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German Pages 224 [226] Year 2018
Theorien im Recht – Theorien über das Recht Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen Herausgegeben von Gralf-Peter Calliess und Lorenz Kähler
ARSP Beiheft 155 Franz Steiner Verlag
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Theorien im Recht – Theorien über das Recht Herausgegeben von Gralf-Peter Calliess und Lorenz Kähler
archiv für rechts- und sozialphilosophie archives for philosophy of law and social philosophy archives de philosophie du droit et de philosophie sociale archivo de filosofía jurídica y social Herausgegeben von der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) Redaktion: Dr. Annette Brockmöller, LL. M. Beiheft 155
Theorien im Recht – Theorien über das Recht Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2016 in Bremen Herausgegeben von Gralf-Peter Calliess und Lorenz Kähler
Franz Steiner Verlag
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Inhalt Gralf-Peter Calliess, Lorenz Kähler Einleitung
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Julian Nida-Rümelin Eine realistische und kohärentistische Theorie von Moral und Recht
21
Martti Koskenniemi Is Legal Science Possible?
31
Stefan Magen Zur naturalistischen Erklärung rechtlicher Normativität
45
Dietmar von der Pfordten Die Aufgaben von Theorien des Rechts
71
Bernhard Jakl Theorien im Recht und Theorien des Rechts
85
Jan Philipp Schaefer Rechtstheorie zwischen Land und Meer
101
Jan Schröder Gibt es zeitlose Theorien in der Rechtswissenschaft?
117
Helge Dedek Ernstes Spiel: Theoretische und akademische Befassung mit Recht
135
Anja Schmidt Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie
159
Markus Rehberg Recht und Komplexität
181
Personen- und Stichwortverzeichnis
223
Einleitung Gralf-Peter Calliess, Lorenz Kähler Theorien über das Recht sind alles andere als selbstverständlich. Recht als eine rechtsfolgen- und damit handlungsorientierte und nicht nur diskursive Praxis funktioniert augenscheinlich, ohne dass die Rechtsanwender eine vertiefte Kenntnis davon haben müssen, was sein Begriff ist und in welcher Beziehung es zur Moral steht. Viele Fragen der Rechtsphilosophie und -theorie können dafür offenbleiben. Wäre es anders, dürfte man von einem juristischen Laien kaum die Einhaltung des Rechts verlangen. Er soll sich nicht erst mit Rechtstheorie beschäftigen müssen, um zu wissen, was von ihm verlangt ist. Das theoretische Verständnis von Recht gehört – von Grenzfällen abgesehen – nicht zu seinen Funktionsbedingungen. Womöglich liegt bereits hierin, in der praktischen Nichtangewiesenheit auf eine Theorie über das Recht, eine wichtige Einsicht in das Recht. Dieses lässt sich theoretisch durchdringen, ohne dass man in seiner Anwendung darauf angewiesen wäre. Damit wird eine Theorie über das Recht, die seinen Begriff und seine Eigenschaften erklärt, nicht unwichtig. Allerdings sollte die alltägliche Anwendung des Rechts auch ohne theoretische Kenntnis gelingen. Gleiches gilt freilich auch für andere gesellschaftliche Praktiken, etwa die Vornahme einer Tiefbohrung. Hier wie da sollten uns die Allgenwärtigkeit von und das Angewiesensein auf Intuition und implizites Wissen nicht am Versuch hindern, explizites Wissen in Form von Theorien herzustellen. Wie steht es dabei mit Theorien im Recht? Sie enthalten in generalisierter Form Aussagen zur Dogmatik des geltenden Rechts, die in einer rechtlichen Begründung als Argument verwendbar sind. Daher ist das geltende Recht nicht nur ihr Gegenstand, sondern sie gehören selbst zum geltenden Recht. Besonders deutlich wird das, wenn die Entscheidung einer Rechtsfrage von einer Theorie im Recht abhängt. Ein ausdrücklicher Rückgriff auf derartige Theorien ist in der Rechtsanwendung nicht stets erforderlich. In vielen Fällen genügt entweder das implizite Wissen von ihnen oder kommt es auf die von ihnen gelöste Zweifelsfrage nicht an. Auch Theorien im Recht muss man daher meist im Einzelnen nicht kennen, um sich im Recht zu orientieren. Anders als Theorien über das Recht kommt Theorien im Recht allerdings in einzelnen Fällen für die Begründung wie für das Ergebnis einer Entscheidung rechtliche Relevanz zu, weil sie Teil dessen sind, worauf man rechtliche Aussagen stützen kann. So verweist die Rechtsprechung gelegentlich ausdrücklich auf Theorien, die zu einzel-
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Einleitung
nen Normen oder Normkomplexen entwickelt wurden.1 Wären diese anders beschaffen oder andere Theorien überzeugender, müssten die sie aufnehmenden Urteile anders ausfallen. Durch die Möglichkeit einer rechtfertigenden Bezugnahme unterscheiden sich Theorien im Recht von Theorien über das Recht. Letztere treffen lediglich Aussagen über das Recht, ohne ihrerseits den Grund innerhalb einer rechtlichen Begründung bilden zu können. Deshalb müssen sie anders als Theorien im Recht nicht die Detailschärfe haben, die eine Entscheidung von Einzelfällen erlaubt, sondern können eine generalisierende Perspektive einnehmen. Die Willens-, Vertrags- und Imperativentheorien sind für sie daher paradigmatisch. Im Gegensatz dazu thematisieren Theorien im Recht zwar meist lediglich einzelne Begriffe und Phänomene wie etwa die Kausalität einer Handlung oder die Grundsätze einer Interessenabwägung. Gleichwohl können auch sie generelle Eigenschaften des Rechts zum Gegenstand haben. Das ist etwa bei den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Fall, die Anforderungen an die Bestimmtheit von Normen enthalten.2 Das Recht thematisiert dann seine eigenen Eigenschaften und wird insoweit reflexiv. Eine Theorie im Recht muss sich daher nicht auf eine Binnenperspektive beschränken, sondern kann eine äußere Perspektive auf das Recht einnehmen. Das bedeutet nicht, dass Theorien im Recht ein Metarecht bilden, das im Recht enthalten ist und den Maßstab für seine Analyse sowie Bewertung liefert.3 Diese Vorstellung einer dem Recht inhärenten Rationalität, die es erst noch zu entdecken und zu entwickeln gilt, ist mit dem hier verwendeten Begriff einer Theorie im Recht zwar gut vereinbar, aber nicht zwangsläufig mit ihm verbunden. Denn für diesen Begriff ist es notwendig, dass die Theorie im Recht eine Größe darstellt, auf die man als Recht verweisen kann. Über ihren weiteren Inhalt und ihre sonstigen Eigenschaften ist damit indes nicht entschieden. Dass es Theorien im Recht gibt, ist nicht offensichtlich. Denn es ist nicht ohne weiteres einsichtig, wie eine Theorie einen Rechtsstatus annehmen kann. Der Gesetzgeber verabschiedet schließlich keine Theorien, sondern Normen. Die Geltungskraft einer Theorie lässt sich daher zumindest nicht unmittelbar auf einen Gesetzgebungsakt stützen, so stark sich die Parlamentarier auch durch bestimmte Theorien leiten lassen mögen. Diese kann man dann in der Auslegung als ratio legis heranziehen. Solange sie als solche allerdings nicht im Gesetz niedergelegt und damit zu Recht geworden sind, müssen sie auf mehr beruhen als auf einer gesetzgeberischen Überzeugung von ihrer Richtigkeit. Ebenso wenig reifen sie durch Praktizierung zu Gewohnheitsrecht, da sie kaum von einer allgemeinen Überzeugung der Rechtsunterworfenen getragen werden. Damit fehlt bei ihrer Anwendung in aller Regel die für die Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderliche Überzeugung, Recht zu schaffen, überdies auch die dafür notwendige
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Etwa BVerfG, NJW-RR 2007, 860 Rn. 20 („Kerntheorie“); BVerfGE 127, 1 Rn. 83 = NJW 2010, 3629 („Reinvermögenszugangstheorie“); BGH, NJW 2014, 854 Rn. 28 („Saldotheorie“). Zur Bestimmtheit einer Rechtsnorm etwa BverfG, NVwZ 2017, 1526 Rn. 36. So die Rolle der Rechtswissenschaft nach H. Berman, Faith and Order, Cambridge 1993, 26.
Einleitung
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Formulierbarkeit als Norm.4 Wie aber kann dann eine Theorie zu Recht werden und den geltenden Normen damit inhaltlich etwas hinzufügen? Wenn eine Theorie lediglich die aufgrund der geltenden Normen gebildete Rechtslage wiedergäbe, könnte man direkt auf diese Normen verweisen, ohne dafür eine Theorie aufstellen zu müssen. Dann wäre die Relevanz dieser Theorie in Frage gestellt, da diese dann lediglich in gedrängter Form wiedergäbe, was man auch direkt dem Gesetz entnehmen kann. Damit würde überdies zweifelhaft, ob man eine Theorie im Recht unter denselben Begriff von Theorie fassen kann, wie er in den anderen Wissenschaften Verwendung findet. Denn insbesondere in den Natur- und in den empirischen Sozialwissenschaften sind Theorien universal anwendbar und besitzen damit eine größere Tragweite als Aussagen, die auf kontingenten Gesetzgebungsakten aufbauen und damit auch anders hätten ausfallen können. Ließen sich Theorien im Recht ausnahmslos auf das Gesetz zurückführen, fehlte ihnen daher zumindest auf den ersten Blick die Allgemeinheit, die in anderen Wissenschaften für eine Theorie erforderlich ist. Die vollständige Rückführung einer Theorie im Recht auf kontingente Gesetzgebungsakte steht daher mit ihrem Status als Theorie in Spannung. Ginge die Theorie hingegen inhaltlich über den Gehalt der einzelnen Normen und der ihnen zugrundeliegenden Gesetzgebungsakte hinaus, ließe sie sich zwar gut von der Dogmatik abgrenzen, da sie dann nicht auf einer positivrechtlichen Grundlage beruht.5 Ebenso könnte man sie stattdessen auf verallgemeinerungsfähige Gründe stützen. Jedoch entstünde dann die Frage nach ihrer Legitimation in besonderer Schärfe. Man könnte dazu nicht mehr auf einzelne Gesetzesnormen verweisen und müsste andere Quellen heranziehen, die mangels eines konsentierten Naturrechts und des bleibenden Streits über grundlegende moralische Fragen mit einem besonderen Rechtfertigungsbedarf verbunden sind. Dass die Gerichte oder die Rechtswissenschaft eine Theorie anwenden und von ihr überwiegend überzeugt sind, genügt für eine derartige Legitimation schon deshalb nicht, weil damit über ihren Inhalt nichts gesagt ist. Es bliebe unklar, warum konkurrierende Ansichten zurückzuweisen wären. Man mag für eine Theorie Sachgründe anführen, indem man etwa auf problematische Ergebnisse einer anderweitigen Kausalitätstheorie verweist. Indes verschiebt sich die Frage nach der Legitimation dann lediglich, indem erklärungsbedürftig wird, warum diese Gründe ihrer Art nach eine rechtliche Entscheidung bestimmen dürfen. Damit entsteht das Dilemma, Theorien im Recht entweder die Relevanz und die Allgemeinheit abzusprechen, weil sie sich auf bereits bekannte gesetzliche Normen stützen, oder aber ihre Legitimation infragezustellen, da für das darüber Hinausgehende die Grundlage fehlt. Man kann für sie nicht gleichzeitig eine gesetzliche Legitimation und eine das Gesetz überschreitende Tragweite behaupten. In der Beschäftigung mit 4 5
Zu diesen Voraussetzungen F. Ossenbühl, in: J. Isensee, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 5, 3. Aufl., 2007, § 100 Rn. 57. So O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt / O. Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1, 4.
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Einleitung
Theorien im Recht geht es daher zunächst nicht darum, welche von ihnen man für überzeugend hält, sondern um die fundamentalere Frage, auf welcher Grundlage und mit welcher Berechtigung man sie überhaupt entwickeln kann. Diese Frage stellt sich umso dringender, als andere Rechtssysteme vielfach ohne einen ausdrücklichen Bezug auf Theorien im Recht auskommen,6 die Ablehnung „abstrakter philosophischer oder sozialwissenschaftlicher Theorie“7 in rechtsrealistischer Perspektive8 sogar bisweilen als Vorteil eines an der Praxis orientierten Rechts und seiner Akteure gepriesen wird. Die Berufung auf Theorien ist damit nicht selbstverständlich und dürfte zu den Eigenschaften gehören, durch die sich das deutsche Recht von einer Reihe anderer Rechtsordnungen unterscheidet. Auch das ist ein Anlass zur Frage, ob und wie sich derartige Theorien als Bestandteil des Rechtssystems verstehen sowie rechtfertigen lassen. Bieten sie einen Vorteil, der sich in der Rechtsanwendung bemerkbar macht, oder sind sie entbehrlicher Zierrat, der einem an konkreten praktischen Zielen orientierten Recht im Wege steht? Angesichts der neuen Möglichkeiten, große Datenmengen zu verarbeiten und zu analysieren, droht der Entwicklung von Theorien zudem in einer weiteren Hinsicht Ungemach. Mit den gestiegenen technischen Möglichkeiten, durch Datenanalyse allgemeine Muster festzustellen, wird fraglich, ob damit auf allgemeine Aussagen zielende Theorien ihre Bedeutung verlieren. Denn solche Aussagen lassen sich dann auch auf andere und womöglich weniger kontroverse Weise treffen. Sie erlauben die Feststellung, dass in bestimmten Konstellationen ein Phänomen gehäuft auftritt. Weder bedarf es dafür der Klärung von Ursachen, noch der Aufstellung abstrakter Begriffe, noch der Formulierung von Grundsätzen oder Maximen. Wegen dieser Möglichkeiten der Datenanalyse hat Anderson den „Tod der Theorie“9 angekündigt. Danach wären die praktischen Ziele einer Theorie, wie Voraussagen zu treffen oder Zusammenhänge aufzudecken, auf einfachere Weise erreichbar, ohne dass man dafür ein theoretisches Modell benötigte. Bedarf es also zur Analyse des Rechts lediglich fortgeschrittener Algorithmen, die etwa Gesetze und Gerichtsurteile als Rohdaten nutzen, um Korrelationen einzelner Begriffe sowie Phänomene festzustellen? Erleichtern sie die Anwendung des Rechts so stark, dass man auf eine Begriffsanalyse und Prüfung von Rechtstheorien nicht mehr angewiesen ist? Oder behalten Theorien im Recht und Theorien über Recht auch dann noch eine Bedeutung? Ein vollständiger Relevanzverlust dieser Theorien erscheint schon deshalb als unwahrscheinlich, weil die Frage, ob die Datenanalyse die Entwicklung von Theorien 6
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Zur vergleichsweise großen Theoriefreudigkeit in Deutschland C.-W. Canaris, Theorierezeption und Theorienstruktur, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von J. Neuner, H. C. Grigoleit, S. 347, 349; zur Theorieausrichtung infolge der Pandektistik K. Zweigert, H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., 1006, S. 103, 139. S. Shapiro, Legality, Cambridge, Mass., 2011, S. 357. Anders aber noch O. W. Holmes, The Path of the Law, 10 Harvard Law Review 457, 477 (1899): „Theory is the most important part of the dogma of the law …“ C. Anderson, The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete; 2008, https:// www.wired.com/2008/06/pb-theory/ (abgerufen 16.12.2017).
Einleitung
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entbehrlich werden lässt, bereits eine Frage nach ihrem Sinn ist, der sich nicht durch Verweis auf diese Daten beantworten lässt. Wenn eine Theorie nicht mehr soll, als Häufigkeiten festzustellen, wird sie womöglich in der Tat durch Datenanalyse obsolet. Allerdings gilt das nicht, wenn sie ein Verständnis für das festzustellende Phänomen erleichtern soll. Es bedarf daher zunächst theoretischer Überlegungen, um Kriterien dafür zu entwickeln, wann Theorie entbehrlich wird. Selbst der Tod von Theorie ist damit eine Diagnose, die paradoxerweise auf einer Theorie beruht. Sie lässt sich diesen Daten nicht entnehmen, beruht auf einer durch sie nicht gedeckten Verallgemeinerung und widerlegt sich insofern selbst. Würde sie stimmen, gäbe es mindestens einen Anwendungsfall einer Theorie über das Recht, die eine allgemeingültige und auf andere Weise nicht erreichbare Aussage ermöglicht. Als Allaussage wäre sie dann widerlegt. Im Recht sind stattdessen Entscheidungen zu treffen, die nicht nur in ihrem Ergebnis, sondern auch in ihrer Begründung verantwortet werden müssen. Zumindest Theorien im Recht lassen sich daher solange nicht durch bloße Häufigkeitsanalysen ersetzen, wie das Recht nicht seinerseits auf diese Analysen verweist und dadurch eine daran ausgerichtete Konkretisierung seiner Begriffe entbehrlich werden lässt. Es müssten daher erst noch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden, um den durch Algorithmen berechneten Aussagen den Status als Recht zuzusprechen. Selbst dann wären Theorien im Recht nicht entbehrlich, weil sie nicht auf die Frage beschränkt sind, wie häufig bestimmte Phänomene im Gesetz und in der es konkretisierenden Rechtsprechung vorkommen, so aufschlussreich beides auch sein mag. Vielmehr geht es ihnen auch um die Rechtfertigung allgemeiner dogmatischer Aussagen. Diese Rechtfertigung folgt nicht ohne weiteres aus einer Häufigkeitsanalyse, da es dafür zusätzlicher legitmierender Gründe bedarf, um ihre Berechtigung darzulegen. Weniger eindeutig allerdings ist, ob eine derartige Analyse zumindest Theorien über das Recht in Frage stellt. Denn das Ziel dieser Theorien ist nicht die Herausbildung allgemeiner dogmatischer Aussagen. Vielmehr ist ihnen weitgehend unabhängig von Einzelphänomenen am Verständnis von Recht gelegen. Dieses kann durch eine Datenanalyse durchaus wachsen, indem sie etwa Hinweise auf den Zusammenhang von rechtlichen sowie empirischen Phänomenen gibt, die auf den ersten Blick nicht miteinander zusammenhängen. Lässt sich etwa zeigen, dass ein Verfassungsgericht typischerweise umso stärker ausgestaltet wird, je schwächer die an der Verfassungsgebung beteiligten Parteien sind, so liegt es nahe, es als eine Art Versicherung zu verstehen, die Parteien für den Fall treffen, dass sie eines Tages in die Minderheit geraten.10 Das nimmt anderen Begründungen, dass Verfassungsgerichte Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit der Staatsorganisation schützen, zwar den Nimbus einer umfassenden Erklärung, hebt deren Berechtigung allerdings nicht auf. Denn eine Theorie, die erklärt, warum ein Verfassungsgericht erforderlich ist, setzt sich nicht von allein durch. Sie ist auf eine Umsetzung angewiesen, die ihrerseits von einer Vielzahl anderer Faktoren abhängen kann und so auch von einer bestimmten Konstellation in der Verfassungsgebung. 10 T. Ginsburg, Economic Analysis and the Design of Constitutional Courts, Theoretical Inquiries in Law 3 (2002), 49, 81.
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Einleitung
Generell vermag eine Datenanalyse daher zwar das Verständnis rechtlicher Phänomene zu erleichtern, dabei aber nicht alle Fragen zu klären, die Theorien über das Recht beantworten sollen. Ob etwa das Recht nur aus Normen besteht oder auch aus anderen Elementen wie den sie tragenden Gründen, lässt sich nicht aus der Häufigkeit ableiten, mit der Normen und derartige Gründe assoziiert werden. Denn dafür gilt es zunächst zu klären, welche Phänomene der Begriff des Rechts umfassen soll. Eine auf eine Datenanalyse gestützte Theorie über das Recht, die lediglich einen seiner Aspekte erklärt, vermag daher an anderen Zielen ausgerichtete Theorien nicht zu verdrängen. Zumindest von vornherein lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Pluralität des Rechts und der mit ihm verbundenen Phänomene nur mittels pluraler Theorien erklären lässt, die unterschiedliche Ziele verfolgen und sich nicht ohne weiteres in einer einheitlichen Theorie zusammenfassen lassen. Sinn und Berechtigung von Theorien über das Recht hängen dabei in erster Linie von den Verständniszielen ab, die man mit ihnen verfolgt. Sucht man beispielsweise nach Erklärungen dafür, unter welchen Bedingungen bestimmte Normen entstehen und zur Anwendung kommen, bedarf es anderer Theorien, als wenn man allein daran interessiert ist, ob sich sämtliches Recht vollständig auf Normen reduzieren lässt. Eine Theorie zu einer derartigen Frage wäre durch ein einziges Gegenbeispiel widerlegt, sodass es zumindest dafür nicht auf Häufigkeitsfeststellungen mittels Datenanalyse ankommt. Die seit Jahrhunderten geführte Debatte, was unter Recht zu verstehen ist,11 bleibt daher für Theorien über das Recht aktuell. Ohne sie lässt sich nicht beantworten, ob man Recht restlos auf bestimmte Elemente wie Normen reduzieren kann. Der Tod der Theorie scheint daher wie der Tod der „alten Rechtsdogmatik“12, das „Ende der Geschichte“13 oder das „Ende der Philosophie“14 eher ein Schlagwort als eine tragfähige Diagnose. Theorien über das Recht verfolgen nicht das Ziel, das Recht ganz oder teilweise wiederzugeben, sondern sollen seine Entstehung sowie seine Eigenschaften erklären. Bisweilen wird ihnen oder ihren Prämissen15 dabei sogar eine das Recht konstituierende Rolle zugesprochen. Darin besteht ein Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Theorien, die von der sie beschreibenden Wirklichkeit getrennt sind. Diese sind nach Lorenz Krüger „nicht mehr oder weniger wahr, sondern mehr oder weniger angemessen – angemessen nämlich an die Sache und an unsere Bedürfnisse“16. Danach muss und soll eine für ein bestimmtes empirisch feststellbares Phänomen entwickelte Theorie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Deren Komplexität lässt sich ohnehin nicht 11 12 13 14 15 16
Stellvertretend I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Original 1797, Akademieausgabe 1968, 229; R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 1923, 24 ff.; H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 77 ff. Meyer-Cording, Kann der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, 1973, 32. F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, 1992, der damit allerdings in erster Linie die Durchsetzung der liberalen Demokratie meinte, aaO., 39 ff. M. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: ders., Zur Sache des Denkens, 4. Aufl., Tübingen 2000 (Original 1964), 61 ff. J. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006, 45: „Die Prämissen rechtlicher Theorien konstituieren eine mögliche Rechtsordnung als abstrakten Gegenstand, deren Eigenschaften die Theorien dann darlegt.“ L. Krüger, Einheit der Welt – Vielheit der Wissenschaft, in: J. Kocka, Interdisziplinarität, 1987, 106, 116.
Einleitung
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sinnvoll in einem Modell erfassen. Anderenfalls wäre es nur begrenzt erklärungskräftig. Modelle, denen eine Theorie zugrunde liegt, können mit dem Gegenstandsbereich, den sie erklären sollen, daher nicht identisch sein und insoweit nicht vollständig mit ihm übereinstimmen. Das wirft einmal mehr die Frage auf, ob Theorien im Recht zutreffend als Theorie zu erfassen sind. Denn bei ihnen ist womöglich diese Identität mit dem Gegenstandsbereich zu konstatieren, für den sie entwickelt sind. Theorien im Recht können daher nicht im gleichen Sinne wie sonstige Theorien richtig oder falsch sein, weil sie entweder gelten und damit Teil des Rechts sind, oder aber nicht gelten und dann auch keine Theorien im Recht sind. Ebenso stellt sich bei Theorien über das Recht die Frage, ob und wie „unsere“ Bedürfnisse bei ihrer Entwicklung eine Rolle spielen können, da das Recht maßgeblich dafür da ist, Konflikte zwischen diesen Bedürfnissen zu lösen, und diese damit als uneinheitlich vorausgesetzt werden. Erfüllte Bedürfnisse können daher kaum das Kriterium für den Erfolg rechtlicher Theorien sein. Ein Wirklichkeits- und insofern Wahrheitsbezug ist unverzichtbar,17 so stark man auch den für eine Theorie konstitutiven Unterschied zu der von ihr erfassten Wirklichkeit betonen mag. Bei Theorien im Recht lassen sich Theorie und Wirklichkeit überdies kaum trennen. Zählt eine Theorie zum Recht, dann ist sie dem Recht und den Bedürfnissen in seiner Erfassung nicht nur angemessen, sondern sie ist Teil von ihm und verfügt über Geltungskraft. Sofern man den Wahrheitsanspruch auf normative Aussagen überträgt,18 erstreckt er sich daher auch auf die aus Theorien im Recht ableitbaren Aussagen. Diese Theorien sollen dem Recht daher nicht nur nahekommen, sondern es verkörpern; ihre Aussagen müssen daher nicht nur „mehr oder weniger angemessen“, sondern zutreffend sein. Ihre Geltung lässt sich nicht graduieren. Mit der Entscheidung für eine Theorie im Recht geht daher ein rigoroser, andere Theorien ausschließender Anspruch einher. Im Gegensatz dazu muss man einer Theorie über Recht keine Geltungskraft zu- oder absprechen. Sie kann man am Anspruch messen, etwas Zutreffendes über den Begriff des Rechts, seine Eigenschaften und sein Verhältnis zu anderen Größen zu vermitteln. Dieser Anspruch ist in mehr oder weniger starker Weise erfüllbar, sodass sie nicht mit einem so weitgehenden Anspruch wie Theorien im Recht verbunden sein müssen. Sie können sich mit dem Anspruch begnügen, das Verständnis des Rechts zu erleichtern, ohne den Anspruch auf uneingeschränkte Geltung zu erheben, der konkurrierende Theorien ausschließen würde. Anders als Theorien im Recht kann eine Theorie über Recht solchen Theorien zugestehen, sich in anderer, ebenfalls vorläufiger Weise dem Phänomen Recht zu nähern, selbst wenn diese ihr punktuell widersprechen. Der fehlende Zwang, Theorien über Recht die Geltung zu- oder abzusprechen, schafft insoweit einen Raum für eine größere Pluralität und Zurückhaltung im eigenen Anspruch. Theorien über das Recht unterscheiden sich von Theorien im Recht zwar dadurch, dass nur letztere eine geeignete Größe darstellen, auf die man zur Begründung eines 17 Dieser Bezug wird deutlicher im Kriterium der Angemessenheit des Models gegenüber der Welt („fit between a model and the world“), R. Giere, Science without Laws, 1999, 213. 18 Zur Debatte B. Williams, Ethics, i: A. C. Grayling, Philosophy (Hg.), Bd. 1, 1995, 545, 557 ff.
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Einleitung
Rechtssatzes verweisen kann. Bei Theorien über das Recht ist das nicht voraussetzbar, da sie sich womöglich auf eine rechtsexterne19 Perspektive beschränken. Gleichwohl kann es Theorien geben, die neben Einsichten zur Eigenart und zur Funktionsweise von Recht auch Aussagen formulieren, die einen rechtlichen Status beanspruchen. In diesem Fall lassen sie sich nicht allein einer der beiden Theoriegruppen zuordnen, sondern stellen sowohl eine Theorie über das Recht als auch eine Theorie im Recht dar. Rechtstheorien können damit je nach ihrer Ausgestaltung zu einer oder zu beiden Arten von Theorien zählen. Ihre Unterscheidung markiert eine mögliche, aber keine notwendige Beschränkung des Gegenstandsbereichs einer Rechtstheorie. So begreift Dworkin das Recht als praktizierte Philosophie und hält Urteilsbegründungen für ein „Stück Rechtsphilosophie“.20 Seine Theorie wäre daher sowohl eine über das Recht („law as integrity“)21 als auch eine Theorie im Recht, da man auf sie in der Rechtsanwendung des Common Law verweisen könnte. Selbst positivistische Theorien, die lediglich erklären wollen, was in einem etablierten Rechtssystem unter Recht zu verstehen ist und sich insoweit auf eine Theorie über das Recht beschränken, ohne normative Empfehlungen zu geben, lassen sich als Theorien interpretieren, die Bedingungen formulieren, unter denen eine Berufung auf Recht erfolgen kann.22 Damit stellen sie zumindest implizit Behauptungen darüber auf, was als Recht zu gelten hat, sodass man zur Entscheidung dieser Frage in Zweifelsfällen auf diese Theorien verweisen müsste, wenn man sie denn für richtig hält. Da aber die Entscheidung, ob eine Norm oder ein Begriff zum Recht gehört, ihrerseits eine rechtliche Entscheidung darstellt, gehören die sie bildenden Aussagen insoweit zu Theorien im Recht. Gleiches lässt sich über eine Vielzahl jüngerer Theorien zeigen, von denen hier stellvertretend nur die Planungstheorie von Scott Shapiro genannt sei.23 Auch er erhebt einerseits den Anspruch zu definieren, was Recht ist.24 Das soll unabhängig von einem bestimmten Rechtssystem und der in ihm enthaltenen Theorien gelten. Insoweit handelt es sich um eine Theorie über das Recht. Andererseits zieht seine Theorie zugleich Konsequenzen für die Interpretation des geltenden Rechts.25 Das legt nahe, dass man auf die so entwickelten Grundsätze in der Rechtsanwendung verweisen muss, wenn man Recht mit Shapiro als einen Plan begreift. Insoweit wäre die dabei entwickelte Theorie der „Meta-Interpretation“ eine Theorie im Recht. Dass zahlreiche Theorien sowohl Elemente einer Theorie im Recht als auch Elemente einer Theorie über Recht enthalten, stellt diese Unterscheidung nicht in Frage, sondern hilft zu klären, welchen Anspruch und welche Tragweite eine Theorie jeweils hat. Dabei sind alle Kombinationen denkbar: Theorien, die lediglich einzelne dogmatische Fragen klären, ohne einen weitergehenden Anspruch zur Charakterisierung des Rechts aufzu19 20 21 22 23 24 25
D. von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl., 2011, 177. R. Dworkin, Law’s Empire, 1986, 90. Aao., S. 176 ff. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960., 31 ff. S. J. Shapiro, Legality, 2011, 118 ff. AaO., 193 ff. AaO., 355 ff.
Einleitung
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stellen; philosophische Theorien, die sich auf diesen Anspruch einer äußeren Erfassung des Rechts beschränken, und schließlich Theorien, die beides miteinander kombinieren. Um eine Aussage einer dieser Theoriegruppen zuzuordnen, wäre es zunächst erforderlich, den Theoriebegriff zu klären, der dabei jeweils vorausgesetzt wird. Bei Theorien im Recht und über Recht kann es etwa kaum um eine „in sich selbst stimmige Selbstauslegung im Wirkungskomplex der Welt“26 gehen, die Gerhardt im Kontext der Philosophie als für eine Theorie maßgeblich ansieht. Denn den für das Recht relevanten Theorien ist nur begrenzt an der Selbstauslegung gelegen, so stark das Recht auch mit den es konstituierenden Menschen und Institutionen zusammenhängen mag. Bestimmt man Theorien stattdessen als eine aufeinander abgestimmte Menge „allgemeiner Sätze“27 zum Recht, so wäre eine Vielzahl von miteinander verbundenen Behauptungen bereits eine Theorie. Das dürfte miterklären, warum der Theoriebegriff im Recht mitunter inflationär verwendet wird, indem darunter bereits Antworten auf interpretatorische Detailfragen verstanden werden. Die Behauptung, dass ein Tatbestandsmerkmal einen Vorsatz verlangt, genügt dann etwa, um sie als „subjektive Theorie“28 zu bezeichnen. Im Vergleich zu Großtheorien wie der Diskurs- oder Systemtheorie klingt diese Verwendung des Theoriebegriffs für die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale merkwürdig, da erstere in ihrer Entwicklung einen ungleich größeren Aufwand als diese erfordern, über eine größere Tragweite verfügen und als eine Art Großerzählung eine Gesamtperspektive auf das Recht eröffnen. Indes fällt es schwer, ein genaues Kriterium zu benennen, mit dem sich der Theorieanspruch für Detailansichten zu einzelnen Tatbestandsmerkmalen zurückweisen lässt. Denn immerhin lassen sich auch diese Ansichten auf allgemeine Gründe stützen. Ebenso ist allein der Begründungsaufwand kein geeignetes Kriterium für die Einordnung als juristische Theorie, da dann die unplausibelsten Behauptungen schon dadurch zu einer Theorie würden, dass sie auf eine Vielzahl begründungsbedürftiger Annahmen gestützt werden und damit einen enormen Begründungsaufwand verursachen. Ebensowenig genügt für eine juristische Theorie, von konkreten Umständen wie einzelnen Namen, Orten und Zeiten zu abstrahieren, da dies schon der Form nach den meisten gesetzlichen und außergesetzlichen Normen inhärent ist. Daher kann man die Abstraktion von konkreten Umständen nicht als ausreichend für eine Rechtstheorie ansehen. In Anlehnung an Theorien über empirische Phänomene könnte man darüber hinaus verlangen, dass eine rechtliche Theorie von einer einzelnen Norm abstrahiert und eine begründete Behauptung für eine Vielzahl von Normen aufstellt. Entsprechend ließe sich dann zwischen einer theoretischen und einer angewandten Rechtswissenschaft unterscheiden. Der theoretischen Rechtswissenschaft ginge es um die Entwicklung allgemeiner Aussagen zu rechtlichen Normen, wofür methodische Überlegungen paradigmatisch sind. Die angewandte Rechtswissenschaft hätte demgegenüber das Ziel, diese allgemeinen Einsichten auf die einzelnen Normen anzuwenden. Paradigmatisch dafür 26 V. Gerhardt, Selbstbestimmung, 1999, S. 72. 27 K. Popper, Logik der Forschung, 10. Aufl., 2002, S. 31. 28 Etwa BGHZ 61, 153 (160) = NJW 1973, 1685 (1686).
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Einleitung
stünde eine Kommentierung einzelner Vorschriften, die keine allgemeinen Einsichten entwickelt, sondern diese nur anwendet. Diese Unterscheidung schlösse allerdings aus, dass man Überlegungen zu einzelnen zentralen Rechtsbegriffen wie Gleichheit oder Würde als Theorie erfassen könnte, da diese dann bereits nach ihrem eigenen Anspruch nur für diejenige Norm relevant wäre, die wie Art. 1 und Art. 3 GG dem jeweiligen Begriff zugrunde liegt. Indes können diese und andere Normen samt ihrer Begriffe eine so zentrale Stellung einnehmen, dass es sich lohnt, zu ihrem Verständnis und ihrer Konkretisierung eine Theorie zu entwickeln, die auf verallgemeinerbare Gründe gestützt ist. Dass sie nur für eine einzelne Norm gilt, wäre schon deshalb kein überzeugender Einwand, weil diese wie im Falle der Grundrechte und Generalklauseln für eine Vielzahl anderer Normen Relevanz hätte. Der Theoriebegriff im Recht lässt sich daher nicht ohne weiteres in Analogie zu natur- und sozialwissenschaftlichen Theorien entwickeln, sondern muss die Eigenarten des Rechts als einer normativen Ordnung ernst nehmen, die auf einzelnen kontingenten Normen aufbaut. Sich mit der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung trotz der Vielzahl der hier nur angedeuteten Schwierigkeiten zu befassen lohnt schon deshalb, weil als Alternative eine Theorielosigkeit oder gar Theoriefeindlichkeit droht. Sie pflegt als solche zwar selten ausdrücklich formuliert zu werden, ist in der Anwendung und Behandlung des Rechts aber gleichwohl häufig genug zu konstatieren. Was also ist eine Theorie im Recht, was eine Theorie über Recht? Gelten Theorien oder sind sie wahr? Sind sie mehr oder weniger angemessen oder nur mehr oder weniger überzeugend? Schließen sie konkurrierende Theorien aus oder ist ihr Anspruch von vornherein so begrenzt, dass sie mit einer Vielzahl anderer Perspektiven vereinbar sind? Unterscheiden sie sich von Theorien anderer Wissenschaften oder stellen sie lediglich einen Anwendungsfall eines allgemeineren Theoriebegriffs dar? All das scheint so unklar und diskussionsbedürftig, dass eine Erörterung lohnt. Dazu soll dieser Sammelband beitragen. Angesichts der Tragweite dieser Fragen kann er sich ihnen nur punktuell nähern, ohne sie alle behandeln oder gar klären zu können. Aufgrund der Pluralität von Theoriebegriffen ist die Unterscheidung und Verbindung rechtwissenschaftlicher Theorien zu anderen Wissenschaften eine erste wichtige Aufgabe. Daher beginnt dieser Band mit einem Beitrag von Julian Nida-Rümelin, in welchem er eine realistische und kohärentistische Theorie von Moral und Recht vorstellt. Für deren Verhältnis geht er einerseits von einer lebensweltlich existenten Einheit des normativen Sollens aus, der andererseits die unbestreitbare Vielfalt der Normativitätsquellen gegenüberstehe. Zur Überbrückung könne die normative Kraft von Konventionen dienen. Im nächsten Schritt verbindet er den erkenntnistheoretischen Kohärentismus mit einem metaethischen Realismus. Hierfür schlägt er einen normativen Realismus ohne Ontologie vor, den er als unaufgeregt bezeichnet. Schließlich seien Wahrheit und Begründung zwei sorgfältig zu unterscheidende Größen, wobei er für eine epistemische Perspektive des natürlichen Realismus plädiert, welcher in die auf einen realistischen Wahrheitsbegriff und einen kohärentistischen Begründungsbegriff gerichteten Diskurspraktiken eingebettet sei.
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Martti Koskenniemi knüpft an diese Überlegungen Jherings an, wenn er fragt, ob Rechtswissenschaft möglich ist. Jhering habe die Vorstellung abgelehnt, dass die Rechtswissenschaft eine aus dem römischen Recht stammende Begriffslogik entdecken könne, und ihre Aufgabe darin gesehen, die Entwicklung und Vervollkommnung des Rechts im Wechselspiel mit den es umgebenden wirtschaftlichen und sozialen Umständen zu beschreiben. Dieses Verständnis habe sich als erfolgreich erwiesen. Wissenschaftliche Autorität beruhe weder allein auf abstrakten Ideen noch auf Fakten. Inzwischen werde Recht als eine funktionelle Ordnung (functional regime) verstanden, in der es weniger um formale Regeln als Stufen der Legitimität, Kosten und Effizienz ginge. Das dürfe aber nicht zu einer „Flucht aus dem eigenen Denken“ führen. Es gelte die Hintergrundbedingungen zu untersuchen, unter denen sich das Bewusstsein von Juristen bildet, das entscheidend für die Ausprägung von Rechtsansichten sei. Stefan Magen wirft die Frage auf, wie rechtliche Normativität erklärbar ist. Dazu stellt er die Haupttheorien gegenüber, die auf diese ontologische Frage eine Antwort geben. Auf der einen Seite stünden Theorien, die von einer genuinen Normativität ausgingen, die nicht auf eine andere Größe reduzierbar sei. Auf der anderen Seite bemühte sich der Naturalismus darum, Normativität auf mentale, soziale oder sprachliche Tatsachen zurückzuführen. Letzteres hätte den Vorteil, dass Recht als Phänomen der kausalen, raumzeitlichen Welt begreifbar werde. Dabei könnte man an die empirischen Sozialwissenschaften anknüpfen und Recht als ein Eigenschaftscluster einer natürlichen Art verstehen. Dieses Cluster müsse keine notwendigen und hinreichenden Merkmale aufweisen, beruhe aber auf beständigen Kausalmechanismen, die eine soziale Kooperation ermöglichen. Damit lasse sich Recht als ein Netzwerk dreier Gleichgewichte verstehen. Diese bestünden bei der Übertragung einer Entscheidung an den Rechtsstab, zwischen den Mitgliedern des Rechtsstabs und zwischen den einzelnen Rechtsadressaten. Die Legitimität rechtlicher Gründe hinge danach letztlich von der jeweiligen Praxis ab, welche auf unterschiedliche Weise moralische Intuitionen akzentuiere. Dietmar von der Pfordten stellt die Inflationierung und Ubiquität des Theoriebegriffs und den damit verbundenen Spezifikationsverlust des Theoriebegriffs in den Mittelpunkt seines Beitrages. Um dieses Problem zu bewältigen, hält er eine Reflexion der beschriebenen Situation für zielführend. Diese ergebe, dass hinter dem inflationären Gebrauch des Theoriebegriffs eine bewusste Intention liege, um eine Abgrenzung des Theoriebegriffs von anderen Formen der Erkenntnis zu verdeutlichen. Von der Pfordten bezeichnet diese Intention als eine Art Nachhall zum ursprünglichen Verständnis des Theoriebegriffs. Allerdings problematisiert er, dass auf den einzelnen Abstraktionsebenen der Rechtserkenntnis verschiedene Elemente des Nachhalls fortwirken. Die Aufklärung der nachhallenden Elemente will er zunächst durch die Beschreibung und Analyse des historischen Vorgangs der enormen Ausweitung des Theoriebegriffs herbeiführen. Im Anschluss an diese historische Beschreibung und Analyse nimmt er eine Bewertung des Einsatzes des Theoriebegriffes auf den einzelnen Abstraktionsebenen vor, wobei er die Frage, wo ein bewussterer und sparsamerer Einsatz des Theoriebegriffes sinnvoll scheint, verfolgt.
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Bernhard Jakl untersucht in seinem Beitrag Theorien im Recht und Theorien des Rechts am Beispiel des Verhältnisses von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung. Er konstatiert eine vermehrte Kombination unterschiedlicher Theorien, die durch ein umfangreiches Theorieangebot aus Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik herbeigeführt wird. Die Herausforderung dieser Praxis sieht der Autor allerdings nicht in der disziplinären Zuordnung der unterschiedlichen Theorien, sondern vielmehr darin, die Möglichkeiten und Grenzen der rechtswissenschaftlichen Theoriewahl zu kartographieren und bewusst einzusetzen. Als exemplarischen Untersuchungsgegenstand wählt der Autor das Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung. Dabei nutzt der Autor unterschiedliche Ansätze, die er zur Beantwortung der Frage der Theoriewahl heranzieht. Abhängig vom Abstraktionsgrad der jeweiligen Theorie unterscheidet er drei ebenenspezifische Verhältnisse: die rechtspositivistisch-dogmatische, die rechtstheoretische und die rechtsphilosophische Ebene. Eine bewusste Theoriewahl setze jedoch interdisziplinäre Forschung voraus. Jan Philipp Schaefer beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Rechtswissenschaft zu den Sozialwissenschaften, für das er die Metapher des Horizonts verwendet, über den man nicht hinausschauen kann. Eine derartige Metapher impliziere eine Unterscheidung beider, welche die Abgeschlossenheit des Rechts und der Juristen gegenüber sozialwissenschaftlichen Perspektiven unterstütze und auf die historische Rechtsschule zurückgehe. Diese Unterscheidung sei aber nicht unüberbrückbar, da der Normbegriff als gemeinsamer Referenzpunkt dienen könne. Bereits mit der Differenzierung von Geltung und Wirkung gingen die Disziplinen jedoch auseinander und reduziere sich Rechtstheorie auf eine Theorie der juristischen Methodik. Dem stehe eine „offene Rechtstheorie“ gegenüber, nach der Theorien im Recht wie etwa zum Verhältnismäßigkeitsprinzip nur im Lichte außerjuridischer Theorien über das Recht begriffen werden könnten. Überdies ließen sich aus der Beobachterperspektive auch Theorien über das Recht an rechtsexterne Kritik anschließen, was die Überwindung von Sprachbarrieren und das Experimentieren mit Assoziationen zu unterschiedlich verwendeten Begriffen erfordere. Diese würden dadurch unscharf. Durch derartige Beobachtungen werde Rechtstheorie zu einer Metatheorie der Theorien über das Recht. Jan Schröder beschäftigt sich mit der Frage nach der Zeitlosigkeit rechtswissenschaftlicher Theorien. Diese werde in der rechtstheoretischen und rechtsgeschichtlichen Literatur so gut wie nie erörtert. Da jede geistes- und sozialwissenschaftliche Theoriebildung wechselnden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Einflüssen unterliege, sei auch nicht zu erwarten, dass es besonders viele überzeitlich beständige juristische Theorien gibt. Die Abhandlung erörtert die Frage an Beispielen aus der Geschichte der juristischen Methodenlehre und der Privatrechtsdogmatik mit dem Ergebnis, dass dogmatische Theorien nicht weniger beständig oder unbeständig seien als nicht-dogmatische Theorien. Als verhältnismäßig dauerhaft erwiesen sich Theorien, die das logisch-hermeneutische Handwerkszeug des Juristen betreffen sowie eine Reihe von elementaren Denkformen des Rechts ohne nennenswerten materiellen, wertungsabhängigen Gehalt. Helge Dedek thematisiert die Rechtstheorie in ihrer Gegenüberstellung mit der Rechtspraxis und damit eine Frage, die insbesondere in der Konzeption universitärer
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Lehre sowie Forschung relevant wird. Zählt diese Tätigkeit, da von der Rechtsanwendung unterschieden, samt und sonders als Theorie? Dies lässt sich nicht ohne weiteres bejahen, da die Paarung Theorie und Praxis eine diffizile Konstellation sei, schon weil auch die Lehre vom gesellschaftlichen Kontext geprägt, ihrerseits Arbeit und auf den praktischen Nutzen ausgerichtet sein könne. Es stelle sich zugleich die Frage nach Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, die keinesfalls mit Theorie identifiziert werden könnten. Gerade das Wissenschaftlichkeitsideal sei im 19. Jahrhundert auch auf die Rechtspraxis erstreckt worden. In diesem Sinne ließe sich Theorie und Praxis nicht nach Wissenschaftlichkeit unterscheiden. Der Theoriebegriff habe sich zudem gewandelt. Theorie sei zunächst als Vorgang der Kontemplation und Spekulation verstanden worden, wozu die Muße gehöre. Diese behalte in einer auf Beschleunigung und abrechenbare Leistung ausgerichteten Universitätspraxis ihre Bedeutung. Anja Schmidt erörtert in ihrem Beitrag den Begriff und Gegenstand der feministisch-geschlechterkritischen Rechtstheorie (die zugleich Rechtsphilosophie sei) und verortet diese innerhalb der Rechtstheorie und -philosophie im Allgemeinen. Einführend zeigt die Autorin die Eigenständigkeit feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie innerhalb der feministischen Rechtswissenschaft bzw. der Legal Gender Studies auf. Sodann wird der Begriff der Rechtstheorie kritisch mit dem Ergebnis analysiert, dass Rechtstheorie und Rechtsphilosophie nicht strikt voneinander getrennt werden könnten, weil eine theoretische Betrachtung des Rechts immer aus konkreten Rechtspraxen erwachse und Recht immer normativ auf Richtigkeit oder Gerechtigkeit ausgerichtet sei. Anschließend wird anhand wichtiger Querschnittsdebatten der Legal Gender Studies erläutert, was feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie ist, inwiefern die Analyse konkreter Rechtspraxis für sie bedeutsam ist und was sie für eine allgemeine Erkenntnis des Rechts, also Rechtstheorie/-philosophie zu leisten vermag. Abschließend hält sie fest, dass feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie in normativer Absicht generelle Aussagen zum Verhältnis von Recht und Geschlecht trifft, somit Teil der Rechtstheorie sowie Rechtsphilosophie sei und diese insbesondere um die These der Perspektivität und historisch-kulturelle Situiertheit allgemeiner Rechtserkenntnis, die Notwendigkeit der Reflexion der Machtverwobenheit des Rechts und die beispielhafte Erläuterung, wie Recht Wirklichkeit mitkonstruiert, bereichert. Markus Rehberg untersucht das Verhältnis von Recht und Komplexität. Im Zentrum steht dabei die These, dass die juristischen Begriffe, Institute und andere Instrumentarien der Bewältigung rechtlicher Komplexität dienen. Das Recht habe die praktischen Ziele des Gesetzgebers möglichst aktuell, differenziert und effizient umzusetzen. Das gelinge unter anderem mittels Abstraktion, die neben dem Hinschauen auf ein verschiedenen Phänomenen gemeinsames Merkmal auch ein Wegschauen von einzelnen Gegebenheiten verlange. Ebenso sei dafür die Verallgemeinerung wichtig, die sich etwa an der Herausbildung abstrakter Begriffe zeige. Zudem müsse man im Umgang mit dem Recht dessen Historizität ernst nehmen, wonach dieses nicht auf dem Reißbrett entworfen, sondern nur schrittweise entwickelt werden könne. Ähnlich wie in der Informatik könne auch die Kapselung, d. h. die Eingrenzung bestimmter Prozesse, bei der Komplexitätsbewältigung helfen, etwa weil sie eine Arbeitsteilung ermögliche. So wünschens-
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wert dabei eine einfache und verständliche Sprache sei, so stark bleibe man allerdings auf eine abstrahierende und damit technische Sprache angewiesen. In der Anwendung und Entwicklung dieser Techniken spiele die Rechtswissenschaft eine zentrale Rolle. Was bleibt also von der Unterscheidung zwischen Theorien im Recht und über das Recht? Ralf Dreier hatte die Rechtstheorie als Grenzpostendiziplin charakterisiert, der die Aufgabe zukomme, nachbarwissenschaftliche Informationen auf ihre Relevanz für die Rechtswissenschaft im engeren Sinne zu überprüfen.29 Mit Rudolf Wiethölter könnte man auch formulieren, dass es um eine Übersetzungsleistung zwischen Gesellschaftstheorie und Rechtsdogmatik geht, die gelungen ist, wenn erstere für letztere einen relevanten Informationswert hat, also ein Unterschied ist, der einen Unterschied macht.30 Hiernach ginge es um die Transformation von Großtheorien und Theorien mittlerer Reichweite über das Recht (und die Gesellschaft) in im juristischen Diskurs anschlussfähige Theorien im Recht. Das muss weder zur Bildung weitreichender normativer Grundsätze noch neuer technischer Begriffe führen, die beide jedenfalls nach der Diagnose von Jan Schröder eine kurze historische Halbwertzeit haben. Aber es könnten auf diese Weise Einsichten gewonnen und formuliert werden, die weiter reichen als die Analyse einer einzelnen Norm oder eines einzelnen Urteils, weil sie im Vergleich dazu von allgemeineren Erkenntnissen getragen werden. Bremen, April 2018
29 R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, 1975, S. 21 f.; Dazu J.-R. Sieckmann, Begriff und Gegenstand der Rechtstheorie bei Ralf Dreier, in: R. Alexy (Hrsg.), Integratives Verstehen: Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, 2005, S. 3 ff. 30 Vgl. die Beiträge in: C. Joerges / G. Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht. Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, 2003.
Eine realistische und kohärentistische Theorie von Moral und Recht1 Julian Nida-Rümelin, München
I. Vorbemerkung Ich bin auf dieser Konferenz vermutlich der einzige Nicht-Jurist, umso ehrenvoller ist die Einladung. Umso riskanter ist es aber auch hier beizutragen. Mit meinem Beitrag möchte ich einen Brückenschlag leisten, wobei ich allerdings nicht versuchen werde, in 30 Minuten den Diskussionsstandpunkt der Philosophie für die Debatten, die in der Jurisprudenz geführt werden, fruchtbar zu machen. Vielmehr will ich eine in der zeitgenössischen Philosophie umstrittene, wahrscheinlich in der Rechtstheorie erst recht umstrittene Position plausibel machen. Diese ist – in einem noch zu erläuternden Sinne – realistisch, anti-naturalistisch, nicht metaphysisch, sondern epistemisch begründet und insofern kohärentistisch.2 Ich will eine persönliche Bemerkung vorausschicken. Ich habe nicht Jura studiert, sondern Physik und Philosophie, und komme damit disziplinär aus einem ganz anderen Diskussionszusammenhang als die anderen Vortragenden dieser IVR-Tagung. Anfänglich habe ich vor allem Logik und Wissenschaftstheorie bei Wolfgang Stegmüller gehört, später wurde die Theorie praktischer Rationalität mein Interessenschwerpunkt, flankiert von Ethik und politischer Theorie. Dabei hatte ich von Anbeginn an ein Unbehagen angesichts der vorherrschenden Praxis ethischer Theoriebildung in der Philosophie, speziell auch in der analytischen Philosophie. Es dominierte der Versuch, sich gegen die Moralpraxis, an der wir alle teilhaben, zu stellen und eine subjektivistische Uminterpretation vorzunehmen, die sich – vermeintlich – sprachphilosophisch be-
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Dieser Text geht zurück auf den Mitschnitt eines mündlichen Vortrages. Die freie Form der Rede wurde beibehalten. Anlässlich meines sechzigsten Geburtstages hatte Dietmar von der Pfordten, mein erster wissenschaftlicher Assistent in Göttingen und unterdessen seinerseits ein erfolgreicher Brückenbauer zwischen Philosophie und Recht, ein Kolloquium am Ethikzentrum der Ludwig-Maximilians-Universität in München organisiert, das der Diskussion meines metaethischen Realismus gewidmet war. Dort hatte ich Gelegenheit, meine Position etwas ausführlicher darzustellen und von den vorgebrachten Kritiken zu lernen, siehe D. von der Pfordten, Moralischer Realismus? Zur kohärentistischen Metaethik Julian Nida-Rümelins, 2015.
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gründen lässt.3 Dabei gab es immer schon eine Disziplin, die uns zeigt, wie man rational mit normativen Fragen umgehen kann, nämlich die Rechtswissenschaft. Wir sollten also die Rechtswissenschaft als ein Paradigma der Ethik verstehen und nicht die Ethik als Fundamentalwissenschaft der Jurisprudenz. Was Sie aus dieser Bemerkung heraushören können, zieht sich wie ein roter Faden durch meine Arbeit, nämlich dass ich in meinem Denken ein anti-foundationalist bin.4 Ich bin der Auffassung, dass alle fundamentalistischen Ansätze in der praktischen ebenso wie in der theoretischen Philosophie in die Irre führen, und leider läuft ein Gutteil der philosophischen Debatte in diese Sackgasse. Dieser fundamentalistische Irrweg blockiert auch den an sich sehr naheliegenden Zusammenhang zwischen Realismus und Kohärenz. Lange Zeit konnte man in der Philosophie nur Kohärentist und Idealist oder Fundamentalist und Realist sein. Ich bin dagegen überzeugt, dass eine epistemische Perspektive, die unsere Praxis der Begründung normativer Stellungnahmen ernst nimmt, eine realistische Interpretation dieser Praxis nahelegt, wenn nicht sogar erzwingt. Diese Position will ich in diesem Beitrag darlegen. II. Moral und Recht 1. Die Einheit des normativen Sollens Zunächst möchte ich ein paar kursorische Bemerkungen zum Verhältnis von Moral und Recht vorausschicken, die die Einheit des normativen Sollens deutlich machen.5 Damit ist Folgendes gemeint: Anders als in meiner eigenen Disziplin jahrelang behauptet wurde, ist lebensweltlich völlig klar, was „Du solltest das tun!“ bedeutet. Gemeint ist damit eine all things considered-Aussage, also dass der adressierte Akteur nach Abwägung aller Gründe eine bestimmte Handlung vollziehen sollte. Insofern ist das normative Sollen, das auf konkrete Handlungsoptionen gerichtet ist, einheitlich. Wir können nicht ernsthaft darüber diskutieren, was wir juristisch gesehen tun sollten, was wir moralisch gesehen tun sollten, was wir tun sollten, wenn wir auf unsere Freunde Rücksicht nehmen möchten, was wir tun sollten, wenn wir unseren Liebsten etwas Gutes tun möchten – und am Ende die Frage, was insgesamt gesehen zu tun ist, unbeantwortet lassen. Auf die Frage „Was soll ich tun?“ kann es keine vage Antwort geben, sofern sie ohne Relativie3 4 5
Diese Uminterpretation findet sich bspw. bei C. L. Stevenson, The Emotive Meaning of Ethical Terms, Mind 46 (1937) (181), 14 ff.; R. M. Hare, The Language of Morals, 1952 und ders., Moral Thinking, 1981 sowie A. Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings, 1990. Das Englische trennt zwischen „foundationalism“ und „fundamentalism“, im Deutschen werden beide Termini als „Fundamentalismus“ übersetzt. Mir geht es im Folgenden um ersteren. Siehe J. Nida-Rümelin, Recht und Moral, in: S. Vöneky / B. Beylage-Hartmann / A. Höfelmeier / A.-K. Hübler (Hg.), Ethik und Recht – Die Ethisierung des Rechts, 2013. Meine Position ist also stärker als Alexys 1983 „Sonderfallthese“, da sie auf eine inhaltliche Einheit des Sollens und nicht nur auf eine begründungstheoretische Einheit der Diskursformen abstellt und eine realistische – nicht bloß diskurstheoretisch bewährte – Interpretation normativer Gründe voraussetzt. Siehe R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 1983.
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rung (etwa auf die Intentionen der handelnden Person oder auf akzeptierte normative Kriterien) vorgebracht wird. Im Gegenteil: Solange Relativierungen dieser Art in der Antwort auftauchen, wurde eigentlich noch keine Antwort gegeben. In Anlehnung an Immanuel Kants Terminologie könnte man auch sagen: Die Frage „Was soll ich tun?“ verlangt nach einer kategorischen, nicht nach einer hypothetischen Antwort. Am Ende müssen wir uns als Akteure darüber klarwerden, was wir tun sollten in Abwägung aller relevanten Gründe. Eine Parzellierung der Werte gibt es nur im philosophischen Seminar, nicht in der lebensweltlichen Praxis – denn in dieser müssen wir am Ende handeln, im Seminar dagegen nicht. Diese Einheit des normativen Sollens kann man auch als Einheit der Bedeutung normativer Prädikate wie „gut“ oder „sollen“ interpretieren. Bedingtheiten und Relativierungen (wie etwa „moralisch gut“ oder „rechtlich gesollt“) sind keine Bedeutungsvarianten von „gut“ oder „sollen“. Die Bedeutung dieser und anderer normativer Prädikate ist klar, selbst wenn die Gründe, die für oder wider ihre Anwendung auf bestimmte Sachverhalte sprechen, umstritten sein mögen. Für das Verständnis dieser Prädikate benötigen wir also keine Philosophie, diese kann erst auf den Plan treten, wenn es darum geht, in schwierigen Fällen unsere normative Diskurspraxis kohärenter zu machen. Insofern waren vermeintliche Bedeutungsanalysen dieser Prädikate immer schon verdeckte Uminterpretationsversuche. Da die Bedeutung von „sollen“ sich nur schwer in eine subjektivistische Metaphysik des Sollens einbetten lässt, wurden bspw. mehr oder weniger intelligente Vorschläge gemacht, wie man sich den realistischen Implikationen unserer lebensweltlichen moralischen Diskurse entziehen kann. Diese Versuche unterminieren allerdings die lebensweltliche und juridische Begründungspraxis als Ganze und entledigen sich damit ihrer eigenen Bewährungsinstanz, sodass sie letztlich dogmatisch werden müssen. 2. Die Vielfalt der Normativitätsquellen Trotz der Einheit des Sollens gibt es aber eine Vielfalt der Normativitätsquellen. Mit „Normativitätsquellen“ sind die Gründe gemeint, die für oder wider etwas sprechen. Lebensweltlich gibt es eine Vielfalt unterschiedlicher Typen von Gründen, etwa Gründe, die sich auf individuelle Rechte beziehen, solche, die sich auf Verpflichtungen beziehen, solche, die mit sozialen Rollen einhergehen, und viele mehr.6 Die Vielfalt der Normativitätsquellen ist eine interessante philosophische, aber auch rechtswissenschaftliche, soziologische und politikwissenschaftliche Herausforderung, insbesondere da es zu Situationen kommen kann, die man mit Thomas Nagel als „fragmentation of value“7 bezeichnen könnte. Denn gelegentlich fragmentieren unsere Werte so stark, dass sie sich anscheinend nicht mehr integrieren und auf eines oder mehrere fundamentale 6 7
Eine kleine Typologie habe ich in J. Nida-Rümelin, Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie, 2015, Kapitel III.2 gegeben. Siehe T. Nagel, The Fragmentation of Value, in: ders., Mortal Questions, 1979, 128 ff.
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Prinzipien reduzieren lassen. Müssen wir mit dieser Fragmentierung leben oder muss es unser Ziel sein, sie durch Systematisierung, d. h. durch die rationale Rekonstruktion einschlägiger Diskurspraktiken, aufzulösen und Kohärenz gegen den Anschein des Disparaten zu behaupten? Für letzteres plädiere ich. 3. Konvention als Brücke zwischen Moral und Recht Wenn sich Theorien über Jahrzehnte oder Jahrhunderte gegenüberstehen, d. h. wenn es immer wieder neue Konstellationen gibt, ohne dass sich deren Grundkonflikt befriedigend auflösen lässt, liegt der Verdacht nahe, dass auf beiden Seiten etwas Wichtiges und Unaufgebbares behauptet wird. Beispiele hierfür wären der philosophische Streit zwischen Idealismus und Realismus oder in der Rechtsphilosophie der Streit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht. In so einer Situation besteht die eigentliche Kunst darin, die jeweils sinnvollen oder sogar unaufgebbaren Komponenten der konfligierenden Positionen so zu integrieren, dass sie in einer neuen, integrativen Perspektive aufgehoben bleiben. Und das ist auch genau die Strategie, die ich im Folgenden einschlagen werde. Betrachten wir folgendes Beispiel: Nehmen wir an, eine Gruppe von fünf Person bricht zu einer Bergwanderung auf, während derer es zum Konflikt kommt. Die Gruppe muss einen Grat überschreiten, doch eine Person hat Höhenangst und will diesen Weg nicht einschlagen. Die anderen versichern ihr, dass der Gratabschnitt nicht gefährlich sei, sogar Ungeübte könnten ihn mit Leichtigkeit meistern. Auf diesem Abschnitt gäbe es nur ein zu vernachlässigendes Unfallrisiko, stattdessen überwiege der Genuss, den die Aussicht bietet. Angenommen, die ängstliche Person weigert sich weiter, kann aber nicht alleine gelassen werden, sodass der Rest der Gruppe sie zum Mitgehen zwingen muss. Vielleicht erfolgt dieser Zwang sogar im Eigeninteresse der gezwungenen Person. Dennoch haben wir ein ungutes Gefühl, wenn wir die dargestellte Situation ethisch bewerten müssen. Intuitiv scheint eine Person, die Angst hat, ein moralisches Recht zu haben, sich der gemeinsamen Unternehmung zu verweigern – wenn sie Angst hat, sollte sie die Gratwanderung nicht bestreiten müssen. Interessanterweise verändert sich diese Bewertung aber, hätte sich die Gruppe im Vorfeld auf einen Entscheidungsmechanismus geeinigt wie bspw.: Im Falle eines Streits entscheidet die Person mit der meisten Erfahrung oder es wird abgestimmt. Dass sich unsere Bewertung des Falls verändert, wenn im Vorfeld Entscheidungsmechanismen festgelegt wurden, ist für die Demokratietheorie von großer Relevanz: Mehrheit alleine legitimiert zu gar nichts, es ist der Konsens über ein konflikt-auflösendes Verfahren, der kollektive Entscheidungen legitimiert. Verfahren wie die Mehrheitsregel machen im Weiteren eine kooperative Praxis möglich. Welche Kooperationsweisen praktisch realisiert werden sollten, ist häufig normativ unterbestimmt. D.h. auch wenn klar ist, dass alle Beteiligten Grund haben zu kooperieren (bspw., weil sie von einer Kooperation profitieren würden), kann es immer noch vernünftigen Streit darüber geben, welche Form der Kooperation realisiert werden sollte. Es ist diese Unterbe-
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stimmtheit möglicher Kooperation, die politisches und rechtliches framing nahelegt.8 Dadurch wird die kollektive Entscheidung über die Kooperationsform aber nicht zu einer willkürlichen. Im Gegenteil: Wenn man die prinzipielle Unterbestimmtheit von Kooperation anerkennt, Kooperation aber gleichzeitig für normativ geboten hält, dann sind (ob durch explizite Vereinbarung oder durch kulturelle Evolution) etablierte Konventionen von großer normativer Kraft. Der Rechtspositivismus neigt dazu, diese Kraft zu überschätzen, die Naturrechtstradition neigt dazu, diese zu unterschätzen. Wir sollten uns daher das Reden von „bloßen Konventionen“ abgewöhnen. Konventionen können normative Kraft haben, denn wenn wir uns nicht an sie halten, gibt es in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen keine kollektive und kooperative Praxis. Man kann durchaus sagen, dass die Vielfalt der Rechtssysteme jedenfalls nicht vollständig durch substanzielle Unterschiede von Gerechtigkeitsvorstellungen verständlich zu machen ist (auch wenn diese gelegentlich eine Rolle spielen mögen), sondern als unterschiedliche Lösungen von solchen Kooperationssituationen, an deren Regelung alle ein Interesse haben, die aber durch unterschiedliche Regeln gelöst werden könnten. In solchen Situationen haben wir keinen guten Grund, eine spezifische Regel zu wählen, doch wenn die Situation einmal auf eine bestimmte Weise geregelt wurde, entfaltet diese Regelung im Weiteren normative Kraft. Analytische Philosophen wie David Lewis verstehen Konventionen als Lösung von reinen Koordinationsspielen9; d. h. nach Lewis kommen Konventionen ohne Normativität aus, sondern beruhen lediglich auf der Grundlage gemeinsamen Wissens, also Wissens darüber, was die anderen Beteiligten wissen, sowie deren Wissen über das eigene Wissen. Diese bis heute kanonische Analyse hat allerdings den Makel, dass sie sich auf reine Koordinationsspiele festlegt. Diese Verengung ist folgenreich, u. a. weil Lewis zudem behauptet, dass unsere gesamte Sprachpraxis konventionell ist. Lewis ist also darauf festgelegt, den Regeln, die unsere Sprachpraxis leiten, ihren normativen Status abzuerkennen – was mir ein offenkundiger Irrtum zu sein scheint.10 Kommunikationskonstitutive Regeln wie die der Wahrhaftigkeit verlangen ein Verhalten, das im Einzelfall den Interessen der kommunizierenden Person zuwider laufen kann. Eine Sprachgemeinschaft, deren Mitglieder nur dann wahrhaftig wären, wenn ihnen dies zum Vorteil gereichte, würde nicht lange Bestand haben – die Bedeutungen der Ausdrücke gerieten ins Rutschen, das wechselseitige Vertrauen würde erodieren und der einzelne kommunikative Akt seinen Wert als Mittel der Kooperation einbüßen.11
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David Gauthier hat dafür argumentiert, dass es nur eine Form der fairen und rationalen Kooperation gibt, nämlich die Befolgung des principle of relative maximin concession, siehe D. Gauthier, Morals by Agreement, 1987. Dieser Reduktionismus scheint mir trotz Gauthiers beeindruckender Argumentation nicht überzeugend. 9 Siehe D. Lewis, Convention: A Philosophical Study, 1969. 10 Siehe J. Nida-Rümelin, Humanistische Reflexionen, 2016, Teil IV. 11 Eine ähnliche Position vertritt Michael Tomasello in M. Tomasello, Origins of Human Communication, 2010.
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III. Normativer Realismus in Moral und Recht 1. Kritik des normativen Subjektivismus Ich hatte angekündigt, dass ich zwei vermeintlich unvereinbare Ansätze miteinander verbinden will, nämlich einen erkenntnistheoretischen Kohärentismus und einen metaethischen Realismus. Hierfür will ich noch einmal an den Ausgangspunkt meiner Argumentation zurückkehren. Der ethische Subjektivismus, der die analytische Philosophie nach George Edward Moore prägt12 (für welchen aber übrigens auch Max Weber eine wichtige Rolle gespielt hat13) versucht, normative Stellungnahmen generell subjektivistisch zu interpretieren. Letztlich scheitert dieser Versuch – wie ich dargelegt habe – aber an der Form unserer normativen Diskurse, jedenfalls dann wenn man unsere lebensweltliche ethische und juridische Praxis ernst nimmt.14 Argumente dafür, unsere lebensweltliche Praxis ernst zu nehmen, finden wir unter anderem bei Ludwig Wittgenstein. In dessen letzten Aufzeichnungen „Über Gewißheit“ finden sich einfache, aber eindringliche Formulierungen zu dieser Frage, etwa dass jemand, der unter Normalbedingungen vor einem Baum steht und bezweifelt, dass dort ein Baum stehe, kein philosophisches, sondern ein psychologisches Problem habe. Und Wittgenstein hat recht: „Der vernünftige Mensch hat bestimmte Zweifel nicht.“15 Eine Philosophie, die versucht, alles in Frage zu stellen, entzieht sich selbst die Basis jedes vernünftigen Diskurses. Den methodischen Zweifel kann man als didaktische Spielerei im Oberseminar anwenden (und etwa – ein gerne durchexerziertes Beispiel – an der Existenz von Fremdpsychischem zweifeln). Aber in dem Moment, in dem wir das philosophische Oberseminar verlassen, sollten wir mit solchen Fragen aufhören. Und dies gilt für faktische Fragen ebenso wie für normative: Wir sollten nur dort Zweifel haben, wo es Gründe gibt, zu zweifeln. Wenn wir die diskursive Praxis, deren Teil wir sind, ernst nehmen, können wir gar nicht anders, als sie im folgenden Sinne realistisch zu interpretieren: Wann immer wir versuchen herauszufinden, was für eine Überzeugung, eine Handlung oder eine emotive Einstellung spricht, versuchen wir nicht herauszufinden, welche subjektive Präferenzen wir haben. Stattdessen versuchen wir herauszufinden, ob sie rational sind, ob sie auf zutreffenden normativen Überzeugungen beruhen.
12 Siehe G. E. Moore, Principia Ethica, 1903. Moore selbst ist natürlich als Kritiker des ethischen Subjektivismus hervorgetreten, siehe G. E. Moore, Ethics, 1912, Kap. 3 und 4. 13 Siehe M. Weber, Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1922 (1904), 146 ff. 14 John Mackie, ein analytischer Wissenschaftstheoretiker hat das – folgenreich – in Ethics, Inventing Right and Wrong, konzediert, womit die Camouflage subjektivistischer Metaethik als Sprachphilosophie zu Grabe getragen war, siehe J. L. Mackie, Ethics. Inventing Right and Wrong, 1977. 15 L. Wittgenstein, Über Gewissheit, 1984 (1958), § 220.
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2. Realismus ohne Ontologie Dies sage ich lediglich aus einer epistemischen Perspektive, d. h. ist stelle hier da, wie wir kommunizieren und urteilen. Damit will ich keine ontologische Auffassung vertreten. Tatsächlich bin ich der Meinung, dass die Frage, was ist, d. h. was „eigentlich“ existiert, außerhalb eines etablierten Diskurses in die Irre führen muss. Obwohl ich für eine realistische Interpretation unserer normativen Diskurse plädiere, ja eine solche für unumgänglich halte, bleibe ich also ontologisch agnostisch. Wir müssen uns auf eine deskriptive Metaphysik im Sinne Peter Strawsons beschränken, die analysiert welche Präsuppositionen unsere Diskurse haben.16 Denn metaphysische Annahmen haben keinen begründenden Status, sie können das philosophische Gedankengebäude nicht tragen, sie sind allenfalls Abstraktionen aus konkreteren – in diesem Fall normativen, moralischen und juristischen – Diskurspraktiken. In diesem Zusammenhang möchte ich mich von einer nahestehenden, aber letztlich doch ganz anderen Position abgrenzen. Diese wird unter anderem von John Rawls17, Jürgen Habermas18, Christine Korsgaard19 und Onora O’Neill20 eingenommen und seit den Dewey-Lectures von Rawls im Jahr 1980 als „Kantian Constructivism“ bezeichnet. Der Kantianische Konstruktivismus steht meinem metaethischen Realismus insofern nahe, als er auf den Austausch von Gründen vertraut und universalistisch ist. Der zentrale Dissens ist seine Identifikation von normativer Geltung mit idealer Begründbarkeit und seine Ablehnung normativer Tatsachen. Diese werden durch allgemeine Bedingungen der Kommunikation (Habermas), politischer Gerechtigkeit (Rawls), personaler Identität (Korsgaard) oder menschlicher Handlungsfähigkeit (O’Neill) ersetzt und als Fortschreibungen Kantischer praktischer Philosophie präsentiert. 3. Normativer Realismus und Motivation Was ich vertrete, ist gewissermaßen ein Realismus ex negativo. Dieser besteht in zwei Hauptthesen: 1. Wir sollten unsere normative ebenso wie unsere deskriptive Diskurspraxis ernst nehmen. 2. Wir sollten auf konstruktivistische oder epistemische Wahrheitsdefinitionen verzichten, da diese unserer intuitiven Interpretation von Gründen nicht gerecht werden. Dies ist ein Realismus ohne Ontologie, ohne Metaphysik, ohne foundationalism – oder, wie ich ihn nennen möchte, ein unaufgeregter Realismus. Wie oben bereits dargelegt: Vernünftige Menschen bezweifeln bestimmte Dinge nicht.
16 Siehe P. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, 1959. 17 Siehe J. Rawls, Political Liberalism, 1993 und ders., Kantian Constructivism and Moral Theory, in: S. Freeman (Hg.), Collected Papers, 1999, 303 ff. 18 Siehe J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 1999. 19 Siehe C. Korsgaard, The Sources of Normativity, 1996 und dies., Self-Constitution. Agency, Identity, and Integrity, 2009. 20 Siehe O. O’Neill, Constructions of Reason. Explorations of Kant’s Practical Philosophy, 2000.
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Gegen diese Position wird (als vermeintlich schlagendes Argument gegen alle Varianten des normativen Realismus) eingewendet, dass eine realistische Interpretation normativer Gründe nicht verständlich machen könne, warum uns unsere normativen Gründe in der Regel motivieren. Die motivationale Kraft unserer normativen Gründe einfach erklären zu können, sei das Prärogativ subjektivistischer Positionen.21 Dieses vermeintlich so schlagende Gegenargument beruht jedoch auf Annahmen, die wenig plausibel sind. Wir dürfen den normativen Realismus nicht mit Deskriptivismus bzgl. der Bedeutung von „gut“ oder von „Sollen“ verwechseln. Normative Gründe bleiben auch in realistischer Interpretation normativ, sie sprechen zum Beispiel für Handlungen, daher heißt einen Handlungsgrund zu akzeptieren unter normalen Bedingungen auch ein Motiv zu haben, die betreffende Handlung zu tun. Dies gilt übrigens auch für theoretische Gründe, d. h. für Gründe für Überzeugungen – auch diese beinhalten ein Motiv sich diese Überzeugung zu eigen zu machen. Das vermeintliche Gegenargument beruht also entweder auf einer (weit verbreiteten) Verwechslung von normativem Realismus mit Deskriptivismus oder auf der irrigen Annahme, normative Gründe könnten nicht intrinsisch motivieren. Das erste Problem lässt sich durch Begriffsklärung beheben, das zweite durch empirische Psychologie. IV. Schlussbemerkung: realistische Wahrheit und kohärentistische Begründung Wir müssen deutlich unterscheiden zwischen theoretischer wie praktischer Begründung und empirischer wie normativer Wahrheit oder Richtigkeit22. Die Begründungspraxis ist immer bezogen auf Überzeugungen, sie ist darauf gerichtet, ungewisse oder umstrittene Überzeugungen gewisser zu machen oder – allgemeiner gesprochen – die Kohärenz unserer Überzeugungen intra- wie interpersonell zu sichern und damit die Stimmigkeit zwischen unseren Überzeugungen zu gewährleisten. Dabei kommen inferentielle Regeln ins Spiel (also Regeln des Schließens, der logischen Beziehungen), die oft, aber nicht immer, unumstritten sind. In diesem Rahmen finden Begründungen statt und eine Begründung ist pragmatisch erfolgreich, wenn sie dazu führt, dass ein Dissens unter Rekurs auf gemeinsame Überzeugungen und gemeinsame inferentielle Regeln behoben wird. Alles Begründen hat ein Ende – in unumstrittenen Überzeugungen und Regeln, also darin, was Wittgenstein als (geteilte) „Lebensform“ bezeichnet. Die Rechtspraxis geht auf dieselbe Art und Weise vor: Sie beginnt bei unumstrittenen normativen Überzeugungen (die sich auf Rechte und Pflichten von Personen beziehen) und versucht dann unter Rekurs auf Regeln, die allgemein akzeptiert sind, zu klären, wie man einen normativen Konflikt auflösen kann. Das ist eine Begründungspraxis, die immer insofern ein relativistisches Element hat, als sie 21 Diese Position hat einflussreich Bernard Williams vertreten, siehe B. Williams, Internal and External Reasons, in: ders., Moral Luck, 1981 (1979), 101 ff. 22 Siehe Nida-Rümelin (Fn. 10), Teil I.
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pragmatisch abhängig von epistemischen, empirischen, normativen und kulturellen Kontexten ist, die selbst nicht mehr in Frage stehen. Zudem heißt das nicht, dass das Ergebnis des Diskurses Wahrheit oder normative Richtigkeit definiere, denn auch die Rechtspraxis muss fallibel bleiben. Wahrheit und Begründung sind zwei sorgfältig zu unterscheidende Größen und die epistemische Perspektive, für die ich plädiere, ist der natürliche Realismus, der in diese Diskurspraktiken eingebettet ist. Wir sollten uns gegen Rekonstruktionsversuche wehren, die diesen Gehalt gefährden, wie zum Beispiel den Konstruktivismus oder gar den Naturalismus. Kohärentismus wird hier verstanden als ein telos, das nicht von außen an Begründungspraktiken – juristische und moralische – herangetragen wird, sondern ein inhärentes telos dieser Praktiken selbst ist, kein ergon, sondern eine energeia im Sinne der Nikomachischen Ethik des Aristoteles23. Kohärentismus wie Realismus werden hier verstanden als Merkmale der normativen Begründungspraxis selbst. Die epistemische Perspektive zwingt zu einer realistischen Interpretation der Inhalte unserer normativen Diskurse. Diese präsupponieren einen realistischen Wahrheitsbegriff und einen kohärentistischen Begründungsbegriff. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D. Ludwig-Maximilians-Universität München, Seminar für Philosophie, Lehrstuhl für Philosophie IV, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München
23 Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, hg. von G. Bien, auf Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes, 2010, Buch I.
Is Legal Science Possible? Martti Koskenniemi1, Helsinki
I. Jhering’s question The question I have been invited to address – “Is legal science possible” – makes sense only in the English language. In German – ist Rechtswissenschaft möglich – it is trivial. Of course Rechtswissenschaft is possible. We are all Rechtswissenschaftler, our universities teach Rechtswissenschaft, and have done so for many years. This is also my Finnish outlook on the question. The word of that which is being taught at universities – oikeustiede – contains the word “science”. But I suppose we do feel some ambivalence about the matter. Jurists are not usually called “scientists” – “Wissenschaftler” – unless perhaps when we are employed by the university. In courts, public administration, companies or civil society associations we are “lawyers” or “jurists”. Our “law-jobs” are not regarded “science”. Give advise on a contract, produce an interpretation of a law-text, defend a client. It is not even applied Rechtswissenchaft. It is a “practice” although it is often hard to say what that is supposed to mean. Work in a chemical laboratory, too, is a “practice”, but still perhaps “science”. Moreover, both have to do with “laws” – but we accept that there is a big difference between natural and human laws. Those who occupy the former, are “scientists”, those who occupy with the latter – well, perhaps legal “experts”. These linguistic phenomena reflect different cultural attitudes towards law in its relationship to other forms of abstract human endeavour. This does not necessarily mean that there is no point in asking “ist Rechtswissenchaft möglich?” Something significant is being relayed by the question. It touches an anxiety. Imagine a negative response: “nein, Rechtswissenschaft ist unmöglich”. That would be worrying. Something is at stake in a positive answer. It is important that law can at least under some conditions be regarded as “science”. Science has authority. This authority has to do with the access it seems to open to what is true, or at least verifiable in some inter-individually valid process, instead of merely imagined or desired. If law were not a “science”, how could it possibly claim authority in directing the ways people lead their lives? We succumb to the demands of “real” science – give up smoking, for example – because of the truth that the science of medicine communicates about the effects of smoking on health. Is eco1
For the purposes of this publication, I have preserved some of the spoken character of the address.
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nomics a science? Many people would say it is. Economics has quite a bit of authority in our societies. Why? As Aristotle once put it, scientific knowledge is knowledge about necessary things, things that cannot be otherwise than they are.2 This is how economists speak. They are happy to say that economic laws do not necessarily reflect any actually existing society, that they use simplified models. But the truth of those models – the way they connote laboratory experiments – enables economists to perform as scientists whose participation in the direction of our lives is felt as somehow important or even necessary. The theory of the general equilibrium may not be “real” but it is still “true” and will therefore be part of any serious macroeconomic planning. The truth of the model reflects immediately on the authority of the model-user. And the complexity of the model disqualifies others than economists from having that kind of authority. The question about science is thus always also (and perhaps more importantly) about the authority of some people (the “scientists”). The anxiety among some lawyers is about loss of authority, a nagging suspicion even among lawyers that when we speak, we just express opinions, unlike economists, digital experts, game theorists, neuroscientists, cognitive psychologists. I want to take issue with that modesty tonight. The question of my title is inspired by the famous Antrittsvorlesung by Rudolf von Jhering in Vienna from 1868 – on the year of its 150th birthday: Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Jhering began with an expression of anxiety: “What possible justification”, he asked, “does the study of positive law have as science when it is dependent on the whim of the legislator”? Where what was true yesterday, has today become false. Jurisprudence did not speak about necessary things, but about opinions. And they change. But his anxiety was not so much about the whims of the legislator as about a spirit that had invaded legal practice that merely studied black-letter laws – “das dürre, todte Gesetz”. This turns the judge into “ein willenloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie”.3 But theory fared no better, having flown into the sky of weltfremd conceptual abstractions where nobody could seize its meaning. A decision automaton or a builder of castles in the air? Both were dangers that Jhering saw around himself and analysed as offshoots of something he went on to call “positivism”. Here was the enemy: “Der Positivismus ist der Todfeind der Jurisprudenz”.4 In the mid-19th century law’s scientific status was of great concern. Jhering knew that to address the question one needed to bear in mind that views on what constituted “science” had varied across the centuries. When the European university was born in Northern Italy at the turn of the 12th century the scholastic dialectic of the law school gave the model of “science” to theology, arts and medicine. As a “higher faculty”, law possessed a practical orientation, applying its truths to the world and learning to think of itself as “civil science” (scientia civilis). This is still true of course. Since then, however, scholasticism received a bad name. Like others, Jhering indicted the glossators as 2 3 4
Aristotle, The Nicomachean Ethics, ed. by D. Ross, 1980, VI.3 (140). R. von Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Jherings Wiener Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868, 1998, 50. Id. 52.
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enchanted by a dead law – Roman law – that failed to engage with the commercial and political life of early modern society. (This was, by the way, probably unjust – civil lawyers were busy contributing to the demise of the feudal mode of governance). Jhering wanted to move away from law as a science of something that was to be “found” in the logic of legal concepts to something that was constantly being constructed by human beings. He viewed law as something grand. When legal science grasped law, it studied nothing less than freedom in the process of its formation and articulation. Legal science was not only a science of legal evolution; through legal history and legal philosophy it would actually contribute toward cultural progress – “von Stufe zu Stufe zur höheren Vollkommenheit sich zu erheben”.5 I think Jhering’s project has by and large succeeded. We have all learned to think of positivism as “Todfeind der Jurisprudenz”. We share the critique of legal practice as “subsumption machines” and shun away from theory as “weltfremd” abstraction. Hence the turn to hermeneutics in late 20th century jurisprudence – imagining law rather as art (especially the art of interpretation) than science. But this view has also been challenged, more recently by the opposite directions of law and economics and critical legal studies. In the following I would first like to make a few remarks on how the urge of law to be a science led it to thinking of itself in “soft”, cultural terms. After outlining the two criticisms of that move, I will try to describe law’s present encounter with science through interdisciplinarity and functional differentiation. This will enable me to characterise the question of science as one about authority, or truth regimes, as Foucault and Teubner have instructed us. Like Jhering I am worried about what happens to law in that encounter. Economics, environmental science and digital expertise – to give just some examples – speak about necessities, law only about opinions. If law starts to imitate them, what will become of its critical, normative pull? I am inspired in this discussion by the fact that today’s most significant political struggles for authority take place between different knowledges – law, economics, security, technology … I see three ways in which law might react to this predicament. It might try to buttress its quality as a truth regime on a par with other “sciences”; it might seek to adjudicate the claims of different truth regimes as a “constitution”; or it might provide a platform for reflection about the stakes in the choices: governance, constitution, critique. Jhering suggested it was necessary that “die Welt nicht durch abstrakte Regeln, sondern durch Persönlichkeiten regiert wird”.6 After the experiences with Persönlichkeiten in the 20th century, and maybe of the present, too, few would agree. But I think he was onto something when he suggested that lawyers needed a clear-headed, reflective posture – eigenes Denken – to engage with a world always in transformation.
5 6
Jhering (note 3), 92. ld., 87.
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II. Law’s scientific urge Let me first say something about the scientific urge. I think it is possible to trace law’s search for a method as pendulum movement between the ways it has understood itself either as soft reflection of things social and cultural or a hard instrument of rule. When Samuel Pufendorf in the late seventeenth century wanted to turn away from the soft casuistry of scholastic Aristotelianism, and to whisper with authority in the (German) prince’s ear, he chose to speak the language of mathematics. His analytical-composite method had two steps: break first complexity into its smallest particles, then reconstruct that reality out of those particles.7 Your authority shown by your ability to produce. He found three basic particles: 1) the fact of our self-love, 2) the fact of our vulnerability and 3) the fact of our ability to reason. When you mixed these three ingredients, and “imposed” them on the world, what you received were “moral entities” – such as the State – that could be studied – and of course operated – just like any other natural phenomenon.8 The glue that kept these entities together (the knowledge of which would lead to positions of authority) was “sociability”. This was neither given to humans at birth (Grotius), nor a chimera (Hobbes). Instead, it was a necessary, “scientific” truth given by society itself to its (scientific) observer.9 This algorithm was then developed in an empirical and a rational direction. The Rechtswissenschaftler at Göttingen began to imagine law as a Staatskunst and a Policeywissenschaft through which the State could be governed like a machine. The rational aspect was taken over by Christian Wolff in Halle who drew inferences from the what he imagined was the pursuit of perfection in everything.10 The algorithm of self-love, vulnerability and reason, equally applicable for both directions, would in due course be articulated in the most famous sentence in Adam Smith’s Wealth of Nations: “It is not from the benevolence of the butcher, the brewer or the baker that we expect out dinner but from their regard to their own interest”.11 At the end of the avenue of the scientific pursuit of natural law there was – economics.12 See especially S. Pufendorf, Two Books of the Elements of Universal Jurisprudence, edited by T. Behme, 2009. The term “mos geometricus” signified at this time either (1) a method that strived for clarity and systemic coherence as well as the postulation and derivation of concepts and axioms, or (2) precisely the analytical-composite approach that Pufendorf would use in both of his major natural law works. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, 1972, 282–283. 8 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium, Libri octo, Vol. II, translation on the basis of the 1688 edition by C. H. and W. E. Oldfather, 1934, I I, 3–14. For the scientific urge behind Pufendorf ’s presentation of natural law, see e. g. K. Saastamoinen, The Morality of the Fallen Man. Samuel Pufendorf on Natural Law, 1995, 54–62. On Pufendorf as founder of an autonomous “Geisteswissenschaften”, see e. g. S. Goyard-Fabre, Pufendorf et le droit naturel, 1993, 47–65. 9 For Pufendorf ’s “scientific” method in its contemporaneous context, see H. Denzer (note 7), 35–58 and 279–296. 10 The best introduction remains N. Hammerstein, Ius und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, 1972. See also I. Hunter, Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in early Modern Germany, 2001. 11 A. Smith, Wealth of Nations, Books I–III, 1999, Bk I Ch I (119). 12 See my ‘The Transformations of Natural law: Germany 1600–1800’, in: A. Orford / F. Hoffmann, The Oxford Handbook of The Theory of International Law, 2016, 70–72. 7
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The search for scientific hardness also crashed into Kant. Trying to defend itself pure reason had only more pure reason to invoke, its logic was that of old Baron Münchhausen. And empirical generalizations about particles ignored the intellectual frames through which some things were seen as “particles” and combined in meaningful syntheses. Since then, jurists have tried to make jurisprudence a science by imagining it either as a study of the objective facts of society or rational ideas of justice. Both have ended up in circles.13 Society, it is said, makes “demands” or sets “requirements”. Yet, however rational the arguments about cooperation, or however credible the evidence about interdependence, the debates have remained stale and have done nothing to bridge gaps between antagonists. It seems that no matter how powerful a notion of “society” you possess, people experience the reality to which it is addressed differently. The necessity of a nuclear power plant or the usefulness of a free trade treaty will be viewed differently by foreign investors and environmental activists no matter how authoritative the sciences that go to argue about such matters. In fact, the science supporting the opponent will seem utterly political. Scientific authority does not depend on either ideas or facts alone. The former reduction will give us normative axioms – democracy, rule of law, transparency, equity, proportionality – whose content cannot be verified in an inter-individually valid fashion. And facts either depend on the perspective from which they are chosen and seen or they are just pure power that is articulated not by law but by by sociology or anthropology.14 But law is not factuality – it poses demands to factuality. It has to involve an idea about something that does not yet exist. This is where it meets with the verification problem – a problem that it often tries to deal with by grounding itself in some historical fact about the emergence of that “idea” (for instance the fact of its past acceptance). But why would the past bind the present? And whose interpretation of that past should govern us? While ideas and facts appear to give radically different avenues for legal method, they also rely on each other: facts produce leading ideas, that again allow the choice of relevant facts. Whatever the methodological choice, the bedrock of scientific solidity remains out of reach. III. Functionalities of governance Jhering knew as much. Law was neither facts nor ideas but Rechtsgefühl. Its scientific character lay not in the verifiability of its results but in the process it was derived. Studying law in Finland in the 1970s, we read Hans-Georg Gadamer to understand legal objectivity as a “fusion of horizons” – such that historical knowledge at best produced. 13 This is the basic claim of my From Apology to Utopia, The Structure of International legal Argument, 2005. 14 Typically, Bourdieu’s famous analysis of the operations of the “legal field” makes a distinction between “jurisprudence” with which he associates most modes of legal normativity and a “rigorous science of the law” such as his own, which takes the former as its object, ‘The Force of Law: Towards a Sociology of the Juridical Field’, 38 The Hastings Law Journal (1987), 814.
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And we read Ronald Dworkin on law as a chain novel.15 What we knew of “science” came from Paul Feyerabend and Thomas Kuhn. Instead of truth, paradigms, incommensurability, accident, rhetoric and persuasion. Truth was neither pure facts nor pure ideas but an aesthetic “fit”; a kind of Gesamtkunstwerk. I remember how stunned I was to read one of the most admired judges in the ICJ write that law was not science but art.16 What on earth was he doing in The Hague? But judges are no artists; legal hermeneutics is an invitation to New Age.17 Something more mundane took place in judicial decision-making. First, isolate “extreme positions” in your field– often characterised as a principle and a counter-principle – then find a “balance” between them to proceed to a decision. This was a moderate attitude that always looked for compromise: neither objective nor subjective, but something in between. Neither ratio nor voluntas, naturalism nor positivism, but always a “reconciliation”. The appearance of controllability was a rhetorical effect that followed from the routine rejection the extremes and “finding” the middle exactly where previous judges had found it.18 The rule of law became deference to the structural bias of the institution while the intellectual randomness of the process was only hidden by the predictability of its results. In the 1990s and the first decade of the 2000s two powerful reactions arose to meet this liberal-humanist turn. On the right, law and economics demonstrated that instead of looking for an impressionistic “fit”, the “balance” could also be calculated by the help of economic modelling; law could imagine itself as part of the functionality of governance, a tool in the toolbox for rule. Law would not be so much about (normative) choices as about the employment of techniques to attain efficient outcomes. Game theory, rational choice and institutional design would become aspects of a renovated legal “science”, purified of impressionism, it would for the first time try out that name also in an Anglo-American context. On the left, all this was just new coating on an old cake, politics and value-choice by other means. Law was a strategic instrument – lawfare. Jurisprudence could only train lawyers as soldiers of particular preferences, but it would have nothing to say about what those preferences were. Adversaries agreed that the (liberal) centre had collapsed, or if not quite yet, the sooner the collapse, the better. Since then, most law and economics, and much of CLS, too, though much less openly and mostly by default, have turned into one type of functionality or other. IV. Solipsism and imperalism What is law as a functional regime? Instead of formal rules, you measure degrees of legitimacy; instead of formal breach, assess the costs of non-compliance, instead of formal validity, think about effectiveness, instead of government, governance, managerial 15 16 17 18
The influence of Georg Henrik von Wright and Aulis Aarnio on Finnish legal theory has been enormous. R. Jennings, General Course on Principles of International Law, 121 Receueil des cours (1967), 544. D. Kennedy, ‘The Turn to Interpretation’, 58 Southern California Law Review (1985), 1. D. Kennedy, Critique of Adjudication (fin-de-siècle), 1997.
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control, efficiency gains and legal subjects as customers of governance.19 The centre of my own field – international law – has almost collapsed with the proliferation of technical regimes – trade law, investment law, human rights law, environmental law, cyber law and so on. Law turned into expert systems with their own vocabularies, institutions and systems of preference. These are not just epistemic communities but armies in a struggle for authority: who can determine, in the mass of things of which society consists, what is relevant and what is not, where should scarce resources be directed?20 Solipsism and imperialism simultaneously. Solipsism because functional regimes understand the world only through their vocabularies. For an environmental lawyer, every problem is an environmental problem, requiring the application of environmental knowledge. A trade lawyer’s world is full of obstacles to free trade while cyber lawyers see threats to computer networks everywhere. My world as [the centre of] the world.21 But also imperialism. Because my solutions are based on knowledge, and respond to the criteria of “science”, they are not only true for me but to everyone. The search for science through specialization is a search for universalization: to be able to claim that one’s truths are also the general truth. And once my truths become the general truth, I get to rule. Which means that functional differentiation is not only a technical, but above all a political project. Should this matter be allocated to the environmental or to trade experts? Pushed into the security system or the human rights system? Once we know who will decide, we already know what the decision will be. Ask the best experts in investment and human rights law about the proposed treaty on Transatlantic Trade and Investment – TTIP – and you will find that their expertise informs them differently. Differently, but predictably so. For Jhering, no doubt, functionalism would have seemed just another name to the effort to become a subsumption automaton: as if regime-science were coherent and policy-determining in its own right. Jhering’s characterization of the positivist jurist seem still appropriate. “Die Gefahr der inneren, der geistigen Abhängigkeit … ein willenloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie zu werden”22. Only this time it is not the Rechtsmaschinerie but the “Wissensmaschinerie” that demands the service, a re-orientation of legal thought and practice not at the service of the state, but of the regime of knowledge. Here, if anywhere, Montesquieu’s characterisation of the lawyer would become applicable: “la bouche qui prononce les paroles du … regime”. Objectivity, verifiability, neutrality. The science would speak, not the lawyer. But I do not think this is true of any science, any knowledge-regime. Let me just lightly invoke an experience from the academic everyday. 19 I have discussed this in many places, for example in: ‘Miserable Comforters: International Relations as New natural Law’, 15 European Journal of International Relations (2009), 395–422. 20 See further D. Kennedy, A World of Struggle, 2016. 21 The “fragmentation” of what was previously imagined as an international “system” into global functional regimes in constant struggle with each other is of course one of the most discussed phenomena of sociologically inclined studies. For a recent overview, see K. Blome / A. Fischer-Lescano / H. Franzki / N. Markard / S. Oeter, Contested Regime Collisions. Norm Fragmentation in World Society, 2016. 22 Jhering (note 3), 50.
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Many of us have met the fetish of science at our universities in the call for interdisciplinarity. Lawyers should talk to “real” scientists, economists, sociologists, political theorists, anthropologists, theologians. For “is it not actually the economists, the sociologists, the psychologists who know society” (we often think silently)? After all, we know that law is fundamentally uncertain and weak, its theorists in complete disagreement even about the basics. What is law? Normative principles or behavioural regularities? Ideas or facts? Insecurity inspires the hope to learn from colleagues in the other faculties, so confident in their practices. False impression. For once we learn a little more of those other fields we find that they are just as uncertain about their own status, just as riddled by internal disputes, their best experts in equally puzzling disagreement about the very fundamentals, especially the fundamentals. Imagine an interdisciplinary conference. During the day, everyone speaks with all the confidence provided by the best academic education, disciplinary truths laid out on the interdisciplinary smörgåsbord. But things change after the conference dinner, a few glasses of wine, maybe a calvados – one begins to hear anxiety “well, actually my field is completely at a loss about the fundamentals. If you only knew the infighting … Our practices operate reasonably well. But why they do, and whether they are the right practices, we just have no clue”. The words “crisis” and “paradigm shift” occur repeatedly. Whatever the field. Confidence in the day – anxiety at night. Imagining law as a (functional) science emerged as a reaction from the political right to the soft, culturally inclined speculations of legal hermeneutics. On the left, the functional turn was seen as an effort to support the (liberal) status quo and was met by the cry “Let’s politicize it”! The difficulty here was that no substantive realm of “politics” was found, no authentic, or raw experience in which the “truly political” could emerge and be employed. Every “political” position, every value and interest was already contaminated by scientific and technical assumptions. Pity the politician who cannot invoke science to support his cause! Like the jurist, the politician hates to speak mere “opinions”; truths are needed. But the worrying experience was that every politician worth their salt was able to find a technical report or a scientist of some denomination to support their cause. This was precisely because scientific regimes are in the end like law, each divided between an orthodoxy and a heterodoxy, with equally competent experts disagreeing. (This was worrying because it gave rise to the populist loss of faith to every expertise – if you do not know something completely, then you do not know it at all!) There was nothing to “politicize” because the sciences showed themselves always already political all the way down – at issue was “choice”, not application of an algorithm. Another ambition was to imagine law as constitution, deciding the jurisdiction of regimes. Which knowledge to decide on which issue? Many public lawyers think this way. But the proposal encounters at least two problems. First, a “sectorial constitutionalism” (the call to constitutionalise WTO law or human rights law or European law …) merely states the fragmentation problem in another vocabulary. An efficient functional regime is one whose “self-foundational” principles are precisely those that seek to con-
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stitutionalise it.23 But if constitutionalism tries to avoid its dependence on the regimes, it will have to invoke its autonomy in a way that will undermine its claim to authority. In today’s Europe, for example, constitutionalism stands for a series of propositions about how to organise government that large groups reject. Why should those people, with their typically social-democratic preferences rule us? V. Choice and responsibility But perhaps, in order to finish in a more uplifting way, I can follow Jhering and develop a suggestion for a special role for legal science in the struggle of the faculties. Jhering was concerned that positivism led to “Die Flucht aus eigenem Denken”.24 It is easy to agree with this today. The effort to turn law into a “science” in the managerial voice of objective neutrality aims at escaping from subjectivity and opinion. The person would vanish, as would the responsibility of that person. “Oh it is not me who decides this, it is the truth that speaks”. What else is this than positivism? But to find the way to “eigenes Denken” is hard, and especially hard in a world where we have learned that subjectivity – that which we believe is most “ours” – is, among other things, a product of the professional and scientific discourses in which the self participates. How to speak authoritatively in those vocabularies, but nevertheless preserve distance from them – together with the sense of personal responsibility for what one does? In thinking about “eigenes Denken” one could begin worse than by remembering Max Horkheimer’s distinction between traditional and critical theory, or Thomas Kuhn’s analogous contrast between normal science and scientific revolutions. I think about the former, as it exits the laboratory, in terms of functional, problem-solving business. When normal (legal) science enters the world, it is expected to contribute to the solution of social problems handed out to it by the powers that rule (or maybe finance) the regime-institutions. Trade law is expected to resolve trade problems identified as such by trade interests – for example, to do away with domestic policies understood as “trade distortions”. Similarly “security law” will work to break internet privacy because it is understood as a “security problem” and human rights lawyers insist on limiting allowable detention times because they constitute a “human rights problem”. When law becomes normal science, it weds itself single-mindedly in the service of the regime-purpose. And because the purposes of knowledge-regimes clash – as did the policies of states or political parties at an earlier moment – social conflict has today become a clash of knowledge-systems.
23 The “self-foundation” of functional regimes is contrasted with their constitutionalisation in G. Teubner, Constitutional Fragments. Societal Constitutionalisation and Globalisation, 2012, 42–45. Here I am thinking of the international law debates about the specific constitutions of (global) sectoral regimes. On the independent constitutions of global institutions, see further id. 51–59. 24 Jhering (note 3), 54.
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I have elsewhere described the transformation of international politics into a struggle for hegemony between these various knowledge-systems and the specialist jurists as engineers at the service of regime-objectives.25 At the law faculty, instrumentalization calls for ever more policy-relevance. When law becomes normal science, its authority will become dependent on its ability to show how the “problems” assigned to it can be resolved with the greatest efficiency and minimal cost. The novel vocabularies of governance and regulation are a notorious incident of such functional turn, pushing law into the realm of the empirical and the measurable. Normal science is obsessed with compliance, indicators and algorithms, the “application” of “models” of “institutional design” that might best serve the designated objectives. The goals of such science have always already been set, the direction decided and the resources allocated. The goals, or the way they have been set, are safely isolated within the world of unexaminable presuppositions. But there is a way to think about legal science as not problem-solving at all. What I think of as critical theory, or “revolutionary science” studies how things come to be labelled as problems in the first place. Much of the debate in law faculties, legal journals and “scientific” books is today determined by outside assessments of “relevance” created by journalistic descriptions about the “challenges” “we” now “face” described by buzzwords such as globalization, climate change, populism, refugee flows etc. Everybody thinks “terrorism” is hugely relevant while only few people seem concerned of the fact that 1 % of the world population possesses as much wealth as the rest 99 % combined.26 The latter datum lived a few days when it was reported, but led to no significant boost for legal research. And why is it that only when the first Middle Eastern or African migrants arrived at European shores, a “refugee crisis” was understood to have emerged, while the numbers pale into insignificance in view of the population flows in the third world.27 Just a few days before this writing, over 900.000 refugees from South Sudan were flocking across the border to Uganda in need of humanitarian assistance.28 Normal science produces policy-proposals on matters that seem interesting to regime-rulers – that is, well-resourced Western public and private institutions. But research that endorses eigenes Denken cannot rest content with solving “problems” other people have given. Its interest is not in producing policy-proposals but in asking how policy-proposals are produced in the first place? What, for instance, might make someone believe that a cyber attack qualifies (or does not qualify) as an armed attack under Article 51 of the UN charter and thus justifies retaliation by force? How do such and comparable opinions emerge as 25 M. Koskenniemi, Hegemonic Regimes, in: M. Young (Ed.), Regime Interaction in International Law. Facing Fragmentation, 2011, 305–324. 26 Oxfam, “Having it all and wanting more, report on inequality 2015”, http://policy-practice.oxfam.org.uk/ publications/wealth-having-it-all-and-wanting-more-338125?cid=rdt (accessed November 16, 2015). 27 The matter of how events get dubbed ”crises” and then begin to attract interest and funding among international lawyers, see H. Charlesworth, International Law. A Discipline of Crisis, 65 Modern Law Review (2002), 377–392. 28 Médecins sans frontières, http://www.msf.org/en/article/uganda-over-900000-south-sudanese-refugeesare-need-humanitarian-aid (accessed December 16, 2017).
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mainstream truths or are sidelined as marginal opinions? That is to say, critical law (and “revolutionary science”) would focus on how legal competence – the ability to produce professionally competent statements – is constituted.29 How something becomes an accepted “truth” in the discipline, is challenged and possibly dethroned? Today’s legal “normal science” comes in two ideal-typical forms. One is the “formalist” push to produce new interpretations of rules so as to fit them into some “new” social development. Typical research questions have the form: “what is the correct (best, most efficient, just) way to interpret the rule ‘R’”? Another, more “realistic” set of questions concerns the implementation of rules and the establishment of new rules to implement desired policies. These questions have the form “what is the correct (best, most efficient, just) way to implement rule ‘R’ or policy ‘P’? Such sociologically attuned research question would seek to find out what measures should be taken so as to reach a predetermined objective. The turn to “effectiveness” and implementation research provides examples the latter. Both types of research are of course current and will continue to have significance for the regimes in which they are conducted. But they involve two types of consideration that undermine their “scientific” pretensions and highlight the need for eigenes Denken. In the first place, the results of both types of normal science are constantly undermined by the very indeterminacy of the relevant law ‘R’ or the policy objective ‘P’ that the law is supposed to serve. Think about the PhD student who, after years of intense labour on some set of norms or social policies suggests a new interpretation of ‘R’ or a novel way to implement ‘P’. A little thereafter, at another university or law school, another student, studying exactly the same materials, produces a contrasting interpretation of ‘R’ or way to bring about ‘P’. A common enough occurrence – but terribly frustrating for the two young doctors (if they ever come to know of each other’s work), at least in case they ever believed that they had received their degree owing to the strength of their results, or the research that produced them. If legal science were only as good as the outcome (the interpretation or the policy recommendation) it produces, then it is clearly not very good science. It is weak and manipulable. But nobody – or nobody in his or her right mind – measures legal science like this. Lawyers constantly disagree, but that disagreement does not mean that only one of them is right (despite efforts to argue the contrary). Practising lawyers know this very well as they meet each other defending contrasting arguments without this putting to question their professional competence. Law is not a science of outcomes but a rhetoric in which we learn competent ways to draw from indeterminate materials the kinds of conclusions that seem relevant for this or that purpose – most commonly in order to help a client (broadly understood – the “client” may also be a political movement or a country). The kind of “normal science” depicted in these formalist and sociological modes is in fact not at all about outcomes. It is about demonstration of skill in types of craftsmanship of which legal practice consists. 29 A welcome recent study on how authority is created in a legal regime such as “cyber warfare” is L. Boer, International Law as We Know It. Cyberwar Discourse and the Construction of Knowledge in International Legal Scholarship, 2017.
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Critical legal research avoids the frustrations of normal science. It does not enquire about the right way to interpret ‘R’ or how to implement policy ‘P’. Instead it raises this question: What does one have to assume in order to believe that the rule ‘R’ should be interpreted in the way ‘X’ (rather than ‘Y’), or that it or the policy ‘P’, should be implemented in the way ‘Xa’ (instead of Ya)? The outcome is neither a new interpretation, nor a proposal for a policy implementation. Instead, the outcome is an account of the conditions under which interpretations, implementation decisions and policymaking take place. This kind of legal science is not instrumental. Its end-point is neither policy nor action but an understanding of the background conditions that have been put in place before interpretation and policymaking start – the framing ideas, the institutional hierarchies, the jurisdictional choices and the distribution of resources that condition what normal science can produce. It would not be a rehearsal for future adjudicative or policy-making tasks but a study of the biases that make adjudication and policymaking what they are.30 Critical legal science does not think of itself as a tool in some governance toolbox or other. Instead it examines the choice of the toolbox, and the perception of a “problem” underlying it. But it is likely to be more helpful also in interpretation and policymaking because it brings to the fore the role of choice and responsibility in both. For Jhering law’s scientific nature involved an understanding of both its practice and its theory. But he believed that practice came first, and that theory was an articulation of the Bewusstsein embodied in practice. All of this sounds manifestly right to me and precisely what critical legal science seeks to accomplish. By highlighting the indeterminacy of the materials with which science works and the consequent choice and responsibility of the jurist, it contributes to what Jhering calls “die Praxis zur Form des Bewusstseins erhoben”.31 But no institution is homogenous. Institutional practices are more unstable than we usually assume. By articulating the assumptions that sustain such practices critical science offers institutional actors an opportunity to ally with the minority view, and eventually to change the patterns of institutional decision and hegemony. It highlights the room for choice in even the densest system of functionally streamlined policymaking. In this way, it celebrates eigenes Denken. A legal science not committed to fixing interpretations and making policy-proposals would doubtless find itself in conflict with the ambitions of the neoliberal university. Its outputs could not be measured in easily quantifiable terms – indeed it would examine quantification as a disciplinary regime with dubious cultural and distributive consequences. It would refuse to think of science as rehearsal of management, and scientists as handmaids for managers. Instead it would survey the way managerial attitudes affect institutional choices – who wins, who loses? – with university administrations as one possible focus of its analyses. By describing the ways in which legal opinions become mainstream or wander into the margin, it contributes to the study of the cultural Bewusstsein in which lawyers, scientists and expert groups form their opinions and figure out their practices. In providing an intellectual – instead of managerial – approach to 30 For the notion of ‘structural bias’, see e. g. my From Apology to Utopia (note 13). 31 Jhering (note 3), 91.
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academic work, it might stand as an example to other disciplines in the way law operated in the 12th century university, to teach them to think about themselves not as mirrors of truth but as regimes for knowledge production and validation. I agree with Jhering that this requires close interaction between legal theory and legal practice so that both can contribute to the enlightenment that is the underlying compulsion of intellectual work. The question is not whether legal science is possible, but which of the many ideas of science lawyers have reason to adopt. Martti Koskenniemi Professor of International Law (University of Helsinki), Director, Erik Castren Institute of International Law and Human Rights, Box-4 (Yliopistonkatu 3), Fin-00014 University of Helsinki
Zur naturalistischen Erklärung rechtlicher Normativität Stefan Magen, Bochum
Ein Grundriss Die Normativität des Rechts zu erklären, ist eine Aufgabe der Rechtsphilosophie, die in jüngerer Zeit wieder verstärkte Aufmerksamkeit erfahren hat.1 Allerdings besteht ein grundsätzliches Problem in der Frage, was unter Normativität zu verstehen ist und damit das Explanandum der Erklärung bildet. Dieses Problem betrifft zunächst die ontologische Frage, ob die zu erklärende Normativität des Rechts eine irreduzibel nicht-empirische Eigenschaft darstellt (genuine Normativität) oder ob die Normativität des Rechts auf mentale, soziale und sprachliche Tatsachen reduziert werden kann (faktische Normativität). Die entsprechenden Standpunkte werden hier als ontologischer Normativismus bzw. Naturalismus bezeichnet. Das Problem betrifft weiter, und mit dem ontologischen Standpunkt zusammenhängend, die methodologische Frage, ob die Erklärung von Normativität eigene – philosophische oder verstehende – Erkenntnismethoden erfordert (methodologischer Normativismus) oder ob kausalwissenschaftliche Erklärungsmuster anwendbar sind (methodologischer Naturalismus), und wenn letzteres, in welchem Sinn solche kausalwissenschaftlichen Erklärungen als philosophische Erklärungen gelten können. Der vorliegende Aufsatz argumentiert in diesen Fragen für eine ontologisch wie methodologisch naturalistische Erklärung rechtlicher Normativität.2 Er geht dabei in 1
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Vgl. S. Bertea / G. Pavlakos (Hg.), New Essays on the Normativity of Law, 2011; J. Kaplan, Attitude and the Normativity of Law, Law and Philosophy 36, 2017, 469 ff.; A. Marmor / A. Sarch, The Nature of Law, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2015, ; F. Schauer, The Force of Law, 2015, 33 ff.; T. Spaak, Legal Positivism, Conventionalism, and the Normativity of Law, Jurisprudence, 2017, 1 ff. Für den Naturalismus in der jüngeren Rechtsphilosophie einflussreich: B. Leiter, Naturalizing Jurisprudence, 2007; vgl. auch ders. / M. Etchemendy, Naturalism in Legal Philosophy, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2017, ; A. Langlinais / B. Leiter, The Methodology of Legal Philosophy, in: H. Cappelen et al. (Hg.), The Oxford Handbook of Philosophical Methodology, 671 (677 ff.); aktuell D. Priel, The Possibility of Naturalistic Jurisprudence, Revus: Journal for Constitutional Theory and Philosophy of Law, im Erscheinen; zu dem einflussreichen Naturalismus in der skandinavischen Rechtsphilosophie T. Spaak, A Critical Appraisal of Karl Olivecrona’s Legal Philosophy, 2014.
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zwei Schritten vor: Ein erster, meta-philosophischer Teil erörtert, wie Normativität in einer naturalistischen Ontologie verortet werden kann und welche Konsequenzen eine naturalistische Methode für die Fragestellung und Vorgehensweise der Rechtsphilosophie nach sich trägt (A. Naturalismus als rechtsphilosophische Metatheorie). Die These ist hier, dass eine naturalistische Rechtsphilosophie den Anspruch aufgeben sollte, genuine Normativität zu erklären. Stattdessen sollte die Normativität des Rechts als eine kausale Eigenschaft von Rechtssystemen begriffen werden. Rechtssysteme werden dabei verstanden als „natürliche Arten“ (natural kinds) der sozialen Welt, die zwar keine metaphysisch notwendigen Eigenschaften aufweisen, aber von relativ beständigen, homöostatischen Eigenschaftsclustern geprägt werden (cluster-kinds). Der zweite Teil stellt den inhaltlichen Grundriss eines naturalistischen Rechtsbegriffs vor, und zwar auf der Grundlage von Theorien und Befunden aus der Spieltheorie, der Moralpsychologie, der Verhaltensökonomik und der theoretischen Soziologie (B. Recht als strukturiertes Netzwerk normbasierter Gleichgewichte). Die These ist hier, dass rechtliche Normativität eine emergente („neue“) Kausaleigenschaft von Rechtssystemen darstellt. Sie wird erklärt durch die sie konstituierenden Kausalmechanismen, nämlich spieltheoretische Verhaltensgleichgewichte, die von moralischen Präferenzen aufrechterhalten und durch sprachlich repräsentierte Normen koordiniert werden. Diese Kausalmechanismen erklären zugleich zentrale Elemente der Phänomenologie genuiner Normativität. A. Naturalismus als rechtsphilosophische Metatheorie I. Zur Ontologie rechtlicher Normativität: Genuine versus faktische Normativität Zunächst gilt es, die Interpretation des Explanandum „Normativität“ dahin zu klären, welche ontologischen Annahmen mit dem Begriff der „Normativität“ verbunden werden, und welche methodischen Implikationen daraus folgen. Die zentrale Frage liegt hier darin, ob Normativität (im Allgemeinen oder die des Rechts) eine irreduzibel nicht-empirische und nicht-kausale Eigenschaft darstellt (genuine Normativität) oder ob Normativität (im Allgemeinen oder die des Rechts) auf mentale, soziale und sprachliche Tatsachen reduziert werden kann (faktische Normativität). Je nachdem, ob man einen in diesem Sinne normativistischen oder naturalistischen Begriff von Normativität zugrunde legt, hat man es mit einem kategorisch unterschiedlichen Explanandum zu tun, was entsprechende methodische Konsequenzen nach sich zieht.
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1. Genuine Normativität als abstrakte Eigenschaft von Gründen Genuine Normativität, wie sie der Normativismus unterstellt, kann man vielleicht am besten als abstrakte (nicht physische) Eigenschaft von legitimierenden Gründen verstehen, wobei legitimierende Gründe in verschiedener Gestalt auftreten können, etwa als Normen, Pflichten, Werte, Regeln oder Prinzipien. Die Eigenschaft genuiner Normativität bleibt dabei auch dann eine nicht-empirische Eigenschaft, wenn sie physischen Objekten zugeschrieben wird,3 beispielsweise wenn das Leiden eines Menschen als normativer Grund verstanden wird, ihm Hilfe zuteil werden zu lassen. Legitimierende Gründe sind entsprechend nicht Teil der empirischen kausalen Welt, sondern rechnen, wie es oft heißt, zu einem abstrakten oder ideellen Reich der Gründe.4 Genuine Normativität kann dem Recht mithin nur zukommen, wenn es legitimierende Gründe zum Handeln enthält.5 Normativismus impliziert insoweit auch einen zumindest schwachen normativen bzw. moralischen Realismus.6 Von den Gründen, die einen Akteur faktisch motiviert haben und die insoweit für seine Handlung kausal waren, sind genuin legitimierende Gründe deshalb zunächst einmal zu unterscheiden7 (wobei beide Arten von Gründen zusammenfallen können, wenn der motivierende Grund auch ein legitimierender ist). Legt man das Konzept genuiner Normativität zugrunde, stellen sich für das Recht (und andere normative Tatsachen) unter anderem zwei Fragen, nämlich zum einen, in welcher ontologischen Relation genuine normative Sachverhalte zur empirischen sozialen Welt stehen, und zum andern, ob es nur eine oder mehrere Arten von Normativität gibt, und zu welcher das Recht gegebenenfalls gehört. Mehrere ontologische Relationen kommen hier in Betracht, die allerdings in der Rechtsphilosophie zu wenig diskutiert werden.8 Genuine Normativität könnte etwa ontologisch durch soziale Tatsachen konstituiert sein, sie könnte über sozialen Tatsachen supervenieren,9 sie könnte im Sinne starker Emergenz als neue Tatsache aus sozialen Tatsachen hervorgehen, mit diesen aber im Sinne einer Token-Identität verbunden bleiben (Eigenschaftsdualismus)
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T. M. Scanlon, Being Realistic About Reasons, 2014, 19. W. Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, in: H. Feigl / M. Scriven (Hg.), Minnesota Studies in the Philosophy of Science 1, 1956, 298 f.; Scanlon (Fn. 3); R. Wedgwood, The Nature of Normativity, 2007, 135 ff.; M. P. Wolf / J. Randel Koons, The Normative and the Natural, 2016, 61 ff. D. Enoch, Reason-Giving and The Law, in L. Green / B. Leiter (Hg.), Oxford Studies in Philosophy of Law, 2011, 1 ff.; Marmor/Sarch (Fn. 1); G. J. Postema, Coordination and Convention at the Foundation of Law, The Journal of Legal Studies 11, 1982, 165; J. Raz, The Authority of Law, 1979, 135 ff. Vgl. M. Roojen, Metaethics, 2015, 14. M. Alvarez, Reasons for Action: Justification, Motivation, Explanation, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2017, . Vgl. aber T. Gizbert-Studnicki, The Social Sources Thesis, Metaphysics and Metaphilosophy, in: P. Banas et al. (Hg.), Metaphilosophy of Law, 2016, 121 ff.; L. Kähler, Kelsen and the Problems of the Social Fact Thesis, in: P. Langford et al. (Hg.), Kelsenian Legal Science and the Nature of Law, 2017, 23 ff.; A. Marmor, Farewell to Conceptual Analysis (in Jurisprudence), in: W. Waluchow / S. Sciaraffa (Hg.), Philosophical Foundations of the Nature of Law, 2013, 209 ff.; aus der sozialen Ontologie auch B. Epstein, The Ant Trap, 2015, 88 ff. Scanlon (Fn. 3), 16 ff.; Wolf/Koons (Fn. 4), 61 ff.
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oder genuine Normativität könnte eine von sozialen Tatsachen unabhängige Existenz besitzen (Substanzdualismus).10 Intensiv diskutiert, wenngleich nicht unter diesem Stichwort, wird die zweite Frage, nämlich ob das Reich der guten Gründe (oder anderer normativer Objekte) ein einheitliches Reich bildet oder Provinzen unterschiedlicher Arten von Normativität umfasst. Besonders folgenreich für die Rechtsphilosophie ist diesbezüglich, ob als genuine Normativität für das Recht nur die spezifische Normativität moralischer Gründe in Betracht kommt oder beispielsweise auch die Normativität instrumenteller Gründe, wie sie etwa einer entscheidungstheoretischen Rationalität der Nutzenmaximierung zugrunde liegen. Nicht selten wird unausgesprochen unterstellt, legitimierende Gründe für Handeln könnten in Bezug auf das Recht nur moralische Gründe sein. Dann ist der Streit zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht zugleich ein Streit darüber, ob dem Recht genuine Normativität zukommt oder nur faktische. Denn ohne moralische Wahrheiten sind legitimierende Gründe nicht zu haben. Zieht man dagegen auch instrumentelle Rationalität als Quelle legitimierender Gründe in Betracht, könnte das Recht durchaus eine genuine, aber nicht moralische Normativität aufweisen, nämlich insofern es instrumentell rationale Gründe für Handeln bereitstellt. Instrumentelle Rationalität als Quelle genuiner Normativität kommt insbesondere in Betracht, wenn man Recht als Nash-Gleichgewichte in Koordinationsspielen betrachtet (sog. Lewis-Konventionen).11 Das Recht hätte dann einen Platz im Reich der Gründe – und damit Normativität –, läge aber in einer anderen Provinz als die Moral.12 Die Frage nach einer genuinen Normativität positiven Rechts wäre dann von dem Problem moralischer Bedingungen für Rechtsgeltung und damit von der Naturrechtsfrage entkoppelt, und hätte stattdessen die Form eines Streits über die Art der legitimierenden Gründe, die das Recht vermitteln kann. 2. Faktische Normativität als Phänomen der kausalen, raumzeitlichen Welt Im Gegensatz zum Normativismus geht die hier vorgestellte naturalistische Erklärung rechtlicher Normativität von Annahmen aus, die genuine Normativität in dem vorgenannten Sinn als Explanandum ausschließen. Diese Annahmen sollen nur explizit gemacht, aber nicht begründet werden.13 Ontologisch wird hier davon ausgegangen, dass sich die Welt, oder was existiert, in der kausalen raumzeitlichen Welt erschöpft. Existenz 10 Vgl. H. Robinson, Dualism, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Ziff. 2.2 f.; . 11 D. Lewis, Convention, 1969; zur Diskussion vgl. M. Rescorla, Convention, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2017, Ziff. 4, ; aus der rechtsphilosophischen Literatur z. B. G. Postema, Coordination and Convention at the Foundations of Law, in: Journal of Legal Studies 11 (1982), 165 ff.; A. Marmor, Social Conventions, 2009, 19 ff.; ders., Philosophy of Law, 2011, 73 ff. 12 In diese Richtung etwa S. Shapiro, Legality, 2011, 181 ff. 13 Zur naturalistischen Sicht auf Normativität im Allgemeinen vgl. B. Leiter, Normativity for Naturalists, in: Philosophical Issues 25, Normativity, 2015, 64 ff.; M. Risjord (Hg.), Normativity and Naturalism in the Philosophy of the Social Sciences, 2016; S. P. Turner, Explaining the Normative, 2010. Zur aktuellen Diskussion
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kommt demnach nur zu, was einen Ort in Raum und Zeit hat und als Ursache oder Wirkung in kausalen Relationen stehen kann. Die zugrunde gelegte Ontologie umfasst damit zwar neben physikalischen Tatsachen auch biologische, soziale und mentale Entitäten, Eigenschaften, Ereignisse oder Prozesse,14 aber keine abstrakten oder ideellen Entitäten wie Propositionen, Zahlen oder Fiktionen. In dieser naturalistischen Ontologie findet genuine Normativität keinen Platz, weil Normen oder Gründe keine raumzeitlichen, kausalen Entitäten sind, sondern abstrakte Objekte oder Eigenschaften.15 Als ontologische Relation zwischen sozialen Tatsachen und genuiner Normativität wird deshalb hier ein starker, eliminativer Reduktionismus angenommen.16 In der Formulierung von Brian Leiter: „echte Normativität existiert nicht“. Damit stellt sich auch die Frage nach der Art der dem Recht eigenen genuinen Normativität – moralisch, instrumentell oder noch anders – nicht mehr.17 Dieser Befund bedeutet aber keineswegs, dass normative Sachverhalte in naturalistischen Theorien überhaupt keinen Ort hätten. In Betracht kommen insbesondere Fragen der Art, ob die Teilnehmer der Rechtspraxis das Recht de facto als moralische Gründe wahrnehmen oder behandeln, oder ob die Teilnehmer de facto dem Recht Geltung absprechen, wenn es dem widerspricht, was sie als moralische Wahrheiten ansehen. Allgemein gesprochen können Erwartungen mit normativem Inhalt, Sprechakte, die normative Einstellungen kommunizieren, oder normativ motiviertes Handeln für den Naturalismus unproblematisch Teil der sozialen Welt sein. Der ontologische Naturalismus muss auch keineswegs die These vertreten, dass Normativität für die soziale Welt von geringer Bedeutung sei. Im Gegenteil geben sozialwissenschaftliche Forschungen Anlass für die Annahme, dass die soziale Welt weitgehend normativ konstituiert ist.18 Aber der Begriff der Normativität ist hier ein kategorisch anderer, weil die von den Sozialwissenschaften beschriebene Normativität ontologisch auf Tatsachen der kausalen sozialen Welt bezogen ist. Die vom Naturalismus anerkannte Normativität ist deshalb, wie man sagen kann, nur eine faktische Normativität. Verbreitet für diese Perspektive ist auch die Redewendung der sozialen Normativität.19 Kausalwissenschaftlich ansetzenden Sozialwissenschaften liegt in der Regel ein solches Verständnis
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vgl. J. Suikkanen, Naturalism in Metaethics, in: K. J. Clark (Hg.), The Blackwell Companion to Naturalism, 2016, 351 ff.; T. D. Cueno, What’s to be Said for Moral Non-Naturalism, ebd., 401 ff. Das unterstellt eine Ontologie, die nicht alles enthält, was gezählt werden kann, sondern die generelle Struktur der Realität beschreiben möchte und von dieser einer physikalistische Sicht hat. Es unterstellt zudem, dass die biologischen, mentalen oder sozialen Ursachen mit den physikalischen Ursachen token-identisch, aber nicht typen-identisch sind (vgl. D. Papineau, Naturalism, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2016, Ziff. 1.4, ). Zur Ontologie abstrakter Objekte vgl. F. Berto / M. Plebani, Ontology and Metaontology, 2015, 123 ff. Leiter (Fn. 13), 73 ff.; für eine Kritik an der Reduktion von Normativität vgl. Wolf/Koons (Fn. 4), 61 ff. Leiter (Fn. 13), 74. D. Elder-Vass, The Reality of Social Construction, 2012, 15 ff. (zu Normzirkeln als den basalen Elementen von Sozialstrukturen); Michael Tomasello 19, A Natural History of Human Thinking, 80 ff. (zu den kognitiven Mechanismen normativen Denkens als evolutionäre Grundlage von Kultur); J. Peregrin, Social Normativism, in: Risjord, Normativity and Naturalism (14), 68 ff. (als ‚starker sozialer Normativismus‘ bezeichnet). Peregrin (Fn. 18), 60 ff.; V. Rodriguez-Blanco, Social and Justified Legal Normativity: Unlocking the Mystery of the Relationship, in: Ratio Juris 25 (2012), 409 ff.
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von Normativität als faktischer oder sozialer Normativität zugrunde.20 Aber auch geisteswissenschaftliche Ansätze sind mit einer naturalistischen Ontologie vereinbar, die wie hier mentale und soziale Tatsachen einschließt. Selbst wenn sich Normen methodologisch kausalwissenschaftlichen Erklärungen entziehen sollten, muss man ihnen ontologisch keinen Sonderstatus einräumen.21 Aber auch in der Rechtsphilosophie findet dieses Verständnis der sozialen Normativität Anwendung, an prominenter Stelle etwa für den von H. L. A. Hart als Schlüssel zum Verständnis rechtlicher Normativität angeführten internen Standpunkt.22 Versteht man den internen Standpunkt (dass Rechtsregeln sich für die Teilnehmer als rechtfertigende Gründe für Handeln, Kritik usw. darstellen) im Sinne einer bloß faktisch-empirischen Einstellung, dann ist die vom internen Standpunkt aus verstehbare Normativität zunächst einmal nur faktische Normativität. „Legitimierende Gründe“ kommen in derartigen Erklärungen rechtlicher Normativität dann zwar vor, aber nur als Inhalt von kausal wirksamen mentalen Repräsentationen,23 etwa als Meinungen, Überzeugungen, Erwartungen, Motive usw. Auf die Wahr- oder Korrektheit der als rechtfertigend vorgestellten Gründe kommt es für diese Art sozialer Normativität nicht an. II. Zur Epistemologie der Rechtsphilosophie 1. Normalsprach- und Begriffsanalyse Während die Epistemologie moralischer Tatsachen ein in der Meta-Ethik intensiv diskutiertes Problem ist, sind meta-philosophische Diskussionen über die Epistemologie des philosophischen Rechtsbegriffs überschaubar.24 Ein Grund dafür liegt vermutlich darin, dass sich die englischsprachige analytische Rechtsphilosophie weithin als „conceptual analysis“ versteht und anderen Ansätzen gegenüber wenig offen ist. Dieses Methodenverständnis hat zur Folge, dass Philosophie und Wissenschaft als getrennte Disziplinen betrachtet werden, die mit unterschiedlichen Methoden unterschiedliche Gegenstände behandeln, wobei Philosophie primär sprachliche oder rationale Intuitionen reflektiert, die in Gedankenexperimenten aufgerufen wurden, um so zu a-priori Einsichten zu gelangen,25 während die Wissenschaften mit empirischen Methoden a-posteriori Erkennt-
20 Exemplarisch die Behandlung von Normen in C. Bicchieri, Norms in the Wild. How to Diagnose, Measure and Change Social Norms, 2017. 21 Vgl. A. Rosenberg, Philosophy of Social Science, 5. Aufl. 2016, 121 ff.; J. Rouse, Two Concepts of Practices, in: T. Schatzki et al. (Hg.), The Practice Turn in Contemporary Theory, 2001, 189 ff. 22 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 3. Aufl. 2012 23 Vgl. D. Henderson, Norms, Normative Principles, and Explanation, Philosophy of the Social Sciences 32 (2002), 332 ff. 24 Vgl. P. Banas, Introduction, in: Metaphilosophy of Law (Fn. 8); D. Plunkett / S. Shapiro, Law, Morality, and Everything Else: General Jurisprudence as a Branch of Metanormative Inquiry, Ethics 128 (2017), 37 ff. 25 D. Papineau, The Nature of A Priori Intuitions. Analytic or Synthetic?, in: E. Fischer / J. Collins (Hg.), Experimental Philosophy, Rationalism, and Naturalism, 51 ff.; B. Russell, A Priori Justification and Knowledge,
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nisse produzierten. Diese Sicht auf das Verhältnis der Disziplinen impliziert eine weitgehende Autonomie der Philosophie von den Erfahrungswissenschaften. Allerdings gibt es jedenfalls für die Rechtsphilosophie genug Anhaltspunkte, um die methodische Zuverlässigkeit und substantielle Erklärungskraft solcher Ansätze mit einem Fragezeichen zu versehen. So hat die experimentelle Philosophie für verschiedene philosophische Analysen gezeigt, dass in Gedankenexperimenten aufgerufene Intuitionen oft epistemologisch unzuverlässig sind, weil sie von irrelevanten Faktoren beeinflusst werden und sowohl zwischen philosophischen Experten als auch im Verhältnis zu philosophischen Laien erheblich variieren können.26 Aber selbst wenn Rechtsphilosophen und Laien identische Intuitionen über den Rechtsbegriff besäßen, ist es nicht fernliegend, dass dieser explizite Rechtsbegriff von dem impliziten „Rechtsbegriff “, wie er die soziale Praxis des Rechts tatsächlich strukturiert, erheblich abweichen würde.27 Man sollte deshalb skeptisch sein, welche Schlüsse man von semantischen a-priori Intuitionen über den Rechtsbegriff auf die a-posteriori Eigenschaften des Rechts als einer sozialen Praxis überhaupt ziehen kann.28 So mag es eine interessante Fragestellung sein, nach dem Vorschlag von Josef Raz unter dem Stichwort „Rechtsbegriff “ das normative Selbstverständnis von Gesellschaften mit modernen Rechtssystemen zu explizieren.29 Über die Natur und Struktur von Rechtssystemen als sozialer Tatsachen ist damit aber noch wenig gesagt.30 2. Naturalistische Theoriebildung und ihr Verhältnis zu den Sozialwissenschaften Im Gegensatz zu dem vorbeschriebenen Philosophieverständnis folgt der hiesige Erklärungsversuch der Maxime, dass philosophische Analysen in Kontinuität mit erfahrungswissenschaftlichen Theorien und Befunden und in Anwendung kausalwissenschaftlicher Erklärungsmuster durchzuführen sind. Anders als in der Physik werden in den Sozialwissenschaften allerdings keine universalen Gesetze postuliert, sondern nur ceteris paribus Generalisierungen.31 Die Sozialwissenschaften greifen dabei insbesondere auf drei – häufig nebeneinander verwendete – Erklärungsstrategien zurück, nämlich Vereinheitlichung von Erklärungen (durch Verringerung der unabhängigen Annahmen), Aufzeigen von sog. Kausalmechanismen (wiederkehrende Muster von
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in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2017, . Vgl. E. Machery, Philosophy Within Its Proper Bounds, 2017; J. Sytsma / W. Buckwalter (Hg.), A Companion to Experimental Philosophy, 2016. S. Haslanger, What are we talking about? The Semantics and Politics of Social Kinds, Hypatia 20 (2005), 10 ff.; N. Stoljar, What Do We Want Law to Be? in: W. Waluchow / S. Sciaraffa (Hg.), Philosophical Foundations of the Nature of Law, 2014, 235 ff. Eine kritische Diskussion dieser Frage bei B. Tamanaha, A Realistic Theory of Law, 2017, 57 ff. J. Raz, Can There Be a Theory of Law?, in: M. P. Golding / W. A. Edmundson (Hg), The Blackwell Guide to the Philosophy of Law and Legal Theory, 2005, 324 ff. Tamanaha (Fn. 28), 65 ff. Rosenberg (Fn. 21), 18 ff.
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Kausalrelationen), und die Suche nach Möglichkeiten zur Manipulation der sozialen Welt (aufgrund statistischer Befunde).32 Aufgabe einer methodisch naturalistischen Rechtsphilosophie in Bezug auf diesen heterogenen Bestand an sozialwissenschaftlichen Erklärungen ist es, die für das Recht einschlägigen Einsichten im Sinne der Suche nach einer epistemologisch besten Erklärung abduktiv zu verallgemeinern, zu synthetisieren und zu reflektieren. Man kann dieses Erkenntnisziel insoweit als philosophisch verstehen, als es das Recht „im Rahmen der Welt als Ganzes“ betrachtet,33 wobei der relevante Ausschnitt der „Welt als Ganzes“ hier in der sozialen Welt und ihrer Fundierung in mentalen und sprachlichen Tatsachen besteht. Für den methodischen Naturalismus besteht freilich zwischen Erfahrungswissenschaften und Philosophie keine kategorische Differenz, weder im Gegenstand noch in der Methode. Der – historisch bewegliche – Unterschied besteht nur darin, dass Philosophie sich auf allgemeinste Fragen und vertrackte konzeptionelle Probleme fokussiert, soweit diese von den erfahrungswissenschaftlichen Fachdisziplinen nicht oder noch nicht behandelt werden.34 Auch für den philosophischen Naturalismus stellt sich freilich die Frage nach der epistemischen Zuverlässigkeit seiner Befunde. Die epistemischen Kriterien sind aber gänzlich andere, nämlich ob überhaupt bereits robuste sozialwissenschaftliche Theorien und Befunde über Rechtssysteme vorliegen, auf welche dann die abduktiven Schlussfolgerungen der Rechtsphilosophie gestützt werden könnten.35 Eine methodologisch naturalistische Rechtsphilosophie steht oder fällt deshalb mit der methodischen Qualität und der inhaltlichen Erklärungskraft des verfügbaren sozialwissenschaftlichen Wissens. Nach hiesiger Auffassung sind insoweit in den Kognitionswissenschaften, der Moralpsychologie und der experimentellen Spieltheorie der letzten beiden Jahrzehnte jedenfalls so viele Fortschritte erzielt worden, dass der Versuch einer generellen deskriptiven Theorie des Rechts lohnend erscheint.36 Entsprechend der naturalistischen Methode entstammen die theoretischen Bausteine der hier verfolgten naturalistischen Erklärung rechtlicher Normativität nicht einer philosophischen Sprach- oder Begriffsanalyse, sondern dem Fundus der empirischen Sozialwissenschaften, deren Befunde zu einem allgemeinen Rechtsbegriff weitergedacht werden. Das primäre Bestreben ist damit nicht, die normalsprachliche Bedeutung des Wortes „Recht“ zu klären oder im Sinne einer modalen Analyse notwendige Eigenschaften von Recht zu identifizieren. Ziel der Analyse ist vielmehr, generelle Eigenschaften von Recht oder Rechtssystemen als natürlicher Arten („natural kinds“) herauszuarbeiten. 32 C. Mantzavions, Scientific Explanation, in: International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2nd ed., Vol. 21, 302 ff.; ders., Explanatory Pluralism, 2016. 33 D. von der Pfordten, Rechtsphilosophie, 2013, 11; vgl. auch ders., Suche nach Einsicht, 2010, 22 ff. 34 D. Papineau, Naturalism, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2016, , Ziff. 2: Erfahrungswissenschaften und Philosophie zielen beide auf die Generierung synthetischen Wissens durch a-posteriori Untersuchungen, wobei Philosophie auf Fragen von hoher Allgemeinheit und grundlegende konzeptionelle Probleme (theoretical tangles) fokussiert ist. Für die Berücksichtigung aller einschlägigen erfahrungswissenschaftlichen Befunde argumentiert auch D. von der Pfordten, Rechtsphilosophie (Fn. 33), 11. 35 Langlinais/Leiter (Fn. 2), 679. 36 Skeptisch Langlinais/Leiter (Fn. 2), ebd.
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III. Recht als Clusterart 1. Recht als Artefakt, Konstrukt und natürliche Art Als natürliche Arten werden solche Entitäten oder Eigenschaften bezeichnet, die durch die kausale Struktur der Welt selbst festgelegt sind und entsprechend von den einschlägigen Wissenschaften beschrieben werden, und nicht dem normalen Sprachverständnis folgen. In diesem Sinn wird Wasser durch seine chemische Zusammensetzung definiert (H2O), und nicht durch das Alltagsverständnis als trinkbare durchsichtige Flüssigkeit. Allerdings wird Recht in der rechtsphilosophischen Literatur in der Regel als Artefakt oder soziales Konstrukt angesehen, dessen Eigenschaften nicht gegeben sind, sondern aus der sozialen Praxis folgen, weshalb das Recht keine natürliche Art darstellen könne.37 Diese Sicht beruht aber auf einem falschen Gegensatz. Rechtsnormen sind zwar in der Tat soziale Konstrukte, insoweit ihre Existenz Intentionalität voraussetzt, und zudem auch Artefakte, insoweit mit ihnen bewusste Zwecke verfolgt werden oder sie zumindest soziale Funktionen erfüllen. Das bedeutet aber nicht, dass Recht nicht zugleich hinsichtlich bestimmter genereller Kausaleigenschaften auch eine der sozialen Welt zugehörige natürliche Art darstellen kann.38 Es gilt nämlich zu unterscheiden zwischen (1.) dem kontingenten, von der jeweiligen partikularen Kultur abhängigen Inhalt des Rechts (z. B. der Beschränkung von Ehen auf gleichgeschlechtliche Beziehungen) und (2.) den allgemeinen Eigenschaften von Rechtssystemen als Instrumenten zur Regulierung von Verhalten (z. B. hinsichtlich der Eigenschaft, ob und aufgrund welcher genereller psychologischer Mechanismen Rechtsnormen als Gründe für Handeln wahrgenommen werden). Vereinfacht gesagt ist Recht ein Artefakt in Bezug auf den jeweiligen Inhalt, während es in Bezug auf einige bestimmte Strukturmerkmale eine natürliche Art darstellt. In Abgrenzung zu den natürlichen Arten der physischen Welt, kann man insoweit von einer „sozialen Art“ sprechen, die im Unterschied zu bloßen Artefakten oder Konstrukten objektiv allgemeine Eigenschaften aufweisen. Vorausgesetzt, es gibt nach dem gegenwärtigen Stand der Sozialwissenschaften hinreichend robuste Erkenntnisse über solche allgemeinen (und aufschlussreichen) Eigenschaften des Rechts, dann sollten sich ein naturalistischer Rechtsbegriff und eine naturalistische Erklärung rechtlicher Normativität auf diese Kausaleigenschaften beziehen. Der zweite Teil dieses Aufsatzes wird eine Skizze dieser Kausaleigenschaften versuchen.
37 Bspw. L. Burazin, Can There Be an Artifact Theory of Law?, Ratio Juris 29 (2016), 385 ff.; B. Leiter, Why Legal Positivism (Again)?, University of Chicago, Public Law Working Paper No. 442 (2013), 4; A. Marmor, Law as Authoritative Fiction, Cornell Law School research paper No. 17–10, 2017. 38 Vgl. F. Guala, On the Nature of Social Kinds, in: M. Gallotti / J. Michael (Hg.), Perspectives on Social Ontology and Social Cognition, 2014, 57 ff.
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2. Essentialistische Arten und Clusterarten Allerdings ist Recht keine natürliche Art in dem traditionellen philosophischen Verständnis, in welchem natürliche Arten durch notwendige und hinreichende Eigenschaften definiert sind. Das Recht lässt sich aber als natürliche bzw. soziale Art in einem schwächeren Verständnis begreifen, nämlich als Clusterart. Clusterarten sind natürliche Arten, die nicht durch notwendige und hinreichende Eigenschaften definiert sind, sondern durch konstante Eigenschaftscluster (bzw. Familienähnlichkeiten).39 Es ist deshalb nicht notwendig, dass alle Mitglieder einer Clusterart alle Eigenschaften der Art aufweisen. Voraussetzung für die Einordnung als Clusterarten ist aber, dass die Eigenschaftscluster von stabilisierenden (homöostatischen) Kausalmechanismen erzeugt oder perpetuiert werden und damit vergleichsweise beständig sind.40 Wegen dieser Konstanz der Clustereigenschaften kann die Zugehörigkeit eines Mitglieds der Art als Grundlage für induktive Schlüsse verwendet werden. Nach diesen Kriterien kann Recht als soziale Clusterart begriffen werden, wenn es tatsächlich bestimmte Eigenschaften aufweist, die auf homöostatischen Kausalmechanismen beruhen, welche den fraglichen Eigenschaftscluster beständig produzieren und erhalten. Sanktionen wären ein für das Recht einschlägiges Beispiel. So ist die Androhung materieller Sanktionen zwar keine notwendige Eigenschaft von Recht, aber sie findet sich empirisch in dem Eigenschaftscluster von Instanzen der Art „Recht“ ganz überwiegend enthalten.41 Der naheliegende Grund dafür ist, dass Institutionen ohne Sanktionsdrohung in der Regel nicht stabil sind, wie insbesondere die experimentelle Spieltheorie42 gezeigt hat. Vergleichbar ist es zwar keine ontologisch notwendige Eigenschaft von Recht, dass dessen Inhalt moralischen Prinzipien folgt. Dennoch ist die faktische Eigenschaft vieler Rechtsnormen, bestimmte Grundmuster moralischen Urteilens abzubilden, in dem Eigenschaftscluster „Recht“ ganz überwiegend enthalten. Der Grund dafür ist, wiederum im Sinne homöostatisch stabilisierender Kausalmechanismen, dass bei bloß schwachen Sanktionen, wie sie das Recht in der Regel nur bereitstellt, ohne die Ansprache moralischer Urteilsmechanismen die Motivation für rechtsgehorsames Verhalten zu schwach ist und entsprechende Normen deshalb nicht befolgt werden, wie ebenfalls die experimentelle Spieltheorie gezeigt hat.43
39 I. Hacking, A Tradition of Natural Kinds, Philosophical Studies 61 (1991), 115 ff.; ders., On Boyd, Philosophical Studies 61 (1991), 149 ff. 40 R. Boyd, What Realism Implies and What it Does Not, Dialectica 43 (1989), 15 ff.; zu sozialen Arten ders., Realism, Anti-Foundationalism and the Enthusiasm for Natural Kinds, Philosophical Studies 61 (1991), 127–148; ausführlich M. A. Khalidi, Three Kinds of Social Kinds, Philosophy and Phenomenological Research (2015), 96 ff.; zu den verschiedenen Konzepten natürlicher Arten siehe A. Bird / E. Tobin, Natural Kinds, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Spring 2018, . 41 Schauer (Fn. 1), 23 ff. 42 S. Magen, Fairness and Reciprocity, in: Contract Governance, 2015, 243 (249 ff.). 43 Ebd.
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Mit einem Selbstverständnis von Rechtsphilosophie als der Suche nach den „möglichst beständigen und damit notwendigen Eigenschaften“44 sollte ein derartiges Konzept des Rechts als Clusterart vereinbar sein. Allerdings erweist sich die Bestimmung des Rechtsbegriffs damit in letzter Instanz als eine empirische Frage, nämlich als Frage der empirischen Reichweite bestimmter Eigenschaftscluster. Dagegen sollte es für die Theoriebildung sekundär und allenfalls von indiziellem Charakter sein, welche konventionellen Namen man für bestimmte in der sozialen Welt zu beobachtenden Eigenschaftscluster verwendet. Ob man dann beispielsweise soft law als Recht behandeln sollte oder nicht,45 hängt aus hiesiger Sicht allem davon ab, über welche Eigenschaftscluster man sprechen möchte. Betrifft die Übereinstimmung nur einige der Eigenschaften, aber nicht andere, könnte das Adjektiv „soft“ benutzt werden, um genau diese Differenz festzuhalten. Relevant ist dann aber nicht die Bezeichnung als Recht, sondern welche Eigenschaften einer Institution von Interesse sind. B. Das Recht als strukturiertes Netzwerk normbasierter Gleichgewichte Der inhaltliche Grundriss eines solchen, in dem vorstehend beschriebenen Sinne naturalistischen Begriffs des Rechts sei im Folgenden vorgestellt. I. Fragestellung und Thesen Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die veränderte Fragestellung des hiesigen Ansatzes, Recht als natürliche Clusterart zu analysieren. Gesucht werden mithin nicht notwendige und gemeinsam hinreichende Eigenschaften des Rechts, sondern typische allgemeine Eigenschaften des Rechts sowie die diese Eigenschaften erzeugenden und perpetuierenden homöostatischen Kausalmechanismen. Diese Eigenschaften werden auch nicht durch auf rationalen oder sprachlichen Intuitionen beruhenden a-priori Einsichten gewonnen, sondern im Sinne einer relativ besten Erklärung des Rechts im Ganzen der sozialen Welt im Wege der Abduktion aus den nach hiesiger Sicht besten sozialwissenschaftlichen Theorien und Befunden. Dabei hilft es, dass zwischen verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und parallelen naturalistischen Ansätzen ein reicher Austausch besteht, auf dem man für die Rechtsphilosophie aufbauen kann.46 44 So von der Pfordten, Rechtsphilosophie (Fn. 33), 12. 45 Für eine Erklärung aus rechtsökonomischer Perspektive vgl. etwa A. Guzman / T. L. Meyer, International Soft Law, Journal of Legal Analysis 2 (2010), 171 ff. 46 Da die Sozialwissenschaften nicht zu einer umfassenden Disziplin vereinheitlicht werden können, muss eine naturalistische Ontologie des Sozialen ihre Elemente aus verschiedenen psychologischen und soziologischen Disziplinen beziehen und im Lichte von Kohärenz, Konsilienz und anderen epistemologischen Werten zu einer relativ besten Erklärung des Sozialen integrieren; vgl. D. Sperber, A Naturalistic Ontology for Mechanistic Explanations in the Social Sciences, in: P. Demeulenaere (Hg.), Analytical Sociology
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Die These ist dabei zunächst allgemein, dass Recht und dessen Normativität bestimmte Cluster von typischen Eigenschaften aufweisen, die ihre Grundlage in allgemeinen mentalen und sozialen Kausalmechanismen haben. Das heißt, Recht ist eine natürliche Art der sozialen Welt, weil die das Recht konstituierenden psychologischen und soziologischen Kausalmechanismen relativ unabhängig von individuellen, kulturellen und sozialstrukturellen Unterschieden operieren. Konkreter wird hier die These vertreten, dass Recht und Rechtssysteme Unterarten einer allgemeineren Art von sozialen Strukturen oder Entitäten bilden, die von verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen unter unterschiedlichen Namen mit unterschiedlichen Theorien und Erklärungen behandelt werden, aber ontologisch eine zusammenhängende Clusterart bilden. Die gängigsten Bezeichnungen sind Institutionen,47 soziale Normen48 und soziale Praktiken.49 H. L. A. Hart spricht insoweit von sozialen Regeln,50 und ein jüngerer soziologischer Ansatz von „Normzirkeln“.51 All diese Begriffe sind im Wesentlichen unterschiedliche Konzeptualisierungen der gleichen oder sich jedenfalls weitgehend überlappender Phänomene, für die im Folgenden einheitlich der Begriff der Institution verwendet wird. Für den nachfolgend skizzierten Rechtsbegriff ist der Begriff der Institution von zentraler Bedeutung. Denn Normativität ist eine emergente Kausaleigenschaft von Institutionen (bzw. von sozialen Normen, sozialen Praktiken oder Normzirkeln), die das Recht als eine Unterart von Institutionen teilt.52 Das bedeutet einerseits, dass die Normativität des Rechts im Grundsatz auf den gleichen Kausalmechanismen aufbaut, die auch informalen Institutionen zugrunde liegen. Andererseits weisen Recht und Rechtssysteme zusätzliche eigene Eigenschaften und zugrundeliegende homöostatische Kausalmechanismen auf. Diese „artbildenden“ Kausalmechanismen des Rechts bestehen im Einsatz sprachlicher Repräsentationen von Normen, und für Rechtssysteme in der Verschränkung von „primären“ und „sekundären“ Institutionen. II. Institutionen als emergente soziale Entitäten Emergenz von Institutionen impliziert eine Interaktion von Denken, Handeln und Sprechen mit sozialen Strukturen. Im Folgenden werden zwei Ansätze zu der Frage diskutiert, welche Mechanismen dieser Interaktion zugrunde liegen. Zunächst kritisiere ich John Searles Vorschlag, die Emergenz von Institutionen durch kollektive Akzeptanz deklarativer Sprechakte zu erklären. Sodann argumentiere ich für eine Er-
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and Social Mechanisms, 2011, 75. Zum Verhältnis von moralischen Intuitionen, moralischen Präferenzen, sozialen Normen und Recht vgl. S. Magen, Gerechtigkeit als Proprium des Rechts, Habilitation, 2010, 145 ff. Bspw. D. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, 1990. Bspw. Biccieri (Fn. 20). Bspw. Schatzki (Fn. 21). Hart (Fn. 22), 55 ff. Elder-Vass (Fn. 18). Zur Unterscheidung von informalen und formalen Normen vgl. C. Mantzavinos, Individuals, Institutions, and Markets, 2001, 101 ff.
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klärung der Emergenz von Institutionen durch verhaltenswissenschaftlich modifizierte Nash-Gleichgewichte. Dazu werden die Mikromechanismen der Emergenz von Institutionen auf der individuellen Ebene aufgezeigt, nämlich moralische Intuitionen, moralische Präferenzen und sprachliche Repräsentationen von Normen. In dem dann folgenden Abschnitt wird schließlich die Emergenz von Recht und Rechtssystemen aus informalen Institutionen beschrieben. 1. Emergenz von Institutionen durch deklaratorische Sprechakte? Die in der gegenwärtigen Philosophie wohl prominenteste naturalistische Erklärung sozialer Institutionen ist John Searles Theorie sozialer Institutionen.53 Searle möchte unter anderem zeigen, wie Institutionen eine irreduzible, sprachlich konstituierte Ebene der sozialen Realität darstellen, obwohl sie durch menschliches Denken und Handeln konstituiert werden.54 Diese neue ontologische Ebene der Institutionen entsteht für Searle durch kollektive Akzeptanz einer bestimmten Art von Sprechakten, nämlich von Deklarationen im engeren Sinn („Hiermit erkläre ich die Sitzung des Gerichts für beendet“), aber vor allem von Sprechakten, die die logische Struktur von Deklarationen aufweisen, auch wenn ihnen die explizite sprachliche Form einer Deklaration fehlt („Die Sitzung des Gerichts ist beendet“).55 Deklarative Sprechakte haben für Searle die bemerkenswerte Eigenschaft, dass schon die erfolgreiche Ausführung des Sprechakts hinreichend ist, um den propositionalen Inhalt wahr zu machen. Allerdings zählt es zu den Erfolgsbedingungen einer Deklaration, dass sie kollektiv akzeptiert wird.56 Ist diese Bedingung gegeben, wird allein durch die Ausführung des Sprechakts wahr, was er aussagt (Die Sitzung des Gerichts ist im Rechtssinn tatsächlich beendet). Bei Institutionen hat nun der propositionale Gehalt der sie kreierenden Deklarationen eine bestimmte formale Struktur, die zwingend für alle Institutionen gelten soll. Searle nennt diese Struktur „konstitutive Regel“, und beschreibt ihre Form als „X gilt als Y in C“ (ein physisches Objekt „X“ gilt als Instanz der Institution „Y“, wenn die Bedingungen „C“ erfüllt sind).57 Für die Institution Geld könnte man beispielsweise § 14 Bundesbankgesetz als konstitutive Regel lesen. § 14 BBG bestimmt, dass Banknoten („X“) gesetzliche Zahlungsmittel sind („Y“), wenn sie von der Bundesbank ausgegebenen wurden („C“). Nach Searles Auffassung erfahren gedruckte Banknoten, indem sie von der Bundesbank „ausgegeben“ werden, einen ontologischen Wandel,58 voraus53 J. Searle, The Construction of Social Reality, 1995; ders., Making the Social World, 2010; ders., What is an Institution?, in: Journal of Institutional Economics 1 (2005), 1 ff.; zum naturalistischen Hintergrund ders., Wittgenstein and the Background, in: American Philosophical Quarterly 48 (2011), 119 ff.; zur rechtsphilosophischen Rezeption vgl. N. Mac Cormick / O. Weinberger, Grundlagen des institutionalistischen Rechtspositivismus, 1985; Langlinais/Leiter (Fn. 2), 674 ff.; Marmor (Fn. 37), 11 ff.; ders. (Fn. 11), 31 ff. 54 J. Searle, Status Functions and Institutional Facts, in: Journal of Institutional Economics 11 (2015), 1 ff. 55 J. Searle, Language and Social Ontology, in: Theory and Society 37 (2008), 450 ff. 56 J. Searle, How Performatives Work, in: Linguistics and Philosophy 12 (1989), 535 (553). 57 J. Searle, Making the Social Word, 2010, 6 ff. 58 Vgl. Searle (Fn. 54), 4.
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gesetzt, § 14 BBG wird allgemein akzeptiert. Aus Papierstücken werden dann normativ definierte Entitäten der Art „gesetzliches Zahlungsmittel“. Wegen der Akzeptanzbedingung kann man Searles Institutionentheorie für die Rechtsphilosophie als eine sprechakttheoretisch formulierte Akzeptanztheorie des Rechts verstehen. Gegen sie bestehen allerdings gravierende Einwände. Drei von diesen Einwänden sind für das hiesige Unterfangen besonders aufschlussreich, weil sie theoretische Leerstellen zeigen, die eine naturalistische Erklärung des Rechts ausfüllen sollte. Der erste Einwand betrifft die kollektive Akzeptanz der konstitutiven Regel, die ja eine ontologische Erfolgsbedingung für die Emergenz von Institutionen ist. Das erste theoretische Problem liegt hier in der Frage, was genau die Erfolgsbedingung der „kollektiven Akzeptanz“ voraussetzt. Dass alle relevanten Beteiligten alle für sie einschlägigen rechtlichen Deklarationen (die relevanten Teile des Bundesgesetzblatts etc.) und deren genauen Inhalt kennen und akzeptieren, kann man empirisch ausschließen. Noch weniger Personen werden verstehen, was rechtlich damit verbunden ist, dass Banknoten „einziges unbeschränkt geltende Zahlungsmittel“ sind (vgl. § 14 BBG). Searles Institutionentheorie funktioniert deshalb nur, wenn man ein weitgehend ausgedünntes Konzept der kollektiven Akzeptanz zugrunde legt. Akzeptanz darf insbesondere nicht voraussetzten, dass alle Beteiligten den propositionalen Inhalt der konstitutiven Regeln kennen, verstehen und akzeptieren. Man könnte es etwa für ausreichend halten, dass geltende Normen „implizit“ anerkannt oder de facto befolgt werden.59 Der Begriff der kollektiven Anerkennung wird dadurch aber diffus und empirisch kaum greifbar. Vor allem ist unklar, woher die Kriterien kommen sollen, nach denen über den Erfolg der Deklaration entschieden wird. Insoweit bleibt das Konzept der kollektiven Akzeptanz im Searleschen Theorieaufbau eine theoretische Leerstelle für die soziale Verankerung von Normen. Anders gesagt, verwendet Searles sprachtheoretische Institutionentheorie eine unterkomplexe (implizite) Soziologie. Das mag für eine Theorie tragbar sein, die nach ihrem Erkenntnisinteresse nur die logische Struktur von Institutionen aufzeigen will.60 Um diese Struktur in der kausalen Welt einzubetten, bedarf es aber gehaltvollerer Erklärungen.61 Für diese Rolle wird hier sogleich das Konzept eines korrelierten Nash-Gleichgewichts vorgeschlagen, welches zu erklären vermag, wie Repräsentationen von Normen in kausale soziale Prozesse eingebunden sind. Hinzu kommt der zweite Einwand, dass Institutionen nach Searle nur solche Eigenschaften haben können, die Gegenstand der allgemein akzeptierten Deklaration waren. Im obigen Fall wären die Eigenschaften von Geld erschöpfend durch den rechtlichen Gehalt von § 14 BBG festgelegt. Tatsächlich hat Geld aber objektiv Eigenschaften, die weder mit dem Inhalt der konstitutiven Regel zusammenfallen, noch den beteiligten 59 Guala (Fn. 38), 60 ff. 60 Searle, What is an Institution? (Fn. 53), 8. 61 Allenfalls den individuellen Aspekt einer solchen gehaltvolleren Erklärung könnte Searles These beisteuern, dass Institutionen vom Begehren unabhängig Gründe für Handeln beinhalteten, die dennoch eine Basis für die Motivation zum Handeln bieten ( J. Searle (Fn. 54), 6 f.; ders., Rationality in Action, 2001). Aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht ist der Grund solcher ‚rationalen‘ Gründe eher in psychologischen Mechanismen zu finden, nämlich in moralischen Intuitionen; siehe B. III. 1.
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Akteuren überhaupt bekannt sein müssen. Seiner sozialen Funktion nach ist Geld zum Beispiel nicht dadurch definiert, dass ein materielles Objekt als „gesetzliches Zahlungsmittel“ gilt, sondern dass ein Objekt zuverlässig die Funktion von Geld als Tauschmittel, Wertspeicher und Verrechnungseinheit erfüllt. Dafür kommen aber auch Zigaretten oder Bitcoins in Betracht.62 Zigaretten oder Bitcoins werden aber nicht dadurch zu Geld, dass irgendeine Instanz sie zu Geld erklärt, sondern dadurch, dass sie in der Praxis faktisch als Tauschmittel, Wertspeicher und Verrechnungseinheit verwendet werden. Umgekehrt können gesetzliche Zahlungsmittel zu bloßem Heizmaterial werden, wenn Banknoten durch Hyperinflation jeden Wert verlieren. Anders als Searle meint, sind weder Geld noch Institutionen im Allgemeinen notwendig sprachlich konstituiert. Institutionen können durch Verhaltenskonventionen ohne Deklaration entstehen und trotz allseits akzeptierter Deklaration durch Verhaltenskonventionen oder die Auflösung von Verhaltenskonventionen untergehen.63 Diese Rolle der Sprache für die Entstehung von Institutionen ist dementsprechend nicht konstitutiv, sondern eher funktional. Das gilt insbesondere insoweit, als Repräsentationen von Normen als Koordinationsmechanismen zur Gleichgewichtsauswahl zwischen vielen unbekannten Personen fungieren, wie sogleich ausgeführt werden wird. Ein dritter Einwand betrifft die ontologische Verortung der durch die Akzeptanz der Deklarationen erzeugten Institutionen. Legt man Kausalität und raumzeitliche Verortung als Kriterium für Existenz zugrunde, dann ist nicht zu begründen, inwiefern der Institution als solcher (dem „Y“) Existenz zukommen soll. Denn auch die kollektive Anerkennung verleiht dem propositionalen Gehalt einer Deklaration als solchen (hier: der rechtlichen Eigenschaft, gesetzliches Zahlungsmittel zu sein) noch keine Kausalwirkung. Das grundlegende Problem ist hier, dass man durch erfolgreiche Deklarationen nur ideelle, unkörperliche Entitäten oder Eigenschaften hervorbringen kann, aber keine raumzeitlichen Kausalwirkungen.64 Damit eine abstrakte Entität kausal wirksam sein kann, bedarf es einer kausalen Realisierung im Denken, Handeln oder Sprechen der Teilnehmer der Rechtspraxis oder einer anderen Praxis. Nur so kann eine Norm – im Sinne des propositionalen Gehalts einer Deklaration – raumzeitliche Verortung und Wirkung erlangen. Searle hypostasiert Institutionen dagegen zu abstrakten Entitäten höherer Dignität und erweckt jedenfalls den Eindruck, als seien diese ideellen Entitäten selbst schon die Institutionen, aus denen die soziale Welt besteht. Tatsächlich sind Institutionen kausale soziale Praxen, in denen auf Normen gedanklich und sprachlich Bezug genommen wird.
62 Guala (Fn. 38), ebd. 63 Dies und das Vorstehende zeigen F. Hindriks / F. Guala, Institutions, Rules, and Equilibria, Journal of Institutional Economics 11 (2015), 459 ff.; vgl. auch dies., A Unified Social Ontology, The Philosophical Quarterly 65 (2005), 177 ff.; Guala (Fn. 38); ders., Infallibilism and Human Kinds, Philosophy of the Social Sciences 40 (2010), 244 ff.; F. Hindriks, Constitutive Rules, Language, and Ontology, Erkenntnis 71 (2009), 253 ff.; F. Guala, Understanding Institutions, 2016. 64 Auch diejenigen, die abstrakten Entitäten wie Zahlen oder Fiktionen Existenz zuschreiben, verbinden damit keine kausale Wirksamkeit oder raumzeitliche Verortung; vgl. Berto/Plebani (Fn. 15), 123 ff.
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2. Emergenz von Institutionen durch Nash-Gleichgewichte Gefragt ist also ein theoretisches Modell von Institutionen, das an die Leerstelle der „kollektiven Akzeptanz“ eine explanatorisch angemessenere Beschreibung der Struktur von Institutionen setzt. Ausgehen kann man dabei von dem Befund, dass alle sozialen Phänomene letztlich auf Kausalketten von Wahrnehmungen, Kognitionen, individuellem Handeln und den jeweils wirksamen Umweltbedingungen beruhen.65 Zu den spezifischen Bedingungen sozialer Umwelten gehört strategische Interdependenz, also, dass der Erfolg individuellen Handelns vom Verhalten anderer Akteure abhängt. Strategische Interdependenzen sind eine objektive Eigenschaft sozialer Umwelten, und dadurch auch ein prägendes Element der sozialen Ontologie. Die formale Struktur dieser wechselseitigen Abhängigkeiten der sozialen Welt beschreibt die Spieltheorie.66 Soziale Entitäten wie Institutionen können nur entstehen, wenn die aus der strategischen Interdependenz erwachsenden Probleme gelöst werden.67 Mögliche Lösungen beschreibt die Spieltheorie als Nash-Gleichgewichte und deren Verfeinerungen.68 Im Kontext normativer Theorie rationalen Verhaltens bezeichnen Nash-Gleichgewichte Strategiemuster, die individuell (aber nicht notwendig sozial) rational sind, weil in ihnen das Verhalten jedes Akteurs eine beste Antwort auf das Verhalten aller anderen Akteure ist. Nash-Gleichgewichte (bzw. deren evolutionäre und verhaltenswissenschaftliche Modifikationen) können aber auch als Elemente deskriptiv-erklärender Theorien fungieren, nämlich als Modelle für zu erwartendes Verhalten (bzw. für evolutionär stabile Entscheidungsmechanismen).69 Was auch immer dann im Einzelnen die kausal wirksamen Motive (bzw. Entscheidungsmechanismen) der Akteure sein mögen – eigennützige oder moralische, heuristische oder kalkulierende, emotionale oder rationale, usw. –: Ein Nash-Gleichgewicht ist erreicht, wenn kein Akteur einen Anreiz hat, sein Verhalten einseitig zu ändern (bzw. nicht genug Akteure, um die Stabilität des Verhaltensmusters zu gefährden), solange alle anderen Akteure (bzw. eine hinreichend große Zahl) bei ihrem Verhalten bleiben. Das Konzept eines Nash-Gleichgewichts ist aus ontologischer Sicht interessant, weil es bestimmte Bedingungen für die Emergenz neuer Phänomene beschreibt und erfüllt. Emergenz meint, dass aus bestehenden Elementen neue Phänomene entstehen, die nicht auf die zugrundeliegenden Prozesse reduzierbar sind, etwa die Entstehung von Leben aus chemischen Prozessen. Zwei Ideen sind für das hier zugrunde gelegte relationale Verständnis von Emergenz zentral: die dauerhafte relationale Organisation bereits existierender Kausalprozesse und die Entstehung neuer Kausalwirkungen infolge die-
65 Sperber (Fn. 46). 66 Zur Anwendung der Spieltheorie in der Jurisprudenz vgl. W. Zaluski, Game Theory in Jurisprudence, 2013; S. Magen, Spieltheorie, in: E. Towfigh / N. Petersen (Hg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2. Aufl. 2017, 83 ff. 67 Vgl. K. Binmore, Institutions, Rules and Equilibria, Journal of Institutional Economics 11 (2015), 494. 68 Zaluski (Fn. 66), 35 ff.; Magen (Fn. 66), Rn. 191 ff. 69 Zur verhaltenswissenschaftlichen Spieltheorie vgl. J. H. Kagel / A. E. Roth (Hg.), The Handbook of Experimental Economics, Vol. 1, 1997; Vol. 2, 2016; zur evolutionären Spieltheorie H. Gintis, Game Theory Evolving, 2. Aufl. 2009.
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ser Organisation.70 In Bezug auf die Ontologie der sozialen Welt kann man sagen, dass neue soziale Entitäten entstehen, wenn individuelles Denken, Handeln und Sprechen relational so organisiert wird, dass (1) die einzelnen Akte des Denkens, Handels und Sprechens ihre eigene relationale Organisation perpetuieren und (2) daraus neue Kausalwirkungen hervorgehen.71 Nash-Gleichgewichte können diesen Effekt haben, weil in ihnen die Erwartungen und Handlungen der Akteure derart organisiert werden, dass diese sich gegenseitig stabilisieren und dadurch neue, soziale Verhaltensmuster möglich werden und auf Dauer gestellt werden können. Teilweise werden schon die durch Nash-Gleichgewichte erzeugten stabilen Verhaltenskorrelationen als eine rudimentäre Form von Normativität begriffen. Insbesondere gibt es eine Tradition in der Spieltheorie, die im Anschluss an David Lewis’ spieltheoretisches Konzept der Konvention72 Institutionen als Nash-Gleichgewichte in fortgesetzten Interaktionen konzeptualisiert.73 Nicht wenigen der durch Nash-Gleichgewichte stabilisierten Verhaltensmuster fehlt allerdings aus der Teilnehmerperspektive die Phänomenologie normativer Motive, weil sie nur auf dem kalkulierten Eigeninteresse der Beteiligten beruhen.74 Deshalb sollte nicht schon jedes Nash-Gleichgewicht als Norm oder Institution angesehen werden. Institutionen zeichnen sich nach hiesiger These vielmehr durch das Hinzukommen einer weiteren Klasse von Kausalmechanismen aus, nämlich moralische Intuitionen und moralische Präferenzen (dazu sogleich). Nichtsdestotrotz bilden Nash-Gleichgewichte ein strukturell wesentliches Element für die Emergenz von Institutionen. III. Mechanismen der Emergenz Wenn es zutrifft, dass soziale Emergenz in der relationalen Organisation von Elementen auf einer ontologisch tieferen Ebene besteht, kann sich die Analyse von Institutionen nicht auf die soziale Ebene beschränken. Um die emergente Entität zu erklären, müssen vielmehr die der Emergenz zugrundeliegenden Kausalprozesse und ihre besondere Organisation erklärt werden. Dass Institutionen emergente Entitäten sind, macht deshalb eine Mikrofundierung nicht entbehrlich. Im Gegenteil, auch wenn In70 D. Elder-Vass, The Causal Power of Social Structures, 2010, 14 ff.; T. Lawson, Ontology and The Study of Social Reality, in: Cambridge Journal of Economics 36 (2012), 348 ff.; S. Pratten, Critical Realism and the Process Account of Emergence, in: Journal for the Theory of Social Behavior 43 (2013), 251 ff.; zu den verschiedenen Emergenzbegriffen T. O’Connor / H. Yu Wong, Emergent Properties, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Summer 2015, ; einen Einblick in die aktuellen Debatten vermittelt J. Zahle / F. Collin (Hg.), Rethinking the Individualism-Holism Debate, 2014. 71 Lawson (Fn. 70). 72 Zu Lewis-Konventionen siehe Fn. 12. 73 E. Ullmann-Margalit, The Emergence of Norms, 1977; B. Skyrms, Evolution of the Social Contract, 1996; C. Biccieri, The Grammar of Society, 2006; C. Bicchieri / R. Muldoon, Social Norms, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Spring 2014, Ziff. 7, . 74 F. Guala, The Normativity of Lewis Conventions, in: Synthese 190 (2013), 3107 ff.
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stitutionen irreduzible soziale Entitäten sind, muss zu ihrer Erklärung auf verhaltenswissenschaftliche und psychologische Befunde zurückgegriffen werden, um erklären zu können, wie deren Zusammenspiel die emergente Entität erzeugt. Man kann hier eine Parallele zur Biologie ziehen. Deren Erklärungen von Leben – ein paradigmatischer Fall von Emergenz – stützt sich zentral auf biochemische bzw. molekulargenetische Mikromechanismen. 1. Moralische Intuitionen und Präferenzen als mikrofundierende Kausalmechanismen Lewis-Konventionen (Institutionen als Koordinations-Gleichgewichte in wiederholten Interaktionen) liefern, wie erwähnt, eine zu dünne Erklärung von Institutionen, weil sie Institutionen auf instrumentell-rationale, eigennützig motivierte Verhaltensregelmäßigkeiten reduzieren. Eine derart normativ verdünnte Erklärung von Normen mag in Konstellationen angemessen sein, in denen – wie in reinen Koordinationsspielen – die Interessen weitgehend gleichläufig sind. Kämpfen die Akteure allerdings mit Verteilungskonflikten oder Kooperationsproblemen, dann kommen auch normative Motive ins Spiel. Ausgerechnet die verhaltensökonomischen Forschungen der experimentellen Spieltheorie haben dies in den letzten zwanzig Jahren in eindrucksvoller Weise empirisch nachweisen können.75 Sie geben auch Aufschluss über die Mikromechanismen, die der Emergenz von Institutionen zugrunde liegen. Wiederum lassen sich zwei zentrale Konzepte benennen, nämlich soziale Präferenzen und moralische Intuitionen. Beide beziehen sich auf denselben Gegenstand, beschreiben diesen aber auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen: Moralische Intuitionen beziehen sich auf die von der Moralpsychologie beschriebenen kognitiven Prozesse moralischen Urteilens, also auf die mentale Ebene.76 Moralische Intuitionen gehen aber regelmäßig auch mit Verhaltensdisposition einher. Soziale Präferenzen, wie sie die Verhaltensökonomie analysiert, beschreiben dann die von den psychologischen Dispositionen ausgehenden Verhaltensmuster in strategischen Interaktionen.77 Für die 75 Vgl. S. Magen, Fairness, Eigennutz und die Rolle des Rechts, in: C. Engel et al. (Hg.), Recht und Verhalten, 261 ff.; ders. (Fn. 46); ders. (Fn. 42), 245 ff. 76 Ein Überblick zur Moralpsychologie findet sich bei J. Doris (Hg.), The Moral Psychology Handbook, 2012; zu moralischen Intuitionen vgl. W. Sinnott-Armstrong et al., Moral Intuitions, ebd., 246 ff.; zum Verhältnis von moralischen Intuitionen, Rationalität und sozialen Praktiken vgl. H. Sauer, Moral Judgments as Educated Intuitions, 2017. Der hier zugrunde gelegte psychologische und damit erfahrungswissenschaftliche Begriff der moralischen Intuition ist nicht zu verwechseln mit dem moralischen Intuitionismus als metaethische Position, insbesondere der metaphysischen Annahme, moralische Urteile bezögen sich auf nicht-empirische moralische Eigenschaften, oder der epistemologischen Position, moralische Intuitionen seien eine hinreichende Rechtfertigung für moralische Urteile; dazu W. Sinnott-Armstrong, Intuitionism Meets Empirical Psychology, in: T. Nadelhoffer et al. (Hg.), Moral Psychology, 2010, 373 ff.; C. Brand, Dimensions of Moral Intuitions – Metaethics, Epistemology and Moral Psychology, in: dies. (Hg.), Dual-Process Theories in Moral Psychology, 2016, 19 ff. 77 Vgl. D. Cooper / J. H. Kagel, Other-Regarding Preferences, in: Kagel/Roth (Fn. 69); Herbert Gintis, The Bounds of Reason, 2009, 45 ff.; kulturvergleichend: J. Ensminger / J. Henrich (Hg.), Experimenting with Social Norms, 2014.
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Emergenz von Institutionen sind Kausalmechanismen auf beiden Ebenen relevant, auf der mentalen und der Verhaltensebene, denn die Emergenz von Institutionen beruht auf der relationalen Organisation von Denken und Verhalten in Nash-Gleichgewichten. Allerdings beruhen diese Gleichgewichte nicht nur auf individueller Nutzenmaximierung, sondern eigennützige und moralische Motive spielen zusammen. Ein gut erforschtes Muster ist insoweit das der bedingten Kooperation, welches sich häufig in sozialen Dilemmata78 findet. Bei bedingter Kooperation kooperiert (fast) jeder, aber nur unter der Bedingung, dass auch (fast) alle anderen kooperieren, und Trittbrettfahren sanktioniert wird. Bedingte Kooperation ist selbststabilisierend im Sinne eines Nash-Gleichgewichtes, weil sie sowohl aus Sicht der auf Fairness bedachten Mehrheit, als auch aus Sicht der egoistischen Minderheit eine beste Antwort auf das Verhalten aller anderen darstellt. Diese kooperative Wirkung von moralischen Präferenzen hat allerdings eine weitere Voraussetzung auf mentaler Ebene, nämlich, dass die moralischen Intuitionen der Individuen inhaltlich in einem bestimmten Mindestmaß koordiniert werden.79 Zwar sind moralische Intuitionen in ihrer Grundstruktur universal und insoweit vermutlich genetisch vorstrukturiert.80 In der Moralpsychologie sind insoweit sechs universale moralische Intuitionen identifiziert worden: Empathie, Gerechtigkeit, Freiheit von Dominanz, Respekt vor Autorität, Loyalität zur Gemeinschaft und moralische Reinheit.81 Diese sechs moralischen Urteils- und Verhaltensdispositionen sind aber kognitiv unterdeterminiert und werden kulturell sehr unterschiedlich konkretisiert und kombiniert. Andererseits gibt es starke Dispositionen zur Koordination der moralischen Einstellungen innerhalb einer Bezugsgruppe, etwa durch den Konformitätsbias, aber auch durch rationale Prozesse wie Perspektivenübernahme oder die Fähigkeit und Bereitschaft zur Generalisierung und zur Verdinglichung von Verhaltenserwartungen zu objektiven, für alle Mitglieder der Referenzgruppe geltenden Normen.82 Auch diese Koordination von moralischen Erwartungen ist eine Bedingung für die Emergenz von Institutionen, die in gewisser Weise zugleich Mittel und Resultat der Koordination der individuellen Moraldispositionen sind.
78 Magen (Fn. 46), 110 ff. 79 Magen (Fn. 46), 110 ff.; ders. (Fn. 42), 249 ff. 80 Diese folgenden Ausführungen stützten sich auf den Begriff der moralischen Intuitionen, wie er von Jonathan Haidt und Kollegen in der Theorie der Moral Foundations entwickelt wurde; vgl. J. Haidt, Morality, in: Perspectives on Psychological Science 3 (2008), 65 ff.; J. Haidt / S. Kesebir, Morality, in: S. Fiske et al. (Hg.), Handbook of Social Psychology, 5. Aufl., 2010, 797 ff.; J. Graham et al., Mapping the Moral Domain, Journal of Personality and Social Psychology, 10 (2011), 366 ff.; J. Haidt, The Righteous Mind, 2012; V. Tiberius, Moral Psychology, 2015, 22 ff.; für eine Kritik siehe C. Suhler / P. Churchland, Can Innate, Modular „Foundations“ Explain Morality? Challenges for Haidt’s Moral Foundations Theory, Journal of Cognitive Neuroscience 23 (2011), 2103 ff.; zum Verhältnis von Denken bzw. Argumentieren und moralischen Intuitionen vgl. Sauer (Fn. 76), 25 ff. 81 Die zunächst fünf Intuitionen wurden später durch die Liberty-Foundation ergänzt, vgl. Haidt, Righteous Mind (Fn. 80) 152 ff. 82 Vgl. M. Tomasello, A Natural History of Human Morality, 2016, 85 ff.; ders., A Natural History of Human Thinking, Fn. 18, 80 ff.
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2. Schriftsprachliche Repräsentationen von Normen als Korrelationsmechanismen Diese bisherige Erklärung von Institutionen als Nash-Gleichgewichte auf der Grundlage des Zusammenspiels von eigennützigen und moralischen Präferenzen beschreibt eine eher schlichte Form der Institutionen. Man könnte auch von informalen Normen83 oder, in der Terminologie von Hart, von primitivem Recht sprechen.84 Einfache Institutionen dieser Art müssen nicht auf sprachlich explizite Regeln zurückgreifen, sondern können auch als bloße Verhaltensregelmäßigkeiten existieren. Für solche Institutionen ist Sprache nicht erforderlich. Sprache ist aber funktional notwendig, um die Emergenz leistungsfähigerer Institutionen zu ermöglichen, mit denen die komplexeren strategischen Probleme arbeitsteiliger Gesellschaften gelöst werden können. Wenn man Verhaltensregeln nicht, wie in dichten Gemeinschaften oder dauerhaften informalen Kooperationen, aus dem Verhalten der anderen ablesen kann, ermöglichen es explizite Normen, unter den vielen Möglichkeiten das aktuelle in einem Kontext realisierte Gleichgewichtsverhalten zu finden. Die explizite, schriftsprachliche und öffentliche Repräsentation von Normen stellt sich insoweit als ein Mechanismus dar, mit dem sich die Reichweite und Leistungsfähigkeit von Institutionen um Größenordnungen erhöhen lässt.85 Schriftsprache als normativer Koordinationsmechanismus ist funktional erforderlich, wenn Institutionen zwischen Fremden wirken sollen, wenn Institutionen nach sozialen Rollen differenzieren oder arbeitsteiliges Verhalten ordnen sollen, oder wenn das Gleichgewichtsverhalten ohne die praktisch unmögliche Beteiligung aller Betroffenen zentral geändert werden soll. Spieltheoretisch fungieren schriftsprachlich repräsentierte Normen hier als Korrelationsmechanismus, mit deren Hilfe spieltheoretische Gleichgewichte realisiert werden können.86 In einem Korrelationsgleichgewicht bestehen die jeweils besten Antworten der Spieler darin, dass alle ihr Verhalten an einem externen Mechanismus ausrichten. Auch Normen können als ein solcher Korrelationsmechanismus fungieren. Die Gleichgewichtsstrategien in einem Korrelationsgleichgewicht könnten dann zum Beispiel lauten: Verhalte dich so, wie es das Recht vorschreibt. Formelle Institutionen lassen sich damit spieltheoretisch als regelbasierte Gleichgewichte analysieren. Derartige symbolisch korrelierte Gleichgewichte erweitern die soziale, räumliche und zeitliche Reichweite von Institutionen so erheblich, dass es gerechtfertigt erscheint, von einer weiteren Stufe der Emergenz zu sprechen. 83 Vgl. Mantzavinos (Fn. 52), 101 ff. 84 Hart (Fn. 22), 91 ff. 85 Die historischen Prozesse analysiert aus medientheoretischer Sicht T. Vesting, Die Medien des Rechts: Schrift, 2011; ders., Die Medien des Rechts: Buchdruck, 2013. 86 Hindriks/Guala, Institutions, Rules, and Equilibria (Fn. 63) 465; zur Funktion symbolischer Repräsentationen von Normen ebd., 466 f.; anschauliche Erläuterung bei Guala, Understanding Institutions (Fn. 63), 44 ff.; formale Erklärung bei Gintis (Fn. 77), 132 ff. Das Konzept des korrelierten Gleichgewichts geht zurück auf R. Aumann, vgl. ders., Subjectivity and Correlation in Randomized Strategies, Journal of Mathematical Economics 1 (1974), 67 ff.; ders., Correlated Equilibrium as an Expression of Bayesian Rationality, Econometrica 55 (1987), 1 ff.; zur Interpretation von Konventionen als korrelierte Gleichgewichte P. Vanderschraaf, Convention as Correlated Equilibrium, Erkenntnis 42 (1995), 65 ff.; ders., Knowledge, Equilibrium and Convention, in: Erkenntnis 49 (1998), 337 ff.
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3. Organisatorische Ausdifferenzierung Ein letzter, sozialstruktureller Kausalmechanismus liegt offensichtlich in der arbeitsteiligen Organisation, durch die die Verwaltung des Rechts – in Max Webers Terminologie – von einem spezialisierten Rechtsstab übernommen87 und über soziale Rollen und Organisationen ausdifferenziert wird. Die Formenvielfalt und Komplexität der durch die Globalisierung hervorgebrachten Organisationsformen des Rechts macht es indes schwierig, auf der Ebene derartiger Meso-Strukturen des Rechts noch stabile und gehaltvolle Eigenschaftscluster zu identifizieren.88 Aber ungeachtet der Ablösung des Rechts aus dem engeren nationalstaatlichen Kontext spricht viel dafür, in der arbeitsteilen Organisation von Institutionen durch spezialisierte Amtsträger einen Kausalmechanismus zu sehen, der für die Ausdifferenzierung des Rechts auf nationaler, supranationaler und internationaler Ebene auf ähnliche Art und Weise strukturell prägend ist. Als basale Form verlangt dies zumindest die Einrichtung von Gerichten mit Entscheidungskompetenzen, umfasst aber in der Regel auch formal institutionalisierte Organe für die Schaffung und die Durchsetzung von Normen. Auf der Ebene der Normen zieht die organisatorische Ausdifferenzierung des Rechts eine Verschränkung von zwei Arten formaler Institutionen nach sich: Institutionen, die das Verhalten der Mitglieder der Organe regeln, und Institutionen, die das Verhalten der allgemeinen Adressaten regeln. H.L.A. Harts Definition von „Rechtssystemen“ als Einheiten von primären und sekundären Regeln89 beschreibt diese Konsequenz der organisatorischen Ausdifferenzierung des Rechts treffend. Es ist dabei wichtig zu sehen, dass „Rechtssysteme“ in diesem Sinn heute nicht nur in Form nationalstaatlichen Rechts auftreten, sondern sich im supra-, trans- und internationalen Recht neue Formen der organisatorischen Ausdifferenzierung mit entsprechenden Verschränkungen von primären und sekundären Institutionen90 entwickeln. Das spricht dafür, dass spezialisierte Organisationen einen allgemeinen Kausalmechanismus darstellen, der es erlaubt, die inhaltliche und räumliche Reichweite von Institutionen auszuweiten. „Rechtssysteme“ erweisen sich darin als eine weitere Stufe der Emergenz von Recht, die sich durch die Clustereigenschaft der organisatorischen Ausdifferenzierung auszeichnet.
87 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, 17 f. („Erzwingungs-Stab“); vgl. K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, 216; zur Ausdifferenzierung des Rechts vgl. N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1999; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 297 ff. 88 Vgl. R. Michaels, Global Legal Pluralism, Annual Review of Law and Social Science 5 (2009), 250 ff.; Tamanaha (Fn. 28), 118 ff.; W. Twining, General Jurisprudence, 2009, 88 ff. 89 Hart (Fn. 22), 79 ff. 90 N. Krisch, Beyond Constitutionalism, 2010; 11 ff.; R. Michaels, Law and Recognition – Towards a Relational Concept of Law, in: N. Roughan / A. Halpin (Hg.), In Pursuit of Pluralist Jurisprudence, 2017, 90 ff.; T. Schultz, Transnational Legality, 2014, 101 ff.
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4. Der Grundriss eines naturalistischen Rechtsbegriffs Mit dem Konzept eines auf Normrepräsentationen beruhenden und durch soziale Präferenzen getragenen Verhaltensgleichgewichts und der organisatorischen Ausdifferenzierung des Rechts sind die wesentlichen Clustereigenschaften beschrieben, um im Sinne einer Ontologie der sozialen Welt die Struktur des Rechts zu skizzieren. Danach bestehen Rechtssysteme aus einem Netzwerk aus normbasierten und informalen Institutionen. Institutionen im Sinne von Verhaltensgleichgewichten bilden also die Grundbausteine des Rechts, und ihre Kausalmechanismen sind auch für dessen Normativität konstitutiv. Genauer gesagt ist das Recht ein Netzwerk von drei Schichten von Gleichgewichten: Grundlegend ist eine gesellschaftsweite informale Institution des Inhalts, dass bestimmte Angelegenheiten durch formale Normen geregelt werden, deren Verwaltung den Mitgliedern des organisierten Rechtsstabs obliegt. Rechtssysteme beruhen also zunächst auf einer gesellschaftsweiten informalen Institution der „Rechtsstaatlichkeit“. Die zweite Schicht besteht aus überwiegend formalen Gleichgewichten zwischen den Mitgliedern des Rechtsstabs, welche die Schaffung, Änderung, Interpretation und Durchsetzung von sprachlich repräsentierten Normen regeln. Gegenstand dieser Gleichgewichte sind im Wesentlichen diejenigen Regeln, die Hart als sekundären Regeln beschreibt (aber zum Beispiel nicht privatrechtliche Kompetenzen wie die Privatautonomie). Die dritte Schicht besteht aus einer Unzahl von informalen gesellschaftlichen Gleichgewichten zwischen den von konkreten (etwa kaufrechtlichen) Regelungen betroffenen Rechtsadressaten. Vermittelt über Intermediäre spiegeln diese informalen Gleichgewichte zu einem gewissen Grad den Inhalt der einschlägigen Rechtsregeln wider, sind mit diesen aber nicht identisch. Dagegen existieren Rechtsnormen im Sinne von ideellen Entitäten in der hiesigen Ontologie nicht. Als Referenten von Sprechakten oder mentalen Repräsentationen sind sie bloß abstrakte Entitäten ohne kausale Wirksamkeit. Allenfalls „Geltung“, aber keine Existenz haben damit alle primären und sekundären Regeln im Hartschen Sinn, mit der einzigen Ausnahme der Erkenntnisregel, die eine informale soziale Institution ist. Gleiches gilt für Rechtsnormen bei Kelsen einschließlich der ohnehin nur transzendentalen bzw. hypothetischen Grundnorm. Dass Regeln und Normen in der rechtlichen Kommunikation als „existierend“ behandelt werden, beruht mithin auf einer Fiktion. Für die soziale Praxis des Rechts bzw. die Aufrechterhaltung rechtlicher Verhaltensgleichgewichte kann diese Fiktion allerdings praktisch notwendig oder zumindest hilfreich sein. Eine schwierige Frage ist schließlich, wie das Verhältnis der verschiedenen Institutionen zueinander zu verstehen ist. Als Verhaltensgleichgewichte beziehen Institutionen ihre Stabilität zunächst aus sich selbst. Allerdings hängt die Stabilität vieler Gleichgewichte in unterschiedlichem Ausmaß von der Stabilität anderer, zusammenhängender Gleichgewichte ab. Das Verhältnis der Ebenen ist deshalb vermutlich am besten als eine netzwerkartige Struktur beschrieben. Nicht unplausibel ist auch, dass sich die drei Ebenen von Gleichgewichten gegenseitig stabilisieren. Deshalb werden Rechtssysteme ihre Stabilität verlieren, wenn eine der drei Ebenen ausfällt oder erheblich geschwächt wird.
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IV. Zur Phänomenologie genuiner Normativität Diese vorstehend skizzierte naturalistische Erklärung rechtlicher Normativität deckt sich freilich wenig mit dem, was die Teilnehmer normativer Praktiken als Normativität wahrnehmen. Abschließend sei deshalb wenigstens angedeutet, wie sich drei Aspekte der Phänomenologie von Normativität aus der Sicht einer naturalistischen Ontologie darstellen könnten, nämlich Geltung, Verbindlichkeit und normative Gründe. 1. Geltung: ideelle Existenz vs. Koordinationsinstrument In einer normativistischen Ontologie liegt es nahe, Geltung als ideelle Existenz von Normen als abstrakter, nicht-körperlicher Entitäten zu verstehen. Da ideelle Entitäten aber keine Kausalwirkungen zeitigen, existieren Normen jedenfalls in der kausalen Welt nicht. Auch performative Sprechakte sind nicht in der Lage, ihrem semantischen Gehalt Kausalwirkungen zu verschaffen. In hiesiger Sicht sind Normen, oder genauer gesagt, geteilte Repräsentationen von Normen,91 vielmehr spieltheoretische Korrelationsmechanismen zur Auswahl und Aufrechterhaltung von Verhaltensgleichgewichten. So betrachtet dient das Konzept der „Geltung“ nur dazu, die andauernde Relevanz einer Norm für die Gleichgewichtsauswahl zu signalisieren. Geltung signalisiert schlicht das Gleichgewicht, das an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt gespielt werden soll. Aus naturalistischer Sicht überrascht es allerdings auch nicht, dass die Teilnehmer der Rechtspraxis Normen zu unabhängig existierenden Entitäten hypostasieren.92 Michael Tomasello hat eine viel beachtete Theorie zur Evolution von Moral vorgelegt, die dazu hilfreiche Hinweise gibt. Tomasello sieht in der kognitiven Fähigkeit und Bereitschaft zur Verdinglichung von Verhaltenserwartungen zu objektiven, allgemein geltenden Normen einen entscheidenden Schritt in der Evolution des Menschen zum Kulturwesen.93 Der daraus resultierende normative Realismus94 normativer Praktiken erscheint insoweit als ein funktionales Mittel zur Stabilisierung normativer Praktiken. Und in gewisser Weise ist eine kognitivistische Semantik, welche die unabhängige Existenz von Normen unterstellt, auch ontologisch nicht ganz falsch. Denn wenn Institutionen emergente Entitäten sind, stellen sie für das Individuum auch real unabhängige Gegebenheiten dar, auf die es als Einzelner keinen Einfluss hat. Um Nash-Gleichgewichte zu ändern, braucht es in der Regel vielmehr eine kritische Masse. Liegt das Augenmerk aber auf der Stabilität von Institutionen, ergibt es funktional guten Sinn, die Aufmerk91 Henderson (Fn. 23). 92 Zur Verdinglichung von sozialen Entitäten E. Machery, Social Ontology and the Objection from Reification, in: M. Gallotti / J. Michael (Hg.), Perspectives on Social Ontology and Social Cognition, 2014, 87 ff. 93 Tomasello (Fn. 82); vgl. auch I. Gonzalez-Cabrera, On Social Tolerance and the Evolution of Human Normative Guidance, The British Journal for the Philosophy of Science, im Erscheinen. 94 Strukturell vergleichbar mit dem moralischen Realismus der Ethik, vgl. G. Sayre-McCord, Moral Realism, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2017, .
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samkeit davon abzulenken, dass die Teilnehmer der Praxis als Kollektiv selbst der eigentliche Urheber der Institutionen sind. 2. Verbindlichkeit: ideelle Eigenschaft vs. Kausaleffekt von Intuitionen Eine ähnliche funktional hilfreiche ontologische Fehlattribution besteht möglicherweise in Bezug auf die Verbindlichkeit von Normen. Aus Sicht der Teilnehmer erscheint die Verbindlichkeit von Normen als eine ideelle Eigenschaft der repräsentierten Norm, vielleicht dem zwanglosen Zwang guter Argumente vergleichbar. Tatsächlich stellt sie eine kausale Wirkung der kognitiven und sozialen Prozesse dar, auf denen die Emergenz der Institution beruht. Dass auch dabei moralischen Intuitionen eine Rolle spielen, ist nicht unplausibel, bedürfte allerdings empirischer Untersuchungen. So könnte es sein, dass die Kommunikation von Rechtsnormen die Autoritäts-Intuition anspricht und dadurch die Anordnungen des Rechts als etwas erscheinen lässt, dem Respekt gebührt, oder dass eine Ansprache der Gegenseitigkeits- und der Gemeinschafts-Intuition die Empfindung bestärkt, an der kollektiven Praxis des Rechts loyal teilnehmen zu müssen.95 3. Legitime Gründe: normative Tatsachen vs. Selektion von Gründen durch diskursive Praktiken Moralische Intuitionen sind möglicherweise auch relevant für die Frage, wann ein Argument als ein legitimer normativer Grund wahrgenommen wird. Vieles spricht dafür, dass es eine spezifische und distinkte Empfindung moralischer Richtigkeit gibt, und dass diese von der Aktivierung moralischer Intuitionen abhängig ist. Moralische Intuitionen könnten insoweit das dominante Material normativer Argumente bilden. Auch dies bedarf empirischer Untersuchung. Wenn es zuträfe, würde dies aber nicht bedeuten, dass moralische Intuitionen normative Argumente determinieren. Moralische Intuitionen können und werden vielmehr laufend der bewussten Reflexion und sprachlichen Deliberation unterworfen.96 Sie werden dabei durch Verallgemeinerung und Kombination in andere und oft auch neue Formen und komplexe Zusammenhänge gebracht. Über die Auswahl und Konkretisierung der moralischen Intuitionen im Kontext des Rechts entscheidet dann der institutionalisierte rechtliche Diskurs, also die soziale Ebene, nicht die kognitive. Deshalb richtet sich die Legitimität rechtlicher Gründe letztlich nach den in der jeweiligen Praxis des Rechts wirksamen impliziten oder expliziten Normen über das Geben und Nehmen vor Gründen, die bestimmen, welche moralischen Intuitionen wir in welchen Formen und in welchen Kontexten zulassen. Aus der Teilnehmerperspektive mag es deshalb eine Objektivität rechtlichen Argumentierens durchaus geben. Aber diese Objektivität beruht auf der Stabilität der 95 Vgl. Haidt, Righteous Mind (Fn. 80), 158 ff., 161 ff., 165 ff. 96 Sauer (Fn. 76), 25 ff.
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institutionellen Praxis, und ihr Inhalt ist objektiv nur relativ zu dieser Praxis. Welche Art von Rechtssystem wir haben – eines mit oder ohne Prinzipien, ein fallorientiertes oder ein regelorientiertes, ein wortlautgetreues oder ein zweckoffenes, eines mit oder ohne Richterrecht – hängt mithin davon ab, welche Gleichgewichte wir als Juristen in unseren institutionellen Praxen spielen. Prof. Dr. Stefan Magen, M. A. Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsökonomik, Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstraße 150, D-44780 Bochum
Die Aufgaben von Theorien des Rechts Dietmar von der Pfordten, Göttingen Bekanntlich breitet sich das Gute immer weiter aus sodass, schließlich „alles gut ist“, wie man heute bei jeder Gelegenheit mit maximaler Ungenauigkeit hören kann. So ist auch der Begriff der Theorie inzwischen inflationär und ubiquitär geworden. Das gilt wohl für alle Wissenschaften, in besonderem Maße jedenfalls für die Rechtswissenschaft. In ihr kann mittlerweile praktisch jede auf ein Allgemeines Bezug nehmende Erkenntnis, also jeder allgemeine Satz als „Theorie“ bezeichnet werden.1 Das Einsatzspektrum des Ausdrucks „Theorie“ wurde somit extrem ausgeweitet. Es reicht von der Zusammenfassung grundlegender Einzeldisziplinen der Rechtswissenschaft über Theorien des Rechts als Ganzes und damit als Ersatz für die Rechtsphilosophie, Theorien der großen Rechtsgebiete des Privatrechts, Öffentlichen Rechts oder Strafrechts oder Teile dieser Rechtsgebiete, Theorien der Methodik der Rechtsgewinnung (etwa: die „Theorie der juristischen Argumentation“) bis hin zu jeder dogmatischen Auslegung und Diskussion einzelner positivrechtlicher Begriffe in einzelnen Gesetzen, sofern sie nur über die konkrete Entscheidung hinausgeht und so „auf ein Allgemeines Bezug nimmt“. Für ersteres, also die Zusammenfassung grundlegender Disziplinen der Rechtswissenschaft mag als Beleg auf die außerordentlich erfreuliche Ausweitung des Aufgabenbereichs der Zeitschrift Rechtstheorie verwiesen werden. Während sie sich selbst zu Beginn 1970 noch bloß bescheiden „Zeitschrift für Logik, Methodenlehre, Kybernetik und Soziologie des Rechts“ nannte, lautet die nur geringfügig selbstbewusstere Selbstbeschreibung jetzt: „Zeitschrift für Logik und Juristische Methodenlehre, Allgemeine Rechtsund Staatslehre, Kommunikations-, Normen- und Handlungstheorie, Soziologie und 1
Vgl. etwa C.-W. Canaris, Theorienrezeption und Theorienstruktur, in: H. G. Leser / T. Isomura (Hg.), Wege zum japanischen Recht, Festschrift für Zentaro Kitagawa, 1992, 60 f., 66 (auch in: Gesammelte Schriften I, hg. von H. C. Grigoleit und J. Neuner, 2012, 347 ff.): Canaris verweist zustimmend auf K. Popper, Logik der Forschung, 9. Aufl., 1989, 31: „Wissenschaftliche Theorien sind allgemeine Sätze“. Nach S. 66 soll ein Satz dann aber „nach herkömmlicher Ansicht“ als „ein System von Aussagen“ zu verstehen sein. Ein System ist aber viel anspruchsvoller als ein Satz. Und auf S. 71 heißt es noch anspruchsvoller: „Eine rechtswissenschaftliche Theorie ist eine Trias aus Grundwertung(en), Regel(n) und paradigmatischen Problemlösungen.“ Und in Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ (1993), 377, (auch in: Gesammelte Schriften I, 2012, 387 ff.) wird dann neben der Triasthese im Sinne des anspruchsvolleren Systemerfordernisses ausgeführt: „In der Tat verdient nicht jede beliebige Verbindung allgemeiner Sätze den Namen Theorie. Hinzukommen muss vielmehr, dass diese systematisch, d. h. nach den Kriterien der Ordnung und Einheit, miteinander verbunden sind. Ziel einer wissenschaftlichen Theorie ist also eine systematische Klärung im Wege der Einordnung in einen systematischen Zusammenhang.“
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Philosophie des Rechts“. Für letzteres, also die konkret-dogmatische Rechtsauslegung bzw. -anwendung kann als Beispiel die einfache Interpretation des Ausdrucks „Sache“ beim Diebstahl nach § 242 StGB durch eine „Substanz-“, „Sachwert-“ und – wie könnte es anders sein – „Vereinigungstheorie“ dienen.2 Der maximal ausgeweitete Theoriebegriff kann heute also offenbar auf allen Abstraktionsstufen der Rechtswissenschaften und zu allen Zwecken eingesetzt werden. Dies ist natürlich nur durch eine extreme Dehnung seiner Bedeutung möglich, die den Begriff praktisch synonym mit „Erkenntnis“, „Lehre“, „Untersuchung“ oder „Wissen“ werden ließ. Die Folge ist der Verlust praktisch jeder Unterscheidungskraft. Beispielhaft kann man die verlorene Spezifikationskraft des Theoriebegriffs etwa bei den Lösungsvorschlägen des Bereicherungsausgleichs im Gegenseitigkeitsverhältnis, also Auslegungs- und Anwendungsthesen zu § 818 III BGB (so lassen sie sich sorgfältiger charakterisieren) studieren. Während früher der sog. „Saldotheorie“ des Bereicherungsrechts die etwas altbacken klingende „Zweikondiktionenlehre“ als Interpretation des Gesetzes gegenübergestellt wurde,3 sind fast alle Autoren nun zur viel intellektuelleren und anspruchsvolleren „Zweikondiktionentheorie“ übergegangen.4 Die bloße Lehre, Erkenntnis oder These wirkt mittlerweile offenbar antiquiert, langweilig und epistemisch zweifelhaft. Nur wer eine neue Theorie präsentieren kann, der hat scheinbar etwas Zeitgemäßes, intellektuell Aufregenderes sowie besser Begründetes und damit Sichereres gefunden. Der Theoriebegriff verbindet heute – das gilt auch selbstkritisch gegenüber eigenen Verwendungen – also ein Minimum an Beschreibungs- und Differenzierungswert mit einem Maximum an Affirmationsanspruch. Charles Leslie Stevenson hat bereits 1944 in Ethics and Language die Ausweitungsmechanik solcher janusköpfiger, wertend-beschreibender Begriffe analysiert: Damit immer mehr Phänomene an der positiven Wertung teilnehmen können, wird die der Wertung ursprünglich zugrundeliegende Beschreibung stillschweigend erweitert, was natürlich dazu führt, dass die positive Bewertung ab einem gewissen Punkt nicht mehr durch die Tatsachen gedeckt ist.5 Der Versuch einiger, den Einsatz des Theoriebegriffs in der Rechtswissenschaft durch anspruchsvollere Kriterien wie das Erfordernis eines Systems, zu beschränken,6 ist – das muss man leider konstatieren – evident gescheitert. Man fühlt sich an Goethes Zauberlehrling erinnert: Der Theoriebesen kehrt nun alles und jedes weg, ohne dass er noch jemals aufzuhalten sein wird. Und ein Zauberer, der dem Einhalt gebieten könnte, wird in der Rechtswissenschaft kaum erscheinen.
2 3 4 5 6
A. Eser / N. Bosch in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., 2014, § 242, Rn. 48 ff. R. Westerhoff, Schuldrecht BT IV: Bereicherungs- und Deliktsrecht, 2010, 76. Bamberger/Roth/Wendehorst, BGB, 2012, § 818, Rn 103 ff. C. L. Stevenson, Ethics and Language, 1944, 206 ff. Vgl. Canaris (Fn. 1).
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I. Wie geht man mit diesem prekären Befund um? Aufklärung des Nachhalls Wie geht man mit diesem prekären, vielleicht sogar desaströsen, jedenfalls aber zeittypischen Befund der maximalen Inflationierung und folglich Ubiquität des Theoriebegriffs und damit fast vollständigen Verlustes seiner Spezifikationskraft um? Die schlechteste, weil am wenigsten objektive, verallgemeinerbare und damit wissenschaftliche Haltung wäre es, angesichts dieser Diagnose, ohne weiteres die vielen mehr oder minder subjektiven Vorschläge einzelner Autoren zu referieren und zu diskutieren, sei es Vorschläge zum Verständnis des Theoriebegriffs in der Jurisprudenz oder Vorschläge zur Bildung einer bestimmten Art von Theorie für die Jurisprudenz; etwa Ralf Dreiers Vorschlag der Rechtstheorie als einer Grenzpostendisziplin gegenüber anderen Wissenschaften oder Kelsens oder Luhmanns reduktionistische Theorie.7 Später wird noch kurz auf Dreiers und Kelsens Vorschläge eingegangen werden. Die Bewertung wird aber hier schon vorweggenommen: Keiner dieser Vorschläge zum Verständnis einer umfassenderen Rechtstheorie konnte bisher offenbar die Mehrheit der Wissenschaftler überzeugen. Denn anders als die Dogmatik, die Geschichte, die Soziologie und die Philosophie des Rechts konnte sich keiner dieser Vorschläge unabhängig von diesen klassischen Fächern dauerhaft und gesichert disziplinär etablieren. Es trifft nach wie vor das zu, was Ralf Dreier bereits 1975 festgestellt hat: „Es gibt gegenwärtig keine konsensfähige Allgemeine Rechtstheorie“.8 Dies gilt noch in stärkerem Maße für andere Länder. Und es stimmt auch für andere Wissenschaften: Der Vorschlag, die Philosophie durch Wissenschaftsoder Sprachtheorie zu ersetzen, die als philosophische Grundlagenwissenschaft dienen sollte, ist evident gescheitert. Angesichts dieser prekären Lage der Selbstbeschreibung als Theorie wäre es methodisch falsch, hier gleich noch eine weitere subjektive Theorie der Theorie, etwa eine Theorie der Rechtstheorie oder gar eine „Rechtswissenschaftstheorie“ hinzuzufügen.9 In dieser prekären Situation der maximalen Bedeutungsinflationierung bei praktisch vollständigem Verlust der Differenzierungskraft des Theoriebegriffs erscheint ein gemeinsames Innehalten und eine Reflexion der Situation notwendig: Trotz aller Inflationierung der Begriffe, mit welchen wissenschaftliche Autoren selbst ihre eigene Tätigkeit beschreiben, geschieht es immer noch bewusst und zwar mit der Intention einer gewissen Differenzierung. Quasi in einem Nachhall ist also noch ein Stück weit dasjenige mitgemeint, was Theorien früher von anderen Formen der Erkenntnis unterschied, aber – und das verkompliziert die Analyse enorm – wegen des insgesamt praktisch vollständigen Verlustes der Spezifizierungsfähigkeit des allgemeinen Theoriebegriffs sind es auf den einzelnen Abstraktionsebenen der Rechtserkenntnis durchaus verschiedene Elemente dieses Nachhalls, die fortwirken. Wie kann man diese noch nachhallenden 7 8 9
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1960, 1 ff.; N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer Allgemeinen Theorie, 1987. R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, in: ders. (Hg.), Recht-Moral-Ideologie, 1981, 25. Vgl. M. Jestaedt / O. Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008.
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Elemente aufklären? In einem ersten Schritt nur durch eine Beschreibung und Analyse des historischen Vorgangs der enormen Ausweitung des Theorieverständnisses mit dem konstruktiven Ziel noch einige spezifische Merkmale des früheren Theoriebegriffs zu identifizieren (III.). In einem zweiten Schritt soll dann eine Bewertung für die einzelnen Abstraktionsstufen erfolgen und gefragt werden, wo ein bewussterer und sparsamerer Einsatz des Theoriebegriffs überhaupt noch sinnvoll erscheint (IV.). II. Darstellung der Ausweitung des Theorieverständnisses 1. Verwendung in der griechischen Antike Der Ausdruck „theoria“ geht vermutlich auf das griechische Wort „theoros“ zurück,10 das entweder als „der eine Schau sieht“11 oder als „den Gott wahrend“12 interpretiert wird, jedenfalls einen sakralen Gesandten zu Götterfesten und Orakeln bezeichnete,13 wobei der erste Teil schon in der Antike etymologisch vom Wort „theos“ für Gott abgeleitet wurde.14 „theoria“ bedeutete somit ursprünglich die Festgesandtschaft bzw. -schau, sowie – bereits erweitert – das religiös-transzendente Anschauen, Betrachten, Erkennen. So verwendet etwa Platon den Begriff sehr vereinzelt für die auf Göttliches und Menschliches gerichtete, umfassende Schau der ganzen Zeit und allen Seins,15 der göttlichen Theorie bzw. Schau (theia theoria),16 bzw. des Schauens der Götter, des Wahren bzw. Seienden.17 Aristoteles hat die „theoretische Erkenntnis“, die „epistéme theoretiké“, dann der „praktischen Erkenntnis“, der „epistéme praktiké“ gegenübergestellt (und auch noch der „herstellenden Erkenntnis“, der „epistéme poietiké“).18 Wesentlich ist allerdings der radikale Unterschied der Abstraktionshöhe: Für Aristoteles war die „epistéme theoretiké“ in der sakralen Auffassungstradition die allgemeinste Wissenschaft weil sie auf das erste Prinzip, das höchste Sein, den ersten Beweger, also Gott gerichtet war. Sie umfasste neben der Theologie die Mathematik und Physik.19 Lediglich zur sekundären Konkretisierung dieser abstrakten, betrachtenden, theoretischen Wissenschaft diente dann die praktische Wissenschaft. 10 Vgl. die begriffshistorische Darstellung von „Theorie“ durch G. König, in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Sp. 1128–1146, sowie zus. mit Helmut Pulte Sp. 1146–1154 (20. Jh. (Wissenschaftstheorie)). Vgl. auch Boesch, Θεωρός, 1908, 1 ff. 11 Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, 1960 ff. 1, 669. 12 H. Koller, Theoros und Theoria, Glotta 36 (1957/58), 273, 284. 13 Herodot I, 30, 59; Thukydides 6, 16, 2. 14 Vgl. Philodem, De mus. XIII, 23, 8 f.; Plutarch, De mus. 27; H. Rausch, Theoria: Von ihrer sakralen zur philosophischen Bedeutung, 1982, 15 ff. 15 Platon, Politeia, 486a 4–10. 16 Platon, Politeia, 517d 5 f.:„ei apo theion … theorion“ (göttliche Theoria); bei 525a 1–2: „ten tou ontos thean“ (Schau). 17 Platon, Phaedros, 247a 4, d 4, e 4. 18 Aristoteles, Metaphysik I, 2, 982 b 7–9.; VI, 1. 1025b 25–27, 1026a 19, 22, 32, 1026b 4 f. Vgl. J. Ritter, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles, 1953. 19 Aristoteles, Metaphysik VI, 1. 1026a 19.
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2. Multiple lateinische Übersetzungen In die lateinische Wissenschaft wurden Wort und Begriff der „theoria“ zunächst nicht übernommen, sondern sehr divergent als „contemplatio“, „speculatio“, „meditatio“, „consideratio“ oder „visio“ übersetzt.20 Wort und Begriff der „theoria“ verloren so ihre allgemeine Bedeutung und wurden wie „theologia“ nur sehr eingeschränkt als Erkenntnis des Göttlichen weitergeführt.21 3. Die neuzeitliche Verwendung für Kosmologie und Naturphilosophie Das Wort „theoria“ taucht dann erst im Spätlateinischen und in der Neuzeit in den modernen Sprachen als Lehnwort auf, und zwar zunächst offenbar im Wege einer Verschiebung vom Transzendenz- zu einem zunehmenden Immanenzbezug kosmologischer und astronomischer Werke. So schrieb etwa Bacon schon ca. 1612 eine kurze „Theory of the Heaven“, Kant dann 1755 eine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“, Boscovic 1758 eine „Theorie der Naturphilosophie“. Ab der Mitte des 18. Jahrhundert kommt es dann zu einer Inflation von Wort und Begriff „Theorie“ als Werktitel. Dabei geht die theologische sowie kosmologisch-astronomische Beschränkung ebenso vollständig verloren, wie der seit Aristoteles implizierte höhere Abstraktionsgrad der theoretischen gegenüber der praktischen Erkenntnis. Neben den Akt der Schau tritt deren Ergebnis als Zusammenhang von Sätzen und der Begriffsumfang nimmt enorm zu. Baumgarten veröffentlicht etwa 1750 eine „Theorie der freien Künste“, Adam Smith 1759 eine „Theory of Moral Sentiments“, Rüdiger 1777 ein Werk „Über die systematische Theorie der Cameralwissenschaften“, Meyer 1788 ein Buch „Von der Theorie des Rechts, deren Eintheilungen und Verhältnis zur Praxis …“, Kant 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“, Lagrange 1797 eine mathematische „Théorie des fonctions analytiques“. 1786 erscheint aber auch eine „Theorie der empfindsamen Gartenkunst“, 1799 eine „Theorie des weisen Spottes“ und eine „Theorie des Müßiggangs und der faulen Künste“. 4. Der neue Anspruch ab Mitte des 18. Jahrhunderts: eine darstellende, spezialisierte Untersuchung Der neue Anspruch der seriösen Theorien war offenbar erstens einer etwas spezialisierten, nicht umfassend philosophisch-metaphysischen, zweitens einer beschreibenden, darstellenden, nicht aber praktischen Untersuchung, wobei es folglich für möglich gehalten wurde, die theoretischen Aspekte eines Untersuchungsgegenstands zum einen 20 König (Fn. 10), Sp. 1131 f. 21 R. Goclenius, Art. „Theoria“, in: ders. (Hg.), Lexicon Philosophicum Graecum, 1615, Neudruck 1964, 101: „Specialiter pro inspection vel observatione rerum divinarum“
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aus dem umfassenden philosophischen Rahmen22 und zum anderen von den praktischen Aspekten zu lösen. Die Selbstbezeichnung als „Theorie“ dient also einem neuen Schritt der Spezialisierung auf die bloße Beschreibung. Kant befestigte die Unterscheidung erkenntnistheoretisch durch die divergenten Erkenntnismöglichkeiten der reinen (theoretischen) und der reinen praktischen Vernunft, wobei er den Theoriebegriff in der Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 interessanterweise nicht definiert. In nicht unerheblichem Widerspruch zur Trennung von theoretischem und praktischem Denken steht dann aber wiederum Kants Definition der Theorie im ersten Satz der kleinen Schrift von 1793 „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“: „Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann Theorie, wenn diese Regeln, als Prinzipien, in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahiert wird, die doch auf ihre Ausübung notwendig Einfluss haben.“ Jedenfalls soll die reine praktische Vernunft nach Kant zu weitergehenden, apriorischen, also nichtempirischen Erkenntnissen befähigt sein als die theoretische Vernunft wie man am Titel- und Umfangsunterschied zwischen der „Metaphysik der Sitten“ und den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften“ sehen kann. Insofern wurde die praktische Vernunft von Kant zumindest in ihren Fähigkeiten höher bewertet als die theoretische Vernunft. 5. Die Umkehrung der Bewertung durch Empirismus und Positivismus Diese Höherwertung der praktischen Vernunft wurde durch den Empirismus und Positivismus des 18., 19. und 20. Jahrhunderts allmählich umgekehrt, indem versucht wurde, alle wissenschaftliche Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung zu stützen und damit auf Darstellung und Beschreibung. Die konkrete sinnliche Wahrnehmung reklamiert nunmehr gegenüber der abstrakten, nichtsinnlichen, transzendentalen Erkenntnis den Primat und drängt deren Bedeutung zurück. Während theoretische Erkenntnisse und Darstellungen durch sinnliche Erfahrung oder zumindest die Einbettung in ein kohärentes System logisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnis mit empirischen Anteilen (Popper) gerechtfertigt werden können, gilt dies für praktische Erkenntnisse nicht oder jedenfalls nicht im gleichen Maße. Die Folge ist eine Abwertung der Gewissheit praktischer Erkenntnis, welche auch die Rechtserkenntnis trifft und dort wie in allen Wissenschaftsbereichen zu einer Verschiebung hin zur theoretischen Erkenntnis und damit – unter empiristischen Prämissen – hin zum Empirismus und Positivismus führt.23 Kirchmanns berühmte Problematisierung der Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft setzt unhinterfragt voraus, dass Rechtserkenntnis vor allem empirisch-positivistische Er22 Vgl. zur Aufgabe der Philosophie als umfassendem Rahmen: D. von der Pfordten, Suche nach Einsicht. Über Aufgabe und Wert der Philosophie, 2010, 22. 23 Vgl. zur Methodenentwicklung allgemein: J. Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2012; A. Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997.
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kenntnis von Rechtssetzungsakten des Gesetzgebers sein soll.24 Der logische Positivismus des Wiener Kreises radikalisiert am Beginn des 20. Jahrhunderts diese Abwertung praktischer Erkenntnis bis hin zur völligen Negation jeglicher immanenten Sinnhaftigkeit praktischer Urteile, etwa bei Wittgenstein und Carnap.25 Ab Anfang des 20. Jahrhunderts nimmt die Theorie zusätzlich und zugleich abschwächend den Charakter einer bloßen Hypothese/Annahme bzw. eines problematischen Urteils gegenüber den allesentscheidenden, die Theorie verifizierenden oder zumindest falsifizierenden Tatsachen bzw. Fakten an.26 6. Die Übertragung dieser Auffassung auf die Rechtswissenschaft z. B. durch die Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts und die Reine Rechtslehre Die Übertragung dieser skeptischen Auffassung gegenüber praktischen Urteilen auf die Rechtswissenschaft erfolgte etwa im Vorwort der von Kelsen 1926 mitgegründeten Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts: Aufgabe der Theorie des Rechts sollte zwar jenseits der nationalen Rechtsordnungen noch die alte Frage nach dem „Wesen des Rechts, seinem Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft, nach den Grundbegriffen und Methoden der Rechtserkenntnis …“ sein,27 aber lediglich als „Theorie des positiven Rechts“,28 sodass die Frage nach der Gerechtigkeit und dem natürlichen Recht und damit – in Übernahme der neukantianischen Verkürzung dieses Begriffs29 – die „Rechtsphilosophie“ ausgeschlossen ist.30 Kelsens „Reine Rechtslehre“ soll angeblich eine bloß rechtswissenschaftsinterne und beschreibende Theorie ohne externe Bezüge sein.31 Andere Varianten dieser philosophieskeptischen, mit der analytischen Philosophie verschwisterten Auffassung der Rechtstheorie sind Harts sprachanalytische Regeltheorie des Rechts und die theoretische Soziologie bzw. Systemtheorie des Rechts (Luhmann, Teubner) usw. 24 J. von Kirchmann, Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Neudruck 1999. 25 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1922: 6.42: Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. 6421: Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt. Die Ethik ist transcendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins). Vgl. D. von der Pfordten, Höchster Moralismus und tiefste Skepsis gegenüber der normativen Ethik – Zu Wittgensteins Metaethik, in: A. Siegetsleitner (Hg.), Logischer Empirismus, Werte und Moral. Eine Neubewertung, 2010, 45–60. Vgl. allgemein die Beiträge in diesem Sammelband zu den Autoren des logischen Empirismus. 26 Vgl. z.B. J. H. Poincaré, Wissenschaft und Hypothese, 1902; König (Fn. 10), Sp. 1135 f. 27 Vorwort, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts I (1926/27), 2. 28 Vorwort, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts I (1926/27), 3. 29 Für Klassiker der Rechtsphilosophie wie Platon, Aristoteles, Thomas, Kant und Hegel war diese gerade nicht auf die Frage nach der Gerechtigkeit beschränkt (Platon, Aristoteles) oder auch nur bezogen (Kant, Hegel). Vgl. zu dieser durch die neukantianische Wertlehre verursachte Beschränkung auf die Gerechtigkeit: E. Lask, Rechtsphilosophie, 1905; G. Radbruch, Rechtsphilosophie, hg. von R. Dreier und S. Paulson, 1999, 12 ff. Vgl. im Anschluss an Radbruch auch noch ebenso einschränkend: A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, 7. 30 Vorwort, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts I (1926/27), 3. 31 Kelsen (Fn. 7), 1.
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Keine dieser Beschränkungen methodischer oder gegenständlicher Art hat sich bekanntermaßen durchsetzen können, weder die Abschaffung der Philosophie durch den logischen Positivismus noch die konkretisierende Ersetzung einer umfassend verstandenen Rechtsphilosophie durch die Reine Rechtslehre bzw. eine analytische oder soziologische Rechtstheorie. 7. Die dreifache, radikale Ausweitung des Theoriebegriffs: praktisch, nicht nur beschreibend; assertorisch, nicht nur hypothetisch; konkret, nicht einigermaßen abstrakt Für den Theoriebegriff und damit auch den Begriff einer Theorie des Rechts oder Rechtstheorie ging die allgemeine Entwicklung vielmehr genau in die Gegenrichtung: Rawls „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ und andere „Ethische Theorien“ weiten den Theoriebegriff auch auf die praktische Erkenntnis bzw. praktische Philosophie aus. Die Beschränkung auf bloße Hypothesen/Annahmen bzw. bloß problematische Urteile verschwindet zumindest in positivistischen, einzelne geltende Rechtsnormen konkret interpretierenden Theorien, sodass heute auch Komplexe aus vorwiegend assertorischen Urteilen als „Theorien“ bezeichnet werden. Schließlich wurde – wie eingangs gezeigt – der Theoriebegriff auf konkrete Rechtserkenntnisse erstreckt, sodass auch die relative Allgemeinheit als Spezifikum von Theorien verloren gegangen ist. III. Der Einsatz des Theoriebegriffs auf verschiedenen Abstraktionsebenen als Nachhall einer Differenzierung: beschreibend, hypothetisch, einigermaßen allgemein Die allgemeine Ausweitung des Theoriebegriffs umfasst also drei Merkmale: (1) auch praktisch, nicht nur beschreibend, (2) auch assertorisch, nicht nur hypothetisch bzw. problematisch, (3) auch konkret und nicht nur relativ abstrakt. Und der Nachhall relativiert bei einer Verwendung des Theoriebegriffs genau diese Ausweitungen. Was bedeutet das für die Selbstcharakterisierung als Theorie auf den verschiedenen Abstraktionsstufen? 1. Theorien zur dogmatischen Interpretation einzelner Begriffe, Normen oder Normgruppen des positiven Rechts? Die rechtsanwendende bzw. rechtsdogmatische Interpretation einzelner Begriffe, Normen oder Normgruppen des positiven Rechts kann per se weder bloß beschreibend noch einigermaßen abstrakt und auch nicht wirklich hypothetisch sein, sondern muss im Gegenteil qua Natur der Sache normativ-praktisch, konkret und vorwiegend assertorisch ausfallen. Die konkrete Einzelinterpretation der Rechtsdogmatik kann also
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diese Anforderungen an eine Theorie grundsätzlich nicht erfüllen. Dazu kommt, dass die Selbstcharakterisierung als „Theorie“ regelmäßig die viel genaueren und damit auch sehr viel besser zu rechtfertigenden Unterscheidungen bzw. Instrumente der juristischen Methodik, also die Instrumente der bloßen Auslegung mit ihren einzelnen Canones, der Analogie und Lückenfüllung, der teleologischen Reduktion und Extension, der Rechtsfortbildung praeter und contra legem usw. entdifferenziert und damit verwischt. Dies ist ein großes Problem für die methodische Schulung der Studierenden, die statt sorgfältiger Analyse und Auslegung des Gesetzestextes sofort und abstrakt irgendwelche auswendig gelernten „Theorien“ herunterbeten, etwa bei der Subsumtion des Merkmals „öffentlich-rechtliche Streitigkeit“ in § 40 VwGO. Alle Rechtswissenschaftler, welche bloße Auslegungsvorschläge zu einzelnen Gesetzen hochtrabend als „Theorien“ bezeichnen, sind für diese methodische Verwirrung vieler heutiger Studierender mitverantwortlich. Die Charakterisierung der bloßen dogmatischen Interpretation einzelner Worte in Rechtstexten oder einzelner Normen oder Normgruppen als „Theorie“ sollte also unbedingt vermieden werden, weil sie die sehr viel differenziertere Charakterisierung der eigenen Tätigkeit mittels der Instrumente der juristischen Methodenlehre zerstört. 2. Theorien mittlerer Reichweite von Rechtsprinzipien, Rechtsgebieten, Methoden? Anders ist die Situation bei der Untersuchung abstrakterer Rechtsprinzipien, ganzer Rechtsgebiete, Teilrechtsgebiete und Methoden, also dem, was man „Theorien mittlerer Reichweite“ genannt hat.32 Hier ist eine Konzentration auf die Beschreibung, sowie eine gewisse Hypothetizität und Allgemeinheit möglich und sinnvoll, sodass die Selbstcharakterisierung als Theorie gerechtfertigt und spezifizierend ist, also etwa eine „Theorie des rechtlichen Handelns“, eine „Theorie des Privatrechts“, eine „Theorie der Strafzwecke“, eine „Theorie der juristischen Argumentation“ oder eine „Theorie des Rechtsstaatsprinzips“. Dabei müssen aber zwei wesentliche Bedingungen beachtet werden: Je abstrakter die Theorie ist, desto weniger kann sie unabhängig von den anderen Grundlagenfächern der Rechtswissenschaft operieren. Sie muss also ihre Einbettung in weitere Kohärenzzusammenhänge, Begründungsbedürftigkeit und damit Hypothetizität realisieren. So kann etwa eine „Theorie des rechtlichen Handelns“ nicht völlig abgelöst von einer allgemeinen Handlungsphilosophie, aber auch -psychologie und -soziologie untersucht werden. Umgekehrt verblasst der externe Grundlagenbezug und der interne Dogmatikbezug muss zunehmen, je konkreter der positiv-rechtliche und damit bereits intensiv rechtsdogmatisch interpretierte Gegenstand wird. Eine „Theorie des Rechtsstaatsprinzips“ kann etwa nicht sinnvoll ohne starke Beachtung des positiven Rechts und der Rechtsdogmatik entwickelt werden. 32 R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz, in: R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, 1981, 93.
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3. Theorien des Rechts als Ganzes: Rechtstheorie als Ersatz der Rechtsphilosophie? Auf der Ebene der umfassenden Erkenntnis des Rechts als Ganzes, also dem Gebiet der Rechtsphilosophie, lässt sich zwischen Beschreibung und Bewertung, zwischen Theorie und Praxis nicht mehr vollständig trennen, wie die unvermeidliche Ewigkeitsfrage „Positivismus oder Nichtpositivismus?“ zeigt. Auch die Unterscheidung zwischen hypothetischen und assertorischen Urteilen verliert ihren Sinn, weil hier ja weder eine einfache Verifikation oder Falsifikation noch eine weitergehende kohärentistische Einbettung und damit Begründung möglich sind. Zudem werden die eingesetzten Begriffe und Thesen sehr abstrakt. Schließlich existiert mit der Rechtsphilosophie eine lange etablierte Selbstcharakterisierung, die auch den Zusammenhang mit der abstrakten Betrachtung anderer Gegenstände und anderer Disziplinen, etwa der Moral oder der Soziologie, und gleichzeitig die Differenzierung von diesen thematisieren kann. Für die Ersetzung der Rechtsphilosophie durch eine Rechtstheorie oder eine Einordnung der Rechtsphilosophie unter die abstraktere Rechtstheorie lässt sich somit kein Grund erkennen,33 sondern nur für eine Differenzierung in eine praktische und eine theoretische Philosophie des Rechts, wobei letztere vor allem die Standardfächer der theoretischen Philosophie auf das Recht als Gegenstand konkretisiert, also als Anthropologie, Ontologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Wissenschaftsphilosophie, Logik usw. des Rechts fungiert. Eine Theorie des Rechts erscheint also nur als Subdisziplin der theoretischen Philosophie des Rechts gerechtfertigt. Um diese Einschätzung zu untermauern, müsste man sich mit allen Vorschlägen für eine abstrakte Rechtstheorie auseinandersetzen. Aus Raumgründen kann dies hier nur für zwei dieser Vorschläge geschehen: a) Die Beschränkung des Theoriebegriffs auf eine abstrakte, innerrechtswissenschaftliche Beschreibung durch die „Reine Rechtslehre“? Hans Kelsen hat als spiritus rector der bereits erwähnten „Internationalen Zeitschrift für Rechtstheorie“ und in seiner „Reinen Rechtslehre“ eine Beschränkung auf eine bloß intern-rechtswissenschaftliche Beschreibung des Rechts ohne Rekurs auf die Philosophie und andere Fächer versucht. Danach soll es eine auf das positive Recht reduzierte, abstrakte und gleichzeitig rechtswissenschaftliche Beschreibung des Wesens des Rechts geben, eine so verstandene Rechtstheorie bzw. reine Rechtslehre.34 Wer Kelsens „Reine Rechtslehre“ aufschlägt, weiß nach wenigen Seiten, warum dieser Versuch einer sol33 Wenig überzeugend erscheint deshalb der Vorschlag Dreiers (Fn. 32), 29, die Rechtsphilosophie unter der Dachbezeichnung „Rechtstheorie“ einzuordnen. Insbesondere widerspricht diese These auch dem Schlusssatz seines Aufsatzes, in welchem er zustimmend Horaz zitiert: „Philosophiam expellas furca, tamen usque recurret – Ihr mögt die Philosophie mit der Mistgabel austreiben, sie kehrt doch zurück.“ 34 Kelsen (Fn. 7), 1.
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chen Beschränkung der Rechtstheorie scheitern muss: Die von Kelsen aufgeworfene Frage nach dem Wesen des Rechts und der Rechtserkenntnis ist keine bloß interne rechtswissenschaftliche Frage, sondern sachnotwendig eine übergreifende, nämlich ontologische sowie erkenntnistheoretische und damit philosophische Frage. Und die zur Beantwortung eingesetzten Begriffe, wie „Akt“, „Sinn“, „Sein“, „Sollen“, „Erkenntnis“, „Norm“, „Hierarchie“, „Objektivität“, „Deutungsschema“ sind – anders als z. B. die Begriffe „Verwaltungsakt“ oder „Schuldnerverzug“ – keine Rechtsbegriffe, sondern allgemeine Begriffe, die andere wissenschaftliche Disziplinen und die Alltagserkenntnis ebenfalls verwenden, und somit disziplinübergreifende, folglich in letzter Instanz in ihrer Allgemeinheit auch philosophisch zu interpretierende Begriffe.35 Das kann man verallgemeinern: Jede Untersuchung des Rechts als Ganzes muss nichtjuristische Begriffe und Prinzipien einsetzen und ist deshalb – sofern sie nicht anderweitig beschränkt wird, wie etwa bei der Rechtssoziologie auf die Gesellschaft oder bei der Medientheorie auf den medialen Charakter des Rechts – unvermeidlich Rechtsphilosophie. Eine vergleichbare Unmöglichkeit gilt folglich für alle anderen Versuche einer methodischen oder gegenständlichen Beschränkung der Rechtstheorie. Sie bleiben bloße Postulate und damit Lippenbekenntnisse. Warum ist das – und zwar notwendig – so? Es ist so, weil die Frage nach dem Recht im Allgemeinen, wie immer sie auch gefasst werden mag, also sprachlich, begrifflich, erkenntnistheoretisch, ontologisch usw., unausweichlich die Rechtswissenschaft (und ebenso die Soziologie, die Kommunikationstheorie, die Gesellschaftstheorie, die Medientheorie) in ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit übersteigt und die relativ weitestgehende Abstraktheit einer philosophischen Frage erreicht. Deshalb müssen die zur Beantwortung dieser Frage notwendig heranzuziehenden Begriffe wie Mensch, Handlung, Verhalten, Erkenntnis, Sein, Sollen, Verpflichtung, Norm, Regel, Anerkennung, Wirksamkeit, Gerechtigkeit, politische Gemeinschaft, Gesellschaft, ebenfalls unentrinnbar einen außerordentlich weiten bzw. hohen Abstraktionsgrad haben, sich also auf viel mehr Gegenstände als das Recht beziehen, so dass sie nur (rechts-)philosophisch, nicht aber bloß beschränkt bzw. intern rechtstheoretisch oder rechtssoziologisch, kommunikationstheoretisch oder medientheoretisch analysiert und verwendet werden können. Wenn etwa neuere Systemtheoretiker der Rechtsphilosophie Begriffe wie „Beobachtung“, „System“, „Differenz“ als nicht weiter erklärbare Grundbegriffe einsetzen,36 dann dekretieren sie diese Begriffe axiomatisch bzw. dogmatisch und schneiden ihre weitergehende (rechts-)philosophische Reflexion und Kritik einfach – und damit wissenschaftlich unbegründet und nicht überzeugend – ab. Die allgemeine Rechtstheorie ist also angesichts der klar definierten rechtswissenschaftlichen Disziplinen wie Rechtsdogmatik, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtspsychologie, Rechtsethnologie und Rechtsphilosophie mit ihren – von der Rechtsdogmatik abgesehen – eindeutig gegenständlich und methodisch definierten fachwissenschaftlichen Pendants (Geschichte, Soziologie, Psychologie, Ethologie, Philosophie) in großer Erklärungsnot. Sie kann keinen eigenen Gegenstand, kein eigenes 35 Kelsen (Fn. 7), 2 ff. 36 T. Vesting, Rechtstheorie, 2015, 3 ff.
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Ziel und keine klar spezifizierte Methode benennen. Um aus dieser Erklärungsnot herauszukommen haben Rechtstheoretiker verschiedene Vorschläge entwickelt, von denen ein weiterer hier analysiert werden soll: b) Die Rechtstheorie als Grenzpostendisziplin oder Schnittstellenmanager? Ein weiterer Vorschlag zur Aufgabenerklärung der Rechtstheorie ist der einer „Grenzpostendisziplin“37 oder eines „Schnittstellenmanagements“38: Die Rechtstheorie soll quasi als „Grenzposten“ nachbarwissenschaftliche Informationen, und zwar empirische Informationen, auf ihre Relevanz für die Rechtswissenschaft im engeren Sinn prüfen.39 Oder anders und weiter für alle Fächer der Rechtswissenschaft formuliert: Sie soll als „Schnittstellenmanagment“ Kontakt zu allgemeinen Entwicklungen im Wissenschaftsbetrieb halten, deren Innovationen reflektieren und auf Übertragbarkeit prüfen sowie die dabei gewonnenen Ergebnisse der Rechtsdogmatik, Methodenlehre, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsvergleichung und damit letztlich auch der Rechtspraxis zur Weiterverarbeitung anbieten.40 Zu diesem Vorschlag ist zu sagen: Erstens war und ist eine gewisse interdisziplinäre Zusammenführung verschiedener Disziplinen immer Aufgabe der Philosophie, weil diese alle einzelwissenschaftlichen Disziplinen zu verbinden bzw. einzurahmen hat.41 Damit hat die Philosophie selbstredend auch eine gewisse Vermittlungskompetenz, wobei der Vorteil der Philosophie gegenüber einer neuen, nur spezifisch rechtswissenschaftlichen Disziplin in ihrer überfachlichen Neutralität sowie ihrer Fähigkeit zur Verzahnung mit der dann stärker fachorientierten und auch an der Dogmatik teilhabenden Subdisziplin der theoretischen Rechtsphilosophie liegt. Zweitens ist es fraglich, ob eine neue Disziplin auf einen eigenen Gegenstand der Erkenntnis ganz verzichten kann. Die polizeilich-militärischen sowie ökonomischen Metaphern des Grenzpostens und des Schnittstellenmanagements sind zwar schön und eingängig. Aber es ist sonst keine wissenschaftliche Disziplin erkennbar, die ihre Daseinsberechtigung allein aus der Kontrolle und Filterung der Ergebnisse einer anderen Disziplin gewinnen könnte. Drittens dürfte das am Problem der Maßstäbe für diese Prüfung liegen: Nach welchen Maßstäben soll eine solche Prüfung stattfinden? Woher vermag die so als Grenzposten verstandene Rechtstheorie eigene Maßstäbe jenseits der allgemeinen Anforderungen jeder Wissenschaft wie Widerspruchsfreiheit, Kohärenz, Folgerichtigkeit, Fruchtbarkeit und Neuheit zu gewinnen? Letztere Anforderungen erheben folglich die einzelnen Disziplinen der Rechtswissenschaft einschließlich der Rechtsdogmatik bereits selbst, weil sie diese natürlich als Teil der Wissenschaft auch auf alle eigenen Untersuchun37 38 39 40 41
Dreier (Fn. 8), 25. Vesting (Fn. 36), 10 f. Dreier (Fn. 8), 25. Vesting (Fn. 36), 11. von der Pfordten (Fn. 22), 12; ders., Rechtsphilosophie. Eine Einführung, 2013, 7 ff.
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gen anwenden müssen. Viertens würde die Realisierung dieses Vorschlags eine gewisse Entmündigung der Rechtsdogmatik und der anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen mit sich bringen. Das wäre vielleicht hinzunehmen, wenn die Rechtstheorie bei dieser Prüfung und Filterung eine bessere Kompetenz hätte. Aber diese bessere Kompetenz ist ganz zweifelhaft: Die Anwendungsfragen der Rechtsdogmatik und die Aufgaben der anderen rechtswissenschaftlichen Fächer wie Rechtssoziologie, Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie sind so vielgestaltig und unterschiedlich, dass nur diese einzelnen Disziplinen für derart spezielle Anwendungsfragen bzw. Aufgaben ihre besonderen Bedürfnisse kennen und dann auch nach spezifischer Unterstützung durch andere Fächer suchen können. Eine allgemeine Rechtstheorie ist dafür zu unspezifisch. Und es besteht fünftens als Folge und angesichts der bisher vorgelegten Entwürfe der Rechtstheorie auch die nicht unerhebliche Gefahr, dass eine solche Rechtstheorie den einzelnen Fächern der Rechtswissenschaft eine gewisse einheitliche Ideologie bzw. eine gewisse Weltanschauung „verordnet“, sei diese nun logizistisch, marxistisch, naturalistisch, positivistisch, sprachanalytisch oder gesellschafts-, kommunikations-, system-, differenz- oder medientheoretisch. Der Grenzposten bzw. Schnittstellenmanager kann also leicht – auch wenn das von den Protagonisten dieses Vorschlags natürlich nicht intendiert ist – zum wissenschaftlichen „Blockwart“ mit ideologischen und/oder politischen Selektionsmaßstäben werden. Dass die anderen Fächer der Rechtswissenschaft davon nichts wissen wollen, ist mehr als verständlich. Der allgemeinere, umfassendere und damit traditionell ökumenischere Fokus der allgemeinen Philosophie bzw. Rechtsphilosophie schützt vor dieser Gefahr sicherlich erheblich besser. Sechstens ist, seitdem 1975 dieser Vorschlag einer Grenzpostendisziplin gemacht wurde, nicht erkennbar, dass die Rechtstheorie in seiner Operationalisierung auch nur ansatzweise weitergekommen wäre. Selbst die Protagonisten dieses Vorschlags haben ihn nicht in systematischerer Art und Weise zu realisieren vermocht. 4. Rechtstheorie als Zusammenfassung mehrerer Disziplinen der Rechtswissenschaft? Schließlich ist jede Sammlung mehrerer rechtswissenschaftlicher Einzeldisziplinen nichts Anderes als Rechtswissenschaft bzw. Rechtserkenntnis. Das gilt auch, wenn man die Rechtsdogmatik ausklammert. Der Einsatz des Theoriebegriffs führt insofern nur zur Doppelung und Verwirrung. Sofern man alle grundlegenden Subdisziplinen außer der Rechtsdogmatik bezeichnen will, kann man von den „Grundlagenfächern“ der Rechtswissenschaft sprechen, was ja in den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen auch vielfach geschieht. Die zusätzliche Bezeichnung als „Rechtstheorie“ bringt keinen Aufklärungs- und Unterscheidungsgewinn und erzeugt nur Konfusion.
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IV. Fazit: Nur Untersuchungen mittlerer Reichweite sollten als „Theorien“ bezeichnet werden Insgesamt rechtfertigen also nur Untersuchungen mittlerer Reichweite bzw. mittleren Abstraktionsgrads die Selbst- und Fremdcharakterisierung rechtswissenschaftlichen Handelns als „Theorie“, während man auf den abstrakteren Ebenen der Disziplinbezeichnungen und der konkreteren Ebene der Rechtsdogmatik den Theoriebegriff vermeiden sollte (Ausnahme: „theoretische Philosophie des Rechts“). Es gibt die präziseren, etablierten Disziplinbezeichnungen. Und es gibt im Rahmen der Rechtsdogmatik genauere und bescheidenere Ausdrücke, etwa „Auslegung“, „Interpretation“, „Analogie“, „Lückenfüllung“, „Lehre“, „These“, „Hypothese“, „Systematisierung“ usw. Wie schöne Musik und süßer Wein bei einem dionysischen Fest hat in den letzten Jahrzehnten der intellektuell und modern wirkende Klang des Theoriebegriffs nicht wenige verführt. Es ist an der Zeit, sich die Konsequenzen dieser Entdifferenzierung durch den Theoriebegriff zu verdeutlichen und zur Vernunft, also zur Präzision der Begriffsverwendung zurückzukehren. Der Theoriebegriff sollte dabei als großer Weichmacher – außer bei Theorien mittlerer Reichweite – möglichst vermieden werden. Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie, Juristische und Philosophische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 6, 37073 Göttingen
Theorien im Recht und Theorien des Rechts Das Beispiel des Verhältnisses von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung Bernhard Jakl, Münster Theorien werden in der rechtswissenschaftlichen Argumentation herangezogen, um dogmatische Strukturen zu beschreiben, aber auch um im Einzelfallentscheidungen vorzuschlagen oder zu kritisieren. Entsprechend umfangreich ist das rechtswissenschaftliche Theorieangebot. Klassische „große“ Theorien der Rechtsphilosophie, wie etwa die von Aristoteles, Suarez, Kant oder Hegel stehen ebenso zur Verfügung wie „kleine“ Theorien zur Beschreibung oder Lösung einzelner dogmatischer Probleme, wie etwa im Zivilrecht das „Sandhaufen-Theorem“1 oder die „Rosinentheorie“2. Das umfangreiche Theorieangebot, sei es rechtsphilosophischer oder rechtsdogmatischer Art, führt dazu, dass die unterschiedlichen Theorien nicht selten in beliebiger Weise kombiniert oder berücksichtigt werden. In der Rechtsphilosophie wird daher teils kritisch von der vorherrschenden „Lieblings-Philosophen“-Methode gesprochen.3 Andere wiederum schlagen als Ausweg eine eigene „Rechtswissenschaftstheorie“ jenseits der Rechtsphilosophie vor.4 Bedenkt man jedoch, dass unterschiedliche Theorien nicht nur zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden, sondern schlicht in unterschiedlicher Weise verwendet werden können, so besteht die Herausforderung im Umgang mit Theorien unabhängig von ihrer disziplinären Zuordnung zu Recht, Philosophie oder Rechtsphilosophie vor 1
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So etwa Looschelders, in: NK-BGB, 3. Aufl., 2016, § 138 Rn. 100, demzufolge das „Sandhaufen-Theorem“ zutreffender Weise besage, dass für das Vorliegen der Sittenwidrigkeit die Summenwirkung der im Einzelfall verwirklichten Kriterien ausschlaggebend sei. Kritisch dazu Jakl, in: BeckOGK, 1.1.2018, § 138 Rn. 104–108. Die „Rosinentheorie“ zur Publizität des Handelsregisters nach § 15 HGB besagt, dass im Falle der Nichtbekanntmachung im Handelsregister ein Dritter die nichteingetragene Tatsache nicht gegen sich gelten lassen muss, sich aber jederzeit auch auf die wirkliche Rechtslage berufen kann, wenn ihm das günstiger erscheint. Dazu näher Baumbach/Hopt, HGB, 37. Aufl., 2014, § 15 Rn. 6. So T. Hörnle, Strafrecht und Rechtsphilosophie. Traditionen und Perspektiven, in: S. Grundmann / M. Kloepfer / C. Paulus et al. (Hg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, 1265 ff. Dafür schon wegen der Unterscheidung zwischen Privatrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht und den entsprechenden Erfordernissen spezifischer Bezüge exemplarisch O. Lepsius, Themen einer Rechtswissenschaftstheorie, in: M. Jestaedt / O. Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 1 ff.
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allem darin, die Möglichkeiten und Grenzen rechtswissenschaftlicher Theoriewahl zu kartographieren und bewusst einzusetzen. Den exemplarischen Ausgangspunkt für die Zwecke dieses Beitrages bildet dabei das Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung. I. Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung als notwendige Elemente einer Rechtsordnung Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung sind zwei unumstrittene und plausible Bestandteile von Rechtsordnungen. Rechtssicherheit ist ein zentrales Legitimationskriterium einer jeden Rechtsordnung. Die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit normativer Wertungen gilt als „conditio sine qua non“ der Orientierungsfunktion des Rechts.5 Beispiele sind der Grundsatz „pacta sunt servanda“ im Zivilrecht6, die Gesetzesbindung aller Träger staatlicher Gewalt durch Art. 20 III GG im Öffentlichen Recht7 und der Grundsatz „nulla poena sine lege“ im Strafrecht8. Ebenso plausibel ist aber angesichts der immer wieder möglichen Abweichungen von vorgegebenen Tatsachen und Normen auch die Gegenthese: Ohne Rechtsentwicklung ist keine Rechtsordnung legitim. Schon daraus, dass jeder Einzelfall anders ist, folgt, dass eine Entwicklung bestehender Normen möglich sein muss. Gerechtigkeitsüberlegungen können schon deshalb nicht allein auf bekannte Rechtsnormen und Fälle beschränkt bleiben.9 Hinzu kommen neue gesellschaftliche und technische Entwicklungen, die zu neuen Regelungen und auch Regelungstechniken führen. Beispiele sind das Verbraucherrecht10 und die Immaterialgüterrechte im Zivilrecht11, das Ziel der
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Über die Orientierungsfunktion des Gesetzes hinaus sogar für eine generelle Orientierungsfunktion verfassungsrechtlicher Leitbilder etwa U. Volkmann, Leitbildorientierte Verfassungsanwendung, AöR 134 (2009), 157, 170. 6 M.-P. Weller, Die Vertragstreue. Vertragsbindung-Naturalerfüllungsgrundsatz-Leistungstreue, 2009, 25, kann daher auch in der Gegenwart die zentrale Rolle der vertraglichen Bindung mit dem Bild der „königlichen Stellung des Vertrages“ beschreiben. 7 Zur konsequenten Umsetzung des Grundsatzes der Gesetzesbindung verlangt P. Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, bestehend aufgrund und nach Maßgabe des Gesetzes, in: G. Püttner (Hg.), Festschrift für Otto Bachof, 1984, 169, 172 ff., selbst für die Möglichkeit der Interpretation eines Begriffs innerhalb eines Gesetzes den Nachweis einer besonderen Ermächtigung innerhalb der konkreten Norm. 8 So schon P. J. A. von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden Peinlichen Rechts, 1801, § 24 (= 20). 9 K. Larenz / C. W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., 1995, 232, sehen etwa die Güterabwägung im Einzelfall als eine Methode der Rechtsfortbildung. 10 Dazu umfassend etwa H.-W. Micklitz, Brauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur des Verbraucherrechts? Gutachten A zum 69. Deutschen Juristentag, 2012. 11 Zu den Herausforderungen der digitalen Welt etwa A. Peukert, The Fundamental Right to (Intellectual) Property and the Discretion of the Legislature, in: C. Geiger (Hg.), Research Handbook on Human Rights and Intellectual Property, Goethe University, Faculty of Law, Research Paper No. 7/2013 (2015), 132 ff.
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Verhaltenssteuerung im Öffentlichen Recht12 und zunehmend präventiv wirkende Normen im Strafrecht13. Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung sind für sich genommen plausible Bestandteile juristischer Argumentation. Sie widersprechen sich aber in letzter Konsequenz solange, bis sie in ein jeweils begründetes Verhältnis zueinander gebracht werden. Die Frage nach der Theoriewahl rückt so in den Mittelpunkt. Sie stellt sich dabei für das geltende Recht als eine Frage nach der Offenheit der rechtspositivistisch-dogmatischen Herangehensweise. Wie stellt sich das Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung innerhalb einer geltenden Rechtsordnung dar? II. Die rechtspositivistisch-dogmatische Herangehensweise und ihre Offenheit Innerhalb der dogmatischen Argumentation einer geltenden Rechtsordnung wird die Herstellung von Rechtssicherheit durch eine kohärente, konsistente und streng gültigkeitsbasierte Argumentationsweise in den Blick genommen.14 Kohärenz und Konsistenz bzw. Einheit und Folgerichtigkeit sichern die Überzeugungskraft einer Rechtsordnung oder ihrer Teilbereiche ab. 1. Sein-Sollen-Trennung und Systemanspruch Der Rechtspositivismus ist seit Kelsen jedenfalls durch zwei zentrale Elemente gekennzeichnet: Die strikte Trennung von Sein und Sollen einerseits und andererseits der Auffassung, dass Recht ein eigenständiges Wertungssystem ist. Die Trennung von Sein und Sollen ist eine, die im scharfen Kontrast zu einer historischen Herangehensweise als plausibel vorausgesetzt wird: Die Elemente des Rechts sind (bestimmte) Normen. Normen gehören dem Bereich des Sollens an. Ihre spezifische Existenz wird Geltung genannt.15 12 Allgemein R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 11. Aufl., 2012, 175 ff., der selbst für das Privatrecht von einer öffentlich-rechtlich abgesicherten Steuerungsfunktion ausgeht. 13 Kritisch zur Entwicklung eines Präventionsstrafrechts B. Brunhöber, Von der Unrechtsahndung zur Risikosteuerung durch Strafrecht und ihre Schranken, in: R. Hefendehl / T. Hörnle / L. Greco (Hg.), Festschrift für Bernd Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014. Streitbare Strafrechtswissenschaft, 2014, 3 ff. 14 Zur herausragenden Rolle von Kohärenz und Konsistenz für einen auch zeitlich stabilen Normenbestand in der Diskussion um den Rechtspositivismus der Gegenwart etwa J. Coleman, The Practice of Principle, 2001, 95 ff. Für die zentrale Rolle von Einheit und Folgerichtigkeit für das deutsche Privatrecht etwa J. Petersen, Von der Interessen- zur Wertungsjurisprudenz. Dargestellt an Beispielen aus dem Deutschen Privatrecht, 2001, 9 ff. 15 Dazu zentral H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, unverändert, 1983, 5: „Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewusstsein unmittelbar gegeben. Niemand kann leugnen, daß die Aussage: etwas ist – das ist die Aussage, mit dem eine Seins-Tatsache beschrieben wird – wesentlich verschieden ist von der Aussage: daß etwas sein soll – das ist die Aussage, mit
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Innerhalb der Sollenssätze wird das Recht als ein eigenständiges Wertungssystem angesehen. Kelsen spricht daher von der „Reinen Rechtslehre“. Rein ist eine Rechtslehre, wenn es keine religiösen, naturwissenschaftlichen, ethischen, soziologischen oder politischen Vorgaben für das Recht gibt. Die Reine Rechtslehre „will das Recht darstellen, so wie es ist, ohne es als gerecht zu qualifizieren oder als ungerecht zu disqualifizieren: sie fragt nach dem wirklichen und möglichen, nicht nach dem richtigen Recht“16. Soweit, so bekannt. Doch was für Konsequenzen hat der Rechtspositivismus für die rechtswissenschaftliche Theoriewahl? Zum einen hat dies nach Kelsen die jedenfalls zumeist für Philosophen skandalöse Konsequenz, dass jeder beliebige Inhalt Recht sein kann.17 Zum anderen zieht dies aber auch gewisse Strukturen bei der Begründungsarbeit nach sich, die insbesondere Raz beleuchtet. 2. Konsequenzen für die Begründungsarbeit Für die Begründungsarbeit der Rechtswissenschaft folgt daraus mit Raz weiter, dass Rechtssysteme allein mit gültigkeitsbasierten Aussagen arbeiten können, ohne dass die Rechtsanwender von den Gründen für die Gültigkeit der Normen überzeugt sind. Aussagen des Rechts werden grundsätzlich zu Handlungsgründen, ohne dass sich Personen die Gültigkeit von Normen zu eigen machen müssen. Recht wird zum Grund durch seine sozialen Bezüge, beispielsweise durch Sanktionierung und weitere negative Folgen des Gesetzesbruchs, wie Reputationsverlust.18 Rechtswissenschaftlerinnen argumentieren ebenso wie Richterinnen, Staatsanwältinnen und Rechtsanwältinnen mit dem, was Recht ist. Weitere Gründe können hinzukommen, müssen es aber nicht. Und weitere Gründe dürfen selbst dann allenfalls die Überzeugungen einbringen, die bereits im Rechtssystem Geltung erlangt haben. Darauf baut Raz zufolge jedes Rechtssystem auf. Rechtssysteme sind insoweit durch drei Merkmale gekennzeichnet: sie sind allumfassend, beanspruchen höchste Autorität und sind offene Systeme. Rechtssysteme sind nach Raz erstens allumfassend. Das bedeutet nicht, dass jedes Verhalten durch das Recht angeordnet wird. Aber es bedeutet, dass jeder Lebensbereich durch das Recht berührt wird, dass es einen rechtlichen Bezug in allen Lebensbereichen gibt.19 Beispielsweise gebietet die Rechtsordnung nicht, dass man heiratet. Wenn man aber heiratet, dann ist das Zusammenleben der Partner auch verrechtlicht, z. B. im Hinblick auf Unterhaltsansprüche. Und auch wenn man nicht heiratet, aber mit seinem
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der eine Norm beschrieben wird; und dass daraus, daß etwas ist, nicht folgen kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist.“ H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934, 2008, 7. H. Kelsen (Fn. 15), 201. Zur Leistungsfähigkeit der Überlegungen Kelsens siehe H. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973): Jurist des Jahrhunderts?, in: H. Heinrichs / H. Franzki / K. Schmalz / M. Stolleis (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, 705 ff. Eingehend J. Raz, Praktische Gründe und Normen, 2006, 233 f. und 242 f. J. Raz (Fn. 18), 206 f.
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Partner zusammenzieht, ist der Erwerb einer gemeinsamen Wohnung rechtlich geregelt, z. B. im Gesellschaftsrecht. Rechtssysteme beanspruchen Raz zufolge zweitens höchste Autorität. Das bedeutet, dass das Recht im Konfliktfall alle anderen Normen, etwa religiöse oder ethische Überzeugungen, aussticht und von den Adressaten der Rechtsordnung verlangt, auch gegen ihre Überzeugungen die geltenden Regelungen zu befolgen.20 Das Recht und seine institutionelle Durchsetzung sticht so argumentativ andere Normsysteme aus. Wenn man beispielsweise nicht davon überzeugt ist, dass ein Tempolimit auf Autobahnen sinnvoll ist, so befolgt man doch die entsprechenden Verbote, um nicht mit Sanktionen belegt zu werden. Während die beiden ersten Merkmale – die Allumfassendheit und die höchste Autorität – ganz im Sinne Kelsens die Eigenständigkeit des Rechts gegenüber anderen normativen Ordnungen wie Ethik, Moral und Religion betonen, nimmt das dritte Merkmal der Offenheit die Entwicklungsdimension in den Blick. Rechtssysteme sind mit Raz drittens immer auch offene Systeme. Das ist das Merkmal, das für die Frage nach den Theorien im Recht am wichtigsten ist. Rechtssysteme sind grundsätzlich offen für die Aufnahme von nichtrechtlichen Überlegungen.21 Ein Beispiel hierfür kann die Vertragsfreiheit sein. Der Inhalt der Verträge ist grundsätzlich durch die Parteien zu bestimmen, nicht durch ein Gesetz. Ist aber einmal ein Vertrag geschlossen, dann gilt der Rechtsgrundsatz: „pacta sunt servanda / Verträge sind einzuhalten“. Die Offenheit ist also eine, die sich nicht auf Theorien des Vertrages richtet, sondern vielmehr auf die Verwirklichung des vorhandenen Rechtssystems beschränkt. Die drei Merkmale der Allumfassendheit, der höchsten Autorität und der Offenheit eines jeden Rechtssystems sichern damit vor allem dessen gesellschaftliche Bedeutung ab. Raz fasst diese koventionalistische Basis des Rechtspositivismus wie folgt zusammen: „Wenn aber eine Gesellschaft einem Rechtssystem unterworfen ist, dann ist dieses System das wichtigste institutionalisierte System, dem sie unterliegt. Das Recht liefert den allgemeinen Rahmen, in dem gesellschaftliches Leben stattfindet. Es ist ein handlungsleitendes und konfliktlösendes System, das höchste Autorität für die Einmischung in jede Art von Aktivität beansprucht.“22
3. Theorien als Heuristiken eines Rechtssystems Die Macht des positiven Rechts innerhalb einer Gesellschaft führt mit Raz dazu, dass die Antwort auf die Frage nach der möglichen Theoriewahl nun ebenso klar und deutlich, wie auch ernüchternd ausfällt:
20 J. Raz (Fn. 18), 207 f. 21 J. Raz (Fn. 18), 200 f. 22 J. Raz (Fn. 18), 210.
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Rechtswissenschaftliche Theorien sind „Techniken“ eines Systems, das sich als höchste gesellschaftliche Kontrollinstanz sieht.23 Theorien werden in der dogmatisierten Gestalt einer Rechtsordnung nur herangezogen, soweit sie hilfreich sind, die „Verkettung“ der rechtlichen Regulierungen im Namen der Konsistenz und Kohärenz sicherzustellen. Über Raz hinaus kann dieses Phänomen von Heuristiken eines Rechtssystems an Beispielen aus der Rechtsprechung des BGH eindrucksvoll verdeutlicht werden. Rechtsentwicklung reduziert sich hier auf die Optimierung der Rechtserkenntnis einer bestimmten positiven Rechtsordnung in der Zeit. Ziel ist allein die Übertragung von Wertungen, die für angemessen gehalten und richtig erkannt werden, auf neue, noch nicht oder nicht so entschiedene Situationen.24 Der Ausgleich von Rechtsentwicklung und Rechtssicherheit wird unter dem Regime eines demokratischen Gesetzgebers zu einer Frage des Vertrauensschutzes und damit des Rückwirkungs- oder Vorwirkungsverbots. Der Rechtsverkehr bildet aus dieser Perspektive schützenswerte Erwartungshaltungen anlässlich von normkonkretisierenden Urteilen aus, die bei Änderungen der Rechtserkenntnis beachtet werden müssen.25 Zwei Beispiele zur „Rechtsprechungsänderungstechnik“ des BGH verdeutlichen dies: Erstens die Technik der „Obiter Dicta“, die beispielsweise bei der konsequenten Implementierung der neuen Rechtserkenntnis der Rechtsfähigkeit der Außen-GbR eine wichtige Rolle spielt.26 Und zweitens die Behauptung des bloßen Aufgreifens bereits vollzogener Veränderungen, die bei der Änderung der Wucherzinsrechtsprechung zentral war.27 In beiden Fällen wird nicht die inhaltliche Dimension der Entscheidung adressiert, sondern allein die Frage der technischen Implementierung der neuen Rechtserkenntnis in das bestehende System.28 Diese beiden Elemente einer Technik der Rechtsprechungsänderung stehen neben unzähligen anderen dogmatischen Heuristiken, die jeweils andere Probleme als die der Implementierung von Rechtsprechungsänderungen adressieren: bei der Auslegung der guten Sitten etwa das „Sandhaufentheorem“29, für den Zusammenhang zweier gegenläufiger Bereicherungsansprüche etwa die „Saldotheorie“30 oder für die Abweichung der tatsächlichen von der eingetragenen Rechtslage bei § 15 HGB die „Rosinentheorie“31.
23 Dazu J. Raz (Fn. 18), 204 ff. 24 K. Langenbucher, Recht und Zeit. Eine Untersuchung zur Wirkung von Rechtsprechungsänderungen im Privatrecht, in: R. Alexy (Hg), Juristische Grundlagenforschung. Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosopie (IVR) vom 23. bis 25. September 2004 in Kiel, ARSP Beiheft 104, 55 ff. 25 K. Langenbucher (Fn. 24), 55 f. 26 BGHZ 146, 341 zur Haftung des neu eingetretenen Gesellschafters einer Außen-GbR für bereits bestehende Gesellschaftsschulden. 27 Zusammenfassend zur Sittenwidrigkeit von Kreditverträgen BGHZ 101, 380. 28 K. Langenbucher (Fn. 24), 69 f. 29 Dazu NK-BGB/Looschelders, 3. Aufl., 2016, § 138 Rn. 100 und Fn. 1 des Beitrags. 30 Nach der „Saldotheorie“ des BGH bleiben auch rechtsgrundlos ausgetauschte Leistungen miteinander verknüpft. Sie werden in einem „faktischen Synallagma“ verbunden, das bereicherungsrechtlich insbesondere auf der Rechtsfolgenseite zu beachten ist. Dazu Sprau, in: Palandt, BGB, 77. Aufl., 2018, § 818 Rn. 47. 31 Dazu näher Baumbach/Hopt (Fn. 2), § 15 Rn. 6 und Fn. 2 des Beitrags.
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Bei dieser Art der Verwendung von Theorien kann man es bewenden lassen. Problematisch ist neben den Problemen des gesetzlichen Unrechts32 für die juristische Alltagsarbeit allein, dass typischerweise das sachliche Problem nicht adressiert wird. In den genannten Beispielen geht es inhaltlich etwa um die Frage nach dem Organisationsbegriff einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, den Kriterien des „gerechten“ Preises, dem Verhältnis von Schuldvertrags- und Bereicherungsrecht oder die Bedeutung rechtlich verselbstständigten Haftungkapitals. Die Abstraktion von den inhaltlichen Problemen lässt daher ein gewisses wissenschaftliches Unbehagen zurück, das sich in der Aufnahme von oder Referenz zu ganz unterschiedlichen Theorieangeboten niederschlägt. In den einschlägigen Debatten wird auf moralische, soziologische und ökonomische Hintergrundannahmen zurückgegriffen.33 Dieses Vorgehen wird teils auch als „Lieblings-Philosophen-Methode“34 charakterisiert. Das Problem des beliebigen Rückgriffs auf ganz unterschiedliche Theorien verschärft sich jedenfalls aus zivilrechtlicher Perspektive durch die Herausbildung eines europäischen Privatrechts. In der akademischen Diskussion um die Auslegung des europäischen Privatrechts wird beispielsweise explizit auf Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit und Effizienz als „underlying principles“ verwiesen.35 Ergänzend wird diskutiert, ob nicht auch weitere Prinzipien, wie der Schutz der Menschenrechte, Solidarität und soziale Verantwortung zu berücksichtigen seien.36 Eine Beobachtung der theoretischen Hintergrundannahmen rechtswissenschaftlicher Argumentation über die rechtspositivistische Perspektive hinaus erscheint deswegen sowohl im Hinblick auf das Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung wie auch im Hinblick auf die Frage nach der Rolle von Theorien im Recht plausibel und unverzichtbar. III. Rechtstheorien als Beobachtung des geltenden Rechts Postmoderne Analysen der Macht des Rechts machen sich, wie auch die Systemtheorie nach Luhmann, auf ganz unterschiedliche Arten die Beobachtung des geltenden Rechts zum Erkenntnisziel. 32 Für den Ausgangspunkt der Diskussion um die Fallgruppe des gesetzlichen Unrechts siehe G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ (1946), 105, 107, demzufolge Normen, die Gerechtigkeit nicht einmal erstreben, kein Recht sein sollen. 33 Zur Methodenvielfalt als positive Eigenschaft des Rechtspositivismus etwa S. Grundmann, Methodenpluralismus als Aufgabe – Zur Legalität von ökonomischen und rechtsethischen Argumenten in Auslegung und Rechtsanwendung, RabelsZ 61 (1997), 423 f. 34 So Hörnle, Strafrecht und Rechtsphilosophie (Fn. 3). 1265 ff. 35 So die Erwägungsgründe no 14 und no 22 in der „Introduction“ der Study Group on a European Civil Code / Research Group on EC Private Law, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. DCFR, DCFR Interim Outline Edition, Munich 2009. 36 Dies fodert etwa M. Hesselink, Core Values and Underlying Principles, in: B. Brownsword / H.-W. Micklitz / L. Niglia / S. Weatherhill (Hg.), The Foundations of European Private Law, 2011, 66 ff.
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1. Macht und (Rechts-)Politik Die postmoderne Rechtstheorie versteht existierende Rechtsordnungen und ihre Begrifflichkeiten als Ausdruck von politischen Machtverhältnissen. In einer Gegenbewegung betont sie, dass das Recht wie jede moralische Überlegung immer zwischen Kollektivismus und Individualismus pendele.37 Rechtstheorie wird zu einem Instrument, mit dem ermittelt werden kann, in welche Richtung das Pendel der Rechtsentwicklungen gerade ausschlägt. Die Frage nach dem Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung lässt sich hier durch den Verweis auf ein Spannungsverhältnis zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit beantworten.38 Im Zivilrecht kann aus dieser Perspektive diagnostiziert werden, dass das Spannungsverhältnis schon im Normenbestand des BGB angelegt ist. Er umfasst sowohl entwicklungsoffene Prinzipien (z. B. Generalklauseln zu Sittenwidrigkeit in § 138 BGB und zur Leistung nach Treu und Glauben in § 242 BGB) als auch detaillierte Regelungen des Gesetzgebers (z. B. die Informationspflichten für Fernabsatzverträge und Außergeschäftsraumverträge des § 312 d und die abschließend in den §§ 355 bis 361 BGB geregelten Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Widerrufs). Eine Berufung auf Generalklauseln kann sodann als Ausdruck des Strebens nach Einzelfallgerechtigkeit wie auch als Fundament richterlicher Macht gegenüber politischer Macht gedeutet werden. Rechtssicherheit wird in diesem Rahmen durch eine möglichst weitgehende Einschränkung des Anwendungsbereichs von Generalklauseln und damit richterlicher Macht erreicht. Rechtsentwicklung wird durch die Ausweitung ihres Anwendungsbereichs und damit auch richterlicher Macht erzielt.39 Durch die postmoderne Perspektive wird deutlich, dass bestimmte Regelungstechniken jeweils auf eine bestimmte Art auf den rechtsdogmatischen Zusammenhang zurückwirken. Will man mehr über den gesellschaftlichen Zusammenhang erfahren, so muss allerdings auf eine soziologisch gehaltvollere Theorie zurückgegriffen werden, etwa die Systemtheorie nach Luhmann. 2. Recht als System Die institutionelle Umsetzung einer positiven Rechtsordnung führt aus der Perspektive der Systemtheorie dazu, dass Begründungsfragen inhaltlicher Art ausgeblendet werden. Die besondere Rolle des rechtlichen Normzusammenhangs geht der systemtheoretischen Perspektive zufolge nicht auf inhaltliche Vorgaben wie Freiheit, Autonomie oder
37 Etwa D. Kennedy, Form and Substance in Private Law Adjunction, Harvard Law Review 89 (1976), 1713 ff. und 1737 f. 38 Für die deutsche Diskussion im Anschluss an Kennedy (Fn. 37) M. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit. Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, 2005, 5 f., 21. 39 Dazu M. Auer (Fn. 38), 4 ff.
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Gerechtigkeit zurück, sondern auf die Erfüllung seiner zwei gesellschaftlichen Grundfunktionen: Verhaltenssteuerung und Konfliktlösung.40 a) Rechtsentwicklung als Anpassung Die institutionelle Umsetzung des Rechts führt mit Luhmann zum einen dazu, dass Geltungsfragen inhaltlicher Art ausgeblendet werden. Recht dient nur mehr der Stabilisierung von Erwartungshaltungen. Es entwickelt sich evolutiv, indem es teils mit Variationen auf äußere Einflüsse reagiert und teils die „Stabilisierung zur Motivation von Innovationen“ verwendet, d. h. durch regulatorische Einflüsse auf Lebenswelten erst Konflikte schafft.41 Normenbegründung interessiert, so Luhmann, in diesem Zusammenhang nicht mehr. Recht ist allein das, was von dem Rechtssystem selbst in Geltung gesetzt wird. Geltung wird zu einem bloßen Symbol,42 das von historischen Ursprüngen, Gründen und externen Referenzen frei ist.43 Daher müsse man „von Zielformeln wie Frieden und Gerechtigkeit auf Systemanalyse“ umstellen.44 Rechtsentwicklung wird in diesem Theorieansatz zur Frage nach der Zukunftseinschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Die Frage, wie erfolgreich das Rechtssystem sich weiter fortschreibt, hängt davon ab, ob es sich erfolgreich reproduziert. Langwellige Entwicklungsschübe, wie etwa eine Heils- bzw. Verfallsgeschichte oder Generallinien wie die auf die Verwirklichung eines Ziels ausgerichtete Positivierung überpositiver Normbestände, gibt es danach nicht mehr.45 Diese evolutive Sichtweise hat daher einen nüchternen Blick auf Rechtsentwicklungen: den der Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen. Das systemtheoretische Verständnis der Rechtsentwicklung als Evolution des Rechts lässt sich an der Veränderung des Demokratiebegriffs durch seine Herauslösung aus dem nationalen Kontext im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses verdeutlichen. b) Demokratie und Internationalisierung Durch die Herausbildung einer überstaatlichen Dimension des Demokratiebegriffs tritt einer zunehmend bedeutsamen Ansicht zufolge neben die nationale demokratische Le40 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 157; J. Raz (Fn. 18), 210; H. L. A. Hart, Begriff des Rechts, 2011, 112 f.; B. Rüthers / C. Fischer / A. Birk, Rechtstheorie, 8. Aufl., 2011, 59; K. Seelmann / D. Demko, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 2014, 55. Zur Rechtsentwicklung als Anpassungsleistung siehe bereits B. Jakl, Eine Geschichte der Freiheit? Überlegungen zur Autonomie des Rechts, in: T. Gutmann / S. Laukötter / A. Pollmann / L. Siep, Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, 2018, 67–79. 41 N. Luhmann (Fn. 40), 277 f. 42 N. Luhmann (Fn. 40), 280. 43 N. Luhmann (Fn. 40), 289. 44 N. Luhmann (Fn. 40), 438. 45 N. Luhmann (Fn. 40), 559.
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gitimation46 eine weitere Legitimationsform, nämlich eine internationale Legitimation. Letztere muss anders als die nationale Legitimation gar nicht mit dem Gedanken der Selbstbestimmung durch freie, gleiche und geheime Wahlen in Verbindung gebracht werden. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass die überstaatliche europäische Demokratie vor allem darin besteht, das weiterzuverarbeiten, was den „Test“ nationaler demokratischer Prozesse bestanden hat.47 Auf der überstaatlichen Ebene verändert sich damit aus systemtheoretischer Sicht der nationalstaatliche Demokratiebegriff. Er ist den neuen, internationalen Gegebenheiten anzupassen. Die „Demokratischen Grundsätze“ des Vertrages über die Europäische Union (AEUV) verdeutlichen exemplarisch diesen juristischen Komplexitätsaufbau durch Variation und Selektion zwischen nationaler und internationaler Ebene, indem sie alle vorhandenen Organe berücksichtigen und die unterschiedlichen Bestandteile des Demokratiebegriffs abarbeiten. Die Arbeitsweise der Europäischen Union geht nur mehr von der repräsentativen Demokratie aus. Die Völker und ihre Bürgerinnen und Bürger werden auf der Unionsebene durch das Europäische Parlament vertreten. Die Mitgliedsstaaten wiederum werden im Rat der Europäischen Union von ihrem jeweiligen Staatsoder Regierungschef vertreten (Art. 19 AEUV). Diese beiden Organe sollen dabei einen „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden der Zivilgesellschaft“ führen und die Europäische Kommission soll „umfangreiche Anhörungen“ durchführen (Art. 11 AEUV). Die Eingrenzung der Bedeutung von gleichen, freien und geheimen Wahlen auf eine Säule der Legitimation neben anderen ist aus der systemtheoretischen Perspektive der Anpassung der Preis für den Erfolg des Rechts.48 Dieser Preis ist zu zahlen, da das Recht nur so die gesellschaftlichen Erwartungshaltungen allumfassend, auch auf internationaler, überstaatlicher Ebene, stabilisieren kann. Wer der Rechtsordnung und dem demokratischen Gesetzgeber diese Lernerfahrung von Einschränkungen nicht zumuten oder diese Entwicklung rechtswissenschaftlich kritisieren möchte, muss wiederum zu einem anderen Theorieangebot greifen. Es bieten sich Rechtsphilosophien an, die einen Rechtsbegriff umfassen, der nicht nur die geltenden Rechtsordnungen in ihrer Funktionsweise und sozialen Wirkung beobachtet, sondern die die inhaltlichen Dimensionen einer Rechtsordnung bzw. ihrer Teilgebiete aufgreifen können.
46 Dagegen sieht U. di Fabio, Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip? Überlegungen zum Einfluß des indirekten Gemeinschaftsrechts auf die nationale Rechtsordnung, NJW (1990), 947, 954, die nationalstaatliche Legitimationskette noch als Alleinstellungsmerkmal der rechtlich verbindlichen Normenbegründung. 47 In diese Richtung A. von Bogdandy / I. Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014, 189, 192; M. Herdegen, Europarecht, 16. Aufl., 2014, 130; U. Haltern, Europarecht, 2. Aufl., 2007, 119. 48 Allgemein für eine solche stärkere Orientierung an der meta-rechtlichen Legitimation bzw. der sog. Out-Put-Legitimation von Normenbegründungen im Öffentlichen Recht am Beispiel von Ethikkommissionen und -räten siehe S. Vöneky, Recht, Moral, Ethik. Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethik-Gremien, 2010, 158 ff., 230 und 636.
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IV. Rechtsphilosophien und ihr Verhältnis zum geltenden Recht 1. „Große“ Philosophien des Rechts und ihr doppelter Erkenntnisanspruch Beispiele für das Angebot an solchen im Rahmen einer (säkularen) praktischen Philosophie „prima facie“ überzeugenden Normenbegründung bieten Theorien des Gesellschaftsvertrages (etwa nach Hobbes, Rosseau, Rawls, Habermas), die Rechtsidee der Abgrenzung (gleicher) Freiheitssphären unter Berücksichtigung der Idee subjektiver Freiheitsrechte (wie in der Rechtsphilosophie der klassischen deutschen Philosophie bei Kant, Fichte und Hegel) oder ein liberal-egalitäres „right to equal concern and respect“ (wie bei Dworkin). Sie alle führen zu der Frage nach den normativen Grundlagen einer Rechtsordnung und korrespondierenden basalen subjektiven Rechten. Dies ist bei Hobbes das Recht auf Sicherheit49, bei Rosseau die Idee eines allgemeinen Willens50, bei Rawls das Freiheits- und Differenzprinzip51 und bei Habermas die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie52. Bei Kant, Fichte und Hegel tritt zudem darüber hinaus exemplarisch das Problem zutage, ein funktionierendes Rechtssystem nicht nur auf die Freiheitskoordination auszurichten, sondern zugleich auf die Anerkennung und den Respekt subjektiver Freiheitsrechte.53 Dworkin versucht schließlich im Anschluss an Rawls, die Idee des Schleiers des Nichtwissens in ein basales Recht auf Achtung und Anerkennung zu übersetzen, um es als Leitidee der amerikanischen Verfassungsordnung argumentativ nutzbar zu machen, gerade auch an den Grenzfällen und für tragische Entscheidungen.54 Die genannten Rechtsphilosophien erheben dabei in unterschiedlicher Weise, jedoch durchgehend einen doppelten Anspruch. Sie wollen erstens Leitideen oder Hintergrundannahmen des Rechts inhaltlich identifizieren und zweitens die Regelungen einer geltenden Rechtsordnung als Ausdruck dieser Leitideen deuten oder im Ausgang von diesen Leitideen kritisieren.
49 Etwa T. Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von I. Fetscher, 2000, 108 f. 50 So J-J. Rosseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, übers. v. H. Brockard, 1977, 17, 22, 26. 51 Siehe J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, übers. v. Hermann Vetter, 1998, 81 f. 52 Zentral bei J. Habermas etwa ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1994, 135 und 153 f. 53 Dazu in analytischer Perspektive die normative Dimension der Rechtsphilosophie der klassischen deutschen Philosophie kurz zusammenfassend B. Jakl, Human Dignity as A Fundamental Right to Freedom in Law, in: W. Brugger / S. Kirste (Hg.), Human Dignity as a Foundation of Law. Proceedings of the Special Workshop held at the 24th World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy in Beijing 2009, ARSP Beiheft 137, 2013, 93 ff., insbes. 99–102. 54 Für ein basales „right to equal concern and respect“ R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, XV und 181 f. und dessen Anwendung auf schwierigste Entscheidungen am Lebensbeginn zur Abtreibung, R. Dworkin, Roe in Danger, in: ders., Freedom’s Law. The Moral Reading of the American Constitution, 1996, 44 ff.
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2. Philosophische und juristische Rechtsphilosophie Die philosophische Eigenständigkeit der jeweiligen Rechtskonzeptionen steht dabei einerseits in einem scharfen Kontrast zum rechtspositivistischen Ausgangspunkt. Rechtsphilosophien diskutieren grundsätzlich immer auch die Möglichkeit eines inhaltlich anderen Rechts und nicht nur die geltende Rechtsordnung. Allerdings lässt sich die Kluft zwischen positiver Rechtsordnung und rechtsphilosophischem Entwurf nicht nur durch den Verweis auf den Rechtspositivismus als Basis der juristischen Rechtsphilosophie aufrechterhalten55 oder durch den Verweis auf eine Rechtsethik, die moralphilosophische Elemente zwingend enthalte.56 Es besteht vielmehr auch die Möglichkeit, zwischen einer philosophischen und einer juristischen Rechtsphilosophie zu unterscheiden und diesen Unterschied nutzbar zu machen: Während die philosophische Rechtsphilosophie auf den Entwurf einer möglichen, auch alternativen Ordnung zielt, nimmt die juristische Rechtsphilosophie zunächst den Normenbestand und die Systematik der jeweils bestehenden Rechtsordnung auf. Durch die Bezugnahme philosophischer Rechtsideen und rechtssystematischer Probleme in ihrer dogmatisierten Gestalt können sich (reflexive) Meta-Regeln des Rechts identifizieren lassen. Die hier vorgeschlagene Unterscheidung zwischen der philosophischen und juristischen Rechtsphilosophie verlangt, einerseits eine originär philosophische Perspektive auf positive Rechtsordnungen zu akzeptieren. Sie ist in dieser Hinsicht eine starke Zumutung bzw. Irritation für die Rechtwissenschaft. Sie muss sich aber andererseits juristisch bewähren und damit an dem systematischen Diskussionsstand eines Problems innerhalb einer Rechtsordnung. Sie ist damit eine ebenso starke Zumutung für die Philosophie. Eine solche doppelte Annäherung von philosophischer und juristischer Rechtsphilosophie unterscheidet sich fundamental von Ansätzen, die Meta-Regeln des Rechts allein ausgehend von einer positiven Rechtsordnung identifizieren. Dies schlägt beispielsweise Waldron vor und belegt rechtliche „Meta-Regeln“ mit dem Begriff der „legal archetypes“. Ein Beispiel ist das Folterverbot, das als „legal archetype“ und damit als ein normativer Standard einer bestimmten positiven Rechtsordnung fungiert, auf dem andere Rechte und ihre Auslegung basieren.57 Diese Standards werden damit so eng an eine positive Rechtsordnung geknüpft, dass sie zwar bestimmte Normen dieser Ordnung stärken, aber dennoch über die Wiedergabe bestehender Rechtsnormen innerhalb einer Rechtsordnung nicht hinausgehen können.
55 In diese Richtung etwa H. Dreier, Zur Leistungsfähigkeit der Überlegungen Kelsens s. H. Dreier (Fn. 17), 705 ff. 56 Zur Übersicht etwa D. von der Pfordten, Rechtsethik, in: J. Nida-Rümelin (Hg.), Angewandte Ethik, 1996, 200 ff., insbes. 220 ff. 57 So für die Verankerung des Folterverbots in der Rechtsordnung der USA J. Waldron, Torture and Positive Law, Columbia Law Review (2005), 1716 ff., 1727.
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3. Rechtspositivismus als Lösung und Problem Die Frage nach den normativen Grundlagen einer Rechtsordnung bedeutet im Sinne der Unterscheidung von juristischer und philosophischer Rechtsphilosophie zunächst, das Bild der Rechtswissenschaft als bloße Rechtstechnik aufzunehmen. Schon in der Zeit der Aufklärung um 1800 ist das Kant in seiner Fassung der Aufklärung über das aufgeklärte Vernunftrecht prägnant gelungen.58 Bereits hier tritt in fast schulmäßiger Form der Rechtspositivismus als Lösung und auch als Problem auf. Das über sich selbst aufgeklärte Vernunftrecht der Aufklärung geht seit Kant davon aus, dass es keine dem individuellen Wollen vorgegebene, geschlossene normative Ordnung gibt, die zugleich allgemeinverbindlich ist.59 Denkmöglich sind nur vorgeschlagene Ordnungen. Eine bestehende, positive Rechtsordnung ist notwendig, um die unterschiedlichen individuellen Lebenspläne zu koordinieren und auch kollektive Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen. Der Rechtspositivismus erscheint bereits hier wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit als Lösung des Problems der Individualisierung in der modernen Welt: Allgemeinverbindliche Regelsetzung erfolgt durch Verfahren.60 Es bedarf keines umfassenden, revolutionären Widerstandsrechts. Die Evolution der Rechts- und Herrschaftsordnung tritt an die Stelle der Revolution, mit dem Ziel des „ewigen Friedens“.61 Allerdings tritt der Rechtspositvismus zugleich wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit als Problem auf: „Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort oder zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er [der Rechtsgelehrte, d. V.] noch wohl angeben; aber ob das, was sie wollten auch recht sei, […] bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeit lang jene empirischen Prinzipien verlässt […], um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlagen zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.“62
Diese kantische Frage nach einer minimalen inhaltlichen Vorgabe für das Recht wirkt ebenfalls bis in die Gegenwart fort. So argumentiert etwa Dworkin für ein basales Recht auf Rücksichtnahme und Anerkennung, während andere über einen wissenschaftsthe58 Zur Selbstreflexion der Aufklärung in der klassischen deutschen Philosophie am Beispiel Kants allgemein G. Zöller, Aufklärung über Aufklärung. Kants Konzeption des selbständigen, öffentlichen und gemeinschaftlichen Gebrauchs der Vernunft, in: H. Klemme (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin 2009, 82–99. 59 Für die Umstellung auf eine sog. „reflexive Legitimation“ jenseits natürlicher Vorgaben in der politischen Philosophie seit Kant etwa I. Maus, Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant, 1990, 254 f. 60 Exemplarisch J. Rawls (Fn. 51), VIII und ausdrücklich ders., Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 1982, 82. 61 Genauer zur Entwicklungsdimension der kantischen Rechtslehre am Beispiel des Verhältnisses von privater und staatlicher Normenbegründung siehe B. Jakl, Die Verbindlichkeit des Rechts. Kantische Überlegungen zum Verhältnis von privater und staatlicher Normenbegründung, in: S. Bunke / K. Mihaylova / D. Ringkamp (Hg.), Das Band der Gesellschaft, 2015, 113 ff., insbes. 116–119. 62 I. Kant, Metaphysik der Sitten, Werke (hg. von der königlich preußsischen Akademie der Wissenschaft), Bd. VI, 1797, 203 ff., 229 f.
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oretisch informierten Kohärentismus eine „Planning Theory“ entwerfen63 oder auf tugendethische Bezüge in aristotelischer Tradition verweisen64. V. Zusammenfassung Das Verhältnis von Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung verändert sich relativ zu den herangezogenen unterschiedlichen theoretischen Ansätzen. Jenseits einer rein historischen Perspektive können abhängig vom Abstraktionsgrad der jeweiligen Theorie drei unterschiedliche ebenen-spezifische Verhältnisse unterschieden werden. Auf der rechtspositivistisch-dogmatischen Ebene geht es um die Bereitstellung rechtstechnischer Mittel, um Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung punktuell in Einklang zu bringen. Theorien dienen damit stets unterschiedlichen Zwecken. Sie werden als Heuristiken herangezogen, um eine bestimmte Rechtsordnung und ihren Normzusammenhang zu erkennen und auf den Einzelfall anzuwenden. Die rechtstheoretische Ebene zielt auf die Beobachtung des geltenden Rechts. So kann etwa diagnostiziert werden, dass bestimmte Umstände eine Anpassung der Rechtsordnung nahelegen und insoweit jede Rechtsordnung zwischen Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung pendelt. Auf der rechtsphilosophischen Ebene steht die Identifikation normativer Leitideen im Mittelpunkt. Rechtsphilosophien können als Anstoß zur Rechtsentwicklung und damit der normativen Weiterentwicklung von bestehenden Rechtsordnungen herangezogen werden. Die auf der rechtsphilosophischen Ebene vorgeschlagene Unterscheidung zwischen philosophischer und juristischer Rechtsphilosophie kann auf eine zweifache Art nutzbar gemacht werden. Einerseits können innerhalb der juristischen Rechtsphilosophie die Bestände einer Rechtsordnung neu auf die sowohl philosophisch wie auch juristisch abgesicherten Leitideen ausgerichtet werden.65 Andererseits können innerhalb der philosophischen Rechtsphilosophie normative Überschüsse (weiter-)produziert werden – in der Hoffnung die Rechtsordnung argumentativ derart zu beeinflussen, dass sie sich in die entsprechende Richtung entwickelt – und sei es nur auf Grund einer gewissen Überzeugungskraft der Argumente im öffentlichen Diskurs.66 In diesem Setting kann eine problemorientierte Theoriewahl bewusst getroffen werden. Idealerweise wird der gewählte Theorieansatz auch zu Zielen eingesetzt, die eben63 So S. J. Shapiro, The Planning Theory of Law, Yale Law School, Public Law Research Paper No. 600 (2017). Abgerufen am 12. Juli 2017 unter SSRN: https://ssrn.com/abstract=2937990 or http://dx.doi. org/10.2139/ssrn.2937990. 64 So D. von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl., 2011, 26 ff. 65 Für die Gerichtetheit der Rechtsentwicklung auf den Gleichheitssatz beispielsweise T. Gutmann, Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte, in: L. Siep / T. Gutmann / B. Jakl / M. Städtler (Hg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, 2012, 295 ff., insbes. 309. 66 So beispielsweise für den normativ leitenden Gedanken der Selbstgesetzgebung im öffenltichen Diskurs grundlegend J. Habermas (Fn. 52), 153 f.
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so bewusst gewählt werden. Für eine bewusste Theoriewahl auch unter Berücksichtigung einer inhaltlichen Dimension sind die Anforderungen damit besonders hoch: die rechtsgebietsspezifischen Leitideen der positiven, dogmatisch verfestigten Rechtsordnungen müssen ebenso beachtet werden, wie auch die philosophischen Theorieangebote. Ein solches Programm rechtswissenschaftlicher Arbeit ist nur interdisziplinär zu erreichen. Es ist jedenfalls so voraussetzungsreich, dass ein solches interdisziplinäres Unternehmen zumeist skeptisch begleitet wird. Beispielsweise hielt Hans Blumenberg, ein Münsteraner Philosoph, in einem undatierten Brief an Reinhart Koselleck seriöse interdisziplinäre Forschung für so aufwendig, dass sie wissenschaftspolitisch nicht vermittelbare Kosten verursache und daher gar nicht erst begonnen werden sollte.67 Angesichts der Herausforderungen bei der rechtswissenschaftlichen Theoriewahl zwischen den Theorien im Recht und den Theorien des Rechts gibt es allerdings wohl keine Alternative zur interdisziplinären Forschung: Erst die Identifikation der teilweisen Verbindungen von philosophischen Rechtsideen mit den Leitideen einer positiven Rechtsordnung und ihrer jeweiligen Rechtsgebiete bildet einen rechtswissenschaftlich plausiblen Prüfstein für das Gelingen einer bewussten Theoriewahl im vollen rechtsphilosophischen Sinn. PD Dr. Bernhard Jakl, M. A. Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Rechtswissenschaftliche Fakultät, Universitätsstraße 14–16, D-48143 Münster
67 Dazu A. Vowinckel, „Ich fürchte mich vor den Organisationslustigen“. Ein Dialog zwischen Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck, Merkur 781 (2014), 546 ff., insbes. 548.
Rechtstheorie zwischen Land und Meer Sozialwissenschaften am Horizont der Rechtstheorie Jan Philipp Schaefer, München
I. Einführung: Zum Assoziationsfeld der Horizont-Metapher Der Horizont der zeitgenössischen Rechtswissenschaft ist übersät mit funkelnden Ideen.1 In ihrem Schein sonnen sich feministische2, diskurstheoretische3, neo-materialistische4 Lehren. Postpositivismus5 und Fragmentierungstheorien6 werfen ein paar Schönwetterwolken an den Himmel. Das beeindruckende Panorama ist jedoch nicht ungetrübt. Horizonte sind Grenzen, über die man nicht hinausblicken kann. Ihr Verlauf ist vom Beobachter abhängig. Die Wissenschaft bedient sich der Horizontmetapher in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen.7 Die Phänomenologie Edmund Husserls bezieht sie auf die Dingkonstruktion, die einerseits intentional, andererseits in Reaktion auf den Erkenntniskontext verläuft.8 Innerer und äußerer Horizont ähneln der systemtheoretischen Kategorienbildung nach System und Umwelt.9 Demgegenüber kennt die theoretische Physik absolute Horizonte: Grenzen des Raum-Zeit-Kontinuums, denen man nicht entrinnen kann. Nichts kann sich schneller als das Licht fortbewegen, nichts 1 2
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Einen Eindruck davon vermitteln die Sammelbände: W. Brugger / U. Neumann / S. Kirste (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008; S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., 2008; E. Hilgendorf / J. C. Joerden, Handbuch Rechtsphilosophie, 2016. D. Cornell, Beyond Accomodation. Ethical Feminism, and the Law, 1991; M. J. Frug, Postmodern Legal Feminism, 1992; C. A. MacKinnon, Feminism unmodified: Discourses on Life and Law, 1987; dies., Toward a Feminist Theory of the State, 2. Aufl., 1991. Überblicksdarstellungen bei: S. Baer, Rechtswissenschaft in: C. von Braun / I. Stephan (Hg.), Gender-Studien. Eine Einführung, 2000, 155 ff.; U. Sacksofsky, Was ist feministische Rechtswissenschaft?, ZRP 2001, 413 ff. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992. N. Poulantzas, Staatstheorie: politischer Überbau, Ideologie, sozialistische Demokratie, 1978; M. Hardt / A. Negri, Empire. Die neue Weltordnung, 2002. A. Somek / N. Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, 1996. C. Douzinas / R. Warrington, Postmodern Jurisprudence. The Law of Text in the Texts of Law, 1991; K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie. Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung, 2. Aufl., 1995. Zur Begriffsentwicklung: N. Hinske / H. J. Engfer / P. Janssen / M Scherner, Art. „Horizont“ in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 3, 1974, Sp. 1187–1206. E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft,Logos 1 (1910/11), 289 ff. Zu Husserls Horizontbegriff: P. Janssen (Fn. 7), Sp. 1199 f. Zur System-Umwelt-Konstruktion: N. Luhmann, Soziale Systeme, 16. Aufl. 2015, S. 242 ff.
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kann einem kosmischen „Schwarzen Loch“ entkommen. Wenn wir über Wissenschaft in Horizonten sprechen, können absolute wie relative Horizonte gemeint sein. Aber auch diese Metapher hat eine absolute: eine logische Grenze. Im Gegensatz zum natürlichen Gesichtskreis, dem wir existenziell unterworfen sind, können wir über Horizonte des Denkens nachdenken. Wir können über sie diskutieren, und ebendies: die Diskussion über Sinn und Ziel des hermeneutischen Prozesses ist Anfang und Schluss jeder Wissenschaft. Die Abgrenzung eines wissenschaftsdisziplinären Propriums gegenüber nachbarwissenschaftlichen Einflüssen ist ein Gebot der Diskursrationalität. „Wissenschaft“ rationalisiert Vorverständnisse über bestimmte Gegenstände. Sie ist Arbeit am Begriff. II. Der Grenzbereich zwischen Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften 1. Prekarität der Grenzziehung Der Begriff des Rechts ist ein Punkt am Horizont, auf den die Reflexionspfade vieler Disziplinen zulaufen. Seine Unbestimmtheit erschließt Assoziationsräume, die man mit mehr als nur einem Schlüssel öffnen kann. Schlüsselbegriffe wie Geltung10, Zwang11, Effizienz12, Anerkennung13 usw. sind Folien, vor denen sich das Recht als Inbegriff eines Möglichkeitsspektrums, unser Leben vernunftgemäß zu gestalten, abhebt. Das durch den Rechtsbegriff bereit gestellte Konvergenzpotential nutzen Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften – einschließlich der Ökonomie – gemeinsam, mögen sich auch die daraus entstehenden Diskurse aus Gründen, die näher zu erläutern sind, gegeneinander abschotten.14 Die Metapher des Horizonts impliziert eine scharfe Differenzierung zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften.15 Nach diesem Verständnis bezieht sich Rechtswissenschaft entweder auf die Interpretation eines Textbestands, dem man nach bestimmten Kriterien Rechtsnormeigenschaft zuschreibt16, oder sie leitet Recht aus ethischen Prinzipien ab17. Jedenfalls geht es ihr um eine Hermeneutik des Wägens und Wertens. 10 H. Hülsmann, Art. „Gelten/Geltung“ in: J. Ritter (Fn. 7), Sp. 232–235. 11 Zum Zwangsbegriff im ethisch-rechtlichen Diskurs: A. Hügli, Art. „Zwang“ in: J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 12, 2004, Sp. 1476 f. 12 H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4. Aufl. 2015, 463 ff. 13 M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 8. Aufl. 2014, Rn. 44, 46, 49. 14 Zu eng die Zuspitzung der Problematik auf die Inklusion soziologischer Theorien in eine „soziologische Jurisprudenz“ (H. Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 251 (253)). 15 Zur Jurisprudenz im Kreis der Wissenschaften: W. Ernst, Gelehrtes Recht, in: C. Engel / W. Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, 3 (15 ff.). 16 K. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl., 2001, § 24; B. Rüthers / C. Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl., 2010, Rn. 121 ff. 17 Rüthers/Fischer (Fn. 16), Rn. 404 ff., 407 ff.; S. Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts, 1991, 115. Überblick bei: U. Neumann, Recht und Moral, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Fn. 14), 7 ff.
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Demgegenüber liegt den Sozialwissenschaften eine Hermeneutik menschlicher Interaktion zugrunde.18 Aber diese Herangehensweise ist zirkulär. Werte imprägnieren soziale Beziehungen. Sozialen Beziehungen entspringen wiederum Wertungsprobleme, die der Abwägung bedürfen. Das bedeutet keineswegs, dass eine Abstandnahme des Wertens vom Handeln nicht sinnvoll sein kann, sie ist jedoch nicht begriffsnotwendig, um Rechtstheorie betreiben zu können. 2. Der Normbegriff als gemeinsamer Referenzpunkt Dieser Befund hat Konsequenzen für unser Verständnis wissenschaftsdisziplinärer Grenzziehungen. Bereits der Auswahl und Formulierung unserer Fragen liegen Normen zugrunde. In diesem Sinne ist jede Wissenschaft normativ. Im engeren Sinne hermeneutisch sind neben Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft19 auch die Sozialwissenschaften20. Ihre Theoriedesigns beruhen häufig auf unhinterfragten, da für evident erachteten Zuschreibungen, aus denen sich erst eine für die weitere Untersuchung notwendige Ausgangshypothese bilden lässt. Somit laufen Verbindungslinien zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften auf den Normbegriff zu. Die Rechtswissenschaft kann an ein als „soziale Praxis“ verstandenes Normkonzept anschließen21, sich aber auch in Betonung der Norm als Verstandesleistung dagegen abschließen.22 Rechtsnormen können als Unterfall sozialer Normen angesehen werden, während nahezu jede in den Analysefokus der Sozialwissenschaften einbezogene menschliche Interaktion Rechtsfragen aufwerfen kann. Folgt man Christoph Möllers’ Normbegriff – Normen als „Markierung einer Möglichkeit“, als Distanzierung des Gedankens von der Wirklich-
18 Um den Wissenschaftscharakter der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, wird fast so erbittert gerungen wie um die Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft. Dies wurde zuletzt im Positivismusstreit zwischen Vertretern des kritischen Rationalismus und der kritischen Theorie in den 1960erund 1970er-Jahren offenbar (dazu: T. Adorno u. a. (Hg.), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 3. Aufl. 1971; H.-J. Dahms, Positivismusstreit: Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, 1994). Zum Problempanorama ferner: E. Pankoke, Art. „Sozialwissenschaft/Gesellschaftswissenschaft“ in: J. Ritter / K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 9, 1995, Sp. 1250–1257. 19 Zur Rechtswissenschaft als normative Wissenschaft: M. Jestaedt in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Fn. 14), 254 ff. 20 M. Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis in: J. Winckelmann (Hg.), Max Weber – Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 146 (149–151). 21 E. Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, 126 ff.; K.-L. Kunz / M. Mona, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, 2. Aufl., 2015, § 4, Rn. 262 ff.; K. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 8. Zum soziologischen Rechtsdenken in den USA: R. Pound, Social Control through Law, 1942; B. Leiter, Legal Realism, in: D. Patterson (Hg.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 1999, 261 ff.; N. Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967, 82 ff. Aus Sicht der Politikwissenschaft: C. Engel / A. Héritier (Hg.), Linking Politics and Law, 2003. Zum Jurisprudential Realism: J. Lege, Was Juristen wirklich tun, in: W. Brugger / U. Neumann / S. Kirste (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, 207 ff. 22 H. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen, 1969, 139 ff. Allgemein auf Normen bezogen: Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, 61.
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keit23 – ist es Sache der hermeneutischen Wissenschaften, ebendiese Lücke aufzufüllen. Mit welchen Zielen und mit welchem methodischen Instrumentarium dies geschieht, setzt die Wissenschaftsdisziplinen voneinander ab. 3. Bedeutung des Aussagekontexts Der hieraus entstehende Diskurs ist gleichwohl von Beliebigkeit geprägt. Entscheidungen sind „beliebig“, wenn die Gründe für oder gegen sie allein der Rationalität des Entscheidenden überantwortet sind. Der Respekt vor dem Belieben ist ein Freiheitspostulat – mit Georg Friedrich Puchta: „Der abstrakte Begriff der Freiheit ist: Möglichkeit, sich zu etwas zu bestimmen“.24 Wissenschaftsdisziplinäre Grenzen haben nichts Ontisches an sich; sie werden gemacht, indem sie erdacht werden.25 Daraus mag man folgern, dass die Wissenschaft eine Kaskade von Sprachspielen sei und dass sich ihre Binnenstruktur aus den logischen, mit den Mitteln der Sprache nicht auflösbaren Widersprüchen ergebe, die zwischen Aussagesätzen nun einmal bestehen können.26 Eine stärkere Variante dieser These begreift fachdisziplinäre Grenzen als Sprachhürden.27 Grundlage sprachlicher Geschlossenheit kann ein Programm wissenschaftlicher Selbstreferentialität sein, das für die Rechtswissenschaft paradigmatisch von Hans Kelsen formuliert wurde: „Die Reine Rechtslehre ist eine Theorie des positiven Rechts. (…) Als Theorie will sie ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. (…) Wenn sie sich als eine ‚reine‘ Lehre vom Recht bezeichnet, so darum, weil sie eine nur auf das Recht gerichtete Erkenntnis sicherstellen (…) möchte (…). Sie will die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien“.28
Als Sprachhürde kann man schließlich die Ausrichtung der deutschen Jurisprudenz auf die Erkenntnisperspektive des Richters ansehen. Sie äußert sich in einem dem Rechtsgespräch eigenen „Urteilsstil“, ist verortet in einem Kontext, der Bezug nimmt auf das, was Gerichte voraussichtlich entscheiden werden oder schon entschieden haben. Man mag zwar auch jenseits des Urteilsstils das geltende Recht hinterfragen, doch eben nicht unter dogmatischen, d. h. rechtsimmanenten Gesichtspunkten. Somit unterscheiden sich juristische von nicht-juristischen Argumenten allem voran in dem Stil und in Bezug auf den institutionellen Rahmen, in dem sie vorgetragen werden.
C. Möllers, Die Möglichkeit der Normen, 2015, 13 ff. G. F. Puchta, Cursus der Institutionen,Band I, 1853, 6. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1965, 361 ff. F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1994, 157 ff. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 3. Aufl., 1991, 188 charakterisiert postmoderne Wissenschaft als pluralistisch, diskontinuierlich, antagonistisch und partikularistisch. S. Toulmin hatte schon vor Lyotard nachgewiesen, dass sämtliche Wissenschaft einer historisch-kulturell bedingten Relativität unterliege (Kritik der kollektiven Vernunft, 1983, 64 ff.); mithin sei die wissenschaftliche Begriffsbildung raumzeitlich kontingent. P. Feyerabend folgert daraus unter dem Schlagwort: Anything Goes einen radikalen Methodenpluralismus (Erkenntnis für freie Menschen, 1980, 233 f.). 28 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, hg. von M. Jestaedt, Nachdruck der 1. Aufl., 1934, 15. 23 24 25 26 27
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4. Funktion einer Selbstbestätigungsstrategie der Rechtswissenschaft Dieser formale Gesichtspunkt ist in der Diskurspraxis von ausschlaggebender Bedeutung. Vorteil einer formalen Grenzziehung ist eine hohe systemische Geschlossenheit des Reflexionskreislaufs, eine Ästhetik des Zeitlos-Gültigen. Allerdings bieten sich darin kaum Bezugspunkte zur Verwertung fremddisziplinärer Konzepte. Die Begegnung der Rechts- mit der Systemtheorie luhmannscher Prägung, die seit den frühen 1980er-Jahren forciert wird und immer noch aktuell ist, unterlegt selbstreflexive Tendenzen in der Rechtswissenschaft mit soziologischen Begründungsmustern.29 Ihr kommt daher eine die Abgeschlossenheit des Rechts bestätigende Funktion zu. Nicht zuletzt affirmiert dies die Professionalität der juristischen Praxis und ihres Personals. Im systemtheoretischen Weitwinkelobjektiv sind Rechts- und Sozialwissenschaften zwei voneinander separierte Landmassen, deren Steilküsten eine wechselseitige Erreichbarkeit nahezu unmöglich machen. 5. Wurzeln der Selbstbestätigungsstrategie in der Historischen Rechtsschule und im Rechtspositivismus Die damit einhergehende perspektivische Engführung reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück.30 Damals war die Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften noch unabgeschlossen. Die Jurisprudenz hatte sich insbesondere zur Moralphilosophie, zur Ethik und zur Staatsphilosophie abzugrenzen, um Selbstand als Wissenschaft zu gewinnen.31 In diesem Umfeld kam der Herausbildung einer spezifisch juristischen Methodenlehre, ferner der Konturenschärfung einer positivistischen Rechtstheorie eine disziplinbildende, wenn nicht sogar disziplinbegründende Bedeutung zu. Jenseits dieser wissenschaftstheoretischen Komponente ließen sich pragmatische Erwägungen für eine möglichst große Distanz der Jurisprudenz zu den Sozialwissenschaften anführen. Die Akzentuierung der römisch-rechtlichen Tradition durch die historische Rechtsschule überbürdete dem Gesetzgeber Begründungslasten in Bezug auf die Kodifizierungsvorhaben der Zeit, hinter denen konservative Juristen die Gefahr einer Revolution im Gewande der Rechtsschöpfung witterten.32 Insgesamt wurde dadurch die Rationalität des Rechtsdiskurses geschärft. Zwar mutete man der Gesellschaft die Prävalenz des Rechtsaugurs vor dem an Tradition und Interpretation gebundenen Gesetzgeber zu, doch im Gegenzug bot sich die Rechtswissenschaft als Stabilitätsanker in der Verteidigung der konstitutionellen Monarchie und ihrer marktliberalen Wirtschaftsordnung an. Führende Rechtsgelehrte der Zeit – von Gerber bis Laband – 29 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, 38 ff. 30 J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 2011, § 26; H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl., 1993, 42 ff. 31 Mit spezifischem Bezug zur deutschen Rechtswissenschaft: P. Grossi, Das Recht in der europäischen Geschichte, 2010, 156 ff. 32 H. Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts, 2. Aufl., 1980, Rn. 179.
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konnten gut damit leben, als Bürger von einer Partizipation an politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen zu bleiben, dabei aber die Hand des Gesetzgebers zu führen.33 Eine Thematisierung der gesellschaftlichen Kosten und politischen Folgen einer selbstgenügsamen, staatsaffirmativen Rechtswissenschaft wäre im Hinblick auf diese Situation kontraproduktiv gewesen. Das Verhältnis des Rechts zu seinen gesellschaftlichen Grundlagen spiegelt sich bis 1945 besonders deutlich in den verschiedenen Strömungen des Rechtspositivismus, genauer: in der Art und Weise, wie Rechtsgeltung und Rechtswirksamkeit einander zugeordnet werden. Hierbei wird deutlich, dass sämtliche Selbstverortungen der Rechtstheorie eine wissenschaftstheoretische Dimension haben. So überweist die Reine Rechtslehre die Wirklichkeit des Rechts den Sozialwissenschaften und der Psychologie. Kelsen betont mit Blick auf soziologisch gefärbte Geltungstheorien, dass die sozialwissenschaftliche Identifikation von Normgeltung und faktischer Befolgung der Norm rechtstheoretisch invalid sei, da sie einem naturalistischen Fehlschluss entspringe.34 Ihm entgeht man mit einem engen Begriff von „Rechtstheorie“, deren gesicherter Bestand Theorien im Recht umfasst. In diesem Zuschnitt ist Rechtstheorie eine Theorie der juristischen Methodik. Als allgemeine Rechtslehre befasst sie sich mit Struktur, Konzept und Funktion der Rechtsdogmatik. Die Konstruktion von Bezugspunkten zwischen Rechtsanwendung und Rechtswirklichkeit setzt sich dem Verdacht einer Verdunkelung der Erkenntnisperspektiven aus. Es gelte einem Begriffseklektizismus entgegenzuwirken, der sich durch die Rezeption sozialwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe ohne Beachtung ihres Kontextes einstellt.35 Daran ist richtig, dass die Rechtstheorie mit der unreflektierten Übernahme eines sozialwissenschaftlichen Jargons prätendiert, die bessere Sozialwissenschaft zu sein. Diesen Wettbewerb kann sie nicht bestehen. Mit einer aus der Rechtstheorie konzipierten wissenschaftsdisziplinären Exklusionsstrategie lassen sich absolute hermeneutische Horizonte konstruieren. Ein wenig überspitzt kann man sagen: Die Sozialwissenschaften verschwinden im Schwarzen Loch der Reinen Rechtslehre. 6. Die soziologische Sichtweise Die Kelsensche Position findet auf Seiten der Rechtssoziologie einerseits in Max Webers radikaler Unterscheidung eines empirischen von einem normativen Geltungsbegriff36, andererseits in der auf Niklas Luhmann und Gunther Teubner zurückgehenden
33 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland,Band II, 1992, 331 ff. (zu Gerber), 341 ff. (zu Laband). 34 Kelsen (Fn. 17), 23, 42. 35 C. Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), 22 (26 ff.). 36 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, 16 f.
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Konzeption des Rechts als autopoietisches System37 ihre kongeniale Fortführung. Jenseits des Atlantiks hat sich in der US-amerikanischen Wissenschaftslandschaft mit dem Law and Society Movement ein Ansatz etabliert, der – im Unterschied zur klassischen Rechtssoziologie – eine Transzendierung der soziologischen Rechtskritik anstrebt, um sich auf einen interdisziplinären Dialog mit der Rechtswissenschaft über Ziel und Funktion des Rechts einzulassen.38 Ebenfalls stärker sozialwissenschaftlich bestimmt ist die auf Befehl und Autorität gründende Imperativentheorie John Austins39– sie fordert zur soziologischen Erläuterung rechtsnormativer Präskriptionen heraus – sowie die Bierlingsche Anerkennungstheorie40, die auf ein gelebtes Rechtsethos abstellt. In das Blickfeld des inklusiven Rechtspositivismus rückt die Rechtswirklichkeit durch das Raster unbestimmter Rechtsbegriffe, die eine Verarbeitung extrajuridischen Wissens im Recht bis zu einem gewissen Grad notwendig machen. So mag man mit Horst Eidenmüller eine Relevanz ökonomischer Kriterien für die Gesetzesinterpretation unter der Voraussetzung der Einspeisung von Effizienz- bzw. Zweckmäßigkeitskriterien in das Normprogramm für angezeigt halten41 – aber eben nur unter dieser Voraussetzung. Umgekehrt sind nichtpositivistische Systeme nicht notwendig mit einer wirklichkeitswissenschaftlichen Komponente verknüpft. 7. Systempurismus vs. offene Rechtstheorie Eine Gegenströmung zu systempuristischen Prägungen der Rechtstheorie setzt auf methodische Öffnung, gestattet ein Einfließen fremddisziplinären Inputs in den Kontinent des Rechts. Die Rechtswissenschaft wagt sich auf das von wechselnden Konjunkturen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung aufgepeitschte offene Meer hinaus, strebt methodischen Leuchttürmen entgegen, deren Lichtquellen von Philosophie, Sprachwissenschaft, Ökonomik, Politik- und Geschichtswissenschaft gespeist werden. Zwar ist die Jurisprudenz bestrebt, Sicherungsbauten herzustellen, um eine Überflutung ihres Proprietärbesitzes zu verhindern, doch innerhalb hierfür geschaffener Entlastungskanäle, deren Verlauf im Einzelnen strittig ist, sollen Ideenströme ungehindert fließen. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das eine Folgenperspektive in das öffentliche Recht implementiert.42 Über das Zweckelement lassen 37 G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989. Zur systemischen Autopoiesis: N. Luhmann (Fn. 9), 60 ff. Überblick bei: G.-P. Calliess, Systemtheorie, in: S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 57 ff. 38 R. Posner, An Economic Approach to Legal Procedure and Judicial Administration, Journal of Legal Studies 2 (1973), 399 ff. Überblick bei: B. Schwartz, Main Currents in American Legal Thought, 1993, 566 ff. 39 J. Austin, Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Vol. 1, 1883, 86 ff. 40 E. R. Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Band I, Nachdruck 1961, 43 ff. Zu Bierling: A. Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004, 126 ff., 139 ff. 41 H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4. Aufl., 2015, 459 ff. 42 W. Hoffmann-Riem, Rechtsformen, Handlungsformen, Bewirkungsformen in: ders. / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 2, 2. Aufl. 2012, § 33, Rn. 116. Allgemein zur Struktur des Verhältnismäßigkeitsprinzips: O. Lepsius, Die Chancen und Grenzen des Grundsatzes
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sich Desiderate der Gesellschaftsgestaltung berücksichtigen, die der Gesetzgeber in der Norm möglicherweise nur angedeutet, vielleicht auch nur stillschweigend vorausgesetzt haben mag. Die Prüfung der Geeignetheit und mehr noch: der Erforderlichkeit einer rechtlichen Gestaltung kann beispielsweise ökonomische Ansätze dogmatisch fruchtbar machen. Auf dem Feld der Angemessenheitsprüfung können schließlich sozialwissenschaftlich angereicherte Erwägungen zur Verteilungsgerechtigkeit verarbeitet werden. Eine interdisziplinär aufgeschlossene „offene Rechtstheorie“ beruht auf der Prämisse, dass man Theorien im Recht nur im Lichte außerjuridischer Theorien über das Recht zutreffend verstehen und als juristische Argumente einordnen kann. 8. Einwände a) Verschleierung der Rechtsautoren – Gefährdung der Demokratie Was die Rechtswissenschaft durch den so beschriebenen Inklusionskurs zu verlieren hat, wird an einer Reihe von Einwänden deutlich. Zunächst: Die Konzentration der Rechtswissenschaft auf innerjuridische, rechtsimmanente Kritik knüpft an eine Zivilisationsleistung ersten Ranges an: das Sichtbarmachen der Rechtsautoren hinter den Rechtsquellen. Die Verwurzelung des vormodernen Rechts in Vernunft, Natur und Offenbarung band die Rechtsidee an übermenschliche Mächte. Mit der Fokussierung der Rechtserkenntnis auf das positive Recht, auf Dogmatik und auf eine als Dogmengeschichte betriebene Rechtsphilosophie wird die Gesetzgebung den Wechselfällen des Schicksals entrissen. Der Übergang von einem Offenbarung und Tradition verhafteten Naturrecht zu einem Recht, das einem personal konzipierten Staat zugeschrieben wird, markiert den Beginn einer Revolution des Rechtsdenkens, die schließlich in eine Identifikation des Gesetzgebers mit einer juristischen Person und in die politische Konstruktion des „Souveräns“ mündet.43 Mit der Personalitätsfiktion wird Legislativverantwortung sichtbar und zurechenbar. Dies erst rückt die demokratische Ausfüllung der Legislativein den Bereich des Möglichen. Gesichtsloses Recht ist undemokratisch, weil seine Quellen außerhalb des Bereichs menschlicher Verantwortung und Zurechenbarkeit lokalisiert werden. Setzt man jedoch die Zwecke des Rechts mit ihrem Wirkungsradius in eins, wird Demokratie mit Technokratie, Deliberation mit Alternativlosigkeit kurzgeschlossen. Vom Empirismus führt eine Linie zur Postdemokratie44 und von dort zu einer Rechtswissenschaft, die ihren ethischen Anspruch aufgibt.
der Verhältnismäßigkeit in: M. Jestaedt / ders. (Hg.), Verhältnismäßigkeit, 2015, 1 ff. Zum Verhältnismäßigkeitsprinzip im Privatrecht: L. Kähler, Raum für Maßlosigkeit. Zu den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Privatrecht in: Jestaedt/Lepsius ebda., 210 ff. 43 M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, § 12. 44 Dazu aus rechtswissenschaftlicher Perspektive: J. P. Schaefer, Verwaltungsrecht und Postdemokratie. Zur demokratischen Responsivität der Verwaltung, Die Verwaltung 49 (2016), 463 ff.
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b) Parteilichkeit der Rechtsanwendung – Gefährdung des Rechtsstaats Ein an teleologischen Grundlagen der Rechtsnorm orientiertes weites Entscheidungsermessen kollidiert überdies mit der Rule of Law, deren Sinnmitte die Unparteilichkeit des Gerichts bildet. Die Evaluation der Rechtsnorm an extrajuridischen Rationalitätskriterien mag zwar aus dem Richter einen „Herkules“ machen45, mag zu im Einzelfall gerechteren Lösungen führen als nach Maßgabe des strikten Gesetzesvorbehalts, aber der Richter stellt sich dadurch unausweichlich in den Dienst jener Interessen, denen eine bestimmte Auffassung vom gesellschaftlich oder ökonomisch Notwendigen in die Hände spielt. Damit Rechtsstaatlichkeit praktisch möglich ist, bedarf es einer Distanzierung der Justiz von den persönlichen Gerechtigkeitsvorstellungen des Richters. Das kann zwar wegen der Unschärfen der Gesetzessprache niemals ganz gelingen, aber der Gesetzgeber kann rechtsstaatliche Distanz durch ein so präzise wie möglich formuliertes Anwendungsprogramm fördern. Gerichte werden umso parteiischer, je stärker der Gesetzgeber von Konditional- auf Aufgabenprogrammierung umsteuert, je breiter mithin der Wertungsspielraum des Richters zur Ausfüllung der Gesetze bemessen ist. Dieses immer wieder gegen die Freirechtsschule in Anschlag gebrachte Argument46 lässt sich auf eine Rechtstheorie übertragen, die Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit auf die Beachtung politischer oder sozialtheoretischer Entscheidungsdeterminanten festlegen will. Sie macht den Richter zum Philosophenkönig, dessen Einsicht in eine in gesellschaftliche Interessen verwobene Einzelfallgerechtigkeit die Bindung an Wortlaut und Systematik des Gesetzes übertrumpft. c) Postpositivistische Antikritik Den rechtsstaatlichen und demokratieprinzipiellen Bedenken gegen eine Aufwertung des Richters durch sozialtheoretische Inklusion begegnet der Postpositivismus mit achselzuckender Ironie: So wenig eine Rechtsnorm ihre Anwendung regeln kann, könne das Recht seinen Anwendungsfolgen entgehen.47 Rechtsnormen binden weder, weil sie den „Willen des Gesetzgebers“ widerspiegeln, noch wegen der Überzeugungskraft der in ihnen gebündelten Entscheidungsgründe.48 Die Prämisse, dass sich das Recht in normativen Aussagen abbilden lasse und deshalb gewusst werden kann, sei mindestens naiv. Auf Ebene der Norm ließen sich Hermeneutik und Analytik nicht unterscheiden. Ein Rechtstext erlange erst in der Anwendung Bedeutung. Anwendung aber sei abhängig von einem nicht-präskriptionsfähigen Kontext. Die kristalline Struktur des Rechtsbegriffs lasse hinter seiner aktualisierten immer auch die gegenteilige Bedeutung durch45 R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, 1990, 182 ff. 46 P. Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912, 26. 47 N. Forgó / A. Somek, Nachpositivistisches Rechtsdenken, in: S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, 263 (268). 48 H. Krüger, Verfassungsauslegung aus dem Willen des Gesetzgebers in: R. Dreier / F. Schwegmann (Hg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, 142 ff.
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schimmern.49 Folglich sei die soeben kritisierte Rolle des Richters als Philosophenkönig nicht nur unausweichlich, sondern man könne ethisch-moralische, ökonomische oder politische Argumente aus der juristischen Hermeneutik nicht ausfiltern. Das Ferment des Interpretationsvorgangs sei nicht die im eigentlichen Sinne juridische Norm, sondern der Versuch einer hermeneutischen Kernspaltung erzeuge wiederum ein Schwarzes Loch, in dem diesmal aber die Reine Rechtslehre verschwindet. Und dennoch: Bedeutet nicht die Verknüpfung rechtlicher mit sozialwissenschaftlichen Erwägungen einen Rückschritt, der sich in der Verwischung von Verantwortungsbeziehungen, im Abbruch von Zurechnungslinien an vermeintlich alternativlosen Seinsgegebenheiten niederschlägt? Provoziert ein mit sozialwissenschaftlichen Ideen aufgeladenes Recht eine Renaissance naturalistischen Rechtsdenkens, in deren Licht grundrechtlich oder demokratisch gebotene Ineffizienz gegen Kosten-Nutzen-Erwägungen ausgespielt und unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wird, systemtheoretische Erkenntnisse umfunktionalisiert werden, um ein Eingreifen des Gesetzgebers in Wirtschaft, Wissenschaft oder Kultur zu delegitimieren? Und wo bleibt hinter einer die Gesellschaft steuernden Sozialtechnik eigentlich der Mensch als autonomes, würdebegabtes Subjekt?50 9. Perspektiven der Rechtstheorie als Rechtswissenschaftstheorie Ich will diese Bedenken nicht beiseite wischen. Sie beziehen sich jedoch primär auf mögliche rechtsdogmatische Konsequenzen der sozialwissenschaftlichen Analyse – auf „Theorien im Recht“. Rechtstheorie als Rechtswissenschaftstheorie strebt Aussagen auf einem höheren Abstraktionsniveau an – Theorien über das Recht. Solche Theorien konzipieren Recht üblicherweise aus einer Beobachterperspektive. Damit verschiebt sich der Diskurshorizont hin zu den Schlüsselkonzepten, welche die Jurisprudenz als Wissenschaft auszeichnen, den disziplinären Standort der Rechtswissenschaft markieren. Meinen weiteren Ausführungen liegt die These zugrunde, dass sich die Reflexionsebenen der Rechtstheorie zu Theorien im Recht und Theorien über das Recht ausdifferenzieren lassen und dass die Rechtswissenschaftstheorie auf der Metaebene an rechtsexterne Rechtskritik anschließen kann. Postmodernistisch gewendet: Sätze erhalten ihren Sinn durch und innerhalb von Institutionen. „Vertragsfreiheit“ oder „Bürokratie“ beispielsweise haben unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob man sie juristisch, ökonomisch oder ethisch versteht. Interdisziplinäre Wissenschaft findet ihre eigentliche Berufung im Herauslösen eingefahrener Sprechweisen aus ihren institutionellen Zusammenhängen. Der damit eintretende Verfremdungseffekt mag überraschende Satz-Kombinationen ergeben, aber eben dadurch wird die Rechtstheorie zur Metatheorie der Theorien über das Recht.
49 Forgó/Somek (Fn. 32), 283. 50 O. Lepsius, Steuerungstheorie, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999.
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III. Wissenschaftssprache und Verstehenshorizont 1. Vom Weltbild zum Fachjargon Ich komme auf die postpositivistische Betonung des konstruktiven Elements der Hermeneutik zurück. Meine weitere These geht dahin, dass sich interdisziplinäre Spielräume in Metaphern der Wissenschaftssprache entfalten. Zugleich schließt Sprache Bedeutungsfelder ab. Der Kontext einer Äußerung lässt Raum für Verständigung, markiert aber auch die Grenzen zulässiger, da in der jeweiligen Situation eingängiger Argumente. Unser durch Sinneseindrücke affiziertes Denken stellt Bilder an den Anfang der Wissenschaft. Aus Sprachbildern entstehen Weltbilder, die auf unser Erkenntnisvermögen zurückwirken. Die „Grenze“ ist selbst ein Sprachbild, mit dem wir eine wissenschaftstheoretische Kategorisierungsleistung beschreiben. Wissenschaftsdisziplinen sind Spiegelungen je eigener Schlüsselmetaphern, die zu einem Fachjargon verdichtet werden. An anderer Stelle habe ich dazu ausgeführt: „(…) Wissenschaft (ist)sowohl introvertiert als auch auf Erkenntnis eines Objekts außerhalb ihrer selbst gerichtet. Die identitätsstiftende Bedeutung der Introspektive weist jede Banalisierung der Fragen nach Erkenntnisinteresse, Rechtfertigung und Selbstand einer Wissenschaftsdisziplin zurück. (…) Wissenschaft ist narrativ, insoweit sie von Genese, Gegenwart und Gestaltungsperspektiven eines geistigen Systems erzählt. Sie ist systemisch, indem sie mit dem disziplinbegründenden Narrativ zugleich einen geschlossenen Kommunikationskreislauf etabliert. (…)“.51
Diese Überlegung führt vom Horizont – der Linie, der Grenze – zum Kreis als Sinnbild sowohl der Selbstreferentialität als auch der Verbundenheit aller mit allen Argumenten. 2. Interdisziplinarität als Überwindung von Sprachbarrieren Interdisziplinarität beginnt deshalb mit der Überwindung von Sprachhürden. Sich ihrer bewusst zu werden, ist der logische Vorgriff auf jede Art von transzendentalem Diskurs. Dass ein solches Vorhaben nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt, liegt in der Natur der Sache. Aus der Perspektive jeder Disziplin lässt sich gut argumentieren, dass die selbstreferentielle Separierung von Verstehenspfaden oder ihre „interdisziplinäre“ Zusammenführung eine strategische Entscheidung sei, die aus funktionalen, die Wissenschaft überschießenden Gründen getroffen werde. Korrespondenzen juridischer und sozialwissenschaftlicher Rationalität zeigen sich in interdisziplinären Verbundbegriffen. Damit sind Weltabstraktionen gemeint, an die verschiedene Wissenschaftsdisziplinen anschließen können, ohne zu kongruenten Begriffsgehalten gelangen zu müssen. Ihre Textur ist ein Gewebe von Narrativen, die je nach Betrachtungsweise unterschiedliche Perspektiven auf einen Gegenstand werfen. Beispiele für interdisziplinäre Verbundbe51 J. P. Schaefer, Die Umgestaltung des Verwaltungsrechts, 2016, 49 f.
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griffe sind Staat, Gesetz und eben Recht. Verbundbegriffe konstitutieren Matrizen zur Beschreibung des Aussagewerts sozial- und rechtswissenschaftlicher Theorien. IV. „Markt“ und „Maschine“ als diskursprägende Metaphern sozialwissenschaftlicher Rechtstheorie Das Miteinander von Rechts- und Sozialwissenschaften sei im Folgenden beispielhaft unter dem Rubrum zweier Metaphern betrachtet, die sowohl handlungstheoretische als auch strukturalistische Assoziationen zulassen und zugleich Quelle von Verbundbegriffen sind: Markt und Maschine. Der Markt symbolisiert ein mit den Mitteln des methodologischen Individualismus dechiffrierbares dezentrales System aufeinander bezogener Handlungen, aus denen Austauschverhältnisse entstehen. Die Maschine steht stellvertretend für eine zentral gesteuerte, planvolle Gesellschaftsgestaltung, deren Methodik kollektivistischen und konsequentialistischen Ansätzen zuneigt. 1. „Markt“: Ökonomische Analyse des Rechts, Legal Realism und evolutorische Rechtstheorie Zunächst zum Markt: Tausch und Handel sind wesentliche Ausprägungen menschlicher Interaktion. Der Markt erschließt ein Assoziationsfeld, das wirtschaftlichen um geistigen Wettbewerb ergänzt. Eine Erweiterung des Beobachtungsbereichs der ökonomischen Analyse auf das Recht stößt auf Ressentiments; ökonomische Theorie wird als ideologiebelastet kritisiert.52 Das mag zum Teil Berührungsängsten geschuldet sein, mit denen sich die utilitaristische Ablehnung des Rechts als Wert an sich konfrontiert sieht. Rechtskulturelle Rezeptionsbarrieren kommen hinzu, erblickt man doch im Rechtsrealismus eine „amerikanische Geschichte“, ein dem deutschen Sprachraum nicht nur sprachlich fremdes, sondern auch den eigenen Rechtshorizont übersteigendes Narrativ.53 Schließlich sieht man mit Sorge, dass Law and Economics-Ansätze die Rechtswissenschaft aus dem Rechtsdiskurs verdrängen können, was in den USA offen zugegeben wird.54 Inzwischen kämpft Law and Economics als Zukunftstheorie von gestern mit dem Zeitgeist, da die mit der Rechtsökonomik verbundene wirtschaftsliberale Politik seit dem Ende des letzten Jahrzehnts einen konjunkturellen Abstieg verkraften muss.
52 H. Albert, Ökonomische Theorie als politische Ideologie, 2009. 53 S. hierzu die Kontroverse zwischen K.-H. Fezer, Aspekte einer Rechtskritik an der economic analysis of law und am property rights approach, JZ 1986, 817 ff. und C. Ott / H.-B. Schäfer, Die ökonomische Analyse des Rechts – Irrweg oder Chance wissenschaftlicher Rechtserkenntnis?, JZ 1988, 213 ff. Ebenso: G. Kirchgässner, Führt der homo oeconomicus das Recht in die Irre?, JZ 1991, 104 ff. 54 R. Posner, The Decline of Law as an Autonomous Discipline, 1962–1987, Harvard Law Review 100 (1986/87), 761 ff.
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Die geistesgeschichtlichen Wurzeln rechtsrealistischer Ansätze verorten manche in der oft als anarchisch verkannten Freirechtsschule.55 Demgegenüber bleibt Max Weber, dessen Werk die überragende Bedeutung der kapitalistischen Wirtschaftsweise für das moderne, fragmentierte Recht herausstellt, regelmäßig unberücksichtigt.56 Die methodische Pointe der Rechtsökonomik, die sie mit dem Legal Realism teilt, ist eine Perspektivenverschiebung von der Dogmatik hin zu rechtsexternen Maßstäben der Rechtserkenntnis57, die als Abschied vom Formalismus gefeiertwurde.58 Ökonomische Kriterien füllen die durch die Verabschiedung der Dogmatik entstandenen Freiräume. Die Law and Economics-Bewegung stellt mithin das Rechtsdenken unter eine formale Handlungsrationalität, welche die Rechstheorie mit der Ökonomie teilt. Bedingt und begünstigt wird diese Operation durch die in den USA weit verbreitete Akzeptanz utilitaristischer Gesellschaftsprämissen: die Gesellschaft als Vereinigung der Nutzenmaximierer. Andere betonen einen Einfluss der Wiener Schule der Nationalökonomie auf frühe Arbeiten der rechtsökonomischen Schule59, während ein englischsprachiges Standardwerk die Geschichte der ökonomischen Analyse des Rechts, soweit sie im deutschsprachigen Raum verortet ist, als Gegenbewegung zu Savigny im Geiste des späten Ihering und Otto von Gierkes deutet.60 Man kann mithin die Wurzeln der ökonomischen Analyse des Rechts im deutschen Sprachraum lokalisieren61, wo sie jedoch bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts nicht weiter kultiviert wurden. Methodische Konvergenzen zwischen Rechtsrealismus und Rechtsökonomik finden sich des Näheren in der Anerkennung eines gesellschaftlichen Meinungspluralismus, der sich in der Hermeneutik von Rechtstexten widerspiegelt; ferner in der Rücksichtnahme auf die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele einer Rechtsnorm; schließlich die Anerkennung des Wertungselements in der Rechtsanwendung. Politisch bestehen erhebliche Unterschiede. Während Vertreter des Legal Realism die wirtschaftsliberalen Tendenzen am Supreme Court der Lochner Ära überwiegend ablehn55 K. Grechenig / M. Gelter, Divergente Evolution des Rechtsdenkens, RabelsZ 72 (2008), 513, 550 ff. 56 M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904; ders., Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, 1906. Dazu aus staatstheoretischer Perspektive: H. Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. 4/1, 2010, 73 ff. 57 E. Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts in den U. S. A. Verbindungslinien zur realistischen Tradition in: H.-D. Assmann / C. Kirchner / ders. (Hg.), Ökonomische Analyse des Rechts, 1993, 1 ff.; C. Kirchner, Ökonomische Analyse des Rechts. Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ökonomie und Rechtswissenschaft in: Assmann/ders./Schanze (Hg.) ebda., 62 ff. Im Hinblick auf die Verkoppelung von Verhaltenspsychologie, Ökonomie und Jurisprudenz (Behavioral Law and Economics) führen die Entwicklungslinien der ökonomischen Rechtstheorie zu einem quasi-vernunftrechtlichem Denken, wenn im Rahmen einer sich als deskriptiv verstehenden Verhaltensanalyse etwa behauptet wird, die Institute des Rechts seien eine „intuitive Reaktion auf (…) Einsichten über die Beschränktheit menschlicher Rationalität“ (M. Englerth, Verhaltensökonomie in: E. Towfigh / N. Petersen (Hg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, 165 (173, referierend m. w. N.)). 58 Braun (Fn. 30), 47 f. 59 Grechenig/Gelter (Fn. 55), 541 f. 60 H. Pearson, Origins of Law and Economics. The Economists’ New Science of Law, 2005, 27–31. 61 S. aber R. Posner, The law and economics movement: From Bentham to Becker in: F. Parisi / C. K. Rowley (Hg.), The Origins of Law and Economics, 2005, 328 ff., der geistesgeschlichtliche Brücken der ökonomischen Analyse des Rechts außerhalb des englischsprachigen Raums ignoriert. Ebenso: N. Mercuro / S. G. Medema, Economics and the Law, 1999, 112 ff., 130 ff. (aus ökonomischer Perspektive) und J. D. Hanson / M. R. Hart, Law and Economics in: Patterson (Fn. 21), 311 ff.
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ten, unterstützten sie den staatsinterventionistischen New-Deal-Kurs. Von dieser Folie hob sich die interventionsskeptische Law and Economics-Bewegung ab, in der manche eine Modernisierung, andere eine Fortführumg des Legal Realism unter konservativen Vorzeichen sehen.62 Sie befasst sich aus wohlfahrtsökonomischer Perspektive mit Regeln und ihrer Implementierung. In dieser Matrix wird die Wohlstandsmaximierung als Ziel definiert, in dessen Licht man Rechtsnormen einer Folgenanalyse unterzieht. In ihrer Schattierung als Neue Institutionenökonomik erscheint Recht als Instrument zur Stabilisierung normativer Erwartungen, welche die gesellschaftlichen Akteure aneinander herantragen.63 Die ökonomische Analyse des Rechts trifft auf eine Reihe von Gegenargumenten normativer, sozialtheoretischer und methodischer Provenienz. Kritisiert wird, dass das Konzept immaterielle Werte wie Menschenwürde, Meinungsfreiheit oder Partizipation, die sich mit wohlfahrtsökonomischen Argumenten nicht aufwiegen lassen, vernachlässige.64 Die ökonomische Rechtsanalyse sei selbst an ihren eigenen Ansprüchen gemessen nicht konsequent, da sie den Distributionsaspekt des Marktes selektiv wahrnehme, Marktversagen und sozialstaatliche Umverteilung hinter kontrafaktischen, pseudo-methodischen Annahmen ausblende. Nicht zuletzt wegen der Grobmaschigkeit ihres Theoriefilters könne die ökonomische Analyse zur juristischen Abwägung nicht beitragen, vielmehr rede das Effizienzdenken dezisionistischen Eigenwertungen der Gerichte das Wort.65 Freilich wird diese Kritik den berechtigten Anliegen der Rechtsökonomik nicht gerecht. Zunächst: Der methodologische Individualismus versteht sich nicht als Anthropologie.66 Menschen sind einzigartig; sie auf den Aspekt der rationalen Nutzenmaximierung zu reduzieren, ist von einem anthropologischen Standpunkt aus besehen absurd. Aber die Nutzenprämisse ist unter methodischen Gesichtspunkten zulässig, um zu Voraussagen über die rationale Auswahl zwischen Entscheidungsalternativen gelangen zu können. Sie ist zulässig unter der Voraussetzung, dass sich ökonomisch-analytische Thesen ihres durch ihren engen methodischen Zuschnitt begrenzten Aussagebereichs bewusst sind. Interessanter als dies erscheint mir aber die Parallelisierung der ökonomischen Rechtsanalyse mit einer von der Systemtheorie inspirierten evolutorischen Rechtslehre, wie von Marc Amstutz und anderen konzipiert67. In dieser Matrix wird im Spiegel ökonomischer Schlüsselbegriffe die Ko-Evolution von Recht und Wirtschaft 62 Grechenig/Gelter (Fn. 55), 525. 63 G. Kirsch, Neue Politische Ökonomie, 5. Aufl., 2004, 90 ff. 64 Zu vermeintlich anti-freiheitlichen Prämissen eines ökonomistisch inspirierten Steuerungsdenkens: O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, 13; ders., Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, VVDStRL 63 (2004), 264, 288. 65 Überblick zur Kritik am ökonomischen und steuerungswissenschaftlichen Theorietransfer in die Rechtswissenschaft: Schaefer (Fn. 51), 43 ff. 66 J. Lüdemann, Die Grenzen des homo oeconomicus und die Rechtswissenschaft, Reprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods 2/2006, 8 f. 67 M. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001; M. Aschke, Kommunikation, Koordination und soziales System – theoretische Grundlagen für die Erklärung der Evolution von Kultur und Gesellschaft, 2002; S. Deakin, Evolution for our Time: A Theory of Legal Memetics, Current Legal Problems 55 (2002), 1 ff.; M. T. Fögen, Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems, Rechtsgeschichte 1 (2002), 14 ff.; G. Teubner, Eigensinnige Produktionsregimes: Zur Ko-Evolution von Wirtschaft und Recht in den varieties of capitalism, Soziale Systeme 5 (1999), 7 ff.
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sichtbar, die sich dem Beobachter als unabgeschlossene wechselseitige Irritation darstellt. Die evolutive Rechtstheorie projiziert das Effizienzparadigma der ökonomischen Analyse auf eine höhere Reflexionsebene. Gegenstand der interdisziplinären Verständigung zwischen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften ist nunmehr statt der Effizienz des Rechts die gemeinsame Erarbeitung eines Kriterienkatalogs, mit dem sich die Anpassung von Rechtsnormen an ihre ökonomische Umwelt beschreiben lässt. 2. „Maschine“: Steuerungstheorie, Netzwerk-Governance und fragmentiertes Recht Die evolutorische Rechtstheorie bildet zugleich eine Schnittstelle zwischen Markt und Maschine, zwischen Handlungs- und Systemrationalität. Ihr Augenmerk ruht auf dem Vorgang der systemischen Komplexitätssteigerung, durch die das Recht Bestimmtheit gegen Anpassungsfähigkeit eintauscht. Die ursprünglich naturalistisch-naive Steuerungstheorie gründet im Umfeld einer funktionalistischen Rechtsauffassung, deren Bandbreite von Marx bis zum späten Ihering reicht. Sie konzipiert das Recht als Steuerungsmechanismus, der das Räderwerk des Staates antreibt.68 Die Staatsmaschine hält die Gesellschaft unter Feuer. Die Steuerungstheorie setzt den Leviathan in eine Lokomotive. Ihre Welt ist ein bipolarer Kosmos: Staat und Gesellschaft, Hierarchie und Gleichordnung, imperative und selbstregulative Regulierung werden kontrastiert. In diesem Rahmen diskutiert man die binnendisziplinäre Abgrenzung des Öffentlichen Rechts von Zivilrecht und Strafrecht, aber auch Voraussetzungen einer Kooperation der Teilrechtsregime als „wechselseitige Auffangordnungen“.69 Die Steuerungstheorie interessiert sich besonders für normative Verhaltensanreize. Mit der Entdeckung von Vollzugsdefiziten infolge empirischer Studien zum Umweltrecht in den 1970er-Jahren70 wurde jedoch eine Anpassung der Metaphorik notwendig: von der Maschine als Uhrwerk zum lernenden System, das informale Kommunikation und indirekte Verhaltensanreize in sein Programmschema einzubauen weiß. Der Einfluss der Arbeiten Niklas Luhmanns71, Gunther Teubners72 und Helmut Willkes73 auf diese Entwicklung kann kaum überschätzt werden. Als neues diskursleitendes Sprachbild erscheint nun das Netzwerk am Theoriehorizont.74 Stellt man sich autopoietische Systeme als vertikal parallel verlaufende Linien und strukturelle Kopplungen als parallel gesetzte Punkte auf diesen Linien vor, kommt man durch Einfügung horizontaler Linien zu einem Gitternetz. Der Horizont hat in dieser 68 Schaefer (Fn. 51), 94 ff. 69 W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1997. 70 R. Mayntz u. a. (Hg.), Vollzugsprobleme der Umweltpolitik, 1978; G. Winter, Das Vollzugsdefizit im Wasserrecht, 1975; E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981. 71 N. Luhmann, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981; ders.,Soziale Systeme (Fn. 9). 72 Teubner (Fn. 37). 73 H. Willke, Entzauberung des Staates, 1983; ders., Ironie des Staates, 1992; ders., Systemtheorie entwickelter Gesellschaften, 2. Aufl., 1993. 74 Schaefer (Fn. 51), 109 ff.
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Theorie nichts Trennendes mehr. Die Verbindung systemtheoretischer mit handlungstheoretischen Ansätzen im Netzwerkparadigma bildet einerseits Akteursbeziehungen realistischer ab als dies mit Hierarchiefiktionen möglich ist, andererseits bleibt der ernüchternde Befund, dass eine wechselseitige Beeinflussung der Systeme an intrinsischen Rezeptionsblockaden scheitert. Diese Überlegungen regen Reflexionen auf die Bedingungen und den Stellenwert privater neben staatlicher Rechtsetzung an. Sie bahnen einer menschenrechtlich eingehegten Global Governance jenseits des im Nationalstaat eingeschlossenen politischen Primärraums den Weg. Sie machen Ernst mit der rechtstheoretisch vorgedachten Relativierung von Macht in Rechtsbeziehungen. Großbegriffe wie Staat, Verwaltung, Gesetz werden dekonstruiert, ihr fragmentierter Charakter wird offenbar gemacht. Damit büßen diese Begriffe jedoch ihre Ordnungsfunktion ein. Sie werden zur Manövriermasse einer ihres Unwissens gewissen Rechtstheorie, deren diskursive Anstrengungen auf Überredung des Publikums gerichtet sind. V. Schluss: Alles nur Sprachspiele? Vielleicht enden Projekte der horizontalen Zusammenführung interdisziplinärer Theoriestränge dann doch in Sprachspielen. Aber die Rechtstheorie hat in diesem Spiel nichts zu verlieren außer ihrem Glauben an die Selbstverständlichkeit des Rechts. Es bleibt ihr die Einsicht, dass der Horizont des Rechts aus Sprache gewirkt ist. Die Möglichkeiten, Recht zu denken, korrelieren mit unseren Fähigkeiten, unsere Gedanken über das Recht in Worte zu fassen. Und genau hier steigt die Rechtstheorie auf, um weiter zu blicken. Der Schlüssel zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit liegt im Sprechen. Uns bleibt die Wahl zwischen einem engen Gesichtsfeld, das durch selbstaffirmative, außerhalb der Fachwelt nicht verständliche Begriffe gebildet wird, oder einer Rechtssprache, die über sich hinauswächst, mit Assoziationen experimentiert, nach neuen Weltbildern sucht; dies freilich um den Preis begrifflicher Präzision. Hinter der Kontroverse, wie viel Wirklichkeit im Recht steckt, wie viel Faktisches die Rechtswissenschaft zur Kenntnis nehmen sollte, lauert eine ungleich fundamentale Auseinandersetzung darüber, wie Theorien über das Recht im Recht angemessen darzustellen sind. Die Befassung mit den Sozialwissenschaften fordert die Rechtstheorie auf, sich vom festen Grund ihrer Begriffe in die Zone zu begeben, wo diese Begriffe unscharf werden, weil sie in den Ozean der sozialen Beziehungen ausmünden. Es ist dies eine Rechtstheorie zwischen Land und Meer. Prof. Dr. Jan Philipp Schaefer Juristische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München, Professor-Huber Platz 2, 80539 München
Gibt es zeitlose Theorien in der Rechtswissenschaft? Jan Schröder, Tübingen Das Thema meines Vortrags klingt etwas exzentrisch und für den aktuellen systematischen Rechtstheoretiker vielleicht auch provozierend. Aber die Frage nach der Zeitlosigkeit juristischer Theorien scheint mir doch nicht ganz unbedeutend zu sein. Sie kann zu Einsichten führen in die Eigentümlichkeiten der akademischen Jurisprudenz und in ihre Stellung im Kreis der anderen Geistes- und Sozialwissenschaften, vielleicht der Wissenschaften überhaupt. Das (und nicht nur das) verbindet sie mit der immer wieder verdrängten und doch immer wieder neu aufkommenden Frage, ob die Jurisprudenz eine Wissenschaft ist, über die am ersten Abend dieser Tagung Herr Koskenniemi gesprochen hat. Mit der Zeitlosigkeit der Rechtswissenschaft scheint sich aber bisher so gut wie kein Jurist beschäftigt zu haben, jedenfalls konnte ich dazu keine substantiellen Stellungnahmen finden. In der modernen Literatur trifft man auf verschiedene, nicht weiter begründete und sehr voneinander abweichende Vorstellungen. An zeitlose Theorien denkt möglicherweise Bernd Rüthers, der in seinem Rechtstheorie-Lehrbuch beklagt, dass „die Rechtswissenschaft … trotz aller Bemühungen in den überschaubaren 2500 Jahren keinen allgemein akzeptierten, eindeutigen Rechtsbegriff zustandegebracht“ hat.1 Rüthers nimmt also wohl an, dass ein solcher zeitloser Rechtsbegriff jedenfalls existiert, wenn auch schwer zu finden ist. Dass der Rechtsbegriff selbst historisch wandelbar sein könnte, erwägt er nicht. Heinrich Honsell kritisiert 2015 den Einfluss des Verfassungsrechts auf die zivilrechtliche Methodenlehre und verlangt, dass die „allgemeine Methodenlehre“ vom Verfassungsrecht „unberührt“ bleiben solle2; auch er stellt sich also (wenigstens in der juristischen Methode) eine dauerhafte, von wechselnden Zeiteinflüssen unberührte Theorie vor. Wolfram Henckel spricht 1989 von Rechtsregeln, „die zeitlose (!) Rechtsgewißheit zum Ausdruck“ bringen.3 Eine weniger prominente Stimme schließlich, nämlich ein Leser namens „Vergil“, äußert sich im Internet über das Methode-Lehrbuch von Larenz/Canaris und beschwert sich über das Schriftbild, das 1 2 3
B. Rüthers / C. Fischer / A. Birk, Rechtstheorie mit juristischer Methodenlehre, 7. Aufl., 2013, 44 f. Rn. 71. H. Honsell, Zivilrechtsdogmatik heute, Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft 1 (2015), Editorial, 1, 2. W. Henckel, Diskussionsbemerkung, in: O. Behrends / W. Henckel (Hg.), Gesetzgebung und Dogmatik, 1989, 144 (Formulierung des Protokollanten).
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„vollkommen inakzeptabel“ sei, „angesichts des brillanten und zeitlosen Inhalts“4. Aber es gibt natürlich auch Gegenstimmen. So meint Thomas Hoeren in der Einführung zu seinem Buch über „Zivilrechtliche Entdecker“ (2001): „Bedingt durch den Bruch der Studentenrevolution und des Poststrukturalismus appelliert heute kaum noch jemand an die ewige Wahrheit oder die der Jurisprudenz inhärente Gerechtigkeit“.5 Und auch Hans Dölle sagte bereits 1958 in seinem bekannten Vortrag über „Juristische Entdeckungen“, es sei diesen nur „ein kurzes Siegesfest beschieden zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringschätzt“ werden.6 Bei nüchterner Betrachtung wird man in der Tat kaum annehmen, dass gerade juristische Theorien ewige Geltung haben und alles andere überdauern. Das gilt für sie genau so, wie für andere geisteswissenschaftliche Theorien (und es gilt angesichts der in mehreren Milliarden Jahren sich wandelnden Erdgeschichte vielleicht sogar in der Naturwissenschaft). Seit dem 17. und vor allem seit dem 19. Jahrhundert ist historisches Denken selbstverständlich geworden. Im Prinzip bezweifelt heute wohl niemand mehr, dass menschliche Handlungen und Hervorbringungen von einer Fülle äußerer Einflüsse abhängen, die sich im Laufe der Zeit verändern. Für das Recht nennt Jean Bodin schon 1576 Klima und Volkscharakter als prägende Umstände.7 Ihm schließt sich eine lange Reihe von „Politik“-Lehrbüchern an. 1748 stellt Montesquieu in seinem „De l’esprit des loix“ die Theorie auf eine neue Grundlage. Er geht weit über die alte Klimalehre hinaus und zählt unter die Faktoren der Rechtsbildung nun auch die Landesnatur, die Regierungsform, die soziale Gliederung, den Volksgeist, die Religion und die wirtschaftlichen Verhältnisse.8 Nach und nach entdecken die Juristen, dass diese Einflüsse nicht nur das Recht, sondern auch die Rechtswissenschaft erfassen. Gustav Hugo verlangt 1789, das römische Recht im Sinne Montesquieus zu bearbeiten,9 Friedrich Carl von Savigny weist 1809 auf den engen Zusammenhang zwischen Jurisprudenz und Staatsgeschichte hin,10 und Robert von Mohl setzt 1855 die Staatswissenschaften in engste Beziehung „zu den übrigen menschlichen Zuständen und Gedanken“.11 Welches 4
www.amazon.de/Methodenlehre-Rechtswissenschaft-Springer-Lehrbuch-Karl-Larenz/dp/3540590862 (abgerufen am 13.6.2016). 5 T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 3. Siehe auch D. Schwab, Juristische Innovationen, Zeitschrift für Geistiges Eigentum 3 (2011), 1 ff. 6 H. Dölle, Juristische Entdeckungen (1958), in: T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 33. 7 J. Bodin, Les six livres de la république, 1576, deutsche Übersetzung der französischen Ausgabe von 1583 von B. Wimmer, in: P. C. Mayer-Tasch (Hg.), Edition der ‚Six livres de la République‘ von Jean Bodin, 1981/86, Bd. 2, 159, 188. Dazu und zur weiteren Entwicklung der Klima-Lehre bis Montesquieu: J.Schröder, Zur Vorgeschichte der Volksgeistlehre, in: ZRG (Germ. Abt.) 109 (1992), 1, 3 ff. 8 C. de Montesquieu, De l’ esprit des loix, 1748, deutsche Übersetzung von E. Forsthoff, 1951, 1. Buch, 3. Kap., I, 15 f., zum Volksgeist („esprit de la nation“) aaO., 19. Buch, 4. Kap., I, 413. Vgl. dazu auch H. Mohnhaupt, Montesquieu und die legislatorische Milieu-Theorie während der Aufklärungszeit in Deutschland, in: G. Lingelbach (Hg.), Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag, 1991, 177 ff. 9 E. Gibbon, Historische Übersicht des Römischen Rechts, 1789, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von G. Hugo, in: O. Behrends (Hg.), 1996, 15. Zum Folgenden auch die Bemerkungen des Herausgebers, 165 ff. 10 F. C. von Savigny, Methodologie 1809, in: A. Mazzacane (Hg.), Vorlesungen über juristische Methodologie, 1993, 151. 11 R. von Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt, Bd. 1, 1855, 4.
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diese „Zustände und Gedanken“ sind, dafür gibt es keine allgemein akzeptierte Formel. Hier wirken sich natürlich auch politische Standpunkte aus, die vielleicht wie die Marx / Engelssche Lehre nur einen einzigen Faktor (in diesem Fall den ökonomischen) akzeptieren. Für lehrreich halte ich die Unterscheidung des französischen Historikers Fernand Braudel (1949) zwischen den Einflüssen der „longue durée“, d. h. den geographischen, und den kürzeren sozialen und ökonomischen, und den noch kürzeren der politischen „Ereignisgeschichte“.12 In der Rechtswissenschaft kann man die Dinge vielleicht dahingehend vereinfachen, dass es sehr dauerhafte äußere Einflüsse gibt, wie die geographischen, und sich schneller verändernde, wie die politischen, ökonomischen, sozialen und mental-kulturellen. Auf einen lange übersehenen Faktor hat soeben Daniel Damler in seinem Buch über „Rechtsästhetik“ hingewiesen,13 nämlich auf die menschliche Neigung, sich Abstrakta durch sinnlich wahrnehmbare Analogien zu verdeutlichen und auch damit ganze Theoriestücke zu formen und zu verformen. Kurzum: Wir müssen davon ausgehen, dass auch die juristische Theoriebildung solchen wandelbaren äußeren Wirkungsmächten unterliegt und deshalb nicht zeitlos sein kann. Damit könnte ich diesen Vortrag eigentlich schon beenden. Aber die wirklich interessante Frage wäre dann noch gar nicht gestellt, nämlich, ob es nicht doch historisch mehr und historisch weniger haltbare Theorien gibt und was sie voneinander unterscheidet. Ich möchte zwei miteinander zusammenhängende Hypothesen untersuchen, die auf den ersten Blick naheliegen:14 1. Die Theorien über das Recht, also die Rechtstheorien im engeren Sinne, sind beständiger als die Theorien im Recht, also als das, was wir „Rechtsdogmatik“ nennen. Denn 2. Die Rechtsdogmatik hat einen schnell veränderlichen, kontingenten Gegenstand, nämlich das Gesetz, die Rechtstheorie (ieS) aber nicht.
Ich halte beide Hypothesen für falsch. Das zu beweisen ist allerdings nicht ganz einfach, denn niemand übersieht komplett die juristische Theoriebildung mehrerer Jahrhunderte. Ich beschränke mich deshalb auf die beiden Bereiche, von denen ich glaube, relativ am meisten zu verstehen, nämlich die Geschichte der juristischen Methodenlehre und der Dogmatik des zivilen Vermögensrechts. Damit das Ganze einigermaßen gleichgewichtig bleibt, gehe ich jeweils nur auf Grundfragen und Grundelemente (und 12 F. Braudel, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in ders.: Annales. Economies-Sociétés-Civilisation, 1958, 725 ff.; dt. Übersetzung von G. Kunz und S. Sommer, in: F. Braudel (Hg.), Schriften zur Geschichte 1, 1992, 49 ff. Die drei Zeitebenen der Geschichte sind zum ersten Mal entwickelt in F. Braudel, La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 1949, Préface, XIII f. 13 D. Damler, Rechtsästhetik. Sinnliche Analogien im juristischen Denken, 2016. 14 S. dazu etwa M. Jestaedt, Perspektiven der Rechtswissenschaftstheorie, in: ders. / O. Lepsius (Hg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008, 185 ff. (197 f.: Kontingenz des „rechtsanwendungsbezogenen dogmatischen Standpunkts“); W. Hassemer, Dogmatik zwischen Wissenschaft und richterlicher Pragmatik, in: G. Kirchhof u. a. (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 3 ff. (8: Abhängigkeit der Dogmatik vom Gesetzgeber, nicht aber der Methodenlehre). Wie Hassemer auch G. Kirchhof / S. Magen, Dogmatik: Rechtliche Notwendigkeit und Grundlage fächerübergreifenden Dialogs – eine systematisierende Übersicht, in: G. Kirchhof u. a. (Hg.), Was weiß Dogmatik?, 2012, 151, 155. – Zu Kirchmanns Kontingenzargument s. weiter unten II 1.
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auf einige zivilrechtliche „Entdeckungen“15) ein. Mein Untersuchungsgegenstand ist das neuzeitliche Deutschland bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, in gelegentlichen Ausblicken darüber hinaus auch die DDR und die Bundesrepublik Deutschland. Schließlich muss ich noch erklären, was ich unter „Theorie“ verstehe. Theorien sind für mich rechtswissenschaftliche Aussagen, die sich nicht schon unmittelbar aus dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht ergeben. Das ist, wie Sie sehen, ein sehr weiter Begriff. „Theorien“ können Begriffe sein oder Regeln, Ordnungsschemata, ganze Rechtsinstitute oder einzelne Elemente daraus, sogar Teildisziplinen der Rechtswissenschaft. Eine differenzierende Untersuchung aller dieser Arten von Theorien ist im ersten Anlauf unmöglich. Ich kann nicht mehr tun, als einige (hoffentlich) aussagekräftige Beispiele zu geben und auf einige Gesichtspunkte hinzuweisen, die mir wichtig erscheinen. I. Zur Beständigkeit von Rechtstheorien im engeren Sinne: Das Beispiel der Methodenlehre Sehen wir zuerst auf die juristische Methodenlehre und zwar zunächst auf ihren ersten und meistbehandelten Teil, die Hermeneutik (1.), dann auf ihren zweiten Teil, die Logik, und hier auf die alte Argumentationstheorie, die Topik der frühen Neuzeit (2.). 1. Die Lehre von der Gesetzesauslegung a) Das Ziel der Gesetzesinterpretation Auf den ersten Blick scheint das Ziel der Gesetzesinterpretation immer dasselbe gewesen zu sein, nämlich die Ermittlung des Gesetzessinnes. Aber als diesen „Sinn“ versteht jede Zeit unter dem Einfluss politischer und mental-kultureller Einflüsse etwas anderes.16 Gerade die Lehre vom Ziel der Gesetzesauslegung ist ein Beispiel für die Instabilität und Zeitbedingtheit einer juristischen Theorie. Man kann die Entwicklung beschreiben als ein ständiges Hin und Her zwischen historischer und aktuell ausgerichteter Interpretation, also zwischen dem Willen des Gesetzgebers und der (wie auch immer verstandenen) jeweiligen Rechtsvernunft. Die Rechtswissenschaft des 16. und frühen 17. Jahrhunderts orientiert sich an der Rechtsvernunft. Der Sinn, die „mens“ des Gesetzes wird mit der „ratio“ gleichgesetzt.17 15 Im Sinne von Hoeren (Fn. 5) und/oder Dölle (Fn. 6). 16 Zusammenfassend bis zum Ende des 19. Jahrhunderts S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, 435 ff. Zu einzelnen Epochen s. die folgenden Nachweise aus J. Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933), 2. Aufl., 2012. 17 Siehe z. B. U. Zasius, Opera omnia, Bd. 1, 1550, zu D. 1, 3, 17, Nr. 18, 191; N. Everardus, Loci argumentorum legales, 1579, loc. 79, Nr. 18/19, 445. Zum Ganzen Schröder (Fn. 16), § 14, II, 1, 62. Zur mittelalterlichen Lehre s. Maximiliane Kriechbaum, Zur juristischen Interpretationslehre im Mittelalter, in: dies. (Hg.), Festschrift für Sten Gagnér zum 3. März 1996, 1996, 73 ff., besonders 82, 85.
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„Ratio“ bedeutet dabei nicht den Zweck oder die Absicht des Gesetzgebers, sondern den vernünftigen und nützlichen Grund des Gesetzes.18 Das entspricht dem zeitgenössischen Rechtsbegriff: Das Recht ist nicht einfach irgendeine Anordnung des Gesetzgebers, sondern nur eine gerechte und gute.19 Der Interpret hat nicht den Willen des Gesetzgebers, sondern die Vernunft und Gerechtigkeit des Gesetzes zu ermitteln. Eine zweite Entwicklungsphase beginnt seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Nun setzt sich eine Willenstheorie durch. Ihr Hintergrund sind offenbar die Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Gewissheit der göttlich-natürlichen Rechtsvernunft war ins Wanken gekommen, Sicherheit verbürgte allein das positive Gesetz. Das Recht gilt jetzt im Anschluss an Thomas Hobbes nur noch als ein Befehl des Gesetzgebers,20 der auch, wie Samuel Pufendorf 1672 schreibt, auf dessen „nackter Willkür“ beruhen kann.21 Die Interpretation soll primär seinen historischen Willen ermitteln,22 dieser muss (so Pufendorf 1672) den Untertanen als „ratio“ genügen.23 Die Rechtsvernunft, das Naturrecht, kommt nur noch ergänzend und hilfsweise in die Gesetzesauslegung hinein. Eine dritte Variante haben wir seit dem späten 19. Jahrhundert bis heute. Der Widerstreit zwischen historischer und aktueller Auslegung wird nicht mehr aufgelöst.24 Zwar gilt das Recht jetzt positivistisch als „allgemeiner Wille“, „erklärter Wille der Rechtsgemeinschaft“ (so Philipp Heck 1914),25 was an sich eine historische Willens-Auslegung nahelegen würde. Sie behauptet sich auch als sog. „subjektive Theorie“ der Gesetzesauslegung. Daneben tritt nun aber bekanntlich eine sog. „objektive Theorie“, begründet 1885/86 von Karl Binding, Josef Kohler und Adolf Wach,26 die nicht auf den Willen des Gesetzgebers, sondern auf die aktuelle Vernunft des Gesetzes abstellt. Im Grunde handelt es sich hier um ein letztes Überbleibsel des alten Naturrechts: die Rechtsvernunft soll wenigstens im Rahmen der Gesetzesauslegung zur Geltung gebracht werden. Eine vierte Variante findet sich in den deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Das aktuell für vernünf18 S. Derrer, Jurisprudentiae liber primus …, 1540, lib. 1, tit. 7, Nr. 19: das Gesetz hat eine „ratio“ wenn es ist „futura iusta, honesta, possibilis, loco et tempore conveniens, utilis, necessaria …“. 19 Z. B. R. Agricola, De inventione dialectica libri tres, 1539, dt. Übers. von L Mundt, 1992, 40 ff. (Recht muß gerecht sein); Theodor (Dietrich) Reinkingk, Tractatus de regimine seculari et ecclesiastico, 1619, 5. Ausg., 1651, lib. 2, class. 2, cap. 5, Rn. 48, 812 (es kommt mehr auf die Gerechtigkeit als auf den Befehl der Macht an). Siehe Schröder (Fn. 16), § 1, 9 f. 20 T. Hobbes, De cive, 1642, Kap. 6, Nr. 9 („de civium futuris actionibus mandata“); S. Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, 1673, lib. 2, cap. 12, § 1 („decreta summi imperantis civilis“). Zum Ganzen Schröder (Fn. 16), § 20, 1., 99 ff. 21 S. Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo (1672), Gesammelte Werke (hg. von F. Böhling), Bd. 4, 1998, lib. 2, cap. 3, § 24, 163 („ex nudo legislatoris arbitrio“). 22 C. Thomasius, Ausübung der Vernunftlehre, 1691, 3. Hauptstück, Nr. 34, 166, „logische“ Auslegung soll „eine Meynung eines Menschen aus anderen Umbständen als aus denen dunckelen Worten erklären“. 23 Pufendorf (Fn. 21), lib. 5, cap. 12, § 10, 531. Siehe Schröder (Fn. 16), § 32, II, 146 ff., und zur (naturrechtlichen) Rationalitätsunterstellung § 32, III, 2, 151 f. 24 S. dazu Schröder (Fn. 16), § 79, 345 ff. 25 P. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, 13 (zum Gesetz); K. Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, 197 („erklärter Gemeinwille“); H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911, unveränderter Ndr 1923, 97 (Staatswille). Weitere Belege bei Schröder (Fn. 16), § 69, 282 f., und zu den Varianten der voluntaristischen Theorie § 70, 283 ff. S. auch schon A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, 219 ff. 26 Binding (Fn. 25), 450 ff.; A. Wach, Handbuch des Deutschen Civilprozeßrechts, 1885, 254 ff.; J. Kohler, Über die Interpretation von Gesetzen, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 13 (1886), 1 ff.
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tig Gehaltene tritt hier ganz in den Vordergrund und wird mit bestimmten politischen Inhalten identifiziert. Im Nationalsozialismus soll das Gesetz im Sinne der völkischen Ordnung, des gesunden Volksempfindens interpretiert werden. Maßgebend ist jetzt also die „nationalsozialistische Weltanschauung“,27 wie es § 1 des Steueranpassungsgesetzes von 1934 formuliert, den man als Ausdruck eines allgemeinen Prinzips betrachtete. Die Willenstheorie hat nur noch wenige Verteidiger. Gänzlich verschwindet sie bei den Juristen in der DDR, die ganz offen zu einer „parteilichen“, sozialistischen Auslegung übergehen. „Auslegung ermittelt den Inhalt des in der Rechtsnorm ausgedrückten Klassenwillens, sowie ihr gesellschaftliches Ziel; sie ist ein parteilicher Vorgang“, heißt es 1980 im offiziellen DDR-Lehrbuch der marxistisch-leninistischen Staats- und Rechtstheorie.28 Dieser Klassenwille ist nicht etwa der historische des Gesetzgebers bzw. der Partei, sondern der aktuelle, er ist nicht „statisch“, sondern „evolutionistisch“ zu ermitteln.29 Alles in allem hat sich also eine von äußeren Veränderungen unabhängige, stabile und gleichbleibende Theorie des Ziels der Gesetzesauslegung nie entwickelt. b) Die Hilfsmittel der Interpretation Ein anderes Bild zeigt sich bei der Lehre von den Kriterien, den Hilfsmitteln der Gesetzesauslegung. Wie Sie wissen, unterscheiden wir heute vier Elemente: das grammatische (Wortsinn), das historische, das systematische und das teleologische. Die modernen Juristen führen diese Hilfsmittel meistens auf Friedrich Carl von Savigny zurück. Viele scheinen außerdem anzunehmen, dass es vor Savigny nichts Entsprechendes gegeben habe. Beides ist jedoch falsch. Die heutigen Hilfsmittel decken sich nicht genau mit Savignys Vorstellungen,30 und dass er sie neu erfunden haben soll, ist ganz unzutreffend. Wortsinn, Kontext und Zweck kannten schon die römischen Juristen.31 Die Geschichte kommt hinzu unter dem Einfluss des empirisch-rationalistischen Rechtsdenkens im Laufe des späten 17. und des 18. Jahrhunderts; besonders einflussreich scheint insofern 27 Dazu B. Mertens, Rechtsetzung im Nationalsozialismus, 2009, 104 f.; J. Schröder, Rechtswissenschaft in Diktaturen. Die juristische Methodenlehre im NS-Staat und in der DDR, 2016, 17 ff. 28 Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg.), Marxistisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie. Lehrbuch, 3. Aufl., 1980, 580. 29 I. Szabó, Die theoretischen Fragen der Auslegung der Rechtsnorm, 1963, 9 f.; T. Schönrath, Die Methoden für die Auslegung der Rechtsnormen der Deutschen Demokratischen Republik, 1957, 112 ff.: Erschließung des gesetzgeberischen Willens nicht nur historisch, sondern vor allem auch aus den gegenwärtigen Staatsaufgaben. 30 F. C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd.1, 1840, 213 f., nennt nur das grammatische, logische, historische und systematische Element. Der Zweck („Grund des Gesetzes“) kommt dann (neben anderen Hilfsmitteln) in dem Abschnitt über „mangelhafte Gesetze“ hinzu, 228. 31 D. 1, 3, 17 (Celsus) stellt „Worte“ und „Sinn und Zweck“ (vis ac potestas) einander gegenüber. Aus D. 1, 3, 24 (Celsus) kann man entnehmen, dass es auch auf den Kontext des einzelnen Gesetzes ankommt. Zum Rückgriff auf Wortsinn, ratio legis und Zusammenhang (Kontext) im 16. und frühen 17. Jahrhundert siehe z. B. H. Donellus, Commentarii de iure civili, Bd. I, 1589, 6. Ausg., hg. von Johann Christoph König, Bd. I, 1801, lib. 1, cap. 15, §§ 5–9, 122–126, zur „ratio“ aaO. cap. 13, § 9, 89. Weitere Belege bei Schröder (Fn. 16), § 14, I, II, 2 a, 59–61, 63 f.; zum Ganzen Vogenauer (Fn. 16), 438 ff.
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Christian Thomasius (1688) gewesen zu sein.32 Eine wirkliche Neuentdeckung Savignys ist nur das systematische Element. Auch das sollte man aber nicht überschätzen, denn eigentlich handelt es sich nur um eine neue Deutung des als Interpretationshilfe immer schon bekannten Kontextes. Die Theorie von den Hilfsmitteln der Auslegung reicht also weit zurück und ist offensichtlich dauerhafter als die Theorie von den Auslegungszielen. Nicht ganz so beständig wie die einzelnen Kriterien Wortsinn, Kontext/System, Geschichte und ratio legis ist der heutige Vierer-Katalog selbst. Er hat sich erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts herausgebildet. Zwar waren die einzelnen Hilfsmittel schon vorher bekannt, aber neben ihnen wurden doch immer noch andere Kriterien wie Billigkeit, Materie, Gewohnheit, Vermeidung von Absurditäten usw. angeführt. Die Reduktion auf eine Vierer-Liste beginnt wohl erst mit Savigny. Allerdings bleiben auch die Lehre von den Hilfsmitteln der Auslegung und das Vierer-Schema nicht unberührt von Änderungen. In unserer gegenwärtigen Methodenlehre spaltet sich wegen des Konflikts zwischen objektiver und subjektiver Theorie der Zweck auf, sodass sich nun eigentlich fünf Elemente ergeben. In der DDR-Literatur lehnte man das Zweckelement ganz ab, weil es in der sozialistischen Rechtsordnung keinen neutralen Pluralismus von Zwecken und Werten geben durfte.33 Die DDR-Juristen erfinden auch ein neues „soziologisch-funktionelles“ Element der Gesetzesinterpretation,34 um den ungeliebten geschichtlichen Gesichtspunkt abzuschwächen. Aber insgesamt scheint die Lehre von den Hilfsmitteln der Auslegung doch resistenter gegen politische und andere Einflüsse zu sein als die Theorie von den Auslegungszielen. 2. Die alte Argumentationstheorie (Topik) Lassen Sie mich noch einen kurzen Blick auf die Logik werfen, den anderen Teil der Methodenlehre. Aus ihr kommt für die Jurisprudenz vor allem die alte Argumentationstheorie in Betracht, die man bis zum 18. Jahrhundert „Topik“ nannte. Da die heutigen Vorstellungen noch immer von dem bestimmt sind, was Theodor Viehweg 1953 als „Topik“ präsentierte, erlauben Sie mir vielleicht eine etwas genauere Erklärung35. Die Topik war schon in der Antike entwickelt worden, zunächst von Aristoteles. Cicero und Boethius hatten sie dann in eine leichter verständliche Form gebracht. Bis zur frühesten 32 C. Thomasius, Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres (1688), 7. Aufl., 1730, lib. 2, cap. 12, Nr. 48–68, 232–25; ders. (Fn. 22), 3. Hauptstück, Nr. 65–81, 181–191, nennt die grammatische Auslegung und für die „logische“ folgende Kriterien: Person des Autors, Gegenstand der Rede, Zusammenhang und andere Äußerungen des Autors, vernünftiges Auslegungsergebnis, Ursachen des Gesetzes; diese wiederum sind zu ermitteln aus Politik, Ökonomie und Geschichte. Zum Ganzen Schröder (Fn. 16), § 31, 144 f., § 32, I, II, 145–149. 33 J. Streit, Erfahrungen einer Justizbrigade im Bezirk Potsdam, Staat und Recht 8 (1959), 979, 981 f., und dazu Schröder, Rechtswiss in Diktaturen (Fn. 27), 84 f. 34 Marxist.-leninist. Staats- und Rechtstheorie (Fn. 28), 580 f. 35 Zum Folgenden: G. Otte, Die historische Topik und ihre Rezeption durch Theodor Viehweg, in: R. Lieberwirth u. a. (Hg.), Akten des 36. Deutsche Rechtshistorikertages, 2008, 427 ff.; Schröder (Fn. 16), §§ 4 ff., 25 ff.; §§ 25 ff., 121 ff.
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Neuzeit galt sie als ein Teil der Logik und zwar derjenige, der nicht, wie die strenge Logik (Apodiktik) sichere, sondern nur wahrscheinliche Aussagen ermöglichte36. Sie geht aus von bestimmten Örtern, loci, topoi, an denen Argumente zu finden sind. Solche Örter sind z. B. das Ähnliche, das Unterschiedliche, der Gegensatz, das Vorausgehende, das Nachfolgende, das Wechselbezügliche, der Vergleich usw. Jedem Topos sind bestimmte Maximen zugeordnet, die sich in einen Schluss einbauen lassen. So gehört zum Ähnlichen (locus a simili) die Maxime: „Ähnliches hat ähnliche Konsequenzen“, zum Gegensätzlichen (locus a contrariis) die Maxime: „Gegensätzliches hat gegensätzliche Konsequenzen“, zum Wechselbezüglichen (locus a correlativis) die Maxime: „mit dem einen Wechselbezüglichen ist auch das andere gesetzt“ usw. Noch im 16. Jahrhundert identifizierte man die Topik mit der wissenschaftlichen Erfindungskunst überhaupt; die Topik enthielt „alles was von einer Sache gesagt werden kann“ (so Rudolf Agricola, 1539)37. Mit dem Beginn des empirisch-rationalistischen Denkens im 17. Jahrhundert geriet die Topik aber in Misskredit. In den Naturwissenschaften stellte man fest, dass sich durch Beobachtung und Erfahrung viel bessere Entdeckungen machen lassen als durch topische Schlüsse, und auch die Philosophen bemerkten nun, dass die Topik nur inhaltslose Formeln bot.38 Denn was z. B. wesentlich ähnlich oder wesentlich unähnlich ist, ergibt sich nicht mehr aus der Topik, sondern nur aus einem genaueren Eindringen in die Sache selbst. So erklärt es sich, dass die Topik im Laufe des 18. Jahrhunderts aus der Logik und dem Instrumentarium der etablierten Wissenschaften verschwindet. Einige ihrer Lehrstücke haben sich aber erhalten, und zwar gerade in der Rechtswissenschaft, die ja nicht, wie die Naturwissenschaften, mit Erfahrung und Beobachtung arbeiten kann. Wir benutzen vor allem noch den „locus a simili“ (Ähnliches), den wir Analogie nennen, und den „locus a contrariis“ (den Gegenschluss). Aber auch andere topische Argumentationsformen, wie das Argument „a minore ad maius“ oder „a maiore ad minus“ sind uns noch geläufig. Hier haben wir also einige der ältesten juristischen Theorien vor uns; sie sind gegen alle äußeren Einflüsse von mehr als zweitausend Jahren immun geblieben. Ich versuche eine kurze Zwischenzusammenfassung: Keineswegs alle methodologischen Theorien sind beständig und zeitunabhängig. Vor allem die Lehre vom Ziel der Gesetzesauslegung unterliegt in der Neuzeit ständigen Schwankungen, die den politischen und kulturellen Veränderungen folgen. Etwas stabiler ist die Lehre von den Hilfsmitteln der Interpretation, denn Wortsinn, Kontext bzw. System, Geschichte und (wenn auch nicht überall) ratio legis sind seit Jahrhunderten feste Elemente der Auslegung. Aber auf ihre Deutung und Gewichtung haben immer wieder auch veränderliche, zeitbedingte
36 Eine sehr klare zeitgenössische Darstellung gibt J. Jungius, Logica Hamburgensis, 2. Ausg., 1681, neu hg. von Rudolf W. Meyer, 1957, lib. 5, 245 ff. 37 Agricola (Fn. 19), lib. 1, cap. 2, 20 f. 38 R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii, in: C. Adam / P. Tannery (Hg.), Oeuvres, Bd. X, 1966, 406 (Topik setzt Kenntnis der entsprechenden Materie voraus); A. Arnauld / P. Nicole, La logique ou L’ Art de penser, 6. Ausg., 1685, 3. Teil, Kap. 17, dt. Ausgabe: Die Logik oder die Kunst des Denkens, übers. und eingel. von Christos Axelos, 2. Aufl., 1994, 224 (durch Topik werden keine Wahrheiten gefunden, sondern nur durch Kenntnis der Natur des Gegenstandes).
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Umstände Einfluss. Am widerstandsfähigsten gegen Zeitströmungen sind einige Topoi der alten Argumentationstheorie, wie die Analogie und das argumentum e contrario. II. Zur Beständigkeit von dogmatischen Theorien: Das Beispiel des zivilen Vermögensrechts 1. Die angebliche Kontingenz der gesetzesabhängigen Dogmatik Sind nun die rechtsdogmatischen Theorien noch weniger zeitlos als die methodologischen? Im Gegensatz zur Methodenlehre, die nur bestimmte Verfahren beschreibt, enthält die Dogmatik Theorien über das geltende Recht selbst. Ihre Zeitlosigkeit scheint besonders prekär zu sein, denn das geltende Recht ist abhängig von der jeweiligen Gesetzeslage. Jeder Jurist kennt den berühmten Ausspruch Julius Hermann von Kirchmanns aus dem Revolutionsjahr 1848: „Indem die Wissenschaft das zufällige zu ihrem Gegenstande macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur“.39 Man kann diesen Satz nicht widerlegen, man kann ihn aber m. E. doch relativieren.40 Zum einen gibt es Dogmatik außerhalb des Gesetzes. Ich spreche dabei noch gar nicht von der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Gewohnheitsrechts und der Rechtsprechung, sondern davon, dass viele Gesetze einen wissenschaftlichen Unterbau haben, den jedenfalls ein verständiger Gesetzgeber der Wissenschaft überlassen wird. So ist eine für das zivile Haftungsrecht und das Strafrecht ganz entscheidende Frage die nach der Kausalität einer Handlung für den Erfolg. Aber weder das BGB noch das StGB äußern sich zu dieser Frage, obwohl sie den jeweiligen Gesetzesverfassern genau bekannt war. Es genügt, dass wir wissenschaftliche Theorien dazu haben, die wie Gesetze angewendet werden. Zweitens gibt es Dogmatik über das einzelne Gesetz hinaus. Um z. B. zu erfahren, was Stellvertretung ist und wie sie wirkt, muss man nicht unbedingt das BGB aufschlagen. Die Dogmatik der Stellvertretung reicht weit über das BGB hinaus, sie entfaltet sich im Nacheinander einer langen Kette sich ablösender Rechtsordnungen in der Neuzeit und im Nebeneinander einer Fülle aktueller Rechte. Man kann natürlich darüber streiten, ob man diese zeit- und raumüber39 J. H. von Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, 23. 40 Die Diskussion über Kirchmanns Thesen beginnt wohl mit F. J. Stahl, Rechtswissenschaft oder Volksbewußtsein?, 1848 (dazu M. Sandström, Gerechtigkeits- oder Billigkeitsentscheidungen? Zur Auseinandersetzung zwischen Friedrich Julius Stahl und Julius von Kirchmann, in: R. Lieberwirth u. a. (Hg.), Akten des 36. Deutsche Rechtshistorikertages, 2008, 439–444; Claes Peterson, Theorie und/oder Praxis, in ders. (Hg.): Rechtswissenschaft als juristische Doktrin, 2011, 213–232) und hält bis heute an. Aus der jüngeren Literatur K. Larenz, Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1966. Zur Literatur nach 2000 s. o. (Fn. 14), und aus dem dort zitierten Sammelband von M. Jestaedt / O. Lepsius auch: C. Möllers, Vorüberlegungen zu einer Wissenschaftstheorie des öffentlichen Rechts, 151 ff., insb. 164–166; M. Jahn, Pluralität der Rechtsdiskurse – Sektoralisierung der Methodenlehre, 175 ff., insb. 178 f. Weiterhin aus dem dort zitierten Sammelband von G. Kirchhof u. a.: Matthias Jestaedt, Wissenschaftliches Recht – Rechtsdogmatik als gemeinsames Kommunikationsformat von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 117 ff., 122 ff. Siehe auch die Auseinandersetzung zwischen C. Engel, JZ (2006), 614, 1118 f., und H. H. Jakobs, JZ (2006), 1115–1118.
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greifende Theorie überhaupt noch Dogmatik nennen darf. Ich würde zwei Fälle unterscheiden. In dem einen bezieht sich die übergreifende Theorie auf Rechtsnormen, die auch aktuell gelten. Dann darf man sicherlich von Dogmatik sprechen. In dem anderen Fall bezieht sie sich auf Rechtsnormen, die gelten könnten. Man denke etwa an die Theorie des Bundesstaates,41 die in Deutschland bis zum Ende des alten Reichs 1806 einen Anwendungsfall hatte, dann aber erst wieder von 1871 an. In der Zwischenzeit war die Bundesstaatstheorie keineswegs erloschen, sie hatte nur ihren Standort verändert und war von der positivrechtlichen Theorie in eine Universaltheorie des Staates abgewandert, die wir heute „allgemeine Staats(rechts)lehre“ nennen.42 Im Zivilrecht und Strafrecht fehlt etwas Entsprechendes, aber es wird im Grunde in jeder dogmengeschichtlichen und rechtsvergleichenden Darstellung rudimentär vorausgesetzt. Ob man auch bei solchen Universaltheorien einzelner Rechtsgebiete von Dogmatik sprechen will, ist Geschmackssache; mindestens aber handelt es sich um dogmatische Hypothesen. Das Kirchmannsche Kontingenzargument braucht uns also nicht zu beunruhigen. Jedenfalls als Universaltheorie kann die Dogmatik einzelne Gesetzgebungen überdauern,43 und sie überdauert sie oft auch als Theorie des positiven, geltenden Rechts. 2. Zeitresistente Theorien im zivilen Vermögensrecht? Damit komme ich zu den vermögensrechtlichen Theorien selbst. Sie können einzelne Rechtsfiguren betreffen, aber auch das übergreifende System. Ich beginne mit diesem. a) Das System Für die Gesamtordnung des Zivilrechts ist beinahe jahrtausendelang das „Institutionensystem“: personae – res – actiones, also Personen, Sachen, Handlungen (eigentlich aber Klagen) bestimmend gewesen. Der römische Jurist Gaius hat es im 2. Jahrhundert n. Chr. entwickelt, und Justinians Corpus-iuris-Redaktoren haben es 533 mit Veränderungen übernommen. Es ist von überzeugender Einfachheit: Rechtssubjekte, Rechtsobjekte und die sich zwischen ihnen entwickelnden Rechtsbeziehungen sind die drei großen Kapitel 41 Zur Entdeckung des Bundesstaatsbegriffs im Alten Reich durch Ludolf Hugo und Johann Stephan Pütter: S. Brie, Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, 1874, 16 ff., zu ihrer weiteren Entwicklung in der Zeit des Deutschen Bundes und danach aaO. 41 ff. 42 So geht etwa Brackenhöft in seinem Artikel „Gemeinde“ in: J. Weiske (Hg.) Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten, Bd. 4, 1843, 486, ganz selbstverständlich von der Unterscheidung „Staatenbund-Bundesstaat“ aus, obwohl es für den letzten damals kein aktuelles Beispiel in Deutschland gab. Bei G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1905, 719 ff., 749 ff. erscheint der Bundesstaat dann in der Lehre von den „Staatenverbindungen“. 43 In diesem Sinne J. C. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft. Rechtliche Theorien und Modelle, 2006, 218, 20, 59, der annimmt, dass Dogmatik überhaupt nur hypothetische Aussagen machen kann. Vgl. auch M. Jestaedt, Wiss. Recht (Fn. 40), 125 f.: Verwissenschaftlichung der Dogmatik durch „abstrahierende Dekontextualisierung“.
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des Zivilrechts. Das Institutionensystem hatte geradezu weltweiten Erfolg, es liegt noch dem französischen code civil von 1804 zugrunde, und man findet es auch über das kontinentale Zivilrecht hinaus im Staatsrecht der frühen Neuzeit44 und im englischen Recht.45 Man könnte meinen, dass eine so einleuchtende Theoriebildung allen Zeiteinflüssen widersteht, und cum grano salis ist das auch der Fall gewesen. Das Institutionensystem wird zwar schon im deutschen Naturrecht der Aufklärung modifiziert, das von den einzelnen Personen zu den kleineren und größeren Gemeinschaften aufsteigt. Dadurch löst sich das Familienrecht, da es das Recht kleinerer Gemeinschaften (Eheleute, Eltern-Kinder) betrifft, aus dem Personenrecht heraus und rückt in den hinteren Teil des Systems. Auch das Erbrecht verselbständigt sich, und so entsteht unter Hinzufügung eines „Allgemeinen Teils“ das dem BGB zugrunde liegende „Pandektensystem“.46 Aber die Unverwüstlichkeit des Institutionensystems zeigt sich darin, dass es auch im BGB den Aufbau des Allgemeinen Teils bestimmt und (unter Vertauschung von Sachen- und Schuldrecht) die Materie der ersten drei Bücher des BGB. Und selbst die ideologisch geformten Systementwürfe des Nationalsozialismus47 und der DDR konnten die Unterscheidung zwischen Personen-, Sachen- und Schuldrecht nicht völlig verdrängen. Im Zivilgesetzbuch der DDR von 1975 lag sie sogar erneut den ersten drei Teilen zu Grunde.48 Das Institutionensystem ist also wieder eine sehr alte, im Laufe der Zeit zwar abgeschwächte, aber auch heute noch in vielen Ordnungsentwürfen durchscheinende Theorie. b) Einzelne, dauerhaftere vermögensrechtliche Theorien Auch unter den einzelnen Rechtsfiguren des Vermögensrechts gibt es relativ dauerhafte. Ich meine, man darf auch hier von Theorien sprechen, d. h. von Begriffen und Rechtssätzen, die entweder von bestimmten einzelnen Juristen oder von Juristengruppen (außerhalb des Gesetzes) entwickelt worden sind. Das Hauptverdienst kommt dabei dem Naturrecht der frühen Neuzeit und der römisch-gemeinrechtlichen Lehre des Usus modernus bzw. der Pandektistik des 19. Jahrhunderts zu. Die vielleicht wichtigste Figur ist die des Vertrages. Das römische Recht, das sich als ius commune bis in das 19. Jahrhundert hinein behauptete, hatte bekanntlich keinen allgemeinen Vertragsbegriff. Es 44 Nachweise bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, 217 Anm. 527 (Bornitz), 242 (Schilter), 246 (Rhetius). 45 Es liegt z. B. Henry de Bractons De legibus et consuetudinibus Angliae aus dem 13. Jh. zu Grunde und William Blackstones Commentaries on the Laws of England, 1765–1769. 46 S. dazu A. Bertalan Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, ZRG (Rom. Abt.) 42 (1921), 578 ff.; L. Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, 1984, 131 ff. 47 Im vorläufigen „System des Volkgesetzbuchs“, Werner Schubert (Hg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, Akademie für Deutsches Recht 1933–1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III/1, 1988, 39 ff., sind die Teile des Institutionensystems allerdings weit auseinandergezogen und erscheinen im ersten, vierten und fünften Buch. 48 1. Teil: Grundsätze des sozialistischen Zivilrechts, (darin die Rechtsstellung des Bürgers und der „Betriebe“), 2. Teil: Das sozialistische und das persönliche Eigentum, 3. Teil: Verträge zur Gestaltung des materiellen und kulturellen Lebens.
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sah nur eine Reihe verschiedener, mehr oder weniger förmlicher, Vereinbarungen für bestimmte Geschäfte vor. Der allgemeine Begriff des formlosen, allein durch den Konsens der Vertragspartner verpflichtenden Vertrages setzt sich, nach Vorarbeit des kanonischen Rechts, erst in der Naturrechtslehre der frühen Neuzeit durch.49 Das deutsche Wort „Vertrag“ scheint Christian Wolff in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingeführt zu haben.50 Seit der frühen Neuzeit gilt also die (wenn auch nicht ausnahmslose) Regel, dass die Rechtssubjekte Rechte und Pflichten aller Art durch formlose Verträge schaffen können. Daran haben auch die deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts nichts geändert, mögen auch ihre Vorstellungen über die Funktion der Verträge sich untereinander und von der „bürgerlichen“ Theorie erheblich unterscheiden. – Ähnliches gilt von der Stellvertretung. Wie Sie wissen, hatte das römische Recht weder einen zusammenfassenden Begriff für die verschiedenen Arten der gesetzlichen Stellvertretung, noch akzeptierte es die gewillkürte Stellvertretung: „alteri stipulari nemo potest“, niemand kann für einen Dritten ein Recht begründen. Die Leistung der dogmatischen Theorie liegt hier einmal darin, dass sie den Oberbegriff der „Stellvertretung“ entdeckt. Noch im 16. Jahrhundert hatte man die gesetzliche Vertretung von Minderjährigen und von juristischen Personen nicht auf eine Formel gebracht. Das topische Denken der Zeit spürte zwar die Ähnlichkeit dieser Phänomene und ließ eine Argumentation „a simili“, z. B. „a pupillo ad rem publicam“, vom Mündel zum Staat zu (beide müssen irgendwie vertreten werden).51 Aber den systematisch verbindenden Begriff findet die Dogmatik erst im 19. Jahrhundert.52 Praktisch noch wichtiger war die Zulassung der rechtsgeschäftlichen Vertretung durch Vollmacht. Im Kampf gegen das römische Recht setzt sie sich im Naturrecht und in den Aufklärungskodifikationen durch, wird im 19. Jahrhundert von der historischen Schule noch einmal verworfen, ist dann aber nach 1850 nicht mehr aufzuhalten.53 Auch diese Theorien haben die deutschen Diktaturen überdauert.54 Das gilt auch für die Entdeckung Paul Labands (Rudolf von Jhering hat sie vorbereitet), die man unter das Stichwort „Abstraktheit der Vollmacht“ bringt,55 und die, nach Aussage 49 Zur Entwicklung H. Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. I, 1985, 399 ff.; K.-P. Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, 1985; R. Zimmermann, The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition (1990), Paperback-Ausgabe, 1996, 537 ff.; H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts. Historisch-dogmatische Einführung, 2. Aufl., 2000, 67 ff.; S. Hofer, in: M. Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. I, 2003, Vor § 145, Rn. 20–26. 50 C. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, 1754, § 438, 269 (nach R. Zimmermann (Fn. 49), 568). 51 Everardus a Middelburg (Fn. 17), 384. 52 Schmoeckel (Fn. 49), Bd. I, 2003, §§ 164–161, Rn. 2 ff. 53 Dazu U. Müller, Die Entwicklung der direkten Stellvertretung und des Vertrages zugunsten Dritter, 1969, 111 ff.; Coing (Fn. 49), 423 ff., 429 f.; Zimmermann (Fn. 49), 54 ff. 54 Das nationalsozialistische Volksgesetzbuch sollte die Stellvertretung im 4. Teil (Vertrags- und Haftungsordnung) behandeln, s. Schubert (Fn. 47), 40, 209. Das ZGB der DDR unterscheidet in § 53 Abs. 3 zwischen gesetzlicher und rechtsgeschäftlicher Vertretung. 55 P. Laband, Die Stellvertretung bei dem Abschluß von Rechtsgeschäften nach dem Allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch, ZHR 10 (1866), 183 ff. Dazu Dölle (Fn. 6), 8 ff.; D. Diemert, Paul Laband und die Abstraktheit der Vollmacht vom Kausalgeschäft oder „Der Meister des Staatsrechts auf Abwegen“, in: T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 151–187. Im Plan des ns. Volksgesetzbuchs findet sich nichts Genaueres, das ZGB der DDR unterscheidet wie Laband zwischen der Vertretung und dem „Rechtsverhältnis, das der Vertretung zugrunde liegt“ (§ 56 Abs. 1), s. auch J. Göhring / M. Posch, Zivilrecht. Lehrbuch, Teil 1, 1981, 198.
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von Zweigert/Kötz „allen modernen Zivilgesetzbüchern zugrunde“ liegt.56 – In Überwindung des römischen Rechts haben sich auch der Vertrag zugunsten Dritter57 und die Abtretung von Forderungen58entwickelt, dogmatische Durchbrüche, die vor allem dem Naturrecht, namentlich Hugo Grotius, und in Deutschland letztlich Bernhard Windscheid und Otto Bähr zu verdanken sind.59 – Ich nenne noch die Schuldübernahme, die erst von der Pandektistik aus dem römischrechtlichen Kontext von Novation und Delegation herausgelöst wird,60 und Jherings culpa in contrahendo,61 eine der (nur in Deutschland?) erfolgreichsten Entdeckungen des 19. Jahrhunderts.62 All dies hatte auch nach 1933 Bestand, so dass die genannten Theorien zu den stabileren gehören, die mehrere Wandlungen des Rechtsbegriffs überstanden haben. Das gilt übrigens auch für einige der Vorgänger-Theorien. Es handelt sich also offenbar um Sachbereiche, die relativ immun gegen äußere Veränderungen sind. Sie können, wie das „alteri stipulari nemo potest“, auch mehr als tausend Jahre überstehen und nähern sich schon beinahe der Braudelschen „longue durée“.63
56 K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., 1996, 431. 57 Dazu Müller (Fn. 53); Coing (Fn. 49), 425 ff.; Zimmermann (Fn. 49), 41–45 (43 zur Bedeutung von Hugo Grotius in diesem Zusammenhang); St. Chr. Saar, Vertrag zugunsten Dritter, in: A. Erler u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, 1998, Sp. 852–855; S. Vogenauer in: M. Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II/2, 2007, §§ 328–335, Rn. 34–56. Auch im ns. Volksgesetzbuch war der Vertrag zu Gunsten Dritter vorgesehen (Schubert (Fn. 47), 41), das ZGB der DDR regelte ihn in § 441. 58 Dazu K. Luig, Zur Geschichte der Zessionslehre, 1966; B. Huwiler, Der Begriff der Zession in der Gesetzgebung seit dem Vernunftrecht, 1975; Coing (Fn. 49), 445–448; Zimmermann (Fn. 49), 62–67 (64 f. zu Windscheid und Bähr); Hattenhauer in: M. Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II/2, 2007, §§ 398–413, Rn. 14–37; T. Olechowski, Abtretung der Forderung, in: A. Cordes u. a. (Hg.), Handwörterbuch zu deutschen Rechtsgeschichte, Bd. I, 2. Aufl., 2008, Sp. 52 f. Auch das ns. Volksgesetzbuch sollte die Übertragung der Forderung vorsehen (Schubert (Fn. 47), 41), das ZGB der DDR regelte sie in §§ 436–438. 59 S. zu ihnen die beiden vorigen Fußnoten. 60 Noch G. F. Puchta, Pandekten, 5. Aufl., besorgt von A. Rudorff, 1850, § 280, 404 f., lehnt eine „Übertragung von Obligationen“ wegen des „Bandes“ zwischen Gläubiger und Schuldner ab; s. zur frühneuzeitlichen Lehre auch Coing (Fn. 49), 449. Der Gedanke der Schuld-„Übernahme“ setzt sich dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, s. W. Ogris, Schuldübernahme, in: A. Erler u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, 1998, Sp. 1518 f.; R. Meyer-Pritzl, in: M. Schmoeckel u. a. (Hg.), Historisch-kritischer Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. II/2, 2007, §§ 414–418, Rn. 3–11. Nachweise zur zeitgenössischen Literatur bei L. Arndts, Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl., 1868, § 254, 416, 418; den Durchbruch stellt wohl die Abhandlung von B. Delbrück, Die Übernahme fremder Schulden nach gemeinem und preußischem Recht, 1853, dar. Auch das ns. Volksgesetzbuch sollte die Schuldübernahme enthalten (Schubert (Fn. 47), 41), das ZGB der DDR regelte sie in § 440. 61 R. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zu Perfektion gelangten Verträgen, Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 4 (1861), 1 ff. Dazu Dölle (Fn. 6), 13–17; K. Kindereit, Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf – Rudolf von Jhering und die „culpa in contrahendo“, in: T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 107–147. Das BGB regelt das Rechtsinstitut seit 2002 in § 311 Abs. 2 und 3 (noch abgesehen von den älteren Spezialfällen § 122 und § 179), auch im ns. Volkgsgesetzbuch sollte es enthalten sein (Schubert (Fn. 47), 138, 271), das ZGB der DDR normierte es in § 92 Abs. 2. 62 Zweiger/Kötz (Fn. 56), 71, sehen die culpa in contrahendo als „stilprägend“ für den deutschen, nicht aber für den romanischen Rechtskreis und schon gar nicht für das common law an. 63 S. o. zu Fn. 12.
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c) Andere, weniger dauerhafte vermögensrechtliche Theorien Anfälliger gegen politische und andere äußere Einflüsse scheinen dagegen weltanschaulich bedingte Theorien zu sein. Zu ihnen gehört ein anderes Grundelement unserer Privatrechtsordnung, nämlich die Rechtsfähigkeit jedes Menschen. Diese allgemeine, nicht mehr ständisch abgestufte Rechtsfähigkeit hatte sich im frühen 19. Jahrhundert unter dem Einfluss des späten Naturrechts durchgesetzt.64 Für die Rechtsentwicklung im deutschen Sprachraum war vor allem Franz von Zeiller bahnbrechend,65 der in das österreichische ABGB von 1811 (§ 16) den Satz hineinbrachte, dass „jeder Mensch … als eine Person zu betrachten“, also Rechtssubjekt ist. Entsprechendes fand sich schon, wenn auch mit einer kleinen Einschränkung, im code civil (Art. 8) von 1804. 1840 formuliert Friedrich Carl von Savigny: „Jeder einzelne Mensch, und nur der einzelne Mensch, ist rechtsfähig“66, und das BGB setzt die allgemeine Rechtsfähigkeit bereits als selbstverständlich voraus, indem es in § 1 nur noch ihren Beginn regelt („Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit Vollendung der Geburt“). Für die deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts war dieses menschen- und naturrechtlich begründete Prinzip aber nicht mehr maßgebend. Der nationalsozialistische Entwurf eines Volksgesetzbuchs von 1942 erkannte die Rechtsfähigkeit nur noch dem „Volksgenossen“ zu (§§ 1–4). Zwar verstand man unter „Volksgenossen“ jeden Staatsbürger.67 Aber die nationalsozialistische Rassenideologie schlug in Art. 24 der „Grundregeln“ durch, wonach „für Reichsangehörige artfremden Blutes … die Bestimmungen nicht (sc. gelten), die nach ihrem Zweck nur für Reichsangehörige deutschen Blutes bestimmt sind“. Auch das Zivilgesetzbuch der DDR begründet die Rechtsfähigkeit nicht menschenrechtlich, sondern positivistisch-staatsrechtlich.68 Rechtssubjekt ist der „Bürger“ (§ 3 ff.), dessen Rechtsstellung „durch die sozialistischen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt“ (§ 6) wird. Gemeint ist also der Bürger der sozialistischen DDR, ausländische Bürger werden erst durch ein besonderes Gesetz gleichgestellt.69 Die deutschen Diktaturen unterbrechen damit die naturrechtliche Traditionslinie, die erst seit 1990 in ganz Deutschland wieder weiterläuft. Nun mag es nicht sonderlich überraschen, dass ein wertungsabhängiges Prinzip wie die allgemeine Rechtsfähigkeit stärkeren Schwankungen unterliegt als wertneutralere 64 Zur Entwicklung H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft in der Privatrechtsordnung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, 1956; Hattenhauer (Fn. 49), 1 ff.; J. Schröder, Rechtsfähigkeit, in: A. Cordes u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, Sp. 288–293. 65 F. von Zeiller, Das natürliche Privatrecht, 1802, § 41, 50 („Jedes sinnlichvernünftige Wesen, weil es als Selbstzweck, als ein Subject von Rechten und Pflichten betrachtet werden muß, ist eine Person“). 66 F. C. v. Savigny, System (Fn. 30), Bd. II, 1840, 2. 67 Erläuterung der „Grundregeln“ des Volksgesetzbuchs durch J. W. Hedemann, in: Werner Schubert (Hg.), Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, Akademie für Deutsches Recht 1933–1945, Protokolle der Ausschüsse, Bd. III/1, 1988, 549 f., sind die Teile des Institutionensystems allerdings weit auseinandergezogen und erscheinen im ersten, vierten und fünften Buch. 68 So aus der westdeutschen Literatur auch K. Westen / J. Schleider, Zivilrecht im Systemvergleich, 1984, 192 („zweifelhaft“, ob „Rechtssubjekte alle natürlichen Personen im Sinne von Menschen sind“), 198 („positivistisch geprägte Position“). 69 Göhring/Posch (Fn. 55), I, 90 f., II, 302 f. (Gleichstellung der Bürger anderer Staaten und Staatenloser).
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Theorien wie der formlose Vertrag, die Stellvertretung und der Gläubiger- und Schuldnerwechsel. Aber auch solche Theorien sind nicht immer resistent gegen äußere Einflüsse. Das zeigt das Schicksal zweier durchaus „neutral“ wirkender zivilrechtlicher sog. „Entdeckungen“, ich meine die „positive Vertragsverletzung“ und den abstrakten dinglichen Vertrag. Die positive Vertragsverletzung ist 1904 durch Hermann Staub in unsere Schuldrechtsdogmatik gekommen.70 Sie schloß eine Lücke zwischen den beiden im BGB allein geregelten Leistungsstörungen Unmöglichkeit und Verzug. Das Schuldrechtsmodernisierungsgesetz 2002, auf europäischen Vorgaben beruhend, knüpfte dann aber die Haftung für Leistungsstörungen nicht mehr primär an Unmöglichkeit und Verzug, sondern an die Pflichtverletzung. Damit wurde eine besondere Haftung für positive Vertragsverletzung entbehrlich. Der Fall ist ein interessantes Beispiel dafür, dass politische Maßnahmen (hier der EU) auch ideologisch unbeeinflußt sein können. Auch eine wertneutrale und juristisch einwandfreie Theorie kann u. U. den kürzeren ziehen, wenn ein anderes, rechtsvergleichend verbreiteteres System71 durchgesetzt werden soll. Ich komme zu meinem letzten Beispiel, dem abstrakten dinglichen Vertrag. Er ist bekanntlich eine Entdeckung Savignys.72 Vor Savigny galt die alte titulus-modus-Theorie: Die Übereignung bedurfte eines Modus, der Übergabe, und eines Titels, zB eines Kaufvertrages. War der Kaufvertrag unwirksam, dann war es auch die Übereignung. Savigny macht nun aus der Übergabe einen selbständigen dinglichen Vertrag, der von dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis, etwa dem Kauf, ganz unabhängig, also abstrakt ist.73 Savignys Lehre wurde von Ernst Zitelmann (1888) gefeiert als „eine der größten und folgenschwersten Taten des juristischen Geistes, eine Tat, ohne welche, man darf kühn sagen, die gesamte Entwicklung unseres modernen Vermögensverkehrsrechts unmöglich wäre“.74 Sie konnte sich aber in den deutschen Diktaturen nicht behaupten. Die Nationalsozialisten wollten sie abschaffen,75 das Zivilgesetzbuch der DDR hat sie als „anachronistische und überspitzte Trennung des Eigentumsrechts von den vertraglichen Zivilrechtsverhältnissen“76 tatsächlich beseitigt. Die Gründe liegen 70 H. Staub, Die positiven Vertragsverletzungen und ihre Rechtsfolgen, in: Festschrift für den 26. Deutschen Juristentag, 1902, Separatausgabe 1904. Dazu Dölle (Fn. 6), 24 f. (offenlassend, ob es sich um eine „zivilrechtliche Entdeckung“ handelt); Günter Elschner, Hermann Staub und die Lehre von den positiven Vertragsverletzungen, in: T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 191–241; Thomas Henne (Hg.), Anwalt – Kommentator – „Entdecker“. Festschrift für Hermann Staub zum 150. Geburtstag am 21. März 2006, 2006; Hans Peter Glöckner, Positive Vertragsverletzung. Die Geburt eines Rechtsinstituts, 2006. 71 Zur Sonderstellung des früheren deutschen Systems im Vergleich mit den romanischen Rechtsordnungen und dem common law: Zweigert/Kötz (Fn. 56), 484 ff. 72 Zur Entwicklung: F. Ranieri, Die Lehre der abstrakten Übereignung in der deutschen Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: H. Coing (Hg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. 2, 1977, 90–111; W. Ogris, Übereignung, in: A. Erler u. a. (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. V, 1998, Sp. 399–404; Hattenhauer (Fn. 49), 54–57; U. Prange, Friedrich Carl von Savigny und das Abstraktionsprinzip, in: T. Hoeren (Hg.), Zivilrechtliche Entdecker, 2001, 73–104. 73 F. C. v. Savigny, System (Fn. 30), Bd. III, 1840, 312 f. 74 Zitiert nach Prange (Fn. 72), 95. 75 Nachweise bei W. Schubert u. a. (Hg.), Akademie für Deutsches Recht 1933–1945, Band III/6, 1994, Einleitung des Hg. XII–XIX. Nach Schubert (XII) gehörte „Die Abschaffung des Abstraktionsgrundsatzes … zu den wichtigsten Forderungen der nationalsozialistischen Rechtslehre“. 76 So Göhring/Posch (Fn. 55), I, 157.
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aber nicht ohne weiteres auf der Hand. Oft wird gesagt, das Abstraktionsprinzip erleichtere den Güterumsatz in der Industriegesellschaft.77 Dann müsste es die Absicht der NS- und DDR-Juristen gewesen sein, den freien Güterumsatz zu erschweren, was mir zweifelhaft erscheint. Darüber hinaus ist die ökonomische Erklärung überhaupt wenig überzeugend. Man versteht nicht recht, warum der Güteraustausch auch in den vielen kapitalistischen Staaten außerhalb Deutschlands funktioniert hat, die das Abstraktionsprinzip nicht kennen. Mir scheint der banalste, aber einleuchtendste Grund für die verbreitete Ablehnung des Abstraktionsprinzips darin zu liegen, dass es zu künstlich ist. Es widerspricht eben der sinnlichen Anschauung, dass jemand, der am Kiosk eine Tageszeitung erwirbt, damit nicht einen, sondern drei Verträge schließt. Letztlich liegt der Ablehnung also vielleicht kein politisches oder ökonomisches, sondern nur ein ästhetisches Argument zugrunde. Das Abstraktionsprinzip deckt sich – wie Heinrich Lange es 1935 ausdrückte – nicht mit „den Bedürfnissen und den Anschauungen des Volkslebens“,78 und es vertrug sich nicht mit dem Wunsch der Diktaturen nach einem „volkstümlichen“ Recht. Immerhin behauptet sich das Abstraktionsprinzip in der alten und jetzt auch in der neuen Bundesrepublik. Ob es aber auch eine europäische Rechtsvereinheitlichung im Sachenrecht (wenn es jemals dazu kommen sollte) überstehen würde, darf man bezweifeln. Wieder eine kurze Zwischenzusammenfassung: Auch unter den dogmatischen Theorien gibt es beständige und weniger beständige. Besonders empfindlich gegen politische Veränderungen sind wertabhängige Theorien wie die allgemeine Rechtsfähigkeit. Aber auch wertneutralere können aus politischen (Rechtsvereinheitlichung: positive Vertragsverletzung) oder vielleicht sogar ästhetischen Gründen (abstrakter dinglicher Vertrag) anfällig sein. Als besonders dauerhafte zivilrechtliche Theorien haben sich dagegen das antike Institutionensystem und einige neuzeitliche Grundbegriffe und Regeln des zivilen Vermögensrechts erwiesen. III. Abschließende Überlegungen Gibt es zeitlose Theorien in der Rechtswissenschaft? Ich habe am Beispiel der juristischen Methodenlehre und der Dogmatik des zivilen Vermögensrechts zu zeigen versucht, dass jedenfalls einige Theoriebildungen viele Jahrhunderte überdauert und sich unempfindlich gegen politische, kulturelle und sonstige äußere Einflüsse erwiesen haben. Damit komme ich zu meiner Ausgangsfrage zurück: Was zeichnet diese beständigeren Theorien aus? Gehören sie einem bestimmten Teilgebiet der Rechtswissenschaft an (1.) oder wie unterscheiden sie sich sonst von anderen, eher ephemeren Theoriebildungen (2.)? 77 So Hattenhauer (Fn. 49), 56 f. Ökonomische und „rechtspolitische“ Begründung auch bei Ranieri (Fn. 72), 103; Prange (Fn. 72), 93 f. 78 H. Lange (1935), zitiert nach Schubert (Fn. 75), XIII. Vgl. aaO. auch die Äußerungen von Hermann Krause (XIII, verlangt „Übereinstimmung mit den Lebensvorgängen“) und Hans Brandt (XV, es müßten „die Lebensverhältnisse als soziale Sinngebilde wieder stärker hervortreten“).
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1. Welches Teilgebiet der Rechtswissenschaft hat die zeitloseren Theorien? Am Anfang dieses Vortrags habe ich die Hypothese versucht, dass sich die dauerhafteren Theorien nicht in der Dogmatik, sondern in der Rechtstheorie im engeren Sinne finden. Ich meine, diese Hypothese hat sich als falsch herausgestellt. Es gibt in der Dogmatik sehr haltbare Theorien wie die Grundbegriffe unseres Rechtsgeschäfts- und Schuldrechts, und es gibt außerhalb der Dogmatik sehr unbeständige Theorien, wie die mit den politischen und mental-kulturellen Veränderungen ständig schwankenden Vorstellungen über das Ziel der Gesetzesauslegung. Ich möchte sogar annehmen, dass die Dogmatik insgesamt viel mehr (relativ) zeitlose Theorien aufzuweisen hat als die außerdogmatische Rechtswissenschaft, also die Rechtstheorie im engeren Sinne. Das wäre ja auch nicht verwunderlich. Das Hauptgeschäft des Juristen ist zu allen Zeiten die Arbeit am geltenden Recht gewesen, und wenn es überhaupt überzeitlich bedeutende Leistungen in der Jurisprudenz gibt (was ich meine), dann müssen sie sich vor allem hier finden. 2. Was macht eine juristische Theorie (relativ) zeitlos? Schwieriger zu beantworten ist die zweite Frage, welche Art von Theorien besonders zeitunabhängig, d. h. resistent gegen äußere Einflüsse ist. Ich möchte zwei Gruppen unterscheiden. (1) Zur ersten Gruppe gehören die logischen Hilfsmittel, das formale Handwerkszeug des Juristen, wozu ich auch die Argumentationsformen der alten Topik, wie die Analogie und das argumentum e contrario rechne. Allerdings ist selbst die Logik nicht völlig immun gegen politische und andere Einflüsse. So herrschte in der Sowjetunion jahrzehntelang die Vorstellung, die formale – im Gegensatz zur spekulativ-dialektischen – Logik sei ein („Überbau“-) Instrument der Ausbeutergesellschaft und auf der „Basis“ der klassenlosen Gesellschaft nicht mehr annehmbar. Noch 1948 ließ ein Hochschulminister sie verbieten und durch eine „sowjetische Logik“ ersetzen.79 Das blieb allerdings nur eine Episode, nach 1950 kehrte man auch in den sozialistischen Staaten zur formalen Logik zurück. Sie scheint also doch unentbehrlich zu sein. (2) Die andere Gruppe bilden elementare Denkformen des Rechts ohne nennenswerten materiellen, wertungsabhängigen Gehalt, wie etwa die genannten Grundbegriffe und -regeln des Vertrags- und Schuldrechts (formloser Konsensvertrag, Stellvertretung, Zession, Schuldübernahme u. a.), aber auch die Hilfsmittel der Gesetzesauslegung und vor allem das Institutionensystem. Ich bin mir darüber klar, dass „elementare Denkformen“ nur eine sehr verschwommene Bezeichnung ist, aber eine präzisere Charakterisierung fällt schwer. Man könnte an den von Savigny eingeführten Ausdruck „technische“ Regeln denken. Savigny stellt sie den „politischen“ gegenüber, 79 Nachweise in J. Kuczynski / W. Steinitz (Hg.), Über formale Logik und Dialektik. Diskussionsbeiträge (= Beiheft zur „Sowjetwissenschaft“ 29), 2. Aufl., 1954, 234, auch 29, 47. Vgl. auch Schröder, Rechtswiss in Diktaturen (Fn. 27), 105.
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Friedrich Julius Stahl den „leitenden Grundsätzen“.80 Dieser Begriff scheint mir aber viel zu weit zu sein. Zu den „technischen Regeln“ müsste man z. B. auch die „positive Vertragsverletzung“ rechnen, die von ganz bestimmten positivrechlichen Bildungen abhängig war. Zu ihnen würde auch der ganze Kleinkram sogenannter „Theorien“81 gehören, die unsere Studenten in Büchern wie „20 Probleme aus dem Eigentümer-Besitzer-Verhältnis“ für das Examen lernen (dieses Buch ist 2015 in neunter Auflage erschienen; man wird geradezu neidisch!). Bei dem, was ich mit „elementare Denkformen“ meine, handelt es sich nicht um solche Minitheorien, sondern um allgemeinere Begriffe und Sätze, die nicht durch spezielle Eigentümlichkeiten einer Rechtsordnung vorbestimmt sind. Allerdings, wie wir am Beispiel des Abstraktionsprinzips gesehen haben, auch solche Theorien können sich auf unvorhersehbare Weise ändern und niemand kann ihre Dauerhaftigkeit garantieren. Damit möchte ich diesen Versuch über Zeitlosigkeit in der Rechtswissenschaft abschließen. Ich weiß, wie vorläufig und unvollkommen er ist. Aber es lässt sich aus ihm vielleicht doch eines lernen: Die haltbaren Theorien im Recht sind weder die großen naturrechtlichen Ideen (wie die allgemeine Rechtsfähigkeit), noch auch die technisch besonders perfekten Bildungen (wie das Abstraktionsprinzip), sondern bestimmte einfache formale Grundstrukturen. Wir sollten deshalb die formalen Elemente in der Jurisprudenz nicht verachten. Gerade sie sind es offenbar, die unsere Disziplin über die wechselnden Zeiteinflüsse hinaus zusammenhalten. Professor Dr. Dr. h.c. Jan Schröder Bohnenbergerstraße 20, 72076 Tübingen, [email protected]
80 F. C. von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 12; Stahl (Fn. 40), 25. Zu Savignys Unterscheidung vor allem Horst Heinrich Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, 1983, 41 f. und passim. Nach Jakobs entziehen sich die „technischen“, unpolitischen Sätze dem Einfluß des Gesetzgebers, auf sie soll also offenbar das Kirchmannsche Kontingenzargument nicht anwendbar sein (Beispiele in JZ (2006), 1117). 81 Dazu J. Rückert, ‚Große‘ Erzählungen, Theorien und Fesseln in der Rechtsgeschichte, in: T. J. Chiusi / T. Gergen / H. Jung (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, 2008, 963–986 (964 f.).
Ernstes Spiel: Theoretische und akademische Befassung mit Recht* Helge Dedek, Montreal
I. Ernstes Spiel und gelehrte Muße „Theoretische“ Reflektion, so Pierre Bourdieu,1 sei als Modus des Denkens dadurch gekennzeichnet, dass konkrete, partikulare, „praktische“ Zwänge „eingeklammert“ und so selbst Gedankenexperimente ermöglicht würden, die der Logik der Praxis zu widersprechen scheinen. Dies setze eine Konstellation voraus, in der der reflektierende Beobachter über die notwendige Muße zu einem von einer unmittelbaren instrumentellen Zweckbindung befreiten Denken verfüge. Diese gelehrte Muße sei, in ihrer institutionalisierten Form, die Schule, die Akademie, die Universität: ein Freiraum, der vor allem auch von ökonomischen Zwängen enthebe und so das abstrakte Gedankenspiel, ein „ernstes Spiel“ ermögliche – und damit zur Bedingung der Möglichkeit von Theorie im ursprünglichen Wortsinne der „reinen Anschauung“ avanciere. Für Bourdieu ist daher die theoretische Perspektive synonym mit der akademischen und diese wiederum mit dem von ihm so genannten scholastic point of view: „the scholastic point of view is inseparable from the scholastic situation.“2 Indes geraten der auf diese Weise institutionell abgesicherten Theorie im Sinne zweckbefreiter Reflektion – und dies just als Funktion der durch die „scholastic situation“ ermöglichten Abstraktion – die Wechselwirkungen zwischen Theorie und den Bedingungen ihrer Produktion leicht aus dem Blick: nicht nur die komplexe reziproke Verknüpfung der nur vermeintlich neutral-isolierten akademischen Betrachtung mit einem gesamtgesellschaftlichen Kontext,3 sondern auch die Beziehung zwischen Theorie und ihren unmittelbaren akademischen Ermöglichungsstrukturen. Dieser Hinweis auf die intrinsische Verquicktheit von theoretischer Perspektive und akademischer Situati1
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Der Text behält die Vortragsform weitgehend bei, ergänzt um einführende Literaturnachweise. P. Bourdieu, The Scholastic Point of View, in: ders., Practical Reason, On the Theory of Action, 1998, 127 ff. Bourdieu (Fn. 1), 128. Locus classicus: M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), 245, 253 (et passim).
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on soll den folgenden historischen Überlegungen zu dem Thema „Theorien im Recht und Theorien über das Recht“ als Ausgangspunkt einer Betrachtung der Beziehung zwischen Theorieproduktion, Theorieverständnis und deren institutionellen Rahmenbedingungen dienen. Ein situatives Element ist dem Begriff der Theorie von Anbeginn eingeschrieben. Theorie ist zunächst nicht das Ergebnis von Reflektion, etwa die Formulierung eines Systems von Sätzen zur Erklärung eines Naturphänomens; es ist vielmehr der Vorgang, die Tätigkeit der Betrachtung, im lateinischen Mittelalter übersetzt sowohl mit contemplatio wie speculatio; sowie in letzter Konsequenz diejenige Art der Lebensführung, die die Perspektive der Beobachtung, die „reine Anschauung“ und den Erwerb von Wissen als reinem Selbstzweck ermöglicht – und sich daher von instrumentell betriebenen Betätigungen abhebt, vor allem, in der Aristotelischen Kontrastierung, von dem „politischen Leben“.4 Verwandt hiermit ist die dem Begriff der Muße (im Gegensatz zur Arbeit) als Voraussetzung des Philosophierens beigemessene Bedeutung, und die Betonung des nur scheinbaren Gegensatzes von Spiel und Ernst.5 Über die an den Theoriebegriff des Aristoteles angelehnte Vorstellung, dass das Streben nach Wissen menschlicher Vervollkommnung diene, findet sich früh eine Verbindung mit Begriffen, die dem semantischen Feld von Wissenschaft, Lehre, Disziplin, angehören.6 In der christlichen Rezeptionstradition wird die vita contemplativa freilich weniger mit spielerischer Muße denn mit der monastischen Lebensform assoziiert.7 Diese Assoziation mit der Askese ist durchaus prägend für die moderne Vorstellung von der Wissenschaft auch in einem säkularen Kontext, in dem Wahrheitssuche, obschon ihrer transzendenten Überhöhung entkleidet, Entsagung und Selbstüberwindung rechtfertigt und verlangt. Diese asketische Anmutung von Wissenschaft als „Berufung“ ist ein Strang, der sich seit der Reformation begriffsgeschichtlich weiter komplex verflicht: wo, wie in der Protestantismusdeutung Max Webers, die Berufsarbeit die Züge innerweltlicher Askese annimmt und die Grenze zwischen Berufung und Beruf verschwimmen, da wird umgekehrt auch Wissenschaft zum Beruf – und sodann sogar die Qualität als Berufsarbeit zu einem dominierenden Moment.8
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N. Lobkowicz, Theory and Practice: History of a Concept from Aristotle to Marx, 1967, 3 ff. Siehe G. Ardley, The Role of Play in the Philosophy of Plato, Philosophy 42 (1967), 226 ff.; B. K. Hunnicutt, Leisure and Play in Plato’s Teaching and Philosophy of Learning, Leisure Sciences 12 (1990), 211 ff.; zum Gedankengang bei Thomas von Aquin insbesondere G. Krieger, Askese und Wissenschaft – Thomas von Aquin und Max Weber im Vergleich, Das Mittelalter 15 (2010), 111, 124 f. Zu diesen Verflechtungen der historischen Semantik siehe zur Einführung H. Welte, s. v. „Wissenschaft“, in: G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 2005, col. 51193 f. Lobkowicz (Fn. 4), 8 Auf die Verbindung zwischen beiden Formen der Askese bei Weber ist mehrmals hingewiesen worden, siehe z. B. F. Voigt, Das protestantische Erbe in Max Webers Vorträgen über „Wissenschaft als Beruf “ und „Politik als Beruf “, Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte (2002), 245, 247 unter Hinweis auf F. H. Tenbruck, Max Weber and the Sociology of Science: A Case Reopened, Zeitschrift für Soziologie 3 (1974), 312, 318; H. S. Goldman, Weber’s Ascetic Practises of the Self, in: H. Lehmann / G. Roth (Hg.), Weber’s Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts, 1993, 161 ff.
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II. „… Daß auch lehren eine Arbeit sey“ Dieser Bezug findet etwa bei Thomasius an der Wende zum 18. Jahrhundert seinen deutlichen Ausdruck. In seinem „summarischen Entwurf der Grundlehren die einem Studioso Juris zu wissen und auf Universitäten zu lernen nöthig“9 kommentiert er zum „Beruf “ des Gelehrten: „Daß ein Weiser arbeiten müsse, denn wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.“ Demgegenüber wird klargestellt, „[d]aß auch lehren eine Arbeit sey.“10 Mit dieser Verknüpfung mit Arbeit – im Verein mit der positiven Neubesetzung und der Umkehrung der antiken Stigmatisierung der Erwerbsarbeit zu deren Überhöhung – ist dann nichts weniger erreicht, als den Gedanken von theoretischer Reflektion als zweckfreier, von instrumentellen Zwängen befreiter „Anschauung“ selbst zur Disposition zu stellen. Zugleich wird auf diese Weise auch die Abgrenzung zum unvermeidlichen Gegenbegriff, der Praxis als tätigem Im-Leben-Stehen, zunehmend verunklart. Thomasius postuliert einen radikalen Praxisbezug aller Wissenschaften und Disziplinen, ja der Erkenntnissuche überhaupt. Erkenntnis- und Wahrheitssuche haben keinen Eigenwert, sondern finden ihre Legitimation allein darin, „daß man den Nutzen derer Menschen befördere, und alles, was schädlich ist, von dem menschlichen Geschlechte abwende.“11 Angesichts dieses normativen Begriffs der Praxis hat, scheinbar paradox, ausschließlich die Praxis wissenschaftlichen Wert.12 Das Ideal der „reinen Anschauung“, der zweckfreien speculatio, wird demgegenüber abgewertet, und stattdessen das Bild des indulgenten, selbst-referentiellen „Spekulierens“ dem sinnvollen Einsatz erlangten Wissens gegenübergestellt. „Ein Weiser muß sich nicht am Speculiren allein belustigen, sondern andern mit seiner Arbeit dienen.“13 Bei Thomasius hat sich die Wissenschaft mithin praktisch zu machen; die Theorie als Anschauung, Kontemplation, speculatio hatte demgegenüber „ihren Kredit verspielt“.14 Nur in der Zweckbindung, und das heißt vor allem auch: in der Lehre findet sie ihre Rechtfertigung. Zwar ist auch Thomasius die Wahrheitssuche hohes Gut – jedoch nicht als Selbstzweck, sondern um Studenten zum Streben nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu erziehen.15 Unmissverständlich stellt Thomasius fest: „Daß das bloße studiren und speculiren, wenn solches nur zur Lust geschiehe, und nie9 10 11 12 13 14 15
C. Thomasius, Summarischer Entwurf der Grundlehren / die einem Studioso Juris zu wissen / und auff Universitäten zu lernen nöthig / nach welchen D. Christian Thomas. Künfftig / so Gott will Lectiones privatissimas zu Halle in vier verschiedenen Collegiis anzustellen gesonnen ist, 1699, Cap. III, S. 33, Nr. 5. Thomasius (Fn. 9), S. 34, Nr. 10. C. Thomasius, Höchstnöthige Cautelen Welche ein Studiosus Juris, Der sich zu Erlernung Der Rechts-Gelahrtheit Auff eine kluge und geschickte Weise vorbereiten will / zu beobachten hat, 1713, Cap I, S. 6 f., Nr. 24. W. Schmidt-Biggemann, Topica Universalis, Eine Modellgeschichter humanistischer und barocker Wissenschaft, 1983, 277. Thomasius, Cautelen (Fn. 11) Cap. III, 63 f., Nr. 3. Schmidt-Biggemann (Fn. 12), a. a. O. H. Dreitzel, Zur Entwicklung und Eigenart der „eklektischen Philosophie“, Zeitschrift für die Historische Forschung 18 (1991), 281, 308. Zur hervorgehobenen Bedeutung der Lehre bei Thomasius auch F. Vollhardt, „Die Finsternüß ist nunmehro vorbey“. Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius, in: ders. (Hg.), Christian Thomasius (1655–1728), Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, 1997, 3, 10 f.
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mand damit gedienet wird, keine Arbeit, sondern eine Erquickung, und wenn es offte geschiehet, ein blosser Müssiggang sey.“16 Damit entfernt sich Thomasius bewusst von den aristotelischen Grundlagen der Tradition, und will statt dessen die Fundamente legen für ein neues, modernes Ausbildungsprogramm, das über Scholastik und Aristotelismus hinausgewachsen zu sein glaubt.17 Es ist kein Zufall, dass Thomasius diese seine Grundauffassung mit besonderer Deutlichkeit in seinen Ausführungen über das Studium der Rechte darlegt. In der Hierarchie der alten Universität sind die höheren Fakultäten die Professionsfakultäten, Theologie, Medizin, und Juristerei – die zum einen im Zentrum der universitären, kontemplativen Tradition stehen, für die zum anderen aber auch ein wie auch immer verstandener Praxisbezug und Nützlichkeitsanspruch stets im Raume steht. Der Juristerei kommt für eine praxisbezogene „Gelahrtheit“ im Sinne des Thomasius damit Modellfunktion zu.18 Die vierte Fakultät, die Philosophie und freien Künste ohne konkreten Bezug zu einer Berufspraxis, rechtfertigt sich noch aus ihrem dienenden Charakter gegenüber den Professionsfakultäten.19 Doch gleichwohl bedeutet auch bei Thomasius juristische Praxis nicht Handwerk und enge Spezialisierung. Die dominante Stellung der Professionsfakultäten bedeutete auch, dass das Studium der Jurisprudenz naturgemäß Instruktion in anderen Fächern einschloss oder zumindest voraussetzte. Der Jurist, so Thomasius, bedürfe der Vorbereitung der freyen Künste, vor allem der Philosophie, da „ein Juriste ohne dieselbe gleichsam im finstern herumtappet“.20 Die Diskussion um den instrumentellen Charakter universitärer Erforschung und Lehre von Recht begleitet uns freilich noch stets, insbesondere in den sogenannten Grundlagenfächern, wo sich immer wieder die Fragestellung nach „praktischer“ Nützlichkeit erhebt, und dies unter anderen Vorzeichen und mit größerem Nach- und Rechtfertigungsdruck als bei Fachphilosophen, Fachhistorikern oder Fachsoziologen. Zudem ist uns die Rede geläufig, die schlicht die Theorie/Praxis-Dichotomie parallel führt mit derjenigen von einerseits der Befassung mit Recht an der Universität, losgelöst von Prozess- oder Beratungssituation (gleichgestellt mit „Theorie“), gegenüber dem Diskurs der konkreten Rechtsanwendung oder -fabrikation andererseits (gleichgestellt mit „Praxis“); diese Gegenüberstellung wird zudem oft als mit dem Begriffskontrast: Praxis versus Wissenschaft synonym verwendet. Lohnt es sich, die Begriffsgeschichte der Dreiecksbeziehung von Theorie, Praxis und Wissenschaft näher zu verfolgen, in der Hoffnung auf ein besseres Verständnis von Theorien im Recht und über Recht? Schon mit der Paarung Theorie und Praxis haben wir es begriffsgeschichtlich mit einer äußerst diffizilen Konstellation zu tun; fügen wir nun die „Wissenschaft“ hinzu, steigt mit der 16 Thomasius, Grundlehren (Fn. 9), 34, Nr. 11. 17 Dreitzel (Fn. 15), 326. 18 H. Dreitzel, Christliche Aufklärung durch fürstlichen Absolutismus. Thomasius und die Destruktion des frühneuzeitlichen Konfessionsstaates, in: F. Vollhardt (Hg.), Christian Thomasius (1655–1728), Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung, 1997, 17, 30. 19 Thomasius, Grundlehren (Fn. 9) Cap. III, 34 f., Nr. 16 ff.; S. 37, Nr. 36 ff.; Cautelen (Fn. 11) Cap. III, 65 ff., Nr. 6 ff.; 69 f., Nr. 24 ff. 20 Thomasius, Cautelen (Fn. 11), Cap. III, 70, Nr. 25.
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Anzahl der möglichen Rekombinationen der Grad der Schwierigkeiten: Wie verhält sich nun „Theorie“ zu „Wissenschaft“? Kann nicht Lehre und juristische Schriftstellerei auch Praxis, kann Praxis, wenn (begriffs-)notwendig zwar nicht theoretisch, dennoch wissenschaftlich sein? Jan Schröder, der sich der historischen Erkundung des Begriffsgeflechts ausführlichst gewidmet hat, schreibt leidgeprüft: „Jeder, der sich schon einmal wissenschaftlich mit dem Theorie-Praxis-Problem beschäftigt hat, weiß, daß es hier von Unklarheiten nur so wimmelt und die Vielzahl der möglichen Fragestellungen erdrückend und entmutigend sein kann“.21 III. Jurisprudenz und die „reformierte“ Universität 1. Die „Idee der Universität“: Bildung, Wissenschaft und „Specialschule“ An die Permutationen praktischer Jurisprudenz und womöglich gar praktischer Rechtswissenschaft sei hier deshalb nicht gerührt.22 Allein sind es durchaus Änderungen im historischen Sprachgebrauch, die erste Hinweise geben über die Auswirkungen derjenigen strukturellen Umbrüche, innerhalb derer sich die institutionellen Rahmenbedingungen auszubilden beginnen, die dann auch mitbeeinflussen, was sodann als „Rechtswissenschaft“ und auch als „Rechtstheorie“ verstanden wird. Das ist insbesondere die Neuordnung der alten Universität mit ihrer Unterteilung in höhere und niedere Fakultäten, und die Herausbildung von „Disziplinen“ im modernen Sinne.23 Die Reformstimmung um die Jahrhundertwende, die in den bekannten Denkschriften von Fichte, Schleiermacher und Humboldt24 und sodann in der Berliner Neugründung von 1810 ihren bekanntesten Ausdruck gefunden hat,25 invoziert – Einsamkeit und Freiheit26 – sowohl Motive von Askese wie von der Loslösung von praktischen Zwängen. 21 J. Schröder, Das Verhältnis von Rechtswissenschaft, Juristenpraxis und Rechtspraxis seit dem 18. Jahrhundert, in: C. Peterson (Hg.), Rechtswissenschaft als juristische Doktrin, 2011, 313. 22 Vgl. dazu J. Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979, passim. 23 Siehe etwa zur Struktur des mittelalterlichen Vier-Fakultäten-Aufbaus einführend R. Brandt, Wozu noch Universitäten?, 2011, 36 ff.; R. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen, 1984, 14 ff.; S. Turner, The Prussian Professoriate and the Research Imperative, 1790–1840, in: H. N. Jahnke / M. Otte (Hg.), Epistemological and Social Problems of the Sciences in the Early Nineteenth Century, 1981, 109, 115. 24 Brandt (Fn. 23), 73 ff. Maßgebliche Texte sind etwa versammelt in: Gründungstexte: Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt. Festgabe zum 200-jährigen Jubiläum der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010; E. Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten. Von Engel, Wolf, Fichte, Schleiermacher, v. Savigny, v. Humboldt, Hegel, 1990. 25 Dazu etwa im Kontext der zeitgenössischen Universitätslandschaft R. vom Bruch, Universitätsreform als Antwort auf die Krise, Wilhelm von Humboldt und die Folgen, in: U. Sieg / D. Korsch (Hg.), Die Idee der Universität heute, 2005, 45 ff. 26 So bei W. von Humboldt, Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: Gründungstexte (Fn. 24), 229; zu den damit angesprochenen Themen im weiteren Kontext noch stets (wenn auch durchaus, eingedenk des politischen Kontexts, cum grano salis) H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, 2. Aufl., 1971, 63 ff.
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Den Reformbestrebungen eignet freilich zugleich ein konservatives Moment insofern, als sie überhaupt an der Universität als Institution festhalten und für eine reformierte Universität eine zentrale Rolle in Ausbildung und in der Ausbildung und Wissenssuche für denkbar erklären.27 Diese bewahrende Tendenz drückt sich später – in unserem Kontext interessant – vor allem auch bei Savigny aus in dessen Schrift „Wesen und Werth der deutschen Universitäten“ (1832), in der Savigny die Universitäten als Kulturerrungenschaft und als eines der „eigenthümlichsten und würdigsten [der] gemeinsamen Besitzthümer“28 der Nation gegen ihre Kritiker verteidigt. Der Aufklärung war die Universität zunehmend als rückständiges, zünftisch-verkrustetes Auslaufmodell erschienen, deren Ausbildungsaufgaben durch höhere Spezialschulen, die Erkenntnissuche nun gänzlich außerhalb der Universitäten durch gelehrte Gesellschaften und Akademien übernommen werden könnten.29 Diese Tendenzen überlappten sich mit maßgeblichen Veränderungen in der historischen Semantik: zum einen dem Aufstieg der aufklärerischen Schöpfung „Bildung“30 und damit wiederum, als korrespondierendes gesellschaftliches Phänomen, der Aufstieg des „Bildungsbürgertums“, dem die „Gelehrsamkeit“ der Professoren und des „Gelehrtenstandes“31 zum Witzwort wird.32 Für die professionalisierte Erkenntnissuche findet eine entsprechende Verschiebung statt von der „Gelehrsamkeit“ als Habitus des Gelehrten hin zu „Wissenschaft“, was sich etwa in dem sich seit dem 18. Jahrhundert vollziehenden Wandel des Begriffs von Wissenschaft von dem „subjektiven“, wie es in Grimms Wörterbuch heißt, „Nachricht, Kenntnis, Kunde“ hin zu einem Begriff des externalisiert denkbaren, systematisierten „objektiven“ Wissens niederschlägt;33 eine Ent-
27 Turner (Fn. 23), 110. 28 F. C. v. Savigny, Wesen und Werth der deutschen Universitäten, Historisch-politische Zeitschrift 1 (1832), 569. Kontinuität einer spezifisch deutschen Universitätstradition ist eine Konstante des deutschen Diskurses zur Hochschulreform selbst nach dem zweiten Weltkrieg: vgl. W. Lepenies, Die Idee der deutschen Universität – ein Blick von außen, in: M. Eigen u. a. (Hg.), Die Idee der Universität, Versuch einer Standortbestimmung, 1988, 41 f. 29 Savigny (Fn. 28), 569 f.; und 577, wo er wiederum ein Kontinuitätsmoment hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Universität und Akademien feststellt: „Bei keinem andern Volke fällt ein so bedeutender Theil der gelehrten Thätigkeit überhaupt öffentlichen Lehrern anheim, und zu allen Zeiten haben es sich deutsche Gelehrte vom ersten Rang zur Ehre gerechnet, als Professoren an Universitäten, oft selbst kleinen Universitäten zu wirken.“ Zur zeitgenössischen Kritik an den Universitäten siehe auch Schelsky (Fn. 26), 33 ff. 30 Siehe etwa nur R. Geuss, Kultur, Bildung, Geist, History and Theory 35 (1996), 151 ff., J. Hamann, „Bildung“ in german human sciences: the discursive transformation of a concept, History of the Human Sciences 24 (2011) 48, 50 ff. 31 Vgl. R. S. Turner, The Bildungsbürgertum and the Learned Professions in Prussia, 1770–1830: The Origins of Class, Histoire Social – Social History 13 (1980), 105 ff.; C. Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußens, 1985, 22 ff. 32 Turner (Fn. 23), 112 ff. Dies spiegelt auf gesellschaftlicher Ebene den „Streit der Fakultäten“ insofern, als dass die Distinktion des „Gelehrtenstandes“ an Bedeutung verliert, dem eben just die Absolventen der höheren Fakultäten angehörten. 33 S. Meier-Oeser, s. v. „Wissenschaft“, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2005, Bd. 12, Sp. 51190, 51191 f.
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wicklung, die auch die traditionell an der Universität gelehrte „habituelle“ prudentia iuris als einer Rechtsgelahrtheit oder -gelehrsamkeit betrifft.34 Die Entscheidung für die Reform anstelle der Ablösung von Universität bedeutet nun: die „Wissenschaft“ als neues Paradigma der Erkenntnissuche soll in Zukunft an der Universität stattfinden, nicht an externen Akademien – so dass sich die Gelehrsamkeit der alten Fakultäten, wollen sie ihren Platz in dieser Universität finden, als Wissenschaft neu zu erfinden hat. Zugleich soll eine in der Wissenschaft verankerte Unterweisung an der Universität diejenige Form von „Bildung“ ermöglichen, die zum einen, neu-humanistischen Idealen verpflichtet, universell „versittlicht“;35 unterdessen aber auch spezialisiert genug ist, um, wie Schleiermacher in seinen „Gelegentlichen Gedanken“ schreibt, die „Umbildung und Zerstreuung der Universitäten in Spezialschulen“ unnötig erscheinen zu lassen.36 Denn bei aller Rede von der gemeinsamen Lebensform von Professoren und Studenten, in „Einsamkeit und Freiheit“ der Wissenschaft verbunden,37 ist überdeutlich, dass die Universität nicht nur Wissenschaftler ausbilden kann und soll. Die Universität muss damit auch „Spezialschule“ sein, um diejenigen, denen das „Talent“ für höchste wissenschaftliche Weihen fehlt, vor allem für den Staatsdienst vorzubereiten, denn der Staat bedürfe, so Schleiermacher, der tüchtigen „Köpfe der zweiten Klasse“: „Er kann sehr wohl einsehen, daß die obersten Geschäfte in jedem Zweige nur denen mit Vorteil anvertraut werden, welche von wissenschaftlichem Geiste durchdrungen sind, und wird doch danach streben müssen, daß ihm auch der größte Teil von jenen untergeordneten Talenten anheimfalle, welche auch ohne diesen höheren Geist ihm durch wissenschaftliche Bildung und eine Masse von Kenntnissen brauchbar sind.“38
Damit ist einem bis in die Gegenwart dominanten Leitmotiv deutscher Hochschulpolitik Ausdruck verliehen, nämlich dem der Verwissenschaftlichung von (Berufs-)Praxis, das zugleich eine gewisse Nutzenbeziehung zwischen Wissenschaft und Praxis impliziert. Zugleich wird auch die besondere Belastung offenbar, der der Begriff der Wissenschaft sich in dieser Rhetorik ausgesetzt sieht, soll er doch Forschung und Lehre, Theorie und Praxis unter sich vereinen. Dies verweist auf den Antagonismus der Zielsetzungen von „selbstzweckhafter“ Erkenntnissuche und praktischer Nutzbarmachung von Wissenschaft;39 und auf das Gründungsparadox der „Humboldt’schen Universitätsidee“40, das 34 Hierzu wiederum grundlegend Schröder (Fn. 22), 16 ff.; 36. 35 Schelsky (Fn. 26), 63. 36 F. D. E. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, in: Gründungstexte (Fn. 24), 123, 156. 37 Schelsky (Fn. 26), 73 ff. 38 Schleiermacher (Fn. 36), 156. 39 Siehe nur den Überblick über die reichhaltige Literatur bei D. Kaldewey, Wahrheit und Nützlichkeit, Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz, 2012, 15. 40 Zu dem Umstand, dass das frühe 20. Jahrhundert die Strukturveränderungen von Universität und professionalisierter Wissenschaft im frühen 19. Jahrhundert ganz mit dem Namen Humboldts verbindet und so den „Mythos Humboldt“ erst kreiert habe, siehe S. Paletschek, Die Erfindung der Humboldtschen Universität. Die Konstruktion der deutschen Universitätsidee in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Historische Anthropologie 10 (2002), 183 ff.
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zugleich Akademie, universelle Bildungsanstalt und „Spezialschule“ sein will – ein von vornherein unauflöslicher Zielkonflikt.41 In diesem sich verändernden Koordinatensystem muss sich nun eine sich selbst umstrukturierende Rechtsgelehrsamkeit positionieren. Die problematische Spannung – zwischen Bekenntnis zu Universität einerseits und Praxisbindung andererseits, sowohl mehr als aber zugleich doch auch Spezialschule zu sein und dies zudem alles unter einem Paradigma von „Wissenschaft“ unterbringen zu müssen – zeichnet sich für die Befassung mit Recht in besonderer Schärfe ab. Wie kann ein in der Juristerei unumgänglicher und unleugbarer „Praxisbezug“ der Disziplin operationalisiert werden, ohne als „unwissenschaftlich“ zu gelten? Und umgekehrt: welcher Grad an theoretischer Abstraktion ist möglich, ohne den eigenen Nutzen als universitätsintegrierte, berufsvorbereitende Spezialschule in Frage zu stellen? Savigny nahm – ohne die „Rechtswissenschaft“ besonders zu erwähnen – in seinem „Wesen und Werth“ nachdrücklich gegen die „Specialschule“ und für die Gesamtheit der Wissenschaften in der deutschen Universität Stellung;42 und zeigte sich vollends beseelt von dem Ideal der Wissenschaft auch als Schlüssel der Unterweisung selbst: selbst der schriftstellerisch erfolgreiche Wissenschaftler sei nur dann „wahrer Lehrer“, wenn er in den Schülern den „Geist der Wissenschaft“ erwecke43 – und in dieser „Anregung wissenschaftlichen Denkens“ sei schließlich der „wahre Grund der Wirksamkeit der Universitäten in seiner Reinheit“ anzuerkennen.44 Auch bei Savigny heißt dies jedoch dezidiert nicht, dass die Verwissenschaftlichung der Ausbildung zur Ausbildung von Wissenschaftlern diene: wie bei Schleiermacher ist es der „zahlreiche und ehrenwerthe“ – und vor allem letzthin staatstragende45 – intellektuelle „Mittelstand, also Diejenigen, die einer höheren Anregung oft bedürftig, aber auch meist empfänglich sind“46, den die universitäre Ausbildung im Blick habe, und der, derart angeregt, sodann in die Praxis entlassen werde. Dies ist in diesem Text Savignys ein abstraktes hochschulpolitisches Bekenntnis zu Universität und Wissenschaft, ohne besonderen Bezug zur Rechtswissenschaft oder die an sie besonders sich stellenden Herausforderungen. Doch deuten sich hier die Themen an, die den Kompromiss zwischen Universität und Spezialschule, Wissenschaft, Praxis und Theorie charakterisieren werden: gelehrte Textproduktion und praxisnahe Ausbildung, beides verklammert durch „Wissenschaft“. „Wissenschaft“ ist in diesem Modell für die Statik der Universitätsidee ebenso tragend wie bis zum Bersten belastet. Wie stellt sich nun die universitäre Befassung mit Recht auf dieses Wissenschaftsparadigma ein – und wie wirkt diese Positionierung darauf zurück, was im Rahmen einer solchen „Rechtswissenschaft“ als „Theorie“ denkbar ist? 41 J. Habermas, Die Idee der Universität – Lernprozesse, in: M. Eigen u. a. (Hg.), Die Idee der Universität, Versuch einer Standortbestimmung, 1988, 139, 155. 42 Savigny (Fn. 28), 576. 43 Savigny (Fn. 28), 574. 44 Savigny (Fn. 28), 575. 45 Savigny (Fn. 28), 592. 46 Savigny (Fn. 28), 591.
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2. Disziplinäre Grenzziehungen Dieser Positionierungsvorgang ist, institutionell betrachtet, die Formierung und Konsolidierung von „Rechtswissenschaft“ als akademischer Disziplin im modernen Sinne. Neben vielen weiteren Faktoren, die in diesem Vorgang eine Rolle spielen, ist für unsere Themenstellung von besonderer Bedeutung die disziplinäre Abgrenzung von der Fachphilosophie, die sodann in der Ausbildung einer disziplininternen Rechtsphilosophie und -theorie als Subdisziplin der Rechtswissenschaft mündet. Mit der Umstrukturierung der alten Vier-Fakultäten-Universität verliert die Philosophie ihre „dienende“ Funktion gegenüber der „höheren“ juristischen Fakultät;47 die universalistische Universitäts-„Idee“ sieht geradezu eine Hierarchienumkehr vor.48 Schon bevor die alte Fakultätenhierarchie auch institutionell zur Disposition gestellt wird, hatte sich freilich die Philosophie von ihrer strukturellen Rolle als Hilfswissenschaft intellektuell schon lange emanzipiert. Bereits Johann Franz Budde etwa hatte zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Jurisprudenz taxonomisch vereinnahmt und untergeordnet und, zusammen mit der Ethik, der philosophia practica zugeschlagen, als dem Zweig der Philosophie, dem es um das diesseitige Streben nach wahrer Glückseligkeit (vera felicitas) gehe.49 Das Naturrecht, beispielhaft für einen inter- oder prädisziplinären Diskurs, wird nun als praktische Philosophie für die Philosophische Fakultät eingefordert; der verbleibenden Befassung mit dem positiven Recht der Wissenschaftscharakter schlechthin abgesprochen – bei der Verarbeitung von ephemeren gesetzgeberischen Entscheidungen gehe es mehr um Handwerkskunst denn um Wissenschaft. Kants „Streit der Fakultäten“ untermauert nachdrücklich die intellektuellen wie institutionellen Gebietsansprüche der Philosophie – die drei höheren Fakultäten trieben keine Wissenschaft, der gelehrte Jurist befasse sich mit den Gesetzen des Mein und Dein,50 und damit nicht mit Vernunftgesetzen, sondern mit obrigkeitlich dekretierten und politischen Wechselfällen unterliegenden Verhaltensregeln.51 Schleiermacher, ganz im Sinne dieser Ausführungen,52 nennt die Vier-Fakultäten-Struktur „grotesk“, sieht den eigentlichen Geist der Universität nur in der philosophischen Fakultät verkörpert und erklärt die Präsenz der „positiven Fakultäten“ als staatlich gestiftete oder zumindest sanktionierte „Spezialschulen“ mit dem „Bedürfnis, eine unentbehrliche Praxis durch Theorie, durch Tradition von Kenntnissen sicher zu fundieren.“53 Auch mit diesem Diskurs ist mithin die dichotome Kontrastierung von Theorie und Praxis komplex verknüpft. Wilhelm Traugott Krug, seit 1805 Inhaber des Kant’schen Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (Fn. 23), 31 ff. Siehe etwa Schleiermacher (Fn. 36), 167; Schelsky (Fn. 26), 66. J. F. Budde, Elementa Philosophiae Practicae, Editio novissima auctior & correctior, 1720, cap. I, §§ Iff., IV. I. Kant, Der Streit der Facultäten in drey Abschnitten, 1798, 18 ff. Vgl. dazu etwa R. Brandt, Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Kants „Streit der Fakultäten“, 2003, 93. 52 Zu der engen Beziehung zwischen den „Gelegentlichen Gedanken“ und dem „Streit der Fakultäten“ siehe vom Bruch (Fn. 25), 50. 53 Schleiermacher (Fn. 36), 167. 47 48 49 50 51
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Lehrstuhls in Königsberg, etwa schreibt in seinem „Versuch einer systematischen Enzyklopädie der Wissenschaften“ – Exempel einer für den sich vollziehenden Strukturwandel symptomatischen Literaturgattung54 – die Jurisprudenz sei ihrer Natur nach (anders die Wissenschaften vom reinen und angewandten Naturrecht, die der Moralphilosophie und den politischen Wissenschaften zugeschlagen werden) eine praktische Wissenschaft, da sie sich auf die Bestimmung des menschlichen Willens und der von ihm abhängigen Handlungen beziehe. Gleichwohl ließen sich „als einem Inbegriffe verschiedenartiger gelehrter Kenntnisse und Fertigkeiten, die dazu gehörigen Disziplinen in Beziehung auf die Juristen selbst“ im Wege einer Binnendistinktion in theoretische und praktische Rechtswissenschaften einteilen.55 Zugleich macht Krug allerdings deutlich: die positive Jurisprudenz kann ihrem Wesen nach „eigentlich nie Wissenschaft seyn und werden“, da ihr aufgrund der Aufgabe, willkürlich veränderbares Material zu ordnen, sie sich selbst nie auf eine bleibende, nach Vernunftprinzipien entworfene Theorie stützen kann.56 Den Einschluss in Krugs Enzyklopädie verdankt sich damit allein der Tradition von Jurisprudenz als Universitätsdisziplin, der allgemeinen „Nützlichkeit“ und „Achtungswürdigkeit“ der Jurisprudenz – und einem etwas gönnerhaft klingenden ästhetischen Argument: „Auch kann das Studium der Rechte (welches freylich, so lange es nur als brodverdienendes Handwerk betrieben und daher zu einer blossen Sache des Gedächtnisses und der Routine gemacht wird, durch seine Trockenheit und Unfruchtbarkeit den Geist einengen und abstumpfen muss,) gleichwohl, wenn es mit Geschmacke und steter Rücksicht auf die historischen Quellen und philosophischen Prinzipien der Rechtswissenschaft getrieben wird, höchst interessant, fruchtbar und angenehm werden.“57
Auch ein solches „geschmackvoll“ betriebenes Studium ist freilich eher Kunsthandwerk denn Wissenschaft; die gelehrte Befassung mit dem „brodverdienenden Handwerk“ doch eher das Geschäft des „Brotgelehrten“ und nicht des „philosophischen Kopfes“. IV. Die „Wissenschaft“ vom positiven Recht Die „Rechtswissenschaft“, die demnach ihr disziplinäres proprium zu definieren hat auch in Behauptung gegenüber den Gebietsansprüchen der Philosophie, reagiert nicht mit der Verteidigung der für die Anerkennung von Wissenschaftlichkeit scheinbar doch so wichtigen Rechts-Philosophie als eine zumindest auch der Zuständigkeit von Juristen anheimfallendes Gebiet. Stattdessen reagiert sie mit freiwilliger Abtretung. Es ist eine
54 Stichweh diagnostiziert hier eine leichte zeitliche Verschiebung, die Periode tatsächlicher Hochschulreformen habe bedeutende Werke dieses Genres nicht mehr hervorgebracht: Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen (Fn. 23), 8 f. 55 W. T. Krug, Versuch einer systematischen Enzyklopädie der Wissenschaften, Zweyter Theil, 1797, § 273, 190. 56 Krug (Fn. 55), § 235, 128. 57 Krug (Fn. 55), § 236, 129.
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Selbst-Beschränkung und Selbst-Disziplinierung58, und zugleich eine Flucht nach vorn, als sich die Disziplin in der Tat für die Beschäftigung mit positivem Recht als Merkmal disziplinärer Erkennbarkeit und „kognitiver Identität“ entscheidet und das Terrain des Naturrechts, seinerzeit gleichbedeutend mit Rechtsphilosophie, aufgibt. Das heißt freilich nicht, dass das Naturrecht von den Lehrplänen plötzlich verschwunden wäre – vom Forschungsparadigma der Fokussierung auf das positive Recht wird es jedoch zunehmend an den Rand gedrängt. Doch wie lässt sich nun der Beschäftigung mit dem positiven Recht die Dignität des neuen Forschungsideals verleihen, mit anderen Worten, wie der Wechsel von der Gelahrtheit zur „Wissenschaft“ vollziehen und sich zugleich wirksam gegen die Stigmatisierung als „brodverdienendes Handwerk“ verteidigen? 1810 schildert das „Critische Archiv der juridischen Litteratur“ der Herausgeber Gönner, Gmelin und Tafinger das Dilemma aus zeitgenössischer Sicht wie folgt: „Das juridische Archiv ist seinem ganzen Gegenstande nach für die Zeit bestimt, wie sie sich auch im Gebiete der Rechtslehre in unaufhaltsamen Fortschritten entwickelt. Es kommt also nur darauf an, die Forderungen der gegenwärtigen Zeit an dasselbe richtig zu bestimmen. Die Zeit ist wirklich nicht mehr, wo man mit blossem Sammeln einer Menge von Einzelheiten seine Erudition nach allen Dimensionen der Materie ausdehnen, und je voluminöser sie war, sich ein um so größeres Ansehen von gelehrter Wichtigkeit geben konnte. (…) In dem Gebiete unseres juridischen Wissens schwanken wir noch zwischen zwey Extremen hin und her, welche beyde ihre sehr grossen Nachtheile mit sich führen. Das eine ist die gelehrte Vielwisserey, die alles wissenswerthe ausser sich – und nur allein sich selbst nicht zu sammeln gewusst hat; die sich in einer Menge zusammengehäufter Einzelheiten umhertreibt, ohne Anfang und ohne Ende. Das andere ist wo möglich noch gefährlicher. Es besteht in der Anmassung, das Positive durch allgemeines Raisonnement zu ersezen, und über Staats- und Rechtslehre solche allgemeine Principien aufstellen zu wollen, welche schlechterdings unabänderlich seien.“59
Zwischen „gelehrter Vielwisserei“ und „allgemeinem Raisonnement“ erweist sich nun das Angebot der Historischen Schule als ein „Dritter Weg“, welcher verhieß, der Beschäftigung mit positivem Recht die Würde echter Wissenschaft zu verleihen. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker George Daniels hat die Konsolidierung wissenschaftlicher Disziplinen von der Warte der Professionalisierung beschrieben und dabei unter anderem das von ihm so genannte Kriterium der „Präemption“ hervorgehoben.60 Damit wollte Daniels das Phänomen erfassen, dass es einer Gruppe von „Experten“ gelingt, Akzeptanz für die Vorstellung zu gewinnen, zu gewissen Problemen seien Äußerungen nur auf der Basis eines spezifischen esoterischen Wissens möglich; dies gelinge etwa, wenn ein bestimmter Wissensbereich „the edge of incomprehensibility“,61 die Grenze allgemeiner Unverständlichkeit also, erreiche. Betrachtet man die Innovation der His58 H. Dedek, Stating Boundaries: The Law, Disciplined, in: H. Dedek / S. Van Praagh (Hg.), Stateless Law: Evolving Boundaries of a Discipline, 2015, 9, 13. 59 N. N., Einleitung, Critisches Archiv der juridischen Litteratur 6 (1810), 1 ff. 60 G. H. Daniels, The Process of Professionalization in American Science: The Emergent Period, 1820–1860, Isis 58 (1967), 150, 152 ff. 61 Daniels (Fn. 60), 152.
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torischen Schule in diesem Zusammenhang, so zeigt sich vor allem auch ein neuer Qualitätsanspruch an professionelle akademische Arbeit: ausschließlich auf Grundlage der systematischen Durchdringung des gesamten dogmatischen Korpus samt der Rekonstruktion dessen historischen Herkommens seit der Antike sei das Kulturphänomen Recht wirklich zu begreifen. Dies ist ein Anspruch, dem nur der professionelle, umfassend gebildete Wissenschaftler gerecht werden kann; dies ist weder von dem bloß gelehrten „Vielwisser“ zu leisten noch von dem letztlich juristisch-technisch zu oberflächlichen Zugang aus der Vogelperspektive der abstrakt „räsonnierenden“ Philosophen. Zugleich ist das Argument abgewehrt, positives Recht sei wissenschaftlich gar nicht erfassbar, dass es ausschließlich von der Willkür des Gesetzgebers abhänge – und damit dem ewigen, organisch wachsenden Rechtskorpus eine ontologische Anmutung verliehen. Savignys Beruf liest sich vor diesem Hintergrund nicht nur als rechtspolitisches, sondern auch als wissenschaftspolitisches Manifest, das zum einen den praktischen Nutzen Savignys Rechtswissenschaftsideals klar umreißt, und zugleich die realen Wirkungen eines naturrechtlich-philosophischen Ansatzes, wie in der französischen Kodifikation verwirklicht, in düsteren Farben malt: Abstraktion führt zur Vernachlässigung von historischem Verständnis und technischen Details – und in der Folge zu einer Travestie römischen Rechts und schlechter Kodifikation. Die Väter des Code civil sind Bürokraten – keine Wissenschaftler.62 Zum anderen gelingt es Savigny elegant, das Bild einer Rechts-„Wissenschaft“ in Einklang zu bringen mit einem weiteren, wichtigen Paradigmenwechsel, den Gadamer als den „Übergang von der doctrina zur Forschung“ bezeichnet hat.63 Wilhelm von Humboldt hatte 1809 die Wissenschaft „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“64 genannt. Diese Form der stets fortschreitenden, niemals endenden und ihre Dignität in sich selbst begründenden Wahrheitssuche als Ideal ist unvereinbar mit einer Universitätslehre, einer Doktrin, die zuvörderst ex cathedra positive Kenntnis statischer Dogmengebäude vermittelt; an deren Stelle tritt das neue Paradigma der von Lehrer und Student gemeinsam betriebenen Wissenschaft.65 Wie sehr sich Savigny selbst diesem universalistischen Ideal von Forschung und Lehre verpflichtet und darin nachgerade die Lebensberechtigung der Universität als Institution verkörpert sah, zeigen seine Ausführungen im „Wesen und Werth“, wonach der „wahre Grund der Wirksamkeit der Universitäten“ bestehe „in der Anregung des wissenschaftlichen Denkens durch die Anschauung einer gleichartigen, aber bereits ausgebildeten Thätigkeit in dem Geiste des Lehrers.“66 Für die Befassung mit Recht ist dies freilich nicht nur eine Frage 62 F. C. von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, 73; 78 f. Damit geht laut Savigny einher eine Ausbildung, die ganz und gar theoretisch sei und doch zugleich – bemerkenswerterweise – unwissenschaftlich, aao 79; 137 ff. 63 H.-G. Gadamer, Die Idee der Universitätslernprozesse, in: M. Eigen u. a. (Hg.), Die Idee der Universität, Versuch einer Standortbestimmung, 1988, 2 f. 64 W. v. Humboldt (Fn. 26), 229, 231. 65 Schelsky (Fn. 26), 74 f. 66 Savigny (Fn. 28), 575.
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von Pädagogik, sondern verlangt zuvörderst, dass die zu unterrichtende Materie selbst mehr sei als bloße doctrina, als lediglich ein mehr oder minder statisches Dogmengebäude. Bei Savigny ist die Rechtswissenschaft in Einklang damit ebenfalls eine ständig suchende, die in ihrer unablässigen Mühung um technische Verbesserung vielleicht nie einen Status erreicht, der eine Kodifikation rechtfertigt möge, zugleich aber in der Mühung selbst bereits ihre kulturelle Aufgabe erfüllt. Rechts-Wissenschaft kann damit – im neuen Universitätsideal unentbehrlich67 – echte Forschung sein. Zugleich ist auch postuliert, dass die wissenschaftliche Rechtserkenntnis zu technisch besserem Recht führt und daher unmittelbar praktisch nützlich ist.68 Mit diesem Bekenntnis nur zum positiven Recht hat die universitäre Rechtswissenschaft in Deutschland eine erste wichtige Positionierung vollzogen. Nun stellt sich die Frage, wie diese Positionierung, diese Definition von Rechtswissenschaft als Wissenschaft vom positiven Recht, auf das Verständnis von „Theorie“ in der Rechtswissenschaft zurückwirkt. Lassen wir noch einmal Savigny zu Wort kommen, der Zeit seines Lebens, wie jüngst von Joachim Rückert untersucht,69 über das Begriffsdreieck Theorie-Praxis-Wissenschaft nachdachte. Die vielleicht ausführlichste Stellungnahme finden wir 1840 im „System“, wo Savigny „Praxis“ mit Rechtsanwendung, „Theorie“ mit Universitätsjuristerei gleichsetzt70 – und beide als gleichwertige und sich gegenseitig informierende „Elemente“ der geistigen Befassung mit Recht bezeichnet, die nur durch den zunehmenden Spezialisierungszwang zwei verschiedenen Berufsgruppen zugefallen sei. Wiederum hebt Savigny auf diese Weise deutlich den Professionalisierungsaspekt hervor, zugleich aber auch die enge Beziehung, in der „Theorie“ und „Praxis“ stehen müssen: „Es beruht aber alles Heil darauf, daß in diesen gesonderten Thätigkeiten Jeder die ursprüngliche Einheit fest im Auge behalte, daß also in gewissem Grade jeder Theoretiker den praktischen, jeder Praktiker den theoretischen Sinn in sich erhalte und entwickle. Wo dieses nicht geschieht, wo die Trennung zwischen Theorie und Praxis eine absolute wird, da entsteht unvermeidlich die Gefahr, dass die Theorie zu einem leeren Spiel, die Praxis zu einem bloßen Handwerk (sic!) herabsinke.“71 67 Dazu nochmals vom Bruch (Fn. 25), 52; Turner (Fn. 23), 109 ff. 68 Dedek (Fn. 58), 19 f. 69 J. Rückert, „Theorie und Praxis“ am Beispiel der Historischen Rechtsschule, mit einem Ausblick bis heute, in: Peterson (Fn. 21), 235, 239 ff. 70 Unterschieden durch Anwendungsgebiete der erworbenen Kenntnisse und durch „äußeren Lebensberuf “: F. C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Erster Band, 1840, 11, § 5. Diese Einheit findet Savigny vor allem bei den römischen Juristen, siehe Rückert (Fn. 69), 241. 71 Savigny (Fn. 70), Vorrede; Rückert (Fn. 69), der die Theorie/Praxis-Beziehung in den Kontext der zeitgenössischen philosophischen Debatte einordnet, hört in der Gegenüberstellung von bloßem Handwerk und leerem Spiel ein Echo der bekannten Stelle aus der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft, Begriffe ohne Anschauungen seien leer, Anschauungen ohne Begriffe blind. Der topos des „Herabsinkens zum Handwerk“, diesmal kontrastiert mit der „hohlen Abstraktion“, begegnet noch einmal in der Vorrede zum siebten Band des Systems: „Die Beschäftigung mit dem Recht unterliegt, ihrer Natur nach, einer zweifachen Gefahr: durch Theorie sich zu verflüchtigen in die hohlen Abstractionen eines vermeintlichen Naturrechts, durch die Praxis herabzusinken zu einem geistlosen, unbefriedigenden Handwerk“ (F. C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Siebenter Band, 1848, viii). Auch hier bewahrt vor beidem das Studium der lebensnahen Jurisprudenz der römischen Juristen.
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Ein kluges Argument: nicht nur wird die Rechtswissenschaft von abstrakter Spekulation über Recht und Gerechtigkeit definitorisch abgegrenzt, zugleich wird ihre institutionelle Verortung an der Universität geschickt gegenüber der „Praxis“ damit gerechtfertigt, dass die Wissenschaft nicht etwa nur, gleichsam der eigenen Wissenschaftlichkeit zum Trotz, der Praxis wertvolle Hilfestellungen geben könne, sondern auch damit, dass zugleich die Praxistätigkeit „wissenschaftlich“ werden könne – und mit dem Epithet der „Wissenschaftlichkeit“ versehen sohin eine Adelung erfährt, die die praktisch betriebene Juristerei vor einem „Absinken“ in die bloße Handwerkstätigkeit bewahre. Das „Absinken zum Handwerk“ invoziert freilich Konnotationen von Abstieg und Ansehensverlust des alten „Gelehrtenstandes“ im Angesicht eines sich neu definierenden Bildungsbürgertums; und freilich ist zugleich auch noch einmal unterstrichen, dass eine Ausbildung, die eine solche Abgrenzung vom Handwerk erlaubt, auch nicht durch ein der Qualifikation für ein Handwerk ähnelndes Lehrlingsmodell geleistet werden kann. So ist der universitär ausgebildete Richter eben auch bei seiner Tätigkeit in der Praxis Rechtswissenschaftler – eine Vorstellung, die uns noch heute in den Juristenausbildungsgesetzen gegenübertritt.72 Umgekehrt darf die Theorie sich nicht zu weit von der Praxis entfernen, damit sie, so Savigny, nicht zum „leeren Spiel“ werde. In diesem Sinne ist wiederum Theorie einem Legitimationszwang ausgesetzt, der dem Begriff an sich fremd ist; der just die Kopplung an die Praxis fordert, wo sich die reine Anschauung durch Entkopplung von praktischen Zwängen definiert. Wiederum ist „Spiel“ ohne „Arbeit“ leer und selbstreferentiell: bloße Spielerei. Die Behauptung einer derart symbiotischen Wechselbeziehung von Rechts-Wissenschaftler und Rechts-Anwender ist ein Argument, das subtil die institutionelle Plausibilität der Rechts-Wissenschaft als Universitätsdisziplin untermauert – freilich um den Preis der Unabhängigkeit, „zweckfrei“, das heißt eben auch: im eigentlichen Sinne „theoretisch“ über Recht nachzudenken. Rechtswissenschaft ist damit festgeschrieben auf eine Form von „Theorie“, die theoretisch ist nur insoweit, als sie funktional nicht unmittelbar praktisch in die „Anwendung“ von Recht eingebunden ist – jedoch nie die Teilnehmerperspektive (ganz) verlässt. Ihr proprium findet die Rechtswissenschaft dementsprechend nun in der wissenschaftlichen Überhöhung der Dogmatik, der eigenartigen Zwischenwelt zwischen Theorie und Praxis, in einer paradoxen Spannung zwischen der „Selbstbindung“73 durch das Bekenntnis zum Forschungsimperativ und zur Einbindung in die (reformierte) Universität (deren „Idee“ doch gerade die scholastischen Dogmengebäude Anathema waren) einerseits, und der sich durch das Postulat der Praxisnähe und durch den praktischen Ausbildungszweck bedingten Beschränkung der gedanklichen Abstraktionshöhe zum anderen. Unterhalb dieser gläsernen Decke beweist die dogmatische Jurisprudenz ihre Wissenschaftlichkeit mit einer enormen (und international beispiellosen) Akribie und 72 H. Dedek, Recht an der Universität: „Wissenschaftlichkeit“ der Juristenausbildung in Nordamerika, Juristenzeitung 64 (2009), 540. 73 R. Stichweh, Motive und Begründungsstrategien für Wissenschaftlichkeit in der deutschen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, Rechtshistorisches Journal 11 (1992), 330, 332.
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Detailversessenheit, die die an sich „praxisnahe“ Materie mit einer Komplexität anreichert, die wiederum schlicht durch die Menge des zu verarbeitenden Materials Distanz zur Praxis der Rechtsanwendung schafft. Zugleich befördert der Forschungsimperativ mit seinem Drang zu immer größerer Textproduktion, weiterer Spezialisierung und Technisierung zwar eine zunehmende Professionalisierung und Präemption, und damit disziplinäre Konsolidierung; jedoch damit zugleich auch stets zunehmende disziplinäre Absonderung und Isolation, und arbeitet so gegen das Gründungsideal der Bildungsgemeinschaft Universität74 und verwischt so weiter die Grenze zur „Specialschule“.75 V. „Juristenphilosophie“ Für die Möglichkeit einer „Rechtstheorie“ als von praktischer Zweckbindung befreiter Reflektion ist diese Entscheidung folgenreich, findet sich doch die „philosophische“ Befassung mit Recht – zumal in ihrer „spekulativen“ Form – zumindest an die Grenzen einer Disziplin gedrängt, die ihre Matrix in der Befassung mit dem positiven Recht gefunden hatte. Als zum Ende des 19. Jahrhunderts Bewertungen der theoretischen und philosophischen Ambitionen des ersten Jahrhunderts deutscher „Rechtswissenschaft“ angestellt werden, überrascht es zunächst nicht, wenn das Bild einer Dürrezeit gezeichnet wird.76 Dies freilich allerdings vor allem von Autoren, die nun zugleich für sich in Anspruch nehmen, für eine philosophische Erneuerung zu stehen, für „neu erblühte Forschung“, wie Stammler es später einmal nannte.77 Das Bild mag überzeichnet sein – rechtsphilosophische Textproduktion ist im 19. Jahrhundert nie ganz zum Erliegen gekommen, und auch das Naturrecht verschwand nicht etwa schlagartig aus den Lehrplänen und dem Schrifttum. Dennoch war mit der Positionierung des mainstreams vor allem die Auseinandersetzung mit rechtsphilosophischen Fragen in der Tradition des Naturrechts, also mit Fragen der praktischen Philosophie, deutlich marginalisiert. Damit entfiel auch weitestgehend die Rechtsphilosophie als ein Raum interdisziplinären Gesprächs. Karl Bergbohm etwa, in seiner 1892 erschienenen programmatischen Schrift Jurisprudenz und Philosophie, beschreibt das 19. Jahrhundert rückblickend als Epoche, in der Philosophie und Rechtswissenschaft die Kommunikation einstellten: die Fachjuristen hätten sich von der Philosophie abgewandt, enttäuscht ob der „entfesselten philo74 Zu dieser Dynamik für die Universität insgesamt J. Habermas (Fn. 41), 155. 75 Vgl. auch M. Heidegger, Einführung in das akademische Studium (Nachschrift H. Marcuse), in: ders., Gesamtausgabe, Band 28: Der deutsche Idealismus, Freiburger Vorlesung 1929, hg. von C. Strube, 1997, 345, 347: „Das ganze der Wissenschaft, das echte Wissen kommt gar nicht in den Blick der Studierenden. Die Universität hat immer mehr Warenhauscharakter, in der Kenntnisse wie sonst vorhandene Gegenstände verbreitet werden. Sie ist eine Fachschule geworden. Besonders Jura und Medizin werden so betrieben, daß sie ohne Schaden von der Universität getrennt werden und als selbständige Fachschulen aufgemacht werden könnten.“ 76 Zum folgenden siehe H. Dedek, „Ideenphobie“, Idealismus, Erkenntnistheorie: Einige Anmerkungen zur Entwicklung der Theorie vom Subjektiven Recht im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: C. Peterson (Hg.), Idealistische Philosophie und die Juristen im 19. Jahrhundert, Stockholm, 2018, 33 ff. 77 R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 1922, 45.
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sophischen Spekulation (sic!)“, die „eben vornehmlich auf dem Gebiete des Rechts und des Staates die schwersten Niederlagen erlitten“78 habe. Die zum Ende des 19. Jahrhundert neu florierende und sich als solche bekennende rechtsphilosophische Textproduktion durch Juristen konnte freilich aufsetzen auf denjenigen literarischen Verstößen, die ausloten wollten, welcher Grad an theoretischer Abstraktion möglich sei innerhalb der disziplinären Vorgaben, das positive Recht nun nicht mehr in irgendeiner Form metaphysisch zu übersteigen. Es sind dies bekanntlich die sogenannten Allgemeinen Rechtslehren, die ab dem letzten Drittel des Jahrhunderts einen gleichsam zwischen Theorie im Sinne von Dogmatik einerseits und philosophischer „Spekulation“ andererseits zielenden Reflektionsraum erschließen wollten.79 Dieser Ansatz beim Technischen hat vor allem wiederum einen präemptiven Effekt: theoretische Reflektion auf dieser Basis setzt zum einen intime Kenntnis des dogmatischen Materials aus; zum anderen geht sie notwendig von disziplinintern formulierten Fragestellungen aus. In der Tat, die wichtigsten Bemühungen, der Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert neuen Auftrieb zu verschaffen, werden aus der Rechtswissenschaft heraus entworfen, indem Impulse aus der Fachphilosophie – etwa die erkenntnistheoretischen Vorstöße des Neu-Kantianismus – disziplinintern und an disziplinäre Fragestellungen angepasst, nachkonstruiert werden. „Juristenphilosophie“ hat Rottleuthner dieses Phänomen genannt: „Wir erklären das Reprisenhafte und die besondere Übersetzungsleistung der Juristenphilosophie damit, dass sie der Befriedigung eines Legitimationsbedarfs der Jurisprudenz dient, der durch Dogmatik, methodologische Erörterungen, allgemeine Rechts- und Prinzipienlehren nicht mehr gedeckt werden kann.“80 Das erklärt freilich die immer erneute Hinwendung zu philosophischen Fragen, gleichsam als Widerhall von Radbruchs „unausrottbarem philosophischem Trieb“.81 Das spezifisch „Reprisenhafte“ scheint sich demgegenüber weniger aus einem Legitimationsbedarf heraus zu erklären als vielmehr aus einer stillschweigenden Akzeptanz einer disziplinären Arbeitsteilung, die philosophische Grundlagenfragen der Fachphilosophie überlässt und sich bei der Beantwortung disziplinintern formulierter Fragestellungen an diesem Ideenarsenal bedient. Diese Herangehensweise beschreibt Stammler als die eines „philosophischen Juristen“, kontrastiert mit der des „Rechts-Philosophen“, der von einem „philosophischen Prinzip zu der konkreten Erscheinung des Rechts herunter“ steige.82 Fachphilosophisches Engagement mit Recht steht unter dem Generalverdacht, von der Kenntnis des Materials und des aus ihm erwachsenden Problemen unbeleckt, „allgemeines Räsonnement“ zu bleiben.
78 K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, Kritische Abhandlungen, Erster Band, 1892, 5. 79 Dazu etwa insbesondere A. Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie, 2004; siehe auch A. Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997. 80 H. Rottleuthner, Die Substantialisierung des Formalrechts. Zur Rolle des Neuhegelianismus in der deutschen Jurisprudenz, in: O. Negt (Hg.), Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, 1970, 211. 81 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1932, 15. 82 R. Stammler, Methode der geschichtlichen Rechtstheorie, in: R. Stammler, Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Erster Band, 1888–1913, 1925, 1, 8.
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Mechanismen von Spezialisierung, Präemption und disziplinärer Abschließung wirkten freilich in beiderlei Richtung, und waren insbesondere in der deutschen Universitätsphilosophie der zweiten Jahrhunderthälfte am Werk mit ihren Schwerpunkten in der theoretischen Philosophie und der Selbstbespiegelung in der Wissenschaftstheorie. Nur wenige hatten Interesse an transdisziplinären Fragestellungen und Gesprächen; wo es Ausnahmen gab, zeigte sich indes Misstrauen oder schlicht Desinteresse in Anbetracht der mangelnden disziplinären Legitimation als Sprecher.83 Die Kommunikation zwischen Rechtsphilosophie und Fachphilosophie blieb lange schwierig: noch seine Rezension zu Faktizität und Geltung leitete Ralf Dreier – zugleich eine eher seltene Wortmeldung eines Rechtswissenschaftlers in einer philosophischen Fachzeitschrift – mit den Worten ein: „Die Fachphilosophie meldet sich in der Rechtsphilosophie zurück.“84 Mit der nun als „Juristenphilosophie“ erblühten Rechtsphilosophie wurde demgegenüber ein zunächst als extern definiertes Fachgebiet intern als Unterdisziplin rekonstruiert: externe Vorgaben verarbeitend, jedoch in einer Weise angepasst, die den disziplinären Vorgaben von Praxisnähe und Rückbindung an das dogmatische Material entspricht – und damit absteckt, was innerhalb einer dadurch primär definierten Rechtswissenschaft als akzeptable Form von „Theorie“ gelten kann. Ähnliches vollzieht sich genauso in anderen „Grundlagenfächern“ – hier wiederholt sich in kleinerem Maßstabe ein Vorgang disziplinärer Ausdifferenzierung, mit ähnlichen Mechanismen: Etablierung von Fachjournalen, Assoziationen und Verbänden, und vor allem auch von Lehrstühlen und Instituten, die bei der Sozialisierung hinein in eine solche Spezialisierung eine stärkere Rolle spielen als etwa der Besuch besonderer Lehrveranstaltungen. So bildet sich insgesamt die für das deutsche Verständnis von akademischer Befassung mit Recht charakteristische Struktur, das diffizile institutionelle Equilibrium, das verschiedene Grade von „Praxisnähe“ und theoretischer Abstraktion intradisziplinärer Spezialisierungen widerspiegelt; und so die „scholastic situation“ definiert, in der Theorieproduktion stattfinden kann.
83 Eine solche Ausnahme war der seinerzeit angesehene Greifswalder Professor Wilhelm Schuppe, der den Ehrgeiz hatte, an dem „neu erblühenden“ rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Diskurs teilzunehmen und dabei gezielt auch durch Publikation in juristischen Zeitschriften die Auseinandersetzung mit Juristen gesucht hatte, siehe W. Schuppe, Der Begriff des Rechts, Grünhut’s Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 10 (1883), 349 ff.; ders., Die specifische Differenz im Begriffe des Rechts, Grünhut’s Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart 11 (1884), 161 ff.; ders., Der Begriff des subjektiven Rechts, 1887. Die Reaktionen auf Schuppes Schriften unter Juristen zeigte aber das Unverständnis gegenüber dessen erkenntnistheoretischen Fragestellungen, siehe ausführlich Dedek, „Ideenphobie“ (Fn. 76). 84 R. Dreier, Rechtsphilosophie und Diskurstheorie. Bemerkungen zu Habermas’ „Faktizität und Geltung“, Zeitschrift für philosophische Forschung 48 (1994), 90.
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VI. „We make not books but men“: Professionalisierung und Theorieproduktion Dass für die Wahrnehmung als „Wissenschaft“ und für die geflissentliche Selbstverständlichkeit, mit der die Juristerei zu dem Kanon der Universitätsdisziplinen gezählt wird – und damit auch, dass Rechts-„Theorie“ von Juristen an Universitäten betrieben wird – Sozialisierung und Tradition eine maßgebliche Rolle spielen, soll zum Abschluss ein ganz kursorischer Blick nach England illustrieren. Die zahlenmäßig vergleichsweise spärliche Produktion von Texten über Recht im 19. Jahrhundert, die nicht einer unmittelbar praktischen Begegnung mit Recht entspringen, steht auch damit in Verbindung, dass es einer Rechtsreflektion an der Universität fast gänzlich an Institutionalisierung gebricht. Dem englischen common law fehlt eine akademische Tradition, und damit auch weitgehend die Rahmenbedingungen für einen professionalisierten und zumindest institutionell praxisentkoppelten Diskurs über Recht und dessen „Grundlagen“. So beantwortete Maitland noch 1888, im Hinblick auf ein anderes Grundlagenfach, die Rechtsgeschichte, die selbstgestellte Frage „Why the History of English Law is not written“: „In the first place, I think we may say, because of the traditional isolation of English law from every other study, an isolation which is illustrated by the fact that it is only of late years, late years for us who have been dealing in centuries, that English law has a home in the Universities.“85
Weniger bekannt indes dürfte sein, dass nicht nur die Professionalisierung des akademischen Rechtsunterrichts, sondern auch die Professionalisierung der Hochschullehre im Deutschland des 19. Jahrhunderts überhaupt in England zunächst kein Pendant hat; und zudem, dass der „Forschungsimperativ“ als Charakteristikum der modernen Universität England erst um Jahrzehnte phasenverschoben erreicht. Zur Zeit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gibt es in England zwei Universitäten, Oxford und Cambridge. Dort sind – bis auf die Theologie – zu diesem Zeitpunkt die Professionsfakultäten bereits weitestgehend verkümmert.86 Zwar gibt es sowohl in Oxford wie in Cambridge die juristischen „Regius Professorships“ im Römischen Recht sowie seit dem 18. Jahrhundert jeweils einen Lehrstuhl für englisches Recht (seit 1758 den Vinerian Chair in Oxford und seit 1788 den Downing Chair in Cambridge).87 Dotierte Lehrstühle waren mit der Verpflichtung verbunden, Vorlesungen zu halten – die aber typischerweise in kein Curriculum integriert waren.88 Die eigentliche Lehrtätigkeit 85 F. W. Maitland, Why the History of English Law is not Written, An Inaugural Lecture, delivered in the Arts School at Cambridge on 13th. October, 1888, 1888, 10. 86 A. Engel, The English Universities and Professional Education, in: K. H. Jarausch (Hg.), The transformation of higher learning 1860–1930, expansion, diversification, social opening and professionalization in England, Germany, Russia and the United States, 1982, 293, 294. 87 H. G. Hanbury, The Vinerian Chair and Legal Education, 1958, 11 ff.; siehe auch den Überblick bei M. H. Hoeflich, The Americanization of English Legal Education, The Journal of Legal History 8 (1987), 244, 247. 88 A. Engel, Emerging concepts of the Academic Profession at Oxford 1800–1854, in: L. Stone (Hg.), The University in Society, Volume I, Oxford and Cambridge from the 14th to the Early 19th Century, 1974, 305.
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fand demgegenüber in den colleges statt und wurde dort geleistet durch „Dons“. Dons sind angehende anglikanische Geistliche, die in der Regel eine gewisse Zeit als fellow eines college zubringen, um dann eine Gemeinde zuerteilt zu erhalten. Keineswegs also sind die Dons eine Frühform akademischen Mittelbaus oder Vorläufer der modernen lecturer: ein Berufsbild des professionellen Hochschullehrers oder gar einen vorgezeichneten Pfad, eine Art akademische Laufbahn, die sich gezielt verfolgen ließe, gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht.89 Erst in den 1820er und 30er Jahren kommt es zu drei weiteren Gründungen: Durham, eine „kleine anglikanische Außenstelle“90, das University College (1826) und das King’s College in London. Die Gründung des University College war der Versuch, als moderne und säkulare Gründung, inspiriert von Benthamitischen Utilitarismus, auch konkret nützliche Unterweisung in das Curriculum zu integrieren und insbesondere auch die alten Professionsfächer Medizin und Recht in den Schoß der Hochschule zurückzuholen.91 Die insgesamt vier landesweit existierenden juristischen Professuren hatten zu dieser Zeit den Lehrbetrieb faktisch eingestellt: J. W. Geldart, Regius Professor in Cambridge, und Philip Williams, Vinerian Professor in Oxford, lasen sporadisch und mit wenig Resonanz bei den Studenten; Thomas Starkie, Downing Professor in Cambridge, und Joseph Phillimore, Regius Professor in Oxford, hielten gar keine Vorlesungen mehr.92 Die nun am University College neu begründete Professur in „Jurisprudence“ übernahm 1826 bekanntlich John Austin – der, aus Deutschland zurückgekehrt, pandektistische Ordnungsmethoden um das römische Recht kupiert hatte und auf diesem Weg zu seiner Frühform der „analytical jurisprudence“ gelangt war.93 Diese sollte später zum unangefochtenen Paradigma englischen theoretischen Rechtsdenkens aufsteigen, das dann erst wieder durch H. L. A. Hart in der Mitte des 20. Jahrhunderts weiter modifiziert wurde.94 Zu Lebzeiten aber blieben Austin bekanntlich Erfolg und Anerkennung versagt.95 Seine Vorlesungstätigkeit am University College gab er alsbald wieder enttäuscht auf, da seine Veranstaltungen so gut wie nicht besucht wurden – ohne eine Tradition von Juristenausbildung an den Universitäten und ohne jede Koordination mit dem herrschenden apprenticeship-System zur Erlernung des Juristenhandwerks gab es dazu auch wenig Anreiz. Einen Kollegenkreis professioneller „theoretischer“ Universitätsjuristen, mit denen er über seine Theorien in Austausch hätte treten können, gab es schlicht und einfach nicht, so dass sein The Province of Jurisprudence Determined 1832 weitestgehend unbeachtet blieb96 – Austins penible, aber auch recht dröge zu lesende 89 Zu Oxford: Engel, Emerging concepts (Fn. 88), 307; zu Cambridge S. Rothblatt, The Revolution of the Dons, 1968, 90 f. 90 S. Collini, What are Universities for?, 2012, 27. 91 Engel, Professional Education (Fn. 86), 295. 92 J. H. Baker, University College and Legal Education, 1826–1976, Current Legal Problems 30 (1977), 1. 93 Die zweite geschaffene Professur am UCL, in positivem englischen Recht, wurde mit Andrew Amos besetzt, Baker (Fn. 92), 2. 94 N. Duxbury, English Jurisprudence between Austin and Hart, Virginia Law Review 91 (2005), 2 ff. 95 N. Duxbury, Frederick Pollock and the English Juristic Tradition, 2004, 132. 96 Vgl. die Darstellung Sarah Austins in der Einleitung zu dem Neudruck von Austins „Province of Jurisprudence Determined“: S. Austin, Preface, in: John Austin, The Province of Jurisprudence Determined, 2. Aufl.,
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Strukturtheorie war auch kein Sujet, das in den intellektuellen Salons für Furore hätte sorgen können. Eine glücklichere Aufnahme wird erst der posthum von seiner Frau besorgten zweiten Auflage zuteil, die im Jahre 1861 erscheint97 – ein wichtiges Jahr für die englische Rechtsgeschichte, in dem auch Henry Sumner Maines Ancient Law98 publiziert wird. Zu diesem Zeitpunkt beginnt sich ein bescheidenes Interesse an einer von der konkreten Praxis distanzierten, also im weitesten Sinne theoretischen Reflektion über Recht zu regen, auch unter dem Eindruck des international sich großen Renommees erfreuenden deutschen Universitätsmodells – und der universitären Juristenausbildung als dessen fester Bestandteil.99 Weitere einzelne juristische Lehrstühle werden eingerichtet, doch eine für einen Theoriediskurs notwendige kritische Masse eines Minimums an qualifizierten Gesprächsteilnehmern gibt es zunächst immer noch nicht. Für einen „scholastic point of view“ fehlt es an einer „scholastic situation“, die mehr ist als eine wirtschaftliche Privilegierung weniger Einzelpersonen. Neben der mächtigen Rolle des Berufsstandes hat dies seine Gründe auch darin, dass sich die um die Jahrhundertmitte formierende Hochschulreformbewegung an einem praxisskeptischen Ideal der „liberal education“ ausrichtet, das, mangels entsprechender Tradition, die Juristerei nicht kompromisshaft integrieren muss, sondern sie von dem neuen Hochschulideal schlicht ausschließt. So formuliert John Stuart Mill noch 1867: „Universities are not intended to teach the knowledge to fit men for some special mode of gaining their livelihood. Their object is not to make skillful lawyers, or physicians, or engineers but capable and cultivated human beings. (…) And if you make them capable and sensible men, they will make themselves capable and sensible lawyers and physicians.“100
Dieses Idealbild von Hochschullehre, das um die Jahrhundertmitte mehr und mehr Anhänger findet und mit dem viktorianischen Konzept des „Charakters“ korrespondiert,101 weist durchaus Parallelen mit dem Verwendung des deutschen Ideal von „Bildung“ auf im Kontext der Universitätsreformdebatte: auch dort war zumindest hypothetisch das Szenario entfaltet worden, dass die umstrukturierte Universität unter Anleitung der erstarkten Philosophie junge Menschen durch sittliche Formung gleichsam mittelbar auf die Anforderungen der Praxis vorbereiten würde, während die eigentliche Berufs-
1861, S. iii, xiii ff. 97 J. Austin (Fn. 96). 98 H. S. Maine, Ancient Law, Its Connection with the Early History of Society and Its Relation to Modern Ideas, 1861. 99 Siehe die Berichte zweier Regierungskommissionen, eingerichtet angesichts des besorgniserregenden Zustandes der englischen Ausbildungsstrukturen: Select Committee on Legal Education, no. 686, 1846; Report of the Commissioners Appointed to Enquire into the Arrangements in the Inns of Court and Inns of Chancery for Promoting the Study of Law and Jurisprudence, no. 1988, 1855. Vgl. dazu Hoeflich (Fn. 87), 248 ff. 100 J. S. Mill, Inaugural Address at St. Andrews, in: F. A. Cavenagh (Hg.), James and John Stuart Mill on Education, 1931, 133 f. 101 S. Collini, The Idea of „Character“ in Victorian Political Thought, Transactions of the Royal Historical Society 35 (1985), 29, 44 ff.
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ausbildung nicht an die Universität gehöre.102 Diese Polemik spielte sich aber vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Tradition der Professionsfakultäten ab, gegen die letztlich kein erfolgreiches Anrennen war; in England waren die Vorzeichen indes umgekehrt, hier ging es um die (Wieder-)Einführung professioneller Ausbildung, gegenüber der die so artikulierte Skepsis weitaus wirksamer blieb. Ein weiterer, maßgeblicher Unterschied zwischen dem englischen Kultivierungsideal und der deutschen „Bildung“ war zudem, dass ersterem die Hervorhebung der „Forschung“ als treibendem Faktor der Persönlichkeitsbildung und damit als Leitbild forschender Wissenschaft völlig fehlt.103 Dem englischen „teaching and scholarship“, Lehre und Gelehrsamkeit, wird der Imperativ des „research“ hinzugefügt erst mit den großen strukturellen Umbrüchen, die mit den Universitätsneugründungen in den großen Industriemetropolen zum Jahrhundertende hin erfolgen, die sich wiederum am deutschen Professoralmodell orientieren.104 Erst jetzt beginnt auch die Umstellung von dem habituellen Ideal eines gelehrten „pastoralen“ Erziehers zu dem der objektiven Wissenschaft mit ihren externen Standards zur Messung wissenschaftlicher Qualität; von dem Paradigma der Erziehungsuniversität mit ihrem „Gentleman-Ideal“ zur modernen Forschungsuniversität.105 Wie lange sich dieses Gentleman-Ideal der Charakterbildung hielt, mag illustrieren, dass Henry Latham, Tutor in Cambridge, noch im Jahre 1877 (in einem Manifest zur Prüfungsreform) gegenüber dem deutschen Professorenkult insistierte: während der deutsche Student, um die Bedeutung seiner Universität unter Beweis zu stellen, die Namen der schriftstellerisch erfolgreichsten Professoren aufzähle, seien die Namen der Professoren dem englischen Studenten unbedeutend, denn: „The credit of an English University rests on the character of the students it turns out.“106 So habe Dr. Edward Pusey, Regius Professor of Hebrew in Oxford, einem nicht namentlich genannten deutschen Professor, der den Mangel an ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit und vor allem an Publikationen an englischen Universitäten kritisiert habe,107 apodiktisch entgegnet: „We make not books but men“.108 Auch Maines „Ancient Law“ fällt in diese Umbruchsphase. Zunächst umjubelt, begegnet man ihm alsbald mit großer Skepsis: Maine, ein großer Stilist, hatte argumentiert heraus aus der Autorität seiner eigenen Gelehrsamkeit, aus dem Charisma eines gelehrten gentleman. Dem zunehmenden Bedürfnis nach wissenschaftlicher Exaktheit in den 80er und 90er Jahren war dies suspekt – Maine hatte gelehrt geschrieben, aber
102 Siehe zusammenfassend Schelsky (Fn. 26), 69 f. 103 Dazu oben zu Fn. 63 ff. 104 R. Lowe, The Expansion of Higher Education in England, in: Jarausch (Fn. 86), 37, 40 ff.; Collini, Universities (Fn. 90), 24 f. Neben dem Blick auf das deutsche „Erfolgsmodell“ spielten auch der Blick auf die USA und Kanada eine wichtige Rolle. Siehe auch R. N. Soffer, Discipline and Power, The University, History, and the Making of an English Elite, 1870–1930, 1994, 10 ff. 105 vom Bruch (Fn. 25), 53. 106 H. Latham, On the Action of Examinations Considered as a Means of Selection, 1877, 458. 107 Dieser Hintergrund findet sich nicht bei Latham, sondern wird von Soffer (Fn. 104), 14 berichtet. 108 Latham (Fn. 106), 458.
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nicht wissenschaftlich.109 „Historical Jurisprudence“, so urteilt Duxbury, „unlike Analytical Jurisprudence, did not fulfill the epistemic requirements of late-Victorian university culture.“110 Wenn man nach dem Grund für die Dominanz von Austins Analytik sucht – der zumindest mangelndes Streben nach Exaktheit nicht vorzuwerfen war – so wird eine Antwort lauten müssen, dass es schlicht an alternativen, konkurrenzfähigen Theorieangeboten fehlte, die den sich herauskristallisierenden präemptiven Legitimationskriterien wissenschaftlicher Diskursbeiträge – „the criteria to recognize truth“111 – Genüge tat.112 VII. Schluss Wir gingen aus von der Prämisse, dass der „scholastic point of view“ von der „scholastic situation“, dass Theorieproduktion von ihren institutionellen Produktionsbedingungen nicht trennbar ist. „Theorie“ ist eine Form des Denkens, die eine Befreiung von „praktischen“ Zwängen und damit institutionelle Ermöglichungsstrukturen voraussetzt. Wo solche Strukturen fehlen oder fast völlig fehlen – und dies zeigt das Beispiel Englands – kann ein theoretischer Diskurs gar nicht erst entstehen, wenn eine kritische Masse potentieller der Praxissituation enthobener Teilnehmer nicht erreicht wird. Wo hingegen solche Strukturen existieren, mag zwar die Theorie ihre eigenen strukturellen Rahmenbedingungen aus dem Blick verlieren: jedoch konstituieren diese in ihrer Gesamtheit die Praxis der Theorie, indem sie durch vielerlei Weitergabe- und Selektionsmechanismen die Art der Fragestellungen, die möglichen Antworten, den Grad an „Zweckfreiheit“ habitualisieren, die in einer bestimmten institutionellen Konstellation zumindest tolerierbar erscheinen. Ist die maßgebliche Institution, die theoretische Reflektion möglich macht, die Universität, ergeben sich notgedrungen die geschilderten Zielkonflikte zwischen der Erkenntnissuche um ihrer selbst willen; und dem (zuletzt immer prononcierter hervortretenden) Ausbildungsauftrag der Universität als „Spezialschule“, der Studenten auf eine konkrete Berufspraxis vorbereiten will. Für die akademische Befassung mit Recht haben wir – natürlich nur anhand einiger Schlaglichter – anzudeuten versucht, wie deren disziplinäre Grenzen gerade im Verhältnis zur Fachphilosophie abgesteckt werden 109 So liest sich Pollocks Nachruf im Edinburgh Review streckenweise mehr als der Nekrolog auf einen durchaus wortgewaltigen schöngeistigen Schriftsteller als auf einen Wissenschaftler; Pollock formuliert hintersinnig, Maine „had no taste for the minute mechanics of scholarship“, F. Pollock, Sir Henry Maine as a Jurist, 178 Edinburgh Review (1893), 100, 106. Siehe auch Maitlands Brief an Pollock vom 21. Januar 1901, in: C. H. S. Fifoot (Hg.), The Letters of Frederic William Maitland, London, 1965, S. 222, Brief Nr. 279: „You spoke of Maine. Well, I always talk of him with reluctance, for on the few occasion on which I sought to verify his statements of fact I came to the conclusion that he trusted much to a memory that played him tricks and rarely looked back at a book that he had once read.“ 110 Duxbury (Fn. 94), 27. 111 Soffer (Fn. 104), 31; Duxbury (Fn. 94), 27. 112 Siehe auch M. Lobban, Was there a Nineteenth Century „English School of Jurisprudence“?‚ Journal of Legal History 16 (1995), 34 ff.
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und sich dabei ein Paradigma von Rechtswissenschaft entwickelt, das den – sich für das Recht in besonderer Schärfe stellenden – Zielkonflikt dadurch aufzulösen sucht, die Nützlichkeit für die Rechts-Praxis im Sinne der konkreten Rechtsanwendung zu disziplinär internalisieren: ansonsten werde das ernste Spiel zur leeren Spielerei. Der von Rottleuthner diagnostizierte unabweisliche Legitimationsbedarf, den der dogmatische mainstream nicht zu befriedigen vermag, kann disziplinintern bedient werden, indem die Grenzgänge zu anderen Disziplinen als „Grundlagenfächer“, d. h. als Subdisziplinen unter dem Dach der Rechtswissenschaft integriert und rekonstruiert werden und so zugleich deren Autarkie untermauern. Die konkreten akademischen Strukturen, die sich innerhalb dieser Vorgaben ausbilden, konstituieren die „scholastic situation“, und damit die Praxis theoretischer Reflektion über Recht. „Praktische“ Zwänge können sich mithin nicht nur aus der „Rechts-Praxis“ ergeben, sondern auch aus der Praxis und den Praktiken der „scholastic situation“ selbst. Insbesondere in Nordamerika warnt derzeit eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlern, dass eine um das Zerrbild des „leisurely academic“ besorgte Wissenschaftspolitik, mit ihrem Beharren auf „deliverables“113 und steter Beschleunigung, Denk-Spielräume gleichsam von innen heraus bedrohe: man müsse sich statt dessen auf den Wert der „contemplation“ besinnen.114 Bereits 1877 schilderte demgegenüber der uns schon bekannte Henry Latham, in seinem Vergleich von englischem und deutschen Universitätssystem, in gewissermaßen widerwilliger Anerkennung die Art und Weise, in der das deutsche Professorenmodell auch zu selbst mühseligem Forschen Anreize gebe: Die Professur sei eine Weiterführung des Studiums, des eigenen Lernens über ein Berufsleben hinweg, ermöglicht durch einen weitgehenden Schutz gegenüber allen damit unvereinbaren Verpflichtungen:115 „[T]he Professorship offers leisure for the further prosecution of study.“116 Theorieproduktion, gleich auf welcher Ebene, braucht Freiheit von Zwängen der „Praxis“ auch im schlichten Sinne von Zeit zum Nachdenken, braucht kontemplative Muße; diese Muße ist kein Müßiggang, das ernste Gedanken-Spiel keine Spielerei. Prof. Dr. Helge Dedek McGill Faculty of Law, 3674 Peel Street, Montreal, Quebec, Canada H3A 1W9
113 Siehe dazu auch Collini, Universities (Fn. 90), 120: „Not everything that counts can be counted.“ 114 Ein ganzes Literaturgenre befasst sich mit der Kritik der „corporate university“ und der „knowledge economy“; zur Einführung siehe M. Berg / B. K. Seeber, The Slow Professor, Challenging the Culture of Speed in the Academy, 2016. 115 Latham (Fn. 106), 456: „… worrysome duties that are inconsistent with study.“ 116 Latham (Fn. 106), 458.
Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie Zugleich Überlegungen zu Begriff und Gegenstand von Rechtstheorie/philosophie Anja Schmidt, Halle
I. Einführung Als Gegenstand der Rechtstheorie wird teils das positiv gesetzte Recht unabhängig von seinen konkreten Inhalten verstanden. Auf diese Weise sollen allgemeingültige Aussagen über das positive Recht als solches ermittelt werden. Wenn nun mit einer feministisch-geschlechterkritischen Rechtstheorie ein Zusammenhang zwischen der feministisch-geschlechterkritischen Betrachtung des Rechts und der Rechtstheorie hergestellt wird, scheint eine gesellschaftskritische Perspektive, die auf konkrete Lebensverhältnisse bezogen ist, eine Betrachtung des Rechts als solchen, die auf Allgemeingültigkeit gerichtet ist, unzulässig zu vereinnahmen. Dennoch verwenden feministisch-geschlechterkritische Rechtswissenschaftler_innen1 die Begriffe der Feminist Legal Theory und der feministischen Rechtstheorie.2 Eine Schwierigkeit dabei ist, dass diese Begriffe teils überhaupt für Geschlechterstudien im 1 2
Der Unterstrich oder Gender Gap bezieht nicht nur Männer und Frauen, sondern auch Geschlechter jenseits der Zweigeschlechtlichkeit wie Trans- und Intergeschlechtlichkeit ein; kurz dazu unter III.1. und 3.c. Vgl. etwa S. Baer / S. Elsuni, Feministische Rechtstheorien, in: E. Hilgendorf / J. C. Joerden (Hg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, 270–277; N. Levit / R. R. M. Verchick, Feminist Legal Theory, 2016; A. Sarat / M. Eichner / C. Huntington (Hg.), Feminist Legal Theory, 2016; M. Albertson Fineman / M. Thomson (Hg.), Exploring Masculinities. Feminist Legal Theory Reflections, 2013; M. Davies / V. E. Munro (Hg.), Feminist Legal Theory, 2013; S. Elsuni, Feministische Rechtstheorie, in: S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., 2009, 157–178; M. Albertson Fineman / J. E. Jackson / A. P. Romero (Hg.), Feminist and Queer Legal Theory, 2009; M. Chamallas, Introduction to Feminist Legal Theory, 2. Aufl., 2003; Katharina Ahrendts, Rechts-Trouble? Feministische Rechtstheorie vor neuen Herausforderungen, Freiburger FrauenStudien (1997), 49 ff.; I. Sommer, Feministische Rechtstheorie – Kein Streit um Gleichheit und Differenz, in: A. Brockmöller (Hg.), Ethische und strukturelle Herausforderungen des Rechts, 1997, 129 ff.; K. J. Maschke (Hg.), Feminist Legal Theories, 1997; F. Olsen (Hg.), Feminist Legal Theory, 1995; K. Bartlett / R. Kennedy (Hg.), Feminist Legal Theory, 1991; J. Bahr-Jendges, Grenzgänge. Der feministische Blick in Rechtstheorie und Praxis, STREIT (1990), 99 ff.
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Recht gebraucht werden: Der Begriff feministische Rechtstheorie hat sich im deutschsprachigen Raum vor allem in Anlehnung an die anglo-amerikanische Feminist Legal Theory etabliert, deren Entstehung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verorten ist. Feminist Legal Theory kann sowohl generelle Aussagen zur Regulierung von Geschlecht durch Recht und zur Prägung des Rechts durch vergeschlechtlichte Machtverhältnisse als auch die Analyse konkreter Rechtsfragen umfassen, soweit sie nicht nur rechtsdogmatisch ist. In der anglo-amerikanischen Tradition umfasst der Begriff der Legal Theory jede übergreifende, grundlegende Auseinandersetzung mit dem Recht, die von allgemeinen Fragestellungen, aber auch von Einzelfragen ausgehen kann.3 Es geht also um eine theoretisch fundierte Kritik und Reformierung der Geschlechterverhältnisse, die durch das Recht mit etabliert werden, aber auch durch das Recht verändert werden können.4 Der Forschungsbereich einer so verstandenen Feminist Legal Theory entspricht dem der feministischen Rechtswissenschaft oder der Geschlechterstudien im Recht (Legal Gender Studies).5 Geschlechterstudien im Recht haben sich inzwischen als eigenständiger Wissenschaftsbereich sachlich, personell und institutionell gefestigt und auf komplexe Weise ausdifferenziert. Sie sind ein weites und verzweigtes Feld, das viele Teilgebiete umfasst, innerhalb derer spezifische Fragen von Spezialist_innen bearbeitet werden.6 Der Begriff der Legal Gender Studies oder Geschlechterstudien im Recht wird deshalb immer mehr zum Oberbegriff für eine große Vielfalt rechtsdogmatischer, methodischer, sprachkritischer, rechtssoziologischer, machtkritischer, rechtsformkritischer, rechtshistorischer und auf die Dynamik von Rechtsentwicklungen bezogener Forschungen, die sich ebenso auf konkrete Erscheinungsformen des Rechts beziehen wie auch diesbezügliche Überlegungen verallgemeinern. Diese verallgemeinernden Überlegungen differenzieren sich als Teilbereich der Geschlechterstudien im Recht aus, indem zum Beispiel Querschnittsdebatten der Legal Gender Studies beschrieben werden, die sich in vielen Themenbereichen als zentral erweisen. Teils werden die Überlegungen der fe-
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Vgl. S. Baer, Feministische Rechtwissenschaft und juristische Ausbildung, in: U. Floßmann (Hg.), Feministische Jurisprudenz, 1995, 3 (15 f.); zur zeitlichen Verortung vgl. F. E. Olsen, Introduction, in: ders. (Hg.), Feminist Legal Theory 1, 1995, xiii, und die Erscheinungsdaten der in dem mehrbändigen Werk versammelten Beiträge. Vgl. Baer/Elsuni (Fn. 2), 271; Elsuni (Fn. 2), 157 f. Vgl. G. R. Painter, Feminist Legal Theory, in: J. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, 2. Aufl., Bd. 8, 2015, 918. Hierzu zählen etwa Levit/Verchick (Fn. 2); Davies/Munro (Hg.) (Fn. 2); Chamallas (Fn. 2); Olsen (Fn. 2); vgl. auch Baer/Elsuni (Fn. 2), 271 und Elsuni (Fn. 2), 157 f. Zur Entwicklung in Deutschland vgl. S. Baer, Entwicklung und Stand feministischer Rechtswissenschaft in Deutschland, in: B. Rudolf (Hg.), Geschlecht im Recht, 2009, 15, 16 ff. Überblickswerke der Legal Gender Studies im deutschsprachigen Raum sind: E. Greif / S. Ulrich, Legal Gender Studies und Antidiskriminierungsrecht, 2017; L. Foljanty / U. Lembke, Feministische Rechtswissenschaft. Ein Studienbuch, 2. Aufl., 2012; A. Büchler / M. Cottier, Legal Gender Studies. Eine kommentierte Quellensammlung, 2012; B. Rudolf, Geschlecht im Recht. Eine fortbestehende Herausforderung, 2009; K. Arioli u. a. (Hg.), Wandel der Geschlechterverhältnisse durch Recht?, 2008; E. Greif / E. Schobesberger, Einführung in die feministische Rechtswissenschaft. Ziele, Methoden, Theorien, 2. Aufl., 2007; E. Holzleithner, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies, 2002; Verein Pro FRI – Schweizerisches Feministisches Rechtsinstitut (Hg.), Recht, Richtung, Frauen. Beiträge zur feministischen Rechtswissenschaft, 2001.
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ministischen Rechtstheorie darauf beschränkt.7 Es ist deshalb an der Zeit zu fragen, was eine feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie im engeren Sinne als Teilbereich der Geschlechterstudien im Recht ist, und sie zu den traditionellen rechtstheoretischen Bemühungen ins Verhältnis zu setzen. Um Begriff und Gegenstand einer feministisch-geschlechterkritischen Rechtstheorie im engeren Sinne herauszuarbeiten, möchte ich mich zunächst des Begriffs und des Gegenstandes der Rechtstheorie vergewissern. Dabei werde ich unter anderem feststellen, dass Begriff und Gegenstand der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ein und derselbe ist (II.). Danach werde ich erläutern, was die feministisch-geschlechterkritische Perspektive ausmacht und mich mit dem Einwand der Perspektivität auseinander setzen. Anschließend werde ich einige Querschnittsdebatten feministischer Rechtskritik vorstellen und aufzeigen, was das eigentlich Rechtstheoretische/philosophische im Allgemeinen an ihnen ausmacht. Anhand dieser Überlegungen formuliere ich Begriff und Gegenstand feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie (III.). Des Weiteren erläutere ich, inwiefern feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie eine Theorie mittlerer Reichweite ist bzw. solche Theorien als Querschnittsdebatten der Legal Gender Studies umfasst sowie inwiefern sie ein Teilbereich der Rechtstheorie/philosophie im Allgemeinen ist (IV). Das abschließende Fazit betont die wichtigsten Erträge feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie für Rechtstheorie/philosophie im Allgemeinen (V.). II. Rechtstheorie Wer sich mit dem Begriff und Gegenstand der Rechtstheorie auseinandersetzt, stößt auf ein vielfältiges und umstrittenes Feld, obwohl der Begriff auf etwas klar Umrissenes zu verweisen scheint. Im begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes sollen die Grundlinien dieser Diskussion nachgezeichnet werden, die für die Entfaltung des Begriffs feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie relevant sein dürften. 1. Positivistische Rechtstheorien Teils wird Rechtstheorie als eine Theorie des positiven Rechts unabhängig von dessen konkretem Inhalt bestimmt. Rechtstheorie umfasst demnach generelle Aussagen über positiv gesetztes Recht als solches.8 Diese Strömung grenzt sich unter anderem 7
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Vgl. etwa A. Schmidt, Grundannahmen des Rechts in der feministischen Kritik, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 3; Elsuni (Fn. 2) thematisiert letztlich nur solche Debatten; S. Elsuni, Zur ReProduktion von Machtverhältnissen durch juridische Kategorisierungen am Beispiel „Geschlecht“, in: L. Behmenburg u. a. (Hg.), Wissenschaf(f)t Geschlecht, 2007, 133 ff.; Sommer (Fn. 2); Arendts (Fn. 2); Maschke (Fn. 2); Bartlett/Kenendy (Fn. 2). Vgl. M. Potacs, Rechtstheorie, 2015, 15 f.; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, etwa 1, 112; Vorwort der Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts 1 (1926/27), 2, 4.
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von Rechtsphilosophie als Theorie vom richtigen Recht ab.9 Solche Rechtstheorien sollen dazu dienen, das Recht zu beschreiben, wie es ist,10 genauer die Struktur positiven Rechts zu analysieren (empirische Funktion), die Voraussetzungen zu dessen Erkennbarkeit zu bestimmen (erkenntnistheoretische Funktion) und allgemeine Aussagen zur Methodik der korrekten Anwendung positiven Rechts zu gewinnen (praktische Funktion).11 Ihnen liegt eine Vorstellung vom positiven Recht zugrunde, das klar als Gegenstand für sich abgrenzbar ist, von dessen Inhalten ebenso abstrahiert werden kann wie von den ihm inhärenten normativen Maßstäben und bei dessen Betrachtung von seinem Beruhen auf gesellschaftlichen Verhältnissen und seinen Wirkungen im Sozialleben abgesehen werden kann. Mit diesem klar abgegrenzten Gegenstand, dem positiven Recht als solchem, ist der Begriff der Rechtstheorie trennscharf umrissen, etwa zur Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie hin. Jedoch ist dieser Gegenstand lediglich ein gedankliches Konstrukt – ein „positives Recht als solches“ gibt es nicht, es ist uns in der Betrachtung nicht zugänglich. Verallgemeinernd betrachten können wir immer nur konkrete, inhaltlich an bestimmten normativen Maßstäben ausgerichtete Rechtsordnungen, die aus bestimmten gesellschaftlichen Machtverhältnissen entstehen und auch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse bewirken. Rechtstheoretische Analyse, also das Aufweisen allgemeingültiger Aussagen zum Recht, ist deshalb immer nur anhand konkreter Praxisbeispiele, also anhand gegebener Rechtsordnungen, möglich.12 Recht ist auch nie inhaltsleer und rein formal. Deshalb kann nicht komplett von dessen inhaltlicher Bestimmtheit, genauer dessen Machtverwobenheit und normativer Ausrichtung, abgesehen werden. Eine theoretische Rechtsanalyse, die vollständig von derartigen inhaltsbezogenen Überlegungen rein gehalten wird, ist unvollständig. Und sie würde sich ihres machtkritischen Potentials begeben. Damit soll nicht bestritten werden, dass formale Analysen des Rechts als gesetztes Recht sinnvoll sind und dass das gedankliche Konstrukt eines „positiven Rechts als solchen“ ein hilfreiches Gedankenexperiment dafür sein kann. Sie stellen aber keine umfassende Theorie des Rechts als verallgemeinernde Betrachtung von Rechtsordnungen dar. 2. Normative Rechtstheorien Andere rechtstheoretische Strömungen stellen die strikte Grenzziehung zur Rechtsphilosophie in Frage. Der Begriff Rechtstheorie oder der Begriff Rechtsphilosophie wird dann weiter gefasst. Beispielsweise definieren Bernd Rüthers, Christian Fischer 9
Vgl. Kelsen (Fn. 8), 107 ff., er bestreitet nicht, dass Recht (un)moralisch sein kann, dies sei nur kein Gegenstand der Rechtswissenschaft, sondern der Ethik, 68–71; vgl. dazu R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie?, 1975, 8, 11, 24; Vorwort der Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts 1 (1926/27), 2 f. 10 Vgl. Potacs (Fn. 8), 18; Kelsen (Fn. 8), 112. 11 Vgl. Potacs (Fn. 8), 16 f. 12 Übertragung der Methode der paradigmatischen Praxisanalyse von T. Rentsch, Die Konstitution der Moralität, 1999, XX, 14–29, 66 f., auf die Analyse des Rechts.
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und Axel Birk Rechtstheorie als den Versuch, „allgemeine nachprüfbare Aussagen über Rechtsnormen als solche […] und ihre Wirkungsweise auf Gesellschaft und Wirtschaft zu treffen“.13 Sie sei „unverzichtbarer Teil der kritischen Selbstbesinnung von Rechtswissenschaft und Justiz“, denn Juristen müssten verstehen, was sie bewirken, wenn sie an der Setzung des Rechts mitwirken, Recht anwenden und fortbilden.14 Recht wird auch hier in einem grundlegenden Sinne zum Gegenstand der Betrachtung, denn es geht um allgemeine Aussagen zum positiven Recht, wobei ausdrücklich dessen Wirkweisen innerhalb der Gesellschaft einbezogen werden. Da es letztlich um eine kritische Selbstvergewisserung des juristischen Handelns geht, wird die praktische Funktion der Rechtstheorie zur normativen Funktion hin erweitert. Rechtstheorie umfasst demnach auch die Rechtsphilosophie als Theorie des richtigen oder gerechten Rechts15 und hat darüber hinaus eine beschreibende und eine analytische Funktion.16 Auch für andere ist die Einbeziehung normativer Aspekte in grundlegende Analysen des Rechts selbstverständlich, sie bestimmen aber das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie anders: Arthur Kaufmann geht beispielsweise davon aus, dass Rechtstheorie eine moderne Ausformung der Rechtsphilosophie mit dem Schwerpunkt formaler Analysen ist.17 Matthias Mahlmann stellt sehr kurz fest, dass beide ununterscheidbar sind.18 Dietmar von der Pfordten arbeitet heraus, dass es letztlich um Rechtsphilosophie geht, die in theoretische Philosophie des Rechts/Rechtstheorie, Rechtsethik und deskriptiv-historische Rechtsphilosophie unterteilt werden kann.19 Festhalten möchte ich an dieser Stelle, dass von der normativen Dimension des Rechts bei seiner grundlegenden Analyse nicht abgesehen werden kann. Das bedingt, dass der Gegenstand von Rechtsphilosophie und Rechtstheorie ein und derselbe ist bzw. Rechtstheorie und Rechtsphilosophie ineinander aufgehen.20 Denn Gegenstand grundlegender Analysen des Rechts kann nur das Recht als Form unserer gemeinsamen Praxis sein, die unter anderem als positives Recht in Erscheinung tritt und als menschliche Praxis normativ auf Richtigkeit oder Gerechtigkeit hin ausgerichtet ist.21 Wie bereits festgestellt kann eine auf verallgemeinernde Aussagen zum positiven Recht ausgerichtete Rechtstheorie nicht von der Normativität des Rechts abstrahieren, indem sie sich auf ein rein „positives Recht als solches“ zu beschränken versucht. Auch eine Rechtsphilosophie oder Rechtsethik darf nicht reduktionistisch betrieben werden. Sie kann nicht vom positiven Recht absehen, indem sie ein lebensfernes Ideal des gerechten Rechts beschreibt, das letztlich doch der realen Welt verhaftet bleibt. Recht ist ein Gesamt13 14 15 16 17 18 19 20 21
B. Rüthers / C. Fischer / A. Birk, Rechtstheorie, 10. Aufl., 2018, Rn. 20. Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 13), Rn. 27 Vgl. Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 13), Rn. 26, 27. Vgl. Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 13), Rn. 21, 24, 25. Vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, in: W. Hassemer / U. Neumann / F. Saliger (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 9. Aufl., 2016, 7 ff. Vgl. M. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 4. Aufl., 2017, Einleitung Rn. 7. Vgl. von der Pfordten in diesem Band unter III.3. und in Rechtsethik, 2. Aufl., 2011, 25. Fraglich ist letztlich nur, ob Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie die richtige Bezeichnung ist, vgl. dazu unten unter II. 4. Vgl. A. Schmidt, Strafe und Versöhnung, 2011, 86 f.
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phänomen, das uns in umfassender Betrachtung nur so wie es ist zugänglich ist – in seiner Positivität, in seiner normativen Ausrichtung und in seiner Machtverwobenheit.22 Rechtsphilosophie und Rechtstheorie sind deshalb als grundlegende Betrachtungen des Rechts tatsächlich ununterscheidbar, auch wenn zwischen eher formalen, eher beschreibenden und eher normativen Analysen unterschieden werden kann. 3. Neue Rechtstheorien Bei der allgemeinen Kennzeichnung der Rechtstheorie durch Rüthers/Fischer/Birk klingt bereits an, dass es auch um die sozialen Wirkungen des Rechts geht.23 Die Herausgeber_innen des Sammelbandes „Neue Theorien des Rechts“24, Sonja Buckel, Ralph Christensen und Andreas Fischer-Lescano, spitzen dies zu einer grundlegenden Betrachtung des Rechts als eines Gesamtphänomens zu, das als soziale Praxis selbst komplex und mit anderen sozialen Praxen verknüpft ist: Die traditionelle Einteilung in Rechtsphilosophie, Rechtsmethodik und Rechtstheorie passt ihnen zufolge nicht, denn neuere Theorien des Rechts haben „ein Recht zum Ausgangspunkt, das in gesellschaftliche Verhältnisse verwoben ist und dessen Strukturen sich in ständiger Wechselbeziehung zu seinen sozialen Umwelten entwickeln, stabilisieren und rekonfigurieren.“25 Die sich dem Recht stellenden Fragen könnten nicht mehr allein durch traditionelle Rechtskonzeptionen bewältigt werden, weil sie aufgrund eines starken soziokulturellen Wandels, der mit einer Ausdifferenzierung und Globalisierung des Rechts einhergeht, äußerst komplex geworden sind.26 Das Recht sei eine dynamische Struktur, die durch eine Multitude von Akteuren, Apparaten und Systemen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um dessen Bedeutung geprägt werde.27 Recht könne dann nicht als hierarchisches System gedacht werden, das von oben nach unten, also von der Idee der Gerechtigkeit über die Methodenlehre bis hinunter zur Anwendung des Rechts auf den einzelnen Fall durch Dogmatiker reiche.28 Recht wird von diesen Positionen als Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe, Auseinandersetzungen und Entwicklungen begriffen, denen das Ringen um Gerechtigkeit und pragmatische Problemlösungen innewohnt und kann insofern nicht lediglich als 22 Eine Basis dieser Überlegungen ist die holistische Konzeption Thomas Rentschs, wonach wir nur in dieser einen Welt leben, arbeiten und nach dem Sinn unseres Tuns fragen und nicht von außen auf sie mit idealen Maßstäben blicken können (vgl. ders., Die Konstitution der Moralität, 1999, 62 f., 172), in der wir aber auch nicht von der Normativität absehen können (aaO., XVI, 104 f., 231). 23 Im Fortgang beziehen sie auch Analysen zum Recht als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse ein, vgl. z.B. Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 13), § 14 zum Thema Klasse und Recht. 24 S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., 2009. 25 S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano, Einleitung, in: S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., 2009, XI. 26 Vgl. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 25), XII f. Zu den damit angesprochenen Herausforderungen der Internationalisierung des Rechts vgl. etwa L. Viellechner, Responsiver Rechtspluralismus, Der Staat (2012), 559–580. 27 Vgl. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 25), XIII. 28 Vgl. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 25), XIII.
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positiv gesetztes Recht, schon gar nicht als positiv gesetztes Recht als solches, betrachtet werden. Zudem wird es auch in der Rechtsanwendung nicht als reine Setzung eins zu eins umgesetzt, es formt sich vielmehr in den Auseinandersetzungen um seine Anwendung in der Rechtspraxis, in der Rechtswissenschaft und durch rechtspolitische Kampagnen immer wieder neu. Recht erscheint als eine von unterschiedlichen Akteur_innen geprägte Gesamtheit, für deren Betrachtung unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund gerückt werden können, ohne dass diese „als solche“ für eine Analyse der Erscheinungs-, Funktions- und Wirkweisen des Rechts als Praxisform vollständig isoliert werden können. Rechtstheorie thront dann tatsächlich nicht über der Praxis.29 Vielmehr ist sie in ihrer kritischen Funktion selbst Teil der Gesamtheit rechtlicher Praxen, wird durch konkrete Rechtsfragen und gesellschaftliche Auswirkungen des Rechts inspiriert und gibt Impulse zurück an die Rechtspraxis. Es gibt keine Theorie ohne eine konkrete Praxis, die theoretisiert werden kann, und keine konkrete Praxis ohne Theorie, da diese immer kritisch reflektiert wird und zu reflektieren ist.30 Es trifft auch zu, dass das Recht grundlegend als soziale Praxis zu thematisieren ist, also als eine Praxis die sowohl Ausdruck eines gesellschaftlichen Machtgefüges ist, wie sie auch auf die Gesellschaft wirkt. Denn Recht ist uns nie jenseits konkreter sozialer Machtgefüge zugänglich, davon kann genauso wenig abstrahiert werden wie von seiner Normativität. Damit sind auch zwei Aspekte einer Überschneidung zur Rechtssoziologie festgestellt: Zum einen geht es auch um die Machtverwobenheit des Rechts, die sich letztlich nur an konkreten Machtverhältnissen und ihrem rechtlichen Ausdruck sowie konkreten Auswirkungen des Rechts erweisen lässt. Zum anderen wird das Recht in umfassender Betrachtung auch als etwas sozial Praktiziertes einbezogen, das mehr ist als seine gesetzte Positivität. 4. Begriff und Gegenstand der Rechtstheorie/philosophie Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rechtstheorie/philosophie Recht als eine Form menschlicher Praxis analysiert, um generelle Aussagen über das Recht in seiner Vielfalt und Komplexität in kritischer Absicht zu gewinnen. Recht kann dabei nicht lediglich formal als positives Recht als solches betrachtet werden, weil es praktisch nicht als solches in Erscheinung tritt. Ihm ist vielmehr auch die Ausrichtung auf Richtigkeit oder Gerechtigkeit inhärent und es ist komplex in soziale Machtverhältnisse eingewoben, wobei seine konkreten Ausformungen durch eine Vielzahl von Akteur_innen bestimmt werden. Letztlich lassen sich innerhalb der Rechtstheorie/philosophie eher formale, eher beschreibende und eher normative Analysen, die die Machtverwobenheit des Rechts einbeziehen, unterscheiden. Eine strikte Trennung ist für eine grundlegende Betrachtung des Rechts aber nicht möglich.
29 So Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 25), IX. 30 Vgl. Rentsch (Fn. 22), VIII f.
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Die Frage bleibt, was die zutreffende Oberbezeichnung ist. Für die Rechtsphilosophie als den passenden Oberbegriff für grundlegende, umfassende theoretische und praktische Überlegungen zum Recht spricht, dass die Philosophie eine „gemeinsame, umfassende Klärungsbemühung hinsichtlich unseres gesamten theoretischen und praktischen Weltverständnisses und der dieses Verständnis tragenden begrifflichen Unterscheidungen“ ist.31 Demgegenüber liegt gerade positivistischen Rechtstheorien ein unzulässig reduktionistisches Verständnis von Recht oder Wirklichkeit zugrunde. Für die Verwendung des Begriffs der Rechtstheorie spricht aber, dass er nicht nur reduktionistisch gebraucht wird, etwa von Rüthers/Fischer/Birk und Buckel/Christensen/ Fischer-Lescano. Hinzu kommt, dass hier auch grundlegende Bezüge zur Wirklichkeit und Wirkmacht des Rechts eher verdeutlicht werden und so einem lebensfernen Idealismus normativer Analysen des Rechts vorgebeugt wird. Die Begriffe der Rechtstheorie und Rechtsphilosophie haben insofern beide ihre Berechtigung, umfassende grundlegende Analysen zum Recht unserer Lebenswirklichkeit zu bezeichnen. Sie dürfen nur nicht reduktionistisch oder idealistisch überhöht verstanden werden.32 III. Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie Ich komme nun zu dem, was eine feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie in einem engeren Sinne ausmacht. Zunächst möchte ich erläutern, was mit feministisch-geschlechterkritisch gemeint ist und warum eine solche perspektivische Ausrichtung dem Anspruch verallgemeinernden Theoretisierens nicht im Wege steht. Danach werde ich Querschnittsdebatten der Legal Gender Studies auf ihre allgemeinen rechtstheoretischen/philosophischen Implikationen Sinne befragen. Abschließend führe ich die dargestellten Überlegungen zu einer Kennzeichnung von Begriff und Gegenstand der feministisch-geschlechterkritischen Rechtstheorie zusammen. 1. Feministisch-geschlechterkritische Perspektive Als feministisch lassen sich Perspektiven verstehen, die sich in der Tradition der Frauenbewegungen für die Gleichstellung von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen, auf sozialer, kultureller, rechtlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene einsetzen.33 Historischer Ausgangspunkt ist die gesellschaftliche Marginalisierung von Frauen im öffentlichen Bereich und deren Unterordnung unter Männer, vor allem Ehemänner und Väter, im privaten Bereich, die auf der Annahme der Unmündigkeit von Frauen beruh-
31 Rentsch (Fn. 22), II.; vgl. von der Pfordten in diesem Band unter III. 3. 32 Vgl. auch Dreier (Fn. 9), 27 f. 33 M. Dehnavi, Frauenbewegungen in Deutschland, Gender-Glossar, 2016, http://gender-glossar.de/ item/53-frauenbewegungen-in-deutschland, [1] (letzter Zugriff 29.03.2017).
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te.34 Den Begriff „feministisch“ darüber hinaus zu fassen, fällt schwer, denn den Feminismus gibt es nicht. Es haben sich vielmehr unterschiedliche politische Zielsetzungen und Strategien sowie Theorielager herausgebildet, um die Marginalisierung von Frauen zu thematisieren und dagegen anzugehen.35 Die Öffnung hin zum Begriff der Geschlechterkritik hat zwei Gründe: – Wer die Marginalisierung und Unterordnung von Frauen zum Gegenstand macht, muss sich auch mit der Vormachtstellung von Männern auseinandersetzen. Denn die Subjekte Frau und Mann und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Positionen sind aufeinander bezogen konstruiert.36 Die Kritik an der gesellschaftlichen Stellung von Frauen muss daher auch eine Kritik der gesellschaftlichen Stellung von Männern und Vorstellungen von Männlichkeit37 umfassen. Dabei ist an der Diskussion um Väterrechte beispielhaft zu sehen, dass auch geschlechterstereotype Männlichkeit nicht nur vorteilhaft ist, also Männer hinsichtlich von Fürsorgetätigkeiten benachteiligen kann. Die Kritik der Subjekte Frau und Mann setzt sich zudem in eine kritische Analyse der sozialen Prozesse von Subjektivierung fort.38 – Dies betrifft auch die Konstitution der Subjekte als geschlechtliche Subjekte. Es wird davon ausgegangen, dass die herkömmliche Unterscheidung von Männern und Frauen weitgehend gesellschaftspolitisch und keineswegs allein durch die Natur bedingt sowie eng mit der Norm der Heterosexualität verknüpft ist. Geschlecht wird in seinen sozialen und biologischen Bezügen als sozial konstruiert betrachtet, also als Aspekt der gesellschaftlichen Formung von Subjektivität. Damit werden auch die Bipolarität des herkömmlichen Verständnisses von Geschlecht und die Norm der Heterosexualität in Frage gestellt und die gleiche rechtliche Anerkennung für trans- und intergeschlechtliche Personen und nicht heterosexuelle Lebensweisen gefordert.39 34 Vgl. nur R. Nave-Herz, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, 1997, 11 ff., näher erläutert wird dies gleich unter III. 3. a. 35 Einen Überblick geben A. Künzel, Feministische Theorien und Debatten, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 2; und Dehnavi (Fn. 33). 36 Teils wird dieses Konstrukt als komplementärer Gegensatz gefasst, so etwa K. Hausen, Die Polarisierung der Geschlechtercharaktere, in: W. Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, 1976, 363 (insb. 377–381); teils wird es als Generalisierung des Mannes zum Menschen, von dem die Frau als die Andere abgesondert wird, beschrieben, vgl. C. Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, 2. Aufl., 1992, u. a. 6–9; S. de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 1951, u. a. 11–21, insb. 12. 37 Vgl. zur Männlichkeitsforschung etwa S. Horlacher / B. Jansen / W. Schwanebeck (Hg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, 2016, mit einer Darstellung zum Stand der Männlichkeitsforschung in der Rechtswissenschaft (R. Collier, Rechtswissenschaft, aaO., 193–203); R. Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. Aufl., 2015; M. Albertson Fineman / M. Thomson, Exploring Masculinities. Feminist Legal Theory Reflections, 2013; M. Meuser, Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, 3. Aufl., 2010. 38 Generell dazu H. Meißner, Jenseits des autonomen Subjekts, 2010; J. Butler, Kontingente Grundlagen; Der Feminismus und die Frage der Postmoderne, in: S. Benhabib u. a. (Hg.), Der Streit um Differenz, 1993, 31 (40–51). 39 Generell zu den Queer Studies etwa S. Hark, Queer Studies, in: C. von Braun / I. Stephan (Hg.), Gender@Wissen, 3. Aufl., 2013, 449–470; einen Überblick zur Rechtslage gibt A. Schmidt, Geschlecht, Sexualität und Lebensweisen, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 10; zur Konstruktion von Geschlecht durch Recht vgl. unten unter III. 3. c.
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Mit feministisch-geschlechterkritisch bezeichne ich also eine Kritik der Geschlechterverhältnisse insgesamt, die vom Feminismus her kommt, also emanzipatorisch auf Geschlechtergerechtigkeit bzw. gegen geschlechtsbezogene Diskriminierung gerichtet ist. Dem entspricht die Begriffsverschiebung von der feministischen Rechtswissenschaft hin zu den Legal Gender Studies oder Geschlechterstudien im Recht.40 Hinzu kommt, dass Geschlechterstudien im Recht nicht nur geschlechtsbezogene (sexistische) Diskriminierung thematisieren, sondern auch andere Formen, zum Beispiel rassistische oder ableistische (auf körperliche oder andere Beeinträchtigungen bezogene)41 Diskriminierungen. Ein Grund dafür ist, dass sich Parallelen der, auch rechtlichen, Diskriminierungsmechanismen und der Potentiale rechtlichen Vorgehens dagegen aufweisen lassen. Ein weiterer, wichtiger Grund ist, dass Diskriminierung mehrdimensional sein, also Personen auf so spezifische Weise betreffen kann, dass sie keine bloße Addition unterschiedlicher Diskriminierungen ist und in ihrer Komplexität verstanden werden muss.42 Dies wird unter den Stichworten Intersektionalität/Interdependenz diskutiert.43 2. Einwand der Perspektivität? Ertrag der Perspektivität! Ein Einwand gegen feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie könnte sein, dass sie von Standpunkten aus argumentiert, die sexistische Diskriminierungen aufdecken und beseitigen wollen, also subjektiv und parteilich zu sein scheinen. Dem ist entgegenzuhalten, dass es eine wirklich objektiv-allgemeine Theorie nicht gibt, sie wäre ein lebensfremdes Ideal. Theoretisiert wird immer im Bemühen um Allgemeinheit, im intersubjektiven Zusammenhang und von einem historisch-kulturell situierten spezifischen Standpunkt aus, der zudem durch eine persönliche Entwicklungsgeschichte und eine konkrete Positionierung innerhalb der Gesellschaft geprägt ist. Den Standpunkt des_r 40 Vgl. E. Holzleithner, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies, 2002, 22; Autor_innenkollektiv, Einleitung, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, Rn. 6; Büchler/ Cottier (Fn. 6), Legal Gender Studies, 2012, 13 ff. 41 Mit der Formulierung „rassistische, sexistische usw. Diskriminierung“ wird deutlich gemacht, dass Diskriminierung eine Zuschreibung zu einer Person oder Personen ist, die diese erst mit bestimmten Merkmalen markiert, vgl. D. Liebscher u. a., Wege aus der Essentialismusfalle, KJ (2012), 204, 212 ff. 42 Beispielsweise kann ein Kopftuchverbot nicht nur religiös diskriminieren, sondern auch sexistisch, rassistisch und klassistisch, vgl. dazu m. w. N. Doris Liebscher, Erwerbsarbeit – abhängige Beschäftigung in der außerhäuslichen Sphäre, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2012, § 7 Rn. 17 f. 43 Instruktiv dazu K. Walgenbach, Intersektionalität – eine Einführung, 2012, http://portal-intersektionalitaet. de/theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/ (letzter Zugriff: 29.03.2017); wegweisend im rechtlichen Zusammenhang Kimberlé Crenshaw, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex, in: K. T. Bartlett / R. Kennedy (Hg.), Feminist Legal Theory, 1991, 57 ff., vgl. zudem A. K. Mangold, Mehrdimensionale Diskriminierung – Potentiale eines materialen Gleichheitsverständnisses, RphZ (2016), 152–168; U. Lembke / D. Liebscher, Postkategoriales Antidiskriminierungsrecht? – Oder: Wie kommen Konzepte von Intersektionalität in die Rechtsdogmatik?, in: S. Philipp u. a. (Hg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 2014, 261 ff.; N. Markard, Die andere Frage stellen: Intersektionalität als Analysekategorie im Recht, KJ (2009), 353–364.
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von außen blickenden rein objektiven Beobachters_in gibt es nicht.44 Feministische Theorie hat insofern einen männlichen und naturalisierenden Blickwinkel der traditionellen auf Objektivität und Allgemeinheit ausgerichteten westlichen Wissenschaft aufgedeckt.45 Auch eine Rechtstheorie kann nicht vollkommen neutral und allgemein sein. Zwar scheinen positivistische Rechtstheorien das Recht besonders objektiv (unabhängig von historisch-kulturell situierten Bewertungen) beschreiben zu können, da sie versuchen, moralische Wertungen auszusparen.46 Eine reine Objektivität gibt es aber auch bei der theoretischen Betrachtung des Rechts nicht,47 weil auch hier die theoretisierenden Personen ein spezifisches Erkenntnisinteresse in einem konkreten kulturell-historischen Zusammenhang rechtlicher und wissenschaftlicher Praxen haben. Hinzu kommt, dass sich das Recht als normative Praxis auch grundlegend nur als etwas inhaltlich Bestimmtes und normativ Ausgerichtetes und nicht „moralisch neutral“ analysieren lässt, weil Recht, wie bereits festgestellt, nie inhaltsleer oder rein formal ist.48 Der jeweilige Standpunkt der theoretisierenden Person und ihr Erkenntnisinteresse können also nicht durch eine Fiktion der Objektivität hintergangen werden, sie können und sollten aber transparent gehalten und möglichst produktiv gemacht werden. Feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie ist es insoweit gelungen, die Perspektivität des Rechts von einer Kritik der Geschlechterverhältnisse her und die Rolle des Rechts bei der Etablierung von Geschlechterverhältnissen aufzudecken, auch wenn dieses am Ideal des von konkreten Lebensverhältnissen abstrahierten, allgemein gedachten freien Subjekts orientiert ist.49 Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie vermag die allgemeine Betrachtung des Rechts gerade zu bereichern, indem sie aufdeckt, wie Recht diskriminieren kann, das an einem als allgemein gedachten Rechtssubjekt ausgerichtet ist. Die bewusste Einbeziehung von Perspektiven ermöglicht damit erst eine umfassendere, auf Allgemeinheit ausgerichtete Betrachtung des Rechts. Dies wird im Folgenden bei der Erläuterung einiger Querschnittsdebatten der Geschlechterstudien im Recht noch deutlicher werden. 3. Querschnittsdebatten der Geschlechterstudien im Recht Nun werde ich einige Querschnittsdebatten der Geschlechterstudien im Recht erläutern, und zwar die Frage nach dem Recht als Mittel patriarchalischer Herrschaft, die Debatte um Gleichheit, Differenz und Dominanz bezogen auf das Recht und die Konst44 Zur Perspektivität/Situiertheit jeder Praxis, auch der des Theoretisierens, vgl. Rentsch (Fn. 22), V f., 63–72. 45 Hierzu m. w. N. etwa E. Greif / E. Schobesberger (Fn. 6), 109 ff.; L. Behmenburg u. a., Einleitung, in: L. Behmenburg (Hg.), Wissenschaf(f)t Geschlecht, 2007, 11 ff.; S. Harding, Das Geschlecht des Wissens, 1994, insb. 155 ff. 46 Vgl. oben unter II. 1. 47 Zur Situiertheit der Rechtstheorie vgl. K.-L. Kunz, Rechtstheorie – Regionale allgemeine Wissenschaftstheorie oder Erkenntnistheorie des Rechts?, in: A. Kaufmann (Hg.), Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, 1971, 19, 23 f. 48 Vgl. oben unter II. 1. 49 Näher unten unter III. 3. b.
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ruktion von Geschlecht durch Recht.50 Dabei werde ich aufzuzeigen, inwiefern sie Recht in einem generellen Sinne thematisieren und was sie zu einem umfassenden Rechtsverständnis beitragen, also inwiefern sie rechtstheoretisch oder -philosophisch sind. a) Recht als Mittel zur Herstellung einer geschlechtergerechten Gesellschaftsordnung? Teilweise wurde die Frage diskutiert, ob Recht ein typisch männliches oder patriarchalisches Herrschaftsmittel ist, das lediglich dazu dienen kann, männliche Vorherrschaft abzusichern.51 Ausgangspunkt ist der Befund, dass Recht Ausdruck der bestehenden vergeschlechtlichten Machtverhältnisse ist und diese verfestigt.52 Rechtshistorisch lässt sich dies ohne Weiteres belegen.53 So waren Frauen lange von der Teilhabe am öffentlichen Bereich ausgeschlossen, ihnen wurde der private Bereich zugewiesen, wobei das Familienoberhaupt der Ehemann war. Beispielsweise wurde das aktive und passive Wahlrecht für Frauen in Deutschland und Österreich erst 1918, in der Schweiz noch später, 1971, eingeführt. Gemäß § 1354 BGB 190054 stand dem Ehemann das Alleinentscheidungsrecht in allen ehelichen Angelegenheiten zu, nach § 1356 I war die Ehefrau berechtigt und verpflichtet, das gemeinschaftliche Hauswesen zu leiten, der Ehemann konnte gemäß § 1358 I mit Ermächtigung des Vormundschaftsgerichtes das Dienstverhältnis der Ehefrau kündigen, wenn hierdurch die ehelichen Interessen beeinträchtigt waren, und schließlich stand nach § 1627 die elterliche Gewalt über eheliche Kinder dem Vater zu.55 Doch auch in einem liberalen Rechtsstaat, in dem Männern und Frauen formal gleiche Rechte zukommen, wie es in Art. 3 II 1 GG verbürgt ist, können vergeschlechtlichte Machtverhältnisse durch Recht gestützt werden, insbesondere dann, wenn Frauen die Rechte eingeräumt werden, die Männern zustehen. Denn dieses Recht ist an typisch männlichen Lebensweisen56 ausgerichtet, so dass Frauen bzw. Personen, die eine weib50 Daneben gibt es zum Beispiel grundlegende Analysen zu mehrdimensionaler Diskriminierung (vgl. dazu Nachweise in Fn. 43), zur Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre durch Recht (vgl. etwa Baer/ Elsuni (Fn. 2), 270, 274 f.; Schmidt (Fn. 7), Rn. 15–17) und das Explizieren von Methoden feministisch-geschlechterkritischer Rechtskritik (vgl. dazu Greif/Schobesberger (Fn. 6), 124–149; K. Bartlett, Feminist Legal Methods, Harvard Law Review (1990), 829–888). 51 Vgl. M. Bode, Demokratieverständnis und Entscheidungsfindung von Frauen, Streit (1996), 9–14. Einen Überblick hierzu und zu kritischen Ansätzen geben E. Kocher, Geschlechterdifferenz und Staat, KJ (1999), 182, 190 ff.; F. Olsen, Das Geschlecht des Rechts, KJ (1990), 303, 312 f. 52 Vgl. etwa C. A. MacKinnon, Toward a Feminist Theory of the State, 1989, 237–240, allerdings mit der Forderung nach Rechten für substantielle Gleichheit, also nicht nur nach abstrakt bzw. formal gleichen Rechten, 247 ff. 53 Einen Überblick geben zum Beispiel F. Wapler, Frauen in der Geschichte des Rechts, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 1; U. Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997. 54 Vom 18. August 1896, Reichsgesetzblatt 1896, 195. 55 Vgl. dazu etwa D. Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: U. Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, 1997, 790 ff. 56 Dieser Ausdruck verweist auf Geschlechterrollen, also darauf, dass Männer und Frauen nicht qua Natur bestimmte Eigenschaften haben und damit zwingend für bestimmte gesellschaftliche Positionen prädesti-
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liche Geschlechtsrolle leben, materiell-faktisch nicht gleichgestellt sind, soweit sie nicht in der vom Recht implizit bevorzugten typisch männlichen Lebensweise agieren.57 Den Standpunkten, die Recht als Mittel einer gerechten Gesellschaftsordnung ablehnen, stehen Positionen gegenüber, die für eine Inanspruchnahme des Rechts als emanzipatorisches Mittel oder, anders ausgedrückt, als Mittel der tatsächlichen Gleichstellung von Personen, unabhängig von ihrem Geschlecht, der sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft, ihrer Religion usw. eintreten.58 Denn, wie Elisabeth Holzleithner formuliert: „Ein Recht zu haben ist Ausdruck einer fundamentalen Form der Anerkennung. Wer Rechte hat, zählt.“59 Recht kann dabei auf unterschiedliche Weise wirksam gemacht werden: Zum Beispiel können formal gleiche Rechte zuerkannt und Diskriminierung durch den Staat wie Private verboten werden, Beispiele hierfür sind Art. 3 II 1, III GG und das Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz60. Ergänzt werden können diese Regelungen durch Gebote zur Förderung tatsächlicher Gleichstellung wie Art. 3 II 2 GG, die durch die einfachgesetzliche Förderung benachteiligter Gruppen umgesetzt werden können, ein Beispiel hierfür ist das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst61.62 Teils wird auch für gleichwertige geschlechtsspezifische Rechte gestritten, um den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten von Männern und Frauen gerecht zu werden.63 Rechtsphilosophisch oder rechtstheoretisch wird mit dieser Kontroverse der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Recht thematisiert. Einerseits wird Recht auf ein Mittel patriarchalischer Herrschaft, also auf eine bestimmte ideologische Ausrichtung, reduziert. Ihm kann dann nicht generell die Funktion zugesprochen werden, ein adäquates Mittel zur Herstellung gesellschaftlicher Ordnungen zu sein. Andererseits wird das Potential des Rechts zur Herstellung einer geschlechtergerechten Rechts- und Gesellschaftsordnung herausgearbeitet, indem es als grundlegende Form der gleichen Anerkennung von Personen akzeptiert und auf seiner Ausrichtung auf Gerechtigkeit beharrt wird. Beide Positionen bestätigen, dass Recht generalisiert nicht unabhängig von seiner Normativität gedacht werden kann und darf. Zudem rückt die Machtverwobenheit des Rechts in den Blick, indem es als Ausdruck gesellschaftlicher männlicher Hegemonie aufgewiesen wird und auf seine Wirkungen auf geschlechtliche Machtverhältnisse hin-
niert sind. Geschlechterrollen entstehen in sozialen Prozessen, die Geschlecht weitgehend naturalisieren. 57 Ein Beispiel dazu wird unter III. 3. b. erläutert. 58 Vgl. etwa E. Holzleithner, Emanzipation durch Recht?, KJ (2008), 250, 256; Elsuni (Fn. 7), 138 ff.; L. Irigaray, Über die Notwendigkeit geschlechtsdifferenzierender Rechte, in: U. Gerhard u. a. (Hg.), Differenz und Gleichheit, 1990, 338 ff.; letztlich impliziert dies jede feministisch-geschlechterkritische Position, die für Veränderungen durch Recht argumentiert. 59 Holzleithner (Fn. 59), 256. 60 Vom 14. August 2006, BGBl. I S. 1897, zuletzt geändert durch Artikel 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610). 61 Vom 24. April 2015, BGBl. I S. 642, geändert durch Artikel 11 Absatz 1 des Gesetzes vom 11. April 2017, BGBl. I S. 802. 62 Vgl. Holzleithner (Fn. 59), 251 f. 63 Vgl. etwa Irigaray (Fn. 58), 338 ff.
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gewiesen wird. Auch dies ist ein allgemeines Merkmal von Rechtsordnungen, so dass es sich um eine rechtstheoretische/philosophische Kennzeichnung handelt. Mit der Beschreibung von Weisen, wie durch Recht geschlechtergerechte Verhältnisse hergestellt oder gefördert werden können, werden zudem generalisierte Aussagen dazu getroffen, wie Recht die formal gleiche Anerkennung von Personen herstellen, deren faktische Gleichstellung fördern und zum Beseitigen von Diskriminierungen beitragen kann. Dies verweist über sexistische, geschlechtsbezogene, Diskriminierungen hinaus, auf sämtliche Formen von gesellschaftlicher Diskriminierung, ist also auch ein rechtstheoretisches Thema. b) Gleichheit, Differenz und Dominanz Eng im Zusammenhang mit dieser Kontroverse steht die feministische Debatte um Gleichheit, Differenz und Dominanz im und durch Recht. Feministische Kritiker_innen des Rechts monierten und monieren immer wieder die Marginalisierung von Frauen und frauentypischer, insbesondere auf Fürsorge bezogener, Lebensweisen durch Recht. Dabei ist umstritten, wie dieser Marginalisierung begegnet werden kann:64 Die einen treten dafür ein, die Verschiedenheit von Männern und Frauen anzuerkennen und fordern geschlechtsspezifische gleichwertige Rechte65 oder sogar eine alternative nicht rechtliche gesellschaftliche Ordnung66. Andere haben um den Männern gleiche Rechte gekämpft.67 Wieder andere halten die Entgegensetzung von Gleichheit und Differenz für falsch.68 An Gleichheitspositionen wurde kritisiert, dass die Einräumung von Rechten, die denen der Männer gleich sind, nicht genügt, denn auch ein geschlechtsneutral formuliertes Recht regelt nicht geschlechtergerecht, wenn es sich implizit an traditionell männlichen Lebensweisen orientiert, die am Ideal unabhängiger Autonomie bzw. bürgerlicher Selbstständigkeit ausgerichtet sind. Ein Beispiel hierfür ist das Rentenrecht, das an der fiktiven Maßstabsfigur des sogenannten Eckrentners orientiert ist, der eine lebensstandardsichernde Altersrente erreichen soll. Diese Maßstabsfigur hat 45 Jahre Vollzeit gearbeitet und immer durchschnittlich verdient. Bevorzugt wird also eine ty64 Einen Überblick geben bspw. Büchler/Cottier (Fn. 6), 240 ff.; Schmidt (Fn. 7), Rn. 8 ff.; Elsuni (Fn. 2), 160 ff.; E. Holzleithner, Recht Macht Geschlecht, 2002, 23 ff.; A. Maihofer, Gleichheit und/oder Differenz? Zum Verlauf einer Debatte, in: E. Kreisky / B. Sauer (Hg.), Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation, 1997, 155 ff.; Gerhard (Fn. 64). 65 Zum Beispiel Irigaray (Fn. 58); A. Cavarero, Die Perspektive der Geschlechterdifferenz, in: U. Gerhard u. a. (Hg.), Differenz und Gleichheit, 1997, 95, 108 f. 66 Vgl. Bode (Fn. 51). 67 Klassisch: Olympe de Gouges, Art. 1 der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, 1791, in: H. Schröder (Hg.), Olympe de Gouges – Mensch und Bürgerin, 1995, 107; zum Kampf um Art. 3 II 1 GG vgl. m.w.N. M. Wrase / A. Klose, Gleichheit unter dem Grundgesetz, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 4 Rn. 1. 68 Vgl. A. Prengel, Gleichheit versus Differenz – eine falsche Alternative im feministischen Diskurs, in: U. Gerhard u. a. (Hg.), Differenz und Gleichheit, 1997, 120 ff.
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pisch männliche Lebensweise, in deren Erwerbsbiographie Unterbrechungen und Teilzeittätigkeit durch Schwangerschaft, Geburt und Elternzeiten keine Rolle spielen. Zwar werden inzwischen Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung berücksichtigt, allerdings führt dies nicht zu einer vollständigen Gleichstellung von Personen mit einer durch eine weibliche Lebensweise geprägten Erwerbsbiographie.69 Damit wurde das Objektivitäts- bzw. Neutralitätsideal des Rechts grundlegend in Frage gestellt. Es wurde gezeigt, dass auch ein vorgeblich gerechtes, objektives und neutrales Recht, dass von der abstrakt-allgmeinen Maßstabsfigur des freien Subjekts ausgeht, an konkrete Lebensweisen zurückgebunden bleibt und diese verdeckt bevorzugt oder benachteiligt.70 In den westlichen Rechtskreisen kann diese Maßstabsfigur als der weiße, heterosexuelle, gebildete, gesunde und gut situierte bürgerliche Mann identifiziert werden.71 Das Verhältnis von Männern und Frauen wurde dabei nicht nur als eines der Ungleichbehandlung identifiziert, sondern als ein Über-Unterordnungsverhältnis, das durch konkrete gesellschaftliche Machtverhältnisse, auch rechtliche Regulierung hervorgebracht wird. Auf dieser Basis wurde ein Verständnis rechtlicher Gleichheit entwickelt, dass nicht nur formal rechtliche Gleichbehandlung sichern soll, sondern auch dazu dient, gesellschaftliche Hierarchien abzubauen.72 Zudem wurde herausgearbeitet, dass das Subjekt als Maßstabsfigur des Rechts nicht, in der Tradition der männlichen Geschlechterrolle, als unabhängiges freien Subjekt gedacht werden darf, weil Freiheit oder Autonomie für jedes Subjekt auf Bindungen und damit notwendiger Fürsorge beruht. Dies ermöglicht, als männlich und weiblich konnotierte Aspekte der Existenz, in eine umfassendere Vorstellung vom Subjekt als Maßstabsfigur des Rechts zu integrieren.73 Die Erkenntnis der Perspektivität des Rechts ließ sich nur gewinnen, weil die konkrete gesellschaftliche Situation von Frauen als marginalisierte Personen im Verhältnis zu männlichen Lebenssituationen in den Blick genommen wurde. Sie erschließt sich 69 Vgl. M. Wersig, Der unsichtbare Mehrwert: Unbezahlte Arbeit und ihr Lohn, in: L. Foljanty / U. Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2. Aufl., 2012, § 8 Rn. 40 ff. 70 Vgl. zum Ganzen etwa F. Wapler, Im toten Winkel der Rechtsphilosophie?, in: M. Kaufmann / J. Renzikowski (Hg.), Zurechnung und Verantwortung, 2012, 79 ff.; E. Greif / E. Schobesberger (Fn. 6), 112 ff.; S. Baer, Komplizierte Subjekte zwischen Recht und Geschlecht, in: C. Kreuzer (Hg.), Frauen im Recht – Entwicklung und Perspektiven, 2001, 9, 14; MacKinnon (Fn. 52), 237 ff.; Irgaray (Fn. 58), 338 f.; Cavarero (Fn. 65), 95, 103 ff.; S. Benhabib, Der verallgemeinerte und konkrete Andere, in: E. List / H. Studer (Hg.), Denkverhältnisse, Feminismus, Kritik, 1989, 454, insb. 464–471. 71 Dieser ist natürlich nur ein Konstrukt. Wie Studien zur Intersektionalität/Interdependenz gezeigt haben, verweben sich in konkreten Personen privilegierende und diskriminierende Zuschreibungen auf vielfältige Weisen, vgl. Walgenbach (Fn. 43). Eine Frau kann beruflich beispielsweise aufgrund Bildung und sozialer Herkunft deutlich privilegierter sein als ein Mann, der weniger gebildet ist und aus einer „unteren“ sozialen Schicht stammt. Zugleich kann sie gegenüber Männern, die der gleichen sozialen Schicht angehören wie sie, als Frau benachteiligt werden. 72 Vgl. C. A. MacKinnon, Geschlechtergleichheit: Über Differenz und Herrschaft, in: H. Nagl-Docekal / H. Pauer-Studer (Hg.), Politische Theorie, 1996, 140, 144 ff.; U. Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl., 1996, 312–315, 352; S. Baer, Würde oder Gleichheit?, 1995, 235 ff. 73 Vgl. J. Nedelsky, Law’s Relations, 2011, insb. 38 ff.; vgl. auch A. Schmidt, Weibliche und männliche Geschlechterrolle im Kontext von Selbstständigkeit, Mündigkeit und Verantwortung, in: Matthias Kaufmann / Joachim Renzikowski (Hg.), Zurechnung und Verantwortung, 2012, 45 (49 f.); umfassend wird die feministische Perspektive auf Autonomie im Recht in U. Sacksofsky / S. Baer (Hg.), Autonomie im Recht – geschlechtertheoretisch vermessen, 2018, erörtert.
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also aus einer Betrachtung des Rechts, die von der Beschreibung und Analyse konkreter Auswirkungen von Recht auf Geschlechterverhältnisse ihren Ausgang nimmt.74 Konkrete Erfahrungen mit Recht oder konkrete soziale Auswirkungen des Rechts sind also auch für die rechtstheoretische oder rechtsphilosophische Analyse bedeutsam. Recht kann auch aus diesem Grund nicht generalisiert als reine Setzung betrachtet werden, wenn es um ein umfassendes Verständnis des Rechts geht. Mit der Perspektivität des Rechts wird dieses auch als Mittel der Inklusion und Exklusion konkreter gesellschaftlicher Perspektiven hinterfragt.75 Dies hat eine generelle, über geschlechtliche Zuschreibungen hinausreichende Dimension. Denn Recht ist sozusagen ein Ein- und Ausschlussmittel par excellence, zum einen da es unterschiedliche Rechtsfolgen an das Vorliegen oder Nichtvorliegen bestimmter Sachverhalte knüpft und damit offen bevorzugt und benachteiligt, zum anderen weil es implizit an bestimmten Maßstabsfiguren ausgerichtet ist und damit verdeckt bevorzugt oder benachteiligt. Recht ist damit ein Faktor möglicher Diskriminierung, auch wenn es auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Dem Recht sollten deshalb selbst Korrekturmöglichkeiten immanent sein, um Diskriminierung aufdecken und beseitigen zu können, wobei Ungerechtigkeit häufig erst aufgrund der Erfahrungen, also in der Perspektive von ihr betroffener Personen zutage tritt. Das bestätigt, dass subjektiven Rechten eine besondere Bedeutung zur Wahrnehmung individueller gleicher Freiheit zukommt.76 Sie können zudem dazu beitragen, ein Rechtssystem gerechter zu gestalten, da ihre Wahrnehmung eine Möglichkeit ist, Ungerechtigkeiten aufzudecken und zu beseitigen, wie beispielsweise die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu verfassungswidrigen Normen des Transsexuellengesetzes (TSG)77, die auf Verfassungsbeschwerden transgeschlechtlicher Personen zurückgehen, zeigen.78 c) Konstruktion von Geschlecht durch Recht Der dritte Bereich feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie ist der wohl derzeit herausforderndste, denn in ihm wird das herkömmliche Verständnis sowohl von Geschlecht als auch von Recht tiefgreifend in Frage gestellt: Geschlechterkritische Perspektiven gehen davon aus, dass das Geschlecht sowohl in seinen herkömmlich als so74 Vgl. Baer/Elsuni (Fn. 2), 271; S. Baer, Objektiv – neutral – gerecht?, KritV (1994), 154, 161 ff.; T. Stang Dahl, Frauen zum Ausgangspunkt nehmen: der Aufbau eines Frauenrechts, STREIT (1986), 115, 115. 75 Vgl. etwa Elsuni (Fn. 44), insb. 135–137; S. Baer, Inklusion und Exklusion, Perspektiven der Geschlechterforschung in der Rechtswissenschaft, in: Verein ProFri – Schweizerisches Feministisches Rechtsinstitut (Hg.), Recht Richtung Frauen, 2001, 33, 53. 76 Allgemein dazu Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 13), Rn. 63–70. 77 Vom 10. September 1980, BGBl. I S. 1654, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 17. Juli 2009, BGBl. I S. 1978. 78 Einen Überblick geben A. Schmidt, Das Recht „auf Anerkennung der selbstbestimmten geschlechtlichen Identität“ gem. Art. 2I, 1I GG im Hinblick auf den geschlechtlichen Personenstand, in: M. Schochow / S. Gehrmann / F. Steger (Hg.), Inter* und Trans*Identitäten, 2016, 231, 234 ff.; L. Adamietz, Geschlecht als Erwartung, 2011, 124 ff.
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zial verstandenen Dimensionen (Geschlechterrollen, gender) als auch als biologisches Geschlecht (sex) ein soziales Phänomen ist,79 das durch das Recht mitgeformt wird.80 Geschlecht ist demnach nicht ausschließlich eine dem Recht vorgegebene Tatsache, auf die es für die Anordnung bestimmter Rechtsfolgen Bezug nimmt. Geschlecht wird vielmehr durch Recht als soziale Praxis mitgeformt. Für Phänomene die gemeinhin als soziales oder sozialisiertes Geschlecht verstanden werden, leuchtet das vermutlich recht schnell ein: Frauen galten zum Beispiel lange als von Natur aus weniger rational und emotionaler als Männer und als fürsorgeorientiert.81 Auf diese vermeintlichen Fakten schien das Recht nur Bezug zu nehmen, wenn es Frauen aus dem öffentlichen Bereich durch das Versagen von Stimm- und von Bildungsrechten ausschloss und sie unter den Ehemann im häuslichen Bereich unterordnete und ihnen dort die familiäre Sorge zuwies. Das Recht nahm dabei aber nicht nur auf vermeintliche Fakten Bezug, es schuf diese vermeintliche Fakten als Fakten mit, indem es durch seine Regelungen die Auffassungen von einer bestimmten natürlichen Seinsweise von Frauen und Männern bestätigte. Das Gleiche gilt für das biologische Geschlecht. Herkömmlich gehen Naturwissenschaft, Medizin, Recht und auch unsere grundlegenden Alltagsüberzeugungen davon aus, dass es von Natur aus ausschließlich zwei Geschlechter, männlich und weiblich, gibt. Das Recht setzt zum Beispiel in Art. 3 II, 12a I, IV GG, im TSG und in §§ 21 I Nr. 3, 22 III Personenstandsgesetz (PStG)82, voraus, dass es nur Männer und Frauen gibt.83 Die Anwendung der §§ 21 I Nr. 3, 22 III PStG wurde allerdings zwischenzeitlich für Personen, die nicht männlich oder weiblich sind, vom BVerfG mit Beschluss vom 10. Oktober 2017 ausgesetzt.84 Damit ist das Recht neben medizinischen, biologischen und alltagsweltlichen Annahmen ein wesentlicher Grund dafür, dass Menschen überhaupt ein biologisch vorauszusetzendes Geschlecht haben und nur die Geschlechter männlich und 79 Vgl. etwa A. Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, 1995; R. Gildemeister / A. Wetterer, Wie Geschlechter gemacht werden, in: G.-A. Knapp / A. Wetterer (Hg.), TraditionenBrüche, 1992, 201 ff.; J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991; C. Hagemann-White, Sozialisation: weiblich – männlich?, 1984, insb. 78–86. 80 Vgl. u.a. Schmidt (Fn. 78), 179 ff.; Adamietz (Fn. 78), 150 ff.; E. Holzleithner, Geschlecht und Identität im Rechtsdiskurs, in: B. Rudolf (Hg.), Geschlecht im Recht, 2009, 37 ff.; A. Büchler / M. Cottier, Intersexualität, Transsexualität und das Recht, Freiburger FrauenStudien 17 (2005), 115, 124 f.; K. Plett, Intersexualität als Prüfstein. Zur rechtlichen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, in: K. Heinz / B. Thiessen (Hg.), Feministische Forschung – Nachhaltige Einsprüche, 2003, 323 ff. 81 Vgl. C. Honegger, „Weiblichkeit als Kulturform“. Zur Codierung der Geschlechter in der Moderne, in: M. Haller u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, 1989, 142, insb. 147–152; Hausen (Fn. 36), insb. 367–373. 82 Vom 19. Februar 2007, BGBl. I S. 122, zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. November 2015, BGBl. I S. 2010. 83 Daran ändert die seit 2013 bestehende Notwendigkeit des Offenhaltens des Geschlechtseintrags bei intergeschlechtlichen Personen gem. § 22 III PStG nichts. Denn wenn ein Kind nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann, ist der Geschlechtseintrag offen zu lassen. Laut 21.4.3. PStG-VwV (Bundesanzeiger AT vom 12.06.2014 B1) sind „Umschreibungen wie ‚ungeklärt‘ oder ‚intersexuell‘ […] nicht zulässig“. Dass ein dritter Geschlechtseintrag nicht möglich ist, bestätigten OLG Celle StAZ 2015, 107 und nachfolgend BGH NJW 2016, 1580 ff. Die gegen diese Entscheidungen eingelegte Verfassungsbeschwerde war inzwischen erfolgreich (vgl. Fn. 84 und im Folgenden). 84 BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2017, Az. 1BvR 2019/16. Die weitreichende Bedeutung des Beschlusses wird auf http://verfassungsblog.de/category/themen/nicht-mann-nicht-frau-nicht-nichts/ (letzter Zugriff 18.12.2017) diskutiert.
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weiblich als natürlich gegebene Geschlechter anerkannt sind. Dazwischen oder jenseits dessen liegende Formen wie Trans- oder Intergeschlechtlichkeit85 gelten hingegen als pathologisch oder zumindest unnormal oder abweichend.86 Ob und welche Geschlechter als natürliche Tatsachen oder als Normalität differenziert werden, ist aber vor allem eine Einordnung und damit Konstruktionsleistung des menschlichen Verstandes und keine zwingende Vorgabe der Natur, auch wenn die Einordnung an die Wahrnehmung von Natürlichem anknüpft.87 Ob überhaupt Männlichkeit und Weiblichkeit voneinander und davon noch einmal Trans- und Intergeschlechtlichkeit unterschieden werden und welche Bedeutung diesen Begriffen als Merkmalen von Personen innerhalb der Gesellschaft zukommt, ordnet der menschliche Verstand ein, nicht die Natur. Trans- und Intergeschlechtlichkeit könnten auch als gleichartige Varianz von Geschlecht neben Männlichkeit und Weiblichkeit gelten, Geschlecht und dessen konkrete Ausformungen könnten aber auch gesellschaftlich viel bedeutungsloser sein. Einen Weg, dies auch rechtlich anzuerkennen, hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 10. Oktober 2017 geöffnet. Es hat festgestellt, dass die §§ 21 I Nr. 3, 22 III PStG gegen das Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I, 1 I GG und das Verbot der Diskriminierung wegen des Geschlechts gem. Art. 3 III 1 GG verstoßen, insoweit sie den positiven Eintrag eines weiteren Geschlechts neben männlich und weiblich nicht zulassen. Dabei legt das Gericht einen Begriff des Geschlechts zugrunde, der identitätsbezogen ist und nicht nur die männliche und weibliche, sondern auch weitere Geschlechtsidentitäten umfasst.88 Der Beschluss des BVerfG vollzieht damit einen teilweisen gesellschaftlichen Wandel im Geschlechtsverständnis, wonach Geschlecht wesentlich durch die Geschlechtsidentität bestimmt wird, nach und ist auch selbst Ausdruck dieses Wandels, also der menschlichen Verstandesleistungen, die Geschlecht mitkonstituieren. Recht gestaltet dabei Wirklichkeit auf eine Weise, die Geschlecht mitverdinglicht, also dazu beiträgt, dass es eine objektiv-vorgegebene, im Körper materialisierte Tatsache oder etwas ist, das wesentlich durch Geschlechtsidentität bestimmt wird.89 Geschlecht ist also kein bloßes Bewusstseinsphänomen, sondern auch eine körperlich-seelische, historisch-kulturell je spezifisch gelebte Materialität, die sich zum Beispiel in bestimmten Körperpraxen ausdrückt.90 Diese verdinglichende Konstruktionsleistung, an der das Recht beteiligt ist, dient vor allem der Zuweisung gesellschaftlicher Positionen.91 Die 85 Herkömmlich im pathologisierenden Zusammenhang: Trans- und Intersexualität. 86 Anhand der Rechtsprechung des BGH und BVerfG zeigen dies auf Schmidt (Fn. 78), 172 ff.; Adamietz (Fn. 78), 150 ff. 87 Vgl. dazu, dass uns Natur nie als reine Objektivität entgegentritt, dass sie uns vielmehr nur im zuordnenden Verstehen im intersubjektiven Zusammenhang zugänglich wird, Rentsch (Fn. 22), XXVIII, 92 f.; 155. 88 Vgl. BVerfG (Fn. 84), Rn. 35, 58 ff. Das Gericht hat dem Gesetzgeber für eine Neuregelung eine Frist bis zum 31. Dezember 2018 gesetzt. Dabei könnte auf den personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrag ganz verzichtet oder aber eine weitere Kategorie neben männlich, weiblich und Nichteintrag geschaffen werden (vgl. Rn. 65 f.). 89 Vgl. u.a. S. Buckel / J. König, Körperwünsche im Recht, KJ (2009), 337, 344–350; Maihofer (Fn. 79), 79 ff. 90 Vgl. Maihofer (Fn. 79), 84 f., die dementsprechend Geschlecht als Existenzweise begreift. Zur Historizität von Körper(praxen) grundlegend B. Duden, Geschichte unter der Haut, 1991. 91 Vgl. Holzleithner (Fn. 80), 38; Elsuni (Fn. 7), 135 ff.; Gildemeister/Wetterer (Fn. 79), 214–229; MacKinnon (Fn. 52), 237 f.
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gesellschaftliche Position wird also letztlich nicht durch ein vorgegebenes Geschlecht, sondern durch soziale Zuweisungen, einschließlich rechtlicher Regulierungen, die Geschlecht mitformen, bestimmt. Das Recht spiegelt diese nicht lediglich wider. Am Beispiel der Konstruktion von Geschlecht durch Recht lässt sich damit zeigen, dass Recht nicht nur auf vorgegebene Sachverhalte Bezug nimmt und das gesellschaftliche Miteinander machtvoll reguliert, sondern auch die Wirklichkeit so weitgehend (mit) gestaltet, dass es soziale Phänomene material als rein natürliche, vorgegebene Phänomene erscheinen lässt. Mit dem Aufzeigen dieser Wirkmacht des Rechts ist eine rechtstheoretische Frage angesprochen, und zwar die Frage danach, wie tiefgreifend Recht als soziale Praxis auf Grundannahmen unseres Denkens und Voraussetzungen unserer Praxis und bei der Herstellung sozialer Positionen wirkt. Zu den Theorieaufgaben der Rechtskritik zählt also nicht nur, die Grenzen von Recht zu reflektieren.92 Es ist auch eine Theorieaufgabe der Rechtskritik, die Wirkmacht rechtlicher Regulierung bis hin zur Materialisierung von Wirklichkeit zu hinterfragen. Dies betrifft nicht nur die Konstruktion geschlechtlicher Subjekte, sondern die Konstruktion von Subjektivität überhaupt, denn Subjekt zu sein bedeutet wesentlich auch als rechtliches Subjekt anerkannt zu sein.93 4. Begriff und Gegenstand feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie Nun möchte ich das Gesagte in dem Versuch zusammenfassen, einen Begriff feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie zu umreißen: Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie befasst sich in normativer Absicht mit generellen Aussagen zum Verhältnis von Geschlecht und Recht, also die Wirkung von Recht auf Geschlecht und von Geschlecht auf Recht, um Wege zu finden, die gesellschaftliche Ordnung zunehmend geschlechtergerecht zu gestalten.94 Feministisch geschlechterkritische Rechtstheorie weist Recht anhand geschlechterkritischer Analysen seiner Regelungsziele und Wirkungen als historisch-kulturell situierte Praxis auf, das ebenso Ausdruck sozialer Machtverhältnisse ist, wie es soziale Praxis machtvoll gestaltet. Dies schließt die Gestaltung materialisierter Gegebenheiten ein. Es wird herausgearbeitet, ob und wie Recht geschlechtergerecht und überhaupt emanzipatorisch zur Beseitigung von Diskriminierung wirksam gemacht werden kann. Gegenstand feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie ist das positive Recht so, wie es gesellschaftlich geformt und wirksam wird. Die Betrachtungen schließen also auch Prozesse der Setzung des Rechts, der Anwendung des Rechts und die dabei beteiligten Akteur_innen ein. Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie hat sich aus dem Zusammenfassen der Grundzüge feministisch-geschlechterkritischer Rechtskritik, den Querschnitts92 Vgl. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 25), XI. 93 Vgl. dazu S. Hark, Enteignet Euch! oder: Keine Frage der Wahl, Manuskript, Erscheinen vorgesehen in: S. Baer / U. Sacksofsky (Hg.), Autonomie im Recht – geschlechtertheoretisch vermessen; C. Menke, Kritik der Rechte, 2015, 248–265, insb. 252 f.; vgl. zur Konstruktion des Subjekts Meißner (Fn. 38); Butler (Fn. 38). 94 Vgl. auch Baer/Elsuni (Fn. 2), 270.
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debatten der Legal Gender Studies, im Zusammenhang mit rechtstheoretischen/ philosophischen Überlegungen entwickelt. Die Grundzüge feministisch-geschlechterkritischer Rechtskritik zeigen sich bei der konkreten Betrachtung einzelner rechtlicher Regulierungen und ihren sozialen Auswirkungen als generelle Muster der rechtlichen Regulierung von Geschlecht und können bei der Kritik konkreter Normen und Anwendungen des Rechts immer wieder geltend gemacht werden. Die Erkenntnisse feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie sind also ohne die Analyse konkreter rechtlicher Regelungen nicht möglich und wirken auf diese zurück. Es bestätigt sich, dass Rechtstheorie nicht hierarchisch über der Rechtsdogmatik thront, sondern sich aus der Auseinandersetzung mit konkreten Regelungen, ihrer sozialen Verortung und ihren sozialen Auswirkungen speist und normativ in die Praxis hineinwirkt. IV. Rechtstheorie/philosophie und feministischgeschlechterkritische Rechtstheorie Abschließend ist zu klären, wie feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie im Verhältnis zu Rechtstheorie/philosophie einzuordnen ist. Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie kann zunächst als eine Theorie mittlerer Reichweite, also als Theorie mittleren Abstraktionsgrades,95 betrachtet werden, weil sie sowohl konkrete als auch übergreifende Bezüge aufweist. Sie erwächst aus geschlechterkritischen Analysen konkreter Rechtsnormen und der Rechtsdogmatik und generiert verallgemeinerte Erkenntnisse feministisch-geschlechterkritischer Rechtskritik. Bei diesen Querschnittsdebatten oder Grundzügen feministischer-geschlechterkritischer Rechtsanalysen kann auch von feministischen Rechtstheorien gesprochen werden.96 Sie stehen in engem Zusammenhang mit feministisch-geschlechterkritischer Theorie in ihren politikwissenschaftlichen, philosophischen, sprachanalytischen, soziologischen und weiteren Bezügen sowie den traditionellen Ausprägungen wissenschaftlicher Theorie etwa der Rechtstheorie/philosophie. Auch wenn die traditionellen Ausprägungen wissenschaftlicher Theorie feministisch-geschlechterkritische Interventionen häufig nicht rezipieren, besteht dieser Zusammenhang, weil feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie auch aus diesen Gebieten und in Auseinandersetzung damit erwächst und Rechtstheorie/philosophie bereichert. Allein die Kennzeichnung als Theorie mittlerer Reichweite trägt aber nicht. Denn insofern feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie Beiträge zur Rechtserkenntnis im Allgemeinen, also zu Rechtstheorie/philosophie leistet (beispielsweise zum Aufweisen seiner Perspektivität), ist sie selbst ein Teilbereich der Rechtstheorie/philosophie. Zudem ist Rechtstheorie/philosophie als umfassende Erkenntnis des Rechts generell nicht ohne konkrete Bezüge zu realen Rechtsordnungen und konkreten Perspektiven der Kritik möglich, auch wenn diese Bezüge häufig verdeckt sind. Denn es gibt keine 95 Vgl. zum Begriff von der Pfordten, in diesem Band unter III. 2. 96 Den Plural gebrauchen z. B. Baer/Elsuni (Fn. 2); Maschke (Fn. 2).
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Theorie oder verallgemeinerte Erkenntnis ohne konkrete Praxis, wir haben keinen Zugang zu einem allgemein-abstrakten Rechtsbegriff ohne konkrete Anschauungen, die wir im gemeinsamen Bemühen verallgemeinern.97 Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie ist damit auch ein Teilbereich der Rechtstheorie/philosophie. Die Bezeichnung als feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie(n) ist also gerechtfertigt, insofern sie Theorie(n) mittlerer Reichweite darstellen, also Querschnittsdebatten der Geschlechterstudien im Recht abbilden. Der Begriff ist zudem historisch-kulturell so gewachsen, er wird in Anlehnung an die angloamerikanische und Feminist Legal Theory deutlich häufiger verwendet als feministisch-geschlechterkritische Rechtsphilosophie. Gerade aber wenn es um Beiträge feministisch-geschlechterkritischer Rechtstheorie zur umfassenden Erkenntnis des Rechts geht, ist auch die Bezeichnung feministisch-geschlechterkritische Rechtsphilosophie korrekt. V. Fazit Feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie ist eine spezifische Rechtstheorie/ philosophie, die sich aus der Reflexion geschlechtsbezogener Erfahrungen von Marginalisierung und Unterdrückung speist, die durch Recht mitgestaltet wurden und werden. Sie vermag so allgemeine Aspekte feministisch-geschlechterkritischer Betrachtungen des Rechts zu formulieren, die bei der Kritik und Anwendung konkreter rechtlicher Regelungen fruchtbar gemacht werden. Zugleich (re)formuliert feministisch-geschlechterkritische Rechtstheorie Aspekte der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie als einer umfassenden Erkenntnis des Rechts: Sie zeigt nämlich auf und bestätigt, dass Recht nicht als positiv gesetztes Recht als solches theoretisiert werden kann, sondern als Gesamtphänomen, etwa in seiner Produktion durch Gesetzgebung und -anwendung, in den Blick genommen werden und als historisch-kulturell situierte Praxis gefasst werden muss, die komplex in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingewoben ist. Die Erkenntnisse und Bestätigungen, dass Recht bei der Formung materialisierter Gegebenheiten mitwirkt, die es eigentlich vorauszusetzen scheint, dass auch ein Recht perspektivisch ist, das am Ideal des allgemein gedachten Subjekts orientiert ist, und dass auch Rechtstheorie/philosophie an konkrete Rechtsordnungen und gesellschaftliche Verhältnisse zurückgebunden bleiben, halte ich dabei für besonders wichtige Beiträge zu einer umfassenden Theorie/Philosophie des Rechts. Dr. Anja Schmidt Juristische und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsplatz 6, 06108 Halle (Saale)
97 Unter II. 1. und 3., III. 2.
Recht und Komplexität Markus Rehberg, Rostock
I. Einführung Versucht man, einen möglichst unbefangenen Blick auf den gegenwärtigen Stand spezifisch rechtswissenschaftlichen Arbeitens zu werfen, fällt die Diagnose zwiespältig aus: Einerseits ist Rechtswissenschaft eines der ältesten an Universitäten vertretenen Fächer überhaupt und studieren bis heute die oft schlauesten Köpfe eines Landes diese Disziplin. Zudem weiß sich die Jurisprudenz mühelos gegen andere Fachbereiche zu behaupten, wenn es um die Anwendung wie die Reform von Recht geht. Allen regelmäßig wiederkehrenden Abgesängen zum Trotz ist es bisher niemandem gelungen, Juristen das Wasser abzugraben, sei es im Kerngeschäft – dem, was sie täglich in Kanzleien, Gerichtsstuben, Ministerien oder Behörden praktizieren – oder in der akademischen Welt, wo außer den Rechtswissenschaftlern noch niemand etwa ein praktisch anwendbares Vertrags- oder Verwaltungsrecht zu handhaben vermochte. Dennoch tun sich Juristen oft schwer damit, sich ihrer selbst zu vergewissern, und nagen an ihnen Selbstzweifel: Was erhebt Jurisprudenz zur Wissenschaft? Ist sie gar nur „Handwerk“ oder „Ingenieurstätigkeit“ und bestenfalls an Fachhochschulen zu lehren? Und selbst wenn man im rechtlichen Schaffen eine Wissenschaft sieht: Was ist deren Kern, deren ureigener Bereich?1 Am deutlichsten offenbart sich dies bei der Rechtsetzung bzw. Rechtspolitik. So bequem – weil unter anderem jede Verantwortung von sich weisend – es sein mag, sich als Jurist in die Vorstellung eines Subsumtionsautomaten bzw. bouche de la loi (Montesquieu) zurückzuziehen, hatte dies noch nie etwas mit der Realität gemein.2 Juristen sollten Rechtsetzung nicht nur faktisch praktizieren, sondern sich auch dazu bekennen und ihr Vorgehen wissenschaftlich-methodisch offenlegen.
1
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Siehe zu dieser Frage nur aus jüngerer Zeit C. Engel / W. Schön (Hg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2008 sowie zur selten diskutierten Frage, was andere Disziplinen von der Rechtswissenschaft lernen können, die Beiträge in M. Rehberg (Hg.), Der Erkenntniswert von Rechtswissenschaft für andere Disziplinen, 2018. Klar gesehen wurde die richterliche Rechtsetzung von historischer Schule, Rechtssoziologie, vielen Rechtspositivisten (stellv. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 64 ff., 79, 82) oder der Freirechtsschule. Zur Historie siehe beispielsweise R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986. Instruktiv auch B. Lahusen, Rechtspositivismus und juristische Methode, 2011.
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Markus Rehberg
Derzeit klafft hier eine große Lücke. Der Grund dafür liegt in einem verfehlten, lediglich auf dienende Umsetzung verhafteten Verständnis. Diese Ausrichtung erschwert es auch, die Anwendung geltenden Rechts – deren Trennbarkeit von schöpferischer Rechtsetzung einmal unterstellt – methodisch zu erfassen. Oft erklären der gängige Auslegungskanon oder anerkannte Argumentationsfiguren nur wenig von dem, was bei praktischer Rechtsfindung tatsächlich vor sich geht, und weicht man dann auf nichtssagende Argumentationsmuster aus. Dazu gehören nicht subsumierbare Begriffe bzw. nicht überprüfbare Aussagen wie Fiktionen,3 Zuschreibungen,4 der Hinweis auf eine „notwendig normative“ Betrachtung oder flexible Begründungsmuster wie Interessenabwägung, Topik5 und bewegliches System,6 um nur wenige Beispiele eines scheinbar unerschöpflichen Arsenals kunstvollen Nichtssagens zu nennen. Am wohlwollendsten lässt sich all das oft noch als eine verschleierte Kompetenzzuweisung an die Gerichte einordnen,7 meistens sind solche Aussagen jedoch „nicht einmal falsch“.8 Bisweilen wird auch auf eine vermeintliche Rechtsidee im Sinne absolut gültiger Wahrheiten verwiesen.9 Die Ursache der hier nur angedeuteten Schwierigkeiten liegt darin, dass es bis heute nicht gelungen ist, methodisch klar auszuarbeiten, was juristisches Denken auszeichnet und praktisch so erfolgreich macht. Nach meiner Überzeugung dienen Rechtswissenschaft bzw. juristische Methodik, dient das gesamte juristische Arsenal, dienen all die juristischen Begriffe, Institute, Unterscheidungen und dient die spezifisch juristische Kompetenz nichts anderem als der Bewältigung rechtlicher Komplexität, wie sie notwendig dadurch entsteht, dass die jeweiligen Rechtsetzer ihre jeweiligen Ziele immer ambitionierter und damit differenzierter (Einzelfallgerechtigkeit)10 und unter immer anspruchsvolleren Rahmenbedingungen verfolgen. Zwar ist die Einsicht in die Komplexität von Recht und der hieraus resultierenden Probleme
3
Etwas weniger problematisch ist, sofern offengelegt, die rechtstechnische Funktion von Fiktionen; allgemein zu Fiktionen stellv. J. Esser, Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, 1940. 4 Weniger problematisch ist Zuschreibung dort, wo sie lediglich als Technik dient, um beispielsweise Wahrnehmungsschwellen festzulegen oder Verhaltenssteuerung zu betreiben, und dies mit überprüfbaren Kriterien offen- und unterlegt wird, näher dazu M. Rehberg, Das Rechtfertigungsprinzip, 2014, 215 f., 990 ff., 998, passim mwN. 5 Instruktiv zu dieser T. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl., 1974. 6 Die von W. Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941 eingeführte Vorstellung eines beweglichen Systems zeichnet sich dadurch aus, dass weder ein Merkmal genannt wird, auf das es für eine Rechtsfolge ankommen soll, noch ein solches, auf das es nicht ankommen soll. 7 Zur auch richterlichen Rechtsetzung siehe bereits oben Fn. 2. 8 Üblicherweise wird dieser Ausdruck dem Physiker Wolfgang Pauli zugeschrieben. 9 Siehe dazu neben der Diskussion um Begriffe wie Metaphysik, Naturrecht, Vernunft oder Rationalität speziell zum Recht die um den Rechtspositivismus, einerseits etwa K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, 355 ff.; H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934; H. L. A. Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994 oder N. Hoerster, Was ist Recht?, 2006 und zur Kritik etwa die Darstellung der gehaltvollen Weimarer Debatte bei A.-J. Korb, Kelsens Kritiker, 2010, 77 ff., passim sowie aus jüngerer Zeit stellv. R. Dworkin, Law’s Empire, 1986; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992. 10 Dazu gleich unten B. II.1.
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keineswegs neu.11 Doch geht es hier um mehr, nämlich die Überzeugung, dass Rechtswissenschaft – und zwar gerade auch im Sinne klassischer Rechtsdogmatik – nichts anderes ist als die Bewältigung rechtlicher Komplexität. Und das wiederum hat weitreichende Konsequenzen. II. Wozu Recht? 1. Funktionalität Für das Verständnis der meisten Phänomene unseres Lebens hilft es, nach deren Zweck zu fragen. So auch hier. Solange wir nicht beantworten, wozu wir überhaupt Recht haben, was Recht eigentlich bezwecken soll, lässt sich auch nicht sinnvoll über die Güte methodischer Ansätze diskutieren. Methodik ist kein Selbstwert, sondern den mittels Recht von den jeweiligen Rechtsetzern verfolgten Anliegen untergeordnet und damit an diesen Anliegen zu messen. 2. Praktische Anforderungen Recht ist genau so gut, wie es die Ziele der jeweiligen Rechtsetzer verwirklicht. Damit hängt der genaue Inhalt guten Rechts von zahllosen Faktoren ab, zu denen Rechtswissenschaft herzlich wenig beizutragen hat. Zu Wirkungszusammenhängen etwa fehlen Juristen eigene Erkenntnisse, ja hat Rechtswissenschaft niemals auch nur ernsthaft versucht, spezifisch juristische Theorien dazu aufzustellen. Dafür gibt es genug andere Disziplinen, auf deren Einsichten wir falls nötig – etwa bei der Subsumtion von Tatbestandsmerkmalen – gerne zurückgreifen.12 Ebenso wenig liefert die Jurisprudenz wissenschaftliche Einsichten darüber, welche Ziele oder Werte Menschen verfolgen sollten. Dafür gibt es mit der Moralphilosophie wiederum eine eigene Disziplin, die Derartiges zumindest versucht. Und praktisch zählen hier ohnehin nur die Vorstellungen des jeweiligen Rechtsetzers. Doch wenn all das Rechtswissenschaft nicht auszeichnet – was dann? Die Antwort liefert die eingangs erwähnte Komplexitätsbewältigung: Ganz gleich was für eigene Anliegen Rechtsetzer verfolgen und ganz gleich wie naturwissenschaftliche, psychologi11
Neben den üblichen Klagen breiter Bevölkerungskreise nicht nur zum Steuerrecht siehe hier – wahllos herausgegriffen – die Diskussion um Regelbildung versus Folgenorientierung (stellv. N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, 31 ff.; M. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995), diverse Initiativen für ein einfacheres bzw. verständlicheres Recht – etwa der „Redaktionsstab Rechtssprache“ im Bundesjustizministerium oder im englischen Sprachraum plain english-Kampagnen (stellv. https://www.plainenglish.co.uk/). Vgl. auch die Beispiele und Nachweise bei E. V. Towfigh, Komplexität und Normenklarheit, Der Staat (2009), 29. Auf theoretischer Ebene ragt hier besonders Niklas Luhmann heraus, etwa in Das Recht der Gesellschaft, 1993. 12 Näher zur disziplinären Arbeitsteilung unten D. V.
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sche oder soziologische Wirkungszusammenhänge einzeln aussehen, steht nahezu jede Staatsgemeinschaft vor der Herausforderung, ein angesichts zahlloser Differenzierungswünsche13 und einer immer komplexeren Umwelt14 kaum noch überschaubares Rechtssystem zu handhaben. Besinnt man sich hierauf, lassen sich typische Anforderungen an Recht formulieren, – und das ist wichtig – ohne die jeweils verfolgten Ziele zu bewerten und ohne außerjuristische Betrachtungen über Wirkungszusammenhänge oder die Beschaffenheit nicht-juristischer Phänomene vorzunehmen. Die wichtigsten Anforderungen seien hier genannt. a) Differenziertheit („features“) Je genauer eine Rechtsordnung auf die Besonderheiten jeder Situation reagieren kann, desto besser verwirklicht sie die vom jeweiligen Rechtsetzer verfolgten Ziele. Juristen sprechen hier oft – normativ etwas „aufgeladen“ – von Einzelfallgerechtigkeit. Genauso ließe sich von der Differenziertheit, den „features“ oder der Leistungsfähigkeit einer Rechtsordnung sprechen. Der Zusammenhang mit Komplexität liegt auf der Hand: Je situationsbezogener das Recht, desto komplexer droht es zu werden. Vor allem aber gilt: Je besser uns Juristen die Komplexitätsbewältigung gelingt, desto eher ermöglichen wir es den Rechtsetzern, noch differenzierter zu agieren (was dann die Komplexität wiederum steigert).15 Dermaßen intelligent gemachtes Recht ist essenziell für die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. b) Aktualität Doch ist es nicht damit getan, einmalig ein möglichst leistungsfähiges Recht bereitzustellen. Denn da sich nicht nur die mit Recht verfolgten Ziele ständig wandeln – etwa durch neue Rechtsetzer und sich ändernde Wertvorstellungen –, sondern vor allem auch angesichts sich ständig wandelnder technischer, gesellschaftlicher oder natürlicher Rahmenbedingungen, ist das ideale Recht zu jedem Zeitpunkt ein anderes. Das hat wichtige Konsequenzen: Recht muss für solche neuen Gegebenheiten bzw. Anforderungen offen sein und hierauf ohne unerwünschte Nebeneffekte reagieren können. Wie eingehend zu konkretisieren sein wird, erfordert dies bei einem derart komplexen Gebilde größte Anstrengungen und Fertigkeiten. Wichtige Instrumente sind insbesondere Verallgemeinerung und Kapselung, um jeweils möglichst wenig am Recht verändern oder auch nur neu hinterfragen zu müssen.16 13 Dazu gleich unten B. II. 1. 14 Zu den Ursachen dieser Komplexität siehe die Nachweise in Fn. 11. 15 Man kann hier zwischen sachlich begründeter Komplexität einerseits und vermeidbarer Komplexität andererseits unterscheiden, siehe dazu etwa F. P. Brooks, No Silver Bullet, Computer 20 (1987), 10 sowie – weil mit der Kolmogorov-Komplexität verwandt – unten C. III. 1. c). 16 Näher unten D. II.; D. IV.
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c) Energieaufwand, Geschwindigkeit, Rechtsklarheit Damit ist bereits ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt angesprochen: der Energieaufwand. Ein kontinuierlich leistungsfähiges Recht bereitzustellen ist aufwändig, genauso wie es einzelne Akteure viel Kraft und Zeit kosten kann, sich in dieses Recht einzuarbeiten. Je schneller diese Anpassung oder Einarbeitung erfolgt, desto besser dient dies den jeweils verfolgten Zielen. Und auch hier helfen wiederum zahlreiche noch zu diskutierende Techniken der Komplexitätsbewältigung. Schließlich sei die mit Energieaufwand und Geschwindigkeit eng zusammenhängende Rechtsklarheit erwähnt: Je präziser und freier von Unklarheiten einzelne Akteure einschätzen können, was für rechtliche Konsequenzen ihr Handeln nach sich zieht, desto eher unterstützt das nicht nur die vom jeweiligen Rechtsetzer verfolgten Steuerungsziele und spart Zeit und Energie, sondern vermeidet allgemein all die Probleme, die sich stellen, wenn wir uns zukünftiger Geschehnisse nicht sicher sein können. III. Grundbegriffe Seriöse Rechtswissenschaft arbeitet verbindlich und verwendet damit Begriffe, deren Bedeutung entweder bereits hinreichend klar ist oder vom jeweiligen Verwender konkretisiert wurde. Schon deshalb sei erkenntnistheoretisch möglichst solide geklärt, was unter Information, Komplexität und Abstraktion zu verstehen ist, bevor es dann an konkrete Techniken geht. 1. Recht und Anschauung a) Betrachtungsgegenstand i) „Recht“ Juristen beschäftigen sich mit Recht, es bildet ihre Empirie, ihren Untersuchungsgegenstand.17 Wie in anderen Wissenschaften auch ist dieser nicht etwa gottgegeben, sondern Definitions- und damit Zweckmäßigkeitsfrage. Das „Wesen von Recht zu schauen“ hat noch niemand vermocht,18 zumal sich von solchen Hoffnungen befreit dann umso produktiver und ergebnisoffener fragen lässt, welche Rechtsdefinition jeweils zweckmäßig ist. Besonders fruchtbar ist es hier oft, sich auf die konkreten Anordnungen zu beschrän17 Näher unten C. I. 1. b). 18 Interessanterweise und mir nicht ganz nachvollziehbar tätigen auch viele rechtspositivistische Arbeiten (zu diesen Fn. 9) vermeintlich absolut-allgemeingültige Aussagen (etwa auch unter Rubriken wie „analytisch“ oder „rational“) zu dem, was Recht auszeichne. Doch objektiv gegeben ist hier nichts. Ob Recht etwa einen Zwangscharakter „hat“, ist reine Definitionssache und für völkerrechtlich oder an bloßen Entwürfen – etwa eines europäischen Privatrechts – interessierte Forscher wenig zweckmäßig. Die gängigen rechtswissenschaftlichen Methoden lassen sich hier oft nicht minder anwenden.
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ken, wie sie sich insbesondere im Tenor von Gerichtsurteilen finden, anstatt auch all das mit in den Betrachtungsgegenstand aufzunehmen, was sich an Tatbeständen oder allgemeinen Grundsätzen etwa in Gesetzeswerken findet. Nach hier zugrunde gelegter Definition ist Recht also die Summe dessen, was Gerichte in zahllosen Einzelfällen notfalls anordnen, wobei sich dies naturgemäß noch weiter ausarbeiten ließe. Entscheidend ist jedenfalls der Fokus auf die einzelnen konkreten Anordnungen in ihrer täglich produzierten Vielfalt. Zwei Vorteile stechen hier hervor: Zum einen erlaubt es erst diese bewusste Begrenzung des Untersuchungsgegenstands, kreativ und produktiv nach neuartigen Beschreibungen zu suchen, die das dermaßen eng definierte Recht besser – etwa unkomplizierter, leichter aktualisierbar, schneller und mit weniger Energieaufwand – erfassen. Hingegen wäre dies von vornherein vereitelt, gehörten derzeit etablierte Verallgemeinerungen wie gesetzliche Tatbestände oder gar favorisierte Theorien zum Rechtsbegriff selbst und wären damit nicht mehr hinterfragbar, sondern als Untersuchungsgegenstand ihrerseits zu beschreiben. ii) Hinschauen Zum anderen öffnet ein dermaßen positivistisch-pragmatisch-entscheidungsorientierter Rechtsbegriff die Sensibilität für das, was tatsächlich in der Rechtsrealität geschieht – und zwar unabhängig davon, ob sich von dieser Rechtsrealität etwas in den Begriffen, Tatbeständen und allgemeinen Grundsätzen etwa eines Gesetzbuches, der Rechtsprechung oder von Lehrbüchern findet. So zentral sich die Kunst des Wegschauens (Abstraktion) für spezifisch juristisches Arbeiten erweisen wird,19 so riskant ist es, den jeweiligen Untersuchungsgegenstand vorher nicht umfassend zu ermitteln. Je nach Disziplin oder Problemschwerpunkt kann bereits darin eine wichtige wissenschaftliche Leistung liegen und anspruchsvolle Techniken oder gar die Entwicklung neuer Verfahren oder Instrumente erfordern. Oft wäre aber schon viel mit der unvoreingenommenen Sichtung von Gerichtsurteilen geholfen. Es erschreckt, wie manche Theorien oder Lehrbücher bisweilen nur kleine Ausschnitte dessen erwähnen, was das dort vermeintlich behandelte Rechtsgebiet tatsächlich ausmacht.20 b) Anschauungen i) Grundidee Wurde der Untersuchungsgegenstand definiert und ermittelt, lässt er sich mit all denjenigen wissenschaftlichen Methoden und damit vor allem Anschauungen (bzw. hier 19 Eingehend zu Abstraktion unten C. IV. und unten D. 20 Hierzu zählt es, wenn beim Vertrag nur ein Bruchteil der täglich durchgesetzten Inhalte eines Rechtsgeschäfts auf Wille oder Erklärung der Parteien bei Vertragsschluss beruht, vgl. unten bei Fn. 109. In der Rechtssoziologie werden solche Diskrepanzen unter Begriffen wie „lebendiges Recht“ (Eugen Ehrlich) oder „law in action“ diskutiert, wissenschaftstheoretisch siehe stellv. L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935; T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl., 1976.
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synonym verwandt Anschauungsformen)21 bearbeiten, wie sie sich sowohl übergreifend für das menschliche Denken als auch speziell in einzelnen Disziplinen finden. Dabei gilt bekanntlich schon für den ersten Schritt des Hinschauens und damit auch die Ermittlung des Untersuchungsgegenstands, dass dieser nicht etwa als Ding an sich objektiv erkennbar ist, sondern mittels unseres Verstands oder technischer Hilfsmittel wahrgenommen wird.22 Verstand ist dabei sehr weit zu verstehen: Auch was oder wie wir etwas wahrnehmen, ist bereits eine Anschauungsform – und damit etwa auch die Konstruktion unserer biologischen wie künstlich hergestellten Sinnesorgane. Dabei sind uns Menschen gängige Denkmuster wie etwa die Vorstellung von Raum oder Zeit entweder als Ergebnis evolutionärer Anpassungsprozesse genetisch23 oder kulturell24 vermittelt. Zu Letzterem gehört insbesondere unsere Sprache mitsamt den darin enthaltenen Unterscheidungen, Bündelungen und sonstigen Ordnungen. Damit hilft uns zum einen die Psychologie als die für das menschliche Denken einschlägige Spezialdisziplin, diejenigen Anschauungsformen zu verstehen, mit denen wir die täglich auf uns einprasselnden Informationen bewältigen.25 Aber etwa auch Biologie und Sprachwissenschaften leisten handfeste erkenntnistheoretische Arbeit. ii) Mehrstufigkeiten Wichtig ist noch ein weiterer Punkt: So kann eine individuelle Anschauung ihrerseits Gegenstand höherstufiger Anschauungen sein – und genau darum geht es bei der Bewältigung rechtlicher Komplexität: Wir können auf einer ersten Stufe mittels unserer Sinne und Geistesfähigkeiten das Recht wie zuvor definiert26 in seinen konkreten Einzelentscheidungen individuell wahrnehmen. Wir können beispielsweise lesen oder hören, was Gerichte als Tenor formulieren, genauso wie wir solche Entscheidungen sprachlich niederlegen und anderen mitteilen können. Das alles kann wiederum Gegenstand einer weiteren Betrachtung bzw. Anschauung sein. Es sind also mehrere, gestaffelte Betrachtungsebenen möglich. Eine äußere Sinneswahrnehmung kann zahlreiche Wahrnehmungsstufen mit jeweils eigenem Output („Verhalten“ im weitesten 21 Oft ist in diesem Zusammenhang auch von Wahrnehmung oder Erfahrung die Rede. Gemeint ist die Abhängigkeit jeder Erkenntnis auch von „inneren“ Voraussetzungen, näher dazu die nachfolgenden Ausführungen und Nachweise. 22 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., 1787. 23 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, Blätter für Deutsche Philosophie 15 (1941), 94; ders., Die Rückseite des Spiegels, 1973, 9 ff. 24 Besonders eindrucksvoll W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883. Leider neigen manche Vertreter der Hermeneutik dazu, diese wichtige Erkenntnis um weniger fundierte, oft rein metaphysische, Vorstellungen zu übersteigern. 25 Weshalb es das große Verdienst von Dilthey (Fn. 24), xviii ist, die fundamentale erkenntnistheoretische Bedeutung der Psychologie – nicht unbedingt zur Freude seiner philosophischen Kollegen – betont zu haben. Bemerkenswert ist auch der Lebensweg eines Helmholtz, der aus Frustration über die anders als von Kant behauptet keineswegs apriorische Gültigkeit der euklidischen Geometrie beschloss, das tatsächliche und nicht vermeintlich apriorische menschliche Denken zu erforschen, und so zum (Mit-) Begründer der Psychologie wurde, dazu etwa R. L. Gregory, in: R. A. Wilson / F. C. Keil (Hg.), MITECS, 1999, 367. 26 Oben C. I. 1. a).
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Sinne) durchlaufen. Das dient dann wiederum als „Sinneswahrnehmung“ (im weitesten Sinne) für weitere Anschauungen. iii) Rechtliche Relevanz Für die juristische Methodik ist die Möglichkeit mehrstufiger Anschauung essenziell: Denn zwar hängt die klassisch-sinnliche Wahrnehmung von Recht auf unterster Ebene noch stark von biologischen Voraussetzungen wie insbesondere unseren Sinnesorganen ab, die wir nur schwer verändern können. Unsere Augen und Ohren, aber auch unser Sprachverständnis, lassen sich nicht „mal eben“ speziellen Bedürfnissen anpassen oder frei hinterfragen, wenn wir etwa Gesetze, Urteile oder Verträge lesen. Wohl aber erlauben es unsere geistigen Fähigkeiten, die weitere Verarbeitung (und damit höherstufige Anschauungsformen) des so von uns wahrgenommenen Rechts zu hinterfragen, mit anderen zu diskutieren und unseren eigenen Bedürfnissen getreu unseren Zweckmäßigkeitserwägungen anzupassen und damit untaugliche Denkmuster auszusondern bzw. sie zu verbessern. c) „Verstehen“, „Grund“, „Wissen“, „Wissenschaft“ Sieht man in Anschauungsformen schlichte Instrumente, mittels derer es die Evolution oder die Kultur uns Menschen ermöglicht, diverse Zwecke zu verfolgen, wirkt sich dies auch auf zahlreiche klassische, oft philosophisch stark aufgeladene Begriffe aus. Wenn beispielsweise vom „Verstehen“, von „Gründen“, „Wissen“ oder „Wissenschaft“ die Rede ist, geht es regelmäßig um Anschauungen, die uns dabei helfen, die allgegenwärtige Komplexität zu verringern – und zwar allem voran durch Abstraktion mit so wichtigen Techniken wie der Verallgemeinerung27 oder Kapselung.28 Die Eignung solcher Anstrengungen lässt sich dabei nicht absolut bewerten, sondern immer nur anhand der jeweils verfolgten Anliegen (Ziele) und Restriktionen – unter Letzteren insbesondere die individuellen Fähigkeiten – der verstehenden, begründenden oder forschenden Person. Dies macht wissenschaftliche Diskussionen über gute Gründe oder das zutreffende Verständnis einzelner Phänomene zwar relativistisch, aber keineswegs beliebig. Denn nicht nur leiden wir Menschen oft an ähnlichen Verständnisproblemen und verfolgen oft vergleichbare Ziele. Sondern selbst soweit dies nicht der Fall ist, lassen sich Ziel wie Restriktionen jedenfalls offenlegen, um dann mit anderen über das bessere Verständnis zu streiten. Dementsprechend gibt es dann auch unterschiedlich (zweck-)rationale Formen der Komplexitätsbewältigung und kann sich Rechtswissenschaft auf diesem Feld betätigen. 27 Näher zur Verallgemeinerung unten D. II. Die Parallelen von Verallgemeinerung und Falsifizierbarkeit im Sinne eines K. R. Popper, Die Logik der Forschung, 10. Aufl. 1994 sind offensichtlich. Allerdings darf und sollte man Wissenschaft besser mit Komplexitätsbewältigung gleichsetzen, was dann auch erklärt, warum es bei Wissenschaft um mehr geht als Verallgemeinerung oder die von Popper betonten möglichst falsifizierbaren Ausagen. 28 Näher unten D. IV.
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2. Information a) Begriff Möchte man Themen wie Komplexität oder Abstraktion diskutieren, muss man zunächst klären, was überhaupt Information bedeutet. Konkret könnte man geneigt sein, all das als Information zu bezeichnen, was von außen an Sinneseindrücken auf uns einströmt oder was an einem gegebenen, etwa raumzeitlich identifizierten Objekt alles an Sinneseindrücken wahrnehmbar ist. Doch genauso wenig wie es ein „Ding an sich“ gibt, existiert eine „Information an sich“ im Sinne einer objektiv definierbaren Einheit und findet sich auch kein objektiver Maßstab für die Frage, welche Information ein Gegenstand insgesamt beinhaltet. Was wir allerdings sagen können, ist, ob eine Sinneswahrnehmung unser Verhalten beeinflusst. Bewegt etwa ein Einzeller immer nur dann seine Geißeln, wenn ihm sein aktueller Standort keine Nahrung mehr bietet, dann nimmt er eine Information wahr. Genauso wissen wir etwas über unsere Umgebung, wenn grelles Licht dazu führt, dass wir unsere Augen schließen, während sie ansonsten offenbleiben. Information (oder auch Kenntnis, Wissen etc.) hat also viel mit Kausalität bzw. der Macht von etwas über uns zu tun, und es liegt nahe, von hier aus Parallelen zu all jenen Ansätzen zu ziehen, welche die auch erkenntnistheoretische Bedeutung praktischen Handelns hervorheben.29 Allerdings muss diese Kausalität nicht nur äußere Vorgänge betreffen, sondern kann sich auch rein intern, etwa in unserem Kopf, abspielen.30 Doch noch eines legen die obigen Beispiele nahe: Information hat viel mit Unterscheidung zu tun, also etwa jener zwischen einem Ort mit und ohne Nahrung oder einer Umgebung mit oder ohne grellem Licht. Letztlich ist das nur eine Konsequenz der geforderten Kausalität (bzw. Macht), da etwas nur dann kausal ist, wenn es einen Unterschied macht. Am Anfang jeder Erkenntnis steht die Unterscheidung, eine Differenz oder Opposition, und damit nicht nur ein „Ja“, sondern genauso das entschiedene „Nein“ – nämlich anhand der Unterscheidung. Und keinerlei Informationsgehalt birgt es – wenig überraschend –, sich einer solchen Aussage kunstvoll zu entziehen.31 b) Informationsmenge Hat man Information als das definiert, was Verhalten beeinflusst und unterschiedliches Verhalten ermöglicht, lässt sich dann auch – vermeintlich unkompliziert – die „Menge“ von Information als die Menge verschiedener Handlungsmöglichkeiten definieren. Kann unser Einzeller also nicht nur entscheiden (im Sinne rein kausaler 29 Aus neuerer Zeit mag man hier etwa an die normalsprachliche Philosophie oder an den Pragmatismus denken. 30 Siehe dazu zur Mehrstufigkeit von Anschauungsformen oben C. I. 2. b). 31 Zu derartigem Nichtssagen siehe bereits oben A.
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Abhängigkeit von seinen Wahrnehmungen), ob er seine Geißeln bewegt oder bewegungslos bleibt, sondern etwa auch darüber, je nach Hunger (als einer weiteren Wahrnehmung – diesmal seinen eigenen Zustand betreffend) schneller oder langsamer zu schwimmen, so ist das nur ein anderer Ausdruck dafür, dass ihm jetzt mehr Information zur Verfügung steht, er also mehr „weiß“ über diese Welt. Doch stellt sich hier schnell das Problem, diese Differenziertheit zu quantifizieren, also eine objektive Größe dafür zu finden. 3. Komplexität a) Begriff i) Verhaltensgleichheit Damit sind wir schon beim Begriff der Komplexität angelangt. Um die in einem Betrachtungsgegenstand „enthaltene“ oder von diesem „ausgehende“ Informationsmenge wenigstens etwas zu objektivieren, können wir fragen, wie dieser „gleichermaßen“ bzw. „genauso gut“ möglichst „einfach“ beschrieben werden kann, um dieses Ergebnis dann als Komplexitätsmaß zu verwenden. Hier sei zunächst die Frage nach dem „gleichermaßen“ oder „genauso gut“ aufgeworfen. Dies meint Verhaltensgleichheit: Wann immer das für die jeweiligen Zwecke interessierende Verhalten trotz verschiedener Anschauungen gleich bleibt, also ein Einzeller genauso schwimmt oder an seinem Ort verbleibt, können wir diese Anschauungen anhand verschiedener Maße bewerten und miteinander vergleichen.32 Für das Recht gilt nichts anderes: Sofern es uns gelingt, das Verhalten etwa einer Rechtsordnung oder eines Teils derselben, so wie es sich täglich in Urteilen ausdrückt, verschieden abzubilden, lassen sich diese Abbildungen miteinander vergleichen. Nicht ohne Grund betont die eingangs vorgeschlagene Rechtsdefinition das konkrete Handeln.33 ii) Vergleichsgegenstand Dabei ist bereits diese Rechtsdefinition eine Anschauungsform, erfasst also nicht etwa frei von individuellen Anschauungen einen objektiven Gegenstand. Allerdings bietet diese spezielle Anschauungsform reichlich Ansporn und Gelegenheit, das gleiche Verhalten mit besseren Anschauungen zu erfassen. Zunächst drängt sich dabei der dem interessierenden Rechtsgebiet oft zugrundeliegende Gesetzestext auf, der fast schon definitionsgemäß Verallgemeinerungen enthält, welche die Rechtspraxis weniger komplex beschreiben als die nackte Aufzählung von Einzelentscheidungen. Dabei hat der Gesetzestext gegenüber rein wissenschaftlichen Vorschlägen den Vorteil, das zu beschreibende Recht stark zu beeinflussen. Oft liegen allerdings das, was sich in Gesetzestexten an Vorstellungen findet, und das, was Gerichte täglich an Einzelurteilen fällen, weit aus32 Für eine Illustration siehe unten C. III. 1. c). 33 Oben C. I. 1. a).
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einander. Oft ist es möglich, neue Anschauungen zu finden, welche die Rechtsrealität treffender wie einfacher abbilden. iii) Vergleichsmaßstab Was bisher offen blieb, war der Maßstab für eine bessere – für das gesuchte Komplexitätsmaß etwa „einfachere“ – Anschauung. Angesichts der bereits zuvor beschriebenen Schwierigkeiten bei der Bestimmung einer Informationsmenge bietet sich hier ein zwar „kruder“, dafür aber einigermaßen handhabbarer Maßstab an: die Abbildungskürze. So mag unser Einzeller wieder darüber entscheiden müssen, ob er wartet oder schwimmt. Dabei mögen seine Sinne (erste Anschauungsvariante) jede Sekunde übermitteln, ob seine Umgebung (noch) nahrhaft ist, um gegebenenfalls weiter zu schwimmen. Für einen Zeitraum von 20 Sekunden wäre dies beispielsweise „0000001111001111111“, wobei er im Ergebnis 6 Sekunden schwimmt, 4 Sekunden wartet, 2 Sekunden schwimmt und 7 Sekunden wartet. Ein anderer, besonders aufgeweckter Einzeller mag hingegen nur Umgebungsänderungen übermitteln. In Ziffern ließe sich das beispielsweise mit der Anzahl von Sekunden bis zur nächsten Verhaltensänderung abbilden. Dezimal wäre das dann „6427“, binär zum Beispiel in Blöcken von 0 bis 7 Sekunden „110100010111“. Die zweite Abbildung ist bei gleichem äußeren Verhalten also kürzer, was dann wiederum eine Energieersparnis oder schnellere Reaktionszeiten ermöglichen mag.34 Neu sind solche Überlegungen nicht, sondern knüpfen an informationstheoretische Begriffe wie die Kolmogorov-Komplexität an, die nach dem kürzesten Computerprogramm fragt, das ein vorgegebenes Objekt wie etwa eine andere Zeichenkette erzeugt.35 Aber auch unter Begriffen wie Informationsgehalt, Entropie, Kompression und Kryptographie finden sich interessante Erwägungen,36 die – obwohl oft mathematisch formuliert – nicht nur die Informatik betreffen. Auch die etwa von Juristen praktizierten Techniken wie Abstraktion oder speziell Verallgemeinerung führen zu einer kürzeren Abbildung. b) Eignung So erfreulich es ist, überhaupt einen Maßstab für Komplexität gefunden zu haben, so sehr hängt bereits die Kürze einer Beschreibung von Bedingungen ab, die eher arbiträr erscheinen. Hierzu gehören insbesondere die jeweils gewählte Symbolik (etwa auch einer Programmiersprache) sowie die genauen Fähigkeiten und sonstigen Eigenheiten der die Symbolik interpretierenden Person oder Maschine. Manche Szenarien lassen sich so überhaupt nicht berechnen. 34 Allgemein zu den Vorteilen geringerer Komplexität bzw. von Abstraktion unten C. IV. 4. b) passim sowie übergreifend oben B. 35 A. N. Kolmogorow, On tables of random numbers, Sankhyā Ser. A 25 (1963), 369, nachgedruckt in Theoretical Computer Science 207 (1998), 387. Siehe auch die Arbeiten von R. Solomonoff und G. Chaitin. Dabei ist „Computer“ mathematisch zu verstehen. 36 Siehe hier nur C. E. Shannon, A mathematical theory of communication, The Bell System Technical Journal 27 (1948), 379.
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i) Fähigkeiten Zudem blendet die bloße Kürze einer Abbildung aus, inwieweit die jeweiligen Adressaten – Menschen oder Maschinen – subjektiv-individuell in der Lage sind, diese zu verarbeiten. So lassen sich etwa Fotographien durch Kompressionsverfahren stark verkürzt abbilden. Während sich jedoch eine Maschine so programmieren lässt, dass sie mit dieser Abbildung umgehen kann, bevorzugen wir Menschen das ursprüngliche Format. Verkürzende Abbildungen mögen also in vielerlei Hinsicht hilfreich sein – etwa für eine ressourcenschonende Speicherung. Doch nicht immer repräsentieren sie das, worum es uns Menschen geht, wenn wir die Komplexität beklagen und zu reduzieren suchen. So können wir zwar Gesetzbücher oder Urteile mit einem Tastendruck komprimieren und damit verkürzen. Doch juristischer Fortschritt sieht anders aus. Anders formuliert: Kürze ist kein Selbstzweck, genauso wenig wie es die noch zu diskutierende Abstraktion ist, da Rechtsetzer wie -anwender darüberhinausgehende Ziele verfolgen, die Abbildungsformen erfordern, mit denen wir Menschen umgehen können. Dementsprechend finden sich zahlreiche Maße, die auf die subjektive Verständlichkeit – meistens für uns Menschen – abstellen. Die recht bekannte Flesch-Formel etwa ermittelt aufbauend auf der These, dass kurze Wörter und Sätze die Klarheit von Texten erhöhen, einen Index, der umso geringer ausfällt, je mehr Silben ein Wort und je mehr Wörter ein Satz hat.37 Informatiker berücksichtigen in ihrer praktischen Arbeit Kennziffern,38 die beispielsweise auf zu große Verschachtelungen reagieren. Und viele moderne Kompressionsalgorithmen sind uns zwar weiterhin nicht verständlich, berücksichtigen aber gezielt die spezifisch menschlichen Fähigkeiten, etwa wenn das mp3-Format solche Informationen von vornherein ignoriert, die das menschliche Ohr ohnehin nicht wahrnimmt (sog. Psychoakustik). All diese Maße berücksichtigen psychologisches, biologisches oder technisches Wissen und sind insofern hilfreich, allerdings nicht ohne Nachteile. Zum einen bilden sie ebenfalls nur Teilaspekte dessen ab, was für uns die Komplexität von Recht bedeutet. Zum anderen lassen sie diejenige Präzision vermissen, die man sich von Kolmogorov und ähnlichen Maßen erhofft. ii) Offene Fragen Ein wichtiges, wenn auch schwer vermeidbares Defizit sämtlicher hier diskutierter Komplexitätsmaße ist, dass sie den Untersuchungsgegenstand bereits voraussetzen. Sie sagen also nichts darüber aus, ob eine bestimmte rechtliche Vielfalt an Anordnungen, faktischen Verhaltensweisen usw. überhaupt wünschenswert ist. Dabei ist es oft gerade die schiere Masse an differenziertem Handeln, die uns dazu führt, zumindest umgangssprachlich die Komplexität etwa von Recht zu bemängeln – und nicht nur deren derzeitige Abbildung. Auch wäre es wie beispielsweise bei einer Rechtsvergleichung oft wünschenswert, die Komplexität verschiedener Anschauungsformen selbst dann bewerten zu können, wenn sie sich nicht auf haargenau den identischen Untersuchungsgegen37 R. Flesch, A New Readability Yardstick, 32 JApplPsychol 32 (1948), 221. 38 Stellv. T. J. McCabe, A Complexity Measure, IEEE Transactions on Software Engineering, 2 (1976), 308; M. H. Halstead, Elements of Software Science, 1977.
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stand beziehen. Auch hier „rächt“ sich, dass Komplexität kein Selbstzweck ist, sondern wir Menschen übergeordnete Ziele verfolgen, die Abwägungsfragen etwa dergestalt aufwerfen, ob noch mehr Einzelfallgerechtigkeit und damit Differenzierung die damit verbundenen Nachteile lohnt. Nur am Rande seien die üblichen erkenntnistheoretischen Grenzen erwähnt, sobald es darum geht, sich mit anderen Personen zu verständigen. Hier müssen wir schlichtweg auf die Möglichkeit von Kommunikation und zumindest ähnlichen Anschauungen hoffen und mögen uns dabei auf unsere weithin gleiche genetische (und damit auch geistig-sinnliche) Ausstattung und den uns gemeinsam überlieferten kulturellen Hintergrund (insbesondere unsere Sprache) stützen. Jedenfalls ist dies nichts, was es in diesem Beitrag auszuführen oder gar zu lösen gälte. 4. Abstraktion Selbst wenn man eine wenigstens einigermaßen fassbare Vorstellung von Komplexität entwickelt hat, sagt dies noch nichts darüber aus, wie sich diese konkret verringern oder sonst handhaben lässt. Genau das interessiert jedoch letztlich nicht nur Juristen und führt zu der nun zu diskutierenden Abstraktion: Wenn – wie hier vertreten – das zentrale Problem von Rechtswissenschaft bzw. Methodik die Bewältigung rechtlicher Komplexität ist, wird Abstraktion zu ihrem zentralen Ansatz. Tatsächlich lässt sich dies sogar für Wissenschaft generell behaupten und wird daher Inhalt, Sinn und Unsinn von Abstraktion in nahezu allen Bereichen diskutiert, sei es in der Psychologie, Biologie, Philosophie, Informatik, Mathematik oder auch der Kunst.39 a) Wegschauen i) Annäherung Zunächst geht Abstraktion mit einer geistigen Umformung dessen einher, was oder wovon abstrahiert wird. Die Abstraktion unterscheidet sich vom Gegenstand ihrer Abstraktion. „Ceci n’est pas une pipe.“ (René Magritte): Das Bild einer Pfeife ist nicht die Pfeife selbst. Abstraktion ist eine geistige Umformung, eine Anschauungsform, eine veränderte Sicht, wobei wir schon wissen, dass auch das, was wir etwa als reale Pfeife wahrnehmen, seinerseits eine Anschauung ist, die wir dann in weiteren Anschauungen erfassen können.40 Weitere Hinweise liefert ein verbreitetes normalsprachliches Verständnis von Abstraktion als einer Entfremdung weg von den mit unseren körperlichen Sinnen (Sehen,
39 Für einen schönen Überblick siehe L. Saitta / J.-D. Zucker, Abstraction in Artificial Intelligence and Complex Systems, 2013. 40 Siehe oben C. I. 2. b).
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Hören, Tasten etc.) erfassten Eigenschaften hin zu einer geistigen Größe:41 Dementsprechend ist uns Mathematik abstrakter als Geographie, ist Kasimir Malewitschs schwarzes Quadrat abstrakter als Peter Paul Rubens Selbstporträt und ist „Wahrheit“ oder „Schönheit“ abstrakter als „Baum“. Dabei finden sich oft zahlreiche Zwischenstufen, sind die Übergänge also fließend, sei es in der Mathematik von den mit realen Phänomenen noch eng verknüpften natürlichen Zahlen bis zu den uns schwer fassbaren irrealen Zahlen oder in der Geographie, wenn wir verschiedene Landkarten mit unterschiedlichen Auflösungen betrachten. Selbst das menschliche Lernen entwickelt sich in kritischen Phasen vom Konkreten zu darauf aufbauendem Abstrakten.42 ii) Grundidee Doch befriedigt die Idee einer Entfremdung vom Konkreten nicht vollends. Denn weder verdeutlicht sie den Sinn von Abstraktion noch das, was bei Abstraktion geschieht. Auch die Übertragbarkeit auf praktische – etwa rechtliche – Bedürfnisse bleibt zumindest vage. Die richtige Fährte, nicht allerdings ein Argument, liefert die Abstammung dieses Begriffs von lateinisch abstrahere (abziehen, wegziehen, entfernen, trennen) als wiederum auf das griechische aphaeresis zurückgehend. Abstraktion ist der Verzicht auf Information. Der Schlüssel menschlicher Erkenntnis liegt mindestens so sehr im intelligenten Wegschauen, wie er darin liegt, Dinge erst zu sehen.43 Dabei beginnt Abstraktion (wie Erkenntnis generell) bereits bei der Ausgestaltung unserer Sinnesorgane, um sich dann in weiteren Körperteilen wie insbesondere dem Gehirn fortzusetzen. Demgegenüber sind verlustfreie Kompression oder sonstige Umformungen wie etwa „(a+b)2 = a2 + 2ab + b2“ oder „1 + 2 + 3 + 4 + … + n = (n(n+1))/2 = (n2+2)/2“ zwar keine Abstraktion, eröffnen aber bisweilen ähnliche Vorteile44 wie eine schnellere Wahrnehmung bzw. Verarbeitung, eine bessere Verständlichkeit oder weniger Speicherbedarf. Was sie allerdings nicht liefern, ist ein verringerter Informationsbedarf. iii) Realitätsbezug Manche sehen Abstraktion, klassische Rechtswissenschaft oder stark abstrahierende Gesetzbücher wie das deutsche BGB skeptisch und befürchten eine Realitätsferne oder gar die Entfremdung vom „Wirklichen“ bzw. „Konkreten“, um stattdessen mehr Lebensnähe oder Offenheit einzufordern. Dem lässt sich allerdings begegnen. Denn entscheidender und alleiniger Maßstab für erfolgreiche Abstraktion ist die real-verbindlich-konkrete Verfolgung der vom Rechtsetzer verfolgten Ziele. Abstraktion ist 41 Zu Beispielen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen siehe Saitta/Zucker (Fn. 39), 2, 12, 15, 20 ff., 32 ff., passim. 42 Für frühe Forschungen hierzu siehe vor allem Jean Piagets genetische (im Sinne von Genese) Epistemologie sowie zum heutigen Stand die gute (populärwissenschaftliche) Darstellung von M. Spitzer, Lernen, 2007, 206 ff., 227 ff. 43 Zum Hinschauen siehe oben C. I. 1. b). Oder um es mit A. de Saint-Exupéry, Terre des Hommes, 1939, 60 zu formulieren: „Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n’y a plus rien à ajouter, mais quand il n’y a plus rien à retrancher.“ 44 Zu diesen Vorteilen unten C. IV. 4. b), aber auch D. III. 2.; D. IV. 3.
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keine Flucht vor der Realität in den Konjunktiv durch Schönreden unserer Welt oder durch Hypothetisierungen eines „hätte, wäre, wenn“ etwa unter Hinweis darauf, dass es doch „nur um ein Modell“ gehe.45 Juristen jedenfalls müssen zahllose konkrete Einzelfälle zielgerecht lösen und begründen, anstatt sich in solchen Ausreden zu ergehen. Abstraktion ist nicht selbstverliebte Spielerei vergeistigter Akademiker, sondern eines unserer wichtigsten praktischen Werkzeuge – und kann sich deshalb getrost an dieser praktischen Eignung messen lassen. Genau deshalb bildet sie nicht nur den Kern nahezu sämtlicher Wissenschaften, sondern auch das Ergebnis zahlloser biologischer (einschließlich geistiger) und damit evolutionär über hunderte von Millionen Jahren bewährter Vorgänge. Zudem ist Abstraktion immer Abstraktion von etwas, kommt also ohne Realitätsbezug gar nicht aus. Jedem erfolgreichen Wegschauen geht also ein die Rechtsrealität zunächst unbefangen-offen erfassendes Hinschauen voraus.46 Praktisch vollzieht sich beides in ständiger Wechselwirkung, genauso wie ein Lebewesen von vornherein nur solche Sinnesfähigkeiten ausbildet und damit Informationen wahrnimmt, die es zu vertretbarem Energieaufwand verarbeiten und für seine konkreten Zwecke verwenden kann. Der Wissenschaftler muss gleichermaßen beides im Auge behalten, das Hin- wie das Wegschauen – eine geistig anspruchsvolle Aufgabe –, wobei die entscheidenden wissenschaftlichen Herausforderungen oft in Letzterem liegen. b) Ziele Ersichtlich liegt die hohe Kunst guter Abstraktion darin, das „Richtige“ wegzulassen. Abstraktion ist nicht „irgendein“ Wegschauen. Es gibt gute wie schlechte Abstraktion. So mag zwar die Physik letztlich die Basis biologischer, menschlicher und damit auch sozialer Phänomene sein, doch ist es deshalb noch lange nicht sinnvoll (oder möglich), einen Vertragsschluss auf subatomare Prozesse zurückzuführen.47 Immerhin verfügen wir bereits über einen übergreifenden Maßstab für das Wegschauen, nämlich die vom jeweiligen Rechtsetzer verfolgten Ziele. Abstraktion ist – wie andere Anschauungsformen auch – kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, ein bloßes Instrument unter vielen. Fällt der sprichwörtliche Sack Reis in China um, so können wir dies getrost ignorieren, weil für unsere Interessen irrelevant. Damit ist gute Abstraktion insoweit relativ, als Gesellschaften oder Menschen oft verschiedene Ziele verfolgen. 45 Von solchen nutzlosen, weil sich auf eine irreale Welt beziehenden „Theorien“ zu unterscheiden sind stark vereinfachende Annahmen, welche die Realität erfolgreich (!) beschreiben. Siehe dazu M. Friedman, The Methodology of Positive Economics, in: Essays In Positive Economics, 1953, 3 ff. Inwieweit der Ökonomik dies mit ihrem Menschenbild gelingt, steht allerdings auf einem anderen Blatt. 46 Zu dieser Herausforderung siehe oben C. I. 1. b). 47 Siehe dazu nur – amüsant – https://xkcd.com/435/ sowie aus philosophischer Sicht etwa die unter dem – allerdings etwas schillernden – Stichwort der Emergenz geführten Diskussionen, dazu etwa aus anglo-amerikanischer Perspektive T. O’Connor / H. Yu Wong, Emergent Properties, in: E. N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Sommer 2015), https://plato.stanford.edu/archives/sum2015/ entries/properties-emergent/.
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c) Fähigkeiten Besinnt man sich darauf, dass Abstraktion ein schlichtes Werkzeug ist, um unsere Ziele zu verwirklichen, werden auch die jeweiligen Fähigkeiten und sonstigen Rahmenbedingungen des schauenden Subjekts – etwa eines Menschen – wichtig. Gerade begrenzte geistige Fähigkeiten machen Abstraktion für Komplexitätsbewältigung so attraktiv. Keine Information ist verständliche Information, und wir müssen unsere Ziele nun einmal hier und heute in der Welt verwirklichen, in der wir mit all ihren und unseren Widrigkeiten leben. Damit ist allerdings auch die Komplexitätsbewältigung auf die jeweiligen Fähigkeiten zuzuschneiden, bei Menschen insbesondere auf deren – auch stark kulturell geprägte48 – psychologisch-biologische Verfassung oder bei Maschinen auf deren technische Konstruktion und Leistungsfähigkeit. d) Zweischneidigkeit i) Gefahren Abstraktion ist kein Selbstzweck – sonst müssten wir alles auf dieser Welt ignorieren –, sondern nüchternes Instrument unser Zielverwirklichung. Gefährlich wird Wegschauen spätestens dann, wenn uns das vernachlässigte Wissen betrifft. Tatsächlich wandeln wir in der Biologie wie mit unserem Recht auf einem schmalen Grat zwischen bewusst hingenommener Blindheit und verbleibender Achtsamkeit. Oft ist Abstraktion ein schmerzhafter Vorgang, nämlich der angstvolle Verzicht auf relevantes Wissen. Im ungünstigsten Fall erweist sie sich als tödlich, manchmal lähmt sie auch „nur“, indem sie uns blind für Veränderungsnotwendigkeiten macht und uns starr, selbstgefällig und damit in einem schlechten Sinne dogmatisch oder fundamentalistisch werden lässt.49 Anders formuliert verringert Ignoranz die Möglichkeiten differenzierten Handelns: ohne vielschichtigen Input auch kein vielschichtiger Output.50 Und oft ist es eben sinnvoll, dem Recht ein weiteres feature, eine weitere Unterscheidung, noch etwas mehr Einzelfallgerechtigkeit hinzuzufügen, und dies mag weitere Information verlangen. Zudem ist Abstraktion ein geistig mühseliger Vorgang, der sich nicht immer rechnet. Wird eine noch so raffinierte Abstraktion gar nur noch von wenigen bzw. nur noch unter großem geistigen Aufwand verstanden, legt dies nahe, dass man bei aller Abstraktionsfreude vergaß, wozu Abstraktion letztlich dient. Erfahrene Programmierer etwa beherzigen die Weisheit „Don’t be clever“,51 reizen also nicht all das an Abstraktion aus, was an sich möglich wäre. Wer ein Programm schreibt, das ihn am 48 Siehe dazu bereits oben bei Fn. 24. 49 Siehe daher nochmals zum Hinschauen oben C. I. 1. b) sowie zum Wechselspiel von Hin- und Wegschauen oben C. IV. 1. c). 50 Siehe zu diesen Zusammenhängen bereits oben C. II.; C. III. 51 Oder auch „Keep it simple, stupid“ (KISS), vgl. Fn. 130.
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nächsten Tag um 9 Uhr morgens wecken soll, kann meistens darauf verzichten, verschiedene Kalender (gregorianisch, islamisch usw.), Zeitzonen oder Sommer- und Winterzeiten zu berücksichtigen.52 ii) Vorteile Doch stehen diesen Gefahren erhebliche Vorteile gegenüber. Bereits definitionsgemäß verringert Abstraktion den Informations- und damit oft auch Energieaufwand sowie die zur Informationsspeicherung benötigten Ressourcen. Meistens steigt auch die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Dass Menschen wie Affen etwa andere Lebewesen in nur 30 Millisekunden kategorisieren können, liegt an einer zunächst stark limitierten, unter anderem nur schwarz-weißen Informationswahrnehmung.53 Vor allem aber erlaubt uns Abstraktion Stabilität (und damit auch insoweit einen verringerten Energieaufwand): Je weniger Information wir berücksichtigen, desto seltener sehen wir uns genötigt, unter veränderten Umständen unser Verhalten anzupassen, desto weniger empfindlich, sondern umso robuster gegenüber äußeren Einflüssen agieren wir. Es ist die mit der Abstraktion einhergehende Robustheit gegenüber zahlreichen Unwägbarkeiten des täglichen Lebens, die es uns ermöglicht, ein anspruchsvolles und ausdifferenziertes Rechtssystem kontinuierlich zu betreiben, ohne es ständig an zu vielen Baustellen reparieren zu müssen. Ob Faxgerät oder Internet, das BGB musste deshalb nicht neu geschrieben werden. Der Wert solcher Stabilität (und von Rechten generell54) wird oft unterschätzt, leuchtet dann aber in kritischen Momenten umso eindrucksvoller auf, etwa wenn Khizr Muazzam Khan eine taschengroße Verfassung seines Landes zückt, um einen islamophoben Präsidentschaftsanwärter auf den dort seit 1868 gültigen Gleichbehandlungsgrundsatz hinzuweisen. Auf diese Stabilität wird noch vielfach – etwa unter dem Stichwort der Kapselung55 – zurückzukommen sein. Dabei sind Stabilität und Veränderung miteinander verknüpft, erlaubt erst die durch Abstraktion gewonnene Stabilität ein agiles, nämlich kontinuierlich und zuverlässig den jeweiligen Zustand (etwa das geltende Recht) in kleinen Schritten verbesserndes Vorgehen.56 Ebenso erlaubt es die durch Abstraktion gewonnene Stabilität, sehr viel mehr an praktischer Erfahrung zu sammeln als bei sich ständig wandelnden Zuständen und steigert so wiederum die Akzeptanz etwa eines Rechtssystems in der Bevölkerung. Und erst Stabilität macht es für viele Betroffene lohnenswert, sich mit Recht auseinanderzusetzen, es also zu verstehen, anzuwenden oder zu hinterfragen.
52 Illustriert bei https://xkcd.com/974/. 53 Stellv. M. Fabre-Thorpe, Visual categorization: accessing abstraction in non-human primates, Phil. Trans. R. Soc. Lond B 358 (2003), 1215; A. Delorme / G. Richard / M. Fabre-Thorpe, Key visual features for rapid categorization of animals in natural scenes, Front. Psychol. 1 (2010), 21; P. Girard / R. Koenig-Robert, Ultra-rapid categorization of fourier-spectrum equalized natural images, Plos ONE 6 (2011), e16453. 54 Näher zum Zusammenhang von Stabilität, (subjektivem) Recht und Ignoranz unten D. I. (bei Fn. 66). 55 Unten D. IV. 56 Näher unten D. III.
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e) Verstehen, Gründe Auf weitere mit Abstraktion verbundene Vorteile wird bei einzelnen Abstraktionstechniken noch einzugehen sein. Hier sei noch getreu der Grundthese dieses Beitrags57 auf den engen Zusammenhang von Abstraktion mit so grundlegenden Begriffen wie „Verstehen“ oder „Gründe“ hingewiesen. Meistens verbirgt sich dahinter nichts anders als eine erfolgreiche Abstraktion und können wir auf metaphysische Behauptungen verzichten. Es ist nur logisch, dass uns die Evolution nicht nur ein hochgradig abstrahierendes und deshalb so erfolgreiches Denken beschert, sondern uns auch auf kultureller Ebene zu weiteren Abstraktionen anspornt, indem wir diese emotional als beglückend empfinden. Wissenschaftler können davon ein Lied singen. Doch selbst das „Lernen“, das wir gemeinhin vor allem mit Wissensanhäufung und daher eher mit einem Hin- als dem Wegschauen verbinden, erfordert vor allem Abstraktion (bzw. das Lernen von Abstraktionen), nämlich die auf uns einströmende Informationsflut zu bewältigen. Tausende von Trivial Pursuit-Kärtchen auswendig zu lernen oder als Disziplin beglückt ob ihrer „mathematischen Präzision“ unzählige empirische Einzelstudien anzuhäufen, erlaubt zwar die kontinuierliche Produktion zahlloser für sich jeweils interessant klingender Einzelbeiträge, macht uns aber nicht schlau, sondern dumm, lässt uns nicht verstehen, sondern verzweifeln.58 IV. Abstraktionstechniken 1. Selektives Weglassen Der geradlinigste Weg zur Abstraktion besteht zweifellos darin, einzelne Informationen zu ignorieren und damit auf Unterscheidungen zu verzichten. So mögen wir nicht mehr auf rote Körper abstellen, sondern auf Körper gleichwelcher Farbe, unseren Rezeptor für Rot also absterben lassen. Dieses Weglassen mag mal bewusst und mal rein evolutionär im Zusammenspiel von Zufall und praktischer Bewährung geschehen. Zudem wird verständlich, warum Abstraktion graduell ist,59 da sich Informationswahrnehmung mehr oder weniger ausdünnen lässt. Die entscheidende Herausforderung liegt ersichtlich darin, die „richtigen“ (wichtigen, essenziellen, fundamentalen, relevanten, notwendigen, wahren, gemeinsamen, strukturellen, wesensmäßigen, universellen usw.) Informationen, Eigenschaften, Aspekte auszuwählen, also intelligent wegzuschauen. Maßstab für all das – einschließlich der oft schmerzhaften Abwägung, selbst relevante Information zu ignorieren – sind wie immer die jeweils verfolgten Ziele.60 57 Nämlich Rechtswissenschaft bzw. Wissenschaft generell als Komplexitätsbewältigung, vgl. oben A.; unten E.; passim. 58 Dazu auch unten D. II. sowie unten E. 59 Oben C. IV. 1. a). 60 Oben B.
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Vielversprechende Kandidaten für eine erfolgreiche Abstraktion durch selektives Weglassen sind verbundene Eigenschaften: Wann immer eine Eigenschaft A mit einer weiteren Eigenschaft B zusammenfällt, reicht es aus, nur noch A oder B wahrzunehmen, um die ignorierte Eigenschaft dann aufgrund früherer Erfahrung (gespeicherten Wissens) autonom-kreativ der eigenen Wahrnehmung hinzuzufügen. Das menschliche Gehirn praktiziert diese Anreicherung offensiv – wir fügen Wahrgenommenem oft ganze Geschichten hinzu –, meistens ohne uns dieser Anreicherung auch nur bewusst zu werden.61 Doch lässt sich für all das auch ein Grund angeben, nämlich die Vorteile von Abstraktion angesichts der Notwendigkeit von Komplexitätsbewältigung – und zwar in Form historischen Denkens.62 Ebenso wird deutlich, dass es Abstraktion fördert, Zusammenhänge (Verbundenheiten im weitesten Sinne) zu (er-)kennen. Praktische Beispiele erfolgreichen Weglassens sind endlos. Auf die verlustlose wie -reiche Kompression wurde bereits hingewiesen.63 Besonders das Gehirn liefert Anschauungsmaterial für eine Zielverwirklichung unter bisweilen beängstigend geringer Information. Als der vielleicht wichtigste Schlüssel für Intelligenz wird heutzutage „Inhibition“ im Sinne der Unterdrückung von Information diskutiert und liegt die Hauptfunktion etwa des Schlafs möglicherweise darin, neuronale Verbindungen wieder absterben zu lassen.64 Intelligente Gehirne zeichnen sich durch ein geringes und nicht starkes Rauschen aus. Das Recht steht dem nur wenig nach. So zeichnen sich Rechte dadurch aus, dass sie zahlreiche Interessen, Anliegen, Werte, Argumente usw. – selbst wenn gut nachvollziehbar – nicht gelten lassen: Wer Eigentümer ist, muss grundsätzlich selbst dann keine Enteignung fürchten, wenn andere dieses Eigentum besser (schneller, für breitere Kreise, effizienter etc.) nutzen könnten, es eher verdient hätten usw. Es ist gerade dieses – oft historisch strukturierte –65 Wegschauen, das aus der Abhängigkeit von schwankenden individuellen Ansichten und situativen Umständen mehr macht, nämlich ein (subjektives) „Recht“ und uns so diejenige starke Position und Stabilität verschafft, die wir am Recht allgemein und für einzelne Rechte im Speziellen schätzen.66 Privatrecht wiederum ist deshalb so erfolgreich, weil es sich nicht umfassenden staatlichen Anliegen unterwirft, sondern nur denen von Privatpersonen – etwa bei Vornahme eines Rechtsgeschäfts –, und das jeweils nur für einen äußerst kleinen Lebensausschnitt.67 Und nicht jedem scheint klar, was für einen Segen es bedeutet, selbst riesige Aktenberge dadurch bewältigen zu können, dass man sie gezielt und hierdurch enorm ressourcen61 Siehe zu solcher Anreicherung die Nachweise in Fn. 22 ff. 62 Zu den Vorteilen von Abstraktion siehe oben C. IV. 4. b) sowie zum historischen Denken unten D. III. und D. VI. 2. 63 Oben C. III. 2. a). 64 Für eine entsprechende Hypothese des „downscaling“ siehe etwa G. Tononi / C. Cirelli, Sleep function and synaptic homeostasis, Sleep Medicine Reviews 10 (2006), 49 mwN.: „sleep is the price we pay for plasticity“. 65 Näher zur Historizität unten D. III. 66 Eingehend zum Zusammenhang von Stabilität, (subjektivem) Recht und Ignoranz Rehberg (Fn. 4), 70 ff., 130 ff. mwN. Neu ist auch diese Erkenntnis nicht, siehe etwa aus dem englischsprachigen Raum R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977. 67 Näher Rehberg (Fn. 4), 1159 f.
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schonend „nur“ nach der für die einschlägigen Anspruchsgrundlagen relevanten Information durchsucht, anstatt all das berücksichtigen zu müssen, was beispielsweise für anspruchsvolle Folgenorientierung relevant sein mag. Genau solche stark abstrahierenden Ansätze sind es, die es uns Juristen erlauben, selbst hochkomplexe Sachverhalte zu bewältigen. 2. Verallgemeinerung a) Grundlagen Eine der wichtigsten Varianten intelligenter Ignoranz (Abstraktion) ist die Verallgemeinerung. Entdeckt unser Einzeller, dass sein „Magen“ nicht nur Panzeralgen, sondern Algen jeglicher Art (etwa auch Kieselalgen) verträgt, muss er die genaue Algenart nicht mehr wahrnehmen. Und konnte er bisher zwar zwei „verschiedene“ Nahrungsarten (etwa Algen und Bakterien) verdauen, nicht aber einheitlich wahrnehmen, so mag es ihm gelingen, ein gemeinsames Element beider Nahrungsarten auszumachen und sich auf dessen Wahrnehmung zu beschränken. Die Vorteile liegen dabei auf der Hand: Verallgemeinerung verringert Informationsaufwand und Komplexität, spart Energie wie Speicher, beschleunigt Entscheidungen, sorgt für Stabilität und ermöglicht gleichzeitig Flexibilität.68 Nicht ohne Grund steht Allgemeingültigkeit ganz oben auf der Liste nicht nur wissenschaftlicher Gelüste wie damit auch wissenschaftstheoretischer Konzepte,69 sondern genauso evolutionärer Prozesse und kultureller Errungenschaften. Dementsprechend töricht ist es, gegen „pauschale“ oder „undifferenzierte“ Sichtweisen mahnend das Wort zu erheben. Nicht nur wissenschaftlicher Fortschritt, sondern unsere gesamte menschliche Existenz basiert auf Undifferenziertheit und Pauschalisierung. Die einzig interessante Frage ist, wie weit wir darin gehen können, wie genau wir pauschalisieren. Und wenngleich es in manchen Zirkeln immer mal wieder zur Mode wird, beispielsweise das BGB oder die „deutsche Dogmatik“ (was dann gleich noch Länder, Kulturen und Traditionen beleidigt, die den Wert rechtswissenschaftlichen Arbeitens genauso kennen) angesichts von Verallgemeinerungen wie der Rechtsgeschäftslehre zu belächeln, so offenbart das nur ein irritierendes Unverständnis für die Komplexität jeder Rechtsordnung und die damit verbundenen Herausforderungen. Nichts anderes gilt für sorgfältige Begriffsarbeit, also die klare Definition und einheitliche Verwendung von – hierdurch dann oft „technischen“ – Begriffen, ganz gleich ob durch Gesetze, Gerichte oder Wissenschaft erarbeitet.70 68 Siehe dazu bereits oben C. IV. 4. b). 69 Vgl. Fn. 27. 70 Hierzu gehört auch manche Polemik gegen eine Begriffsjurisprudenz, die es so wie attackiert nie gab, dazu etwa H.-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004.
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b) Nachgelagerte Ebenen, Bündelungen Dabei ist Verallgemeinerung auch bei interner Weiterverarbeitung von Information möglich. So mag unser Einzeller Routinen entwickelt haben, durch die er einerseits auf fehlende Nahrung vor Ort und andererseits auf eine für ihn zu niedrige Umgebungstemperatur reagiert. Schwimmt er bei beiden Ereignissen im Ergebnis weg, hat aber diesen Vorgang bisher getrennt voneinander geregelt, kann er seine Informationsverarbeitung vereinfachen, indem er die Zustände „keine Nahrung vor Ort“ und „Temperatur zu niedrig“ in eine Überkategorie „widrige Umgebung“ zusammenfasst, um dann nur noch eine einheitliche (Unter-)Routine des Wegschwimmens aufzurufen, wenn er „widrige Umgebung“ vorfindet. Auch das ist Abstraktion, da für ein Handeln nur noch zwei Zustände (widrige Umgebung ja/nein?) zu berücksichtigen sind. Mit anderen Worten: Informationsverarbeitung findet auf verschiedensten Ebenen statt, weshalb Abstraktion nicht nur auf der äußeren Sinnesebene möglich ist. Und wie das obige Beispiel verdeutlicht, gelingt Verallgemeinerung auf einer inneren Ebene selbst dann, wenn man nicht nur Eigenschaften weglässt (sozusagen als „reine“ Verallgemeinerung), sondern eine Kategorie (hier: „widrig“) neu schafft und dieser „künstlich-konstruktiv“ zwei Sachverhalte (hier: „keine Nahrung vor Ort“ und „Temperatur zu niedrig“) zuweist. Ein weiteres Beispiel ist die Zuweisung von „Algen“ und „Bakterien“ zur Kategorie der „Nahrung“. Und auch die juristische Analogie ist Verallgemeinerung, da hier eine Norm auf zusätzliche Sachverhalte angewandt wird. Dabei sind Kategorienbildung und Verallgemeinerung (und Kapselung)71 eng miteinander verknüpft: Kategorisierung erlaubt also nicht nur eine schnelle Speicherung und Abrufung von Daten,72 sondern verwirklicht oft zugleich eine ausgeklügelte Verallgemeinerung. Nur die wenigsten Kategorisierungen sind in der Praxis dabei „rein“ im Sinne des bloßen Weglassens von Eigenschaften, sondern künstliche Zusammenstellungen. Die wichtigste und faszinierendste Fundgrube liefert unsere über Jahrtausende gewachsene Sprache. Hierzu gehört insbesondere die Verbindung bestimmter Eigenschaften bzw. Sinneseindrücke zu einem Objekt – etwa bestimmter Formen, Farben usw. zu einem „Baum“. Zu diesem kulturellen Erfahrungsschatz tragen auch Juristen bei. So profitieren wir bis heute davon, dass bereits das vermeintlich so abstraktions- bzw. theoriefeindliche römische Recht in kontinuierlicher Arbeit und unter ständiger praktischer Bewährung zahllose Über- und Unterkategorien herausbildete, auf die wir nunmehr wie selbstverständlich zurückgreifen, etwa wenn wir ausweislich der §§ 90 ff. BGB Sachen („körperlich“) wie Forderungen („nichtkörperlich“) zu „Gegenständen“ zählen, Sachen wiederum nach „beweglich“ und „unbeweglich“ unterteilen usw. Gute, nämlich praktisch taugliche Bündelungen
71 Baum- bzw Eltern/Kind-Strukturen – in der Informatik etwa für objekt-orientiertes Programmieren mittels „Vererbung“ typisch (Fn. 92) – enthalten nicht nur allgemeinere Ober- und darunter fallende Unterelemente, sondern kapseln auch: Was im oberen Element „passiert“, interessiert nur dieses Objekt und dessen Kinder, nicht jedoch sonstige Elemente eines Baums. Eingehend zur Kapselung unten D. IV. 72 In der Informatik finden sich daher viele ausgefeilte Algorithmen zu Baum-Strukturen (mit starken Bezügen zur Graphentheorie).
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zu finden, also Begriffe sinnvoll zu wählen und klar zu definieren, gehört zu den wichtigsten und schwierigsten (rechts-)wissenschaftlichen Herausforderungen. c) Wiederholung Eine Variante von Verallgemeinerung ist die Wiederholung. Denn etwas zu wiederholen bedeutet nichts anderes, als die gleiche Operation auf mehrere Sachverhalte anzuwenden. Im Recht etwa wenden wir § 108 Abs. 1 BGB sowohl auf die schuldrechtliche Verpflichtung als auch auf Verfügungen an, in der Informatik kennt man unter anderem Schleifen und das wiederholte Aufrufen der gleichen Funktion mit gegebenenfalls verschiedenen Argumenten. Dort ist „DRY“ („Don’t repeat yourself “) geradezu ein Mantra, wobei „repeat“ die unnötig verschiedene Umsetzung des Verallgemeinerbaren meint. Neben den Vorteilen einer Verallgemeinerung73 ermöglicht Wiederholung eine größere Erfahrungsbildung, Spezialisierung und so auch größere Robustheit gegenüber Fehlern, wenn sich eine Routine nicht nur einmal, sondern immer wieder praktisch bewähren muss und damit in stetiger Anpassung auch immer zuverlässiger werden kann. Wir können uns mit größerem Aufwand einer einzigen Routine widmen, anstatt nur oberflächlich derer vieler. Allerdings wird spätestens hier die Kapselung dermaßen wiederholt angewandter Routinen wichtig, was noch zu erörtern sein wird.74 Einen Spezialfall solcher Wiederholung (und damit wiederum Verallgemeinerung und damit wiederum Abstraktion) bildet die Rekursion, bei der das Ergebnis einer Operation auf die gleiche Operation aufs Neue angewandt wird. Was in Mathematik und Informatik zum Allgemeingut gehört, ist auch rechtlich fest verankert75 und führt uns direkt zu einem für die Bewältigung von Komplexität ebenfalls essenziellen, wenngleich bis heute stark unterschätzten und oft gar in Unkenntnis seiner Kraft höchst abschätzig beschiedenen Instrument: Historizität. 3. Historizität a) Grundidee Historizität im Sinne einer ständigen, schrittweisen Fortentwicklung ist eine der wichtigsten wie am häufigsten vernachlässigten Formen von Abstraktion und damit Komplexitätsbewältigung. Das heutige Recht etwa ist das Ergebnis vieler kleiner Schritte, die den jeweils vorgefundenen Rechtszustand regelmäßig nur sehr partiell modifizier73 Dazu oben D. II. 1. und allgemein zu den Vorteilen von Abstraktion oben C. IV. 4. b). 74 Unten D. IV. 75 Zu Beispielen siehe gleich D. III. 1.
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ten. Wir bestimmen das jeweils geltende Recht nicht etwa in jeder Sekunde insgesamt aufs Neue, sondern auf Basis des zuvor geltenden Rechts und einer dieses verändernden Operation. Oft, aber nicht notwendig, vollzieht sich diese Historizität rekursiv, bestimmt sich also die Veränderung nach der gleichen, wiederholt angewandten Routine bei einem lediglich jeweils verschiedenen Ausgangszustand. Das einfachste Beispiel bildet die Forderungsabtretung. Die in § 398 BGB angewandte Routine ist jeweils die gleiche. Allerdings verändert diese Übertragung den jeweiligen Rechtszustand, der dann jeweils die Basis für weitere Übertragungen bildet. So mag A eine Forderung zunächst auf B und dann B diese Forderung auf C übertragen. Doch auch Verpflichtungsverträge werden – gerne übersehen –76 auf Basis der jeweiligen rechtlichen Ausgangslage geschlossen und bleiben ohne deren Berücksichtigung unerklärt.77 In der Sache geht es hier einmal mehr um ein intelligentes Wegschauen und damit Abstraktion: Historisch zu denken bedeutet, nur auf den jeweiligen kleinen Schritt zu schauen, alles andere hingegen – und das ist regelmäßig sehr viel – „unkritisch-blind-gläubig“ hinzunehmen, eben zu abstrahieren. Überträgt jemand eine Forderung, so fragen wir uns nicht etwa übergreifend, wem allem in dieser Welt welche Forderungen gegenüber wem allem mit jeweils welchen Inhalten zustehen sollten, sondern nach § 398 BGB lediglich, ob der Übertragende nach dem jetzigen Rechtszustand Inhaber der Forderung ist und sich mit dem neuen Inhaber auf deren Übertragung geeinigt hat. Hieraus ergibt sich dann der neue Rechtszustand. b) Vorteile Für die Vor- und Nachteile historischen Denkens kann weithin auf Abstraktion generell verwiesen werden. Wegzuschauen und damit an sich verfügbare Information zu ignorieren, spart Energie, Zeit und Kapazitäten. Oder um es etwas dramatischer zu formulieren: Es wäre heller Wahnsinn, weil angesichts unserer begrenzten Ressourcen völlig unmöglich, wollte man in kurzen Abständen das gesamte Recht neu festlegen, anstatt unsere Ressourcen – darunter die knappe Aufmerksamkeit – immer nur auf kleine Teilbereiche zu richten, also schrittweise vorzugehen. Kein Gesetzgeber dieser Welt käme auf die Idee, auch nur alle paar Jahre das gesamte Recht neu zu entwerfen. Dafür ist Recht „ein klein wenig“ zu komplex – der Brexit lässt grüßen.
76 Eine leider isolierte Ausnahme bildet die Diskussion um die Bedeutung einer sogenannten baseline bei der Drohung, vgl. dazu R. Nozick, Coercion, in: S. Morgenbesser / P. Suppes / M. White (Hg.), Philosophy, Science, and Method, 1969, 440; A. Wertheimer, Coercion, 1987; T. Gutmann, Freiwilligkeit als Rechtsbegriff, 2001; Rehberg (Fn. 4), 253 ff. 77 Zur verfehlten Vorstellung, dass es bei Verträgen allein die Parteien seien, die allein im kurzen Augenblick des Vertragsschlusses den Vertragsinhalt bestimmen, siehe unten D. V.
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c) Verbreitung Dementsprechend findet sich Historizität nicht nur im Recht, sondern überall dort, wo Komplexität bewältigt werden muss, sei es in der Informatik (und zwar sowohl bei der Erstellung von Programmen78 als auch der Handhabung von Daten durch Programme79) oder dem Denken: Unser Einzeller etwa mag zwecks schnellerer und energieschonenderer Fortbewegung eine räumliche Vorstellung entwickeln, indem er eine vereinfachte (Abstraktion!) innere Weltsicht vorhält. Verändert sich diese Welt, wird er die von seiner inneren Weltsicht abweichenden Sinneswahrnehmungen als Irritation80 wahrnehmen und diese Weltsicht spätestens dann anpassen, wenn sie sich als stetig erweist. Auf dieser Basis kann er dann weiterschwimmen und ggf. neue Irritationen empfinden usw. Die meisten Lebewesen – uns Menschen eingeschlossen – sind nicht grundlos vor allem darauf geeicht, Veränderung wahrzunehmen, um die Aufmerksamkeit dann vorwiegend auf diese zu richten. Jedes anspruchsvolle Denken vollzieht sich in kontinuierlichem Übergang von einem ursprünglichen in einen neuen, diesen jeweiligen Ursprung schrittweise modifizierenden Zustand. So banal all dies erscheinen mag, wenn man einmal begriffen hat, was für eine unglaubliche Komplexität wir als biologische Wesen, im Recht, in der Wirtschaft, im Sozialen usw. bewältigen müssen, so erschreckend ist es, wie oft diese Einsicht gerade Wissenschaftlern verborgen bleibt. Die klassischen Vertragstheorien wurden hier bereits genannt. Ein weiteres Beispiel bildet die Ökonomische Analyse des Rechts mit ihrem utilitaristisch-wohlfahrtsökonomischen Denken.81 Diese geht getreu den zumindest bis Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschenden „Reißbretttheorien“82 davon aus, unhistorisch vorgehen und damit etwa auch das Recht als Ganzes hinterfragen zu 78 Siehe hierzu Richtungen wie „agile“ (stellv. R. C. Martin, Agile Software Development, 2003) oder „extreme programming“ (stellv. K. Beck, Embracing Change with Extreme Programming, Computer 32 (1999), 70; K. Beck, Extreme Programming Explained, 1. Aufl. 1999). Der organisatorische Aspekt wird derzeit unter „devops“ diskutiert – mit diversen Mechanismen wie „continous delivery / continous integration“. Zu betriebswirtschaftlichen Konzepten siehe unten Fn. 124 sowie zum test driven design unten Fn. 141. 79 Der Ausdruck „x = x + 1“ etwa formuliert in Computerprogrammen keine Gleichung, sondern erhöht den bisherigen Wert von x um eins. 80 Bei Menschen sprechen wir von kognitiven Dissonanzen, vgl. L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, 1957. Die Reaktionen können vielfältig sein, angefangen von Ignoranz bis hin zu einer Verhaltensänderung. 81 Zum Utilitarismus siehe nur J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1780; J. S. Mill, Utilitarianism, 1863; H. Sidgwick, The Methods of Ethics, 1874 sowie zu dessen Diskussion J. J. C. Smart / B. Williams (Hg.), Utilitarianism for and against, 1973. Effizienzkriterien wie die von Pigou, Pareto oder Kaldor/Hicks sind lediglich Anwendungsfälle dieser Grundidee einer Gesamtwohlfahrt, und zwar auch, wenn man sie – etwa in Anlehnung an Buchanan – gesellschaftsvertragstheoretisch und damit unter Berufung auf einen hypothetisch-fiktiven „Konsens“ frei erfundener „Individuen“ herleitet. 82 Näher Rehberg (Fn. 4), 1161 ff., 1166 ff. Hierzu gehören auch andere große Entwürfe dieser Zeit wie die Kantsche Tugend- und Rechtslehre (I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Bd. 1, 2. Aufl. 1798), die in gewisser Hinsicht den Abschluss dieser Phase bildet. Bereits Hegel spricht eine deutlich andere Sprache. Dass etwa Ökonomen, aber auch klassische wissenschaftstheoretische Vorstellungen wie etwa die eines Popper (Fn. 27) bis heute diesem Ideal – zusammen mit der Hoffnung auf mathematische Präzision – anhängen, dürfte nicht zuletzt am leider in Wahrheit nicht übertragbaren Vorbild der Physik mit ihren in der Tat beneidenswerten Erfolgen liegen.
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können, anstatt es in weiten Teilen voraussetzen zu müssen. Dies ist so realistisch wie die Vorstellung, das gesamte Amazonasgebiet einebnen und durch eine synthetische, menschlich-konstruierte bessere Natur ersetzen zu können. Dementsprechend wird dann eben doch eine ganze Rechtsordnung unterstellt, sei es der detaillierte Inhalt von Eigentum und sonstigen Rechten, die Einzelheiten und Grenzen ihrer Klag- und Vollstreckbarkeit, ein komplettes Vertrags- und Deliktsrecht oder unzählige sonstige Marktregelungen.83 Doch erfolgt das meistens unterschwellig – also ohne jede Offenlegung oder auch nur ein Problembewusstsein –, anstatt sich der Frage zu widmen, was für eine rechtliche Ausgangslage warum unterstellt, welche rechtlichen Einzelfragen demgegenüber anhand wohlfahrtsökonomischer Kriterien hinterfragt werden sollten, und wie sich ein so gefundenes Ergebnis in das gesamte Recht systematisch einfügt. Ebenso wenig ist solchen Reißbretttheorien die Existenz interner (bzw. historischer)84 Perspektiven vermittelbar.85 d) Herausforderungen Hat man sich einmal mit der Unausweichlichkeit historischen Denkens abgefunden, werden andere, neue Fragen wichtig. Hierzu gehört die Entscheidung, was unkritisch hingenommen und was hinterfragt werden soll, wozu auch die Größe des angestrebten Reformschrittes und damit grundlegend das Verhältnis von Stabilität/Blindheit/ Historizität/Geschlossenheit und Veränderung/Schrittweite/Offenheit gehört.86 Diese Entscheidung ist nicht etwa willkürlich, sondern wie immer87 anhand der individuell verfolgten Ziele zu bestimmen. Genauso kann sie ihrerseits den Gegenstand historisch-evolutionär voranschreitender Erkenntnisfindung bilden, wie dies in der Biologie für Häufigkeit, Art und Ausmaß genetischer Mutationen geschieht. Nicht minder wichtig ist es, Historizität durch darauf zugeschnittene Werkzeuge und Tätigkeitsabläufe zu unterstützen.88
83 Bis heute nehmen viele Ökonomen und manche Juristen an, es gebe einen vom Staat losgelösten Markt, der am besten von alleine funktioniere, hiergegen M. Rehberg, Wettbewerb und Intervention, JbJZRWiss (2007), 49, 52 ff. mwN. Allerdings finden sich in der Wirtschaftswissenschaft spätestens seit der Neuen Institutionenökonomik auch realistische Sichtweisen. C. G. Veljanovski, Wealth maximization, law and ethics, International Review of Law and Economics 1 (1981), 5, 19 etwa bezeichnet Märkte als rechtliche Konstrukte. Zur Problematik wirtschaftlicher Macht aus ordoliberaler Sicht siehe nur F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, 32, passim. Ebenso ließe sich auf die historische ökonomische Schule oder Keynes hinweisen. 84 Wer es in der Ökonomik etwa heutzutage wagt, einen Gustav von Schmoller zu bemühen, erntet zumindest im breiten Mainstream ob dieses „unpräzisen“ Ansatzes weithin Verachtung. Dass sich die heutige mathematische „Präzision“ allein auf irreal-fiktive Welten bezieht, stört demgegenüber niemanden, näher dazu auch unten C. IV. 1. c). 85 Näher zu solchen Innenperspektiven unten D. IV. 4. 86 Eingehend Rehberg (Fn. 4), 34, 84 ff., 1063 ff., passim. 87 Übergreifend oben B. 88 Gerade hier besteht noch viel Forschungs- wie Illustrationsbedarf, ansatzweise dazu unten D. VI. 4.
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Außerdem birgt historisches Denken viele Gefahren. Zum einen ist es wie jede Abstraktion gefährlich, Information zu ignorieren. Wer nur noch historisch-konservativ denkt, nur noch allzu kleine Schritte zu gehen bereit ist, den bezeichnen wir als starr, engstirnig oder in einem schlechten Sinne dogmatisch bzw. fundamental.89 Zudem führt Historizität eine neue Abhängigkeit (Koppelung) ein, nämlich die vom jeweils intern vorzuhaltenden Zustand, was manche Vorteile insbesondere der nunmehr zu diskutierenden Kapselung vermindert. Und alles, was wir als historisch gewachsen hinnehmen oder zumindest erst einmal ersetzen, verarbeiten, verbessern oder vereinfachen müssen, bildet oft eine große Last, weil wir uns damit auseinandersetzen, es also lernen, verstehen und sonst handhaben müssen.90 4. Kapselung a) Grundidee Wann immer in komplexen Umgebungen einzelne Funktionen, Routinen oder Abläufe wiederholt angewandt werden sollen, finden sich Kapselungen: Anstatt sämtliche Details einer bestimmten Informationsverarbeitung nach außen sichtbar zu machen und einen Zugriff auf diese Details von beliebigen anderen Stellen aus zuzulassen, schottet man sie ab. Unter idealerweise klarer Definition dessen, was in einen Prozess einfließt, ihm also an Daten übergeben wird, bleibt das, was mit diesen Daten geschieht, verborgen. Außenstehende Einheiten erfahren erst wieder vom Ergebnis dieses Prozesses. Oft spricht man hier von Schnittstellen. Diese können ruhig sehr spezifisch, nämlich auf den gekapselten Prozess zugeschnitten sein. Auch Kapselung ist Abstraktion, da sie wichtige Aspekte der internen Informationsverarbeitung zwar nur versteckt, damit aber andere Einheiten geradezu dazu zwingt, diese Interna zu ignorieren. Wir können Komplexität bewältigen, indem wir große Teile davon in gesonderte Routinen ausgliedern, um nur noch deren Ein- und Ausgänge kennen zu müssen. Man schafft gekapselte Komplexität zwar nicht aus der Welt, wohl aber aus dem Blick, sobald man sich auf die verborgene Funktionalität verlassen kann.
89 Es gilt hier nichts anderes als allgemein bei Abstraktion, vgl. oben C. IV. 4. a). 90 Weshalb die Tätigkeit als Anwalt, Richter usw. eine umfassende juristische Ausbildung benötigt. Siehe dazu auch aus der Informatik die Diskussion darüber, wie man „technical debt“ (im Sinne eines – wie nahezu immer – noch nicht optimalen Code) erfolgreich bewältigen kann, stellv. W. Cunningham, The WyCash portfolio management system, OOPSLA Experience Report (1992), abrufbar unter http://c2. com/doc/oopsla92.html; E. Allman, Managing Technical Debt, Communications of the ACM 5 (2012), 50.
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b) Verbreitung Dementsprechend finden sich in leistungsfähigen Rechtsordnungen zahllose Beispiele für solche Kapselungen. Das Trennungs- und Abstraktionsprinzip etwa ist keine selbstverliebt-abgehobene Entfremdung von „natürlichen Lebenssachverhalten“, sondern ein instruktives Beispiel für professionelle Komplexitätsbewältigung: Anstatt bei jeder Rechtsübertragung wissen zu müssen, ob irgendwelche zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfte einschließlich vorgelagerter Verträge wie in einer Lieferkette wirksam sind, können Normen wie §§ 398, 929 S. 1 oder 873 BGB sehr viel bescheidenere Voraussetzungen formulieren. Die allein damit verbundene Entlastung des Rechtssystems und seiner Akteure ist enorm, und es ist gleichermaßen bemerkenswert wie für unser derzeitiges Problembewusstsein bezeichnend, dass die mit dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip verbundene Komplexitätsbewältigung selten auch nur Erwähnung findet, wenn es um die Vor- und Nachteile dieses Rechtsinstituts geht. Die wohl klarste Diskussion – und eine äußerst konsequente Umsetzung von Kapselung – findet sich in der Informatik. So wurde etwa91 das prozedurale Programmieren zunächst von objektorientierten Ansätzen abgelöst92 und wurden diese um funktionale93 oder auch deklarative94 Konzepte ergänzt.
91 Die geistige Fundgrube ist hier enorm groß, weshalb nur auf Stichworte wie decoupling, loose coupling, shielding, isolation, die Diskussion von scope, namespace, privaten versus öffentlichen Variablen oder die Ausgestaltung von Funktionen und Klassen verwiesen sei. Doch selbst schlichte Konstanten (Bsp: „const pi = 3,1415) sind bereits Kapselungen, genauso wie Variablen und Typen. Dies setzt sich bei sehr großen Einheiten wie Bibliotheken, Modulen usw., aber auch zahllosen Konzepten wie beispielsweise MVC (dazu Trygve Reenskaug, The original MVC reports, 1979, abrufbar unter https://heim.ifi.uio.no/~trygver/2007/MVC_Originals.pdf) und vergleichbaren Spielarten fort. Ein einfaches Beispiel ist der Verzicht auf freies Hin- und Herspringen im Code, dazu E. W. Dijkstra, Go To Statement Considered Harmful, Communications of the ACM 11 (1968), 147. 92 Zu diesen siehe beinahe schon „legendär“ und mit einem beeindruckend reichen und vor allem anhand praktischer Erfahrungen erarbeiteten Fundus diverser Komplexitätsbewältigungstechniken E. Gamma / R. Helm / R. Johnson / J. Vlissides, Design Patterns, 1994. Klassische (allerdings nicht ausschließlich) objekt-orientierte Programmiersprachen sind beispielsweise C++, C# oder Java. 93 Siehe dazu – und zu wichtigen Stichworten wie Nebeneffekte (side effects) oder Reinheit (purity) – stellv. R. J. Bird / P. Wadler, An introduction to functional programming, 1988; J. Hughes, Why Functional Programming Matters, in: D. Turner (Hg.), Research Topics in Functional Programming, 1990, 17. Während konsequent funktionale Programmiersprachen wie etwa Clojure, F# oder Haskell in der Praxis bis heute eher selten sind, enthalten auch die gängigen objekt-orientierten Sprachen zahlreiche funktionale Elemente. 94 Bei deklarativen Ansätzen (klassische Beispiele sind in der Informatik SQL zur Abfrage relationaler Datenbanken oder HTML zur semantischen Strukturierung von insbesondere Texten) kann sich ein Anwender darauf beschränken, das gewünschte Ergebnis zu formulieren, um die praktische Umsetzung als davon gekapselte Routine „der Computersprache selbst“ (etwa einem Interpreter oder Compiler) zu überlassen. Die damit verbundene Erleichterung ist evident, allerdings gelingt dies bisweilen nur um den Preis einer geringeren Flexibilität, Geschwindigkeit oder Ausdrucksvielfalt/Differenziertheit des so erzeugten Verhaltens. Eine weitere Parallele sind Befehls- bzw. Organisationsstrukturen, bei denen untere Einheiten nur Zielvorgaben erhalten, über die Umsetzung im Einzelnen hingegen selbst entscheiden (sog. Führung durch Zielvorgabe). Auch das Subsidiaritätsprinzip lässt sich hierunter fassen, dazu etwa O. von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 1968, 77 ff.
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c) Vorteile Die Vorteile einer Kapselung sind vielfältig. Wie allgemein Abstraktion95 sorgt auch Kapselung für eine größere Stabilität. Nicht nur verringern eng gehaltene Schnittstellen die Empfindlichkeit für äußere Veränderungen. Auch lässt sich so auf neue Umweltbedingungen oder veränderte Ziele oft allein dadurch reagieren, dass man die interne Funktionalität der gekapselten Routine anpasst, nicht aber die Schnittstellen. Damit kann man all die anderen Teile der Informationsverarbeitung (etwa eines Rechtssystems) unberührt lassen, die eben nur über diese Schnittstellen auf die intern nunmehr veränderte Routine zugreifen. Gekapselte Routinen können so „under the hood“ fortwährend verbessert werden, wovon Außenstehende profitieren, ohne selbst auch nur irgendeinen eigenen Anpassungsaufwand zu tragen. Zudem lassen sich stark kapselnde Systeme besser verstehen bzw. handhaben. Denn komplexe Phänomene werden oft erst dann zu einem Problem, wenn es ständig aufs Neue notwendig wird, sich mit ihnen zu beschäftigen. Muss man dies hingegen nur einmal tun, weil man diese Komplexität geschickt einhegen und damit von restlichen Tätigkeiten zukünftig fernhalten kann, infiziert diese Komplexität nicht mehr die restliche Informationsverarbeitung. Nunmehr muss man dann nur noch die einzelnen gekapselten Module96 und deren Schnittstellen kennen, nicht aber auch noch deren interne Funktionsweise. Darüber hinaus lassen sich in ihrer Funktionalität klar definierte und begrenzte Teilsysteme sehr viel besser testen, also auf mögliche Fehler hin überprüfen.97 Ebenso sind gut gekapselte Einheiten leichter austauschbar (was nichts anderes heißt, also dass sich deren interne Funktionalität wie bereits beschrieben verändern lässt), weshalb hier dann oft von Modulen bzw. Modularisierung die Rede ist. Genauso lassen sich sauber gekapselte Teilbereiche in zeitlicher Hinsicht oft erst dann „nachladen“, betrachten, berücksichtigen, aufnehmen usw., wenn sich herausstellt, dass dafür überhaupt Bedarf besteht, was nicht nur nochmals Komplexität verringert, sondern oft auch Zeit, Energie und Speicher spart. Weiterhin eignen sich gut gekapselte Einheiten hervorragend für eine Parallelisierung der Informationsverarbeitung. Diese Parallelisierung mag zwar in ihrer technischen Bedeutung für das Recht weniger interessant sein, wohl aber ist sie es für ein fundamentales soziales Phänomen: Der vielleicht wichtigste Vorteil von Kapselung ist die damit ermöglichte Arbeitsteilung und Spezialisierung.98 Denn nunmehr können sich verschiedene Personen auf einzelne Teilbereiche konzentrieren. Dementsprechend ist auch Disziplinarität ein schlichtweg intelligenter Umgang mit Komplexität.99
95 Zu deren Vorteilen siehe oben C. IV. 4. b). 96 Zur Modularisierung in der Informatik siehe etwa D. L. Parnas, On The Criteria To Be Used in Decomposing Systems into Modules, Communications of the ACM 15 (1972), 1053. 97 Näher zum sehr wichtigen Aspekt des Testens unten D. VI. 4. 98 Näher unten D. V. 99 Näher unten D. V.
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d) Innenperspektiven In ihrer reinsten, funktionalen Form liefert eine gekapselte Routine genau das gleiche Ergebnis, wann immer man sie unter Übergabe der gleichen Argumente aufruft.100 Doch ist das nicht immer zweckmäßig. Oft findet sich ein solches Eigenleben, ein innerer Zustand, der sich von Aufruf zu Aufruf fortentwickelt und damit das jeweils ermittelte Ergebnis mit beeinflusst. Es wird also nicht bei jedem Aufruf völlig von vorn begonnen, sondern auf Basis erstens bereits früherer, in der gleichen Einheit vorgenommener Operationen sowie zweitens der nunmehrigen Eingabe ein neues Ergebnis (und zugleich ein neuer innerer Zustand als Basis für zukünftige Aufrufe) ermittelt. Soziologisch kann man hier dann von Eigenrationalitäten oder aus Sicht der Informatik von Objekten mit internem „state“ sprechen. Aber auch das Recht liefert zahlreiche Beispiele. So bildet das Zivilrecht insofern einen zumindest grob abgeschlossenen Prozess, als wir die jeweilige Rechtezuordnung dort vorhalten müssen, um diese Rechtslage auf Basis klar definierter Eingaben (etwa eines Vertragsschlusses) jeweils zu verändern und den so angepassten Rechtszustand als Basis zukünftiger Operationen zu verwenden.101 Demgegenüber ist Reißbretttheorien die Existenz interner (bzw. historischer) Perspektiven nicht vermittelbar,102 während diese ohne weiteres – vor allem auch ohne jegliche metaphysische Überhöhung – einsichtig werden, wenn man sie als Ausdruck notwendig historischer Entwicklungen identifiziert.103 Anders formuliert müssen wir Recht (genauso wie jedes andere komplexe Phänomen) erst aus seiner eigenen Logik heraus verstehen, uns also mit dessen historisch gewachsenen Besonderheiten auseinandersetzen, bevor wir – meistens nur für einen kleinen, bescheidenen Schritt – ernstzunehmende Verbesserungsvorschläge unterbreiten können. Damit wird auch deutlich, dass Kapselungen mit einem solchen dynamischen, inneren Zustand („state“) einen Spezialfall der bereits zuvor beschriebenen Historizität bilden, und zwar angesichts der praktischen Bedeutung von Wiederholung als einer Form von Verallgemeinerung sogar deren häufigste Form, weshalb für konkrete Beispiele nach oben verwiesen werden kann.104 Allerdings hat diese Historizität nicht nur Vorteile,105 sondern vereitelt auch einige der zuvor beschriebenen Vorteile einer Kapselung, namentlich die Vorhersehbarkeit der jeweiligen Ergebnisse und damit der Testbarkeit, der Austauschbarkeit und damit auch der Möglichkeit eines flexiblen, späteren „Nachladens“ sowie einer parallelen Informationsverarbeitung. Anders formuliert verstärken sich die Abhängigkeiten (Koppelungen). 100 101 102 103
Siehe zum funktionalen Programmieren oben Fn. 93. Näher oben D. III. 1. Zu solchen Reißbretttheorien siehe bereits oben D. III. 3. – etwa bei Fn. 84. Siehe zur philosophischen Diskussion interner und externer Perspektiven stellv. Hart (Fn. 9), 89 ff., 42 f., passim; E. J. Weinrib, The Idea of Private Law, 1995. Tatsächlich geht es bei diesem Phänomen – „ganz profan“ – um ein angesichts von Komplexität und begrenzter geistiger Fähigkeiten für die Verwirklichung unserer Ziele notwendig historischen Ansatz, vgl. Rehberg (Fn. 4), 124 f., 1665 f. 104 D. III. 3. 105 Zu diesen siehe oben D. III. 2.
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5. Arbeitsteilung Die vorherigen Ausführungen zur Kapselung beschränkten sich auf Entkoppelungen, wie sie sich beispielsweise in einer Rechtsordnung, in einem Computerprogramm oder im menschlichen Gehirn finden. Doch lässt sich dieser Gedanke noch erweitern. Denn dass wir als Menschheit, Kulturen, Staaten, Städte, Unternehmen, Gruppen usw. bisweilen schier Unglaubliches und hochgradig Komplexes erschaffen, liegt nicht zuletzt an einer ausgeklügelten Arbeitsteilung – und zwar in personeller wie zeitlicher Hinsicht. Rom wurde nicht von einem Menschen allein erbaut (und auch nicht an einem Tag). Doch greift dies noch zu kurz, liegt das Geheimnis nicht nur in einer äußerst zahlreichen Zusammenarbeit oder in besonders langandauernder Tätigkeit: Besäßen alle Menschen die gleichen Fertigkeiten, bestünde diese Stadt auch dann bestenfalls aus Lehmbauten. Vielmehr sind es das arbeitsteilige Zusammenwirken106 und die damit ermöglichte Spezialisierung, welche uns trotz individuell begrenzter Fähigkeiten – darunter eine nur punktuelle Aufmerksamkeit – so erfolgreich machen. Arbeitsteilung ist nichts anderes als die Kapselung einzelner Menschen (oder auch Maschinen) voneinander, die dann mittels verschiedener Schnittstellen miteinander agieren. Eine der wichtigsten dieser Schnittstellen ist der Markt- und Preismechanismus, aber auch Berufs- und Produktstandards gehören hierhin. Dementsprechend ist Arbeitsteilung genauso Abstraktion wie die zuvor allgemein beschriebene Kapselung, da einzelne Menschen nun all das ignorieren können, was nicht ihrer eigenen, sondern einer fremden Spezialisierung entspricht. Für die Vorteile von Arbeitsteilung kann damit weitestgehend auf die vorherigen Ausführungen verwiesen werden.107 Idealerweise kann sich der Einzelne auf kleine Teilprobleme konzentrieren, die in ihrer Komplexität für ihn noch durchschaubar sind. Gelingt Kapselung hingegen nicht, kann sich gemeinsames Arbeiten oft geradezu als schädlich erweisen.108 Leider sind gerade Wissenschaftler nicht immer immun dagegen, Existenz, Notwendigkeit und praktische Bedeutung von Arbeitsteilung zu verkennen. Das gilt besonders für das Thema der Interdisziplinarität: Gerade wer weniger nach neuen Erkenntnissen als vielmehr sozialer Anerkennung Ausschau hält, ist nur zu schnell versucht, als Laie unter Laien in Zweit-, Dritt- und Viertverwertung fremder Einsichten über fremde Disziplinen fachzusimpeln. Schließlich lässt sich so viel bequemer und schneller publizieren, kann man große Belesenheit demonstrieren und vor allem sämtlichen disziplinären Qualitätssicherungsmechanismen ausweichen, weil sich kein Experte für Derartiges auch nur interessiert. Und da man mangels eigener Expertise selten fähig ist, dort Neues beizutragen, ja nicht einmal von den Experten des jeweiligen Faches wahr- und 106 Stellv. B. Mandeville, The Grumbling Hive, 1705; A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 1, 1776, 5 ff.; H. Spencer, The Principles of Sociology, 1896, 334 ff.; G. Simmel, Über sociale Differenzierung, 1890; È. Durkheim, De la division du travail social, 1893. Die eindrucksvollsten Beispiele für eine höchst ausgeklügelte, oft über hunderte von Millionen Jahren entwickelte Arbeitsteilung liefert allerdings – einmal mehr – die Biologie. Amüsant https://xkcd.com/676/. 107 Oben D. IV. 3., vgl. auch oben C. IV. 4. b), D. III. 2. 108 „What one programmer can do in one month, two programmers can do in two months.“
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damit ernstgenommen wird, wird man lediglich Inhalte wiedergeben, die sich in gängigen Lehrbüchern oder vergleichbaren Darstellungen finden. Das erspart es einem auch gleich, sich gar zu möglicherweise unpopulären, weil tatsächlich neuen („neu“ heißt zunächst einmal „allein“) Ansichten durchzuringen und so – vielleicht sogar beruflich riskante – Kontroversen eingehen zu müssen. Wem das allerdings doch ein wenig suspekt vorkommt, wird sich schlichtweg bisweilen ein gängiges Lehrbuch greifen, um sich darin über gesicherte Ergebnisse zu informieren und hieraus dann rechtswissenschaftliche und damit rechtsdogmatische Konsequenzen zu ziehen, sich aber auch für eine intelligente Kapselung unter klarer Definition von Schnittstellen zu interessieren – eben Arbeitsteilung betreiben. Aber auch in rein materiellrechtlichen Sachfragen wird die Notwendigkeit von Arbeitsteilung oft unterschätzt. Die Vorstellung etwa, dass die Parteien sämtliche Rechtsbeziehungen allein untereinander und allein im kurzen Augenblick des Vertragsschlusses regeln, ist unrealistisch und widerspricht genau deshalb dem von jeher praktisch gehandhabten Recht. Vielmehr sind es zahllose Personen bzw. Personengruppen, die zu verschiedensten Zeitpunkten darüber entscheiden, was wir als Vertragsinhalt ansehen. Und doch liegt dieses punktuelle Denken gängigen vertragstheoretischen Vorstellungen wie der Willens- oder Erklärungstheorie zugrunde, was viel darüber verrät, wie wenig sensibel wir selbst für noch so elementare Instrumente der Komplexitätsbewältigung sind.109 Gerne unterschätzt wird auch die zeitliche Arbeitsteilung mit sich selbst: Einerseits können einzelne Personen selbst anspruchsvolle Aufgaben oft dadurch bewältigen, dass sie über lange Perioden Schritt für Schritt nach vorne setzen. Andererseits vergisst der Mensch erschreckend schnell, was er kurz zuvor noch für fest gemerkt und für alle Zeit verstanden glaubte. Wir müssen uns oft mühsam in das gedanklich einarbeiten, was wir selbst zuvor geschrieben oder gedacht hatten. Damit müssen wir auch mit uns selbst, nämlich mit dem späteren, schon wieder alles vergessen habenden Ich der Zukunft kommunizieren, für dieses dokumentieren, Komplexität verringern, uns in dessen Verständnisschwierigkeiten eindenken usw.110 Wie eine Kapselung generell beschwört allerdings auch Arbeitsteilung neue Herausforderungen und finden sich dementsprechend zahlreiche, oft höchst ausgeklügelte Techniken, um diese Arbeitsteilung zu ermöglichen. So muss man entscheiden – und zwar möglichst auf verallgemeinernd-abstrahierend-begründender Basis –, welche Person zu welcher Zeit anhand welcher Anforderungen an die Entscheidungsqualität mit 109 Eingehend Rehberg (Fn. 4), 4 ff., 95 ff., 438 ff., 508 ff., 634 f., 941, 1136 f., passim. 110 Gerade in der Informatik, wo es vermeintlich eine Maschine ist, mit welcher der Mensch kommuniziert, wird dies klar gesehen. Zur praktischen Umsetzung solcher Kommunikation mit sich selbst siehe nur R. C. Martin, Clean Code, 2008. Ebenso finden sich in der Informatik Studien darüber, was für Sprachkonventionen für Menschen verständlich sind, stellv. J. F. Pane / C. A. Ratanamahatana / B. A. Myers, Studying the Language and Structure in Non-Programmers’ Solutions to Programming Problems, International Journal of Human-Computer Studies 54 (2001), 237 mwN. Die Notwendigkeit einer Kommunikation von Menschen mit Menschen selbst bei einer an Maschinen gerichteten Sprache formuliert deutlich Donald Ervin Knuth: „Programs are meant to be read by humans and only incidentally for computers to execute.“ Auch das stellt faszinierende Herausforderungen dar und zieht vielfältige Konsequenzen nach sich.
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welchen Aufgaben betraut wird. Ebenso müssen die einzelnen Teilleistungen kombiniert und aufeinander abgestimmt werden. Eine besonders spannende und zukünftig immer wichtiger werdende Herausforderung ist die Arbeitsteilung zwischen Menschen und Maschine, ohne dass es dafür prinzipiell anderer Kriterien bedürfte als für die zwischen Menschen. Doch weil sich die Fähigkeiten stark unterscheiden und Menschen eine andere Sprache als Maschinen sprechen, erweist sich hier die Koordination und Arbeitsteilung oft als besonders anspruchsvoll. Dabei wird es bei komplexen Aufgaben noch sehr lange unumgänglich sein, Menschen einzusetzen.111 Gerade Juristen können dabei einiges aus ihrer Erfahrung zu der Frage beisteuern, wie man Menschen – etwa Richtern – einerseits Vorgaben macht, um insbesondere parlamentarische Steuerungswünsche zu honorieren, ihnen angesichts der unglaublichen Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns sowie besserer Sachkenntnisse vor Ort andererseits aber auch genügend Freiräume lässt, damit sie sich „im Einzelfall“ doch über Anordnungen hinwegsetzen bzw. dieses parlamentarische Recht schöpferisch fortbilden können. 6. Prozess a) Sprache Ein sehr spannendes Problem ist die Bewältigung rechtlicher Komplexität durch darauf zugeschnittene Prozesse im weitesten Sinne. Dies beginnt – sich noch stark mit inhaltlichen Aspekten überschneidend – bei der Gestaltung von Sprache. Diese sollte verständlich sein, aber auch möglichst präzise Aussagen ermöglichen, um beispielsweise Arbeitsteilung zu erleichtern und insbesondere Wissen zu speichern. Unser Wortschatz ist nichts anderes als eine gigantische Ansammlung praktisch bewährter Abstraktionen.112 Als ein von uns beeinflussbares Instrument ist Sprache auf die Bedürfnisse ihrer Verwender (einschließlich der Adressaten) zuzuschneiden – Menschen etwa sprechen anders als Maschinen, haben also andere Schnittstellen, mit denen sie kommunizieren.113 Eine leistungsfähige Sprache sollte es uns erlauben, uns reichhaltig auszudrücken,114 uns also nicht in unseren Denk-, Kommunikations- und damit dann oft auch Handlungsinhalten einschränken. Sie sollte möglichst leicht erlern- und anwendbar sein, was im 111 Näher unten D. VI. 1. 112 Näher oben D. II. 2. 113 Wobei in der Informatik – und womöglich eines Tages auch im Recht – die (Programmier-)Sprache gleichermaßen für Maschinen wie Menschen verständlich sein muss, vgl. dazu sowie allgemein zu verständlicher Kommunikation bereits oben bei Fn. 110. 114 Schon deshalb wird es beispielsweise zur Beschreibung von Vertragsinhalten nie – weil viel zu begrenzt – ausreichen, allein auf den Willen bzw. das Erklärte der Vertragsparteien bei Vertragsschluss zu verweisen, sondern ist das wohl wichtigste Instrument für Reichhaltigkeit die Optimierung von Vertragsinhalten mit Blick auf das Parteiinteresse, näher Rehberg (Fn. 4), 146 ff.
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Recht besonders begrüßenswert wäre, weil Recht breite Bevölkerungskreise betrifft und demokratisch legitimiert wie diskutiert werden soll. Juristen müssen und sollen etwa als Anwalt, Richter oder Gesetzgeber mit Laien sprechen. Dabei sind die allgemeinen Grundsätze guten Stils zu beachten.115 Doch ist hier vor unrealistischen Vorstellungen zu warnen. Der Traum eines für jeden Bürger verständlichen Rechts ist zwar löblich, in weiten Teilen aber unrealistisch,116 weil mit einem zu hohen Preis verbunden. Nur als stark abstrahierende und an Experten gerichtete Fachsprache kann Recht die von ihm verlangte Leistungsfähigkeit,117 darunter eine hohe Differenziertheit und Rechtssicherheit, erbringen. Dies macht es dann allerdings erforderlich, diese Fachsprache zumindest für wichtige Fragen in eine vereinfachte, untechnische, aber rechtlich unverbindliche Sprache zu übersetzen, wozu etwa Anwälte, Medien oder Verbände beitragen können. Was alles eine technisch-präzise Fachsprache ermöglicht, verdeutlicht nicht nur ein Blick in das geltende Recht, sondern beispielsweise auch die Informatik, die illustriert, welches Niveau und welche Tiefe das vermeintlich schlichte Anliegen eines verständlichen Ausdrucks erreichen kann.118 Vieles davon ließe sich auf das Recht übertragen. Dabei sollten auch Juristen offensiver über alternative Darstellungsformen wie etwa Visualisierungen nachdenken. Weniger offensichtlich ist es hingegen, dass es für die Komplexitätsbewältigung hilft, Ausdrucksmöglichkeiten nicht unnötig – also mit Doppelungen oder Überschneidungen – ausufern zu lassen, sondern gezielt zu begrenzen.119 Auch das ist eine Variante von Abstraktion.120 Dabei könnte dies den ersten Schritt einer stetig (historisch!) zunehmenden121 Formalisierung des Rechts bilden. Deutlich weiter in diese Richtung ginge es, nicht nur die Anordnung von Rechtsfolgen auf wenige klare Grundformen zu reduzieren, sondern genauso Kompetenzzuweisungen sowie inhaltliche Aussagen jeweils als solche klar 115 Siehe dazu nur klassisch L. Rainers, Stilkunst, 1. Aufl. 1944. 116 Erfreulich deutlich E. T. Towfigh (Fn. 11), 73. Bisher ließ sich nicht feststellen, dass etwa das dieses Anliegen verfolgende schweizer oder das im Geiste der Aufklärung verfasste französische Zivilrecht vom Normalbürger besser verstanden und angewandt wurde. 117 Zu den praktischen Bedürfnissen einer Rechtsordnung siehe oben B. II. sowie zu den Vorteilen von Abstraktion oben C. IV. 4. b); passim. 118 Siehe dazu etwa Martin (Fn. 110). In der Informatik geht es etwa um die Bezeichnung von Variablen, Objekten oder Funktionen, die Größe und Gestaltung von (Teil-)Programmen, Ob und Inhalt von Kommentaren, Dokumentation, Schnittstellen (APIs), style guides, Konventionen u. v. m. 119 Siehe dazu – wiederum aus der Informatik – T. Berners-Lee, Principle of least power, abrufbar unter https://www.w3.org/2001/tag/doc/leastPower.html (letzter Zugriff 18. Dezember 2017), aber auch Praktiken wie die Verwendung von Standards unter Stichwörtern wie „convention over configuration“. 120 Selbst das vermeintlich so abstrakte BGB ist hier extrem abwechslungsreich, formuliert etwa in den §§ 104 ff. die Anforderungen an eine private Rechtsetzung unter anderem mittels folgender Begriffe: Nichtigkeit, (schwebende) (Un-)Wirksamkeit, Eintritt, Zeitpunkt, Dauer, Bestehen, Wirkung, Bindung, Geltung, Verpflichtung, Hemmung, Haftung, Erlöschen, Maßgeblichkeit, Befugnis, Dürfen, Berechtigung, ausgeschlossen sein, ausgenommen sein, Zulässigkeit, Vornahme, Können, Fähigkeit, Erwerb, Eignung, Tauglichkeit, Ersatz, Erfolgen, Bedürfen, Unterliegen, Abhängigkeit, Müssen, Verpflichtung, Widerrechtlichkeit, Abschluss, Zustandekommen. Dieser Wortschatz ließe sich ohne weiteres auf eine Handvoll an Bedeutungen verringern – mit großem Gewinn für Verständnis, Diskussion und Reform. 121 Zu solcher Historizität siehe oben D. III. und unten D. VI. 2.
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auszuweisen und sprachlich zu vereinheitlichen. Mit naiven, wenngleich derzeit wieder einmal modernen Künstliche Intelligenz-Phantasien122 hätte das allerdings wenig zu tun. Der Tag etwa, an dem wir fähig wären, folgenreiche und komplexe juristische Entscheidungen allein einem Computer anzuvertrauen, liegt weit entfernt. Sofern es jemals möglich wird, Recht zumindest in signifikanten Teilbereichen als Programm ablaufen zu lassen, dann nur mit Hilfe dessen, was nicht nur von Juristen über Jahrhunderte an möglichst präzisen und praktisch subsumierbaren Begriffen, Unterscheidungen, Verallgemeinerungen, Kapselungen usw. erarbeitet wurde. Diese klassisch-juristische Dogmatik bildet den einzig realistischen Ausgangspunkt. Dabei würde allein der Versuch einer nur etwas formelleren Beschreibung einzelner Rechtsbereiche dazu beitragen, im geltenden Recht zahllose versteckte Aussagen, unbeantwortete Probleme und inkonsistente Sachstrukturen aufzudecken, die sich derzeit unter einer unnötig unpräzisen Rechtssprache verbergen. b) Historizität Bereits zuvor wurde historisches Denken als notwendiges Element jeder Komplexitätsbewältigung beschrieben.123 Doch lässt sich dies noch erweitern, ist nicht nur das Recht inhaltlich historisch strukturiert, sondern vollzieht sich auch dessen Hinterfragung, Veränderung und Neugestaltung notwendig historisch, wobei die Übergänge zwischen beidem fließend sind. Dabei ist das, was erfolgreiche Komplexitätsbewältigung prozedural ausmacht, erstaunlich einheitlich – und zwar weit über das Recht hinaus. Besonders klar wurde dieser Prozess in der Informatik ausgearbeitet, er findet sich aber etwa auch in der modernen Unternehmensführung.124 122 Waren kühne Thesen hierzu – damals etwa unter Stichworten wie Künstliche Intelligenz (KI), Expertensystem oder Kybernetik – schon in den 60/70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu finden, um dann großer Ernüchterung zu weichen, erlebt dies in jüngerer Zeit eine Renaissance, diesmal unter Stichworten wie machine und deep learning, data mining, legal tech, „Rechtsberatung via Mausklick“ oder automatisierten Verträgen (in Zusammenhang mit einer blockchain). Als Kronzeugen müssen dabei – bei Abstand betrachtet mit der Komplexität juristischen Arbeitens verglichen eher schlichte – Probleme wie Spiele (früher Schach, nunmehr Go und das Kartenspiel Poker) oder die Vermeidung von Hindernissen auf einer Straße (autonomes Fahren) herhalten. Beispielhaft ist hier der angesichts der jeweiligen technischen Fortschritte bereits seit Jahrzehnten regelmäßig das baldige Ende des Juristenstands ausrufende R. Susskind, The End of Lawyers?, 2008. Wie eh und je ist die Vorstellung juristischer Subsumtionsautomaten (dazu bereits Fn. 2) besonders unter Laien populär, vgl. etwa aus jüngerer Zeit den Journalisten Richard David Precht, https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/richard-david-precht-ueber-diegegenwart-derphilosophie-steht-eine-neue-grosse-zeit-bevor-ld.129311 (letzter Zugriff 16. Dezember 2017): „Beim Denken bin ich auch skeptisch, aber bei Jura muss man nun wirklich nur selten denken! Die Juristerei ist ja letztlich nichts anderes als ein einziges grosses Ordnungssystem, das man ganz leicht durchrattern kann.“ Siehe zur KI-Euphorie aus wissenschaftlicher Sicht etwa S. Armstrong / K. Sotala, How We’re Predicting AI – or Failing To, in: J. Romportl / P. Ircing / E. Zackova / M. Polak / R. Schuster (Hg.), Beyond AI: Artificial Dreams, 2012, 52. 123 Oben D. III. 124 Siehe hier nur als ein Beispiel von vielen aus dem Qualitätsmanagement Konzepte wie Kaizen oder KVP (kontinuierlicher Verbesserungsprozess). Dabei sind manche Begriffe aus der Informatik wie „agile“ (Fn. 78) auch in der Unternehmensführung zum Allgemeingut geworden. Zu Parallelitäten der zuvor
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Erstens interessieren immer nur verbindliche und konkret für den jeweiligen Anwendungszweck umsetzbare Aussagen. Belesen-beliebige Beweglichkeit (selbst wenn als „System“ präsentiert)125 oder die kunstvolle Konstruktion einer fiktiven Wunschwelt des „hätte, wäre, wenn“126 interessieren wenig. Zwar mag es etwa bei der Zusammenarbeit größerer Arbeitsgruppen notwendig sein, mit „Stift und Papier“ etwas zu konzipieren oder längere Zeit zu grübeln, bevor dann die Umsetzung erfolgt. Doch sollte diese Umsetzung in einem möglichst frühen und einfachen Stadium erfolgen. „Machen“ heißt die Devise. Die Informatik kennt hierzu diverse Ausrufe, etwa: „show me the code!“127 Zweitens sollte sich die konkret-verbindliche Aussage nicht nur real anwenden lassen, sondern darin auch einen praktischen Nutzen bringen, und zwar den bisherigen Zustand verbessern.128 Zwar mag es für eine kurze Übergangszeit berechtigt sein, die Leistungsfähigkeit etwa des Rechts oder eines Programms zu verschlechtern, um dafür an dessen systematischen Stimmigkeit oder Verständlichkeit zu arbeiten. Doch ist es gefährlich, derartige „hehre“ Ziele auf Kosten der praktischen Nützlichkeit zu verfolgen. In den seltensten Fällen ist dies notwendig. Vielmehr sind solche Umstrukturierungen (in der Informatik: refactoring129) fast immer in kleinen Schritten ohne Rückschläge in der Funktionalität (in der Informatik: regressions) möglich. Beides bedeutet wiederum drittens, dass man auf vorschnelle Abstraktion verzichten sollte.130 So sehr hier die Abstraktion gepriesen wurde, so ist es noch viel wichtiger, zunächst verbindlich-konkret einen praktischen Nutzen für unser Hier und Heute zu produzieren. Denn ohne praktische Erfahrung und Anschauung wird man gar nicht wissen, was für Abstraktionen tatsächlich hilfreich sind. Die Welt ist viel zu komplex, als dass wir allzu viele Schritte vorausplanen, die sich dann stellenden Probleme wie Möglichkeiten vorhersagen und dann auch noch eine all das von vornherein berücksichtigende Abstraktion ausbilden könnten. Vorschnelle Abstraktion ist meistens schlechte Abstraktion,131 und es ist oft ein guter Rat, damit erst dann anzufangen, wenn man ab einem gewissen Punkt schrittweiser gesteigerter Leistungsfähigkeit (und da-
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diskutierten Konzepte von Modularisierung, Arbeitsteilung u. v. m. zwischen Betriebsorganisation und Informatik siehe besonders instruktiv E. Zaninotto, From X-Programming to the X Organisation, 2002, abrufbar unter https://www.martinfowler.com/articles/zaninotto.pdf (letzter Zugriff 16. Dezember 2017). Zu den vielfältigen Formen kunstvollen Nichtssagens siehe bereits oben A. Dazu bereits oben C. IV. 1. c). Oder „No prototype, always run! Write your code for this app only – not for a future app.“ Siehe dazu auch den eindrucksvollen Vortrag von J. Romero, The Early Days of Id Software, abrufbar unter https://www. youtube.com/watch?v=E2MIpi8pIvY (letzter Zugriff 16. Dezember 2017). Wie immer gemessen an den jeweils verfolgten Zielen, vgl. oben B. Vgl. bei Fn. 135. Dies ist ein wichtiger Teilaspekt des in der Informatik gängigen KISS-Prinzips („Keep it simple, stupid“), siehe dazu etwa B. W. Lampson, Hints for Computer System Design, ACM Operating Systems 15 (1983), 33 (2.1.). Der Schritt vom Konkreten ins Abstrakte fällt sehr viel leichter als der vom Abstrakten ins Konkrete, siehe für zwei praktische Beispiele http://techcrunch.com/2016/01/18/why-big-companies-keep-failingthe-stack-fallacy/.
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mit Differenziertheit) die Nachteile von Komplexität unangenehm-handfest spürt, um sich dann notgedrungen daran zu machen, die nunmehr sichtbar gewordenen Probleme anzugehen. Damit eng zusammenhängend sollte man sich große Visionen sparen, lieber nicht zu viel über Innovation philosophieren, sondern Ergebnisse liefern – Schritt für Schritt.132 Viertens: Sofern man mit einem Projekt neu beginnt, was zwar auch im Recht selten,133 aber in Teilbereichen keineswegs ausgeschlossen ist,134 sollte man nicht mit einem großen Wurf, sondern dem kleinstmöglichen Schritt anfangen. Wie zuvor dargelegt, sollte dieser erste kleine Schritt dann aber bereits praktisch funktionieren und einen konkreten Nutzen bringen. Selbst wer bereits vor Jahrtausenden eine konkrete Vorstellung dessen gehabt haben mag, was wir heute als Auto bezeichnen, wäre dennoch gut beraten gewesen, erst einmal ein funktionierendes Rad zu erschaffen, dann ein Fahrrad usw. Volkes Munde spricht: Laufen bevor man rennt, die Italiener lehren uns „Il meglio è nemico del bene“ (perfekt ist der Feind von gut) und unser Informatiker sagt: „Don’t seek perfection!“ Ohnehin gibt es kaum ein komplexes Projekt, das jemals fertig oder vollkommen wäre. Fünftens: Hat man klein begonnen, sollte es nicht minder klein weitergehen, Schritt für Schritt. Dies mögen neue Funktionen (juristisch etwa mehr Einzelfallgerechtigkeit) oder ein bloßes „refactoring“ im Sinne einer verbesserten Verständlichkeit, Kapselung, Verallgemeinerung usw. des bestehenden Rechts sein.135 Wie immer hat jeder dieser weiteren Schritte verbindlich und real zu einer Verbesserung zu führen, das aber gerne in bescheidenem Ausmaß. Auch hier liefert uns die Informatik schöne Formulierungen: „Release often, release early!“ oder „Make change easy and then the easy change!“ Oft ist auch von „continuous delivery“ im Sinne immer kürzerer Veröffentlichungszyklen die Rede, im Qualitätsmanagement etwa von Kaizen, KVP und vielem mehr. Sechstens sollte man nicht nur klein (aber verbindlich-konkret) anfangen und in kleinen Schritten unter ständiger Rückkoppelung mit der Realität voranschreiten, sondern möglichst klein bleiben. Auch hierfür kennt die sich mit Komplexität offensiv beschäftigende Informatik diverse Ausdrücke und Varianten, etwa „Do one thing right“, das „single responsibility-Prinzip“ oder: „The secret to building large apps is never build
132 Ein guter, geläufiger Ausdruck hierzu lautet: „Incrementalism tells us how to achieve our goals. It doesn’t place a limit on our ambitions.“ Vgl. dazu etwa auch den Altkanzler H. Schmidt („Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“, vgl. http://www.zeit.de/2010/10/Fragen-an-Helmut-Schmidt/seite-4 (letzter Zugriff 16. Dezember 2017)) oder Linus Torvalds (zu diesem auch gleich bei Fn. 136): „Talk of tech innovation is bullshit. Shut up and get the work done.“, https://www.theregister.co.uk/2017/02/15/think_different_ shut_up_and_work_harder_says_linus_torvalds/ (letzter Zugriff 16. Dezember 2017). Instruktiv auch Steve Jobs zur Krankheit zu glauben, eine wirklich tolle Idee mache auch nur einen signifikanten Teil der Arbeit aus, http://fortune.com/2011/11/11/steve-jobs-the-parable-of-the-stones/ (letzter Zugriff 16. Dezember 2017): „And it’s that process that is the magic“. 133 Ein Grund liegt in den Vorzügen der Arbeitsteilung, vgl. oben D. V.: „Don’t reinvent the wheel!“ 134 Faktisch baut auch derjenige, der sich an das Zeichenbrett stellt und scheinbar von Neuem anfängt, auf eigenen oder fremden Erfahrungen auf. Allerdings gelingt ein solches Vorgehen (in der Informatik: „rewrite“) meist nur bis zu einer gewissen Größe des jeweiligen Projekts. 135 Stellv. M. Fowler, Refactoring, 1999. Siehe auch Martin (Fn. 110).
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large apps“. Gelingen kann dies durch die beschriebene Kapselung und dann Zusammensetzung gut gekapselter Einzelteile. Was dieses derart „bescheidene“, angesichts von Komplexität aber schlichtweg allein realistische Vorgehen alles bewerkstelligt, ließe sich ausgiebig beschreiben, weil nahezu jede komplexe Errungenschaft der Menschheit darauf basiert. Für unser geltendes Recht gilt ersichtlich nichts anderes, und für die hier oft herangezogene Informatik sei nur die Herangehensweise eines Linus Torvalds („I’m doing a free operating system (just a hobby, won’t be big and professional like gnu) for 386 (486) AT clones.“) erwähnt. Dieses Hobby wuchs durch das zuvor beschriebene Vorgehen auf derzeit ca. 20 Millionen Programmzeilen an, zu dem über 14.000 Programmierer beitragen – mit anderen Worten dem weltweit leistungsfähigsten und am stärksten verbreitetsten Betriebssystem.136 c) Arbeitsteilung Komplexität erfordert arbeitsteiliges Zusammenwirken, und viele der zuvor beschriebenen Techniken erleichtern diese Arbeitsteilung. Konkret gilt dies für eine konsequente Kapselung, eine verständliche und festen Konventionen folgende Sprache und historisches Vorgehen unter ständiger Rückkoppelung mit der Realität (zu Tests siehe gleich).137 Zusätzlich ließe sich für das Recht – etwa beim Entwurf von Verträgen in Kanzleien – an in der Informatik praktisch bewährte und in ihrer Effektivität sogar oft wissenschaftlich untersuchte Techniken wie beispielsweise ein sogenanntes Pairing denken, bei dem zwei Personen in verschiedener Rollenverteilung gemeinsam arbeiten.138 Aber auch rein technische Hilfen wie verteilte Versionskontrolle ließen sich an rechtliche Anforderungen anpassen,139 genauso wie die Gesetzgebung noch sehr viel transparenter und offener für die Teilnahme breiterer Bevölkerungskreise werden und sich dabei insbesondere an Open Source-Software orientieren könnte.140 d) Werkzeuge Wie sehr sich ein intelligenter Umgang mit Komplexität auch im Recht durch darauf zugeschnittene technische Werkzeuge („tooling“) unterstützen ließe, verrät wiederum der Blick auf die Informatik. Vieles davon wäre zumindest langfristig übertragbar – beson136 https://en.wikipedia.org/wiki/Linux_kernel (letzter Zugriff 16. Dezember 2017). 137 Oben D. V. 138 Stellv. L. Madeyski, Impact of pair programming on thoroughness and fault detection effectiveness of unit test suites, Software Process: Improvement and Practice 13 (2008) 281, 2008 mwN. 139 Für erste, begrüßenswerte Gehversuche in diese Richtung siehe etwa https://github.com/bundestag/ gesetze (letzter Zugriff 16. Dezember 2017). 140 Zu Mechanismen sowie Vor- und Nachteilen von OpenSource, aber auch des zuvor (oben D. VI. 2.) beschriebenen historisch-kleinteiligen Vorgehens, siehe E. S. Raymond, The Cathedral & the Bazaar, 2001.
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ders bei einer noch klareren Strukturierung des Rechts. Dies beginnt bei der Erstellung juristischer Texte, wo Texteditoren bzw. -verarbeitungen sehr viel mehr leisten könnten als bisher. Konkret wären intelligentere Formen einer automatischen Wortvervollständigung sowie die stärkere Einbindung vorformulierter standardisierter Textbausteine denkbar. Ebenso ließen sich unterschiedliche Rechtsinhalte (etwa Tatbestandsmerkmale, Rechtsfolgen, Hilfsnormen usw.) differenzierter darstellen und Instrumente wie die zuvor erwähnte Versionskontrolle direkt einbauen. Für eine erfolgreiche dogmatische wie Gesetzgebungsarbeit besonders heilsam wäre ein Testen der praktischen Konsequenzen jeder Rechtsänderung anhand von zahlreichen Beispielsfällen. Auch wenn das im Recht anders als in der Informatik, wo dies automatisch und mittlerweile in sämtliche Prozesse hochgradig integriert geschieht,141 wohl auf absehbare Zeit manuell erfolgen müsste, wäre es hilfreich, für einzelne Rechtsbereiche zahlreiche Mustersachverhalte mitsamt den dafür erwünschten Ergebnissen zu erstellen, um dann diverse Reformvorschläge oder auch neue wie alte Theorien darauf hin zu überprüfen, inwieweit sie tatsächlich zu den erstrebten Rechtsfolgen führen. Der Verfasser hat dies für das Vertragsrecht mit über 330 Fällen konkret praktiziert.142 Die allermeisten davon beschreiben Sachverhalte, bei denen sich Juristen nahezu weltweit über die jeweils erwünschte Rechtsfolge weithin einig sind. Es ist bei Licht betrachtet verstörend, wie wenig derartige Rückkoppelung mit der Rechtsrealität die allermeisten Theoretiker überhaupt interessiert. V. Fazit Ziel dieses Beitrags war es nicht, einmal mehr die Komplexität von Recht zu beschreiben, um dann die gängigen methodischen Vorstellungen um einige vermeintliche Besonderheiten zu ergänzen. Vielmehr sollte verdeutlicht werden, dass die herausragende und fachspezifische Kompetenz des Juristen gerade in dieser Komplexitätsbewältigung liegt, dass Rechtswissenschaft nichts anderes ist als eben jene Bewältigung rechtlicher Komplexität. Dies hat weitreichende Konsequenzen, von denen abschließend zumindest einige, teils zusammenfassend, formuliert seien.
141 In der Informatik ist der Stand praktischer Umsetzung wie theoretischer Durchdringung (etwa zu Art, Ablauf, Ausgestaltung und Einbindung in den kontinuierlichen Gesamtprozess) eines Austestens von Programmen eindrucksvoll. Beim sehr verbreiteten test driven design (TDD) etwa, das bereits in früheren Konzepten wie dem extreme programming auftaucht, wird sogar zuerst ein – zwangsläufig zunächst scheiternder – Test und dann erst die diesen Test bestehende Routine programmiert, was unter anderem dazu zwingt, sehr klar zu formulieren, was an Funktionalität man (nicht) zu erreichen gedenkt, dazu etwa K. Beck, Test-Driven Development by Example, 2003. Siehe auch die Nachweise oben in Fn. 78 und Fn. 135 sowie für empirische Studien zur Wirksamkeit von TDD beispielhaft D. Fucci / G. Scanniello / S. Romano u. a., An External Replication on the Effects of Test-driven Development Using a Multi-site Blind Analysis Approach, in ACM (Hg.), ESEM 2016, 2016, abrufbar unter http://dx.doi. org/10.1145/2961111.2962592 (letzter Zugriff 16. Dezember 2017) mwN. 142 Rehberg (Fn. 4), passim.
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Erstens: Ein leistungsfähiges und damit notwendig komplexes Recht ist entscheidender, tragender Baustein jeder erfolgreichen Gesellschaft. Wer sich damit nicht abfinden möchte oder sich etwa als Angehöriger einer anderen Disziplin darüber beklagt, dass es viel zu kompliziert sei, um sich „mal eben“ in das Recht einzuarbeiten oder es „einfach so“ zu verstehen, sollte sich fragen, weshalb er diese Frage nicht genauso einem Physiker, Maschinenbauer, Informatiker usw. stellt. Man könnte hier auch von einem „Af D/Pegida-Syndrom“ im Sinne einer Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplexe Sachverhalte sprechen. Es ist faszinierend, wie viel Unbehagen Komplexität bisweilen verursacht. Es scheint, als beruhe manche Frustration über und bisweilen geradezu mancher Hass auf das Recht oder – damit identifizierend – den Staat oder einzelne staatliche Institutionen auf der mangelnden Bereitschaft, rechtliche Komplexität als notwendig anzuerkennen, um dann viel Energie aufwenden zu müssen, um das alles noch zu verstehen. Andere wiederum entfliehen dieser Realität eher friedlich durch kunstvoll-hypothetische Betrachtungen – dem Junkie gleichend, der sich einen weiteren Schuss setzt, um in schönere Welten abzutauchen.143 Juristen demgegenüber fürchten nicht die Realität, sondern stellen sich ihr. Das lässt sich nicht von allen Disziplinen und Richtungen sagen.144 Eine Ursache mag darin liegen, dass spätestens ein Richter nicht umhinkommt, sich realen Fällen zu widmen, und dafür dann geeignete Ansätze benötigt. Zweitens: Rechtswissenschaft ist eigen. Sie ist nicht Soziologie, nicht Philosophie, nicht Psychologie, nicht Ökonomik, nicht Informatik. Juristen sind Experten im Recht und Laien andernorts. Soziologen sind Experten in Soziologie und Laien im Recht. Die Empirie des Juristen ist das geltende Recht, und wir ermitteln dieses Recht insbesondere durch die Lektüre von Gesetzen, Urteilen, Verträgen oder Verwaltungsakten.145 Interessanterweise scheinen da oft gerade jene Stimmen zu übersehen, die mahnend einfordern, dass Juristen stärker „empirisch“ arbeiten müssten, nur um ein laienhaftes Betreiben nicht-juristischer Ansätze zu propagieren und sich um das Verständnis des geltenden Rechts – wohl weil zu anspruchsvoll – gar nicht erst zu bemühen. Dabei ist Recht als menschlich-kulturelles Erzeugnis nicht weniger real als physikalische oder medizinische Sachverhalte, es ist genauso wissenschaftlicher Beschäftigung zugänglich wie jeder andere reale Lebenssachverhalt auch. Realitäten jenseits dieses Rechts oder Wirkungszusammenhänge interessieren uns zwar insoweit, als sich unsere Tatbestände darauf beziehen, nicht allerdings als Rechtswissenschaftler. Das können Nicht-Laien besser, und deren Darstellungen für Laien können wir Juristen falls erforderlich lesen.146 Drittens: Juristen sind Meister der Komplexitätsbewältigung. Sie ermöglichen es Staat wie Privaten, immer differenzierter auf Sachverhalte zu reagieren und so ihre jeweiligen Ziele noch besser zu verfolgen. Sie tun dies – und das unterscheidet sie zu143 144 145 146
Dazu bereits oben C. IV. 1. c). Siehe aber zu Ausnahmen den letzten Absatz dieses Abschnitts. Vgl. dazu oben C. I. 1. b). Dazu bereits oben D. V.
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mindest tendenziell von der Informatik – unter Einbindung des Menschen und dessen nach wie vor atemberaubenden geistigen Fähigkeiten und damit wiederum mittels einer menschlichen, wenngleich wie nahezu jede anspruchsvolle Disziplin auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Fachsprache. Viertens: Es lebe die Abstraktion! Wissenschaft abstrahiert. Was sollte die Alternative sein – etwa die willkürliche Ansammlung unzähliger Einzelurteile? Abstraktion, etwa mittels Verallgemeinerung, Historizität und Kapselung, ist nicht etwa ein Instrument lebensfremder Akademiker zwecks Realitätsflucht,147 sondern unabdingbares Instrument jeder Komplexitätsbewältigung. Pauschalisierung für schlecht und Differenzierung für gut zu halten, ist demgegenüber nur naiv, denn Rauschen als Rauschen zu beschreiben, verhalf noch nie zu Verständnis.148 Hierzu gehört nicht zuletzt die Arbeit an Unterscheidungen und damit wiederum klaren, verbindlichen Begriffen und Tatbeständen. Damit lässt sich gleich anfügen: Es lebe die Dogmatik! Dogmatik ist nichts anderes als die Umsetzung insbesondere von Abstraktionstechniken. Und doch scheint Dogmatik manchen eher als etwas Negatives. Demgegenüber sollten wir in unseren Abstraktionsbemühungen noch bewusster und konsequenter voranschreiten. Fünftens: Es lebe die Rechtspolitik! Rechtswissenschaft und Juristen generell sollten sich nicht auf eine – von schöpferischer Rechtsetzung praktisch ohnehin nur schwer trennbare – dienende Rechtsanwendung beschränken, müssen sich insoweit allerdings an die eigene Nase fassen. Denn die in klassischen Lehrbüchern und wissenschaftlichen Darstellungen vermittelte Vorstellung (Auslegungskanon, Argumentationsfiguren etc.) sieht rechtspolitische Aussagen schlichtweg nicht vor. Sieht man die spezifisch juristische Fähigkeit hingegen darin, rechtliche Komplexität zu bewältigen, lässt sich das hier vorgestellte Instrumentarium gleichermaßen auf rechtspolitische Fragestellungen anwenden. Nichts anderes praktizieren Juristen von jeher und haben beispielsweise schöpferische Rechtsprechung, Gesetzgebung oder Vertragsentwürfe immer schon entscheidend geprägt. Denn Juristen können ausweislich ihrer Qualifikation auch über die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe hinaus beantworten, wie sich die gleichen Ziele mit einem einfacheren Recht verwirklichen lassen. Die klassischen Auslegungsgrundsätze fügen sich in dieses Bild ein, bilden also einen Unterfall, anstatt obsolet zu werden. Wie wichtig es etwa ist, klare, verbindliche und praktisch anwendbare Begriffe bzw. Tatbestände zu entwickeln und damit auch die dazugehörige Definitionsarbeit zu leisten (Wortlaut), wurde eingehend beschrieben. Die systematische Auslegung bildet geradezu ein Paradebeispiel für das hier beschriebene Zusammenspiel von Verallgemeinerung, Kapselung, Historizität und Arbeitsteilung. Figuren wie die Analogie sind nichts anderes als eine Verallgemeinerung, zu rechtfertigen durch die Verwirklichung der vom jeweiligen Rechtsetzer verfolgten Ziele. Und dass es darum geht, die vom jeweiligen Rechtsetzer verfolgten Ziele zu unterstützen (Telos), bildet geradezu den gedanklichen Ausgangspunkt. Die Entstehungsgeschichte einer Norm (im weitesten Sinne) schließlich ist nicht nur für 147 Näher zum Realitätsbezug von Abstraktion oben C. IV. 1. c). 148 Oben D. II. 1.
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das Verständnis der jeweils verfolgten Ziele wichtig, sondern auch angesichts des notwendig historischen Vorgehens von Recht mitsamt der damit verbundenen, internen Perspektive. Sechstens: Es lebe der Jurist, es lebe die Rechtswissenschaft! Dass es allen regelmäßig wiederkehrenden Unkenrufen zum Trotz noch keiner Disziplin gelungen ist, dem Juristen das Wasser abzugraben, wurde bereits eingangs genauso erwähnt, wie dass nicht ohne Grund bis heute die oft schlauesten Köpfe eines Landes dieses Fach studieren – und zwar nicht nur wegen der sich hierdurch bietenden Chancen in Politik, Wirtschaft oder Kultur, sondern oft aus intrinsisch-wissenschaftlichem Interesse an Erkenntnis über unsere Welt. Dabei ist Recht etwas für Experten, nicht für Laien,149 und es erfordert gleichermaßen harte Arbeit wie Intelligenz – unter anderem Abstraktionsvermögen. Nicht jeder kann Jurist sein, genauso wenig wie jeder Arzt, Mathematiker oder Ingenieur werden kann. Damit kann auch nicht jeder gleichermaßen mitreden, wenn es um juristische Fragestellungen geht. Wir sollten Dogmatiker auszeichnen und Alles-und-Nichts-Sager als solche bloßstellen. Jura ist nicht Feuilleton, ist nicht „l’art pour l’art“. Siebtens: Es lebe der gleichberechtigte, sich gegenseitig befruchtende interdisziplinäre Austausch mit sich gleichermaßen der Realität und ihrer Komplexität stellenden Disziplinen! Hat man einmal akzeptiert, dass Rechtswissenschaft nichts anderes ist als die – an den Zielen der jeweiligen Rechtsetzer zu messende – erfolgreiche Bewältigung rechtlicher Komplexität, eröffnet sich dann auch ein sehr viel konstruktiverer Umgang mit fremden Disziplinen als etwa die sklavische Unterordnung unter ein realitätsfremdes Reißbrettdenken150 oder für absolut gehaltene und oft gar hochgradig kollektivistische Wertvorstellungen unter Aufgabe jeglicher juristischer Einsichten und Errungenschaften. Vielmehr finden sich genug Wissenschaften bzw. Wissenschaftsbereiche, die wie die Rechtswissenschaft Komplexität nicht fürchten, sondern sich der harten Realität erfolgreich stellen. Das betrifft nicht nur die hier oft aufgegriffene Informatik, sondern etwa auch die Architektur (man denke an ganze Stadtplanungen), die Betriebswirtschaftslehre (etwa für die Steuerung riesiger, weltweit tätiger Unternehmen) oder jene Disziplinen, die sich für die in der Natur vorzufindende Komplexitätsbewältigung interessieren – mit dem menschlichen Denken als dem herausragenden Beispiel. Aber auch Rechtsvergleichung kann sich dann den zahllosen großen wie kleinen Instrumenten und Umsetzungen widmen, mit denen auch fremde Rechtsordnungen versuchen, im Interesse der jeweiligen Rechtsetzer die horrende Komplexität moderner Staatlichkeiten wie privater Rechtsetzung zu bändigen. Prof. Dr. Markus Rehberg Universität Rostock, Ulmenstraße 69, Haus 3, Raum 306, 18057 Rostock
149 Näher zu den Vorteilen disziplinären Fachwissens oben D. V. 150 Siehe dazu insbesondere zur Historizität oben D. III. sowie oben D. VI. 2.
Personen- und Stichwortverzeichnis Abstraktion 15, 17 ff., 27, 72 ff., 78 ff., 98, 110, 135, 142 ff., 178, 185 ff., 193 ff., 198 ff. Abstraktionsprinzip 132 ff., 207 Algorithmen 10 f., 34 ff., 192 Aristoteles 29, 74 f., 85, 123, 136 Ausdifferenzierung 65 f., 105, 155, 164 Austin 107, 153 ff. Autorität 17, 63, 88 f., 107, Bourdieu 35, 135 f. Demokratie 24, 93 f., 108 ff. Diskurs 15 f., 23 f., 26 ff., 68, 98, 102 ff., 110 ff., 138, 143, 152 ff., 172 Dogmatik 7, 18, 73, 78 ff., 106, 119, 125 ff., 148 ff., 178, 183, 200, 214, 220 f. Dualismus 47 f. Dworkin 14, 36, 95, 97 Empirismus 76 f., 108 Epistemologie 50 Gewohnheitsrecht 8, 120, 125 Gleichheit 16, 169, 172 ff., 190 Gründe → siehe Normativität Hart 50, 56, 64 ff., 77, 153 Historische Rechtsschule 18, 105, 145 f. Historizität 202 ff. Information 20, 82, 182 ff. 190 ff. Institution 15, 36 ff., 42 ff., 54 ff., 61, 64 ff., 89, 92 f., 104, 110, 126 f., 132 ff., 140 ff. Interdisziplinarität 18, 82, 99, 107 ff., 111 ff., 149, 210, 221 Intuition 7, 17, 50, 55 ff., 62 f., 68 Jhering 31 ff., 42 f., 128 f. Kant 23, 27, 35, 75 ff., 97 f., 143 Kelsen 66, 73, 77, 80 f., 87 ff., 104, 106, Kohärenz, Kohärentismus 21 ff., 28 f., 76, 79 ff., 87, 97 f. Komplexität 12, 19, 85, 94, 115, 149, 165, 181 ff., 190 ff. Konstruktion, Konstruktivismus 27, 74, 101, 106, 111, 174 ff., 187, 196, 215 Konvention 24 f., 48, 59 ff.
Luhmann 73, 77, 91 ff., 105 f., 115 Maine 154 ff. Metatheorie 46, 110 Methodenlehre 71 ff., 82, 105, 117 f., 120 ff., 164 Nash-Gleichgewicht 48, 57 f., 60 ff., 67 natural kind / natürliche Art 53 Naturalismus 17, 29, 45 ff., 52 Naturrecht 9, 24 f., 48, 108, 127 ff., 143 ff., Normativismus 45 ff. Normativität 13, 22 ff., 38, 45 ff., 89, 95 ff., 106 ff., 162 ff., 182 ff. – Gründe 28, 48, 67 f. – Quellen 23 Normen 46 ff., 53 ff., 64 ff., 78 f., 86 ff., 91 ff., 103 f., 114 ff., 163, 174, 178, 207, 218 Ökonomische Analyse 62 ff., 107 ff., 112 ff., 204 ff. Positivismus 14, 24 f., 32, 48, 76 ff., 87 ff., 96 f., 105 ff. Postmoderne 91 ff., 110 Praktische Vernunft 76 Praxis 21 ff., 49 ff., 59, 66 ff., 75 f., 105, 137 ff., 141 ff., 147 ff., 163 ff., 177 ff., 190, 201, 207 Prozess 19, 49, 58, 60 ff., 94, 102, 138, 167, 212 ff. Pufendorf 34, 121 Raz 51, 88 ff. Realismus 26 ff., 47, 67, 112 f. Rechtsdogmatik 78 ff., 106, 119, 178, 183 Rechtsphilosophie 24, 45 ff., 50 ff., 77f., 80 ff., 93 ff., 101 ff., 143, 149 ff., 161 ff., 177 ff. Rechtssicherheit 85 ff., 90 ff., 185 Rechtsstaat 66, 79, 95, 109, 170 Rechtssystem 10, 25, 46, 52 ff., 65, 88 ff., 174, 184, 197, 207 f. Rechtswissenschaft / legal science 15, 22, 31 ff., 71 ff., 85 ff., 102 ff., 110, 117 ff., 139 ff., 163 ff., 181 ff. Savigny 113, 118 ff., 140 ff. Searle 56 ff. Solipsismus 36 f. Sozialwissenschaft 9 f., 49 ff., 102 ff., 117 Spieltheorie 46 ff. Systemtheorie 15, 77, 91 ff., 101 f., 106 f.
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Personen- und Stichwortverzeichnis
Theorie – Aufgabe 71 ff. – Begriff. 72 ff., 135 f. – feministische 159 ff., 166 ff., 177 ff. – im Recht und über Recht 7 ff., 52, 85 ff., 106 ff., 119 ff., 136 – mittlerer Reichweite 20, 79 ff., 178 – Universalität 9, 27, 37, 51, 126, 143 ff.
– Wahl 88 ff., 98 f. – zeitlose 117 ff., 126 ff., 132 f. Topik 120 ff., 182 Verallgemeinerung 9 ff., 68, 81, 162 ff., 179, 184 ff., 200 ff. Weber 26, 65, 106, 113, 136 Wissenschaft 9, 31 ff., 49 ff., 73 ff., 101 ff., 117 ff., 136 ff., 169, 181 ff.
Um Recht zu begreifen, muss man verstehen, wie Aussagen über das Recht und Aussagen im Recht gewonnen werden. Dies hängt in starkem Maße von den Theorien ab, die man dabei ausdrücklich oder stillschweigend zugrunde legt. Sie weichen nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrer Begründung voneinander ab. Bevor ihre Plausibilität debattiert werden kann, gilt es daher eine Fülle von Fragen zu bedenken: Was zählt als Theorie über das Recht, was als Theorie im Recht? Welche Begriffe und Methoden sollten dabei verwendet werden? Auf welchen Evidenzen kann man dabei aufbauen? Inwieweit sind Theorien ein geeignetes Mittel, um Recht
zu begreifen? Sind Rechtstheorien zeitlos oder einem geschichtlichen Wandel unterworfen? Die Autorinnen und Autoren gehen diesen Fragen nach und stellen die verschiedensten Positionen vor: Von einem an den Sozialwissenschaften orientierten Naturalismus bis hin zu einem moralischen Realismus, von einer Kritik an der jüngeren Ausdehnung des Theoriebegriffs bis hin zu einem Ausweis historischer Kontinuität. Der Band zeugt damit nicht nur von der Pluralität der Theoriebegriffe und -debatten, sondern belegt auch deren Aktualität.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-12102-6
9
7835 1 5 1 2 1026