einer „Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge“ hin lesen, dann wäre der Text vor allem als grüblerischer Nachvollzug der Gedankenwelt eines Dachses oder eines Maulwurfs zu verstehen. Dies wäre eine von mindestens drei möglichen Lesarten, und es gibt Gründe, die für sie, aber auch Gründe, die gegen sie sprechen. Dass Kafka Brehms Kapitel über den Dachs und den Maulwurf benutzte, weiß man seit den Arbeiten Hartmut Binders (Binder 1983) sowie Paul Hellers (Heller 1989, 112– 116). Und wie in Kafkas „Der Bau“, so bevorzugt der Dachs auch in Alfred Brehms Thierleben „stille und einsame Orte“, welche er als „Einsiedler sich aussucht.“ (Brehm 1877, 146) Das Sicherheitsdenken ist dort vorformuliert, ebenso die Kunstfertigkeit des Baus, der in großen Teilen den Beschreibungen Kafkas gleicht. Zwar vermeidet Kafka jene Weidmannssprache, welche in Brehms Beschreibung aufgeführt ist,¹ aber er übernimmt etwa die Architektur der bei Brehm beschrie-
„In der Weidmannssprache nennt man das Dachsmännchen Dachs, das Weibchen Fähe oder Fehe, die Augen Seher, die Ohren Lauscher, die Eckzähne Fänge, die Beine Läufe, die Haut Schwarte, den Schwanz Pürzel, Ruthe, Zain, die Nägel Klauen, die Gänge, welche zu seiner Wohnung führen Röhren, Geschleife und Einfahrten, den Ort, wo unter der Erde die Röhren zusammenlaufen, den Kessel. Man sagt, der Dachs bewohnt den Bau, befährt die Röhre, sitzt im Kessel, versetzt, verklüftet, verliert sich, wird vom Dachshunde im Kessel angetrieben, schleicht und trabt, weidet sich oder nimmt Weide an, sticht oder wurzelt, wenn er Nahrung aus der Erde gräbt, ranzt oder rollt, indem er sich begattet, verfängt sich, wenn er sich an Hunden festbeißt; er
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benen Dachsbauten oder auch die aus dem Vergleich mit Füchsen gewonnene Charakterisierung des Dachses. Bei Brehm heißt es dazu: Er ist außerordentlich mißtrauisch und furchtsam, wagt sich deshalb auch bloß dann heraus, wenn er überzeugt sein kann, daß alles vollkommen sicher ist. Im Nothfalle geht er Aas an. Er frißt im ganzen wenig und trägt nicht viel für den Winter in seinen Bau ein; es müßte denn ein Möhrenacker in der Nähe desselben liegen und seiner Bequemlichkeit zu Hülfe kommen. (Brehm 1877, 148)
Unschwer lässt sich in der Furchtsamkeit des Dachses die Erzählerfigur Kafkas wiederfinden. Und doch ist ganz entscheidend, dass Kafkas Text nicht vergleichbar ist mit demjenigen Brehms, dass also eine Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge bei Kafka mehr ist denn nur eine Beschreibung des zu beobachtenden tierischen Verhaltens. Seinen Gehalt erlangt der Text ja erst durch die Darstellung einer fremden und doch vertrauten Gedankenwelt, die gerade nicht animalischer Natur ist. Der Text ist ganz im Unterschied zu den Skizzen Brehms eine Art innerer Monolog, geprägt bzw. besser getrieben von der ständigen Angst eines tierähnlichen Erzählers bzw. Sprechers, in seinem scheinbar sicheren Tiefbau einem tödlichen Gegner zu begegnen und von diesem vernichtet zu werden. Bei Brehm wird die Welt des Dachses zwar im anthropomorphisierenden Tonfall, aber stets aus der Warte externer Beobachtung geschildert: Dann rückt er äußerst vorsichtig mit dem halben Kopfe aus der Röhre, sichert einen Augenblick und taucht wieder unter. Dies wiederholt sich oft mehrmals, bis der geheimnisvolle Bergbewohner sich höher aus der Röhre heraushebt, einen Augenblick noch mit Gehör und Nase die Umgebung prüft und dann, gewöhnlich trottend, den Bau verläßt. (Brehm 1877, 147)
Bei Kafka hingegen stehen die Anthropomorphisierungen im Zeichen einer selbstzerstörerischen Konzeption des Lebens als Kampf ums Dasein, zu dessen Verständnis eine wohl eher menschenähnliche Intelligenz vonnöten ist. Denn den darwinistischen Kampf ums Dasein kämpft das in „Der Bau“ dargestellte Tier mit äußerster Logik, Plan und Berechnung. Eine von Walter Benjamin her gedachte Lesart hätte diese grübelnde Kreatur als Medium dessen zu deuten, was Benjamin in seinem Essay „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“ als vergessene Schuld beschrieben hat. Tiere seien bei Kafka „Behältnisse des Vergessenen“ (Benjamin 1991c, 430). Kafka ginge es darum, „den Tieren das Vergessene abzulauschen.“ (Benjamin 1991c, 430) Ist also nach Benjamin das Vergessen ein konstitutiver Teil der „jüdischen wird todt geschlagen, die Schwarte abgeschärft, das Fett abgelöst, der Leib aufgebrochen, zerwirkt und zerlegt.“ (Brehm 1877, 146)
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Religion“ – „der heiligste … Akt des … Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächtnisses“ (Benjamin 1991c, 429) –, so ist entsprechend das kreatürliche Leben nach Benjamin – sowohl bei Kafka als etwa auch in Tiecks Der blonde Eckbert – „Chiffre einer rätselhaften Schuld“ (Benjamin 1991c, 430). Entsprechend ließe sich der „Bau“ als Gegenstand der Erzählung „Der Bau“ mit Benjamins Begriff der Allegorie deuten. Denn die zentrale Funktion, die die Allegorie in Walter Benjamins Analyse des barocken Trauerspiels einnimmt, hängt ja mit ebenjenem berechnenden und planenden Grübeln zusammen, welches Benjamin selbst schon in diesem Text Kafkas ausmachte. Freilich hat Benjamin im Trauerspielbuch das Grübeln auf die Melancholie und nicht wie später anhand von Kafkas „Der Bau“ auf Ängste und Verzweiflung hin definiert. Was demnach bei Kafka der Bau, das ist im Trauerspielbuch die Allegorie – es sind rätselhafte Medien der Selbsterkenntnis, welche ihrerseits im Zeichen der Schuld stehen: „Gespenster wie die tief bedeutenden Allegorien sind Erscheinungen aus dem Reiche der Trauer; durch den Trauernden, den Grübler über Zeichen und Zukunft, werden sie angezogen.“ (Benjamin 1991a, 370) Der von der Allegorie suggerierte Sinnzusammenhang ist immer nur ein scheinbarer, dessen Elemente zu einem bestimmten Zeitpunkt auseinanderfallen bzw. in eine grundlose Tiefe hinabsinken (vgl. Benjamin 1991a, 405) Dieser Einbruch der in der Allegorie nur scheinbar repräsentierten Totalität der Repräsentation von Sinn erzeugt – wie bereits erläutert –, das Grübeln (vgl. Benjamin 1991a, 352). In beiden Fällen also – im barocken Einsturz der Bedeutungen wie auch im Erinnern vergessener Schuld – ist es nach Benjamin der rätselhafte Tiefensturz ursprünglicher Totalität, über welchen der Grübler nachdenkt. Neben dieser ersten Lesart – die Versenkung ins Kreatürliche als Versuch, eine vergessene Schuld zu erinnern – gibt es eine zweite zu diskutierende Deutung: Jochen Schmidt sah in diesem Text eine moderne „Rationalitätskritik“ bzw. eine „selbstquälerische Satire auf die instrumentelle Vernunft“ angelegt (Schmidt 2007, 337). In der Tat sind Begriffe und Umschreibungen wie Plan, planmäßig, Gesamtplan, Grundplan, Berechnung und berechnend die Leitbegriffe des Kafka’schen Textes. So ist es das erklärte Ziel des seit Bettine Menke sogenannten „ErzählerTiers“ (Menke 1992, S. 157), „den Bau genau auf die Verteidigung und auf alle bei ihr vorstellbaren Möglichkeiten hin zu besichtigen, einen Verteidigungsund einen zugehörigen Bauplan auszuarbeiten und dann mit der Arbeit gleich, frisch wie ein Junger, zu beginnen.“ (Kafka 1970, 382) Allerdings ist diese Lektüre im Sinne einer Satire auf die instrumentelle Vernunft dann unzutreffend, wenn man die Möglichkeit berücksichtigt, dass die Erzählung auch einen selbstreferentiellen Aspekt beinhaltet. Eine Satire hat diesen selbstreferentiellen Bezug in der Regel nicht. Diese dritte mögliche Lektüre in Orientierung an der Kategorie der Selbstreferenz betonte vor allem Bettine Menke, die „Der Bau“ bzw. den Bau in
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„Der Bau“ als „Metapher für den Text(‐Bau)“ (Menke 1992, 149) gelesen hat. Freilich ist diese Perspektive dahingehend zu präzisieren, dass nach Menke der Text zugleich ebendiese „metaphorische Struktur dementiert, insofern er also nicht Metapher zu sein vermag.“ Mit dieser paradoxen, an Paul de Man orientierten These verbindet Menke eine Vorstellung von Schreiben als Graben: Das „ErzählerTier […] schreibt ja schon, indem es gräbt, und es gräbt, indem es schreibt: Das Graben ist ein Eingraben und eine Einschreibung.“ (Menke 1992, 148) Menkes Deutung ist insofern zuzustimmen, als sie eine ganz zentrale Bewegung des Textes präzise erfasst: die Verbergung bzw. Abschottung des Textes gegenüber dem Leser. Dazu muss man nicht unbedingt auf Derridas Begriff der Schrift als Graphem zurückgreifen, wie Menke es tut. Es reicht schon der Hinweis auf die Tatsache, dass man als Leser im Nachvollzug des Textes „Der Bau“ nicht umhinkommt, sich in dessen labyrinthische Architektur zu begeben, diese gedanklich nachzuvollziehen, um so aber in die Falle des Textes zu tappen. Denn allein durch den Nachvollzug der Architektur entsteht eine Sicht auf den Text, die derjenigen des ErzählerTiers ähnelt. Man folgt dessen Spuren durch die zwei Eingänge auf der Erdoberfläche – durch die falsche, in eine Sackgasse führende und die echte, von Moos bedeckte Öffnung –, durch den „Labyrinthbau“ vor dem Aus- bzw. Eingang, sein „volles kleines Zickzackwerk von Gängen“ (Kafka 1970, 365), die diversen kleinen „Plätze“, unterteilt in Haupt-, Neben- und ReserveVorratsplätze, bis hin zum eigentlichen Haupt- bzw. „Burgplatz“ in der „Mitte des Baus“, von welchem wiederum zehn verschiedene Gänge ausgehen, die ihrerseits zu „weiteren vielen Plätzen“ führen. So verdunkelt sich der Blick des Lesers, denn er steckt mitten im labyrinthischen Bau. Dieser Effekt der Irreführung wird vor allem dann deutlich, wenn man die Beschreibung Brehms vergleichend hinzuzieht, in welcher die Ausstattung des Dachsbaus weit übersichtlicher und standardisierter beschrieben wird.² Dieser Charakter des Lesens als einem Sich-Verirren basiert auf dem Charakter des Schreibens als Akt des Grabens im Sinne Menkes. Mit diesen drei so unterschiedlichen Lesarten verbindet sich die Frage nach den Möglichkeiten, die Erzählung „Der Bau“ als Metapher zu verstehen. Kann man
„Fast regelmäßig sind die Gänge, welche von dem Kessel auslaufen, acht bis zehn Meter lang und ihre Mündungen oft dreißig Schritte weit von einander entfernt. Der Kessel befindet sich gewöhnlich einundeinhalb bis zwei Meter tief unter der Erde; ist jedoch die Steilung, auf welcher der Bau angelegt wurde, bedeutend, so kommt er auch wohl bis auf fünf Meter unter die Oberfläche zu liegen. Dann aber führen fast regelmäßig einzelne Röhren, welche zur Lüftung dienen, senkrecht empor.“ (Brehm 1877, 146)
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„Der Bau“ als satirischen Spiegel lesen? Für diese Lesart scheint die Selbstreferentialität des Textes zu eindeutig. Aber was verbindet sich dann mit dem Bild des sich seinen Bau erarbeitenden, ihn bewachenden und ständig über seine Verbesserung nachgrübelnden Tieres? Umschreibt der Text den Versuch einer Ablösung von allen gesellschaftlich-antagonistischen Verstrickungen, von aller „Gegnerschaft der Welt“, dessen Paradoxie im Scheitern auf der Suche nach dem „Burgplatz“ totaler Sicherheit liegt? Oder ist „Der Bau“ eben eine Parabel auf den Schreibakt? Wir werden entgegen dieser naheliegenden Deutung in Anlehnung an Benjamin behaupten, dass „Der Bau“ eher als Parabel auf einen bestimmten Denkakt verstanden werden kann, ohne diesen allerdings satirisch zu verzerren. Vielmehr geht es in dem Text darum, sich diesem Denkakt konsequent auszusetzen. Dieser Denkakt wird durch die symbiotische Beziehung des Tiers zu seinem Bau charakterisiert, inhaltlich erfassbar wird er jedoch durch die von dieser Metapher gelöste Darstellung eines Denkprozesses. Dieses zeigt sich zum einen in der Gegenstandslosigkeit der Tierangst: Trotz aller Befürchtungen wird das Tier niemals wirklich angegriffen. Und er zeigt sich zum anderen in der Tatsache, dass das Denken des Tiers letztlich seiner eigenen Strategie erliegt: Sollte das vom ErzählerTier so gefürchtete feindliche Tier sich anfangs in der labyrinthischen Konstruktion des Baus verfangen, so verfängt sich letztlich das ErzählerTier in seiner tief paranoiden Panik bzw. im Labyrinth seiner panischen Gedanken. Die Konsequenzen dieser Lesart seien deutlich betont: Liest man den Text „Der Bau“ als Allegorie des Grübelns, dann liest man ihn nicht mehr als Erzählung. Das ist eine nachvollziehbare Polarität zwischen dem Gestus des Erzählens und dem des Grübelns: Weil das Denken in „Der Bau“ nicht in eine mit Anfang und Ende ausgestattete Erzählung gebettet ist, entfaltet es allererst seine grüblerische Dynamik (Meyer-Sickendiek 2013). Die Dynamik dieses Denkens ist also nicht an einer bestimmten Chronologie bzw. Ereignisfolge, nicht an der Unterscheidung von Anfang und Ende, sondern vielmehr an der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt orientiert. Der Clou des Kafka’schen Textes ist nun, dass sich das Denken dieser Unterscheidung zunehmend als eigendynamischer Mechanismus entpuppt. Der Bau, aus Gründen der Sicherheit im „bisherigen Vernichtungskampf“ (Kafka 1970, 367) angelegt, hat letztlich die Ausweglosigkeit seines Bauherrn zur Konsequenz. Durch dessen Versenkung in ein „Inneres“ bei gleichzeitiger Abschottung von der Außenwelt wird der Bau ab einem bestimmten Moment zur Falle, wodurch die ursprüngliche Intention der Absicherung ad absurdum geführt wird. Durch diese Inversion wird der Bau jedoch mehr als nur zu einer Metapher der Schrift. Er wird vielmehr zu einer Metapher des Grübelns, dessen Fatalität ja ebenfalls darin besteht, Lösungen zu erdenken, aber eben dadurch letztlich in der Ausweglosigkeit zu landen, sobald man sich in seiner Innenwelt verschlossen hat. Im Falle von „Der Bau“ liefert Kafka zugleich den
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Impuls dieser Dynamik: Die Sorgen und Ängste, die anfänglich den Anlass zum Bau des Baus geben, lassen das Tier schließlich erkennen, dass die mit dem Bau gegebene Innenwelt die eigentlich größte Gefahr darstellt: Es ist verhältnismäßig leicht, jemandem zu vertrauen, wenn man ihn gleichzeitig überwacht oder wenigstens überwachen kann, es ist vielleicht sogar möglich, jemandem aus der Ferne zu vertrauen, aber aus dem Innern des Baues, also einer anderen Welt heraus, jemandem außerhalb völlig zu vertrauen, ich glaube, das ist unmöglich. (Kafka 1970, 370)
Warum aber deutet der Text die mit dem Bau des Baus gegebene Differenz von Innen und Außen als Quelle jener Gefahr, gegen welche der Bau eigentlich gebaut wurde? Auf diese Frage antwortet der zweite Teil des Textes, in welchem sich jenes notorische Zischen einstellt, das das Tier letztlich an den Rand seines Verstandes bringt. Dieses Zischen entfaltet seine Macht allein deshalb, weil sich in der Innenwelt des Baus das Leben selbst nurmehr in einer extremen Einschränkung wahrnehmen lässt: durch das Gehör. Das kaum wahrnehmbare, leise Zischen irritiert, weil es die Beschränkung des Tiers auf dessen Hörsinn offenkundig werden lässt. Mehr noch, man kann dieses Zischen überhaupt nur dann vernehmen, wenn man sich auf diese Innenwelt vollständig eingelassen hat: „[I]ch habe es gar nicht gehört, als ich kam, obwohl es gewiß schon vorhanden war; ich mußte erst wieder völlig heimisch werden, um es zu hören, es ist gewissermaßen nur mit dem Ohr des Hausbesitzers hörbar.“ (Kafka 1970, 375) Erst aus dieser Reduktion der Sinne auf das Hören entfaltet das Zischen seine beängstigende Kraft: Es ertönt pausenlos, ohne eigentliche Quelle oder Herkunft, aus nicht genau bestimmbarer Entfernung, zudem ist seine Ursache nur zu erraten.Weil es auf eine Quelle verweist, die nur erhorcht, nicht aber wirklich gesehen werden kann, macht das Zischen das strategisch so ausgeklügelte System des Baus hinfällig. Nicht also der unsichtbare Gegner in Form etwa eines großen Tiers, sondern einzig der Möglichkeitssinn des ErzählerTiers bewirken jene „völlige Umkehrung der Verhältnisse im Bau, der bisherige Ort der Gefahr ist ein Ort des Friedens geworden, der Burgplatz aber ist hineingerissen worden in den Lärm der Welt und ihrer Gefahren.“ (Kafka 1970, 382) Mit dem Eintritt dieser neuen Irritation wird also die Fatalität des Baus ersichtlich. Eben weil er in der Tiefe und im Versteck angesiedelt ist, birgt er jene Gefahr, vor der er schützen sollte: Ich verstehe plötzlich meinen früheren Plan nicht. Ich kann in dem ehemals verständigen nicht den geringsten Verstand finden, wieder lasse ich die Arbeit und lasse auch das Horchen, ich will jetzt keine weiteren Verstärkungen entdecken, ich habe genug der Entdeckungen, ich lasse alles, ich wäre schon zufrieden, wenn ich mir den inneren Widerstreit beruhigte. (Kafka 1970, 382)
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Diese Dialektik von Innen und Außen erlaubt es, den Text selbst als eine Allegorie des Grübelns zu verstehen: Sobald man sich wieder ins Grübeln zurückbegibt, entsteht das mit diesem Denken verbundene Problem von Innen und Außen. Folgt man diesem Vorschlag und versteht „Der Bau“ als Allegorie des Grübelns, dann wird jene Beschränkung der Sinne erklärlich, die nicht nur die Lage des Tiers im Bau, sondern zugleich das Erzählverfahren selbst charakterisiert. Denn wie dem Tier der Geschichte, so fehlt auch dem ErzählerTier jene Übersicht des Erzählens, wie sie etwa in Alfred Brehms Thierleben gegeben ist, dessen Text über den Dachs sich eben nicht in die Innenwelt dieses Tiers begibt. Kafkas „Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge“ dient der Charakterisierung eines Schreibens, welches gleichfalls als Versenkung bzw. besser als Abschottung zu verstehen ist. Indem dieses Schreiben zwischen sich und den Leser die Abschottung stellt, entzieht es nicht nur dem Leser, sondern auch sich selbst die Möglichkeit einer Übersicht, die den Blick erweitern würde. Das Thema dieses Textes – der Bau eines Baus und die damit verbundenen Sorgen und Ängste – wird also in dem Sinne weder mitgeteilt noch geteilt, sondern aus der Abgrenzung von den für das klassische Erzählen grundlegenden Operationen der Mitteilung zunehmend gewonnen. Dass es kein Zurück mehr aus dieser Textbewegung gibt, zeigen die vielen Fragen, die der Text in jenem Moment aufwirft, als das Tier ins Freie tritt: Es ging so weit, daß ich manchmal den kindischen Wunsch bekam, überhaupt nicht mehr in den Bau zurückzukehren, sondern hier in der Nähe des Eingangs mich einzurichten, mein Leben in der Beobachtung des Eingangs zu verbringen und immerfort mir vor Augen zu halten und darin mein Glück zu finden, wie fest mich der Bau, wäre ich darin, zu sichern imstande wäre. Nun, es gibt ein schnelles Aufschrecken aus kindischen Träumen. Was ist es denn für eine Sicherung, die ich hier beobachte? Darf ich denn die Gefahr, in welcher ich im Bau bin, überhaupt nach den Erfahrungen beurteilen, die ich hier draußen mache? Haben denn meine Feinde überhaupt die richtige Witterung, wenn ich nicht im Bau bin? Einige Witterung von mir haben sie gewiß, aber die volle nicht. Und ist nicht oft der Bestand der vollen Witterung die Voraussetzung der normalen Gefahr? Es sind also nur Halb- und Zehntelversuche, die ich hier anstelle, geeignet, mich zu beruhigen und durch falsche Beruhigung aufs höchste zu gefährden. (Kafka 1970, 368)
Außerhalb seines Baus hat das Tier die fatale Dialektik von Innen und Außen scheinbar durchschaut und erwägt gar ein Leben ohne Bau, um jedoch aufgrund seiner paranoiden Verfassung sogleich wieder der Sogkraft des Baus zu erliegen. Dabei ist diese Form der Paranoia an keiner Stelle des Textes absurd: Darin liegt die Differenz etwa zur romantischen Idee des Grübelns, aber auch zu dem Verständnis von grübelndem Tiefsinn moderner Autoren wie etwa Hugo von Hofmannsthal. Die Gedankenführung und Argumentation des paranoiden Tiers gründet auf einer exakten Erkenntnis seiner Umwelt, basierend auf Plan, Berechnung und Kalkül, also auf einer durchaus überzeugenden Strategie der
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Existenzsicherung. Erkennbar sind die Schwachstellen und Fehler dieses Denkens allenfalls in den argumentativen Schleifen, in denen es sich verläuft und die das unaufhörliche Durchdenken möglicher Gefahrenquellen als ein letztlich unabschließbares ausweisen. Auch darin aber zeigt sich der Status des Textes als einer Allegorie des Grübelns: Das Tier begreift sein Denken und seinen Lebensraum gleichermaßen als ein(en) Graben, weshalb es auch immer wieder neue „Versuchsgraben“ (Kafka 1970, 368) sowie „Forschungsgraben“ (Kafka 1970, 382, 386) errichtet. Und doch führen diese fast wissenschaftlichen Probebohrungen und Erkundungen nicht zur ersehnten Erleichterung im Sinne einer sicheren Erkenntnis der Lage, sondern – gerade darin liegt die Logik des Grübelns – vielmehr zur permanenten, ja chronischen Beunruhigung, zu einer ständigen Entdeckung weiterer Gefahrenquellen. Der entscheidende Aspekt des in „Der Bau“ dargestellten Bewusstseins ist also die Verunsicherung. Wenngleich der Bau „so gesichert [ist], wie eben überhaupt auf der Welt etwas gesichert werden kann“ (Kafka 1970, 359), bedarf es dennoch nur eines Zufalls, um eine letzte Unsicherheit zu entdecken: Jeder also könnte auf diese Weise in den Bau „eindringen und für immer alles zerstören“ (Kafka 1970, 360). So wird durch das Grübeln jede erreichte Stufe der Gewissheit systematisch ad absurdum geführt, bis nichts weiter bleibt als die nackte Bedrohung. Gerade weil dieser Text nicht erzählt, also nicht von einem möglichen und sich selbst gesetzten Ende her geschrieben ist, ist das in ihm dargestellte Grübeln so hartnäckig, weil aussichtslos und aufreibend. Kafkas durchaus logisch denkendes Tier verzehrt sich in einer frei flottierenden Sorge um Ruhe und Schutz, in der Imagination eines unsichtbaren Feindes, dessen Spuren ein Zischen sind, welches seinerseits erst durch die Abschottung des Baus vor sozialer Interaktion seine bedrohliche Qualität erlangt. Der Bau wird so zur Allegorie einer in unendlichen „Versicherungen“ und sie wieder aufhebenden Reflexionen kreisenden, angstvollen Suche nach Gefahr, die möglicherweise gar nicht existiert, wenngleich sie in den Gedankengängen des Tiers immer wieder logisch aus dem generellen Kampf ums Dasein abgeleitet wird. Als Allegorie im Sinne Benjamins ist der Bau somit nicht nur Symbol für die Trennung von Innen und Außen, sondern zugleich konstitutives Element eines Bewusstseins, das sich in seinen Schlussfolgerungen und Konklusionen selbst zunehmend in einen Bau verwandelt. Hier gilt die Beobachtung Jean Starobinskis, nach welcher der Kafka’sche Held nicht ein Inneres habe, über das er grübeln könne, sondern vielmehr das objektivierte Bewusstsein, das personifizierte Innere selbst sei (Starobinski 1950, 473). Ebendies aber liegt an jenem Wandel des Grübelns, der sich in Kafkas Text gewissermaßen vollendet: In „Der Bau“ verhärtet sich die Entdeckung des Grübelns als kognitiver Form hin zur Allegorisierung dieses kognitiven Mechanismus.
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2 Denkfiguren in „jäher Tiefe“: Zur Metaphorik der Einbahnstraße Der Bau als Bild modernen Tiefsinns lässt sich also als eine Art Allegorisierung des Grübelns lesen. Er ließe sich somit als ein Denkbild im Sinne Walter Benjamins verstehen, vergleichbar jener Kategorie, die Benjamin mit seinem berühmten Aufsatz über „Pariser Passagen“ plante. Denn ebendieser Begriff der „Passage“ – jene Durchbrüche und Querverbindungen zwischen parallel verlaufenden Straßenzügen und Häuserblocks – spielt in Benjamins Philosophie des Denkbildes eine dem Kafka’schen Bild des „Baus“ vergleichbare Rolle: Sie hat ihre Vorform in der Einbahnstraße. Die Fragmente, Skizzen und Aphorismen der Einbahnstraße tragen Titel, die auch aus einem Straßenbild entstammen könnten. Sie heißen etwa „Tankstelle“, „Frühstücksstube“, „Nr. 113“, „Normaluhr“, „Tiefbauarbeiten“, „Coiffeur für penible Damen“, „Galanteriewaren“, „Bürobedarf“, „Maskengarderobe“, „Stehbierhalle“, „Briefmarkenhandlung“, und versammeln sich unter dem Oberbegriff der ‚Straße‘ oder des ‚Basars‘ zu bildhaften Bruchstücken einer mit extremem Bedeutungsgehalt ausgestatteten Landschaft. Über dieses Zusammenspiel von alltäglicher Überschrift und tiefsinniger Reflexion heißt es in einem Brief Benjamins an Gershom Scholem vom 18.9.1926: Es ist eine merkwürdige Organisation oder Konstruktion aus meinen ‚Aphorismen‘ geworden, eine Straße, die einen Prospekt von so jäher Tiefe – das Wort nicht metaphorisch zu verstehen! – erschließen soll, wie etwa in Vicenza das berühmte Bühnenbild Palladios: Die Straße. (Benjamin 1966, 433)
Wenn Benjamin diese „Aphorismen“ der Einbahnstraße von den klassifikatorischdeduktiven Darstellungsformen unterschied, die die Philosophie der letzten Jahrhunderte entwickelt hat, dann geht dies auf den im Brief an Gershom Scholem formulierten Vorsatz zurück, Tiefen zu erschließen. Was genau dies meint, verdeutlicht Benjamins Vergleich seiner Fragmentsammlung mit dem berühmten Bühnenbild des Teatro Olimpico, dem bekanntlich ersten freistehenden, autonomen Theatergebäude, das seit der Antike in Europa errichtet wurde und dessen Architekt der bedeutende Renaissance-Architekt Andrea Palladio war. Hier ist auf zweierlei hinzuweisen: Prospekt, wie der Newski-Prospekt in St. Petersburg, heißt im Russischen soviel wie Boulevard. Und das Bühnenbild Palladios ist die perspektivische Darstellung einer Straße, welche das Bühnenbild nahezu unendlich nach hinten erweitert. Dass Benjamin die Straße selbst als einen Prospekt von „jäher Tiefe“ verstand, lässt schon das Cover der 1928 im Rowohlt-Verlag er-
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schienenen Erstausgabe der Einbahnstraße im Vergleich zum Bühnenbild des Palladio erkennen:
Abb. 1: Titelbild von Walter Benjamin: Einbahnstraße, Berlin 1928.
Abb. 2: Andrea Palladio: Teatro Olimpico, ‚scenae frons‘, 1580 – 1583.
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Zweifellos entwickeln die philosophischen Fragmente der Einbahnstraße diesen Eindruck „jäher Tiefe“ aus dem im Trauerspielbuch definierten Prinzip grübelnden Versunken-Seins. „Wie die Bühnenrückwand Palladios“, so schreibt Jörg Döring, „an zentraler Stelle durchbrochen ist und den Blick freigibt in die dahinterliegende Tiefe, so eröffnet Benjamin, jäh und unvermittelt, einen Denkraum hinter der Straßenschrift.“ (Döring 1996, 151) Benjamins Aphorismen entstehen jedoch nicht mehr aus der Versenkung in das „kreatürliche“, sondern in das großstädtische Leben, wie es in seiner Dinglichkeit eben in einer Passage bzw. einer Einbahnstraße begegnen kann. Zu diesen Dingen zählen etwa Jahrmarktsund Schießbudendekorationen, Banknotenornamente, Briefmarken, Antiquitäten wie Medaillons, Gebetmühlen, Landkarten, Reliefe oder Fächer, mechanische Spiegel- und Puppenkabinette oder Modellierbilderbogen. All dies sind nach Benjamin Allegorien der (Einbahn‐)Straße, in seiner Terminologie „erstarrte“, d. h. antike, in ihrem Veraltetsein gar unverständlich gewordene Relikte der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts. Der Versenkung in diese Dinge entspricht die von Benjamin am Beispiel der Briefmarkenhandlung entwickelte Technik, Zeichen des großstädtischen Lebens gerade dort aufzusuchen, wo diesem Leben ein „Einschlag von Verwesung“ beigefügt ist. Benjamins großstädtisches Leben unterscheidet sich von dem der Expressionisten dadurch, „daß es aus Abgestorbenem sich zusammensetzt“ (Benjamin 1991 f, 135). Ebendieser Neigung aber entspricht wiederum die schon im Trauerspielbuch entfaltete und in der Schrift „Zentralpark“ auf das neunzehnte Jahrhundert Baudelaires bezogene Theorie der Allegorie. Mit dieser verbindet sich auch in Einbahnstraße eine Versenkung wenn nicht ins Kreatürliche, so doch ins dingliche Leben. Das Straßenbild, welches Benjamin aus den Überschriften der einzelnen Aphorismen, Traktate und Reflexionen entwickelt, wird so – in gewisser Weise dem romantischen Stimmungsbild in seinem Zusammenspiel von Figur und Hintergrund vergleichbar – zu einer philosophisch perspektivierten und derart um die Tiefendimension bereicherten Landschaft. Es basiert auf dem Zusammenspiel von Überschrift und Text, wie es etwa im Prosastück „Fundbüro“ nachzulesen ist. Es versammelt Reflexionen über „verlorene“ sowie „gefundene Gegenstände“, inhaltlich aber eröffnet sich hier eine hintergründige Reflexion über das Prinzip der auratischen Erfahrung, die sich immer nur im ersten Moment des Erlebens kundtut, also mit wachsender Gewohnheit für immer verloren geht: Verlorene Gegenstände. Was den allerersten Anblick eines Dorfes, einer Stadt so unvergleichlich und so unwiederbringlich macht, ist, daß in ihm die Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe mitschwingt. Noch hat die Gewohnheit ihr Werk nicht getan. Beginnen wir erst einmal uns zurechtzufinden, so ist die Landschaft mit einem Schlage verschwunden wie die Fassade eines Hauses wenn wir es betreten. Noch hat diese kein Übergewicht durch die stete, zur Gewohnheit gewordene Durchforschung erhalten. Haben wir einmal begonnen,
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im Ort uns zurechtzufinden, so kann jenes früheste Bild sich nie wieder herstellen. (Benjamin 1991 f, 119 – 120)
Mit diesem Aphorismus ist das Darstellungsprinzip bzw. die grundlegende Intention der Einbahnstraße präzise umschrieben: Es geht auch Benjamin darum, in den tagtäglichen Gegenständen des Alltags das Zusammenspiel von Nähe und Ferne zu entfalten, also entfernt bzw. abseitig liegende Reflexionen an diese Gegenstände zu knüpfen, um so die Straße wieder zum auratischen Raum werden zu lassen. Ebendieser Effekt aber basiert auf der Versenkung in die Aussagekraft der Dinge, anders gesagt in ihren allegorischen Gehalt. Und doch ist dieser Begriff der Allegorie, wie Heinz Schlaffer mit Recht betonte, für die Einbahnstraße nur mit Vorsicht zu verwenden (Schlaffer 1973, 142, 146). Das allegorisierende Verfahren impliziert nämlich – im Unterschied zum Begriff des Emblems bzw. der Allegorie aus dem Trauerspielbuch – in der Einbahnstraße einen kulturkritischen Aspekt. Es geht in dem Zusammenspiel von Ferne und Nähe, vom Aufzeigen der „jähen Tiefe“ ja darum, der Welt der Dinge, welche in der Moderne „viel zu brennend der menschlichen Gesellschaft auf den Leib gerückt“ (Benjamin 1991 f, 131) seien, wieder eine Aura der Ferne zu verleihen. Dieser Bedeutungsbereich eines Gegenstands, seine „Aura“, ist nicht definitorisch abschließbar, sondern entfaltet sich durch eine prinzipiell unendliche bzw. unabschließbare Grübelei, die Benjamin als Autor eröffnet und an den Leser weiterreicht. Das Verfahren der Vertiefung im Sinne einer Auratisierung kann aus dem hervorgehen, was Benjamin als Interpolation bezeichnet, wenn er etwa den ursprünglichen Bedeutungsaspekt einer jeweils gewählten Überschrift durch die Beifügung von Wörtern, Sätzen oder Abschnitten abändert. Dem Zusammenspiel von Überschrift und Text, von pictura und inscriptio, von Bild und Gehalt entspricht also das Vermögen der Phantasie als jener „Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren, jeder Intensität als Extensivem ihre neue gedrängte Fülle zu erfinden, kurz, jedes Bild zu nehmen, als sei es das des zusammengelegten Fächers, das erst in der Entfaltung Atem holt.“ (Benjamin 1991 f, 117) Ein von der Interpolation zu unterscheidendes Verfahren bildet nach Schlaffer dagegen der Aphorismus im Abschnitt „Reiseandenken“: Florenz Baptisterium. Auf dem Portal die ‚Spes‘ Andrea Pisanos. Sie sitzt und hilflos erhebt sie die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt. Nichts ist wahrer. (Benjamin 1991 f, 125)
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Hier sei Benjamins Kommentar zu seiner Beschreibung keine unendliche Abänderung, sondern vielmehr eine schlichte Wiederholung: „Nichts ist wahrer“.³ Es handelt sich nun in beiden Fällen nicht um Ausdeutungen dessen, was Benjamin als Beobachter der Straße beschreibt. Die Einbahnstraße beinhaltet „Momentaufnahmen und Überlegungen“ (Raulet 2006, 364), wobei eben die Überlegungen selbst wiederum bewusst dunkel und enigmatisch bleiben, somit vom Leser selber gedeutet werden müssen, sei dies als Interpolation oder aber als bloße Wiederholung. Insofern also beinhaltet die von Schlaffer betonte Differenz zwischen Denkbild und Allegorie bzw. Emblem auch eine für unseren Kontext wichtige Erkenntnis. Das Denkbild basiert nach Schlaffer im Unterschied zur barocken Allegorie auf der „Opposition zwischen Gedanke und Konkretum“, Tiefendimension und bildhaftem Phänomen (Schlaffer 1973, 143). Es ist dies ein dem romantischen Zusammenspiel von Figur und Grund vergleichbares Verfahren, eine nicht metaphorisch zu verstehende Dimension der Tiefe innerhalb der von Reklame banalisierten Schriftwelt der Moderne einzuziehen. Dieses Darstellungsprinzip beschreibt ein Aphorismus der Einbahnstraße mit der Überschrift „Innenarchitektur“ am Beispiel des Traktats als „ornamentale[n] Dichtigkeit“, in dem der „Unterschied von thematischen und exkursiven Ausführungen“ aufgehoben sei: Der Traktat ist eine arabische Form. Sein Äußeres ist unabgesetzt und unauffällig, der Fassade arabischer Bauten entsprechend, deren Gliederung erst im Hofe anhebt. So ist auch die gegliederte Struktur des Traktats von außen nicht wahrnehmbar, sondern eröffnet sich nur von innen. (Benjamin 1991 f, 111)
3 „Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung“: Die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert Im übrigen hoffe ich aber, von diesen Kindheitserinnerungen – von denen du soviel gemerkt haben wirst, dass sie keineswegs chronistisch erzählen sondern einzelne Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung darstellen – daß sie als Buch, vielleicht bei Rowohlt, werden erscheinen können. (Benjamin und Scholem 1980, 28)
Wir haben in dieser kurzen Briefpassage erneut die wichtigsten Aspekte der Benjamin zeitlebens beschäftigenden Reflexionsform des Grübelns versammelt: Kindheitserinnerungen, die nicht chronologisch erzählt werden, sondern statt-
„Benjamins Kommentar zu seiner Beschreibung wiederholt sie nur – ‚Nichts ist wahrer‘.“ (Schlaffer 1973, 143)
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dessen aus einer Expedition „in die Tiefe der Erinnerung“ hervorgehen. Dies erinnert wiederum deutlich an die zitierte Formel aus dem Brief an Scholem, welcher die Einbahnstraße kommentierte. Und doch liegt in dem jeweils verwendeten Begriff der Tiefe ein wichtiger und von Benjamin selbst deutlich betonter Unterschied. Denn der Begriff des Grübelns ist in Benjamins Prosaschriften nicht länger auf eine „Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge“ (Benjamin 1991a, 330) bezogen, wie dies noch in der Habilitationsschrift der Fall war. Die Prosastücke der Berliner Kindheit entstanden 1932/33 als Umarbeitung der Berliner Chronik, wurden zwischen Dezember 1932 und August 1934 in der Frankfurter und der Vossischen Zeitung einzeln und unter Pseudonym veröffentlicht und erschienen noch 1938 in der Exilzeitschrift Maß und Wert, sind also sehr stark vom mit September 1933 beginnenden Exil geprägt. Und das Grübeln wird nach Benjamins Exil nun die moderne, d. h. an Baudelaire theoretisierte Form des „erinnernden Denkens“. Eine entsprechende Differenz zeigt sich im Begriff der Tiefe: Diese bezieht sich nicht mehr auf jenen in der Einbahnstraße rekonstruierten ersten Blick, wie ihn ein Fremder beim Stadtbesuch erfährt und welcher als „Ferne in der strengsten Bindung an die Nähe“ deutliche Bezüge zu Benjamins Begriff der Aura besaß. Die für die Berliner Kindheit relevante Kategorie der Tiefe geht aus einer neuartigen Reflexion Benjamins über die Stadtbeschreibung hervor, die wahrscheinlich im Jahr 1929 entstand, also chronologisch zwischen der Komposition einzelner Städtebilder und der Berliner Chronik steht, jener ‚Urzelle‘, aus der kurze Zeit später die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert entstand: Wenn man alle Städteschilderungen, die es gibt, nach dem Geburtsorte der Verfasser in zwei Gruppen teilen wollte, dann würde sich bestimmt herausstellen, daß die von Einheimischen verfaßten sehr in der Minderzahl sind. Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, der Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt. (Benjamin 1991e, 194)
Diese Reflexion entwickelt sich im Kontext der Rezension des Werkes von Franz Hessel, Spazieren in Berlin, die den Titel „Wiederkehr des Flaneurs“ trägt. Das Hauptthema sind jene „Motive der Tiefe“, derer jede Stadtbeschreibung bedarf, wenn sie von einem ihrer Bewohner, einem Einheimischen, angefertigt wird. Diese Tiefe bezieht sich nicht mehr auf die Ausdeutung einzelner Relikte der Straße, sondern vielmehr auf das Zusammenspiel von Großstadtbild, Erinnerung und Autobiographie, welches den Grübler nun zu einem Reisenden in die eigene Vergangenheit macht. Dieser Auffassung Benjamins zufolge ersetzt der Einheimische mit seiner Reise in die Vergangenheit die Reise des Fremdlings in die Ferne, ersetzt also die für die Einbahnstraße noch so wichtige Kategorie der Ferne
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durch die der Vergangenheit. Es geht Benjamin daher nicht länger um die Aura des Kreatürlichen bzw. des Exotischen, die ja auf Reiseberichte eines Fremden, eines ‚Nicht-Einheimischen‘ bezogen ist. An die Stelle dessen treten nun die ‚tiefen‘ Erinnerungen mit autobiographischem Potential, also eben Benjamins frühkindliche Berliner Impressionen. Die Reise in die Vergangenheit erzielt somit zwar denselben Tiefe-Effekt wie die Reise in die Ferne des allzu Nahen, aber nunmehr unter dem Vorzeichen der Regression. Die Berliner Kindheit entwickelt eine Poetik des Erinnerns, die im Sinne Peter Szondis auf „einem zweifach fremden Blick“ basiert: „dem Blick des Kindes, das wir nicht mehr sind, [und] dem Blick des Kindes, dem die Stadt noch nicht vertraut war“ (Szondi 1978b, 296). Dieser Perspektive entspricht die Absage Benjamins an das autobiographische Schreiben im Namen einer Erinnerungsstrategie, die keine biographischen Eckdaten entfaltet, sondern einzig jene „Gestalt“ der Vergangenheit skizziert, die diese Vergangenheit „im Augenblick des Eingedenkens“ habe. Was damit genau gemeint ist, verdeutlicht die schon in der Berliner Chronik entwickelte Metaphorik des Fächers, welche – anders als noch in der Einbahnstraße – das Interpolieren nicht länger als „Vermögen der Phantasie“ beschreibt, sondern nunmehr als Prinzip einer an Proust geschulten „Erinnerung“: Jedes Bild der Erinnerung „ließe sich entfalten, in den Falten erst sitzt das Eigentliche: jenes Bild, jener Geschmack, jenes Tasten um dessentwillen wir dies alles aufgespalten, entfaltet haben“ (Benjamin 1991 h, 467). Was diese Form der Interpolierung genauer meint, verdeutlicht der eigentümliche erste Satz aus Benjamins Berliner Kindheit, nach welchem es „Schulung“ brauche, sich in einer Stadt so zu verirren, „wie man sich in einem Walde verirrt“: Diese Kunst habe ich spät erlernt; sie hat den Traum erfüllt, von dem die ersten Spuren Labyrinthe auf den Löschblättern meiner Hefte waren. Nein, nicht die ersten, denn vor ihnen war das eine, welches sie überdauert hat. Der Weg in dieses Labyrinth, dem seine Ariadne nicht gefehlt hat, führte über die Bendlerbrücke, deren linke Wölbung die erste Flügelflanke für mich wurde. (Benjamin 1991 g, 237)
Der Augenblick des Eingedenkens rekonstruiert die Szene des Vergangenen vor dem Hintergrund der Erfahrung des Sich-Verlaufens und den mit dieser Erfahrung verbundenen Spuren in die eigene Vergangenheit. Entscheidend ist dabei, dass sich die zu diesem Zeitpunkt aktuelle Erfahrung des Sich-Verlaufens erst vor dem Hintergrund dieser historischen Spuren erklärt: „Als darum dreißig Jahre danach ein Landeskundiger, ein Bauer von Berlin, sich meiner annahm, […], durchfurchten seine Pfade diesen Garten“ (Benjamin 1991 g, 238). Fragt man nach dem Grund für dieses einleitende „Als darum“, dann liegt dieses in einem Aspekt der aktuellen Erfahrung des Sich-Verlaufens, die ihren tiefer liegenden Sinn aus der Erinnerung an das erstmalige Sich-Verlaufen des kleinen Walter Benjamin im
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Tiergarten gewinnt. Diesen Sinn erklärt der Text vor allem durch die Erfahrung der ersten Liebesgefühle, die Benjamin mit diesen Erinnerungen an seine frühkindlichen Spaziergänge im Tiergarten verknüpft: Ebendiese Geborgenheit des SichVerlieben-Könnens scheint es zu sein, die der Kunst des Sich-Verirrens erst ihren Sinn verleiht. Genau dieser Sinn aber hat eine für Benjamins Theorie des Erzählens wichtige literarische Vorlage, der sich auch die eigentümliche grammatikalische Wendung „Als darum“ verdankt. Dem Prosastück liegt jener Text zugrunde, den Benjamin schon im Essay „Der Erzähler“ so intensiv als Beispiel der Versenkung in das Zeitmaß der Naturgeschichte diskutierte: Johann Peter Hebels „Unverhofftes Wiedersehen“ von 1811. Denn in Hebels Erzählung ist nicht nur die unverhoffte Wiederbegegnung mit einem Relikt der eigenen Vergangenheit, sondern auch die damit verbundene Kausalität, die auch Benjamins TiergartenEpisode entfaltet, ganz eindeutig vorgeprägt: die Erinnerung an die erste Liebe. Als aber die Bergleute in Falun im Jahre 1809 etwas vor oder nach Johannis zwischen zwei Schachten eine Öffnung durchgraben wollten, gute dreihundert Ehlen tief unter dem Boden gruben sie aus dem Schutt und Vitriolwasser den Leichnam eines Jünglings heraus, der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war; also dass man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er vor einer Stunde gestorben, oder ein wenig eingeschlafen wäre, an der Arbeit. Als man ihn aber zu Tag ausgefördert hatte, Vater und Mutter, Gefreundte und Bekannte waren schon lange tot, kein Mensch wollte den schlafenden Jüngling kennen oder etwas von seinem Unglück wissen, bis die ehemalige Verlobte des Bergmanns kam, der eines Tages auf die Schicht gegangen war und nimmer zurückkehrte. Grau und zusammengeschrumpft kam sie an einer Krücke an den Platz und erkannte ihren Bräutigam; und mehr mit freudigem Entzücken als mit Schmerz sank sie auf die geliebte Leiche nieder, und erst als sie sich von einer langen heftigen Bewegung des Gemüts erholt hatte, ‚es ist mein Verlobter‘‚ sagte sie endlich, ‚um den ich fünfzig Jahre lang getrauert hatte, und den mich Gott noch einmal sehen läßt vor meinem Ende. Acht Tage vor der Hochzeit ist er unter die Erde gegangen und nimmer heraufgekommen.‘ (Hebel 1996, 14)
Benjamin hat dieser Geschichte im Essay „Der Erzähler“ eine emphatische Kommentierung zukommen lassen: „Tiefer hat nie ein Erzähler seinen Bericht in die Naturgeschichte gebettet als Hebel es in dieser Chronologie vollzieht (Benjamin 1991d, 451). Wir erkennen den Stellenwert dieser romantischen Erzählung für die eröffnende Tiergarten-Episode: Ist der berühmte Leichnam Hebels in Vitriolwasser erhalten, so sind Benjamin die Bilder seiner Kindheit in einem Glassturz, also einer Glocke aus Glas konserviert: „Ein Wasserlauf, der mich von ihnen trennte, machte sie mir so unberührbar, als wenn sie unter einem Glassturz gestanden hätten.“ (Benjamin 1991 g, 237) Welchen Stellenwert Hebels Erzählung „Unverhofftes Wiedersehen“ darüber hinaus für Benjamins Exilpoetik als solcher besessen hat, zeigt deren Nähe zu einer Grundfigur der Benjamin’schen Ge-
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schichtsphilosophie, der von Peter Szondi bekanntlich so genannten „Hoffnung im Vergangenen“ (Szondi 1978a; vgl. auch Nibbrig 1973; Stüssi 1977): „Unverhofftes Wiedersehen“ markiert präzise die Vorlage dieser Formel. Dies zeigen die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert sowie die philosophischen Schriften Benjamins, etwa die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, deren zweite lautet: Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum. (Benjamin 1991b, 693)
„Nur dem Geschichtsschreiber“, so heißt es an anderer Stelle, „wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen.“ (Benjamin 1991b, 695) Die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert kann als Umsetzung ebendieses Geschichtsbegriffes insofern verstanden werden, als sie die „Züge des Kommenden“ (Benjamin 1991 g, 256) zusammenträgt, auf die die eigene Vergangenheit verweist, darin der Hebel’schen Erzählung vergleichbar. In diese Kindheit, die noch in jenes „unvordenkliche Gefühl von bürgerlicher Sicherheit“ (Benjamin 1991 g, 258) eingebettet war, das Benjamin von seiner wohlhabenden, im Berliner Westen ansässigen jüdischen Familie vermittelt wurde, ragen über die Jahrhundertschwelle noch Klassizismus und Biedermeier mit ihren Prunkbauten, Möbeln, Lebensgewohnheiten und Spielzeugen, mit ihrem Zauber herein, „dessen letztes Publikum die Kinder sind“ und dessen Restbestände in den Titeln der Sammlung wie in Versteinerungen aus Vitriolwasser bewahrt werden: „Tiergarten“, „Kaiserpanorama“, „Siegessäule“, „Telephon“, „Das Karussell“, „Zwei Blechkapellen“, „Hallesches Tor“ usw. Der Blick des Autors sucht Situationen und Zeichen, deren Versprechungen das spätere Leben einlöste oder enttäuschte, die also genauso in der Vergangenheit lagern wie der schwedische Bergmann im Kupfervitriol.
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4 Unverhofftes Wiedersehen: Benjamins Rekonstruktion romantischen Erzählens Wenn Benjamin seine Erinnerungsarbeit als einen Prozess des Grabens und Aussiebens beschreibt, dann bezieht sich dies auf einen Selektionsprozess, in dem sich nicht jede Erinnerung als passend erweist.Wäre dem so, dann hätte man es wohl mit einer klassischen Autobiographie zu tun, ebendiese aber versuchte Benjamin zu vermeiden. Es sind also keine normalen Kindheitserinnerungen.Was Benjamin vielmehr sucht und auch findet, sind Indizien seiner durchaus komplexen Geschichtsphilosophie. Nach dieser verweist die eigene Vergangenheit auf die Züge des Kommenden: In „Tiergarten“ etwa beschreibt Benjamin die Kunst des Sich-Verirrens, die das Kind gleichsam spielerisch beherrscht und die den Erwachsenen bei der Wiederkehr in diesen Tiergarten erkennen lässt, dass erste Anzeichen dieser „Kunst des Verirrens“ die labyrinthischen Zeichnungen und Linien auf den Löschblättern der Schulhefte waren. Zum Zeichen wird somit zum einen die Stadt, zum anderen jedoch das Erinnerte selbst, insofern es bei diesem darum geht, jenen Verweisungszusammenhang auszumachen, der in die Gegenwart bzw. gar die Zukunft reicht. Im Prosastück „Wintermorgen“ wird dies explizit gemacht: Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eigenen Leben die Erfüllung wieder. (Benjamin 1991 g, 247)
Der Wunsch, den Benjamin „wohl tausendmal getan“ hat, ist „ausschlafen zu können“ – „später ging er wirklich in Erfüllung.“ Was dann folgt, bedarf der Auslegung: „Doch lange dauerte es, bis ich sie darin erkannte, daß noch jedes Mal die Hoffnung, die ich auf Stellung und sicheres Brot gehegt hatte, umsonst gewesen war.“ (Benjamin 1991 g, 248) Das Akkusativpronomen „sie“ bezieht sich wohl auf „die Erfüllung“, allerdings macht das faktische „daß“ nur dann einen Sinn, wenn man es als Kürzel von „sodaß“ liest. Dann würde der Satz besagen: Weil ich die Erfüllung des Feenwunsches so spät erkannte, war die Hoffnung auf Stellung und sicheres Brot umsonst. Hätte ich die Erfüllung des Feenwunsches in den zahlreichen Momenten des Ausschlafen-Könnens früher erkannt, dann hätte ich eine weit stärkere Hoffnung auf Stellung und sicheres Brot gehabt. Man erahnt die wahrlich komplexen Implikationen dieser Erinnerungsarbeit. Sie prägen zudem das Prosastück „Eine Todesnachricht“, in welchem Benjamin eine an sich banale Begebenheit – eine nicht vollständige Übermittlung von Tod und Todesursache eines Vetters – zum Anlass nimmt, um das „déjà vu“ zu
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theoretisieren. Benjamin ersetzt diese Figur durch die Umschreibung der Erinnerungen auslösenden Begebenheiten als eine Art „Echo, von dem der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint.“ (Benjamin 1991 g, 251) Dieses Dunkel ist also in dem Prosastück nun die nicht vollständige Erzählung des Vaters vom Tod des Vettern: Dass dieser an Syphilis verstarb, erfuhr Benjamin erst später. Die Erinnerung an die Erzählung des Vaters verweist insofern ebenfalls auf die „Züge des Kommenden“: eben die Vervollständigung dieser Todesnachricht. Dass Benjamins Erinnerungen als Rätsel verstanden werden, die der Grübler entschlüsselt, verdeutlicht auch das Prosastück Zwei Rätselbilder, in welchem Benjamin zwei an sich sehr heterogene Dinge vergleicht: das Grab einer ehemaligen Lehrerin und den Sinn des Reiterliedes aus Schillers Wallenstein. Beide verweisen in ihrer Bedeutsamkeit auf die Zukunft. Im Reiterlied liegt dies vor allem daran, dass Lehrer Knoche den Schülern prophezeite, dass sie den Sinn der letzten Zeile – „Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! / Ins Feld, in die Freiheit gezogen! / Im Felde, da ist der Mann noch was wert, / Da wird das Herz noch gewogen.“ (Benjamin 1991 g, 255) – erst verstehen werden, wenn sie groß sind. Dies wiederum erklärt den Schlusssatz: „Das leere Grab und das gewogene Herz – zwei Rätselbilder, deren Lösung mir das Leben weiter schuldig bleiben wird.“ (Benjamin 1991 g, 255) Dass diese Rätsel nicht nur der Autor selber legt, sondern auch der Leser nachvollziehen muss, verdeutlicht das Prosastück „Der Fischotter“. In diesem nämlich fehlt das in der Gegenwart zu situierende Äquivalent der erinnerten Begebenheit, die das Erinnerte als Träger der „Züge des Kommenden“ ausweisen. Die Ähnlichkeiten, welche Benjamin hier auszumachen versucht, ließen sich allenfalls auf die „Promenade von Eilsen oder Bad Pyrmont“ beziehen, welche an die alte Allee erinnern, auf welcher sich derjenige Besucher bewegte, der sich dem Gehege des Fischotters näherte. Aus dieser Ähnlichkeit leitet sich Benjamins philosophische These ab: Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, dass sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich jemals aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes. (Benjamin 1991 g, 256)
Man könnte die Geschichte vom Fischotter freilich noch aus einer anderen Perspektive als prophetische Form der Erinnerung lesen, und zwar angesichts der Tatsache, dass sich die Bewegung des Fischotters als ebenjene erwiesen hat, welcher Benjamin später immer wieder nachging: das Eintauchen. Benjamins Bejahung und Poetisierung des Grübelns basiert letztlich auf der ästhetischen Erfahrung der Immersion, des Eintauchens, welches sich als Bewegung des Textes
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immer wieder nachvollziehen lässt: etwa als Eintauchen in schwebende Seifenblasen, als Eintauchen in eingerollte Socken, in Verstecke während des Versteckspiels, in Fingerhüte oder Zwirn- und Garnrollen, aber auch in Medien wie etwa das Kaiserpanorama. Es sind Phantasiereisen, die bei Benjamin ganz eindeutig ein romantisches Vorzeichen tragen, welches sich vor dem Hintergrund der Denkfigur der Prophetie jedoch weniger als Fernsehnsucht, denn vielmehr als Rückkehr erweist: „Dies war an den Reisen sonderbar: daß ihre ferne Welt nicht immer fremd und daß die Sehnsucht, die sie in mir weckte, nicht immer eine lockende ins Unbekannte, vielmehr bisweilen jene lindere nach einer Rückkehr ins Zuhause war.“ An all diesen Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs entfaltet sich die Phantasiewelt des Grüblers, an ihnen wird aber zugleich die Bewegung des Grübelns als eines kognitiven Vorgangs gleichsam plastisch erfahren. Oder, wie es in „Der Fischotter“ heißt: Es war das heilige Tier des Regenwassers. Ob es aber in diesen Abwässern und Wässern sich gebildet habe oder von seinem Strömen und von seinem Rinnsale nur sich speise, hätte ich nicht entscheiden können. Immer war es aufs äußerste beschäftigt, so als wenn es in seiner Tiefe unentbehrlich sei. Aber ich hätte liebe, lange Tage die Stirne an sein Gatter legen können, ohne mich an ihm sattzusehen. (Benjamin 1991 g, 257)
Ich fasse zusammen. Es ging mir um den Nachweis, dass Walter Benjamin im Unterschied zu Kafka in seiner Reflexion des Tiefsinns eine Rückbindung an romantische Denktraditionen anstrebte. Bei Benjamin wird „der ganze Reichtum alter Grübeleien“ (Benjamin 1991a, 328) rekonstruiert: In seiner Habilitationsschrift bezieht sich dieser Begriff des Reichtums auf die Renaissance-Tradition und die bei Marsilio Ficino und Agrippa zu findende und äußerst populäre Auffassung, die grübelnden Melancholiker stünden unter dem Einfluss des Planeten Saturn. Mit Beginn seines Exils rekonstruierte Benjamin diesen „Reichtum alter Grübeleien“ dann im Rahmen seiner Baudelaire-Studien unter dem Stichwort des „erinnernden Denkens“, welches theoretisch im Passagen-Werk, poetologisch hingegen in den Prosaschriften Berliner Chronik sowie Berliner Kindheit um Neunzehnhundert von 1936 umgesetzt wird. Vor allem Hebels Erzählung „Unverhofftes Wiedersehen“ von 1811 steht Modell für die Kindheitserinnerungen Benjamins. Während Kafka also die moderne Transformation des Grübelns ins Kreatürlich-Pessimistische ganz entscheidend prägte, erstrebte Benjamins Poesie und Poetik des Grübelns als Form eines „erinnernden Denkens“ den erneuten Anschluss an die naturgeschichtlichen und insofern utopischen Inhalte des romantischen Tiefsinns, an die spekulative bzw. utopische Tradition des grübelnden Erinnerns der Romantik, wenngleich er damit auch auf ungewollte Distanz ging zur eigentlich emphatischen Moderne (vgl. Meyer-Sickendiek 2010).
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Titelbild von Walter Benjamin: Einbahnstraße, Berlin 1928. Abb. 2: Andrea Palladio: Teatro Olimpico, ‚scenae frons‘, 1580 – 1583.
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Verkehrende Praktiken vertiefter Kollektivität: Brecht und Benjamin, Kafka und Schönlank Die Figur der Tiefe ist aufgrund ihrer tragenden Rolle in Konzepten von Wahrheit und Ursprung, Subjektivität und Echtheit eine der ältesten und wichtigsten Metaphern der Kulturgeschichte und damit ein Schlüsselelement historisch-epistemologischer Konstruktionen und Transformationen. Als unverzichtbare Bausteine symbolischer Ordnungen sind Semantiken der Tiefe zugleich von höchster politischer Bedeutung. Dies bezeugt nicht nur die Faszinationskraft von Gründungserzählungen oder die juristische Problematik der notwendig fiktiven, willkürlich gesetzten „Grundnorm“ (Kelsen 1923, VII). Ein anhaltend brisanter Beleg für die gesellschaftspolitische Relevanz der Figur ist vor allem die Instrumentalisierung der Dichotomien von Oberfläche versus Tiefe, Nomadentum versus Verwurzelung in der Geschichte und Gegenwart nationalistischer, antidemokratischer und faschistischer Rhetoriken, die im deutschen Sprachraum eine besondere Zuspitzung erfuhr. Ebendiese Verstrickung der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe in Ideologien, Philosophien und Ästhetiken, die – in welcher Funktion auch immer – zur Vorgeschichte des Holocaust zählen, führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Wende im Denken und Wahrnehmen von Tiefe. Günther Anders brachte diesen intellektuellen Umbruch mit seiner „schwarzen Liste“ (Anders 1982, 130 – 138) der nach den Zivilisationsbrüchen von Auschwitz und Hiroshima zu tabuisierenden Begriffe in eine pointierte Form. In der Aufzählung der seines Erachtens zu verbietenden Vokabeln steht die Tiefe zwischen dem Wesen, dem Geist und dem Sinn, zwischen dem Ewigen, dem Echten und der ‚Eigentlichkeit‘. Für Anders ist die Tiefe folglich Teil genau jenes Geflechts essentialistischer Termini, deren Widerlegung durch strukturalistische und poststrukturalistische Zugänge ab den 1960er Jahren zum Standard geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlicher Praxis avancierte. Die Aufarbeitung historisch belasteter Tiefenfiguren in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts brachte freilich für eine Problematik, die für Fragen einer Kulturgeschichte der Tiefe von zentraler Relevanz ist, keine Lösung: Nach wie vor sind in die Prämissen zahlreicher literatur- und kulturwissenschaftlicher Instrumente Konzeptualisierungen von Oberfläche und Tiefe eingewoben, die von dem scharfen, binarisierenden Bruch zwischen historischem Tiefenkult einerseits, einer sich als Denken nach Auschwitz entwerfenden Tiefenkritik andererhttps://doi.org/10.1515/9783110634730-015
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seits geprägt sind. Eine Verflechtung von Objekt und Methode lässt sich im Falle der Tiefe – einem paradigmatischen Gegenstand metaphorologischer Forschung (Kroß 2011) – nicht gänzlich vermeiden. Sie lässt sich jedoch durch die wissenschaftshistorische und ‐soziologische Reflexion explizit oder implizit angewandter, ihren Gegenstand präfigurierender Tiefenkonzepte kenntlich machen und reduzieren. Auf ein wichtiges Kapitel in der Geschichte epistemologisch und methodologisch folgenreicher Tiefenbegriffe verwies Günther Anders mit der Beobachtung, dass Kant und Lessing die Behauptung, dass etwas – gar die Welt an sich – „tief“ sei, „noch nicht verstanden“ hätten. Er hingegen verstünde Feststellungen dieser Art „wohl nicht mehr.“ (Anders 1982, 295) Dazwischen habe eine Zeit gelegen, in der die Metapher der Tiefe außerhalb jeder Fragebedürftigkeit gestanden habe, „erstaunlicherweise ganz glatt und unerstaunt geschluckt“ (Anders 1982, 295) worden sei. Dass die Metapher der Tiefe zwischen der epistemischen Wende um 1800 und den 1960er Jahren nicht hinterfragt wurde, ist zweifelsfrei eine überpointierte Formulierung, die zudem das Oszillieren der Figur zwischen Grund und Abgrund, Sicherheit und Gefahr, Gewissheit und Kontingenz – die Dialektik der Wissensgeschichte der Tiefe – aus dem Blick verliert. Anders deutet mit seiner Kritik jedoch auf eine ernst zu nehmende Problematik, die der Umbruch vom historischen Tiefenkult zur antihermeneutischen Tiefenkritik, vom „unerstaunt geschluckt[en]“ Verstehen der Tiefenmetapher zu ihrem Nicht-Verstehen, mit sich brachte. Zwar belegen die jüngeren Debatten über eine Post-Post- oder eine Metamoderne, dass die Grenzen der poststrukturalistischen Abarbeitung essentialistischer Tiefen sichtbar geworden sind. Dennoch ist das Feld etablierter literaturwissenschaftlicher Ansätze hinsichtlich der implizierten Tiefenkonzepte nach wie vor von der Konkurrenz hermeneutischer und differenzphilosophischer Positionen geprägt. Es weist binäre Züge auf, die aufgrund der Konzentration auf die strittige Frage der Logik des Sinns (Deleuze 1993) die Möglichkeiten des Anschlusses an anders gelagerte kulturanalytische Ansätze einschränken. Der noch unzureichend aufgearbeitete Umbruch vom Verstehen zum Nicht-Verstehen von Tiefe erschwert es zudem, das vielfältige Spektrum historischer Auseinandersetzungen mit der Tiefe in der von Günther Anders angesprochenen Zwischenzeit – im Zeitraum zwischen 1800 und 1960 – angemessen zu rekonstruieren. Ein besonderes Forschungsdesiderat ist dies im Hinblick auf jene Jahre, in denen – mittels Diskursen und Praktiken, Medien und Technologien – um eine faschistische versus antifaschistische Tiefe gerungen wurde. Bei ebendiesem Zeitraum setzen die nachfolgenden Überlegungen an und antworten damit zugleich auf die skizzierte methodologische Herausforderung: Sie nehmen einen historischen Disput zur Figur der Tiefe zum Ausgangspunkt,
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der eine Hinterfragung gängiger Prämissen verlangt und dem sich Hinweise für einen neuen, erweiterten Zugang zu einer Literatur- und Kulturgeschichte der Tiefe entnehmen lassen. Dieser Ausgangspunkt ist Bertolt Brechts Kritik an Walter Benjamins Bemühungen um eine zeitgemäße, den politischen Herausforderungen angemessene Philosophie und Ästhetik der Tiefe.Von dieser rekodierten Tiefe erhoffte sich Benjamin, dass sie sich im Kampf gegen die nationalsozialistische Instrumentalisierung der Dualismen von Künstlichkeit versus Eigentlichkeit, Oberfläche versus Tiefe bewähren werde. Seine diesbezügliche Meinungsverschiedenheit mit Brecht im Sommer 1934 im dänischen Exil entzündete sich an Benjamins Kafka-Essay. Brechts scharfe Kritik an der Tiefe richtete sich dabei nicht nur auf Kafkas „Geheimniskrämerei“ (Benjamin 1985, 527), sondern auch auf Benjamins Interpretation von Kafkas Werk, in der die Tiefe – wie es Jahrzehnte später Adorno fordern sollte – als analytische Kategorie Verwendung findet. Benjamin verteidigte sein Vorgehen und seine Sichtweise mit dem Argument, „in die Tiefe zu dringen“ sei seine „Art und Weise“, sich „zu den Antipoden zu bewegen“ (Benjamin 1985, 528). Brechts Einwände gegen Benjamins Essay mündeten dessen ungeachtet letztlich in den Vorwurf des „jüdischen Faszismus“ (Benjamin 1985, 528). Und sie blieben bezüglich der Tiefe als einer „objektiven Kategorie“ (Adorno 1973, 283) kompromisslos ablehnend, wie Benjamin, Brechts Wortlaut zitierend, in seinen autobiografischen Notizen festhielt: „‚Mit der Tiefe kommt man nicht vorwärts. Die Tiefe ist eine Dimension für sich, eben Tiefe – worin dann garnichts [sic!] zum Vorschein kommt.‘“ (Benjamin 1985, 527) Betrachtet man diesen Disput aus einer diskurshistorischen Perspektive, so vertreten Brecht und Benjamin bezüglich der kulturanalytischen und gesellschaftspolitischen Potenziale der Figur der Tiefe unvereinbare Standpunkte. Benjamin sieht gerade im Programm der Rekodierung antimoderner und paramoderner Tiefenkonzepte die Chance für eine Stärkung demokratisierender, antifaschistischer Kräfte. Brecht, der Theoretiker und Praktiker des epischen Theaters, des antihermeneutischen Verfremdungseffekts, erachtet zwar das marxistische Basis-Überbau-Modell für gültig und plädiert für die Durchdringung trügerischer, verblendender „Oberfläche[n]“ (Brecht 1971, 73). Die Aufklärung über ausbeuterische gesellschaftliche Tiefenstrukturen hat sich seines Erachtens jedoch einer Ästhetik zu bedienen, die sich der Ideologie der Tiefe – der Verdunkelung, dem Geheimnisvollen, dem zu Enträtselnden – entlarvend entgegenstellt. Die These der folgenden Seiten lautet, dass sich das Bild dieser Auseinandersetzung grundlegend verändert, wenn nicht Diskurse, sondern Praktiken zur Grundlage der Deutung erhoben werden. Als Ausgangspunkt hierfür dient Brechts Interesse an theatralen Traditionen des Chors. Dieses ist, wie zu zeigen sein wird, hoch signifikant und verlangt, den Blick auf die politisch-ästhetische Funktion der in den 1920er und 1930er Jahren in zahllosen sozialen Zusammenhängen
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geübten Praktiken chorischen Sprechens literarischer Texte (Sprechkreise, Sprechchöre, kollektives Rezitieren und Bekennen usw.) zu richten. Der entscheidende Punkt ist im vorliegenden Zusammenhang, dass die Praktiken der Sprechchorbewegung nicht auf eine vertiefte Subjektivität oder Erkenntnis, sondern auf eine „Vertiefung“ von Kollektivität, auf eine „vertiefte“ Gemeinschaft, Klasse oder Nation (Recla 1934, 5; Pleister 1934, 7) zielen. In dieses mit Mitteln der Literatur und Ästhetik betriebene Tieferlegen gesellschaftlicher Machtrelationen und in die Nutzung dieser neuen Sozialtechnologien interveniert Brecht mit der Entwicklung neuer chorischer Praktiken. Brecht arbeitet nicht, wie Benjamin, an einer Rekodierung politisch prekärer Tiefendiskurse, sondern weist den Begriff wie die Figur der Tiefe als irreversibel belastete gedankliche Werkzeuge entschieden zurück. In ihrer Zielsetzung, in der Umfunktionalisierung zeitgenössischer, Kollektivität organisierender Tiefenpraktiken, steht Brechts antihermeneutische Chorpoetik Benjamins Tiefenepistemologie allerdings deutlich näher, als es die Auseinandersetzung zwischen den beiden Intellektuellen im Sommer 1934 zunächst vermuten lässt. Dieses überraschende Näheverhältnis wird freilich nur sichtbar, wenn man die zur Diskussion stehenden literarischen und theoretischen Strategien in der Geschichte der Relation von Macht, Tiefe und Kollektivität verortet. Hierfür ist die Geschichte der Literatur mit der Geschichte vertiefender Sprechpraktiken zu verknüpfen und literarisches Sprechhandeln vor dem Hintergrund der Geschichte tiefer gelegter Machttechnologien zu betrachten. Eine dementsprechende Analyse politisch-ästhetischer Praktiken vertiefter Kollektivität verlangt einen kulturwissenschaftlich erweiterten literaturgeschichtlichen Zugang, der es erlaubt, zwei historisch miteinander verschränkte Dynamiken mitzureflektieren.¹ (1) Zum einen ist der Rekonstruktion ein Literaturbegriff zugrunde zu legen, der das Verstummen der Literatur im späten achtzehnten Jahrhundert, den Übergang vom lauten zum stummen Lesen, ebenso miterinnert wie die damit einhergehende Transformation der Beziehungen zwischen geschriebener Literatur und literarischen Sprechpraktiken, den Medien Stimme und Schrift. (2) Um die Faszinationskraft des Programms der Vertiefung von Kollektivität durch chorisch gesprochene Literatur im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert nachvollziehbar zu machen, ist zum anderen – auf der Basis des genannten, erweiterten Literaturbegriffs – das Zusammenspiel individuierender und kollektivierender Sprechpraktiken zu berücksichtigen.
Die hier verwendeten Begriffe einer vertieften Kollektivität und tiefer gelegter Machttechnologien werden auf den nachfolgenden Seiten präzisiert.
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Vor diesem Hintergrund lassen sich nicht nur dem Disput zwischen Benjamin und Brecht über den analytischen Wert des Begriffs der Tiefe angemessene Konturen verleihen. Es wird zudem zu zeigen sein, dass es sich bei der Vertiefung von Kollektivität durch chorische Sprechpraktiken um einen bisher vernachlässigten Kontext der ästhetischen Moderne handelt. Gleich, ob man hier die Wende zur epistemischen Moderne um 1800 oder die um 1890 einsetzende literarische Moderne zum Bezugspunkt nimmt, in beiden Fällen verlangen die jeweiligen Kontexte, künstlerische Praktiken in der Geschichte tiefer gelegter Machtrelationen zu verorten.
1 Gemeinschaft und Volkstum vertiefen (1934) Im selben Jahr (1934), in dem Brecht und Benjamin im Exil über Kafkas Tiefe und deren faschistische Instrumentalisierbarkeit diskutieren, erscheinen zwei kleine Büchlein, denen sich Hinweise entnehmen lassen, welche historischen Linien beim Blick auf die Verflechtung literarischen Handelns mit der Geschichte vertiefter Kollektivität zu berücksichtigen sind. Die erste Publikation ist ein Sonderheft eines in den 1930er Jahren in Österreich verlegten, dem „neuen Deutschen Turnen“ verpflichteten Periodikums mit dem Titel Die Bewegung. Blätter zur Förderung der Leibesübungen. Es enthält, wie der Titel schon anzeigt, „53 Sprechchöre“, die – von Anhängern² der Turnerbewegung im Gefolge Jahns verfasst – im Rahmen eines im Jahr 1933 abgehaltenen Preisausschreibens eingesandt und von der Redaktion zur Veröffentlichung ausgewählt wurden. Der einleitende, fünfseitige Text des Grazer Sportwissenschaftlers Josef Recla zum „Sprechchor im deutschen Turnen“ empfiehlt das chorische Sprechen als „Erziehungsmittel“, das im „Turnbetrieb“ auf ideale Weise geeignet sei, „Leib und Seele“ – und damit den „ganzen Menschen“ – zu „erfassen und höher[zu]führen“ (Recla 1934, 4). An eine „flotte“ Turnstunde angeschlossen, könne die Sprechchorarbeit durch die Verbindung von „beseelte[r] körperliche[r] Arbeit“ und „seelisch-geistige[r] Bildung“ nicht nur maßgeblich zur „Vertiefung und Beseelung des heutigen Menschen“ (Recla 1934, 4) beitragen. Sie führe bei richtiger Durchführung auch zu einer Vertiefung des „Gemeinschaftsgefühls“ (Recla 1934, 4). „Wem gilt’s? – Dem Volke gilt’s!“, „Wir turnen, um reifer, reicher und tiefer zu werden!“ (Recla 1934, 6), so lauten zwei von Recla angeführte Beispiele für erste Übungen chorischen Sprechens im „deutschen“ Turnunterricht.
Mit Ausnahme zweier anonym präsentierter Texte scheinen im Inhaltsverzeichnis ausschließlich männliche Namen auf.
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Die genannten Beispiele belegen, dass die anvisierte Vertiefung semantisch zwischen mehreren Dimensionen und Funktionen changiert. Beworben wird zum einen eine Vertiefung des Subjekts durch kollektiv gesprochene, das „Innenleben“ der teilnehmenden Schüler³ bereichernde „Dichtung“ (Recla 1934, 6). Zum anderen erhofft sich der Autor vom gepriesenen Chorsprechen mit seinem spezifischen „Geheimnis der Echtheit“ eine „Wirkung auf das ganze Volk“, eine kollektive Vertiefung oder – umgekehrt – eine vertiefte Kollektivität. Dass die „Erlebniskraft“ des gemeinsamen lauten Sprechens, das „Miterleben“ und „Mitarbeiten aller“ an der „Idee der Dichtung“ (Recla 1934, 6), diese Ideale zu erreichen erlaube, ist ein Gedanke, der, wie auch das Prinzip des Preisausschreibens, auf ein kollektives Empowerment bisher ausgeschlossener sozialer Gruppen hinweist und hiermit emanzipatorische Züge enthält. Ebendiese liberalen Facetten des Textes werden freilich durch die Verflechtung des humanistisch-individuierenden Bildungsideals der ästhetischen Erziehung mit dem Wert körperlicher Ertüchtigung und kollektiver, physischer Disziplinierung konterkariert. Das Ziel dieser durch Sprechen von Literatur erwirkten Inkorporierung sozialer Normen und Hierarchien formuliert Reclas Zusammenfassung der wichtigsten „Merkpunkte“ seiner engagierten Programmschrift in klaren Worten: „Erziehung zum Gemeinschaftsgefühl, zur treuen Gefolgschaft, zur freiwilligen Ein- und Unterordnung“ (Recla 1934, 8). Die zweite im vorliegenden Kontext relevante Publikation aus dem Jahr 1934 trägt den Titel Der deutsche Sprechchor. Auswahl aus alter und neuer Dichtung und wurde von Werner Pleister in der von der Hanseatischen Verlagsanstalt in Hamburg verlegten Reihe Feste und Feiern deutscher Art herausgegeben. In seinem sechsseitigen „Vorwort zur ersten Auflage“⁴ verbindet auch Pleister den Topos vertiefender Literatur mit dem Ideal vertiefter Kollektivität und stimmt darin mit der zentralen Argumentationslinie Reclas überein. Pleisters Tonfall ist freilich deutlich rauher und seine Zielsetzung – die Vertiefung der Gestalt „unseres deutschen Volkstums“ (Pleister 1934, 7) – in politischer Hinsicht signifikant aggressiver. Diese Schärfe richtet sich, wie den Verweisen auf konkrete Sprechchorpublikationen zu entnehmen ist, zum einen gegen Sprechchorpraktiken in der Festkultur der Arbeiterbewegung (und damit auch gegen renommierte Autoren wie Bruno Schönlank, Karl Bröger und Ernst Fischer). Zum anderen enthält
Das Coverbild des Hefts, ein dirigierender Turnlehrer vor einer Gruppe von Knaben in Turnkleidung, zeigt, dass auch hier lediglich männliche Schüler gemeint sind. Die erste Auflage erschien 1930, wobei das in der Auflage von 1934 erneut abgedruckte „Vorwort zur ersten Auflage“ darauf hindeutet, dass Pleister den politischen Umwälzungen des Jahres 1933, der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, alles andere als kritisch entgegensah.
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Pleisters polemisches Plädoyer für und gegen bestimmte Praktiken chorischen Sprechens eine sehr spezifische Fassung der Relation von Macht und Kollektivität, Tiefe und Literatur, die im Vergleich mit der Position Reclas eine entscheidende Verschiebung vornimmt. Denn aus der Sicht Pleisters ist das chorische Sprechen ausgewählter kanonisierter Texte⁵ deshalb ein unschätzbares Instrument, weil es eine „Zucht der Gemeinschaft“ (Pleister 1934, 6) mit einer durch den kollektiven „Dienst an der Dichtung“ ermöglichten „tiefere[n] Erkenntnis der Wahrheit“ (Pleister 1934, 7) verbinde. Pleisters Credo – „Sprechchor ist Gemeinschaft der Starken, die im Dienst des Gesetzes ihre Kraft erkennen und wachsen sehen“ (Pleister 1934, 4) – ist diesbezüglich bezeichnend. Denn es reduziert das von Recla betonte (ästhetische) Empowerment des sprechenden Kollektivs, die Möglichkeit des „Miterleben[s]“ und „Mitarbeiten[s] aller“ (Recla 1934, 8), auf eine Schwundstufe, indem es die Stimme des Kollektivs – die Stimme des ‚Volkes‘ – vom Autorenkollektiv (Preisausschreiben) zum Werkzeug, zum „transmitter“ vorgegebener „messages“ (Margolin 1996, 118) degradiert. Die Stimme des Einzelnen, seine individuelle, seelische „Vertiefung“ (Recla 1934, 4, 8), wird dem Sozialkörper Chor, der durch den „Sprechchorführer“ zur höchstmöglichen „Einstimmigkeit“ (Pleister 1934, 6) zu bringen ist, rückstandslos eingegliedert. Für die Chorteilnehmer reduziert dies freilich die Möglichkeit, ein individuelles Verstehen von Literatur, Selbst und Gesellschaft und eine selbstbestimmte und selbstreflexive, literaturbasierte Position im Hinblick auf das beworbene Kollektiv des „deutschen Volkstums“ zu entwickeln. Für diesen Machtverlust wird den Chorsprechern von Pleister allerdings Kompensation offeriert. Die Individuen werden hinsichtlich der Option einer eigenständigen, kontemplativen ‚Versenkung‘ zwar entmündigt. Mit dem hochgradig affektiven Erleben der „Gemeinschaft der Starken“ im gemeinsamen Sprechen „wahrer Dichtung“ (Pleister 1934, 3) wird ihnen freilich attraktiver Ersatz geboten. Das tiefe Fühlen und das innige, verbindende Spüren des Wachsens der „Kraft“ des Kollektivs avancieren zum ästhetischen Ideal, das dem bis dato fest etablierten Programm des hermeneutischen Verstehens erfolgreich Konkurrenz macht. Das um 1800 entworfene Konzept der ästhetischen Erziehung, das bei Recla noch einen evidenten Nachhall findet, wird von Pleister somit zu einer Anordnung – einer räumlichen Aufstellung und einer politischen Anweisung – umformuliert. Das chorische Sprechen von Literatur wird zum Mittel der kollektiven Aufführung und Inkorporierung einer vorgegebenen sozialen Ordnung. Unter-
Pleisters Sammlung enthält Texte von Ernst Moritz Arndt, Goethe, Geibel und Herwegh, aus der Edda, von Hölderlin, Kleist und anderen, wiederum ausschließlich männlichen Autoren.
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stützt durch Elemente militärischen Drills gerät ästhetische Erziehung bei Pleister zum Instrument der autoritär verfügten Formierung eines Kollektivkörpers. Dass im Zuge dessen besonderes Augenmerk auf die korrekte physische Taktung der Chorteilnehmer, auf korrekt getimtes, tiefes „Atmen“ (Pleister 1934, 6) gelegt wird, ist vor diesem Hintergrund folgerichtig. Denn aus der Sicht Pleisters gilt es der „Kurzatmigkeit“ (Pleister 1934, 5) chorischer Artikulationspraktiken im Rahmen politischer Demonstrationen ebenso entgegenzuarbeiten wie der seines Erachtens oberflächlichen Effekthascherei politisch links stehender Sprechchöre im Rahmen „proletarischer Feierstunden“ (Sheppard 1997) und Massenfestspiele. Beiden Fehlentwicklungen stellt Pleister die „Arbeit an wahrer Dichtung“ und „wahrer Gestaltung“ (Pleister 1934, 3) entgegen. Diese sieht er in einem Modus chorischen Sprechens realisiert, der Kollektivität, Macht und literarische Wahrheit in wechselseitiger Verkopplung vertieft. Pleister definiert damit nicht nur den „Dienst an der Dichtung“, die „Verpflichtung zur künstlerischen Schau“ (Pleister 1934, 7), als Dienst an Wahrheit und Erkenntnis. Seine Verschiebung des Ideals literarischer Rezeption von der individuierenden Bildung zur kollektiven, an das Präsenzmedium Stimme gebundenen Formierung bestimmt den Dienst an der Literatur zugleich als Dienst am „Gesetz“ – als „Bekenntnis“ (Pleister 1934, 7) zum angeordneten Kollektivkörper und zu der ihm zugrunde liegenden Sozial- und Rassentheorie. Wahrheit und Gesetz, Echtheit und Erkenntnis, sozialtopologische Hierarchisierung und literarisch-hermeneutische Episteme, die zentralen semantischen Stränge der kulturhistorischen Figur der Tiefe, werden in dieser Argumentation verschmolzen. Als historisch ungleichzeitige, heterogene Elemente werden sie zu einer Streitschrift für den Dienst an der Vertiefung des deutschen Volkstums verflochten. Diese propagiert mit spezifischen Körperpraktiken chorischen Sprechens eine Machttechnologie vertiefter Kollektivität, in der die Instrumente und Wirkweisen des politischen und des ästhetischen Demonstrierens – die Felder des Politischen und des Ästhetischen – entdifferenziert werden.
2 Macht, Kollektivität und Tiefe 1800/1900 Dass Recla und Pleister eine „Vertiefung“ von Gemeinschaft oder „Volkstum“ anstreben, bedeutet nicht, dass hiermit das Konzept tiefer gelegter Kollektivität, vertiefter, intensivierter Machtverhältnisse – oder auch nur die Tiefe als „objektive Kategorie“ (Adorno 1973, 283) – erklärt oder legitimiert wäre. Mit ihren ästhetischen Projekten schreiben sich beide Autoren allerdings in fest etablierte kulturelle Traditionen ein, die seit 1800 die Konzepte der Individualisierung, der Selbstreflexion, der „Bildung“, der schöpferischen „Originalität“ wie der hier-
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durch zu entwickelnden „Kraft der Nation“ auf die Figur einer zu steigernden „Tiefe des Geistes“ (Humboldt 2015 [1792], 104, 107, 114) stützen. Die von Recla und Pleister vorgenommene Verschränkung des Topos einer vertiefenden Wirkung der Beschäftigung mit Literatur mit dem Ideal vertiefter Kollektivität greift folglich Argumente auf, die u. a. von Wilhelm von Humboldt (2015 [1792]) und Friedrich Schiller (2009 [1795]) formuliert wurden und zu Kernelementen der Transformation der rhetorisch-repräsentativen zur literarisch-hermeneutischen Episteme und der Begründung der Disziplin der Ästhetik zählen (Campe 1990, Koschorke 1999). Dieser diskurshistorische Umstand ist zu berücksichtigen. Er begründet freilich noch keinen methodologisch abgesicherten Zugang zur Kulturgeschichte der Verflechtung von Macht und Tiefe, Literatur und Kollektivität. Zu einem tragfähigen analytischen Begriff wird der Terminus der Vertiefung erst durch Michel Foucaults Analysen ebenjener Jahrzehnte um 1800, die mit der Hervorbringung der modernen Episteme Die Regierung des Selbst und der anderen (Foucault 2009, 2004a, 2004b) grundlegend umstrukturieren und hierfür mit einer neuen, sich seit der Frühen Neuzeit bereits abzeichnenden Figur der Tiefe operieren.⁶ Ebendiese Argumentation entwickelt Foucault in zwei verschiedenen, gleichermaßen einschlägigen historischen Arbeiten. Sie beide sind von einem Interesse für die Verzahnung der Geschichte der Individualisierung mit jener der territorialisierenden Vergesellschaftung geprägt, eine Thematik, die Foucault in seinem Spätwerk zum Konzept einer Geschichte der Gouvernementalität (Foucault 2004a, 2004b) weiterentwickelt. In der ersten hier relevanten Studie – in Überwachen und Strafen – rekonstruiert Foucault das Ineinandergreifen einer bestimmten Logik der Vergesellschaftung, der „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1976 [1975]), und korrespondierender Formen der Subjektivierung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Dualismus von Freiheit und Zwang und geht hierbei über die von Adorno und Horkheimer vorgebrachte Kritik an der Dialektik der Aufklärung (1944) weit hinaus. Im Zentrum seiner Überlegungen steht das exemplarisch an Jeremy Bent-
Wie in einigen Beiträgen des vorliegenden Bandes betont, verweist Hans Blumenbergs Rekonstruktion des mit dem Beginn der Neuzeit wachsenden Interesses an der Erforschung des „innerweltlich Unsichtbaren“ (Blumenberg 1996, 422– 439) auf einen wichtigen Einschnitt in der Kulturgeschichte der Tiefe. Foucaults prononcierte Hervorhebung der Bedeutung der Jahrzehnte um 1800 berücksichtigend, unterscheidet Ralf Konersmann im Hinblick auf die Geschichte der „Umdeutung des Unsichtbaren“ einen ersten Umbruch in der Frühen Neuzeit, in dessen Folge die Tiefe des Unsichtbaren und Unbekannten erstmals als nahbar, greifbar, eroberbar wahrgenommen wird, und einen weiteren Wandel um 1800, in dem die Tiefe „ins Ungreifbare entrückt“ (Konersmann 1994, 58 – 83, 80) und damit in einen unumgänglichen Fluchtpunkt des Aufzudeckenden transformiert wird.
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hams Panopticon (1791/1811) analysierte Zusammenspiel moderner Zwangsinstitutionen (Gefängnis, Militär, Arbeitshaus, Schule) und einer neuen, als Freiheit missverstandenen, auf Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle basierenden Selbsthervorbringung moderner Individuen. Dieses Zusammenspiel wird durch das Ineinandergreifen zweier ‚Erfindungen‘ – des modernen Staats einerseits, der Tiefe des modernen Subjekts andererseits – in Gang gehalten und erst durch den Einsatz neuer Machttechnologien, einer neuen, effizienten Mikrophysik der Körper ermöglicht. Der im vorliegenden Zusammenhang zentrale Aspekt dieses Prozesses ist der Übergang von einem auf die Oberfläche menschlicher Körper fokussierenden System des Herrschens und Strafens, das auf der Logik physischer Unterwerfung basiert, zu einem neuen Modus der produktiven, gestreuten Macht über ineinandergreifende Techniken der Selbst- und Fremdregierung. Die neue, panoptische Logik der Macht operiert mit dem Argument der Freiheit und setzt hierbei die den Individuen überantwortete Selbstregierung ihrer Tiefenkräfte (Triebe, Leidenschaften, Bedürfnisse) als scheinbar sanftes, humanes Machtinstrument ein. Mit besonderer Prägnanz zeigt sich dieser Wandel im Bildungsbereich, wo mit den Humboldt’schen Reformen das Konzept der individualisierenden Selbsttätigkeit der SchülerInnen, ihrer Selbstbildung und Selbstverwirklichung auf der Basis einer freien, mündigen und selbständigen Subjektivität zum Leitwert avanciert. Aus der Sicht Foucaults handelt es sich bei diesem als progressiv und humanistisch propagierten Erziehungsprojekt allerdings um einen höchst zweischneidigen Fortschritt: Die Pädagogen verzichten von nun an auf physischen Zwang, sie setzen Staatsmacht und Individuen freilich nur in eine enger verflochtene, machtheoretisch effizientere Relation. Denn das neue Projekt der Allgemein- und Humanitätsbildung, der (ästhetischen) Bildung des Subjekts zum ‚ganzen‘, selbstbestimmten Menschen, der seinen Verstand selbständig zu nutzen weiß (Ricken 2006, 298 – 311), dieses Projekt distanziert sich zwar scharf von physischen Strafen und vom „unziemlichen Geschäft des unmittelbaren Aufzwingens moralischer Lehren“ (Marchand 1997, 338). Es verankert die vorgegebenen Normen jedoch nur umso tiefer in den Seelen der Erziehungsobjekte, indem diese durch die Verschränkung von Bildung, Emanzipation und sozialer Kontrolle freiwillig gemäß der Vorgaben auf sich selbst einzuwirken beginnen. Sie lernen, was Immanuel Kant im Hinblick auf das problematische Verhältnis von Freiheit, Erziehung und Zwang in einer intrikaten Formulierung als die Fähigkeit bezeichnet, „seine Freiheit gut zu gebrauchen“ (Kant 2000 [1803], 711). Im ersten Band seiner Trilogie Sexualität und Wahrheit, der unter dem Titel Der Wille zum Wissen (1976) ein Jahr nach Überwachen und Strafen (1975) erscheint, nähert sich Foucault der These einer sich in den Umbruchsjahrzehnten um 1800 vollziehenden Vertiefung und „Intensivierung der Mächte“ (Foucault
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1977 [1976], 43) auf eine andere Weise. Er rekonstruiert nun die gesellschaftlichen Mittel und Implikationen eines Prozesses, den er die ‚Entdeckung‘ der Sexualität nennt und der mit der gleichzeitigen ‚Erfindung‘ der Humanwissenschaften verknüpft ist. Was an der Schwelle zur Moderne mit der Sexualität (bzw. dem ‚Sex‘) erfunden wird, ist einerseits die Wahrheit des Subjekts: Als neue Figur des Wissens und des Handelns entsteht das wahrhaftige Subjekt, das, um sich selbst zu finden und zu individualisieren, seine geheimen sexuellen Wünsche, Gedanken und Sehnsüchte, die Ausformungen seines triebhaften, erotischen Begehrens, in einer endlosen, auf die eigene Tiefe gerichteten Verdachtsökonomie sprechend und aufdeckend produzieren muss. Erst hiermit, im Rahmen einer umfassenden, institutionell von der (katholischen) Kirche, Pädagogen, Medizinern, Gerichtspsychiatern sowie Erziehungs- und Bildungseinrichtungen getragenen Diskursivierung des Sexes, bringt sich das Subjekt als ein die Wahrheit sprechendes, echtes und authentisches, „tiefes“ Subjekt (Reckwitz 2006, 155 – 158, 210 – 216) performativ hervor. Was sich ab 1800 Hand in Hand mit der Wahrheit des Subjekts im prozessualen Bezug auf ein lebendig-drängendes Verborgenes, auf eine durch Latenz gekennzeichnete Tiefe ebenfalls herausbildet, ist die Idee einer Wahrheit über das Subjekt. Letzteres, das Subjekt als Objekt, gerät mit der neuen, genuin modernen Kopplung von Sexualität und Wahrheit zu einem Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Dem psychoanalytischen Grundaxiom, dass es die Sexualität als geheime, verdeckte Tiefenkraft aufzudecken gelte, stellt Foucault hiermit das Argument entgegen, dass es sich bei der Figur des zu erkennenden Unbewussten um eine historisch datierbare, gesellschaftliche Konstruktion handelt, die die Subjekte auf sublime, intensivierte Weise in Machtverhältnisse einübt und zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Institutionen von hohem Nutzen ist. Auch in Der Wille zum Wissen richtet Foucault den Blick somit auf das Ineinandergreifen von Individualisierung und Kollektivierung bzw.Vergesellschaftung. Er verknüpft die machtanalytisch kontextualisierte, epistemologische und subjekthistorische Tiefenfigur eines als latent und virulent imaginierten Verdeckten dabei mit wirtschafts- und sozialhistorischen Faktoren und Technologien, deren moderne, produktive Logik er mit den Begriffen der Biomacht und der Biopolitik analysiert: Im Übergang vom Regierungstyp der historischen Polizeiwissenschaft zur liberalen Gouvernementalität (Foucault 2004a, 2004b) entdecken die staatlichen Instanzen die Soziobiologie der Bevölkerung und deren Eigeninitiative als volkswirtschaftliche Größen, die sie zu erforschen, zu berechnen und zu lenken – zu regieren – beginnen. Foucaults Arbeiten zur Epochenschwelle um 1800 wurden in der Literaturwissenschaft von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus aufgegriffen und fortgedacht. Im vorliegenden Zusammenhang sind insbesondere zwei Studien von
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Bedeutung, die im Hinblick auf das (in den Debatten des Jahres 1934 hervortretende) Spannungsfeld zwischen einsam gelesener und kollektiv gesprochener Literatur historische und methodologische Anschlussmöglichkeiten eröffnen. Es ist zum einen Rüdiger Campes Untersuchung Affekt und Ausdruck (1990), die der „Umwandlung der Rede“ im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert nachgeht und dabei rekonstruiert, wie sich in diesem Zeitraum eine neue Kunst und Wissenschaft der Lektüre des Menschen und – Hand in Hand hiermit – der sich am Paradigma des geschriebenen, stummen Textes orientierende, moderne Literaturbegriff herausbilden. Ausgehend von Foucaults Studie Die Ordnung der Dinge (1966) setzt Campe die zeichen-, erkenntnis- und wahrnehmungstheoretische Krise der Episteme der Repräsentation in Verbindung mit dem in die Epochenschwelle um 1800 mündenden Übergang von einer rhetorischen zu einer hermeneutischen Kultur, die beginnt, die Distanz zwischen den Wörtern und den Dingen schrittweise zu tilgen. Dabei sei eine alte, am Modell mündlicher Kommunikation, an sichtbaren Oberflächen Maß nehmende Verbindung zwischen Sprach-, Zeichen- und Menschenwissen durch ein neues Ensemble abgelöst worden: An die Stelle des Zusammenspiels von Rhetorik, Affektenlehre und Physiognomik rückte die Verbindung zwischen dem „neu zu begründenden Literarischen“ (Campe 1990, 113) und der modernen wissenschaftlichen Psychologie. Ihr Ineinandergreifen ist für die subjekthistorische „Routinisierung des hermeneutischen Zirkels“ (Reckwitz 2006, 161), die mit der von Foucault beschriebenen modernen, aufzudeckenden Tiefe verflochten ist, von zentraler Relevanz. Albrecht Koschorkes Studie Körperströme und Schriftverkehr (1999) setzt auf eine Weise bei Foucaults historischer Epistemologie an, die Campes Überlegungen fortführt und dabei Arbeiten Friedrich Kittlers und Jacques Derridas Rousseau-Kritik miteinbezieht. Nach Derrida sind Rousseaus Texte von einem prekären Hang zu Präsenz, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit, von einer sich schriftlich artikulierenden Aversion gegenüber der Schrift (Phonozentrismus) geprägt, die sich letztlich in der politisch fatalen Zurückweisung des Prinzips der demokratischen Repräsentation artikuliert habe. An diese These schließt Koschorke an, wendet sie historisch-mediologisch und knüpft hierfür an literaturgeschichtliche Studien zur Ära der Empfindsamkeit an. Er rekonstruiert, wie in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts eine Umstrukturierung der Gesellschaft, ihrer Medien und ein diskursiver „Umbau des Menschen“ ineinandergriffen und den Übergang vom Modell des höfisch geprägten Körperverkehrs zu jenem des bürgerlichen Schriftverkehrs einleiteten (Koschorke 1999, 112– 129). Durch eine Vielzahl an Substituierungen sei im Zuge dessen eine neue, das Ideal der Authentizität etablierende Brief- und Gefühlskultur entstanden, die die Tiefe des Subjekts, sein verborgenes, privates Innenleben, erkundete und exponierte. Sie
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nutzte hierfür freilich das Medium der Schrift, deren Eigenschaften als Medium der Distanz, Abwesenheit und Künstlichkeit durch die Aufwertung von Natürlichkeit, Emotionalität und Spontaneität verdrängt wurden. Verschränkt mit der Entsinnlichung des Lesens, dem Übergang vom lauten zum leisen Lesen, habe das neue Zirkulationsmedium Schrift eine neue, paradoxe Affektkultur hervorgebracht, die im Spannungsfeld zwischen bürgerlicher Intimität und bürgerlicher Öffentlichkeit, von Stimme und Schrift das Modell einer abgeschlossenen Körperlichkeit und einer autonomen Subjektivität etablierte. Aufzugreifen ist im vorliegenden Zusammenhang der von Campe und Koschorke beobachtete Umstand, dass der Übergang von einer rhetorisch-repräsentativen zu einer hermeneutisch-literarischen Kultur – die mit dem Verstummen des Lesens verflochtene Herausbildung moderner literarischer Subjektivität – ein von inneren Widersprüchen gekennzeichneter Prozess ist, der sich in den Spannungsfeldern von Stimme und Schrift, Subjektivierung und Kollektivierung vollzieht. Sichtbarster Ausdruck dieser verdrängten inneren Differenz sind freilich nicht nur (literarische, philosophische und politische) Diskurse, die sich in einer Mythologie der Unmittelbarkeit der kompensatorischen Wiedergewinnung von Präsenz, Natürlichkeit und Ursprünglichkeit widmen. Historisch zu ergänzen sind auch die mit diesen Substitutionsmechanismen einhergehenden artikulatorischen Praktiken, die neben der von Campe und Koschorke rekonstruierten neuen Schriftlichkeit, die sich an der Epochenschwelle zur modernen Tiefenepisteme herausbildet, Traditionen einer korrespondierenden neuen Mündlichkeit begründen. In besonderer Deutlichkeit zeigt sich diese Dialektik des literarischen Verstummens, der „stummen Sprache“ (Rancière 2010) der Literatur, in der Aufwertung der Stimme in Kulturtechniken, die sich um 1800 neu herausbilden. Denn ab etwa 1775 bringt das Verstummen der Literatur die Gegenbewegung einer öffentlichen Sprech- oder Deklamationskunst hervor, die um eine Resozialisierung des Lesens, um eine Wiedergewinnung der kollektiven und stimmlichen Dimension der poetischen Lektüre bemüht ist (Meyer-Kalkus 2001, 223 – 250; Koschorke 1999, 169 – 176). Die literarischen Texte sollen durch das gesprochene Wort ihre Seele, Herz und Verstand vertiefende Wirkung entfalten, eine Sehnsucht, die ab 1780 zur Herausbildung des Berufsstands der Deklamatoren und Deklamatricen sowie zur gesellschaftlichen Tradition der „deklamatorischen Konzerte“ (Dupree 2012) führt. Vor dem Hintergrund, dass chorisches Sprechen bereits von Friedrich Nicolai als rückständige, dringlich abzuschaffende, entmündigende Tradition verurteilt wurde (Nicolai 1783, 28 – 36; Messerli 2002, 258 – 300), richten sich die Sprechpraktiken, die sich um 1800 der Verflachung der Literatur durch die stumme Buchseite entgegenstellen, ausschließlich auf die Vertiefung von Subjektivität. Um 1900 erodiert diese Idiosynkrasie gegenüber kollektiven Sprechakten, die sich
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schrittweise von in Kirche, Lateinschule und Militär geübten, untertänigen Artikulationshaltungen (Loos 1889) zu emanzipieren beginnen. Die Begeisterung für genuin ästhetische, säkulare, selbstbewusste Praktiken kollektiven Sprechens setzt im späten neunzehnten Jahrhundert langsam ein. Sie leitet ab 1918 jenen großen und folgenreichen Umbruch ein, der mit der gesamtgesellschaftlich breit verankerten Sprechchorbewegung die Tradition vertiefender Literatur mit dem Ideal vertiefter Kollektivität verknüpft. Die oben zitierten Texte von Josef Recla und Werner Pleister belegen freilich, dass dem Medium Stimme in der Sprechchorbewegung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts eine Funktion zugewiesen wird, die sie von der Sprechkunstbewegung um 1800 signifikant unterscheidet. Im Gegensatz zum textbasierten Aufführungsmodus deklamatorischer Konzerte um 1800, der am bürgerlichen Theaterbetrieb Maß nimmt, liegt der Mehrwert der chorischen Sprechkunst um 1900 darin, dass das Medium Stimme hier eine räumliche und zeitliche, platzzuweisende Anordnung von Produktion und Rezeption erlaubt, die die bisherigen Regeln von Literatur und Theater außer Kraft setzt. Ebendies ist der maßgebliche Punkt, den es methodologisch zu greifen gilt, um zu präzisieren, wie sich die oben beschriebenen, chorischen Praktiken der Vertiefung von „Gemeinschaft“ und „deutschem Volkstum“ in die Literatur- und Kulturgeschichte einschreiben und welche Konsequenzen hieraus für die Rekonstruktion der ästhetischen Moderne zu ziehen sind.
3 Vertiefte Kollektivität und literarische Moderne: Rekodierende Diskurse, verkehrende Praktiken Die Arbeiten Jacques Rancières eignen sich für die Lösung der genannten Aufgabe in besonderer Weise, weil sie sich dem Generalverdacht, der in der Kulturtheorie gegenüber der Gründung und den Artikulationen politischer Kollektivsubjekte lange Zeit herrschte, systematisch entgegenstellen. Als wichtiger Vertreter einer intellektuellen Gruppierung, die sich der Repolitisierung der Differenzphilosophie, der „politischen Differenz“ (Marchart 2010) verschrieben hat, reformuliert Rancière nicht nur Derridas Konzepte von Stimme und Schrift. Er schließt hierbei zugleich an Foucaults Geschichte der modernen Verdachts- und Tiefenepisteme an und betrachtet politisch-ästhetische Dispositive und Praktiken konsequent im Hinblick auf die ihnen eingeschriebenen Figuren der Gemeinschaft, auf sinnliche Kollektiverfahrungen und hierdurch vertiefte oder gelockerte Machtrelationen. Sein Ansatz eröffnet einen Zugang zu einer Kulturgeschichte der Tiefe, der das Ineinandergreifen von Literatur und Individualisierung einerseits, der Heraus-
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bildung moderner, säkularer, mit neuen Medien und Kulturtechniken verwobener Kollektivbildungen (Nationalstaat, Arbeiterbewegung, zivilgesellschaftliche Vereinskultur, politische Parteien usw.) andererseits differenziert zu analysieren erlaubt. Rancières Arbeiten ermöglichen es damit, die Grenzen der poststrukturalistischen Abarbeitung essentialistischer Tiefen, auf die auch die Studien Campes und Koschorkes hinweisen, zu transzendieren und künstlerische Praktiken in der Geschichte tiefer gelegter Machttechnologien zu verorten. Ausgangspunkt von Rancières Konzeptualisierung der Relation von Politik und Ästhetik ist die Prämisse, dass der kollektive, soziale Raum von einer „primären Ästhetik“, von sinnlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen geprägt ist (Rancière 2008, 25 – 27). Er wird als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ (partage du sensible) erlebt, die das Kollektiv im doppelten Wortsinn teilt: Die Aufteilung verbindet alle TeilnehmerInnen und trennt sie zugleich durch die im Raum verteilten, unterschiedlichen Positionen, die verschiedene Formen und Grade der Teilhabe und Teilnahme am Gemeinsamen ermöglichen (Rancière 2008, 25 – 27). Der gemeinsame Raum wird somit als ein Raum der Unterschiede und Relationen entworfen, als eine Topologie, die den einzelnen Personen Räume, Tätigkeiten, Funktionen, Sprechweisen und Zeitstrukturen und damit unterschiedliche Möglichkeiten zuweist, gehört und gesehen zu werden. Genau diese Situierung der Einzelnen im geteilten sozialen Raum, ihre Zuweisung auf Plätze, versteht Rancière – hiermit auf Foucaults Geschichte der Polizeiwissenschaft antwortend – als genuin polizeilichen Prozess. Politik definiert Rancière demgegenüber als jene Tätigkeit, die die polizeiliche Ordnung und die durch sie gegebene Aufteilung des Sinnlichen durchbricht. Sie entfernt Körper von jenem Ort, dem sie zugeordnet sind; sie lässt sehen, was bisher nicht sichtbar war; und sie lässt hören, was bisher als Lärm galt (Rancière 2008, 35 – 49; Rancière 2002, 29 – 30). Politische Praktiken im Sinne Rancières zersetzen die klassifizierende, polizeiliche Teilung des gesellschaftlichen Raums durch eine der bestehenden Aufteilung zuwiderlaufende, auf der Logik der Gleichheit basierende sinnliche Erfahrung, die weder bewusst sein muss, noch sich im Feld des Politischen (im engeren Sinn) zu vollziehen hat. Entscheidend ist einzig, dass das Politische die polizeiliche Platz-, Verhaltens- und Wahrnehmungsanweisung durchkreuzt – sei es durch eine erste Lockerung der Aufteilung, sei es durch die Intervention einer neuen politischen Subjektivierung. Diese Bestimmung des Politischen ist zugleich die Grundlage von Rancières Konzept der Schrift, die – hierin dem Denken Derridas noch verwandt – in ihrer paradigmatischen, idealtypischen Dimension als Antidoton gegen die Logik der hierarchischen Rede modelliert wird. Die stumme Schrift wird – auf dieser paradigmatischen Bedeutungsebene – als ein egalitäres, von Freiheit und Gleichheit geprägtes Universum stummer Buchstaben, einer stummen, keine Forderungen
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transportierenden Sprache entworfen. Sie suspendiert die „Vorschreibung“ (Bourdieu 2013, 11– 22) eines klassifizierten sozialen Raums und unterwandert die Rede, die Glauben und Gehorsam verlangt. Diese abstrakte, philosophische Opposition von Rede und Schrift wird von Rancière freilich in zweifacher Weise historisch und ästhetisch ausdifferenziert und zu einer Dekonstruktion der Dekonstruktion genutzt. Hierfür unterscheidet Rancière zunächst drei Grundformen ästhetischer Politik, drei medial geprägte Hauptmodelle, wie ästhetische Redeund Körperpraktiken Figuren der Gemeinschaft, spezifische Aufteilungen des Sinnlichen erschaffen können. Zu unterscheiden seien (1) die stummen Zeichen der Buchseite, (2) das von Rede und Präsenz gezeichnete Theater, und schließlich (3) der singend-tanzende Chor, verstanden als Akt, in dem Kunst nicht distanziert rezipiert wird, sondern in dem die Gemeinschaft als solche, ihr Körper, singt und sich bewegt, also selbst Chor-Kunst ist (Rancière 2008, 29). Diese drei Grundformen ästhetischer Politik sind zwar überzeitlicher Natur, weisen jedoch Näheverhältnisse zu drei historisch aufeinander folgenden Regimen der Identifizierung dessen auf, was als Kunst gilt.Vor dem Hintergrund dieser historischen Differenzierungsachse nennt Rancière als erste Etappe das „ethische Regime“, in dem Kunst noch nicht als solche definiert wird, folglich zum chorischen Realisationsmodell tendiert (Rancière 2008, 36). Hierauf folgt das „repräsentative Regime“, in dem Kunst als eigenständiger sozialer Bezirk normativ, hierarchisch und regelgeleitet produziert und rezipiert wird und in dem die Kunst der öffentlichen, gesprochenen Rede und des Theaters dominiert. Dem repräsentativen Regime liegt somit das Präsenzparadigma der aufgeführten Rede zugrunde, das nach Rancière von der Differenz zwischen anordnenden und gehorchenden Stimmen und von der Logik der Vorschreibung partikularer, Verkennung einfordernder Sichtweisen des Gemeinsamen gekennzeichnet ist (Rancière 2008, 37– 39). Der gesellschaftspolitischen Dienstbarkeit der Kunst im repräsentativen Regime stellt Rancière als drittes historisches Modell das „ästhetische Regime“ gegenüber, in dem das geschriebene, frei zirkulierende Wort dominiert: gemalte, stumme Buchstaben, die in ihrer Anordnung und Adressierung egalitär funktionieren und eine demokratische Aufteilung des Sinnlichen inaugurieren. Die gelungensten Manifestationen dieses sich ab 1800 gegen das repräsentative Regime durchsetzenden Paradigmas sind für Rancière die Gattung des Romans und Schillers „ästhetischer Zustand“ (Schiller 2009 [1795]). In beiden Fällen werde die repräsentative Hierarchie der Gegenstände, Gattungen und Sprechweisen aufgelöst, eine Revolution, die sich zuerst in der stummen Sprache der Literatur ereignet habe (Rancière 2008, 37– 39, Rancière 2010). Hiermit erhebt Rancière das Verstummen der Literatur und das mit ihr verflochtene Modell vertiefter Subjektivität zu zentralen Angelpunkten seiner politischen Philosophie. Beide werden
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hierbei allerdings als sinnliche Erfahrungen gedeutet, die paradox zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft oszillieren und in denen Politik und Ästhetik unauflöslich miteinander verwoben sind. Eben hiermit partizipieren sie an der Geschichte tiefer gelegter Machttechnologien, eröffnen jedoch zugleich die Möglichkeit, vertiefte Inkorporierungen durch Erfahrungen der „Entkörperung“ spürund lesbar zu machen (Rancière 2008, 62– 63). Wendet man vor diesem Hintergrund den Blick zurück auf die eingangs zitierten Programme vertiefter Kollektivität, die sich durch chorisches Sprechen literarischer Texte der „Erziehung zum Gemeinschaftsgefühl, zur treuen Gefolgschaft, zur freiwilligen Ein- und Unterordnung“ (Recla 1934, 8) widmen, so scheint die Rückkehr zum chorischen Regime der Kunst zunächst offensichtlich, da die Stimme des Einzelnen dem Sozialkörper Chor buchstäblich einverleibt wird. Bei genauerem Hinsehen wird freilich auch deutlich, dass die Faszinationskraft der Sprechchöre, die von den Proponenten proklamierte, wohl auch häufig realisierte Erfahrung von Tiefe und Kraft, auf komplexeren Zusammenhängen beruht. Denn die chorischen Praktiken beziehen ihren Reiz nicht zuletzt von der Rebellion gegen den exklusiven bürgerlichen Literatur- und Theaterbetrieb und gegen dessen „kleinliche Psychologie“ (Fischer 1984 [1925], 15), dem sie ein Mitsprechen aller, ein antihermeneutisches Einreißen der trennenden Rampe, und damit eine neue Aufteilung des Sinnlichen entgegenstellen. Dass diese egalitäre Tendenz von Beginn an brüchig, in sich widersprüchlich ist, ist vor allem auf zwei Umstände zurückzuführen. Zum einen ist ein großer Teil der Sprechchorbewegung politisch motiviert und setzt die Tiefeneffekte chorischen Sprechens als Instrument der politischen Bewusstseinsbildung und Mobilisierung ein. Linke wie rechte Parteien kalkulieren mit dem euphorisierenden Mechanismus der artikulatorischen Selbsthervorbringung der zugleich adressierten, angeordneten und dirigierten Kollektive. Das Prinzip ästhetischer Politik, das hier zur Anwendung kommt, changiert dabei zwischen den Modellen des Theaters und des Chors, was sich in exemplarischer Form in Bruno Schönlanks frühem Sprechchorwerk Erlösung. Weihespiel aus dem Jahr 1920 zeigt. Denn nicht nur die einzelnen Sprechchöre vereinen sich im Laufe der Aufführung zu einem gemeinsamen Singen der Internationale, auch das Publikum wird zum Mitsingen motiviert. Zwar wird mit dieser neuen ästhetischen Form auch eine neue Kollektivität, das neue „Wir“ der proletarischen Klasse beschworen: „Aus dem eitlen ‚Ich‘ das starke ‚Wir‘,/ wie blüht das Leben neu in dir./ Wie sehen wir, was dunkel lag./ Wie leuchtet uns der junge Tag.“ (Schönlank 1996 [1920], 105). Der Modus ästhetischer Politik unterscheidet sich aber nicht vom repräsentativen Regime der abgeurteilten bürgerlichen Bühnenästhetik und tauscht damit die Leistung der Formierung des neuen, proletarischen Kollektivsubjekts gegen die Errungenschaften des ästhetischen Regimes.
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Der zweite Aspekt, der den Einsatz der Tiefeneffekte kollektiver ästhetischer Sprechpraktiken – auch zugunsten demokratischer Ziele – zu einem heiklen Unternehmen bestimmt, ist der Umstand, dass das Feld der Ästhetik in diesem Falle dem politischen Feld nicht lediglich aushilft. Das chorische Sprechen in der Ästhetik dient vielmehr als Ersatz, als Platzhalter für chorische Artikulation im Feld des Politischen. Denn die Faszinationskraft chorischen Sprechens, die ab 1918 zu einem die öffentliche Festkultur prägenden Phänomen wird, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Geschichte der Kulturtechnik der organisierten Demonstration von einem Programm der Disziplinierung und des Verstummens geprägt ist, das um Distanz zu den revolutionären Ereignissen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts bemüht ist. Noch die großen Wahlrechtsdemonstrationen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland (1908/1910) und Österreich (1905) werden weitgehend stumm, als disziplinierte Schweigemärsche in Arbeiterbataillonen abgehalten und sind dem Ziel verpflichtet, die Regierungsfähigkeit des vierten Standes, die Zähmung seiner Leidenschaften unter Beweis zu stellen (Kaschuba 1991). Die Literatur der Sprechchorbewegung assistiert der Politik somit auf eine höchst prekäre Weise. Sie hilft der Vertiefung des Gemeinschaftsgefühls auf Bühnen und Festspielplätzen und fungiert damit als Sicherheitsventil für chorische Slogans und Forderungen im Rahmen der Straßendemonstration. Es wird stumm demonstriert, aber kollektiv deklamiert; der ästhetische Chor substituiert den politischen Chor. Die vertiefende, das herrschende politische System herausfordernde Wirkung kollektiven Sprechens im Rahmen politischer Demonstrationen bleibt bis 1918 weitgehend ungenutzt. Walter Benjamin beschreibt diesen Tauschhandel mit Blick auf die nationalsozialistische Ästhetisierung des Politischen in einer berühmten Formulierung seines Essays Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Der Faschismus verhelfe den „Massen“ zu ihrem „Ausdruck“, jedoch nicht zu ihrem „Recht“ (Benjamin 1991 [1939], 501). Entscheidend ist im vorliegenden Kontext, dass diese Beobachtung nicht von Benjamins Bemühungen um eine Philosophie und Ästhetik der Tiefe zu lösen ist, die sich der nationalsozialistischen Instrumentalisierung der Binarismen von Künstlichkeit und Eigentlichkeit, Oberfläche und Tiefe durch eine rekodierte, „gerettete Tiefe“ (Müller 2015) entgegenstellen. Hiermit schließt Benjamin u. a. an Georg Simmel an, der drei Jahrzehnte zuvor mit seiner neuen visuellen Epistemologie eine Rekonzeptualisierung der Relation von Oberfläche und Tiefe, Erscheinung und Wesen vornahm. Simmel argumentierte hierbei, dass eine zeitgemäße Kulturanalyse beim oberflächlichen Detail, den „banalsten Äußerlichkeiten“ anzusetzen habe, um zugunsten einer ihrer selbst gewahr werdenden Vernunft das „Senkblei in die Tiefe der Seelen“ (Simmel 1984, 195) und „der letzten geistigen Bedeutungen zu schicken“ (Simmel 1917, V). Etwa zeitgleich mit Benjamin arbeitet auch Theodor W. Adorno an einer
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epistemologischen Verschiebung von Oberfläche und Tiefe, an einer Umkehrung der Tiefe, die akzeptiert, dass ein zeitgemäßes Philosophieren ohne „die Annahme einer zweiten, einer Hinterwelt“ (Adorno 1983 [1931], 335) auskommen müsse. Bei Benjamin, wie auch in den Arbeiten Siegfried Kracauers, tritt in der Bestrebung nach einer neuen Epistemologie freilich eine Ausrichtung auf kollektive Tiefenerfahrungen hervor, die das Denken beider von den Zugängen Adornos und Simmels unterscheidet. Benjamin wie Kracauer nehmen in ihren Beobachtungen nicht nur die Oberflächenphänomene zeitgenössischer Massenkultur neu in den Blick. Sie beziehen sich zugleich kritisch auf die zeitgenössischen Praktiken vertiefter Kollektivität und setzen ihnen auf diskursiver Ebene neue Konzepte erfahrener Kollektivität (Architektur, Film usw.) entgegen, die am Wert der Tiefe festhalten. Ebendies, die Sinnhaftigkeit der Tiefe als analytische Kategorie und ästhetisches Prinzip, ist der strittige Punkt, der dem zuvor beschriebenen Disput zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht im Sommer 1934 zugrunde liegt. Interpretiert man den Begriff der Tiefe freilich vor dem Hintergrund der Chancen und Risiken der literarisch-hermeneutischen Episteme – der stummen Buchstaben des ästhetischen Regimes –, ist der Punkt, der Benjamin und Brecht auf der diskursiven Ebene trennt, zugleich genau jener Aspekt, in dem Brechts ästhetische Praktiken im Umgang mit den Herausforderungen vertiefter Kollektivität mit Benjamins Bemühungen um eine für die Moderne gerettete Tiefe übereinstimmen. Besonders deutlich lässt sich dieses Näheverhältnis an Brechts umstrittenstem Drama, dem Lehrstück Die Maßnahme (1930/1931), zeigen. Brecht reiht sich mit diesem Stück in die Tradition Bruno Schönlanks ein, indem er sowohl sprechende als auch singende Chöre einsetzt. Indem die Einzelrollen jedoch von den Aufführenden bzw. Spielenden des Lehrstücks abwechselnd übernommen werden, wird das Spannungsverhältnis zwischen den Gewinnen der Individualisierung und der Formierung neuer politischer Kollektivsubjekte sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch in formaler Hinsicht aufrechterhalten und ästhetisch erfahrbar gemacht. Die Positionen, Sicht- und Artikulationsweisen der vorgegebenen Rollen, die die marxistisch-leninistischen „Lehren der Klassiker“ (Brecht 1998 [1931], 13) in ein dramatisches Narrativ übersetzen, werden von den teilnehmenden SpielerInnen abwechselnd verkörpert, sie werden getestet. Die Platz- und Identitätszuweisungen der „Lehren“ werden in Brechts Maßnahme damit einer „Haltung“ unterzogen, deren Einübung Benjamin im Kunstwerkessay als emanzipatorische Leistung der Montagetechnik der Filmkamera hervorhebt (Benjamin 1991 [1939], 488). Denn nach Benjamin beinhaltet die testende Haltung das Potenzial für eine Immunisierung gegenüber den Mechanismen der Auratisierung und für eine Rezeption von „Kultwerten“ als „Ausstellungswerte“ (Benjamin 1991 [1939], 482). Dieser Logik vergleichbar, werden in
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Brechts Lehrstück die Vertiefungseffekte chorischen Sprechens von jedem/r Einzelnen durcherlebt. Dies gilt auch für den kapitalistisch-verblendenden und den marxistisch-mobilisierenden Kollektivgesang sowie für die unterschiedlichen Subjektivierungen im Befolgen und Missachten der marxistischen Lehre.Während Schönlank mit seinem Weihespiel die Gewinne des ästhetischen Regimes, die Möglichkeit der freien, individuellen Aneignung „stummer“, egalitärer Buchstaben, gegen den Gewinn des Mitsprechens (fast) aller tauscht, versetzt Brechts Maßnahme die SpielerInnen nicht nur in die Lage, eine Vielzahl zeitgenössischer Praktiken der Vertiefung von Kollektivität durchzuspielen. Das umstrittene Lehrstück entwirft zugleich eine antihermeneutische Chorpoetik, die durch die „Entkörperung“ (Rancière 2008, 62) der Schönlank’schen Ästhetik die Gewinne der hermeneutischen Episteme bewahrt. Dass die ästhetische Politik der Maßnahme Benjamins Projekt der geretteten Tiefe näher steht, als es Brechts scharfe Worte im Sommer 1934 vermuten lassen, lässt auch Brechts eingangs zitiertes Urteil über Kafkas „Geheimniskrämerei“ (Benjamin 1985, 527) in einem anderen Licht erscheinen. Verzichtet man darauf, bei der Analyse von Kafkas Schlüsselwerken die Geschichte der literarischen Moderne aus der Geschichte der Kulturtechniken moderner Kollektive herauszulösen, zeigt sich, dass Brecht, Benjamin und Kafka – mit unterschiedlichen Mitteln – auf eine verwandte Weise am Projekt der Verkehrung zeitgenössischer Diskurse und Praktiken der Tiefe arbeiten. Kafkas ästhetische Interventionen in die historischen Aporien vertiefter, in Selbstbeobachtung gründender Subjektivität können als ausgezeichnet erforscht gelten und sind eng mit seinen Vorführungen der Logik des Geheimnisses und des zu Enträtselnden verwoben. So ist der Türhüter, der den Zugang zum Wissen um legitime Letztbegründung verstellt, eine Funktion des nach Urteilen suchenden Subjekts; er ist Teil einer neuen Verkopplung von Wissen, Subjektivität und Macht und hiermit auch Emblem für die Chancen und Risiken der literarisch-hermeneutischen Tiefenepisteme. Im Hinblick auf Kafkas Umgang mit Diskursen und Praktiken von Kollektivität verweist die Forschung häufig auf Kafkas Wir-Erzählungen, die zahlreiche Axiome der poststrukturalistischen und postkolonialen Theorie – die Logiken der „DissemiNation“ (Homi Bhabha) und der „entwerkten Gemeinschaft“ (Jean-Luc Nancy) – vorwegnehmen. Betrachtet man das in diesem Kontext bevorzugt herangezogene Erzählfragment „Beim Bau der chinesischen Mauer“ (1917) mit Blick auf das Zusammenspiel von Tiefe, Macht und Kollektivität, so erbringt die in diesem Text vorgenommene Fiktionalisierung gängiger, faktualer Wir-Narrationen noch eine andere Leistung. Denn die sehr spezifische, fingierte Schriftlichkeit der Rede des Wir-Erzählers deutet an, dass das Phantasma einer kollektiven Volksidentität den Raum des Privaten und das Medium des einsamen, nachdenklichen, subjektiven Schreibens – die Welt der stummen
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Buchstaben – erobert hat. Dabei ist das ausgestellte Nachdenken über das Wesen des chinesischen Volkes keinem offiziellen Repräsentanten oder Wissenschaftler zuzurechnen. Es bringt vielmehr einen gesellschaftlichen Zustand zum Ausdruck, in dem auch der Durchschnittsbürger aus der „Tiefe seines Herzens“ (Kafka 1996 [1917], 290) darum bemüht ist, vom „eitlen ‚Ich‘“ zum „starke[n] ‚Wir’“ (Schönlank 1996 [1920], 105) voranzuschreiten. Es versinnbildlicht, dass das „Mitarbeiten aller“ (Recla 1934, 6) am Projekt einer vertieften Gemeinschaft sich nicht auf das körperliche Mitwirken beim Bau der chinesischen Mauer beschränkt. Die Mitarbeit aller findet vielmehr auch durch eine Subjektivierung statt, in der das reflexive, sich selbst schriftlich Rechenschaft ablegende Individuum sein Selbstund Weltbild einer neuen, übergeordneten Kollektivität aktiv unterwirft und damit den Erfolg der Vertiefungseffekte des „Volkswerk[s]“ (Kafka 1996 [1917], 292) demonstriert. Diese neue, in einem intensivierten Ausmaß kontaminierte Subjektivität artikuliert sich in der Geschichte der „Nationalisierung der Massen“ (George L. Mosse) in Tagebüchern, Schulaufsätzen, Vereinsreden, Beiträgen für Preisausschreiben und ähnlichen Texten unzähliger, ‚mitredender‘ VerfasserInnen. Die Logik des discours ebendieser Formate des schriftlichen „Mitarbeiten[s] aller“ (Recla 1934, 6) legt Kafka der Rede seines Wir-Erzählers zugrunde und etabliert damit in der Literatur eine neue, bisher unbesetzt gebliebene Position: Der stumme, egalitär rezipierbare Buchstabe erobert sich die von der politischen WirRede kontaminierte, literarisch-hermeneutische Subjektivität zurück und überantwortet sie der einsamen, Nachdenken ermöglichenden, kontemplativen Lektüre. Die Erzählung „Beim Bau der chinesischen Mauer“ vollzieht eine narrative Entkörperung historisch neuer Praktiken vertiefter Kollektivität, die – Brechts Antwort auf Schönlanks Chorästhetik analog – die Risiken der tiefergelegten Technologien der Vergemeinschaftung ästhetisch erfahrbar macht, ohne deren Chancen zu verspielen.
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Roland Innerhofer
Euthanasie und individueller Tod in Franz Werfels Stern der Ungeborenen 1 Trügerische Utopie
Franz Werfel entwirft in seinem letzten, 1945 im kalifornischen Exil vollendeten Roman, der 1946 postum im Verlag Bermann-Fischer in Stockholm erschien, eine trügerische Utopie. Der Verfasser tritt als Archäologe auf, der aber zunächst nicht die Tiefe des Raumes, sondern die der Zeit erkundet – und zwar nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Es geht dabei nicht um eine allmähliche Entwicklung, sondern um einen plötzlichen großen Sprung von 100 000 Jahren. Nur punktuell werden im Rückblick aus der Zukunft Ereignisse erwähnt, die zum Zustand in der fernen Zukunft geführt haben. Zugleich ist aber in diesem Roman auch die räumliche Tiefe von zentraler Bedeutung. Sie führt in die Tiefe der Erde ebenso wie in die des Weltraums. In Stern der Ungeborenen korrespondieren auf exemplarische Weise Astronomie und Geologie miteinander. Die räumlichen und zeitlichen Semantiken der Tiefe überlagern sich gegenseitig. Die im Roman als „astromental“ bezeichnete Kultur des Jahres 101 943, in der das Geistige über das Sinnlich-Triebhafte triumphiert zu haben scheint, erweist sich im Laufe ihrer Besichtigung als zunehmend prekär. Die Erdoberfläche ist von einem eisgrauen Rasen bedeckt, einer Wüste, in der alle Berge „eingeebnet“ (Werfel 1992, 32) sind. Diese „Eingeebnetheit, ihre gegensatzlose Fläche, ihr unabsehbares Gleichmaß“, „bedrückt“ (Werfel 1992, 439) den Reisenden aus dem Jahr 1943, der in die Zukunft katapultiert wurde. Die Einebnung der Erdoberfläche ist Zeichen eines schmerzlichen Fehlens von Tiefe. Doch unter der Erdoberfläche haben sich Hohlräume erhalten, welche die lichtdurchflutete Spiritualität der astromentalen Gesellschaft unterminieren. Auf der Erdoberfläche ist der Himmel stets wolkenlos, da die Atmosphäre ausgetrocknet ist. Vor dem grellen, auf die Dauer unerträglichen Licht und der ultravioletten Strahlung schützen unterirdische, künstlich beleuchtete Häuser. Für die Astromentalen ist der Gang in die Tiefe ein Rückzug in die Intimität: Je persönlicher und intimer ein Wohnraum war, umso tiefer lag er im Schoße der Erde […]. Je einsamer der neue Mensch mit seinem Körper bleiben wollte, umso weiter zog er sich zurück. […] Das Haus verschloß sich wie die tönende Muschel schützend vor dem Kosmos und zauberte doch das ganze Raunen des Kosmos in seinen engen Hohlraum. (Werfel 1992, 100 – 101)
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Als Gegenbild zur astromentalen Gesellschaft hat sich auf der Erde eine Gebirgsinsel der Vegetation erhalten, auf der von den kultivierten Menschen verabscheute Primitive in Schrebergartenhäuschen leben und Landwirtschaft betreiben. Das Gebirge ist der Ort, an dem archaisch-erotische Leidenschaften ausgelebt werden, während die kultivierte Ebene „den Raum der Triebregulierung und Kulturarbeit“ (Mülder-Bach 2007, 98) markiert. Die von den Astromentalen als Dschungel bezeichnete und als „säuisches Getümmel“ (Werfel 1992, 443) beschimpfte Gegenwelt übt aber immer noch eine starke Anziehungskraft aus, wie der Verlauf der Handlung in den drei Tagen, die der Zeitreisende in der Zukunftswelt verweilt, zeigt.Was für die astromentalen Menschen als vulgär gilt und versteckt ausgeübt wird, nämlich Essen und körperliche Berührung, treiben die Dschungelbewohner ungeniert in der Öffentlichkeit und auf der Erdoberfläche. Diese Spaltung der topographischen wie soziokulturellen Landschaft ist Symptom der Desintegration, die im Verlauf der Romanhandlung die scheinbar intakte astromentale Welt aufsprengt und zerstört.
2 Rückkehr in den Mutterleib Der entscheidende Umschwung, der die astromentale Welt herbeiführte, wird das „große Ereignis“ der „Sonnentransparenz“ (Werfel 1992, 106) genannt. Die privaten unterirdischen Wohnungen sind Ausdruck des Bedürfnisses, dieser penetranten Transparenz zu entkommen. Doch diesem legitimen Schutzraum stehen andere kollektive, unterirdische Lokationen gegenüber, die bedrohlich wirken. Zunächst sind es die „Wichtelmännchen“ (Werfel 1992, 212), die vor 100 000 Jahren unter der Führung von „Hiltier“ eine unterirdische Gegenwelt errichteten: Sie unterwühlten kraft ihrer frenetischen Energie und inhaltslosen Opferbereitschaft die Haupt- und Großstädte aller Nationen mit ihren wissenschaftlich ausgeklügelten Labyrinthen. […] Sie sehnten sich nach der ‚Volksgemeinschaft‘ zurück, einer automatischen Lebensform, wo jedermann Denunziant und Denunzierter, Folterknecht und Gefolterter, Henker und Hingerichteter gleichzeitig sein durfte. (Werfel 1992, 212– 213)
Dieser Rückblick auf eine längst vergangene Prähistorie, die unschwer als die Gegenwart des Autors erkennbar ist, leitet eine für Werfels Roman zentrale Thematik ein: Der sogenannte Wintergarten ist ein ungeheurer unterirdischer Hohlraum in zweihundert bis dreihundert Kilometer Tiefe – eine riesige Kammer „mit atembarer Atmosphäre und mit einem milchigen Zwielicht“ (Werfel 1992, 567). Der Erzähler vermutet, dass dieser „Tartarus“ „künstlich erleuchtet und belüftet“ (Werfel 1992, 568) wird. Die Unterwelt ist auch ein Raum der teilweisen sinnlichen Deprivation. Die Schläfrigkeit, welche die Reisenden in der Unterwelt befällt,
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macht deutlich, dass das sinnliche Erleben hier zwar nicht ausgeschaltet, aber reduziert ist. Dieser Unschärfe der sinnlichen Wahrnehmung entspricht eine Unschärfe der Erkenntnis. Der Erzähler wird nicht müde zu betonen, dass Vieles, was den Wintergarten betrifft, unklar bleibt oder auf Vermutungen beruht. Der Wintergarten ist der Ort der Euthanasie. Die Beherrschung des Todes stellt sich im Verlauf des Romans als das letzte Telos der astromentalen Gesellschaft heraus. Der Zeitreisende F. W., der als ein durch parapsychologische Kräfte in die Zukunft katapultierter Ich-Erzähler auftritt, wird von seinem Freund B. H. in diese gigantische unterirdische Höhle begleitet. Der Wintergarten ist eine Heterotopie im Sinne Foucaults: einer von den Gegenorten, an denen die „wirklichen Plätze innerhalb der Kultur zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und gewendet werden.“ (Foucault 1999, 149) Und ebenso im Sinne Foucaults ist die Heterotopie des Wintergartens zugleich eine Heterochronie, ein Ort im Raum, der zugleich eine Zeit in der Zeit ist. Die Zeit des Wintergartens ist rückläufig, der Lebenszyklus wird umgekehrt. In der intendierten stereotypen Wiederholung der Zeitumkehr ist der Wintergarten aber auch ein Ort, an dem die Zeit zum Stillstand kommt. Nach mythischem Modell wird diese Reise in die Unterwelt als „Tartarophanie“ (Werfel 1992, 621) bezeichnet. Der Descensus ad inferos ruft den Strukturtopos der Liminalität (Robert 2014, 224– 225) auf. Mit der Überschreitung der Schwelle zur Unterwelt eröffnet sich ein dystopischer Angstraum, der sich als utopischer Sehnsuchtsraum tarnt. Der unterirdische Wintergarten ist eine Anderswelt, in der Diktion Sloterdijks eine „Antisphäre“ (1999, 593), deren Alterität aber nicht alternativ auf die bekannte Welt bezogen ist. Vielmehr ist der Wintergarten eine Antisphäre innerhalb der vom Roman dargestellten zukünftigen Anderswelt, also eine Anderswelt in der Anderswelt, die den dystopischen Charakter der sie inkludierenden, nur scheinbar utopischen Anderswelt dekuvriert. In anderen Worten: In der unterirdischen, zunächst verborgen bleibenden Antisphäre innerhalb der Anderswelt offenbart sich das wahre Wesen dieser Anderswelt. In der Tiefe der Erde eröffnet sich ein randständiger, liminaler Sonderraum, eine eigenständige kulturelle „Semiosphäre“ (Lotman 2005), die aber genauestens mit der sie inkludierenden, oberirdischen astromentalen Welt korrespondiert. Denn die Beherrschung des Todes, der sich der Wintergarten verschrieben hat, ist nur die konsequente Fortführung der Beherrschung des Lebens auf der Erdoberfläche durch die Kräfte der Vernunft und des Geistes. Wenn die Euthanasie das Telos des guten Lebens ist, so hat die Abschaffung des Todes die Abschaffung des Lebens zum komplementären Korrelat. Der Erzähler betont den Wissensvorsprung, den die Zukunftswelt gegenüber der Gegenwart hinsichtlich der inneren Welt besitzt – und diese wird ausdrücklich nicht nur als psychische, sondern auch als materielle verstanden. Es handelt sich um das Innere des menschlichen Körpers wie um das Innere des Planeten Erde.
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Der Roman schildert sehr eindringlich die Passage, den Schwellenraum zwischen der Ober- und der Unterwelt: Zunächst gelangen die Besucher des Wintergartens durch einen „langen Korridor“ in die Camera caritatis (Werfel 1992, 569). Diese ist ein runder, überfüllter Salon, der als Aufzug fungiert und durch einen Schacht die Reisenden unmerklich in die Tiefe transportiert. Vor der Abfahrt wird der Salon „unter allerlei Zeremonien und Vorsichtsmaßnahmen mit mehreren großen Riegeln abgesperrt“ (Werfel 1992, 570). Dem Erzähler wird bei der Fahrt in die Tiefe schlecht und er muss „eine Art von Seekrankheit niederkämpfen“ (Werfel 1992, 573). Er fällt in eine Ohnmacht, aus der er erst erwacht, als der Aufzug zum Stillstand kommt. Die Tür öffnet sich und gibt den Blick frei in eine weite Landschaft. Was die Reisenden im Wintergarten vorfinden, ähnelt einem riesigen Sanatorium bzw. einem Badekurort. Der Wintergarten ist damit auch als ein Ort der Reinigung ausgewiesen, analog zu jenen von Foucault genannten Orten der spirituellen und/oder körperlichen Reinigung wie das muslimische Hammam oder die skandinavische Sauna (Foucault 1999, 155). Die Protagonisten werden von einem Animator geführt und von Bademeistern betreut. Diese Unterwelt ist mehrfach codiert. Sie wird als Uterus terrae matris, als „Gebärmutter der Mutter Erde“ (Werfel 1992, 601) bezeichnet. Was in ihr geschieht, ist eine Inversion der Geburt. Die Menschen werden im Zuge einer „Retrogenese“ (Werfel 1992, 620) bis zu Embryonen und Zellbläschen rückentwickelt, aus denen, wenn dieser Vorgang ohne Zwischenfälle abläuft, Margeriten sprießen: Embleme einer „Ästhetisierung der Technik [und] des Todes“ (Lefenda 2002, 128). Die Reise in die Unterwelt ist in Stern der Ungeborenen in mehrfacher Hinsicht ein „epistemologisches Unternehmen“ (Mülder-Bach 2007, 97). Zum einen wird das Paradigma der Sehnsucht nach einer Rückkehr in den Mutterleib, in den gesicherten Innenraum des Erdleibs auf die Probe gestellt; zum anderen wird im Wintergarten das Wesen der astromentalen Welt offenbar – ihre Todesverfallenheit. Der Topos der Reinigung erhält im Wintergarten als Ort massenhafter Euthanasie eine dunkle, destruktive Bedeutung. Sein Zweck ist eine Art Müllbeseitigung, die Entsorgung derjenigen, die überflüssig und überzählig geworden sind. Hinfällige Menschenkörper werden in Margeriten verwandelt. Ihr Anblick soll in einer Feedbackschleife wieder die nächste Menschenlieferung motivieren, sich widerstandslos der Entsorgungsprozedur zu überlassen.
3 Unterirdische Todesgärten In einer doppelten Inklusionsstruktur ist der Wintergarten in der Riesenhöhle seinerseits durch Mauern und Gebäude umgrenzt und beherbergt zahllose
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Treibhäuser. Sie sind Horti seclusi innerhalb eines Hohlraums. Genau in der vertikalen Achse über ihm befindet sich über der Erde der Nordstern, der seinerseits von dem „‚Universum Hibernum‘“ (Werfel 1992, 593) überwölbt wird. Mit diesem Schalen- und Sphärenmodell des Universums knüpft Werfel an die visionären Vorstellungen Swedenborgs an (Abels 1990, 139). Der Wintergarten ist als Ort des Todes zugleich eine verkehrte Welt. Denn hier wird die biologische Entwicklung des Menschen umgekehrt. Der Tod – das Wort ist aus der astromentalen Welt verbannt – erscheint als angenehme, ja wonnevolle Retrogenese. Nicht zuletzt soll der Tod durch Euphemismen seinen Schrecken verlieren und als Glück erfahren werden. Schon das Wort Wintergarten zeugt vom Doublespeak in der monolingualen Sprache der astromentalen Gesellschaft. Der Prozess der Retrogenese erweist sich als tückisch. Denn diejenigen, die sich ihm widersetzen, mutieren zu obszön fluchenden „Rübenmännchen“ (Werfel 1992, 631), zu grotesken Chimären wie „Menschenschweinchen“, „Menschenfischen“, „Menschenmolchen“ oder zu hypertrophen Körperteilen, deren Qualen an die „Dantesken Höllenstrafen“ erinnern (Werfel 1992, 638 – 639). Unüberhörbar ist hier der Subtext des psychoanalytischen Diskurses, der sich über die Darwin’sche Evolutionstheorie legt: Die Retrogenese erscheint als Regression. Sigmund Freud erklärt in Jenseits des Lustprinzips (1920) den Todestrieb zum einen als Streben nach vollkommener Spannungsabfuhr, nach „Rückkehr zum Anorganischen“ (1982, 249), zum anderen als Drang zur Wiederholung, zur „Wiederherstellung eines früheren Zustandes“ und als „Äußerung der Trägheit im organischen Leben“ (1982, 246). Wie nach Freud solche regressiven Vorgänge mit (Auto‐)Aggression verbunden sind, so löst auch die regressive Retrogenese im Wintergarten aggressive Triebe aus. Im Zuge der Rückentwicklung kehren die in der astromentalen Kultur abgewehrten libidinösen und aggressiven Regungen wieder und machen sich in primitiven Reaktionen, in unflätigen Flüchen und Zoten Luft. Der Erzähler F. W. erklärt seinem Freund B. H., „daß der seelische Dreck, der sich in hundertachtzig astromentalen Kulturjahren angesammelt hat, endlich herausmuß. Es ist die Rückseite des feinen Benehmens und der eleganten Menschlichkeit …“ (Werfel 1992, 631). Die misslungene Retrogenese kann als pathologischer Durchbruch des Verdrängten verstanden werden. Retrogenese als Regression macht das Versagen der astromentalen Triebkontrolle offensichtlich. Die regressive Pathologie verkörpert sich in organischen Missbildungen und Hybridisierungen. Die letzte Steigerung der Angstvision des Romans ist aber nicht diese Rückentwicklung zu wütenden und gequälten Chimären, sondern die Auslöschung der Individuen im „See des Vergessens“ (Werfel 1992, 640). In diesem seichten unterirdischen Gewässer werden die Produkte der gescheiterten Retrogenese entsorgt. Für den Reisenden F. W., der selbst in diesem See zu versinken droht, ver-
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wandelt sich das technische Paradies zur Hölle des Vergessens. Nur mit letzter Kraft und mit Gewaltanwendung können sich der Erzähler und sein Freund daraus retten. Dem Animator, den er in den See des Vergessens gestoßen hat, ruft der Erzähler zu: In Ihnen […] erschreckt mich die gefährlichste Kombination, die es gibt, Fanatismus und intellektuelle Verbohrtheit. Ihresgleichen sind mir seit hunderttausend und mehr Jahren wohlbekannt, von Torquemada bis zu den Rasseärzten der Gestapo mit ihren Mordspritzen. (Werfel 1992, 655)
Dass die Verbindung von Euthanasie und Massenvernichtung vor dem historischen Hintergrund der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager zu lesen ist, bedurfte nicht des expliziten Hinweises. So werden die in den Wintergarten Eintretenden von „Nummernzählern“ (Werfel 1992, 577) zu statistischen Zwecken in ein Buch eingetragen. Die Todesmaschinerie der Zukunftswelt hat sich aber insofern modernisiert, als sie ihren Opfern Freiwilligkeit suggerieren will. Der Animator beruft sich auf das „Desiderium originis, die Sehnsucht nach dem Ursprung“ (Werfel 1992, 607), welche die zu Tötenden zum Eintritt in die Unterwelt bewegen soll. Es geht den Organisatoren der Euthanasie darum, den Lebenswillen auszulöschen. Das wichtigste Mittel dazu ist der Gedächtnisverlust. Der See des Vergessens ist der Ort solcher Persönlichkeits-Auslöschung: Das leichte Wasser des Sees […], das fühlbar an mir sog und sog, bedrohte die Vollzähligkeit meines Ichs, indem es den Inhalt meines Lebens von mir zu trennen suchte. […] Ich war wie eine Photographie. Woraus besteht solch eine Photographie? Aus einer lichtempfindlichen Fläche und aus dem Bilde, das sie festhält. Das Wasser des Mnemodroms versuchte das Bild abzulösen und die leere verbrauchte Fläche übrig zu lassen, mit der später der Animator ein leichtes Spiel haben würde. (Werfel 1992, 648 – 649)
Individualität wird nicht in einem Bild der Tiefe, sondern mit einer Fotografiemetapher veranschaulicht. Solchem zweidimensionalen, flächigen Bild des Individuums und seiner einzigartigen Kontur wird der Hohlraum des Wintergartens als Ort der Ich-Auslöschung entgegengestellt. Dieser Tiefenraum ist auch ein Ort der fehlenden „Zeiteinteilung“, der „gestaltlosen Dauer“ (Werfel 1992, 656), die mit dem Erinnerungsverlust korrespondiert. Die Widerstandskraft des Erzählers, der sich aus dieser mythologischen Unterwelt des Vergessens gerade noch retten kann, beruht nicht zuletzt darauf, dass er aus der Tiefe der Zeit kommt. Während sich in der Tiefe des Raumes das Vergessen vollzieht, gründet in der Tiefe der Zeit der Rettungsanker der Erinnerung. F. W. erklärt dem Animator:
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[A]ls ein Steinzeitler stehe ich zu tief für den Wintergarten. […] Ich lebe zu gern, selbst wenn mein Leben so dubios ist wie jetzt. Ich habe keine Lust, meinen Tod freiwillig zu wählen und zu beherrschen, wenn diese Beherrschung auch ein unermeßlicher Fortschritt sein mag […]. (Werfel 1992, 653 – 654)
Programmatisch äußert F.W.: „Jeder Zwang ist terroristisch, selbst der Zwang zum Glück.“ (Werfel 1992, 578) Damit formuliert er den Kerngedanken der Dystopie des zwanzigsten Jahrhunderts, wie sie Aldous Huxley mit seiner Brave New World (1932) mustergültig entworfen hat: die Verbindung von Glücksversprechen mit totaler Überwachung und der Herrschaft der verehrten Kontrolleure, die für Indoktrination und Steuerung aller Lebensbereiche zuständig sind. Stern der Ungeborenen zeigt, dass die Massen, die nach Ausbruch des Krieges zwischen Dschungel und astromentaler Gesellschaft in den Wintergarten fliehen, um dort einen sanften Tod zu sterben, Betrogene sind. Während im Wintergarten der Versuch einer technisch gesteuerten Regression scheitert, wird die astromentale Welt durch die von ihr hervorgerufenen destruktiven Regressionen zerstört. Mit dem der Euthanasie dienenden unterirdischen Wintergarten wird eine dialektische Struktur verbildlicht. Der Geborgenheit als Retrogenese in den Mutterleib und Rückkehr zum Ursprung steht die latente, sprachlich (durch Euphemismen) wie räumlich und pragmatisch verdeckte Enteignung des Todes durch die technisch perfektionierte Liquidation gegenüber. Damit treffen zwei konkurrierende und konträre Codierungen von Tiefe aufeinander: eine nivellierende Unterwelt, die mit dem normierten, zentral gesteuerten Tod der Vielen auch jede Individualität auslöscht, und das Innerste eines religiös fundierten Subjekts, das sich im individuellen Leid und Tod manifestiert. Die negativ dargestellte Tiefe, die Hölle der Unterwelt ist bei Werfel vordergründig nicht mit dem Dunklen, dem Irrationalen, dem Unkontrollierten konnotiert, sondern im Gegenteil mit den Kontrollphantasien einer technischen Rationalität, deren letztes erklärtes Ziel es ist, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Dass die Camera caritatis, in die die Reisenden beim Eintritt in die Unterwelt zunächst gelangen, vom Erzähler als Camera paritatis verstanden wird (Werfel 1992, 569), deutet darauf hin, dass die sich als Utopie tarnende Dystopie des Wintergartens paradoxerweise auf der sozialen Einebnung in der Tiefe beruht.
4 Enterdete Tiefen Werfels Roman knüpft aber auch in anderer Hinsicht an die Gattungsmodelle von Utopie und Science Fiction an: Denn die ferne Tiefe findet sich nicht nur im technisierten unterirdischen Wintergarten, dem Ort dystopischer Euthanasie,
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sondern auch, in umgekehrter Richtung, in der Tiefe des Kosmos. Diese Komplementarität zwischen dem Eindringen ins Erdinnere und in die Tiefen des Weltraums, in eine enterdete Tiefe, findet sich bereits bei einem der Väter der Science Fiction, nämlich Jules Verne. In seinen Romanen Von der Erde zum Mond (De la terre à la lune, 1865), Reise um den Mond (Autour de la lune, 1870) und Reise durch die Sonnenwelt (Hector Servadac, 1877) dringen die Protagonisten in die Tiefe des Weltraums vor, während die Reise zum Mittelpunkt der Erde (Voyage au centre de la terre, 1864) in neoromantischer Manier ins Innere des Globus und zugleich in die Tiefe der Vergangenheit, in die Urzeit der Menschheit führt, deren Zeugnisse in unterirdischen Hohlwelten besichtigt werden. Das eindrücklichste Paradigma einer enterdeten Tiefe liefert aber Vernes Roman Zwanzigtausend Meilen unter Meer (Vingt mille lieues sous les mers, 1869/70). In den Tiefen des Meeres, unterhalb der Meeresoberfläche und im Innern des Nautilus finden Kapitän Nemo und seine Mannschaft einen doppelt gesicherten Raum der Ruhe und Geborgenheit: Das Meer ist eine gewaltige Brutstätte der Natur. Durch das Meer, wenn man so will, fing die Erde an zu leben, und wer weiß, ob sie nicht durch das Meer endigen wird. Hier herrscht die äußerste Ruhe. Das Meer ist außerhalb der Macht der Tyrannen. An seiner Oberfläche, da können sie noch auf ihr unbilliges Recht pochen, sich bekämpfen, sich vernichten, alle Schrecken verüben. Aber dreißig Fuß tiefer endet ihre Willkür, gilt ihr Wort nichts, ist ihre Macht nichtig. Ach, mein Herr, leben Sie, leben Sie auf im Schoß des Meeres! Hier allein ist Unabhängigkeit! Hier beugt mich kein Regiment! Hier bin ich frei! (Verne 1976c, Bd. I, 141)
Werfels Roman, der sich auch explizit von Verne distanziert (Werfel 1992, 335), entwirft mit seinem Wintergarten ein dem Verne’schen diametral entgegengesetztes Modell der Unterwelt. Nemos individueller, anarchischer Souveränität steht ein Regime gegenüber, das mit der Verwaltung des Todes die letzte Bastion der Individualität, nämlich die individuelle Todeserfahrung eingenommen hat. Aber auch zur Erdentiefe, wie sie Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde imaginiert, steht der Wintergarten in scharfem Kontrast. Vernes Roman ebenso wie der seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine Konjunktur erlebenden Archäologie ging es darum, die Distanz von Jahrtausenden zu überwinden und durch narrative Vergegenwärtigung die Toten der Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Der Wintergarten dient indes gerade dem gegenteiligen Zweck, die Lebenden mit sanfter Technologie in den Tod zu geleiten. In beiden Fällen soll die Irreversibilität der Zeit überwunden werden: dort durch die Magie der Vergegenwärtigung, hier durch die Umkehr der evolutionären Genese, durch Retrogenese. H. G.Wells, der zweite Ahnherr der Science Fiction, schildert seinerseits in The Time Machine (1895) eine Zukunft im Jahr 802 701, in der die Erde von einer neuen,
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unterirdisch lebenden Rasse dominiert wird. Sie weidet die Menschen auf der Erdoberfläche, schlachtet sie aus und verzehrt sie als Frischfleisch. Werfels Stern der Ungeborenen hat mit den Unterwelten des von Wells begründeten Science Fiction-Topos gemeinsam, dass der Mundus subterraneus nicht mehr ein Ort ist, an dem eine verschwundene Vergangenheit entdeckt wird. Vielmehr ist er ein Ort der Zukunft, und es ist keine vorgefundene, sondern eine konstruierte Unterwelt (Platthaus 2004, 46 – 47). Die Beherrschung der Natur, die in der Science Fiction mit der Konstruktion von Unterwelten verbunden wird, kulminiert bei Werfel in der Beherrschung des Todes. Doch diese Herrschaft über den Tod scheitert in Stern der Ungeborenen nicht nur in einem metaphysischen, sondern auch in einem technischen Sinn, wovon die misslungenen Retrogenesen anschauliches Zeugnis ablegen.
5 Der Ausstieg aus der Hölle In der dystopischen Welt des Wintergartens ist ein katholisches Kloster des Ordens „Brüder des kindhaften Lebens“ eingelagert. Die „heiter[en] und wohlgelaunt[en]“ (Werfel 1992, 664) Ordensbrüder boykottieren die Institution des Wintergartens, indem sie als „die erfahrensten Menschenschmuggler“ (Werfel 1992, 666) zur Einsicht bekehrte Menschen als Mönche verkleidet auf die Erdoberfläche zurückbringen. F. W. erinnert diese Verkleidung an die Flucht vor den Nationalsozialisten im okkupierten Frankreich 1940, bei der ebenfalls die Idee aufkam, die Flüchtenden als Mönche verkleidet über die Grenze nach Spanien zu bringen (Werfel 1992, 667). Die geheime Rückkehr an die Erdoberfläche erfordert es, im Gegensatz zur bequemen Fahrt in die Tiefe, mühsam Stufe für Stufe eine lange Treppe zu ersteigen (Werfel 1992, 665). Zuletzt müssen sich die Fliehenden auf einer Straße, auf der Massen von Todeswilligen auf der Flucht vor dem Krieg in Richtung Wintergarten pilgern, durch einen entgegendrängenden Menschenstrom kämpfen. Der astromentalen Regulation des Lebens, die in der technischen Beherrschung des Todes kulminiert, wird eine kindlich-vitale List und Widersetzlichkeit entgegengestellt – die Lust, gegen den Strom zu schwimmen. Die verkürzt wiedergegebenen Worte Jesu, „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder usw.“,¹ bezeichnen das Ideal des „kindhaften Lebens“: „Wieder zum Kind werden aber heißt, wieder in voller Gegenwärtigkeit leben […].“ (Werfel 1992, 663) Diese Rückkehr zur Emotionalität, Authentizität und Vitalität des Kindlichen ist das
In Matthäus 18,3 heißt es: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich des Himmels kommen!“ (MacArthur 2002, 1337)
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Gegenbild zur pathologischen Regression, als die sich das technische Projekt der Retrogenese entpuppt. Durchgehend wird das allegorische Geschehen in Stern der Ungeborenen doppelt codiert. Unter religiöser Perspektive übernimmt Werfel Joachim von Fiores triadische Eschatologie von Leben, Tod und Auferstehung (Abels 2000, 388). F. W.s Einbindung ins Leben der Astromentalen folgt sein Abstieg ins Totenreich und die Wiederauferstehung im Zeichen der Versöhnung von Geist und Sinnlichkeit. Unter soziopolitischer Perspektive verstärkt die Entfesselung der Möglichkeiten durch die Allmacht der Geisteskräfte das Bedürfnis nach Regulierungen. Um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, sind aus der astromentalen Welt unberechenbare Triebe und Leidenschaften verbannt. Der Harmoniezwang ist das psychosoziale Pendent der Steuerung aller Lebensbereiche. Sie kulminiert in der Regulierung des Sterbens, die als Sieg über den Tod die Identifikation der Bevölkerung mit der astromentalen Ordnung garantieren soll. Die Flucht aus der unterirdischen Höhle korrespondiert bei Werfel mit dem Scheitern der astromentalen Ausflüge in die Tiefen des Kosmos. Werfels Roman vollzieht eine Bewegung der doppelten Reterritorialisierung. Die Erhabenheit des Kosmos wird ebenso entzaubert wie der unterirdische Schutzraum. Im Krieg zwischen Dschungel und Astromentalen wird der „Djebel“ zerstört. Dieser ist „ein gewaltiger, künstlicher Berg von mehr als viertausend Fuß absoluter Höhe“ (Werfel 1992, 312– 313), der als „Gäas Auge“ (Werfel 1992, 690) bezeichnet wird. In ihm sind alle natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen vereint, da sie gleichermaßen geistig begründet sind.Vom Djebel aus unternehmen ausgewählte Astromentale spirituelle Ausflüge in die Tiefen des Weltraums und erleben in einem geistigen Sternentanz die Vereinigung mit dem Kosmos. Die Zerstörung des Djebels am Ende des Romans markiert auch das Ende der astromentalen Gesellschaft. Gerade der Knabe, der sich als bester Sternentänzer hervortat, opfert am Ende sein Leben, um aus dem Inneren des Djebels die Kapsel zu retten, „in welcher die Zukunft des menschlichen Geistes steckte“ (Werfel 1992, 698). Nicht das Vordringen in die Tiefen des Kosmos, sondern die Opferbereitschaft, die Rettung vor der kriegerischen Zerstörung des Geistes, ist die Tat, aus der das Leben neuen Antrieb erhält. So geht die Restitution der göttlichen Ordnung am Ende des Romans mit der Rückkehr von Tod und Leiden einher. Zugleich werden durch die Vereinigung von Dschungel und astromentaler Welt nicht nur Geist und Sinnlichkeit versöhnt, sondern auch die Kräfte der Unordnung, des Zufalls und des Schicksals in ihr Recht gesetzt.
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6 Fazit Mit dem die christliche Heils- und Erlösungsgeschichte nachbildenden, allegorischen Opfertod eines Knaben werden die Erfahrungen des Schmerzes und der Todesangst wieder in die Zukunftsgesellschaft eingeführt. Sein sinnvoller und würdevoller Tod, der F. W. ins Jahr 1943 zurückbringt und einen Neubeginn in der Zukunftswelt ankündigt, ist das Gegenbild zur infernalischen Todesmaschinerie der Retrogenese. Mit dieser religiösen Vision wird die utopische Ambivalenz aufgelöst, allerdings weder im Sinne utopischer Affirmation noch im Sinne einer Satire auf die Utopie.Werfels Roman ist vielmehr eine „eschatologische Absage an die Utopie, […] eine Verurteilung des menschlichen Strebens, anderswo als in Gott sein Heil zu suchen“ (Meyer 2003, 93). Dabei wird die Hoffnung auf diesseitige Realisierbarkeit der idealen Gesellschaft nicht nur aus religiösen Motiven widerrufen. Denn die grundlegende Aporie der astromentalen Welt besteht darin, dass die „Abschaffung des Schmerzes, der Arbeit, der Aggressivität und des Krieges, die Ausgrenzung des Todes und die Unzeitgemäßheit der Liebe“ (Abels 2000, 377) zu Vitalitätsverlust, Monotonie und historischem Stillstand führen. Da permanentes Glück lähmend wirke, erfordere die fortwährende Wandlung das „Übel“, einen konstanten „Mißlungenheitskoeffizient[en] des Lebens“ (Werfel 1992, 182). In Werfels Stern der Ungeborenen manifestiert sich paradigmatisch die Ambivalenz der Tiefenmetapher. In der Tiefe der Unterwelt wird die Wahrheit über die Oberflächenwelt aufgedeckt. Die Unterwelt ist nicht der Ort des Dunklen und Irrationalen, sondern das Reich absoluter Zweckrationalität. Die Fahrt in die Unterwelt wird zum Mittel der Aufklärung. Sie enthüllt den wahren, auf der Erde verborgenen Charakter der herrschenden Gesellschaftsordnung. Die Reisenden und mit ihnen die Leser/innen werden darüber aufgeklärt, welche Folgen die Herrschaft von Vernunft und Aufklärung zeitigt. Ihre Dialektik besteht nicht zuletzt darin, dass sie sich mythischer Figuren bedient, um die Menschen vom Segen der Euthanasie zu überzeugen. Der Mythos von der Rückkehr zu den Müttern, in den Schoß der Natur, erweist sich dabei als illusionäres Lockmittel, das nicht allein über die technischen Pannen der Retrogenese hinwegtäuscht, sondern überhaupt die Destruktivität der Todesmaschinerie verschleiert. In der Tiefe findet das Subjekt keinen Schutz, im Gegenteil: Es wird ausgelöscht. Die letzte Konsequenz des zweckrationalen Nützlichkeitsdenkens ist die Todesindustrie. Das Euthanasieverfahren, das der Erzähler und die Leser/innen im Wintergarten kennenlernen, soll auch auf den Erzähler angewandt werden und seine Reise beenden. Er widersteht aber der Verlockung eines vermeintlich leichten und schönen Todes und entscheidet sich gegen das träge Gewährenlassen und Vergessen, auf denen das System des Wintergartens beruht. Damit ver-
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wandelt sich die für die Gattung der Utopie kennzeichnende Besichtigungsfahrt in eine abenteuerliche Flucht und in den Kampf gegen das Böse. Führt ein komfortabler Fahrstuhl in die als Paradies getarnte unterirdische Hölle, so wird der Widerstand dagegen als mühsam erkämpfter Aufstieg aus der Unterwelt inszeniert. Indem damit das aktive Subjekt als Romanheld wieder in sein Recht gesetzt wird, gewinnt die Handlung gegenüber der Beschreibung an Fahrt. Was F. W. rettet, kommt zugleich dem Romancier Franz Werfel zugute. Für die Wiedergeburt des Romanhelden spielt die Kirche trotz aller ihrer historischen Verfehlungen als „Hüterin eines Sterbens, das sie als Eintritt ins ewige Leben versteht“ (Fliedl 2011, 143), eine entscheidende Rolle. Damit hebt sie sich von der Negativfolie eines technisch-industriellen Systems zur Regulierung von Leben und Tod ab. Im Descensus ad inferos offenbart sich das innerste Wesen einer Kultur, die den Körper geringschätzt, die irrationalen Leidenschaften wie die unkontrollierbaren Triebkräfte vernachlässigt und die absolute Vorherrschaft von Ratio und Spiritualität forciert. Die Tiefe wird damit nicht nur zum Ort der Erkenntnis, sondern auch der Negation des Lebens. Die Wiedergewinnung der wahren Tiefe erfolgt durch die Erfahrung des individuellen Todes, insbesondere der freiwilligen und schmerzhaften Selbstaufopferung. Die Rückkehr aus der Tiefe des Wintergartens in das Licht der Erdoberfläche ist in einer merkwürdigen Inversion zugleich die Rückkehr zum Dunklen, zu den bedrohlichen, aber unverzichtbaren, vitalen menschlichen Triebkräften.
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Bernd Stiegler
Die heilige Fläche oder die doppelte Stunde Null „Jede Fläche ist eine Fläche, und es darf keine Bilder geben.“ (Alexander Rodtschenko)
Ein Bild ist immer flach. Doch als Maurice Denis seine Zuhörer 1890 eben daran erinnerte, dass „un tableau […] est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblé“ (1964, 33), war dieser Hinweis noch ein revolutionärer Akt, eine Bilderstürmerei der besonderen Art. Fortan – und das hat dann mit Denis recht wenig zu tun – sollten Bilder (und Maler) die ihnen zugeschriebene oder in ihnen wahrgenommene Tiefe sukzessive selber auszutreiben versuchen. Im zwanzigsten Jahrhundert werden Bilder in höchst unterschiedlicher Weise die ihnen eigene Fläche als konstruktive Möglichkeit entdecken, und dies in Gestalt einer regelrechten Bildpolitik. Die nunmehr bewusst flache ikonische Welt entwirft immer neue Modi, sich zur Geschichte und zur Wirklichkeit zu verhalten, die auch ihrerseits immer flacher wird. The World is flat betitelte so etwa Thomas L. Friedman Anfang des neuen Jahrtausends sein (im Übrigen auch recht flaches) Buch, in dem er die Zweidimensionalität der Welt auf die Netzförmigkeit der digitalen Kultur zurückführte (2008). Erst der Welthandel und dann die Informationstechnologie treiben, so Friedman, die Verflachung der Welt an und voran. Lange Zeit war dies die Domäne der Kunst. Sie entdeckte die Flachheit des Bildgrundes als Möglichkeit eines grundlegenden Neuanfangs auf dem sicheren Fundament der leeren Fläche. Auf diese Fläche will ich mein Bild gründen, und mit ihm jenes der neuen Wirklichkeit. Im Folgenden versuche ich, die Bildpolitik der Fläche im zwanzigsten Jahrhundert in zwei historischen Schritten zu rekonstruieren. Eine erste Erkundung gilt der Hochzeit der Entdeckung der Fläche in den Avantgarden. Was sich bei Denis bereits andeutet, wird nun von Rodtschenko bis Mondrian und von MoholyNagy bis van Doesburg ausbuchstabiert und zum ästhetisch-politischen Programm. Dies sollte bekanntlich nicht von Dauer sein, denn die Kunst zwischen Sozialistischem Realismus und Nationalsozialismus einerseits und amerikanischem Realismus andererseits sollte die Figuration und mit ihr den illusionistischen Bildraum wiederentdecken und der „Verflächigung“ der Bilder, so der Begriff von Markus Brüderlin (Brüderlin 1994), nachdrücklich entgegenarbeiten. Doch der abstrakte Expressionismus, und die sogenannte Color-Field-Painting und dann später die Hard Edge-Malerei im Amerika der 1940er und 1950er Jahre https://doi.org/10.1515/9783110634730-017
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Abb. 1. Kurt Leonhard (1947): Die Heilige Fläche. Umschlag: Paul Klee (1926): „Wandernde Fische.“
sowie, als der Krieg vorüber war, die informelle und abstrakte Malerei im Nachkriegseuropa entdeckten dann die Fläche wieder neu und machten aus ihr ein besonderes Feld, in dem Historisierung und Geschichtsvergessenheit Hand in Hand gehen. Die Geschichte der Malerei im zwanzigsten Jahrhundert wird skandiert durch den Wechsel von illusionärer Tiefe zur Fläche. Und dieser Wechsel vollzieht sich gleich mehrere Male.
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1 Die heilige Fläche „Die Geschichte der Kunst ist die Geschichte der Menschheit in gereinigter Form.“ (Willi Baumeister)
Der etwas pathetische Titel meines Aufsatzes stammt von dem schwäbischen Kunstschriftsteller Kurt Leonhard, der 1947 sein Buch mit Gesprächen über moderne Kunst so überschrieb (1947). Dort unternimmt er im Geiste Willi Baumeisters und Max Ackermanns eine Art Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Kunst nach dem Krieg in Gestalt eines Gesprächs zwischen einem Maler, einem Kunsthistoriker, einem Studenten und diversen jüngeren und älteren Galeriebesuchern. An die Stelle der „göttlichen Perspektive“, resümiert er dort, sei nun die „heilige Fläche“ getreten, und an die der Nachahmung die, so der Neologismus, „Vorahmung“ (Leonhard 1947, 8). Von Säkularisierung keine Spur: Das Bild ist heilig und seine Botschaft kulturelles Gesetz. Die Aura à la Benjamin oder der Mythos à la Barthes regieren. Leonhards durchaus ernstgemeinte Neubestimmung der Kunst hat eine doppelte Gestalt. Auf der einen Seite versteht sich die neue Kunst als radikaler Neubeginn im Sinne eines „konkreten Sehens“ und als „Beziehungen zwischen elementaren Farben und Formen“, die in dem Dreischritt von Elementarformen, Formgefügen und Sinngestalten nach einer „kompromißlos neuen Sprache“ suchen (Leonhard 1947, 8, 14, 50, 70, 71). So weit, so formal. Auf der anderen Seite wird diese Geschichte der Abstraktion, die die Welt der Gegenstände in flächige Formen verwandelt, als Übersetzungsoperation gedeutet, die die Malerei erst von der Welt abrückt, um sie dann umso konsequenter wieder mit ihr zu verzahnen. „Wir entwirklichen die Welt, um sie zu einer höheren Wirklichkeit zu erlösen“, heißt es explizit (Leonhard 1947, 41); denn die Entdeckung der Bildfläche gelte eigentlich „Urphänomenen“, die, so Leonhard, den „Unsicherheitsrelationen“ der Gegenwart mit der Sicherheit einer neuen, nun flachen Sprache der Formen zu begegnen sucht (Leonhard 1947, 41). Die Fläche der Kunst ist der Ort einer neuen Transsubstantiation: Die dreidimensionale gegenständliche Welt wird zu zweidimensionalen Bildzeichen, die beanspruchen, die Wirklichkeit als Entwurf neu begründen zu können. Und dieser reicht weit zurück in die Zeit vor der Geschichte oder von Europa nach Afrika oder ins Zweistromreich und versteht sich als interkulturelle Kommunikation noch vor den Postcolonial Studies. In Leonhards Buch ist es ein Maler, der die Geschichte der Abstraktion im zwanzigsten Jahrhundert in einer Art autobiographisch-kunsthistorischen Skizze rekapituliert. Dieser Maler trägt zwar nicht den Namen Baumeister, ist aber ein Baumeister der besonderen Art, da er eine neue visuelle Weltsprache zu be-
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gründen sucht. Zuerst, in der konstruktivistischen Periode, zu Zeiten des „Endes der Kunst“ (Leonhard 1947, 7), regierte die Schönheit der Technik (man denke an Baumeisters Maschinen- und Sport-Bilder der 1910er Jahre), die bereits zum dekorativen Ornament tendiere und dann spätestens in den Kriegsjahren „unbehaglich“ wurde (Leonhard 1947, 7). Organische und geometrische Formen überkreuzen sich und Vorbilder werden nun in der Vor- und Frühgeschichte gesucht, so etwa dank Frobenius in afrikanischen Felsbildern. Dort entdeckt der Maler „Formlinge“ und eine „absolute Formenmusik“ (Leonhard 1947, 70). Nun ist ein Neubeginn der Kunst gefunden, die sich noch nicht einmal auf die Avantgarden zu berufen hat, sondern ungleich weiter zurückreicht. Entscheidend ist dabei, dass nicht nur die Zeit des Nationalsozialismus eingeklammert wird, sondern in dem Rückgriff auf Urformen der prähistorischen Zeit eine Art Enthistorisierung qua Historisierung und Entkulturalisierung qua Kulturalisierung vorgenommen werden. Die Zeit vor aller Zeit und die naturnahe Sprache des Anfangs, die Formen zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit und zwischen Schrift und Zeichnung verortet, werden zum Modell der formalen Neubestimmung der Gegenwart. Baumeister beschäftigte sich in der Tat während des Dritten Reichs im schwäbischen Bad Urach intensiv mit der vorzeitlichen Höhlenmalerei und versuchte, aus ihr Grundprinzipien der menschlichen und künstlerischen Wahrnehmung und Gestaltung herauszulesen. Sie wird im Wortsinn zum Vor-Bild der Kunst nach 1945. Bei Baumeister geschieht dieser Rückgriff auf die Urzeit und Urhorde bereits in den Zeiten des Nationalsozialismus, genauer Ende der 1930er Jahre, als die Ideogramme, die ‚Afrikanischen‘, ‚Sumerischen‘ und die ‚Eidos-Bilder‘ entstehen. Vom Konstruktivismus zum Primitivismus führte sein Weg, der die Fläche der Bilder als eine neue Möglichkeit der visuellen Kommunikation der Menschheit insgesamt verstand.¹ Sie sind wie flache Tafeln, auf denen Anschauung in Darstellung, Gegenständlichkeit in Ungegenständlichkeit und die Körperlichkeit der Dinge in visuelle Zeichen übersetzt werden. „Die Übersetzung der dinglichen Wirklichkeit in die Fläche“, schreibt Gottfried Boehm in seinem Buch über Baumeister, „ist gleichsam das Nadelöhr, durch das sich die Fäden der äußeren Welt mit denen der inneren Empfindung im Künstler verknüpfen.“ (Boehm 1995, 45) Ähnliches gilt für Max Ackermann, der, wie Baumeister Hölzl-Schüler, bereits früh zur abstrakten Malerei findet, um diese dann in eine absolute zu verwandeln. „Absolute Malerei“ lautet 1946 sein Artikel in der Stuttgarter Zeitschrift Die Wochenpost, in dem er fordert, dass „absolute Gestaltungswerte“ in den „Dienst einer inneren Schau“ gestellt werden sollen (Ackermann 2004, 37). Wie Baumeister ist
Zum Übergang vom Konstruktivismus zum Primitivismus Hirner-Schüssele 1990.
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Abb. 2. Max Ackermann (1946): „Zeichnung.“
er auf der Suche nach elementaren oder „Ur-Formen“, findet diese aber eher in einer stärker figurativ-zeichnerisch orientierten Kunst als in einer malerischskripturalen Sprache der Zeichen. Beide haben die NS-Zeit auf dem Land in Baden-Württemberg verbracht und dort mit höchst ungewisser Zukunft gearbeitet. Baumeister wohnte sogar eine Zeitlang bei Ackermann auf der Höri, erhielt dann aber die Professur, auf die dieser aspiriert hatte: die Nachfolge Schlemmers in Stuttgart. Ackermann wurde – und das teilte ihm der Minister auch persönlich mit – als politisch zu weit links stehend eingestuft. Dass Leonhard bei seinen Überlegungen insbesondere Ackermann und Baumeister im Sinn und im Blick hatte, zeigt sich unübersehbar in der Auswahl der wenigen Abbildungen, die dem Band beigegeben sind. Neben Arbeiten der beiden Künstler werden nur noch zwei
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Abb. 3. Willi Baumeister (1938): „Kompositionen mit Wimpelform“.
Plastiken von Otto Baum und ein Holzschnitt von H.A.P. Grieshaber gezeigt. Einige Abbildungen sind dabei in den Text integriert, andere auf unpaginierten Tafeln eingeschossen. Von Baumeister werden auf diesen gleich fünf Arbeiten gezeigt (vgl. Abb. 3 und 4), drei Zeichnungen Ackermanns hingegen direkt in den Text integriert (vgl. Abb. 2 und im Buch auch S. 25 und 83). Kurt Leonhards „Gespräche über moderne Kunst“, so der Untertitel des Bandes, sind daher auch solche mit Ackermann und Baumeister, die Gesprächspartner und Zeugen zugleich sind. Die ausgewählten Abbildungen sind daher Illustrationen im besten Sinn. Entscheidend scheint mir bei diesen Bioi paralleloi der gemeinsame Weg von einer objekt- hin zu einer subjektorientierten Kunst bzw. von einer abstrahierenden, noch an der gegenständlichen Welt ausgerichteten Kunst der 1910er bis frühen 1930er Jahre hin zu einer absoluten oder – in einem später weithin verwendeten Begriff – konkreten zu sein, die seit den späten 1930er Jahren mit reinen, dezidiert überzeitlichen Formen arbeitet. Diese werden zwar als Leistung des Subjekts betrachtet, aber eben zugleich auch als Matrix, die zwischen Natur und Kultur, Betrachtung und Gestaltung, Objekt und Subjekt vermittelt. Willi Baumeister sah diesen Weg als den der Geschichte der Kunst insgesamt an: Mit der Fläche hatte nach ihm die Geschichte der Kunst begonnen, führte dann weg von ihr, um schließlich wieder zu ihr zurückzuführen (Baumeister 1925, 1186 – 1187; 1924, 5). Die Welt der mittelalterlichen Malerei war flach, gewinnt dann in der Renaissance eine erste Tiefe, bis die Kunst des Barock und des Rokoko die
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Abb. 4. Willi Baumeister (1937): „Ideogramme“ [Lithographien].
Flachheit gänzlich zu vertreiben suchen. Dann setzt ein Prozess eines erneuten Flachwerdens der Welt in der Kunst ein, der in den 1940er Jahren zum Abschluss kommt. Die Kunst wird nun zur neuen säkularen Religion, die auf flachen Bildern über Konstellationen von Zeichen Bedeutungen zu produzieren sucht: eine neue Sprache. Just in den 1940er Jahren, also mitten in der Zeit des Nationalsozialismus, entstand Baumeisters Buch Das Unbekannte in der Kunst, in dem er seine Verteidigung der modernen, elementaren, absoluten Malerei über den Umweg der vorzeitlichen Höhlenmalerei unternimmt. Gegen Sedlmayrs Verlust der MitteThese schreibt er eloquent an und verteidigt die absolute Malerei eben als neue Sprache, als wirklichkeitsetzende Kraft. Die Existentialontologie ist, wir hören es, nicht fern und bildet das Hintergrundrauschen der ästhetischen Theorie.
2 Tabula rasa „Nieder mit der Kunst als farbenfrohe Flicken im Leben des Menschen.“ (Alexander Rodtschenko)
Der historische Abriss aus Leonhards Buch, der ebendiesen Brückenschlag von der Steinzeit bis zur Gegenwart unternommen hatte, ist vor allem von diagnostischem Interesse, da sich hier eine Deutung kristallisiert, die in anderer Weise
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auch für andere Bereiche der Kunst zu konstatieren ist. Es geht um einen doppelten Neubeginn der Kunst im Geist der Fläche: Der erste verläuft entlang der verschiedenen Strömungen der Avantgarden und reicht bis hin zu einer Infragestellung des Tafelbildes in der russischen Revolutionskunst. Erst wird die Welt der Kunst auf Fläche gebracht, die dann zerschlagen wird, um in eine Gestaltung der Lebenswirklichkeit insgesamt überzugehen. Diese soll ohne die normierenden Vorgaben der Geschichte neu konstruiert werden. Die Fläche steht für eine andere Art der Stunde Null, da hier Geschichte insgesamt neu geschrieben und gesetzt werden soll. Die reine Fläche ist tabula rasa, der degré zéro, der Nullpunkt der Geschichte. Am pointiertesten findet sich diese Neubestimmung bei Alexander Rodtschenko, der zwischen Konstruktivismus, Suprematismus und Futurismus pendelnd, erst vehement gegen die Zentralperspektive angeht, dann die reine Fläche und die Faktur für sich entdeckt, um schließlich das Tafelbild als solches als historischen Altbestand zu verdammen. Rückblickend formuliert er das so: Ich wurde also Maler, ein äußerst linker Künstler der abstrakten Malerei, in der die kompositorischen, technischen und farblichen Aufgaben den Gegenstand zerstörten. Meine Arbeiten waren seltsam. Ich führte die Malerei zu einem logischen Ende und stellte drei Leinwände aus: eine rote, eine blaue, eine gelbe und behauptete: Alles ist zu Ende. Die Grundfarben. Jede Fläche ist eine Fläche, und es darf keine Bilder geben. (Rodtschenko 2011 [1940], 23)
An die Stelle der Bilder tritt nun eine neue revolutionäre Formung der sozialen Wirklichkeit als Aufgabe der ästhetischen Gestaltung. Die Kunst wird reduziert auf die Linie und die Fläche, um dann jenseits dieser Abstraktion neu an- und einzusetzen und die Wirklichkeit wie auf einem Reißbrett neu zu entwerfen. Das ist ein Topos, der sich durchweg in der konstruktivistischen Kunst der Avantgarden findet – von Moholy-Nagy über van Doesburg und die De Stijl – bis hin zur MaGruppe. Und sie ist auch charakteristisch für andere Reformbewegungen wie das Bauhaus, die Burg Giebichenstein in Halle und selbst den Werkbund. Rodtschenko bringt das auf ein zweifaches Motto: „TOD DER KUNST!“ und „LANG LEBE DIE PRODUKTION!“. Konkret bedeutet das in Rodtschenkos Rückblick: Im Studienplan für die Disziplin Konstruktionen an dem Höheren künstlerisch-technischen Institut, an dem ich unterrichtete, standen folgende Losungen: „Der Konstruktivismus ist die moderne Weltanschauung.“ „Ein konstruktives Leben ist die Kunst der Zukunft.“ „Nieder mit der Kunst als farbenfrohe Flicken im Leben des Menschen.“ „Es ist an der Zeit, daß die Kunst sich systematisch in das Leben eingliedert.“ (Rodtschenko 2011 [1940], 28)
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Dies möge pars pro toto für die erste Phase genügen. Die zweite setzt dann in den 1940er und 1950er Jahren mit einer anderen Art der Stunde Null ein, die prima facie an die Formsprache der Avantgarden anknüpft, um dieser aber gerade durch die ebenso explizite wie sichtbare Historisierung die Geschichte auszutreiben und den sie bestimmenden programmatischen revolutionären Zug zu neutralisieren. Historisierung wird zur Austreibung geschichtlichen Gehalts gerade durch ihre Wiederaufnahme. Diese historische Formalisierung wird im Übrigen just im Umkreis der von Leonhard ausgewählten Maler flankiert durch eine Ästhetik, die auf Mathematik, Informatik und Programmierbarkeit setzt. Zentrale Figur dieser Bewegung und zugleich spiritus rector von gleich mehreren Zeitschriften und Ausstellungen war Max Bense. Das von Friedman diagnostizierte medientechnisch bzw. informatisch generierte Flachwerden der Welt setzt hier bereits programmatisch ein.² Diese historische Doppelkonfiguration der Fläche als regelrechter Gründungsgeschichte findet sich insbesondere in der europäischen Kunst recht häufig. Wenn man Kunstzeitschriften der Zeit, wie etwa Das Kunstwerk, durchblättert, findet man zuhauf genau jenen Rückbezug, der hier als Neubeginn apostrophiert wird. Oder, um die Dinge noch etwas anders zuzuspitzen: Während die Avantgarden erst die Fläche für sich entdecken, um sie dann zu zertrümmern, damit sie zur Gestaltung der neuen sozialen Wirklichkeit werden könne, vollzieht sich dieser Prozess in den 1950er Jahren mit etwas anderen Vorzeichen. Die Abstraktion der Kunst hält zwar nicht recht Einzug in die soziale Wirklichkeit, wohl aber die aus ihnen gewonnenen oder zumindest sie begleitenden Dekorformen in Gestalt von bunten Tapeten, Teppichen, Designobjekten und Dekormotiven.³ Adornos Kritik an der zeitgenössischen Kunst, die Gefahr laufe, zum Tapetenmuster zu verkommen, ist vielleicht auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die Geschichtsvergessenheit wird zum Programm und zum Dekorum.
Vgl. hierzu die von Bense herausgegebene Zeitschrift augenblick. zeitschrift für tendenz und experiment, die ab 1956 in Stuttgart erschien. Diese Beobachtung wird von Brüderlin Bazon Brock zugeschrieben (Brüderlin 1994, 28). Den Hinweis auf Brüderlins Arbeiten verdanke ich Jürgen Stöhr.
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3 Die „Einwanderung“ des Ornaments ins Bild und die „Ornamentalisierung der Moderne“ „un tableau […] est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblé“ (Maurice Denis)
In Leonhards Buch ist auch ein Widerpart der neuen Formensprache rasch ausgemacht: das Ornament. In seiner Reinform rein dekorativ und somit zu kritisieren, tendiere gleichwohl die Kunst dazu, es als Rhythmisierung der Bildelemente einzusetzen. Markus Brüderlin hat just diese ambivalente Haltung zum Ausgangspunkt einer Theorie der Ornamentalisierung der Moderne gemacht, die nicht nur die europäische, sondern auch die amerikanische Kunst der Nachkriegszeit und dann insbesondere der Postmoderne auf eine griffige Formel bringt. „Könnte man aber nicht“, so schreibt Brüderlin, „auch generell die Nachkriegsabstraktion als eine Art ‚Ornamentalisierung‘ des Formenpotentials der ungegenständlichen Kunst bezeichnen?“ (1994, 14) Brüderlin rekonstruiert die Geschichte des Ornaments in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts als eine Art „fruchtbare Dialektik“, eine höchst spannungsvolle Geschichte zwischen Affinität und Absetzung und als Prozess der Historisierung und der Rehabilitierung des zu Beginn Verpönten (Brüderlin 1994, 19). Ornament war, so suggeriert es bereits der Titel eines berühmten Textes von Adolf Loos, Verbrechen, ein „Sündenfall der Abstraktion“, aber eben auch ein „Steigbügelhalter für die Überwindung des (Bild‐)Gegenständlichen.“ (Brüderlin 1994, 19, 16) Brüderlin unterscheidet dabei zwei historische Entwicklungen: zum einen eine „Einwanderung“ des Ornaments in Form der Arabeske ins Bild und die „Bildwerdung“ des Ornaments. Diese setzt mit Runge in der Romantik ein, um sich dann ab dem Jugendstil zu verselbständigen: Linien und Formen werden zu einer freien, formalen, konkreten Bildsprache. So wird das Ornament als Schmuckform zur Bildform. Diese wird dann kommunikativ und utopisch als neue „Sprache“ aufgeladen. Mit Rodtschenko und der frühen Monochromie ‚implodiert‘ das Bild und wird in Gestalt einer Reduktion der Kunst auf ihre eigenen medialen und wesensmäßigen Bedingungen reduziert. Die Malerei, die programmatisch auf eine illusionäre Tiefe des Bildes verzichtet, wird erst reine Oberfläche und nähert sich dann mehr und mehr der Ebene der Wand an. Sie wird bereits mit Mondrian „Flächenraum“ (Brüderlin 1994, 22), um dann nach ihm die Geschichte im Wortsinn aufzunehmen. Zur Fläche wird hier die Zeit. Greenbergs
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berühmt gewordene Forderung einer „Flachheit“ (Greenberg 1997) setzt dann hier ein und führt letzten Endes zur Minimal Art. Das ist die eine Bewegung. Clement Greenberg, die bekannteste Stimme dieser Bewegung, spricht vom Gespenst des Dekorativen, das nur durch es selbst auszutreiben sei: Die amerikanischen Maler des abstrakten Expressionismus und der Hard-Edge-Malerei „rauben einerseits“, so Brüderlin in seiner historischen Rekapitulation, „dem Bild alle emotionalen Tiefenwerte, andererseits proklamierte Greenberg ‚the flatness‘ als oberstes Ziel der amerikanischen gegenüber der europäischen Malerei.“ (Brüderlin 1994, 69; Greenberg 1997) Die Fläche wird zur „undramatischen Oberfläche“, für die Gleichwertigkeit, Repetition und Selbstidentität charakteristisch sind. Erneut geht es bei der Gestaltung der Fläche um implizit politische Prinzipien, die Bildsprachen als Kommunikations-, Wahrnehmungs- und Selbstverständigungsformen von Gesellschaften begreifen. Bei der Gestaltung der Fläche geht es um nichts Geringeres als um die Gestaltung der Welt. Diese politische Dimension der „Verflächigung“ spielt bei Brüderlin keine Rolle, scheint mir aber für die Bewertung des ästhetischen Prozesses als historischen von entscheidender Bedeutung zu sein. Historisierung ist keineswegs nur auf die Selbstreflexion der Kunst beschränkt, sondern inszeniert eine jeweils spezifische Form von Geschichte und ihrem Verständnis. Anders formuliert: Die Ornamentalisierung der Moderne als Prozess der Historisierung ist eben zugleich auch eine andere Gestalt der Bildpolitik. Bei Greenberg erscheint sie unter den Vorzeichen der amerikanischen demokratischen Tradition, die als basso continuo die gesamte Geschichte der Moderne durchzieht und nur immer neu ausbuchstabiert wird. Eine andere Form dieser dezidierten Verflachung findet aber, wie wir gesehen haben, in Europa statt – mit anderen politischen Vorzeichen und in anderer Gestalt. Somit erscheint die amerikanische Malerei keineswegs als so singulär, wie sie von Greenberg apostrophiert wird, und ist die Ornamentalisierung der Moderne keineswegs so spät anzusetzen, wie Brüderlin dies tut. Es ist vielmehr eine weitere Korrektur in diesem historischen Tableau vorzunehmen, denn für Brüderlin ist die „Ornamentalisierung und Historisierung der Moderne“ vor allem eine postmoderne Reaktion auf das Scheitern der gegenstandslosen Kunst als neue ahistorische Weltsprache. Brüderlin bestimmt seinen Begriff der Ornamentalisierung nachdrücklich als „Moment des Historischwerdens der Moderne“ im Sinne der Postmoderne (Brüderlin 1994, 27). Das ist die zweite historische Entwicklung, die, so Brüderlin, in den 1960er Jahren einsetzt und bis zur Gegenwart reicht. Das Formenvokabular der Moderne wird wiederaufgenommen, um nun in Gestalt einer dezidierten Wiederholung zu untersuchen, wie weit das „Vokabular“ noch trägt. Die zweite Entwicklung vollzieht sich im Zuge der postmodernen „Methode des aneignenden Rekapitulierens“, für die Blinky Palermo, aber auch die Minimal Art und Frank Stella exemplarisch stehen.
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Das Bild wird wieder zu einer „heiligen Fläche“, so heißt es sogar bei Brüderlin (1994, 125). Diese zweite Volte werde ich jedoch nicht weiter verfolgen, da, wie ich zu zeigen versucht habe, die Ornamentalisierung und Historisierung der Moderne bereits früher anzusetzen sind, wenn man die bildpolitische Dimension in den Blick nimmt. Weder ist Greenbergs Position so singulär, wie sie gerne verhandelt wird, noch kommt es erst der Postmoderne zu, die Geschichte zu ihrem Flächenraum zu machen. Dies geschieht nachdrücklich in den späten 1940er und 1950er Jahren. Was geschieht nun aber genau mit der Fläche im Zuge dieses Prozesses? Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war die Bildfläche erst einmal nichts anderes als „eine den Gegenständen zugrundeliegende Seinsebene, ein objektiver Wirkungsgrund“ (Brüderlin 1994, 229). Vor diesem heben sich die Formen ab und gewinnen ihre bildliche Gestalt. Mit den Avantgarden setzt dann ein „Prozeß der Verflächigung des illusionistischen Bildraums“ ein, der dann auch die Farbe durch die Faktur ersetzt und am Ende den Tod des Tafelbildes ausruft. Die Fläche wird zur rein materialen Oberfläche, die sich einzig durch einen „visuellen und haptischen Realitätswert“ auszeichnet (Brüderlin 1994, 21). Die Fläche ist Welt und bedeutet sie nicht länger. Auch die Bilder werden auf der Fläche ausgelöscht und tendieren zur Monochromie einerseits und zur Dingwerdung andererseits. Noch einmal sei Brüderlin rekapituliert: In der Malerei der Nachkriegszeit komme es, so Brüderlin, zu einer „Selbstdarstellung der Fläche als Selbstdarstellung der Malerei“ (1994, 229). Die Malerei wird historisch und selbstreflexiv, erobert erneut die weiße Wand des White Cube der Moderne und dekliniert dann in der ‚Postmoderne‘ die Gestaltungsformen der Moderne in Gestalt des kritisch, ironisch oder konzeptionell eingesetzten Ornaments noch einmal durch. Damit wird aber ebenjene andere, bereits skizzierte Gestalt der Historisierung übersprungen, die sich dezidiert auf die Moderne beruft, sie aufnimmt und zugleich transformiert. Machen wir die Probe aufs Exempel und nehmen eine ‚flache Kunst‘ in den Blick: die Photographie. Hier zeigt sich, dass die bildpolitische Ornamentalisierung der Moderne zum ästhetischen Programm um 1950 wird – und das im Übrigen auch in den Staaten, wenn man etwa an Minor White oder Harry Callahan denkt. Mein Fallbeispiel stammt aber aus Deutschland.
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4 Subjektive Fotografie „Denn ein neuer fotografischer Stil ist eine Forderung unserer Zeit.“ (Otto Steinert, Vorwort zu subjektive fotografie)
Diese Doppelgeschichte der „Verflächigung“ der Welt lässt sich anhand der ‚subjektiven Fotografie‘ der 1950er Jahre illustrieren und in ein regelrechtes Bildprogramm bringen. Zentrale Figur dieser Bewegung war Otto Steinert, der Medizin studierte, 1936 der NSDAP beitrat, im Weltkrieg dann als Arzt tätig war und 1948 als photographischer Autodidakt an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken die erste offizielle Photoklasse nach dem Krieg übernahm. Die photographische Gestaltung von „Trümmerstrukturen“ sollte dann eine der ersten Aufgaben der neuen Klasse sein (Koenig 1990, 16). In der NSZeit gab es nur eine künstlerische Fotoklasse: die von Walter Hege am nun faschistischen Bauhaus in Weimar, der NS-Kunsthochschule. Hege war vor allem Spezialist für Architektur- und Kunstphotographie und hatte sich mit seinen Aufnahmen von griechischen und mittelalterlichen Bauwerken einen Namen gemacht. Die Fläche des photographischen Bildes war für seine Aufnahmen von Plastiken und Figuren weder Ausgangspunkt noch Ziel, sondern eher ein notwendiges Übel, das es zu überwinden galt. Die durch Licht und Schatten herausmodellierte plastische wie historische Tiefe war hingegen sein Programm. Anders Otto Steinert mit seinen drei Ausstellungen subjektive fotografie und der Gruppe fotoform, der er angehörte. Diese hatte sich in Absetzung zur GDL, der im Dritten Reich gleichgeschalteten Gesellschaft Deutscher Lichtbildner, konstituiert. Steinert bezog sich nun explizit auf die, wie er es nannte, „neue Fotografie“ der Avantgarden. So heißt es im Vorwort zum Katalog der ersten Ausstellung: „Alle Bestrebungen dieser Art knüpfen bewußt oder unbewußt an die Epoche der sogenannten ‚neuen Fotografie‘ der 20er Jahre unseres Jahrhunderts an.“ (Eskildsen 1984, 10) Dies wurde dann auch in Text und Bild ausgestellt: Franz Roh, der bereits zusammen mit Jan Tschichold das Buch foto-auge herausgegeben hatte, das in Folge der FiFo, der legendären Stuttgarter Ausstellung Film und Foto von 1929 entstand, sprach über „Mechanik und Ausdruck, Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie“ und lieferte damit knapp 30 Jahre später eine Variante seines programmatischen Textes im Buch von 1929 (Roh 1929, 3 – 7).⁴ Im Katalog der ersten Ausstellung subjektive fotografie erschien zudem mit „Der literarische Fotostreit“ ein Text von Roh, der bereits 1930 in einem kleinen Band zu Aenne
Vgl. dazu allgemein Graeve Ingelmann 2014.
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Biermann erschienen war (Biermann 1930). Die Kontinuität wird unübersehbar ausgestellt – und doch geht es um andere Bilder, um ein anderes Bild der Photographie und der durch sie dargestellten und letztlich überhaupt erst erzeugten Wirklichkeit. Während die Photographie des ‚Neuen Sehens‘ der 1920er Jahre mit der Tradition brechen wollte, um sich einerseits photographisch der Wirklichkeit zu versichern und andererseits mit zahlreichen Experimenten die Möglichkeiten der Photographie so weit wie möglich zu erkunden, klammerte die ‚subjektive Fotografie‘ der 1950er Jahre den Gegenstandsbezug der Lichtbilder zugunsten von Formen und Strukturen weitgehend ein. Mit anderen Worten: Während die Avantgarden einerseits in der Photographie die „objektive Sehform unserer Zeit“ (Moholy-Nagy 1936/1986) erblickten und andererseits neue künstlerische Gestaltungsformen experimentell entwickelten, verzichtete die ‚subjektive Fotografie‘ zugunsten der subjektiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten auf den Bezug zum Gegenstand und kultivierte einzig das Spiel der reinen formalen Gestaltung. Das hatte auch mit ästhetisch-politischen Diagnosen zu tun, da mit der neusachlichen Photographie eine der Hauptströmungen der Avantgarden recht problemlos von der faschistischen Ästhetik assimiliert worden war.Weil nun gerade diese für die „Freude am Gegenstand“ (Renger-Patzsch 2010, 107– 110) oder die „Bindung an die Dinge“ (Petry 1929, 246 – 248) – so die Titel von bekannten Essays der Zeit – und die Entdeckung der Oberfläche stand, sollte das Objekt und mit ihm auch der Bildjournalismus zugunsten der subjektiven Gestaltung ausgeklammert werden.⁵ Das Subjekt wurde gegenüber dem Objekt ausgespielt und die Form gegenüber der Geschichte. Doch letztlich ist auch die von Steinert und seinen Interpreten immer wieder betonte Subjektivität nicht mehr als ein Deckname einer rein formalen Gestaltung, die zwar nicht auf die Objektivität des photographischen Bildes setzt, wohl aber auf die Verbindlichkeit einer neu zu bestimmenden und durchzusetzenden photographischen Formenund Bildsprache. Diese ist jedoch nicht subjektiv, sondern notwendig intersubjektiv. Die Subjektivität des Photographen ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Instanz ihrer Implementierung. Es handelt sich bei den Ausstellungen, aber auch den Publikationen und dem Studiengang um eine Aufnahme und gleichzeitige Recodierung der Errungenschaften der Avantgarde mit neuen Vorzeichen. Es sollte ein zweites Mal eine neue Geschichte mittels Bildern gesetzt werden, nun aber in Gestalt einer Wiederho Dazu Schmalriede 1984, 26: „Gestaltung im Sinne der zwanziger und dreißiger Jahre zielte auf totale Gestaltung der Wirklichkeit, während fotografische Intentionen der fünfziger Jahre auf die individuell gestaltete Aussage gerichtet waren, die die Wirklichkeit einer betont subjektiven Interpretation in artifizieller Gestaltung unterwarf.“
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lung, deren politische Dimension gerade darin besteht, dass sie dem Programm der Avantgarden seine politischen Dimensionen entzieht. Die Fläche wird zu einem historischen Palimpsest, das aus der intendierten programmatischen Neubegründung einer Geschichte oder einer Gesellschaft einen Bestand formaler Vorgaben macht. Diese sollen, historisch betrachtet, unschuldig sein und die Photographie und mit ihr die visuelle Kultur als Wiederholung neu erfinden. Im Katalog der zweiten Ausstellung findet sich ein – im Rahmen seiner photographietheoretischen Möglichkeiten – programmatischer Text von Otto Steinert mit dem Titel „Über die Gestaltungsmöglichkeiten der Fotografie“ (Steinert 1955, 154– 156). Steinert setzt dort gegen die Photographie als „Mechanismus bloßer Reproduktion“ ein „gestaltetes, zeitgemäßes Fotobild“, um zu präzisieren: „Wir lieben die großflächige Komposition mit klargegliedertem Bildaufbau.“ (Steinert 1955, 7 und 9) Der Gegenstand darf dabei auch gerne bis zur Unkenntlichkeit verschwinden oder einer formalen Transsubstantiation unterworfen werden. Er ist einzig und allein als Formträger von Bedeutung. Unter Reproduktion ist also keineswegs das ‚Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‘ zu verstehen, sondern die photographische Reproduktion eines Gegenstandes oder eines Ereignisses. Diese sind jedoch irrelevant, da es auf die „transobjektive Bedeutung“ der Photographie ankomme, die dann zu einer intersubjektiv verständlichen Sprache führe (Steinert 1955, 5 – 7). „Die Fotografie“, hieß es bereits im Vorwort zum Katalog der ersten Ausstellung, „ist als das bisher breitenwirksamste Mittel berufen, das visuelle Bewußtsein unserer Zeit maßgeblich zu formen. Als die allgemeinverständlichste und in der Handhabung zugänglichste Bildtechnik ist es besonders geeignet, die Verständigung unter den Völkern zu fördern.“ (Steinert 1951, 5 – 7) Das sollte dann bekanntlich wenige Jahre später auch das Programm von Edward Steichens umstrittener, programmatisch humanistischer Ausstellung The Family of Man werden. Bei Steinert geht es aber erst einmal vor allem um Geschichte und ihre Neubegründung. In einem ersten Schritt wird die Momentaufnahme in eine Langzeitbelichtung verwandelt. Dahinter verbirgt sich natürlich auch die Strategie, eine journalistische Bildberichterstattung, die auf den Augenblick zielt, als nicht der neuen Sprache entsprechend zu disqualifizieren. An die Stelle einer „exakten Isolierung des Bildvorwurfes aus dem Zeitablauf der Natur“ (Steinert 1955, 155), sprich einer Momentaufnahme, die einen Augenblick festhalte und visuell erschließe, treten Langzeitbelichtungen im Sinne eines, wie Steinert es formuliert, „selbsteigenen Bildvorwurfes“ (1955, 156). Die Schärfe wird zur Unschärfe, der Augenblick wird so lange gedehnt, bis die Details zu Formen werden und der Moment, wenn schon nicht zur Ewigkeit, dann wenigstens zur Anschauung von Strukturgesetzen. Die Zeit, die Geschichte, das will Steinert uns hier sagen, ist rein
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Abb. 5. Otto Steinert (1949): „Strenges Ballett“.
bildimmanent, sie sind zur Form und Gestalt geworden. Dort, im Bild, haben sie ihren Ort und ihre Gestalt. Dort ist Geschichte als Form aufgehoben. Der zweite Schritt unternimmt dann nichts Geringeres als eine Skizze der Photographiegeschichte unter diesen neuen Vorzeichen. Steinert unterscheidet vier Phasen: 1. eine reproduktive fotografische Abbildung, 2. eine darstellende fotografische Abbildung, 3. eine darstellende fotografische Gestaltung, und schließlich 4. absolute fotografische Gestaltung. Die Geschichte der Photographie wird in diesem Modell skandiert durch einen sukzessiven Verzicht auf eine „objekthafte Wiedergabe“. Der Gegenstand wird Schritt für Schritt einer „Entmaterialisierung“ unterzogen und dank „elementarer Gestaltungsmittel“ in eine Formensprache übersetzt, die aus Trümmern Gestalten macht und aus Geschichte ein Arsenal von Bildelementen. Ein Beispiel unter vielen: Eine von Otto Steinerts Arbeiten, Strenges Ballett (Hommage an Oskar Schlemmer) von 1949/50, gehört zu seinen wichtigsten und darf auch bei den Ausstellungen subjektive fotografie nicht fehlen. Sein Wegge-
Die heilige Fläche oder die doppelte Stunde Null
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fährte, der Kunsthistoriker Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, schrieb 1959 anlässlich einer Ausstellung Otto Steinert und Schüler: Wie oft ist es auch hier das reine Schwarz des belichteten Fotopapiers, das die Folie für die zwei Figuren und die Rechtecke und Koordinaten abgibt, die in strenger, sicherer Verteilung auf die Fläche gesetzt sind. Räumliches wirkt mit und bindet sich an den Flächencharakter, wobei die Wiederholung der Figuren den Bildrhythmus bestimmt. (Schmoll gen. Eisenwerth 1959, o.S.)
Und es wäre zu ergänzen: Der Flächencharakter der Photographie ist hier nicht nur der Grund der Wiederholung der Figuren, sondern der ihrer Neucodierung. Aus Schlemmers Figuren werden Steinerts und aus ihrem ästhetischen Programm eine transparente Formgestalt, die nur an ihr Vorbild erinnert, um sogleich im Spiel der Linien und Ebenen zu verschwinden.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Kurt Leonhard (1947): Die Heilige Fläche. Umschlag: Paul Klee (1926): „Wandernde Fische.“ Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH, 1947. Abb. 2: Max Ackermann (1946): „Zeichnung.“ In: Leonhard 1947, S. 9. Abb. 3: Willi Baumeister (1938): „Kompositionen mit Wimpelform“. In: Leonhard 1947, o.S., nach S. 48. Abb. 4: Willi Baumeister (1937): „Ideogramme.“ [Lithographien] In: Leonhard 1947, o.S., nach S. 48. Abb. 5: Otto Steinert: „Strenges Ballett“. 1949. Museum Folkwang – Sammlung online.
Beiträgerinnen und Beiträger Hans-Georg von Arburg, Dr. phil., ist Professor fü r Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Section d’allemand der Universität Lausanne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur- und Ästhetikgeschichte seit dem 18. Jahrhundert sowie intermediale Konstellationen zwischen Literatur, Musik und den bildenden Kü nsten, insbesondere der Architektur. Zur ästhetischen Theorie der Oberfläche vgl. seine Monografie Alles Fassade. Oberfläche in der deutschsprachigen Architektur- und Literaturästhetik 1770 – 1870, Mü nchen 2008; zur Physiognomik der Oberfläche bei Kracauer vgl. den Aufsatz „The Last Dwelling before the Last: Siegfried Kracauers Critical Contribution to the Modernist Housing Debate in Weimar Germany“ (in New German Critique 141/2020). Vera Bachmann, Dr. phil., ist Akademische Rätin für Medienwissenschaft am Institut für Information und Medien, Sprache und Kultur der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur des Realismus, Medialität der Literatur, Medientheorie. Wichtigste Veröffentlichung: Tiefe Wasser – stille Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2013. Moritz Baßler, Dr. phil., geb. 1962, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Studium der Germanistik und Philosophie in Kiel, Tübingen und Berkeley; 1993 Promotion bei Gotthart Wunberg in Tübingen (Die Entdeckung der Textur, Tübingen 1994), bis 1998 Redaktor des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft; bis zur Habilitation 2003 (Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, Tübingen 2005) Assistent bei Helmut Lethen in Rostock; bis 2005 Professor of Literature an der International University Bremen. Zahlreiche Publikationen mit den Schwerpunkten Realismus, Literatur der Klassischen Moderne, Literaturtheorie, Gegenwartsliteratur und Popkultur. An Monografien erschienen zuletzt eine Literaturgeschichte (Deutsche Erzählprosa 1850 – 1950, Berlin 2015) und ein Buch über Pop-Musik (Western Promises, Bielefeld 2019). Mitbegründer der Zeitschrift POP – Kultur und Kritik (seit 2012). Hartmut Böhme, Dr. phil., studierte Germanistik, Theologie, Philosophie und Pädagogik; 1977 – 92 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Hamburg; 1993 – 2012 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin; Gastprofessuren in den USA, Italien und Japan; Fellow am KWI Essen, IKKM Weimar, IFK Wien. Vielfach Leiter von DFG-Forschungsprojekten; Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“ (bis 2012); Träger des Meyer-Struckmann-Preises 2006 und des HansKilian-Preises 2011. Letzte Buchveröffentlichungen: Natur und Figur. Goethe im Kontext, Paderborn 2016; Aussichten der Natur, Berlin 2016; Das Dentale. Faszination des oralen Systems in Wissenschaft und Kultur (hg. mit Bernd Kordaß und Beate Slominski), Berlin u. a. 2015; Fetishism and Culture. A different Theory of Modernity, Berlin, Boston 2014; Contingentia. Transformationen des Zufalls (hg. mit Werner Röcke und Ulrike C. A. Stephan), Berlin, Boston 2015; Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, Gießen 2012; Freud und die Antike (hg. mit Claudia Benthien und Inge Stephan), Göttingen 2011; Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels (hg. mit Lutz Berge-
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mann, Martin Dönike, Albert Schirrmeister, Georg Toepfer, Marco Walter und Julia Weitbrecht), München 2011. Dorothee Kimmich, Dr. phil., ist Professorin für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Seit 2004 ist sie Leiterin der Tübinger Poetik-Dozentur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturtheorie und Literatur der Moderne. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Epikureische Aufklärungen. Philosophische und poetische Konzepte der Selbstsorge, Darmstadt 1993; Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart (hg. mit Bernd Stiegler und Rolf G. Renner), Stuttgart 1995; Wirklichkeit als Konstruktion. Studien zu Geschichte und Geschichtlichkeit bei Heine, Büchner, Immermann, Stendhal, Keller und Flaubert, München 2002; Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende (mit Tobias Wilke), Darmstadt 2006; Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011; Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne, Konstanz 2017. Roland Innerhofer, Dr. phil. habil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Phantastik, Utopie und Science Fiction; Literatur- und Gattungstheorie; Theorie und Praxis der Avantgarden; Medienästhetik und Wissenspoetik; Wechselverhältnis von Literatur, Technik, Architektur, Film und neuen Medien. Seine wichtigsten Publikationen sind: Deutsche Science Fiction 1870 – 1914. Rekonstruktion und Analyse der Anfänge einer Gattung, Wien, Köln, Weimar 1996; Das Mögliche regieren. Gouvernementalität in der Literatur- und Kulturanalyse (hg. mit Karin Harrasser und Katja Rothe), Bielefeld 2011; Sonderweg in Schwarzgelb? Auf der Suche nach einem österreichischen Naturalismus (hg. mit Daniela Strigl), Innsbruck 2016; Keime fundamentaler Irrtümer. Beiträge zu einer Wirkungsgeschichte Heimito von Doderers (hg. mit Matthias Meyer und Stefan Winterstein), Würzburg 2018; Architektur aus Sprache. Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst, Berlin 2019; Andreas Okopenko: Tagebücher 1949 – 1954. Digitale Edition (hg. mit Bernhard Fetz u. a.), Wien 2019, URL: https:// edition.onb.ac.at/okopenko. Thomas Macho, Dr. phil., ist Professor (im Ruhestand) für Kulturgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Gegenwärtig leitet er das IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen u. a. die Geschichte der Zeitrechnung und Chronologie, die Kulturgeschichte der Mensch-Tier-Beziehungen, Tod und Totenkulte, Religion in der Moderne und die Geschichte der Rituale. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung, Frankfurt a. M. 1987; Das zeremonielle Tier. Rituale – Feste – Zeiten zwischen den Zeiten, Wien, Graz, Köln 2004; Vorbilder, München 2011; Schweine. Ein Portrait, Berlin 2015; Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne, Berlin 2017; gemeinsam mit Thomas Windisch und Ilija Trojanow: Wer hat hier gelebt? Augenreise zu verlassenen Orten. Wien 2019. Irmgard Männlein-Robert, Dr. phil., ist Professorin für Klassische Philologie (Schwerpunkt Griechische Philologie) am Philologischen Seminar der Universität Tübingen. Seit 2008 ist sie Organisatorin der Tübinger Platon-Tage. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Platon, kaiserzeitlicher und spätantiker Platonismus (in literarischer wie philosophischer Hinsicht) sowie hellenistische Dichtung, griechische Religion, antike Poetik und Ästhetik. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Longin. Philologe und Philosoph. Eine Interpretation der erhaltenen
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Zeugnisse, München, Leipzig 2001; Stimme, Schrift und Bild. Zum Verhältnis der Künste in der hellenistischen Dichtung, Heidelberg 2007; „Von Höhlen und Helden. Zur Semantik von Katabasis und Raum in Platons Politeia“ (in: Gymnasium 119 (2012), 1−21); „Schmerz und Schrei: Sophokles’ Philoktet als Grenzfall der Ästhetik in Antike und Moderne“ (in: Antike & Abendland 60 (2014), 90 – 112); „Das Motiv der Höhle in Literatur und Kunst: Porphyrios, De antro Nympharum“ (in: Manuel Baumbach (Hg.): Die Seele im Kosmos. Porphyrios, Über die Nymphengrotte in der Odyssee, Tübingen 2019, 97−116); Die Tübinger Theosophie. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von L. Carrara und I. Männlein-Robert. Unter Mitwirkung von Aa.Vv., Stuttgart 2018. Burkhard Meyer-Sickendiek, PD Dr., arbeitet an der FU Berlin als Leiter einer Forschergruppe der Volkswagenstiftung und entwickelt im Bereich der digitalen Geisteswissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Portal Lyrikline.org ein digitales Werkzeug zur prosodischen Klassifikation (post‐)moderner Hörlyrik. Seine wichtigsten Monographien und Sammelbände: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert, Tübingen, Basel 2001; Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005; Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne, Paderborn 2009; Tiefe. Über die Faszination des Grübelns, Paderborn 2010; Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, Paderborn 2012; Zärtlichkeit. Höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit, Paderborn 2016; Stimmung und Methode (hg. mit Friederike Reents), Tübingen 2013; Fluxus und / als Literatur: Zum Werk Jürgen Beckers (hg. mit Anne-Rose Meyer-Eisenhut), München 2014; Der jüdische Witz: Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie (hg. mit Gunnar Och), Paderborn 2015; Stile der Popliteratur (hg. mit Carsten Gansel), München 2018; Hörlyrik. Eine interaktive Gattungstheorie, Paderborn 2020. Monika Mokre, PD Dr. phil., ist Politikwissenschaftlerin und Senior Researcher am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind politische Theorie, Demokratietheorie, Asyl und Migration, Kulturpolitik und Genderpolitik. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna, Wien 2015; Postmarxistisches Staatsverständnis, Baden-Baden 2018 (mit Cornelia Bruell); Negotiating Gender and Diversity in an Emergent European Public Sphere (hg. mit Birte Siim), Basingstoke 2012; Culture in the EU’s External Relations: Bridging the Divide? (hg. Mit Jozef Bátora), Surrey 2011; Democracy Needs Dispute: The Debate on the European Constitution (hg. mit Cornelia Bruell und Markus Pausch), Frankfurt a. M. 2009; Das große Gefängnis (hg. mit Birgit Mennel), Wien 2015; Europas Identitäten. Mythen, Konflikte, Konstruktionen (hg. mit Gilbert Weiss und Rainer Bauböck), Frankfurt a. M. 2003; Imaginierte Kulturen – reale Kämpfe. Annotationen zu Huntingtons „Kampf der Kulturen“ (hg.), Baden-Baden 2000. Sabine Müller, Dr. phil. Dr. rer.soc.oec., ist Mitarbeiterin des Instituts für Germanistik der Universität Wien, wo sie zurzeit im Rahmen eines FWF-Habilitationsstipendiums an einer Monografie zur Literatur- und Kulturgeschichte der Tiefe arbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die österreichische Literatur- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Kulturtheorie, transdisziplinäre Historiografie und Nachkriegsavantgarden. Wichtige jüngere Veröffentlichungen sind: Stimmabgabe. Literatur und Repräsentation in der politischen Moderne, Paderborn 2020 (im Erscheinen); Kultur versus Ökonomie? Geschichte schreiben zwischen Globalisierung,
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Ethnizität und Latenz, Bern, Berlin, New York 2020 (im Erscheinen); Teststrecke Kunst. Wiener Avantgarden nach 1945, Wien 2012 (hg. mit Elisabeth Grossegger), „Sensational Voices. Premodern Theatricality, Early Cinema, and the Transformation of the Public Sphere in Fin-de-siècle Vienna“ (in: Alberto Gabriele (Hg.): Sensationalism and the Genealogy of Modernity, Basingstoke 2017, 193 – 214); „Out of Orientalism. Palästina als narrative Chance des literarischen Zionismus bei Herzl, Salten und Kafka“ (in: IASL 42/1 (2017), 77 – 109). Stefan Rieger, Studium der Germanistik und Philosophie. Promotion über barocke Datenverarbeitung und Mnemotechnik, Habilitationsschrift zum Verhältnis von Medien und Anthropologie (Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a. M. 2001). Aktuelle Arbeits- und Publikationsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Medientheorie und Kulturtechniken. Seit 2007 Professor für Mediengeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Jüngste Buchveröffentlichungen zusammen mit Benjamin Bühler: Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens, Berlin 2014, sowie Kultur. Ein Machinarium des Wissens, Berlin 2014, sowie Die Enden des Körpers. Versuch einer negativen Prothetik, Wiesbaden 2019. Jörg Robert, Dr. phil., ist Professor für Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Humanismus und Renaissance im europäischen Kontext, Barockliteratur und -poetik, Ästhetik der Aufklärung, Weimarer Klassik (insbesondere Schiller) sowie Intermedialität. Seit 2014 ist er Vorstandsmitglied der Hölderlin-Gesellschaft, seit 2019 stellvertretender Sprecher des SFB 1391 Andere Ästhetik. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind: Konrad Celtis und das Projekt der deutschen Dichtung. Studien zur humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich, Tübingen 2003; Vor der Klassik – Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption, Berlin, Boston 2011; Einführung in die Intermedialität, Darmstadt 2014; Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik (1480 – 1620) (hg. mit Klaus Kipf und Regina Toepfer), Berlin, New York 2017; Intermedialität in der Frühen Neuzeit (hg.), Berlin, New York 2017. Bernd Stiegler, Dr. phil., ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit Schwerpunkt 20. Jahrhundert im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte und Theorie der Photographie sowie die deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt u. a. erschienen: Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt a. M. 2010; Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina, Frankfurt a. M. 2011; Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie, Frankfurt a. M. 2014; Photographische Portraits, Paderborn 2015; Der montierte Mensch. Eine Figur der Moderne, Paderborn 2016; Nadar. Bilder der Moderne, Köln 2019. Raimar Zons, Dr. phil., ist Honorarprofessor an der Universität Konstanz. Von 2004 bis 2012 war er verlegerischer Geschäftsführer der Verlage Wilhelm Fink und Ferdinand Schöningh. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, Essays, Aufsätze, Vorträge, Radio- und Zeitungsbeiträge zu Themen der Literaturgeschichte, der ästhetischen Theorie und Poetologie, der Medien- und Kulturgeschichte, zur Philosophie und Politik. Letzte Veröffentlichungen (Auswahl): Die Zeit des Menschen. Zur Kritik des Posthumanismus, Frankfurt a. M. 2001; Die Emanzipation des Grundes, München 2014; „Wie ein Anfang in der Geisteswissenschaft zu machen ist“ (in: IASL 40/2 (2015): 374 – 383); „Möglichkeit einer Insel. Kittler in Freiburg“ (in: Neue Rundschau 127/3
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(2016): 16 – 34); „Faltungen. Der Chronotop der Wahlverwandtschaften“ (in: Hannah Dingeldein, Anna-Katharina Gisbertz, Sebastian Zilles, Justus Fetscher (Hg.): Schwellenprosa. (Re‐)Lektüren zu Goethes ‚Wahlverwandtschaften‘, Paderborn 2018, 51 – 72).
Namenregister Ackermann, Max 307 – 309 Adorno, Theodor W. 7, 74, 89, 216, 269, 274 f., 284 f., 313 Agricola, Georg 51 Aischylos 51, 59 Alexander VII. 98 Althusser, Louis 72, 202, 207, 216 f. Anders, Günther 3, 267 f. Anderson, Wes 166 Anouilh, Jean 73 Aragon, Louis 84 Aristophanes 23 Auerbach, Erich 88 Augustinus, Aurelius 67 f. Baader, Franz von 90 Bachtin, Michail 59 Badiou, Alain 85 Baillet, Adrien 65 f. Bakunin, Michail 82 Ball, Hugo 85 f. Barthes, Roland 131, 307 Baudelaire, Charles 71 f., 84, 244, 255, 258, 264 Baumeister, Willi 307 – 311 Baumgarten, Alexander Gottlieb 135, 137 – 139 Bechtold, Arthur 104, 110 Beckett, Samuel 13, 73 Beethoven, Ludwig van 91 Benedikt von Nursia 77 f. Benjamin, Walter 7, 11 f., 78, 84 f., 223, 225 – 227, 233, 236, 239, 243 – 247, 249, 252 f., 255 – 264, 269 – 271, 284 – 286, 307 Bense, Max 91, 313 Bentham, Jeremy 276 Bergson, Henri 72 Bernanos, Georges 72 Bhabha, Homi 286 Biermann, Aenne 318 Binswanger, Ludwig 177 Bloch, Ernst 7
Blom, Philipp 86 Bloy, Léon 72 Blumenberg, Hans 2, 9 f., 51 – 53, 59 f., 84, 87, 95, 113, 183 f., 186 f. Böhme, Jakob 86, 132 Bohrer, Karl Heinz 83 f. Borges, Jorge Luis 90 Bourdieu, Pierre 72, 282 Bourne, William 116 Bowie, David 81 Boyle, Robert 116 Brandes, Georg 72 Brecht, Bertolt 12, 231, 269 – 271, 285 – 287 Brehm, Alfred 245 f., 248, 251 Brentano, Clemens 90 Bröger, Karl 272 Büchner, Georg 85 Bürger, Gottfried August 145 f. Butler, Judith 11, 206 Buytendijk, Frederik J. J. 177 f. Byron, George Gordon 47 Callahan, Harry 316 Camus, Albert 13, 72, 91 Canetti, Elias 83 Capote, Truman 91 Cassano, Franco 166 Chateaubriand, François-René 72 Cicero, Marcus Tullius 135 Cluzaud, Jacques 165, 175 Conrad, Joseph 91 Cousteau, Jacques 165, 170 – 173 Crialese, Emanuele 166 Cuarón, Alfonso 81 Dante, Alighieri 47 David, Jacques Louis 236 Deleuze, Gilles 3, 10, 78, 166, 220, 268 Denis, Maurice 305, 314 Derrida, Jacques 11, 92, 204, 248, 278, 280 f. Descartes, René 65 – 67, 69 f., 72 Doesburg, Theo van 305, 312
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Namenregister
Dolar, Mladen 216 f. Dostojewski, Fjodor 91 Downer, John 175 Drebbel, Cornelis Jacobszoon Dürer, Albrecht 243
116
Eichendorff, Joseph von 194 Ellis, Bret Easton 91 Emerich, Katharina 90 Eng, Erling 175 – 177 Engels, Friedrich 203, 214, 216 Epimenides 25, 29, 31 Ewers, Hanns Heinz 90 Fichte, Johann Gottlieb 88 Ficino, Marsilio 264 Fiore, Joachim von 300 Fischer, Ernst 272, 283 Flusser, Vilém 3, 9, 79, 81 Foucault, Michel 3, 102, 221, 275 – 278, 280 f., 293 f. Frank, Manfred 80 Franzen, Jonathan 143 Freud, Sigmund 57 f., 207, 209, 295 Friedrich, Caspar David 91 Friedrich Wilhelm III. 77 f. Frisch, Max 92, 197 Fuller, Richard Buckminster 81 Gennep, Arnold van 28, 32 Gesner, Konrad 150 Gide, André 91 Ginzburg, Carlo 239 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 145 Goethe, Johann Wolfgang von 41 f., 45, 47, 52, 55, 127, 143, 145, 148 – 150, 153 – 157 Goldmann, Lucien 72, 77 Görres, Joseph 90 Green, Julien 72 Greenberg, Clement 314 – 316 Greenblatt, Stephen 157 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 9, 97 f., 100, 102 – 106, 109, 111 f., 114, 117 f. Grünbein, Durs 45 f., 56 Guattari, Félix 3, 166, 220 Gyges 25 – 27
Haeckel, Ernst 159 f. Hass, Hans 165, 168 – 170, 172 f. Hebel, Johann Peter 193, 260, 264 Hege, Walter 317 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 84 f., 89 Heidegger, Martin 44 f., 80 f., 84, 92 Heiland, Karl 171 Heine, Heinrich 11, 193 – 195 Herder, Johann Gottfried von 88, 127, 138, 148 Herodot 25 Hesiod 25, 53 Hessel, Franz 258 Hildebrand, Wolfgang 111 Hitchcock, Alfred 91 Höfer, Otto 79 Hoffmann, E. T. A. 44, 57 f., 90 Hofmannsthal, Hugo von 251 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich 145 Homer 11, 19 – 23, 25, 28, 33 f., 88, 139, 150 f., 154 f. Horkheimer, Max 216, 275 Hubble, Edwin 81 Humboldt, Wilhelm von 149, 275 Huxley, Aldous 297 Ignatius von Loyola
77 f.
Jahn, Friedrich Ludwig Jakob I. 116 Jonas, Hans 74 f. Jünger, Ernst 84 f.
271
Kafka, Franz 8, 12, 41, 43 f., 59 f., 244 – 252, 264, 269, 271, 286 f. Kandinsky, Wassily 86 Kant, Immanuel 53, 72, 78, 88, 153 f., 268, 276 Kasack, Hermann 44 Keaton, Buster 229 Kelsen, Hans 267 Kermani, Navid 74, 92 Kessler, Mathias 53 Kierkegaard, Søren 72, 84, 87 Kircher, Athanasius 9, 59, 78, 95 – 98, 104, 106 – 111, 113 – 118, 147 – 149, 151, 160 Kittler, Friedrich 79, 278
Namenregister
331
Kleist, Franz Alexander von 148 f. Kleist, Heinrich von 80, 178 Kołakowski, Leszek 72 Kornmann, Heinrich 111 Koselleck, Reinhart 90 Kracauer, Siegfried 7, 11, 223 – 239, 285 Kubin, Alfred 44 Kubrick, Stanley 81
Nancy, Jean-Luc 286 Napoleon I. 80 Niavis, Paulus 50 f. Nicolai, Friedrich 279 Nietzsche, Friedrich 71 f., 75, 77, 81, 83, 85, 88 Nolan, Christopher 81 Novalis 44, 54, 56 f., 90, 194
Lacan, Jacques 202, 207, 216 f., 219 f. Laclau, Ernesto 11, 202 – 209, 218, 220 Lavater, Johann Caspar 41, 133 Leibniz, Gottfried Wilhelm 65, 132, 136 Leonardo, da Vinci 52 Leonhard, Kurt 13, 307 f., 311, 313 f. Leroi-Gourhan, André 51 Lessing, Gotthold Ephraim 88, 127, 153, 268 Loos, Adolf 314 Loos, Joseph 280 Loretus, Elias Georg 106, 108 – 111, 113 f., 118, 120 Lotman, Juri 293 Lukács, Georg 207, 232 Luther, Martin 86 f.
Otto, Rudolf 84 Ovidius Naso, Publius
Malinowski, Bronisław 227 Man, Paul de 248 Mann, Thomas 58, 168 Mark Aurel 67 Marx, Karl 11, 201 – 203, 207, 209 – 216, 218 – 220 Matthews, Peter 167 Mauriac, François 72 Meister Eckhart 86, 135 Melville, Herman 92 Mercati, Michele 53 Mettler, Michel 56 – 60 Michelangelo 131 Moholy-Nagy, László 305, 312, 318 Mondrian, Piet 305, 314 Montaigne, Michel de 67 Mörike, Eduard 102 Moritz, Karl Philipp 9 f., 127 – 135, 138 – 140 Mosse, George L. 287 Mouffe, Chantal 11, 202 – 208, 218 Musil, Robert 11, 195, 197
47, 50
Painlevé, Jean 173 f. Palladio, Andrea 253 – 255 Paracelsus 111, 113, 118, 132 Parmenides 29 Pascal, Blaise 8 f., 65 – 75 Pathé, Charles 171 Paul, Jean 59, 90 Paulus 87 Péguy, Charles 72 Perrin, Jacques 165, 175 Piccard, Jacques 168 Pico della Mirandola, Giovanni 119 Pippin, Robert B. 89 Platon 3, 8, 10 f., 20 f., 23, 25 – 32, 34, 52, 184 Pleister, Werner 270, 272 – 275, 280 Plutarch 31 – 34 Poe, Edgar Allan 84, 151 f., 154, 228 Poiret, Pierre 135 Polidori, John 47 Porphyrios 32 – 34 Praetorius, Johannes 111, 118 Proust, Marcel 244, 259 Pseudo-Vergil 46 Pupovac, Ozren 204 Pythagoras 25, 29 Raabe, Wilhelm 143 Rabelais, François 59 Racine, Jean 67 Rancière, Jacques 279 – 283, 286 Recla, Josef 270 – 275, 280, 283, 287 Ricardo, David 203 Rodtschenko, Alexander 305, 311 f., 314 Roh, Franz 317
332
Namenregister
Rousseau, Jean-Jacques Rye, Stellan 90
278
Sartre, Jean-Paul 13, 72 Schaefer, Karl E. 168 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 90 Schiller, Friedrich von 10, 52, 98, 143, 145 f., 148 – 155, 157 – 161, 263, 275, 282 Schlegel, Friedrich von 90 Schmitt, Carl 3, 79 – 81 Schmoll, Josef Adolf 321 Schoeps, Hans Joachim 68 Scholem, Gershom 253, 257 f. Schönlank, Bruno 12, 272, 283, 285 – 287 Schopenhauer, Arthur 92 Schott, Kaspar 97, 104 f., 108 – 111, 114 Schubert, Franz Peter 57, 80 Schwechten, Franz 233 Sedlmayr, Hans 311 Seneca, Lucius Annaeus 46, 67 Shelley, Mary 47 Siebert, Guido 90 Simmel, Georg 7, 53, 189, 196 f., 284 f. Sloterdijk, Peter 102, 293 Smith, Adam 202 f., 210 f. Sokrates 25 – 30 Sommer, Manfred 80 Spengler, Oswald 77 Spivak, Gayatri Chakravorty 11, 202, 207, 212 f. Staël, Germaine de 157 Starobinski, Jean 252 Steichen, Edward 319 Steinert, Otto 317 – 321 Stendhal 73 Stirner, Max 44
Straus, Erwin 165, 175 f., 178 Swedenborg, Emanuel von 295 Szondi, Peter 259, 261 Taubes, Jacob 68 f., 84, 89 f. Tauler, Johannes 86, 135 Thomas von Aquin 87 Tieck, Ludwig 44, 57, 194, 247 Todorov, Tzvetan 128 f. Tschichold, Jan 317 Turner, Victor 28, 32 Tyldum, Morten 81 Vergilius Maro, Publius 47 Verne, Jules 43, 98, 115, 159 – 161, 170, 298 Verworn, Max 169 Vismann, Cornelia 82 Wagner, Richard 91, 194 Wangenheim, Inge von 234 Wegener, Paul 90 Weil, Simone 73 f. Wells, Herbert George 298 f. Werfel, Franz 12 f., 291 – 302 White, Minor 316 Wieland, Christoph Martin 145 Wilkins, John 116 Williamson, John Ernest 171 Winckelmann, Johann Joachim 127, 130, 138 Wittgenstein, Ludwig 77, 87 Wolff, Christian von 135 – 137, 139 Zedler, Johann Heinrich 131, 148 Žižek, Slavoj 11, 194, 202, 206 – 209, 211, 216 – 219 Zoroaster 33